„Interventionen aus dem Ruhrgebiet“: Gerd Herholz stellt sein Buch „Gespenster GmbH“ in Dortmund vor

Autor Gerd Herholz auf dem Podium einer anderen Veranstaltung. Das Namensschild auf dem Tisch vor ihm enthält leider einen Lapsus. (Foto: © Friedhelm Krischer)

Sonst haben wir’s ja nicht so mit bloßen Termin-Ankündigungen. Diesen kündigen wir aber gern an: Gerd Herholz, bis 2018 langjähriger Literaturvermittler beim Literaturbüro Ruhr (Gladbeck), zudem freier Autor und Journalist, kommt am nächsten Dienstag, 8. April (19.30 Uhr), nach Dortmund, um aus seinem Buch „Gespenster GmbH“ zu lesen, und zwar im Dortmunder Literaturhaus am Neuen Graben 78.

Gerd Herholz zählt dankenswerterweise auch zu den Autoren dieses Revierpassagen-Blogs. Noch besser und passender: Der Band „Gespenster GmbH“ (Untertitel: „Interventionen aus dem Ruhrgebiet“) enthält auch einige Texte, die Herholz ursprünglich just für die Revierpassagen verfasst und fürs Buch überarbeitet hat. Der Einfachheit halber verlinken wir hier noch einmal die Rezension, die an dieser Stelle erschienen ist. Wir haben das Buch empfohlen, also empfehlen wir auch die Lesung. So einfach ist das. Nicht nur pro domo, sondern aus Überzeugung.

Ergänzend sei aus einer Pressemeldung der Stadt Dortmund zitiert: „Neben polemischen Betrachtungen versammelt der Band Begegnungen, engagierte Plädoyers und kritisch würdigende Porträts einzelner Autorinnen und Autoren für eine Literatur, die beharrlich gegen ,Gespenster‘ anschreibt. In seinen Beiträgen und Essays spießt Herholz spöttisch die Blähvokabeln eines Kulturbetriebs auf.“ Nun ja, so gänzlich frei vom üblichen Kulturjargon ist diese städtische Anpreisung auch nicht. Aber sei’s drum, wenn’s doch für die lesens- und hörenswerte Sache ist.

Zur Lesung im Literaturhaus lädt jedenfalls das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt ein. Arnold Maxwill vom Hüser-Institut, auch Herausgeber des Buches, wird den Abend moderieren. Sportliche Ausflüchte gelten übrigens nicht: Das Spiel Barcelona vs. BVB findet erst am folgenden Abend (9. April) statt…

Gerd Herholz: „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“. Aisthesis Verlag, Bielefeld (Reihe Nyland Dokumente), 240 Seiten, 25 Euro. 

 

 




Vom Blog zum Buch: Gerd Herholz und seine „Interventionen aus dem Ruhrgebiet“

Dies ist eigentlich keine Rezension. Es wäre ja auch ziemlich unredlich, hier eine Kritik zu Gerd Herholz‘ Buch „Gespenster GmbH“ zu veröffentlichen, hat doch die Erstfassung vieler der darin versammelten Blog-Beiträge just in den Revierpassagen gestanden.

Ergo habe ich sie seinerzeit selbst gegengelesen und punktuell redigiert, was freilich bei einem so versierten Autor wie Herholz kaum nötig ist. Er ist einer, der überaus sorgfältig mit seinen (und anderen) Texten umgeht und wohl dennoch nie hundertprozentig zufrieden mit den Resultaten des eigenen Tuns ist. Ein Perfektionist eben. Aber beileibe kein unnachgiebiger Rechthaber.

„Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ heißt sein Band im Untertitel, auf dem Cover prangt ein nicht gar so glanzvolles „Dortmunder U“. Für die Buchfassung hat Herholz die Beiträge noch einmal sorgsam überarbeitet. Tatsächlich erhebt sich hier eine gewichtige Stimme aus der Region, die kulturelle Tendenzen ebenso einzuordnen weiß wie politische Zeitläufte und gesellschaftliche Vorgänge; eine Stimme, deren Einsprüche auch in anderen Breiten gehört werden sollten.

Ruhrbarone und Revierpassagen

Nochmals rekapituliert: Die Erstveröffentlichungen standen zwischen 2011 und 2023 in zwei Ruhrgebiets-Blogs: „Ruhrbarone“ (18 Beiträge) und „Revierpassagen“ (25 Beiträge). Hinzu kommt der „Humanistische Pressedienst“ (1 Beitrag). Keine bloße Erbsenzählerei, sondern eine ungefähre Vermessung.

Herholz wagt sich an schwierige, umfassende Themen, freilich pirscht er sich  vorzugsweise von den Rändern her an sie heran – und wird dann doch sehr bald wesentlich. In diversen Beiträgen befasst er sich mit Kultur und vor allem Kulturschwund im Kapitalismus oder beleuchtet flackernd die partielle Finsternis der „Nekropole Ruhr“, mithin einer in mancher Hinsicht sterbenskranken Gegend. Gerade der tastende Gestus des „Versuchs“ bewahrt ihn vor allzu schnellen und harschen Urteilen, doch vertritt er durchaus seine klaren, bestens begründeten Meinungen.

Beklagenswerter Zustand der Kultur

Lesenswert sodann auch die literarischen Erkundungen (oftmals mit Ruhrgebiets-Bezug), beispielsweise zu Nicolas Born, Feridun Zaimoglu, Hilmar Klute, Wilhelm Genazino – und zu Revierbezügen bei Günter Grass. Behutsam und wunderbar differenziert schließlich die Würdigung des Dichters Erich Fried und seiner Widersprüche. Herholz zeigt sich in seiner ureigenen Domäne längst nicht nur als studierter Germanist, sondern eben auch als höchst belesener Mensch, der etliche Protagonisten der Literatur persönlich kennt oder gekannt hat.

Besonders am Herzen liegen dem langjährigen Leiter des Literaturbüros Ruhr (Gladbeck) die – gar seltenen, arg vermissten oder stets bedrohten – Literaturhäuser der Region. Beklagenswert, nicht nur aus Sicht dieses Kenners des Literaturbetriebs, ist überdies der Zustand hiesiger Literaturfestivals und dito Preisvergaben.

Nicht selten schleicht sich Resignation mitsamt einem gewissen Galgenhumor in seine Texte. Es lässt sich allemal nachvollziehen. Zumal seit den Corona-Zeiten klingt ein vordem ungeahnter Ton mit hinein – mit Blicken aufs Leben nach der Lohnarbeit und zu einem Ende hin, das doch bitte noch in weiterer Ferne liegen möge.

Wie eingangs gesagt: Dies ist keine Rezension. Aber eine nachdrückliche Empfehlung.

Gerd Herholz: „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“. Herausgegeben von Arnold Maxwill. Aisthesis Verlag, Bielefeld (Reihe Nyland Dokumente, 27). 240 Seiten, 25 Euro.




„Auf dem Meer der Verwunderung“ – Kapitel 3: Blicke zurück

Großvater Fritz, Kradfahrer auch er. – Foto privat

Skript, das gutes Buch werden möchte, sucht VerlegerIn und LektorIn!

Das 220 Seiten lange „Auf dem Meer der Verwunderung“ erzählt Momente einer Lebens- und Familiengeschichte im Kontext gesellschaftlicher Zusammenhänge, regionaler Industrie und literarischer Bezüge, ist ebenso Polemik, Essay, Bildungsroman wie Schelmenstück, Poesie, ein Text über Liebesversuche und Emanzipationswirren.

Erzählt wird von vergiftetem Alltag, von schmerzhaftem Erwachsenwerden, von Gelingen und Scheitern unter den Bedingungen des Zerfalls maroder gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Ruhrgebiet (1952 bis 2022) bildet den Hintergrund für alles Erzählte, wobei insbesondere Duisburg einen Großteil des Handelns und Behandeltwerdens prägt, aber keinesfalls bloß Kulisse ist, sondern eher eine weitere Haut der Protagonisten.
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Kapitel 3: Blicke zurück

2022, im verfluchten Jahr Drei des Virus, stehe ich erneut auf dem Magic Mountain, früh Vergifteter auf lang vergiftetem Grund, Sars-CoV-2, seinen Mutanten und Varianten als vierfach Geimpfter bisher glücklich entkommen, so scheint es, in ferner Nähe Putins blutiger Krieg gegen die Ukraine. Von hier oben aus sehe ich, jetzt da Frühjahrsstürme letzte Blätter von den jungen Erlen und Birken, Eschen und Pappeln gerissen haben, schaue ich durch alle äußerliche Veränderung hindurch auf das nur scheinbar Unveränderliche meiner Erinnerung: auf die Kolonie in der Ferdinandstraße. In der Nr. 13 wohnten wir bis Mitte der 50er-Jahre. Bis vor Kurzem aber fehlten sie in diesem Sträßchen, die Häuser mit den Hausnummern 9 bis 13, irgendwann abgerissen (oder bloß neu nummeriert?), so, als ob alles nur ein Traum gewesen wäre oder ein Schwarz-Weiß-Film des Neorealismo, in dem man mich als Balg eines Sklaven der Schlotbarone mitzuspielen gezwungen hätte.

Doch hat es uns da wirklich gegeben. Zwischen den Häuschen auf der Ferdinand- und der Berzeliusstraße lagen kleine Schuppen für die Mieter, die meisten von ihnen arbeiteten auf der Hütte. In einem dieser Schuppen stand sie, die nach einem Unfall gekaufte, vom Vater instand gesetzte Zündapp KS 601, ein Motorrad mit Beiwagen. Einmal nahm er mich mit, ganz in seinen schwarzen Ledermantel gekleidet, mit Fliegerhaube aus Leder und Motorradbrille. Ich wurde in eine dicke Jacke und Decke gepackt, eine zweite zu große Brille mir am kleinen Kopf festgezurrt. So brausten wir über Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher zu den Großeltern in den Hochfelder Valenkamp, um ihnen heißen Eintopf zu bringen. Der erhitzte mir im Beiwagen den Schoß, dessen Haut sich für Stunden rötlich einfärbte, fast so rot wie die kleine verstaubte, nahe der Kupferhütte gelegene Straße, in der die Eltern des Vaters wohnten. Doch echte Kradfahrer, zwei wie wir, kannten keinen Schmerz, wir waren schließlich Männer, Kämpfer, dahinrasend, unbesiegbar wie Batman und Robin, die damals hier noch keiner kannte. Nie wieder sind wir zusammen so gefahren.

Quintaner auf der Kaiserswerther – gegenüber die Kläranlage. – Foto privat

Von hier oben sehe ich auch die Kaiserswerther Straße, die Erdgeschosswohnung links in der Haushälfte mit der Nummer 201, hier wuchs ich auf, sehe sechzig Quadratmeter, zähe Jahre des Unheils und Stunden des Glücks, sehe das unheilvolle Kinderzimmer, darin vielleicht vier Quadratmeter für jedes der vier. Zieht man den Stellplatz für die Möbel ab, bleibt kaum mehr als eine Schweinebucht für jedes Kind. Ich sehe den Bruder, die Schwestern, die Eltern, die Nachbarn; kleine Welt, nicht nur von hier oben. Schwenke langsam nach rechts, sehe das längst abgerissene Kompostwerk, mit der Kläranlage daneben, dem Klärbecken darin. Was für ein Wort: KLÄRANLAGE – nichts hatte sich je geklärt für uns mit deren Hilfe, nichts wurde gefiltert, nichts je gereinigt. Besonders an schwülen Sommertagen stanken Faulturm und Becken, stank alles um sie herum, also auch wir, wie nach Tausenden schwefliger Soleier und gärenden Exkrementen.

Auch dieser Vater (ganz oben links): ein Mann seiner Klasse. – Foto privat

Ich sehe die Tennisplätze, schon in Hüttenheim liegend, höre als Balljunge wie vor Jahrzehnten das Ächzen, das Rutschen der Schuhe auf roter Asche, die Aufschläge des angetrunkenen Kleingeldadels in Weiß. Nicht weit davon ahne ich hinter den Häuserzeilen an der Heinrich-Bierwes-Straße die Gemeinschaftsschule II für Kinder katholischer wie evangelischer Eltern. Mädchen und Jungen nebeneinander, in früher vergeblicher Koedukation. Auch einem jüdischen Kind, das sich nie zu erkennen gab, sollen dort Lektionen erteilt worden sein. Kilometerweit sehe ich – mich weiter um die eigene Achse drehend – die lückenlos ineinander übergehenden großen Werke, sehe nur da und dort den Rhein durchschimmern, jenen angeblich so mächtigen Strom, sehe von Bäumen verborgen den Evangelischen Friedhof, auf dem der Vater zur Ruhe kommen will, aber nie kommen wird, sehe den von Brennnesselfeldern umgebenen Alten Angerbach, sehe den riesigen Starkstrommast, auf dessen Eisenstreben der Bruder kunstvoll in ungeahnte Höhen kletterte, von der kleinen Schwester und mir ängstlich bewundert, sehe Richtung Biegerhof die Ziegeleiruine mit dem maroden Dach, rieche die Kartoffelfelder und -feuer, da, wo heute ein Schulzentrum steht, darin auch das Gymnasium, das ich besuchte. Weiß um die Straßenbahnhaltestelle am Mühlenkamp, von dort aus schaukelte mich die Linie 9 in die Innenstadt zum Heiratsmarkt, dem großzügig überdachten Eingang des Karstadt-Kaufhauses, zu den nach und nach wechselnden Freundinnen, zur samstäglichen Tanzschul-Disko, Knutschbude mit Cola, oder ins Bistro California. In der Ferne weiß ich die Sechs-Seen-Platte, die Flutlichtmasten des Wedaustadions, auf dessen Rasen dem fußballernden MSV Abstieg um Abstieg gelingt, rechts davon höre ich von Weitem, als klänge es aus einem Roman Stephen Kings herüber, wie unheilfroh das Jauchzen aus dem Großenbaumer Freibad an heißen Sommertagen lärmte.

Der Autor, ganz rechts außen, versucht, auch aufs Bild zu kommen. – Foto privat

Nicht weit entfernt wohnte D., zweiter bester Freund meines Lebens, Klassenkamerad, guter Hundertmeterläufer, Leidensgenosse. Ihm brachen sie das Herz, als die Eltern seiner Freundin beschlossen, wegzuziehen aus Duisburg, weit weg, die Tochter hatte zu gehorchen. Ende einer Oberstufen-Liebe. D., der später Psychologie in Bochum studierte, Diplom-Psychologe, Therapeut werden wollte, angeknackst wie er war, aber eigene Prüfungsängste nicht überwinden konnte, deshalb erst gelegentlich Taxi fuhr, dann nur noch das und nichts anderes tat. Und wegschaute, wenn er sah, wie ich mit dem Zug aus Gladbeck, von der Arbeit kommend, den Hauptbahnhof Duisburg durch den Ostausgang verließ, an der Taxischlange vorbei. Einmal, als sich unsere Blicke dennoch unausweichlich kreuzten, verabredeten wir ein Treffen bei mir in der Zanderstraße, zu dem er – womit ich nicht mehr gerechnet hatte – tatsächlich erschien. Er nahm sich Zeit, erzählte endlich von sich, sogar von seiner Therapie gegen eine Angststörung. Doch war bei all dem ein Unterton herauszuhören, etwas, das er nicht sagen konnte oder wollte, nämlich: dass er mir nicht mehr gern begegne. Er, inwendig Arbeiterjunge geblieben wie ich selbst, Randfigur, Außenseiter, Paria irgendwie, voller Klassenscham, beschämt davon, es sichtlich nicht geschafft, die Hoffnungen, die in ihn gesetzt worden waren, die er in sich selbst gesetzt hatte, vorerst oder vielleicht für immer enttäuscht zu haben.

Ich dagegen schien ihm davongekommen, glücklich assimiliert, hatte Examen gemacht, das Lehramts-Referendariat abgeschlossen. In einer Kurznachricht der Westdeutschen Allgemeinen hatte D. gelesen, dass ich wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Literaturbüros geworden war. Doch vertraute ich mich ihm an, gestand, dass mir dieser Mief- und Mittelstadt-Aufstieg ins armselig ausgestattete Poesie-Kontor wie fauler Zauber vor Pappmaché erscheine, dass ich, um es nur bis dahin zu schaffen, viel zu viel hatte zahlen müssen, bereits während des Referendariats das erste Mal abrupt lebensuntüchtig geworden, zusammengeklappt sei, mein verzweifeltes Perfektionsstreben nicht mehr habe durchhalten können, nach Kontrollverlust und Angstattacke in eine Depression gefallen sei, aus der ich mich nur selbst und Frisium, ein Benzodiazepin, die Haut, die Wärme B.s und ein wohlwollender Mentor Schritt für Schritt retten konnten.

Doch trotz solcher Beichten auf dem Küchenstuhl blieben D. und ich uns fremd. Obwohl ich ihm mehr noch ähnelte, als er ahnte, ich selbst mich kurze Zeit später über zwei Jahre hinweg aus dem Büro stehlen, über Mittag zur Gesprächstherapie ins Kölner Meister Eckehart Haus fahren sollte, erst wöchentlich, dann mit kleinen Pausen zwischen den Sitzungen. Eines Dienstags traf mich dort ein Gedanke ins Mark, scheinbar eher lapidare Worte des einst zwischen Nazi-Diplomatie und Satori mäandernden, zum Zen-Lehrer und Begründer der Initiatischen Therapie gereiften Karlfried Graf Dürckheim, jener Satz, der sinngemäß lautete: Man muss erst einmal ein Ich haben, das man überwinden kann! Mit dieser als Kalauer verkleideten Weisheit hätte ich vielleicht auch D. ein wenig erheitern, ermutigen können, denn wir hatten sie kaum, diese Chance, mehr als nur ein Kleine-Leute-Ich zu entwickeln, es zu vertiefen, personare, eine eigene Stimme hören zu lassen, geschweige denn irgendein Ego zu überwinden. Tief drinnen fühlte sich jeder von uns nur wie ein Muster ohne Wert, invalide beide, nicht einmal annähernd erleuchtet, also keinesfalls – wie im Zen – gelegentlich eins mit allem, sondern nur andauernd dunkel keins von allem, jedes lebendige Wachstum ins Wesentliche verhindert.

Mitte der 60er-Jahre hatte D. ebenso wie ich profitiert von sozialdemokratischer Bildungs- als gesellschaftlicher Öffnungspolitik. Jungs wie wir, mit prekärer Herkunft, psychischer Labilität und dem dunklen Drange, dem Arbeitermilieu zu entkommen, wären in früheren Zeiten ohne Ganztagsgymnasium vollkommen sang- und klanglos untergegangen. Doch auch jetzt schickte man Malocherblagen wie uns nur armselig ausgerüstet als Kanonenfutter an die bildungspolitische Front. Jovial schürte man die Illusion, jeder und jede könne gymnasial aufbereitet, durch kompensatorische Erziehung zum artigen Studienrat, willigen Ingenieur, scheinheiligen Priester oder andersgearteten Vollzugsbeamten geschliffen werden, aber selbst für diese Abrichtung ins Bruder Eichmann-Dasein einer dumpfen Kleinbürger- und Arbeitswelt verteilte man die Chancen, die materiellen Ressourcen und persönliche Zuwendung nur äußerst spärlich. So taumelten viele von uns auf ihrem Lebensweg in einen bizarren Superlativ: gescheit – gescheiter – gescheitert.




Ruhrgebiet, Behörden, Berlin, Humor, Tod und Leben – neue Bücher über (fast) alles

Nicht jedes Buch kann hier ausführlich besprochen, manche können aber empfehlend vorgestellt werden. Also sichten wir mal einen kleinen Stapel:

Wie geht’s weiter im Revier?

Da wäre zunächst die Anthologie „wie weiter – 25 literarische aussichten zum ruhrgebiet“ (eichborn verlag, 222 Seiten, 12 Euro), die freilich nur auf dem Cover die Kleinschreibung pflegt. Der Band enthält satte 25 Beiträge mehr oder weniger prominenter Autorinnen und Autoren, die sich mit dem Revier auskennen und dieser Region einiges abgewinnen. Stellvertretend genannt seien Frank Goosen, Thomas Gsella, Nora Gomringer, Feridun Zaimoglu und Lütfiye Güzel. Die hier nicht Genannten mögen nachsichtig sein, eine komplette Liste läse sich nicht so prickelnd. Die literarischen Zugriffe sind jedenfalls ausgesprochen vielfältig, womit schon eine Stärke des Buches benannt wäre. Prosa steht neben Lyrik, auch das Genre der Graphic Novel kommt in Betracht, wenn es darum geht, wie wir im Sosein des Hier und Jetzt gelandet sind und wie es nun womöglich weitergehen könnte – nicht nur, aber auch „nach Corona“. Zwischen tiefem Ernst, Satire und freischwebendem Jux gibt es hier ebenso viele Spielarten wie Mitwirkende. Ein allemal anregendes, streckenweise auch aufregendes Kaleidoskop von Revier-Phantasien. Allein schon einige Zwischentitel machen Appetit, zum Beispiel: „Das Leben…ein Hinterhof“, „TikTok Meiderich Süd“ oder „Kurze Abhandlung über das Verschwinden der Dinge“. Geradezu unverschämt hoffnungsvoll klingt Frank Goosens Überschrift: „Alles ist gut und es wird noch besser.“ Echt jetzt?

Funktionierende Verwaltung

Um mal einen herzhaften Kontrast zu setzen, wenden wir uns nun einem Buch übers trocken anmutende Thema Verwaltungshandeln zu – aber was für einem! Der ruhmreiche Soziologie-Professor (und studierte Jurist) Niklas Luhmann ist, wie nicht allgemein bekannt sein dürfte, in jüngeren Jahren in der niedersächsischen Ministerialverwaltung tätig gewesen und hat ab Anfang der 60er Jahre an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer gewirkt. Theoretische Durchdringung der Materie und praktische Erfahrungen kommen also zusammen in seiner profunden Untersuchung „Die Grenzen der Verwaltung“ (Suhrkamp Verlag, 254 Seiten,  28 Euro), die selbst heute – rund 60 Jahre nach der Niederschrift – noch erhellende Einsichten bereithält. Allen Wandlungen zum Trotz, gibt es ja einen Kernbestand des Verwaltungshandelns, der sich nicht so rasch ändert. Dass funktionsfähige Verwaltungen auch und gerade gegenwärtig ein virulentes (!) Thema sind, wird wohl niemand bestreiten. Bei Luhmann finden sich dazu beispielhafte gedankliche Grundlagen.

Wilde Hauptstadt

And now to something completely different, wie einst die universell taugliche Überleitungs-Formel von „Monty Python“ lautete. Die Hauptstadt Berlin sieht sich immer mal wieder gern bespiegelt, auch rückblickend gibt sie einiges her. Erfolgsserien wie „Babylon Berlin“ zeugten neuerdings davon. Ebenfalls in den 1920er Jahren, allerdings verfasst aus authentischer Sicht der damaligen Zeit, spielt dieser Roman aus dem Jahr 1929. Yvan Goll: „Sodom und Berlin“ (Manesse, 184 Seiten, 20 Euro). Ein grandioses, herrlich grotesk überzeichnetes Zeitpanorama aus den „wilden Zwanzigern“. Der gebürtige Lothringer Yvan Goll bewegte sich, wann immer es möglich war, geläufig zwischen der französischen und deutschen Kultur und hat diesen Roman auf Französisch geschrieben. Gerhard Meier hat das allseits überbordende, geradezu brodelnde Werk neu übersetzt, das unbedingt eine Wiederentdeckung lohnt. Dafür plädiert auch Hanns Zischler in seinem Nachwort.

Inspirierendes Lesebuch

Gerd Herholz, langjähriger Leiter des Literaturbüros Ruhr in Gladbeck und gelegentlich auch Mitarbeiter der Revierpassagen, darf wohl als einer der besten Kenner des Werks von Sigismund von Radecki gelten. Wiederholt und sehr einlässlich hat er sich mit dem Autor befasst, der 1891 in Riga geboren wurde und 1970 in Gladbeck gestorben ist. Jetzt hat Herholz ein „Lesebuch Sigismund von Radecki“ (Aisthesis Verlag, 162 Seiten, 8,50 Euro) herausgegeben, dessen Textauswahl einen inspirierenden Ein- und Überblick zum Oeuvre erlaubt. Herholz‘ ausführliches Nachwort erschließt zudem einige wesentliche Aspekte des gesamten literarischen Schaffens, das in den 1920er Jahren einsetzte. Sigismund von Radecki pflegte zwar eine Freundschaft mit Karl Kraus, er ist aber beileibe kein typischer Vertreter des Literaturbetriebs gewesen. Studierter Ingenieur, schlug er sich als Schauspieler und Porträtzeichner durch, bevor er sich als Journalist und freier Autor verdingte, aber auch (kurz) Forstaufseher auf Usedom war. Seine oft anekdotisch verdichteten, humorvoll zugespitzten und zeitkritischen Alltags-Feuilletons sind vielfach noch heute lesenswert. Gewiss: Der zeitliche Abstand ist nicht zu verkennen, doch man merkt auch, wie pointiert Sigismund von Radecki die Verhältnisse seiner Zeit erfasst und stilsicher aufgezeichnet hat.

Was bleibt

Nach dem Tod ihrer Eltern hat Louise Brown ihr Leben geändert und sozusagen der Vergänglichkeit gewidmet. Sie ist Trauerrednerin geworden und hat sich im Laufe der Jahre eben nicht nur mit dem Tod, sondern gerade auch mit dem Leben und der Sinngebung befasst. In ihrem Buch „Was bleibt, wenn wir sterben“ (Diogenes, 252 Seiten, 22 Euro) versucht sie, Fragen zu den „letzten Dingen“ zu beantworten, die auf eine vertiefte Bejahung des Lebens hinauslaufen. Doch kein billiger, vorschneller Trost wird hier gespendet, sondern es sind offene, ehrliche und einfühlsame Worte, die dann eben doch tröstlich sind. Und schließlich kommt auch in diesem Buch die Trauer „in Zeiten von Corona“ zur Sprache.

 




Leselust und triste Texte: Bekenntnisse eines angeschlagenen Jurors

In den Jahren, in denen ich im sogenannten Literaturbetrieb mitwirkte, habe ich nicht wenigen Jurys angehört – immer als Ehrenamtler ohne oder mit geringer Aufwandsentschädigung. Als Ausgleich  durfte ich über Wettbewerbe um Preise und Stipendien meisterhaften Autorinnen begegnen, vielen Begabungen und Texten, die mich tief beeindruckten. Zugleich aber traf ich unvermeidlich auf Subventionspoeten, Sinnsimulanten und Dichterdarsteller, also auf die vielen Geduckten und Gedrückten, die sich als Gedruckte endlich Erlösung erhofften.

Zwei Juroren unter der Literaturzirkuskuppel: ratlos.   (Foto © Jörg Briese)

Heute, im Dezember 2019, sind es die durch zu viele schlechte Texte hervorgerufene Müdigkeit sowie ein starkes Mitgefühl mit wirklichen Könnern der schreibenden Zunft, die zum Entschluss führten, nie wieder einer Jury angehören zu wollen.

Die Dosis macht das Gift

Zuletzt bin ich 2017 gefragt worden, ob ich für drei Jahre helfen könnte, jene internationalen Stipendien zu vergeben, die es Schriftstellern ermöglichen, für einige Monate im inspirierenden Künstlerdorf Schöppingen zu leben und zu arbeiten. Im Herbst 2019 habe ich zum dritten und letzten Mal für das Künstlerdorf umfangreiche Bewerbungen mit Lebensläufen, Projektvorhaben, Exposés und Textproben gelesen und bewertet, 63 an der Zahl, dazu viele Texte aus den Bewerber-Pools dreier Kolleginnen und Kollegen.

Es waren wohl 3000 Seiten, die aufmerksam zu sichten waren, und eines wurde dabei immer deutlicher: Ja, ganz sicher, es liegt auch an mir! Mir persönlich nämlich fällt es trotz aller Routine zunehmend schwerer, in kurzer Zeit zu oft und zu lange in die mehr oder minder gut gemachten literarischen Fantasien ambitionierter Literaten einzutauchen.

Und dabei waren es in Schöppingen immer ausnehmend viele gute Texte, die ich zu lesen bekam. Doch nach etlichen Jahren und Jurys gilt auch: Ich werde ungeduldiger und  schneller ärgerlich, wenn man mir polit-literarisch zu kurz Gebratenes, abgestanden Sturzbetroffenes, dekorative Pseudo-Avantgarde auftischt oder angestrengt Hermetisches und edel-verblasenen Metaphernsalat.

Da, wo offensichtlich kaum intellektuelle und artistische Anstrengung beim Entstehen investiert wurde, sträube auch ich mich, mir beim Verstehen mehr Mühe zu geben als nötig. Lieber verallgemeinere ich im Rahmen eigener Multi-Genre-Lektüre durchaus gallig und gern, was Marcel Reich-Ranicki 2010 im Spiegel-Interview in Hinsicht auf nur eine literarische Gattung bekannte: „Für Romane bringe ich nicht mehr die Geduld auf.“

Gute Jurys fördern, selbst dann, wenn sie nicht fördern

Als junger, neugierig-eitler Juror dagegen freute ich mich über jedes Talent, das ich aus dem Pool der Einsendungen herausfischte. Dass ich bei Förderpreisen oder Stipendien auch viele Halbfabrikate zu sehen und lesen bekam – wie sollte es anders sein? Selbst, wenn ich über tagelange Lesearbeit als vertane Zeit stöhnte, zum guten Ende überwog die Freude an den gelungenen Texten und die Tatsache, dass auch ich einigen jungen Autorinnen und Autoren ein paar Meter ihres Weges ebnen konnte.

Die Preisverleihung fällt heute aus?
(Foto © Jörg Briese)

Gelegentlich aber gab es in Jurys auch heftige Diskussionen darüber, ob man für ein Jahr keinen oder weniger Preise verleihen sollte. Immer allein deshalb, weil die Qualität der eingereichten Texte wirklich niemanden in der Jury überzeugte. Seltener machten Jurys ernst mit ihrer (internen) Kritik und setzten einen Haupt- oder Förderpreis tatsächlich einmal aus. Zumeist aber wurden die Auszeichnungen doch vergeben: Auch, weil man fürchtete, dass in Zeiten klammer Kassen einfallslose Kulturpolitiker und Kämmerer einen Preis bei dessen Nichtvergabe sofort ganz abschaffen könnten.

Schöppinger Luxusproblem

In der Jury für Schöppingen stellte sich das Problem einer Nichtvergabe von Stipendien niemals, ganz im Gegenteil. Auch 2019 gab es in meinem Text-Pool vielversprechende Autorinnen und Autoren aus aller Welt. 12 von 63 Texten waren so gut, dass ich ihre Urheber gerne für ein Stipendium vorgeschlagen hätte. Doch im Rahmen des Schöppinger Förderbudgets können nun einmal nur acht bis zehn Literaturstipendien vergeben werden – und auch die anderen drei Juroren hatten unter den ihnen zugeteilten weiteren 190 Bewerbungen überaus ernst zu nehmende Talente.

„Ja, und?“, werden Sie vielleicht denken, „So ist das nun mal. Da müssen es die Nachwuchs-Autoren halt noch einmal oder woanders versuchen. Deutschland hat bekanntermaßen eine reiche Förderlandschaft aus Literaturpreisen und -stipendien.“ Und ich würde Ihnen hier zustimmen, wenn da in den gut 250 Bewerbungen für die Stipendien nicht bloß äußerst respektable Gedichte, Geschichten, Theater- oder Hörspielszenen vorlägen, sondern eben auch Biografien aufschienen, Überlebenspläne also und Künstlerträume, die kein halbwegs sensibler Juror en passant ignorieren sollte.

Illusion und Enttäuschung

Da sehnen sich junge Lyrikerinnen noch einer Auszeit vom Alltag, nach Fokussierung und Schreibzeit in „a room of one’s own“. Migranten hoffen auf die Möglichkeit, ihre Autorenkarrieren in Deutschland fortschreiben zu können. Da finden sich ebenso hinreißende wie bedrückende Lebensgeschichten aus Nepal oder Nigeria, und ein Bewerber aus Afghanistan schreibt lakonisch über seine Erwartungen an eine Residenzzeit im Münsterländischen: „Expectations? To have a cozy place away of explosions, so I go deep with writing.“

Ein Stipendium oder ein kleiner Preis bedeutet für viele die oft allein gültige Eintrittskarte in einen Literaturbetrieb, in dem jegliche Existenzsicherung nur über eben diese Preise und Stipendien gelingt, über daran gekoppelte Visa, Lesungen, Schreibaufträge, Projekte, kleinere Veröffentlichungen – und selbstverständlich über Nebenjobs als Kellner oder Nachtwache.

Ist es da ein Wunder, dass ich jedenfalls sehr erleichtert bin, die berechtigten Hoffnungen begabter (!) Schreiber nicht länger enttäuschen zu müssen? Die aber sollten wissen, dass ihre Bewerbung oft allein deshalb ins Leere lief, weil die Anzahl der Stipendienplätze begrenzt war, weil die Texte anderer Autoren der Jury vielleicht nur einen Hauch besser gefielen und dabei selbstverständlich auch die Lese- und Lebenshorizonte der Juroren neben dem Zufall keine geringe Rolle spielten.

Occupy LCB! Oder: Der Hauptmann … vom Wannsee

Es wird wohl weiterbestehen, das Dilemma aller guten Jurys, aller seriösen Juroren: Sie dürfen einige wenige Literaten mit Fug und Recht ermutigen, doch zugleich müssen sie ausgewiesene Talente immer wieder enttäuschen  – und deren Kunst besteht dann nicht zuletzt darin, auf keinen Fall aufzugeben.

Joachim Lottmann hat kürzlich in der WELT die einzig richtige, weil satirische Autoren-Antwort auf dieses Dilemma gegeben:

„Mein Wunsch nach einem Stipendium wurde so groß, dass ich es eines Tages nicht mehr aushielt. (…) Vor allem wollte ich in die Wannsee-Villa des Literarischen Colloquiums Berlin. Die vergaben jedes Jahr Stipendien an sechs vermeintliche Sprachgenies. (…). Ich bin dann einfach hingefahren, als die sechs Kandidaten ankamen, und tat so, als sei ich einer von ihnen. Zwei Gewinner hatten nämlich abgesagt – das war üblich dort, weil manche mehrere Stipendien gleichzeitig abwickeln – und so fiel es nicht auf.“




„Ruhrgebietchen“: 36 Ansichten des Reviers

Laut Wikipedia ist das Ruhrgebiet mit 5,1 Millionen Einwohnern der größte Ballungsraum Deutschlands und der fünftgrößte Europas. Nun kommen gleich 36 Autoren daher, durchmessen mit ihren Beiträgen das Revier oder zumindest Teile von ihm. Ihr gemeinsamer Band, der im Verlag Henselowsky Boschmann erschienen ist, trägt den geradezu verniedlichenden Titel „Ruhrgebietchen“…

Da könnte man natürlich fragen, ob die Verfasser vielleicht doch die falsche Messlatte angelegt haben. Aber ihnen geht es weniger um Zahlen und Statistiken, sie erzählen vom Leben und Alltag der Menschen, von ihren Werten und Charakteren.

Überwiegend Sympathie für die Region

Mit dem Titel kommt wohl eher die Sympathie zum Ausdruck, die ein jeder, der an dem Buch mitgewirkt hat, für die Region empfindet, zumindest irgendwie. Und da man es nun mal mit dem Ruhrgebiet zu tun hat, kann ein solches Wohlwollen kaum davon abhalten, auch die Schattenseiten beim Namen zu nennen.

Denn offen und geradeheraus zu sein, gehörte lange Zeit zu den Merkmalen der Leute im Revier, wie es beispielsweise Einhard Schmidt-Kallert am Beispiel eines Bochumer Studenten herausstellt. Als besagter Erich sich 1968 (vollgesogen mit Rudi Dutschkes revolutionären Ideen) in die nächste Eckkneipe begab, wusste ihn einer der Stammgäste nach wenigen Sätzen zu erden.

In der Fremde vermisst man dann doch etwas

Dass es am und im Revier doch so manches zu bemängeln gibt und gab, daran lassen viele Autoren keinen Zweifel. Beispielsweise schreibt Heinrich Peuckmann über die Umweltschäden, die Kohle und Stahl zur Folge hatten. Die Emscher färbte sich lila, angesichts „des Zeugs“, das da hineingekippt wurde, und die Luft hing voller Rußpartikel. So schildert er Erinnerungen an seine Kindheit, in der solche Begleiterscheinungen aber wie selbstverständlich zum Leben dazugehörten. Wenn er heute schon mal mit seiner Heimat hadern sollte, dann sind es meist Situationen, in denen es allzu grobschlächtig oder prolohaft zugehe, so der Autor. Nimmt er Reißaus, merkt er jedoch andernorts schon sehr schnell, was ihm fehlt: beispielsweise die Treuherzigkeit der Menschen, die Solidarität untereinander oder die Fähigkeit zu Ironie und Selbstironie.

Immer noch Image-Defizite in Sachen Kultur 

Darüber hinaus hebt Peuckmann ein Charakteristikum des Reviers hervor, das, wie auch weitere Verfasser anmerken, in den Köpfen vieler Menschen kaum verhaftet ist: Die Region ist eine ausgeprägte Kulturlandschaft. Welche Vielfalt allein bei den Theatern im Ruhrgebiet besteht, hat Joachim Wittkowski, Gymnasiallehrer in Selm und Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Uni Bochum, brillant zusammengefasst. Überraschen mag an dem Aufsatz auch, dass viele Bühnen auf eine lange Geschichte zurückblicken. Das über Jahrzehnte vorhandene Bild vom Revier, in dem nur Malocher und Kulturbanausen leben, mag da überhaupt nicht mehr verfangen. Der Autor fordert dazu auf, Imagearbeit zu betreiben, damit die Stärken der Region deutlich werden. Die Chancen, die sich im Jahr 2010 geboten haben, als das Revier Kulturhauptstadt Europas war, seien nicht genutzt worden.

Love Parade, Schimanski und Zaimoglu

Mit der Tragödie der Love Parade, die Teil des Kulturhauptstadt-Programms war, setzt sich Gerd Herholz (ebenso wie Heinrich Peuckmann gelegentlich auch Autor der Revierpassagen) auseinander und bindet sie ein in die Geschichte der Stadt Duisburg und das Bild, das auch ein Kommissar Schimanski zu prägen wusste. Wie lobenswert sei es doch da, meint Herholz, dass der Schriftsteller Feridun Zaimoglu einen Roman in Duisburg spielen lässt und dazu vorher intensiv recherchierte, wie es dort denn eigentlich und wirklich zugeht.

Trinkhallen oder Buden gehören allerorten zum Ruhrgebiet. Margret Martin trägt eine Geschichte bei, die erst so gar ins Bild passen will. Die Hauptfigur, so viel sei verraten, lebt in direkter Nachbarschaft zu einer Bude und mag den Lärm nicht mehr ertragen, doch die Verfasserin bietet dem Leser eine Auflösung des Problems, die schmunzeln lässt.

Ernüchterung für Schalker und Borussen

Wer im Übrigen Schalke-Fan sein sollte und eine Antwort sucht, warum es 2001 nicht geklappt hat und auch sonst die Schale einfach nicht in die Arena will, der wird nach der Lektüre des Buches klüger sein. Herr Luca, so der Name des Autors, hat den Fußballgott befragt – persönlich. Aufmunterung oder Hoffnung für die königsblauen Fans sehen aber anders aus. Im Gegenzug wird sich auch mancher Borusse seine Gedanken machen, wenn er Udo Feists Anmerkungen zur BVB-Familie liest. Ernüchternd fällt seine Bilanz aus, zu sehr regierten Geld und Geschäft, als dass von echtem Glanz gesprochen werden könne.

Man musste schnell und billig bauen

Warum es in manchen Städten des Ruhrgebiets eher trist aussieht und oftmals auch schlichte Bauten das Bild bestimmen, erörtert Gerd Puls in seinem Aufsatz „Hammer und Schlegel, Spaten und Axt“. Arbeitssuchende aus der ganzen Republik landeten in den 50er und 60er Jahren im Revier, denn hier gab es Jobs. Die Leute unterzubringen, war eine Mammutaufgabe, die schnell, einfach und preiswert gelöst werden musste. Von allzu seligen Wirtschaftswunderjahren kann nach den Ausführungen des Autors kaum die Rede sein, gehörten doch Prügeleien und Schlägereien auch und gerade in Familien zum Alltag. Als Ursache vermutet er, dass die Männer die schrecklichen Erlebnisse auf den Schlachtfeldern nicht verarbeitet hatten.

„Urgesteine“ in den Kommunen

Zur Geschichte und Politik der Region liefern unter anderem Werner Boschmann und Thomas Rother wichtige Beiträge, indem sie so genannte „Urgesteine“ des kommunalen Geschehens portraitieren, die meist über Jahrzehnte in einer Stadt das Sagen hatten.

Klischees über das Ruhrgebiet werden Leser in dem Buch vergeblich suchen, und auch Pia Lüddeckes Geschichte über einen Taubenvater (oder Taubenvatta, um im Jargon zu bleiben) nimmt ein eher skurriles Ende.

Zusammenhalt ja, Metropole nein

Einige Autoren erzählen, wie sie, endlich flügge, das Revier verlassen haben und feststellen mussten, dass sie doch mit der neuen Heimat fremdelten und ihrem Herkunftsort verbunden blieben.

Mehr Zusammenhalt der Städte im Ruhrgebiet, das wünscht sich Sigi Domke, aber auch nicht zu viel: Städtehaufen ja, Metropole nein, eben doch ein Ruhrgebietchen.

„Ruhrgebietchen – was deine Kinder an dir lieben und was nicht“. Verlag Henselowsky Boschmann, 224 Seiten, 9,90 Euro.




Hat Literaturförderung eine Zukunft? Oder: Ein Interview als Selbstversuch

Zum 1. April 2018 habe ich im Literaturbüro Ruhr e.V. als wissenschaftlicher Leiter gekündigt. Kein Wunder, dass ich des Öfteren gefragt werde, ob ich zum vorzeitigen Abgang ein Interview gäbe. Angeregt durch die Sammlung „Unmögliche Interviews“ des Wagenbach Verlags und David Foster Wallaces „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ habe ich mich heute endlich dazu entschlossen, mich – mir nichts, dir nichts – selbst zu interviewen. Denn, so sagt Novalis, „Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.“

Beim „Kaputten Abend 1“ im Maschinenhaus der Zeche Carl – Maria Neumann (Theater an der Ruhr), geschultert von Gerd Herholz; Foto: Jörg Briese

Drei Jahrzehnte Literaturbüro Ruhr? Wie hält man das aus?
Sie hatten doch intelligente Fragen versprochen. Naja …
Heute scheint tatsächlich jeder verdächtig, der sich über längere Zeit einer Sache widmet. Die Beschäftigung mit Literatur in all ihren Facetten aber bleibt ein Leben lang  inspirierend und bereichernd. Man kann übrigens hier- und dennoch nicht zurückbleiben.

Empfinden Sie Wehmut zum Abschied?
Mut und Weh zugleich. Von Meister Eckhart stammt der Satz: „Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist.“ Da stimme ich gottloser Humanist dem begnadeten Mystiker zu, spät und wahrscheinlich auch zu spät.

Wahrlich mystisch! Das heißt konkret?
Innehalten. Es braucht Muße, um wieder zu sich zu kommen. Als Rollenspieler im Hamsterrad der Literaturförderung war ich zu oft außer mir, eingespannt bei der Suche nach Fördermitteln, medialer Aufmerksamkeit, Publikum, aber auch in die bitter notwendige Kritik öffentlicher Kulturpolitik, war also Teil eines zwar noch nicht rasenden, aber rasanten Stillstands. Die Literatur, das Lesen, das Dem-Gelesenen-Nachsinnen, all das kommt eindeutig zu kurz. Ein Literaturbüro ist zwar immer auch ein Biotop für Literaturbekloppte, aber eben viel zu selten.

Hate Poetry-Abend des Literaturbüros im Essener Katakombentheater – u.a. mit Hasnain Kazim & Doris Akrap; Foto: Jörg Briese

Das war’s jetzt mit dem Weh?
Nein. Weh tut im Moment des Abschieds, dass es so scheint, als ob die Zukunft des Literaturbüros als Komplize literarischen Eigensinns verramscht würde. Da machen gedankenlose Vordenker  wohl schon länger obskure Planspiele zum Um- oder Abbau des Trägervereins, ohne dessen Vorstand und Mitglieder oder mich als Leiter des Büros überhaupt zu informieren. Insbesondere aus dem Umfeld des Regionalverbands Ruhr hört man, dass sich das Literaturbüro Ruhr mehr zu vernetzen habe, umzustrukturieren, vielleicht seine Landeszuschüsse in ein neues „Literaturzentrum“ überführen, sich gar einen neuen Standort außerhalb Gladbecks suchen solle.

Wäre denn Veränderung so schlecht?
Die behutsame Entwicklung des Literaturbüros, sein Ausbau wären mir lieber. Die Selbstständigkeit des Vereins, seine Souveränität müssen geachtet werden. Ich lege seit vielen Jahren beharrlich, aber vergeblich auch dem RVR Konzepte dazu vor, wie ein Literaturhaus, ein Literaturnetz Ruhr, Residenzen/Stadtschreiberstellen und der Literaturpreis Ruhr zukünftig aussehen könnten.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(von rechts nach links): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Mitglied des Vorstandes Stiftung Zollverein), Dr. Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung),Eva Schuderer (Programm lit.RUHR),Bettina Böttinger (Moderatorin), Dr. Thomas Kempf (Mitglied des Vorstandes der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Der RVR allerdings zeichnete sich bisher nicht durch eine ideenreiche und die Region vehement unterstützende Literaturförderung aus, im Gegenteil: Er hat sie eher verschleppt. Noch planloser sind nur die großen Stiftungen des Ruhrgebiets. Sie geben ab 2017 jährlich eine halbe Million Euro an Kölner Veranstalter, um von dort aus jeweils im Herbst die lit.RUHR organisieren zu lassen. Diese ‚lit.KOLONE‘ ist aber nichts weiter ist als eine schlichte Kopie der lit.COLOGNE: Das Ruhrgebiet – ein starkes Stück Köln! Am grünen Planertisch der hiesigen Eliten-Darsteller denkt man leider nur noch in Kategorien wie Kulturtourismus, Veranstaltungstaumel oder „Dachmarkenmarketing“ – und landet eher bei einem Dachschaden-Marketing.

Das klingt ziemlich aggressiv und verbittert.
Aggression, das heißt auch: sich auf etwas zubewegen. Meinen kleinen Zorn möchte ich mir bewahren. Den Anschein von Einstimmigkeit zu durchbrechen, das macht auch Spaß.
Verbittert? Nein. Aber enttäuscht, vor allem extrem gelangweilt von der immer gleichen größenwahnsinnigen Kulturkampagnenpolitik im Ruhrgebiet, die nicht einmal nach der Loveparade-Katastrophe gründlich infrage gestellt wird. Ich muss mir aber auch selbst vorwerfen, dass ich mich angesichts der kargen Mittel des Literaturbüros Ruhr und der fehlenden kulturpolitischen Unterstützung verschlissen habe bei dem Versuch, Literatur- und Leseförderung auf möglichst hohem Niveau zu gestalten. Man kommt sich vor wie ein Bastard aus Sisyphos, Don Quichotte und Freigänger.

Textrevolte – eine Reihe des Literaturbüros Ruhr

Wie sieht die Zukunft der Literaturförderung im Ruhrgebiet aus? Hat sie überhaupt eine?
Ein Großteil des geistigen Lebens im Alltag der Region wird auf der Strecke bleiben, wenn die Sparpolitik bei der kulturellen Infrastruktur – etwa bei den öffentlichen Büchereien – so fortgesetzt wird. Das dürfte hier aber kaum jemandem auffallen.
Die vielen selten subventionierten Enthusiasten und kleinen Initiativen wird es weiter geben. Solides ehrenamtliches Engagement gegen anämische Festivalitis und Eventitis. Ansonsten: Die hoch bezuschusste lit.RUHR als Festivalzirkus der Beliebigkeit wird das große Geld und vieles an Energie binden. Also immer öfter: Promis als Programm, Kunstsimulation als Konzept. So etwas kann man aber auch von den Ruhrfestspielen sagen: ein Kessel Buntes, Culture-to-go.

Dem Publikum scheint’s zu gefallen.
Man kann dennoch versuchen, nicht populistisch zu werden, wenn man Populäres macht. Und es gibt ein Publikum, das wünscht sich auch im kleineren Rahmen des Alltags das gekonnte Gespräch, den Vortrag guter Literatur auf der Bühne, neue Formate und vor allem politisch-kulturelle Intervention – abseits allen Talkshow- und Marketing-Gesumses. Stattdessen wird es seit Jahren vor allem von der Krimi-Flut überrollt. Ein Wellenreiter wie Sebastian Fitzek wird dabei tatsächlich als Schriftsteller gehandelt und ist doch bloß einer, der in Serie Sprache killt. Allerdings sieht man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten auch viele Kulturpolitiker und –‚manager‘, sogenannte Intendanten, Experten, Hobby-Moderatoren, Dichterdarsteller, die sich so vor die gekonnte Literatur, die Literaten schieben, dass man diese gar nicht mehr sieht.

Wieso setzt sich die Festival-Blase überall durch, wenn sie doch nur einfallslose Mono-Kultur bietet?
Es gibt – wie gesagt – die Begierden der Festivalmacher, immerhin agieren sie in sehr gut bezahlten Jobs. Dazu jede Menge offene und verdeckte Politik-, Verwaltungs- und Sponsorinteressen. Alle wünschen sich den Abglanz glitzernder Kunst-Fassaden, den Imagetransfer. ‚Social washing‘: Da lässt sich halt ein Kulturfestival von ‚Gönnern‘  wie VW oder Mercedes sponsern und die Auto-Patriarchen sind erfreut, sich für ein paar Peanuts abseits aller Abgas- und Affenversuchsskandale in veritable ‚Kultur‘ einzukaufen – eine Kultur, die sie selbst nicht besitzen. Und während des Festivals wird dann dreist von Literatur als Widerstand gesprochen, ein Widerstand, der längst verraten und verkauft wurde. Das Großformat erstickt per se aufrechte Haltung und Integrität.

Und wenn man von der öffentlichen Hand gefördert wird, dann bleibt man sauber?
Mitnichten. Öffentlich geförderte Einrichtungen werden nicht nur ins Abseits gespart, sondern zunehmend mit Zielvereinbarungen, Evaluationen usw. gegängelt. Die Landesrechnungshöfe würden im Gegenzug für öffentliche Förderung gern Mindestzahlen beim Publikumsbesuch fixieren. Quotenwahn statt künstlerischer Freiraum. Um so Quote zu machen, werden Kulturförderer sich schlechtem Massengeschmack weiter anpassen müssen und ihn damit selbst immer neu erzeugen. Das wäre die Selbstaufgabe kritischer Literatur- und Leseförderung. So hechelt sie dem Markt nur noch hinterher, statt dessen Korrektiv zu sein und Freiheitsübungen zu ermöglichen.

Harald Welzer plädiert für eine offene Gesellschaft; Foto: Jörg Briese

Denken ist ein großes Vergnügen, meinte Brecht, aber eben auch anarchisch und gefährlich. Dieser ganze sinnentleerte Kulturtrubel, der nur noch dem Profit, den Zuschauerzahlen und der Standortkonkurrenz verpflichtet ist, das ganze sich totlaufende Eventkarussell als austauschbare Fun-Fassade scheinen mir gewollt. Da sollen sich die Leute zu Tode amüsieren, statt über die Zukunft des Gemeinwesens zu diskutieren.

Wüssten Sie ein Gegengift?
Manchmal wünsche ich mir, ein zweijähriges Moratorium, wie es Hans Magnus Enzensberger 1993 in der FAZ gefordert hat, würde endlich umgesetzt und wir lassen den ganzen hypernervösen, von Sponsoren und öffentlichen Förderern abgerichteten Literaturbetrieb zwei Jahre ruhen, um Literaturförderung neu auszurichten. Das Geld sollte stattdessen dem Erhalt und Ausbau der Bibliotheken zugutekommen. Wer dennoch Literatur auf die Bühne bringen will: okay! Aber das soll man bitte aus der eigenen Tasche oder der der Zuhörer zahlen. Wie viel Zeit wir gewinnen würden fürs Lesen, Nachdenken und für Gespräche!




Auf Beutezug im Revier – neue Kurzkrimis aus dem Ruhrgebiet

In der Reihe Mordlandschaften des KBV-Verlags ist der zweite Band mit Kurzkrimis aus dem Ruhrgebiet erschienen. Nach der erfolgreichen Anthologie „Hängen im Schacht“ hat Krimi-Experte H. P. Karr erneut ausgewiesene Krimi-Experten auf einen Streifzug durch das mörderische Ruhrgebiet geschickt. Betitelt ist das Buch mit dem leicht abgenutzten Ruhrgebiets-Kalauer  „Schicht im Schacht“.

24 Autoren haben das Revier von Dortmund bis Duisburg nach literarischen Verbrechen durchsucht und reichlichst Beute gemacht. Es gibt Krimis über Malocher und Macker, unter und über Tage. Das Verbrechen blüht im Landschaftspark Duisburg genau wie in der Hattinger Altstadt und selbstverständlich auch auf dem „Ruhrschleichweg“ A 40. Vielfach ausgezeichnete Autoren haben sich in den kriminellen Untergrund unseres Reviers begeben: Jörg Juretzka, Horst Bieber, Peter Schmidt und der Gründer des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ Herbert Knorr, um nur einige der bekannteren zu nennen.

Der Leser bekommt, was er erwartet. Zwar soll das Ruhrgebiet zwischen gestern und heute gezeigt werden, doch man scheut sich auch nicht, Ruhrgebiets-Klischees zu bedienen. Vielfach wird immer noch ein düsteres und schmuddeliges Bild der Region gezeichnet.

Einige Geschichten sind durchaus spannend, unterhaltsam auch durch skurril-komische Überzeichung. Hervorzuheben wären da „ZEN in der Kunst des Absahnens“ von Gerd Herholz sowie mein persönlicher Favorit, die Rotlichtballade „On the Road to hell oder als Herr Simanjec einmal tot war“ von Nina George. Andere wiederum haben selbst in der Kürze erhebliche Längen oder kommen einem sehr bekannt vor.

Das Buch steht unter dem Motto „Wenn nix mehr geht, dann iss Schicht im Schacht“.  Es ist anzunehmen, dass es eine Fortsetzung über kurz oder lang geben wird. Eine Extraschicht Aktualität wäre wünschenswert. Für kurzweilige Unterhaltung – häppchenweise genossen – ist die Anthologie dennoch gut geeignet.

Zum Buch gibt es einen Blog, in welchem Hintergründe zur Entstehung, zu den Krimis und zu den Autoren sorgfältig zusammengestellt sind. Weniger gelungen fand ich jedoch die dortige Einleitung, man möchte mit dieser Anthologie nunmehr im Jahr eins nach der Kulturhauptstadt die kriminelle Bilanz ziehen. Vor dem Hintergrund der tragischen Ereignisse bei der Loveparade hinterlässt diese Formulierung ein mehr als ungutes Gefühl und ist sicher überdenkenswert.

Herausgegeben wurde die Anthologie im KBV Verlag vom Autor und WDR-Krimi-Experten H. P. Karr, der in den Neunzigern mit seiner Figur Gonzo Gonschorekt einige lokale Berühmtheit erlangte.

„Schicht im Schacht“ (Hrsg. H. P. Karr). KBV Verlags-und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim. 278 Seiten, € 9,90




Jetzt werden auch Schriftsteller im Revier gesponsert – Initiativkreis Ruhrgebiet finanziert neue Lesereihe

Von Bernd Berke

Im Westen. Neues vom hochkarätigen Sponsorenzirkel der Revier-Wirtschaft: Der „Initiativkreis Ruhrgebiet“ steigt jetzt auch in die Literaturförderung ein. Vom 3. bis zum 27. November gibt es erstmals die Lesereihe „Poesie und Prosa – Junge Literatur im Ruhrgebiet“, die in neun Städten (darunter Dortmund und Unna) Station macht. Falls sie jetzt Erfolg hat, soll die Veranstaltung künftig alle zwei Jahre über die Bühne gehen.

„Ein Beweis dafür, daß der Initiativkreis nicht nur Glanz- und Glamour-Veranstaltungen wie Operngalas finanziert.“ So wertete Dr. Konrad Schilling das Engagement. Schilling, vormals Kulturdezernent von Duisburg, ist jetzt Kulturbeauftragter des Vereins „pro Ruhrgebiet“, der den Initiativkreis unterstützt.

16 Autoren aus dem Revier werden mit „Poesie und Prosa“ aller Genres (von der Jugendliteratur bis zum Krimi) vorgestellt. Bibliotheken und Literaturbüros der Region machten Vorschläge für die Namensliste. Hobby- und Arbeiterliteratur hat man ebenso „aussortiert“ wie Prominenz: Max von der Grün und Josef Reding sind beispielsweise nicht dabei.

Die 16, die nun in den einzelnen Städten (meist paarweise und nach Geschlechterparität) an den Lesestart gehen, haben allesamt schon Bücher herausgebracht, sind aber nur halbwegs arriviert. Kaum einer kann von seiner Literatur leben. Mitorganisator Gerd Herholz vom Literaturbüro Gladbeck: „Ein einzelner Autor hat es hier schon schwer, in der Nachbarstadt bekannt zu werden.“ Die Bündelung der Kräfte durch „Poesie und Prosa“ könne da Abhilfe schaffen.

Schwerpunkt in Dortmund

Schreibkünste scheinen besonders in Dortmund zu gedeihen: Mit Thomas Kamphusmann, Thomas Kade, Ewa Gust, Bettina Rolfes und Jürgen Wiersch lebt fast ein Drittel der beteiligten Autoren in dieser Stadt. Hinzu kommt die Krimi-Autorin Sabine Deitmer, die einen Leseabend moderiert. Überhaupt bleiben die Autoren nicht auf sich allein gestellt. Jeder Abend wird nicht nur moderiert, sondern auch musikalisch umrahmt.

Bringt die Literaturszene des Reviers genügend guten Nachwuchs hervor, um auch 1994 und 1996 „Poesie und Prosa“ angemessen zu besetzen? Gerd Herholz ist skeptisch: „Warten wir’s ab.“ Konrad Schilling hingegen meint: „In zwei Jahren werden wir die Qual der Wahl haben.“

Für „Nachwuchs“ will man schon diesmal ganz konkret sorgen: Am 27. November beendet ein „Stimmengewirr“ in Mülheim an der Ruhr die Literaturtage. So heißt die öffentliche Abschlußlesung eines Lyrik-Workshops, der von Hannelies Taschau und Thomas Rosenlöcher betreut wird.

Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist kostenlos. Der Initiativkreis wendet für das Projekt rund 125 000 DM auf.

Auskünfte und Programmfaltblätter bei: Initiativkreis Ruhrgebiet 0201/266 96 18 oder Stadt- und Landesbibliothek Dortmund 0231/502-3225 oder: Unna, Lindenbrauerei 02303/27 10 97.