Wege zu sich selbst: Frühwerke Puccinis zum 100. Todestag in der Philharmonie Essen

Giacomo Puccini ist vor 100 Jahren, am 29. November 1924, gestorben. Seine Heimatstadt Lucca hat ihm dieses Denkmal gesetzt. (Foto: Werner Häußner)

Die Suche nach dem Funken der Genialität berühmter Komponisten gehört zu den Standards einer glorifizierenden Geschichtsschreibung, die selbst im weit abgelegenen Jugendwerk noch die Ahnung des späteren Meisters erspüren will. Das funktioniert bei Wagner schon nicht und geht bei Giacomo Puccini vollends ins Leere.

Nichts deutet darauf hin, dass aus dem Kirchenmusikschüler aus Lucca und dem bequemen Mailänder Studenten Amilcare Ponchiellis einmal der Schöpfer einer „Tosca“, einer „Madama Butterfly“ oder einer „Turandot“ werden sollte.

Trotzdem ist es eine gute Idee, den 100. Todestag Puccinis (geboren am 22.12.1858 in Lucca, gestorben am 29.11.1924 in Brüssel) zum Anlass zu nehmen, einmal in seiner Jugend zu kramen. Zum einen, weil eine Größe wie Puccini kein Jubiläum braucht, um mit seinem reifen Œuvre im Musikleben der Gegenwart ausreichend präsent und gewürdigt zu sein. Zum anderen, weil gerade der Kontrast zwischen den eifrigen Jugendwerken und den so souverän wirkenden, tatsächlich aber unter unendlichen Mühen entstandenen Opern Aufschluss geben kann, wie der Komponist Puccini zu sich selbst gekommen ist. Es sind nicht die sicherlich unersetzlichen Bemühungen um Kontrapunkt, Harmonielehre oder historische Musik, die den Durchbruch anfeuern. Es ist der Funke, der aus dem Musikdrama springt, der die Fantasie des Autors entfacht und in höchste Höhen treibt.

Dieses zündende Moment ist vielleicht am ehesten in Puccinis „Messa di Gloria“ zu spüren – ein Werk, in dem eben schon Text zur Musik tritt und sich beide unzertrennlich verbinden. Puccini-Biograph Dieter Schickling nennt sie „zeitgenössische Konfektionsware“ und hat damit wohl recht. Hätte die am 12. Juli 1880 in Lucca mit einigem Erfolg uraufgeführte Messe irgendeiner der tüchtigen Zeitgenossen des jungen Puccini geschrieben, läge sie wohl immer noch unbeachtet in irgendeinem Archiv. Puccini selbst hatte kein Interesse mehr an dem Jugendwerk. Doch der Name des Autors bringt die Erlösung: 1952 wurde die Messe wieder ausgegraben.

Zweifelhafte Hymne für die Stadt Rom

Der Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

GMD Andrea Sanguineti ist zu danken, dass die Essener Gedenkfeier zum Tod Puccinis vor 100 Jahren nicht in irgendeinem geistlosen Highlight-Potpourri besteht. Er hat die „Messa a quattro voci con orchestra“ – so der korrekte Titel – ins Zentrum seines Vierten Sinfoniekonzerts mit den Essener Philharmonikern gestellt und das Programm mit Orchester-Frühwerken Puccinis aus seinen Studienzeiten in Lucca und Mailand ergänzt.

Sanguineti war aber auch mutig genug, den „Inno a Roma“ von 1919 ins Programm aufzunehmen, ein Stück Propagandamusik, wie sie auch Beethoven, Rossini, Verdi, Wagner und manch andere geschaffen haben. Und wie Wagners Musik in Deutschland, so wurde Puccinis martialische Hymne von den Faschisten vereinnahmt, deren Aufstieg der Maestro unpolitisch unbekümmert verfolgte, ohne seine eher konservativ patriotische Einstellung in Nationalismus oder gar Sympathie umschlagen zu lassen. Sanguineti ließ den „Inno“ richtig krachen und von Pathos triefen – und hat so mehr als in seiner wortreich entschuldigenden Erklärung dazu beigetragen, das Doppelgesicht dieser Musik und ihrer Missbraucher zu entlarven.

Entrückte Stimmung, melodischer Geschmack

Was zeigen die Orchesterwerke des jungen Puccini? Das „Preludio a Orchestra“, das er mit Achtzehn schrieb, steht in den vibrierenden Violin-Piani wohl unter dem Eindruck einer „Aida“-Aufführung, die er 1876 im Teatro Nuovo in Pisa miterlebt hat. Auf den tiefen Saiten intonieren die Geigen ein schmeichelndes Thema, in dem man das Material für eine Opernarie entdecken könnte. Aber von den späteren eleganten Übergängen ist noch nichts zu hören. Auch „Scherzo e Trio“, wohl um 1883 in Mailand entstanden, offenbart Puccinis melodischen Geschmack. Das „Preludio sinfonico“ atmet die entrückte Stimmung eines „Lohengrin“ und zeigt in den Holzbläserharmonien, wie sich Puccini für die Koloristik in der Musik interessiert.

Das bekannteste Werk aus dieser Zeit, das „Capriccio sinfonico“, genießt eine gewisse Bekanntheit, weil Puccini das Vivace daraus in „La Bohème“ wieder verarbeitet hat. „Sinfonisch“ im Sinne einer deutschen Tradition ist da wenig, die Struktur dieser frühen Heldentaten erinnern eher an die Themenreihungen von Opernouvertüren oder an locker gefügte sinfonische Dichtungen. Die Essener Philharmoniker haben diesen anregenden Einblick in die frühe Werkstatt des späteren Operngenies mit Lust und Spiellaune eröffnet.

Dramatisch und unkonventionell

Gedenktafel für Giacomo Puccini in seinem langjährigen Wohnort Torre del Lago. (Foto: Werner Häußner)

In der Messe findet sich keine Spur der späteren Opernmusik zu religiösen Momenten, etwa des falschen Pathos‘ des „Te Deum“ in „Tosca“. Dafür lassen sich zwei Beobachtungen machen: Puccini zeigt seine Stärken als Dramatiker, denn die schildernden Teile etwa des Credo wirken inspirierter als die reflektierend theologischen Passagen. Und er lässt sich nicht nur von Ausdruckskonventionen bestimmen. Das zeigt sich bereits im kontemplativen „Kyrie eleison“: Der Opernchor des Aalto-Theaters gibt ihm gemeinsam mit dem Philharmonischen Chor Essen pastorale Leichtigkeit, hebt aber auch den Kontrast zum „Christe eleison“ mit seinen Marcato-Männerstimmen heraus.

Man darf sich durchaus fragen, welche Gedanken Puccini hegt, etwa wenn er im Gloria das „in terra pax hominibus“ – also der weihnachtliche Wunsch nach Frieden auf Erden – zurücknimmt, als melde er seine leisen Zweifel an. Oder wenn er den Solo-Tenor – Alejandro del Angel singt die Stelle mit markig strahlender Stimme – den Dank an den König des Himmels („gratias agimus tibi“) vielfach wiederholen lässt. Das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt, wird wieder in leuchtender „Aida“-Stimmung besungen.

Das Bekenntnis zum alleine Heiligen („Quoniam tu solus sanctus …“) erklingt dann ganz konventionell in hymnischem Ton, blechgewappnet und fanfarenbegleitet. Sanguineti dirigiert diese Stellen mit Verve und Energie, und die Essener Philharmoniker folgen ihm mit eindringlicher, aber nicht überzogener Wucht. Wobei einzelne Stellen, die wie Schönberg’sche Abweichungen klingen, darauf hindeuten, dass das mühsam überarbeitete Material keineswegs fehlerfrei ist. Und obwohl seine Lehrer den Arbeitseifer des Studenten Puccini bemängelten, zeigt die klassische „Cum sancto spiritu“-Fuge, dass er sich auch dieses Metier vertraut gemacht hat.

Der zweite Solist der Messe, Massimo Cavaletti, bestätigt im „Benedictus“ und im Duett mit dem Tenor im „Agnus Dei“ den Eindruck aus der neuen Aalto-Produktion von Verdis „La forza del destino“: Sein Bariton ist klangvoll, sicher positioniert und bei aller Wucht in der Lage, eine melodische Linie flexibel zu gestalten.

Mit den Chören haben Patrick Jaskolka und Wolfram-Maria Märtig ganze Arbeit geleistet: Ein paar schwummrige Stellen zu Beginn, ein paar Unebenheiten bei den Frauenstimmen in heikel zurückzunehmenden Momenten sind schnell vergessen, wenn der Chor im Credo konzentriert und klangstark agiert, beim Hinweis auf die Auferstehung der Toten die Apokalypse von Verdis „Requiem“ anklingen lässt, die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ in lichterfülltem Dolce besingt und das „Sanctus“ ohne triumphale Geste wie in verhaltenem Staunen ausdrückt. Es sind diese fast zärtlichen Augenblicke, in denen der Chor seine Stärke ausspielt.

Als die Messe ohne knallige Schlussakkorde zu Ende geht, zeigt das Publikum viel Sympathie in herzlichem Beifall, den Sanguineti, der Chor und Wolfgang Kläsener an der Orgel mit einer geistlichen Miniatur Puccinis, dem „Requiem alla memoria di Giuseppe Verdi“ von 1905 belohnen.




Fall ohne Fallhöhe in Gelsenkirchen: Gabriele Rech verpasst „Madama Butterfly“ ein neues Ende

Hochzeits-Show für den Fremden im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ in Gelsenkirchen. (Foto: Björn Hickmann)

Irgendwann musste es so kommen: Am Ende von Giacomo Puccinis „japanischer Tragödie“ richtet Madama Butterfly den Dolch nicht gegen sich selbst, sondern sticht den hereinstürzenden Pinkerton ab. Damit macht Regisseurin Gabriele Rech das Opfer zur Täterin, nimmt ihr die Fallhöhe.

Tatsächlich ein „Schritt in Richtung Unabhängigkeit“, wie das Programmheft der neuesten Produktion des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier meint? Eher eine jener aufgesetzten Ideen, deren hervorstechender Wert die Neuheit ist.

Der Reihe nach. Dirk Beckers Bühne signalisiert von Anfang an: Hier wird „Japan“ für Touristen mit speziellen Interessen inszeniert. Papierwände und Kirschblüten als Deko, ein Podium, mit silbernem Glitter verhängt. Grotesk auf eine Wand vergrößert, gehört auch Katsushika Hokusais zum Kitsch verkommene „Große Welle von Kanagawa“ zum Inventar. Japanerinnen in bunten Folklore-Kostümen (Renée Listerdahl) trippeln herein. Ein paar Damen hängen an einer reichlich mit Flaschen ausgestatteten Bar ab. Der passend geschmeidig singende Goro (Tobias Glagau) vermittelt nicht nur Quartier, wird mit dem vergnügungswilligen B.F. Pinkerton schnell handelseinig. Immer wieder wechselt Geld die Hände.

Die Kolleginnen verfolgen interessiert die Show der Madama Butterfly. Die „Verwandten“ der arrangierten Hochzeit können ihr Kichern kaum verbergen. Und Michael Heine wirft sich als wütender Onkel Bonze mächtig ins Zeug. Wer für einen kurzen Moment glaubt, jetzt werde es ernst und die Galerie über der Szene repräsentiere eine Art inneres Gewissen der Cio-Cio-San, verliert diese Illusion schnell. Die „Bekehrung“ Butterflys zur Religion des Amerikaners gehört ebenso zum Spektakel wie das mit Gelächter verkündete Lebensalter von 15 Jahren. Zum Höhepunkt: Liebesduett mit falschen Papierampeln und Thomas Ratzingers Stimmungslicht.

Die tiefe Liebe an der Bar? In Puccinis „Madama Butterfly“ am Musiktheater im Revier bleiben Fragen offen. Ilia Papandreou (Cio-Cio-San) und Carlos Cardoso (Pinkerton). (Foto: Björn Hickmann)

Als die Show im zweiten Akt zu Ende ist, das Papier zerfetzt, die Bar geleert, stellt sich die Frage: Warum hängt „Madama Butterfly“ noch in diesem Ambiente herum, angetan mit der abgeschabten Uniformjacke ihres in die USA entschwundenen „Gatten“? Wie ist es möglich, dass ein professionelles Showgirl sich mit Haut und Haaren an einen Kunden verliert und seit fast drei Jahren auf die Rückkehr des Marineleutnants wartet? Woher ein solches fundamentales Missverständnis?

Calixto Bieito hat einst an der Komischen Oper – die Musik Puccinis bewusst missverstehend – Butterflys Strategie von Anfang bis Ende ausinszeniert: Ziel war es, mit einer Green Card rauszukommen aus ihren Milieu. Was Gabriele Rechs „Butterfly“ bewegt, aus Sehnsucht an der Flasche zu hängen, erschließt sich nicht. Und wenn sich im Duett „Bimba, dagli occhi pieni di malia“ der psychologische Schalter in Richtung schwärmerisch-radikaler Liebe umgelegt haben sollte, bleibt die Inszenierung diesen Moment schuldig.

Puccinis Oper über eine existenzielle Tragödie ließe sich wohl auch als soziales Drama erzählen, wäre da nicht die Perspektive des Komponisten, der alle Figuren auf Cio-Cio-San als Zentrum ausgerichtet hat. Rech entwertet die innere Katastrophe der Butterfly. Pinkertons Handeln erscheint in diesem Kontext durchaus verständlich und konsequent pragmatisch, wenn er mit der eingekauften Braut von früher nichts mehr zu tun haben will und bei seiner Rückkehr ein paar große Scheine als Kompensation hinterlässt. Er ist Geschäftspartner in einem Sex-Deal, nicht der gedankenlose Chauvi, der ein gewaltiges Missverständnis auslöst. Dass Butterfly am Ende zusticht, statt den Ehrenkodex ihrer alten Kultur im Suizid zu realisieren, ließe sich in der Tat als Chiffre für eine Befreiungstat lesen. Aber dazu müssten die Signale in der Inszenierung anders gesetzt werden.

Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen unterstützt im ersten Akt die Atmosphäre der Vorspiegelung, indem er Puccinis Musik so unemotional wie möglich ablaufen lässt: kantig, bisweilen laut, mit wenig Raffinesse in Artikulation und Phrasierung, aber mit Sinn für Details, die das Orchester klarsichtig ausmusiziert. Später findet Betta das organische Pulsieren von Puccinis Metrum; die Lautstärke könnte jedoch subtiler geregelt werden. Den Solisten und dem trefflich agierenden Chor von Alexander Eberle wäre damit geholfen.

Ilia Papandreou hat als Cio-Cio-San den ironischen Tonfall des ersten Auftritts ebenso verinnerlicht wie die weiten Kantilenen ihrer sehrenden Sehnsucht. Wenn die Töne auf dem Atem ruhen, erschafft sie magische Momente intensiven Gesangs. Carlos Cardoso als Gast vom Aalto-Theater Essen bringt für den Pinkerton keinen warm strömenden, sondern einen wie Kristall strahlenden Tenor mit, besingt „America forever“ mit einiger Anstrengung und gestaltet „Addio fiorito asil“ eher kühl als – je nach Lesart – wehmütig oder larmoyant gefärbt. Butterflys Dienerin Suzuki bleibt in dieser Inszenierung eine Randfigur, mit ehrwürdigen Reifespuren gesungen von Noriko Ogawa-Yatake, die vor mehr als 20 Jahren, ebenfalls in einer Inszenierung von Gabriele Rech am Musiktheater im Revier, die Titelpartie verkörpert hatte. Zur Blässe verurteilt bleibt auch der Sharpless von Petro Ostapenko.

Könnte doch sein, dass  die unbändige kreative Energie künftiger Butterfly-Regieführenden zu noch originelleren Lösungen führt: Vielleicht ersticht Suzuki demnächst die abtrünnige Butterfly, oder gleich Pinkerton mit dazu? Könnte nicht Sharpless die beiden Frauen erschießen und über ihren Leichen die Hände Pinkertons schütteln? Oder werten wir mal die Randfigur der Kate Pinkerton auf (Scarlett Pulwey hätte sicher nichts dagegen gehabt) und lassen sie ihren unmöglichen Ehemann abknallen? Auf, auf ins Terroir der Deutungen, die gute alte Oper ist noch lange nicht am Ende!

Weitere Vorstellungen: 20., 22., 28. Mai, 18. Juni 2022. Info und Karten: Tel.: 0209/4097-200, www.musiktheater-im-revier.de




Raum des blauen Wassers: Piero Vinciguerra schafft für Puccinis „Trittico“ in Essen eine magische Bühne

Die Bühne von Piero Vinciguerra für Giacomo Puccinis Dreiteiler „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. Ein magischer Raum von Distanzierung, Verklärung und Selbstentäußerung. (Foto: Matthias Jung)

Was wäre bei Giacomo Puccini denn ein anderes Thema, das drei so unterschiedliche Opern wie in seinem „Trittico“ miteinander verbinden könnte, wenn nicht die Liebe?

So trivial die Feststellung klingt – denn fast alle Opern haben irgendetwas mit Liebe zu tun –, so grundlegend ist sie für Puccinis Experiment, drei Werke zu einem „Triptychon“ zu verbinden, die wie drei Flügel eines Kunstwerks einzeln stehen und doch zusammengehören. Aber Regisseur Roland Schwab hat in seiner dritten Inszenierung am Aalto-Theater Essen (nach Verdis „Otello“ und Leoncavallos „Pagliacci“) eine andere Antwort: der Tod.

Schwab entdeckt also, was Puccini in seiner letzten Oper „Turandot“ im schmerzlichen Scheitern letztlich bekräftigt hat. Doch schon das „Trittico“ beantwortet die Frage Friedrich Nietzsches, ob Liebe und Tod nicht Geschwister seien, in drei Versionen: dem gewaltsamen Mord, dem verklärenden Übergang und einem Satyrspiel mit dem Tod, dem Schwab durch den Suizid des Buoso zum Beginn von „Gianni Schicchi“ ein verstörendes Gewicht gibt. Aus dem Überdruss am Luxus – Buoso erschießt sich am Rand eines mondänen Pools – keimt die zerstörerische Gier nach Reichtum als Quelle materieller Völlerei. Von daher, und verbunden mit dem Blick auf die außerordentliche Qualität der Musik Puccinis, kann das „Trittico“ auf gleicher Höhe wie Verdis „Aida“ oder Wagners „Tristan und Isolde“ auf das unerschöpfliche Thema von Liebe und Tod blicken.

Die Scharniere zwischen den Werken interessieren Schwab bei seiner Neuinszenierung des „Trittico“ am Essener Aalto-Theater besonders. Am liebsten hätte er, so bekennt er im Programmheft-Interview, die drei Stücke ohne Pause aneinandergehängt, und begründet das tiefsinnig mit der Dreiteilung von Dantes „Göttlicher Komödie“: Der Beginn, „Il Tabarro“, als Abgrund der Welt, „Suor Angelica“, das ungeliebte Mittelstück, als das „Purgatorio“, den Reinigungsort. Und schließlich „Gianni Schicchi“, die rabenschwarze Komödie, als Verweis auf das Paradies. Abwegig? Sicher nicht, denn die einzige Liebe, die eine Chance auf Gelingen hat, ist die zarte, sich selbst sichere Beziehung zwischen den jungen Menschen Lauretta und Rinuccio.

Zerstiebt Hoffnung wie Seifenblasen?

Heiko Trinsinger (Gianni Schicchi), Lilian Farahani (Lauretta) in „Gianni Schicchi“. Foto: Matthias Jung.

Aber wer stärker ist, die Liebe oder der alles verbindende Tod, wird in „Gianni Schicchi“ Bild und Szene virtuos in der Schwebe gehalten. Zwar bekommt das kleine Luder Lauretta genau das, was sie will, aber hinter dem fröhlich posierenden Paar schäumen Seifenblasen auf. Und der Schelm Gianni Schicchi hält eine rote Kugel in der Hand, die während des gesamten „Trittico“ als Chiffre in der Szene präsent war. Ist es der Apfel der Eva, mit dem das Paradies unzugänglich und das Böse in der Welt wirksam wurde? Die verbotene Frucht, die den Menschen „wie Gott“ um sich selbst wissend, frei, aber auch der Mühsal unterworfen der Welt auslieferte? Und verheißt die Leuchtschrift „Addio Speranza“ nicht auch auf die vergebliche Liebesmüh‘? Die Hoffnung – addio, also „zu Gott“?

Schwab arbeitet gerne (und manchmal zu viel) mit solchen symbolischen Fingerzeigen, mit chiffrierten Hinweisen. In „Il Tabarro“ spielt ein Drehorgler einen verstimmten Walzer. Er sollte in den beiden anderen Teilen wiederkommen – stummer Repräsentant des Todes im Komödiantenkostüm und so ein Echo des „Leierkastenmannes“ Schuberts. Das Kleid in sanft abgestuften Rosa-Tönen – die Kostüme sind Gabriele Rupprechts sensible Schöpfungen – verbindet die Protagonistinnen der drei Opern, betont das Gemeinsame der Frauenfiguren, die bei Puccini von Manon bis Liu stets zu Opfern verurteilt sind.

Wesentlich getragen wird Schwabs jeden Realismus transzendierende Sicht von einem großen Wurf Piero Vinciguerras: Für diese erste komplette Realisierung des Puccini-Dreiteilers in Essen hat der international erfolgreiche italienische Bildmagier die Bühne mit einem riesigen Wasserbecken ausgefüllt. Doch was anderswo lediglich zum szenischen Aufreger taugte, erhält in Essen sinnliche fassbare Bedeutung: Das Wasser wird selbst zum symbolhaften Element von Zeit, Vergänglichkeit, Elendsstrom und Tränensee. Selbst in „Il Tabarro“, in dem der Verismo und das Sozialdrama Émile Zolas grüßen, illustriert es nicht das Ufer der Seine. Und in Verbindung mit dem meisterlich eingesetzten Licht wandelt es den Raum zur Sphäre. Hier geht es nicht mehr um Schauplätze, sondern um Seelenräume.

Das Licht schafft Verbindungen zwischen den Opern: Wenn Luigi im „Tabarro“ bitter feststellt, das Leben habe keinen Wert mehr, schimmert die Bühne in dem blauen Licht, das später Schwester Angelica umfließt, wenn sie sich vergiftet. Dieser Moment ist große Bühnenkunst: Der riesige Spiegel über der Wasserfläche senkt sich in der Hinterbühne und lässt die Zuschauer wie von oben auf die im Blau hingestreckte Angelica blicken. Der Moment des Sterbens als Selbstentäußerung, Transzendierung und Verklärung wird wie selten sinnlich fassbar. So legt Schwab Spuren aus, die sich im Lauf des Abends zu festen Banden zwischen den drei Teilen entwickeln. Puccini hätte seine helle Freude gehabt.

Sänger garantieren musikalische Qualität

Das Aalto-Theater kann mit einer Riege von Sängern aufwarten, die auch die musikalische Qualität des Abends garantieren. Bettina Ranch etwa spielt als Frugola den Frust einer derangierten Schönheit aus und streift die Spur des Naturalismus, ohne die Dichte der Szene zu durchbrechen. Als Fürstin in „Suor Angelica“ repräsentiert sie – bezeichnend mit der Chiffre des Lichts durch ihre Sonnenbrille spielend – die eiskalte Unerbittlichkeit, die empathielos auf das Erbe konzentriert schon die Gier der Nachfahren in „Gianni Schicchi“ präfiguriert. Jessica Muirhead ist ein Schatz im Ensemble des Aalto-Theaters: Die ganze Sensibilität, Verletzlichkeit und innere Qual der ins Kloster verbannten unehelichen Mutter legt sie für Schwester Angelica in ihre freie, blühende, im Piano reich schattierende Stimme.

Der Tod zerreißt das begrenzende Gespinst und öffnet den Raum: Jessica Muirhead in „Suor Angelica“. Foto: Matthias Jung.

Marie-Helen Joël hat als Äbtissin und vor allem als Zita in „Gianni Schicchi“ stimmlich sicher unterfütterte, szenisch dichte Auftritte. Auch die kleineren Rollen sind niveauvoll besetzt, etwa mit Liliana de Souza (Schwester Eiferin, La Ciesca), Giulia Montanari (Genovieffa) oder Christina Clark (Nella). Annemarie Kremer setzt als Giorgetta einen imposant-kraftvollen Sopran ein, aber den scharfen, vibratoreichen Tönen fehlt der sinnliche Schmelz einer Puccini-Stimme. Auch Lilian Farahani ist als Lauretta nicht optimal besetzt: „O mio babbino caro“, der Schlager des gesamten „Trittico“, erklingt zu leicht, zu soubrettig, und ohne fließende melodische Bögen.

Mit Heiko Trinsinger als Michele („Il Tabarro“) und als Gianni Schicchi kann sich das Aalto-Theater auf eine sichere Nummer verlassen. Er erfasst trotz eines nicht so sehr italienisch gefärbten Baritons die resignierte Trauer und den impulsiven mörderischen Ausbruch eines Mannes, der ratlos zusehen muss, wie ihm die immer noch geliebte Frau im Fließen des Schicksals entgleitet. Dem Gianni Schicchi gibt er weniger die Eleganz des gewitzten Betrügers mit, sondern eher virile Kraft, unbändige Komödiantenlust, aber auch einen Flash von Zynismus.

Sergey Polyakov (Luigi) und Annemarie Kremer (Giorgetta) im ersten Teil des Abends, „Il Tabarro“ („Der Mantel“). (Foto: Matthias Jung)

Sergey Polyakov ist ein standfester, zu kraftvollem Nachdruck fähiger Luigi, der dennoch die drückende Trostlosigkeit seiner Existenz und die leise Trauer in seiner Leidenschaft in flexiblen Tönen auszudrücken weiß. Baurzhan Anderzhanov (Il Talpa/Betto di Signa) fällt wie stets durch seine makellos geführte Stimme und den Wohllaut seines kühlen, aber schön abgerundeten Timbres auf. Zu hoffen ist, dass Christopher Hochstuhl aus dem Opernstudio NRW als Liedverkäufer künftig nicht auf ein paar Sätzchen und stumme Auftritte beschränkt bleibt. Zumal in „Gianni Schicchi“ machen die Sänger – mit Carlos Cardoso als erfrischendem Rinuccio und Uwe Eikötter als erfahrenem Gherardo – dem Begriff des „Ensembles“ alle Ehre. Opern- und Kinderchor des Aalto-Theaters unter Patrick Jaskolka bewältigen die schwierige Aufgabe, aus der Ferne und in ungünstiger Aufstellung zu singen, mit solider Sicherheit.

Im Orchester erklingt ein „moderner“ Puccini

Am Pult der Essener Philharmoniker waltet diesmal Roberto Rizzi Brignoli, Generalmusikdirektor in Santiago de Chile und häufiger Gast an Häusern wie der Mailänder Scala, Berlin, Hamburg oder Stuttgart. Er präsentiert einen „modernen“ Puccini, bedacht auf Transparenz und genaues Nachzeichnen der Komplexität von Puccinis Komposition. Das ist gerade für „Il Trittico“ ein passender Zugang. In „Il Tabarro“ betont er nach einem luftig-lockeren Beginn nicht die Qualitäten des Verismo-Reißers, sondern die diskret schattierten Töne, die lyrischen Momente, in denen sich die verletzten Seelen musikalisch äußern.

In „Suor Angelica“, die der Operntradition des 19. Jahrhunderts am nächsten liegt, hätte man sich stellenweise einen süffigeren Klang vorstellen können. Aber die Essener Philharmoniker bringen das mystische Kolorit zum Leuchten, funkeln in der differenzierten Instrumentierung in aparten Farben, spielen Lyrisches gelöst und ohne Druck. Beste Voraussetzungen für die agile Musik des „Gianni Schicchi“, in der die Moll-Klage ebenso geheuchelt klingt wie das heroische Preislied auf Florenz, und in der sich die Philharmoniker vergnügt auf punktierte Details und schräge Sprünge kaprizieren. Eine Burleske mit schaurigem Hintergrund – der Kreis ist geschlossen.

Vorstellungen am 13. Februar (mit Nachgespräch), 2., 20., 31. März, 24. April, 15. Juni 2022. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/2022-02/iltrittico/6384/




Der Tod kommt mit der Haarnadel: Puccinis „Tosca“ in Osnabrück als zeitlose Erzählung über Macht und Einsamkeit

Floria Tosca (Lina Liu) ist entsetzt über die Folgen der Folter bei ihrem Geliebten Cavaradossi (Ricardo Tamura). Im Hintergrund der Polizeichef Scarpia (Rhys Jenkins). Foto: Jörg Landsberg

Floria Tosca (Lina Liu) ist entsetzt über die Folgen der Folter bei ihrem Geliebten Cavaradossi (Ricardo Tamura). Im Hintergrund der Polizeichef Scarpia (Rhys Jenkins). Foto: Jörg Landsberg

„Tosca“ zu inszenieren, ist eine Herausforderung. Giacomo Puccinis politisches Kriminalstück lässt mit seinem eindeutigen fiktiv-historischen Setting wenig Spielraum für eine assoziative Anreicherung. Alle möglichen Varianten, ob radikale Vergegenwärtigung oder bewusste Brüche mit dem Handlungsverlauf, sind schon erprobt und können meist getrost verworfen werden.

Ob Tosca am Ende nicht springt oder Scarpia überlebt, ob die Diva ihrem dominanten Peiniger verfällt oder der Polizeichef sich in den Maler verliebt: Zum Verständnis des Stücks, zur tieferen psychologischen Ausleuchtung der Figuren oder gar zu einer überraschenden neuen Perspektive tragen solche aufgesetzten Gimmicks meist nichts bei.

In Osnabrück haben Regisseurin Mascha Pörzgen und ihr Ausstatter Frank Fellmann nun einen bedachtsamen Weg gewählt, nicht mit Gewalt aktualisierend, aber auch nicht mit Rückgriff auf das Bildrepertoire eines historisierenden Dramas. In neutralem Ambiente – nur die aus einer Wand wachsenden Körperteile erinnern an ein „Jüngstes Gericht“ – arbeitet Cavaradossi an einem raumfüllenden Gemälde.

Alptraumlandschaft statt Engelsburg

Der Palazzo Farnese ist minimalisiert auf eine rote Couchlandschaft, eine düster glänzende Pferdeskulptur, der eine Schirmlampe aus dem Kopf wächst und – einziger Hinweis auf den Schauplatz der „Tosca“ – ein langsam verblassendes Panorama Roms mit der dominierenden Kuppel von S. Pietro. Der Schreibtisch, das Symbol modern, nämlich bürokratisch ausgeübter Macht fehlt. Der dritte Akt zeigt eine zerklüftete Spielfläche, schwarzen Schollen, umstellt von riesigen Staffeleien mit den Bildern der Maddalena, zwischen denen Tosca am Ende in eine unbestimmte Tiefe springt. Ein Bild, das sich vom Realismus der Vorlage entfernt und das Geschehen beinahe in eine (Alp-)Traumlandschaft verlegt.

Eine Puccini-Sängerin, die keine Wünsche offen lässt: Lina Liu als Tosca. Foto: Jörg Landsberg

Eine Puccini-Sängerin, die keine Wünsche offen lässt: Lina Liu als Tosca. Foto: Jörg Landsberg

Diesen Raum nutzt Mascha Pörzgen, um unaufgeregt und ohne aufgesetzte Effekte zu inszenieren. Sie hat schon in anderen Arbeiten – zuletzt ein poetisches „Schlaues Füchslein“ in Hagen – gezeigt, dass sie die Personen genau beobachtet und ihre inneren Motive sprechend ausformen kann. In Osnabrück folgt ihr in dieser Intention vor allem die makellos singende Lina Liu als Floria Tosca. Ihr erster Auftritt in der „Kirche“ (religiöse Bezüge werden weitgehend zurückgenommen) ist eine detailreiche Studie einer kapriziösen Frau, so selbstbewusst wie eifersüchtig-unsicher, auf ihre Gefühle und ihre kleine Kunst-Welt konzentriert, unmittelbar und ohne innere Reflexion oder Distanz reagierend und von daher für den zynischen Strategen Scarpia ein leichtes Opfer.

So geriert sich Liu auch im zweiten Akt: Toscas Zusammenbruch ist vollkommen, sie hat dem gierigen Scarpia nichts entgegenzusetzen und ist ihm schon erlegen, noch bevor er die seelische Folter richtig anlegt. Umso überraschender die Wendung, wenn Tosca in höchster Verzweiflung ihre Frisur rauft und eine der langen, stabilen Haarnadeln in die Hand bekommt …

Scarpia bleibt ein steifer Geselle

Pörzgens Konzept, sich auf die Personen zu konzentrieren, geht bei den anderen Hauptdarstellern nicht so abgründig auf: Rhys Jenkins ist zwar ein glorios singender Scarpia, wenn er nicht gerade das Forte mit Gewalt herausdrückt, aber als Darsteller ein steifer Geselle. Der eiskalt berechnende, überlegen gefährliche Polizeichef wirkt wie ein gemütlicher Bär, der auch einmal ein Abenteuer erleben will. Seine unbeherrschten Ausbrüche sind plump, seine abgründige Autorität glaubt man ihm nicht. Mimik und körperliche Reaktionen zeigt der Mann mit dem wuscheligen grauen Haar so gut wie keine. Die unbeherrschte Aggressivität – er würgt den Boten der Nachricht von der Niederlage der Österreicher in der Schlacht bei Marengo – passt nicht zum subtilen Sadismus: Scarpia weidet sich an den Qualen seiner Opfer, bevor er sich auf sie stürzt. Bei Jenkins bleiben diese Aspekte vordergründig.

Mit Ricardo Tamura hat Osnabrück einen Tenor mit italienischem Timbre, der aber – trotz eines tollen Diminuendos in „E lucevan le stelle“ – mit langsam rollendem Vibrato und mühevoll angestrebter Flexibilität singt. Über viele Farben verfügt seine Stimme nicht, aber die Phrasierung und die melodische Sensibilität seines Singens nehmen für ihn ein. Die übereifrigen Bravo-Rufe, vermutlich eines Claqueurs oder Fans, waren eher peinlich. In den kleineren Rollen lässt Mark Hamman etwas von den Existenzängsten des subalternen Spoletta ahnen, José Gallisa gurgelt sich mit plumpem Auftritt durch die Partie des Angelotti, Gennadijus Bergorulko gibt den Mesner in einem Pullover in den Farben der italienischen Trikolore als den üblichen windelweichen Schelm mit Schluckauf.

Der Traum einer leidenden Seele

Das Zwischenspiel vor dem dritten Akt entwickelt Mascha Pörzgen zu einem sinnreichen Moment innerer Reflexion, aber auch einem Signal der Einsamkeit: Sie inszeniert einen Traum des schlafenden Cavaradossi, in dem der sensibel singende Leander Averdiek statt als Hirtenstimme hinter der Szene eine von Goldlicht überstrahlte Symbolfigur wird: Traum einer glückenden Existenz oder Manifestation einer leidenden Seele, die sich nur jenseits einer brutalen Realität melancholisch ausdrücken kann? Die Waffensegnung im „Te Deum“ dagegen bringt höchstens leere Provokation; der Machtkomplex von Religion und Politik zeigt sich nicht in Uniformen und Gewehren, sondern in der kaum sichtbaren Infiltration der Lebensbereiche: Scarpia ist ein Geheimdienstler, kein General.

Wieder einmal zeigt Andreas Hotz mit dem Osnabrücker Symphonieorchester, wo seine Stärken als Dirigent liegen: Die knappe Einleitung ist in ihrer ganzen Dichte erfasst; Hotz nimmt sie nicht als stimmungsbildendes Entrée, sondern als kompositorische Delikatesse in ihren Sequenzierungen, ihrer scharfen Rhythmik, ihren pointierten Bläsermotiven, ihren Akzenten und dynamischen Nuancen. So nähert er sich der Partitur nicht aus der Sicht eines schwelgerischen Connaisseurs, sondern eines genauen Beobachters und Gestalters.

Faszinierende Farben im Orchester

Hotz interessiert sich auch nicht für knallige Dramatik, sondern hört die lyrischen Aspekte von Puccinis Musik aus. Das führt zu faszinierenden Farben, weil auch das Orchester diesem eher verhaltenen Ansatz folgt. Manchmal wünschte man sich jedoch einen saftigeren Melodiefluss, einen energisch durchgezogenen Bogen und im berühmten, von Glockenklängen durchzogenen römischen Morgengrauen, eine zupackendere Akzentuierung. Die untergründigen Aspekte der Musik bleiben zahnlos.

Sierd Quarré hat Chor und Kinderchor für das „Te Deum“ auf Klarheit und sonore Wucht eingeschworen; die Kinder agieren in Alltagskleidung und betonen so die Zeit- und Ortlosigkeit einer Handlung, die mehr über die subtilen Mechanismen eines politisch-religiösen Machtkomplexes verrät, als die pseudo-historische Einkleidung des Stücks glauben machen will.

Weitere Vorstellungen: 30. Januar; 8., 19., 22. Februar; 1., 16., 28. März; 2., 9., 17., 27. April. Info: www.theater-osnabrueck.de




Innere Katastrophe, nach außen gekehrt: Duisburger „Madama Butterfly“ in den Ruinen von Nagasaki

Innere und äußere Katastrophe: Liana Aleksanyan in Juan Anton Rechis Inszenierung von Giacomo Puccinis "Madama Butterfly" an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Innere und äußere Katastrophe: Liana Aleksanyan in Juan Anton Rechis Inszenierung von Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. (Foto: Hans Jörg Michel)

Da mag die Melodie Puccinis noch so schwärmen, da mögen die Harmonien noch so schmeicheln: Das Duett im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ ist falsch, von Anfang an. Es stimmt höchstens für einen der Wirklichkeit enthobenen Augenblick.

Denn die verfließende Zeit sagt etwas anderes: Sie lässt offenbar werden, wie fundamental unterschiedlich die beiden Menschen denken und fühlen: Für Benjamin Franklin Pinkerton ist diese Liebesnacht mit der japanischen Bimba und ihren melancholischen Augen ein vorübergehendes, exotisch-erotisches Abenteuer mit einer geheimnisvoll fremden Kindfrau. Für Cio-Cio San dagegen ist die Nacht die Folge einer Lebensentscheidung: Sie ist jetzt für alle Zeit Ehefrau des Amerikaners, dessen Religion sie annimmt und sich damit in ihren existenziellen Tiefenschichten mit ihm verbindet.

Die Katastrophe ist vorhersehbar – und sie tritt in der Neuinszenierung von „Madama Butterfly“ an der Deutschen Oper am Rhein nicht als stilles, schmerzvolles, allmähliches Zerbrechen ins Leben des „kleinen Fräulein Schmetterling“, sondern als erdbebenhafter Aufruhr. Das verlassene Mädchen sitzt im Ehebett, als ein Flugzeug dröhnt, eine Detonation die Bühne erschüttert. Die Erinnerung an die Bombe von Nagasaki – dort spielt die Oper ja auch – drängt sich auf.

Eine Welt in Trümmern: Szene aus dem Finale von "Madama Butterfly" in Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Eine Welt in Trümmern: Szene aus dem Finale von „Madama Butterfly“ in Duisburg. (Foto: Hans Jörg Michel)

Wenn der Vorhang zum zweiten Akt sich öffnet, ist nichts mehr wie vorher. Die Welt liegt auf Alfons Flores‘ Bühne in Trümmern. „Madama B.F. Pinkerton“ hat sich ein Zelt aus der angesengten amerikanischen Flagge gebaut. Ein krude gezimmerter Hochstand dient als Ausguck, symbolisiert Warten und Sehnsucht. Eine Endzeitstimmung, die das Innere der Cio-Cio-San nach außen kehrt. Individuelles und Allgemeines durchdringen sich: Die japanische Tragödie wird weitergedacht, über die existenzielle Katastrophe eines einzelnen Menschen hinaus. Der Clash hat, was ja historisch entsetzliche Wirklichkeit geworden ist, umfassende Konsequenzen.

Bildgewaltige Tragödie einer Lebenswelt

Regisseur Juan Anton Rechi hat in Duisburg Puccinis lange ans Sentiment verratene Oper in beinahe wagnerischem Ausmaß zur Tragödie einer ganzen Lebenswelt erweitert, ohne ihren individuellen Kern zu entwerten. Rechi hat damit eine Arbeit geschaffen, die dem Rang der Deutschen Oper am Rhein endlich wieder einmal adäquat ist. Bildgewaltiges Theater, aber kein Bildertheater; ein bewegendes Schicksal, aber in einen umfassenden Horizont gestellt; gegenwärtige Brisanz, ohne ins Allgemein-Zeitlose zu driften oder das Stück für eine Idee zurechtzubiegen wie vor Jahren Calixto Bieito in seiner Green-Card-Butterfly an der Komischen Oper Berlin.

Rechi inszeniert seine Personen bewundernswert genau: Da ist der unbekümmerte Leutnant, für den das einzige „forever“ das Bekenntnis zu Amerika ist. Seine Begegnung mit der fremden Welt Japans – in Person Suzukis, später in der verlegenen Begrüßung der Familie Cio-Cio-Sans – zeigt ihn hilflos überfordert und gleichzeitig desinteressiert. Die Warnungen des Konsuls, dem Schmetterling nicht die zarten Flügel zu brechen und ein gutgläubiges Herz zu verwüsten, werden mit Whisky überspült. Der Offizier betritt die japanische Welt nie wirklich: Das „Liebesnest“ lässt er sich von Goro – messerscharf charakterisiert von Florian Simson – nur als Modell zeigen; die romantische Nacht findet in der repräsentativ-wuchtigen Säulenhalle des amerikanischen Konsulats statt.

Eduardo Aladrén zeigt in der leicht hingeworfenen Konversation mit dem Diplomaten Sharpless durchaus tenorale Tugenden: Er gewichtet die Worte, er nimmt den Ton zurück, sein angenehmes Timbre und die Eleganz der Formulierung machen den jungen, sympathischen Leichtfuß glaubwürdig. Aber bald fährt sich sein Tenor fest und er singt im Stil eines kruden Verismo, mit athletischen Höhen und furios-unflexibler Tongebung. „Addio fiorito asil“ gestaltet er, ganz im Sinne der Regie, als sentimentale Reminiszenz.

Prägnante Personenstudien und profunde Sänger

Auch Stefan Heidemann lässt sich von innen heraus auf das Konzept ein: Er gibt Sharpless ebenso noble wie hilflose Züge, ein Mann voll Verständnis für die fremde Kultur, aber auch unfähig, sich gegen die zupackende Gedankenlosigkeit Pinkertons durchzusetzen. Ein Mann ohne Schärfe, fürwahr, nicht aber ohne Format. Maria Kataeva singt mit metallisch schimmerndem, differenziert gebildetem Stimmklang eine sorgfältig artikulierende Suzuki, deren unauffällige Präsenz im Hintergrund ebenso viel szenisches Gewicht hat wie ihre pointierten Auftritte. Profiliert gestaltet Bruce Rankin den unermüdlich werbenden Fürsten Yamadori – ein Mann beständiger und ernsthafter Gefühle in einer knapp gehaltenen, aber wichtigen Szene im Zentrum des Stücks.

Maria Boiko macht aus dem undankbaren Kurzauftritt der Kate Pinkerton eine prägnante Studie: Sie stellt sich gemeinsam mit dem Konsul der Verantwortung, vor der Pinkerton flieht, glaubt aber, mit einer Perlenkette als Geschenk Butterflys Verzweiflung lindern zu können. Die Farbe ihres Kleides, ein samtenes Rot, wird durch Blau und Weiß ergänzt – in diesen Farben der amerikanischen Flagge schickt Butterfly auch ihr Kind in eine ungewisse Zukunft. Mercè Palomas Kostüme meiden den modischen Bühnen-Trash, sind liebevoll gestaltet und zeigen die japanische Gesellschaft als angepasst – selbst der stimmgewaltige Vertreter der Tradition, der Onkel Bonze (Lukasz Konieczny) trägt einen westlichen Anzug.

Nur Madama Butterfly hält an der traditionellen Kleidung fest. Das verwundert etwas, denn gerade sie reißt am radikalsten ihre japanischen Wurzeln aus. Mag sein, dass Rechi im Kostüm ein Symbol ihrer inneren Konstanz sieht – aber so ganz schlüssig vermittelt sich die Idee dahinter nicht. Mit Liana Aleksanyan hat die Rheinoper eine Sängerin, die den vokalen Facetten der Partie mit profunder Technik gerecht wird. Die Sängerin hat zwischen 2011 und 2013 viele Partien am Aalto-Theater gesungen und erst zu Jahresbeginn die „Butterfly“ an der Scala gegeben.

Sie ist keine leichte Stimme wie einst etwa Toti dal Monte und ihre Kolleginnen, die das Mädchenhafte der Figur betont haben: Aleksanyan nimmt die intensiv erfüllten Linien und Bögen, die klangvollen Legati, die auftrumpfenden dramatischen Momente aus dem Geist des Verismo, verrät sie aber nicht an vordergründig gestisches Singen, sondern kleidet sie in einen ausgeglichenen, strömenden Fluss des Klangs. Dafür bringt sie ein passendes Timbre und eine prachtvoll beherrschte Stütze mit, dramatische Entschiedenheit und Süße im Mezzoforte – und vor allem den Gestaltungswillen, der jede vokale Geste in den Dienst einer Aussage stellt.

Kein Schwelgen in den Melodiebögen

Auf diese Weise geistig durchdringen will auch der Dirigent Aziz Shokhakimov die Musik Puccinis. Schwelgen ist nicht angesagt – im Gegenteil: Der junge usbekische Kapellmeister, Preisträger des Bamberger Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbs, behandelt die Klangbögen Puccinis recht peripher. Das ist die einzige Schwäche in einem ansonsten fabelhaft überzeugenden Dirigat. Denn in Zusammenarbeit mit den bestens disponierten Duisburger Philharmonikern legt Shokhakimov frei, wie modern Puccini komponiert hat: Die scharfen Staccati des Beginns, die polyphonen Verwebungen der Eingangsszene nimmt er entschieden konturiert. In der Chorszene vor dem ersten Auftritt Butterflys – szenisch in ein zauberhaftes Schattenbild mit der dominierenden amerikanischen Flagge gefasst – beleuchtet er die impressionistische Klangerfindung Puccinis.

Der Szene zwischen Pinkerton und Sharpless entzieht er jegliche Wärme. Der Rhythmus gewinnt konstitutive Bedeutung, die Neben- und Mittelstimmen verdeutlichen, wie komplex Puccini harmonisch in die Tiefe denken konnte. Dabei lässt Shokhakimov die Poesie der Musik nicht zu kurz kommen – erwähnt sei nur die lange Entwicklung in der Nacht des Wartens auf den zurückgekehrten Pinkerton, in der sich Christoph Kurigs Chor – wie schon im ersten Akt – vorzüglich bewährt. Diese „Butterfly“ hat alles, um ein Schmuckstück im Repertoire der Deutschen Oper am Rhein zu werden.

Vorstellungen in Duisburg am 6. und 26. Mai und am 3. Juni.
Karten Tel.: (0203) 283 62 100. www.operamrhein.de




Feueralarm in der „Tosca“-Pause – Gelsenkirchener Musiktheater geräumt

Am Abend vor der "Tosca": das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Am Abend vor der „Tosca“: das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Giacomo Puccinis „Tosca“ im Musiktheater im Revier hätte am gestrigen 14. Januar eigentlich aus künstlerischen Gründen im Gedächtnis bleiben sollen: Thomas Berau, Gast aus Mannheim, sang seinen ersten Scarpia; Erster Kapellmeister Valtteri Rauhalammi dirigierte seine erste „Tosca“.

Doch es sollte anders kommen: Das Pils stand schon bereit, die Currywurst auf dem Tisch, da tönte mitten in der ersten Pause der Evakuierungsruf durch die Foyers: Aufgrund einer „technischen Betriebsstörung“ sollten alle zügig das Haus verlassen.

Gut fünf Minuten später – es waren längst nicht alle Besucher draußen, die Räumung verlief ohne große Aufregung – kam die Entwarnung: Fehlalarm. Einen solchen Alarm während einer Vorstellung habe er in 28 Jahren noch nicht erlebt, sagte Joachim G. Maaß, Darsteller des Mesners, nachher auf der Bühne. Maaß ist seit 1988 in Gelsenkirchen engagiert.

„Wir sind Ihnen dankbar, dass alles so wunderbar geklappt hat und Sie das Haus so schnell verlassen haben“, bedankte sich die Dame des Direktionsdienstes nach der – verlängerten – Pause. Nach ersten Informationen soll ein gestörter Rauchmelder oder ein Defekt an der Steueruhr der Meldeanlage die Ursache für den Alarm gewesen sein.

Tosca blieb am Leben in Tobias Heyders eher hilflos nach neuen Sichtweisen gierenden Inszenierung. Das ist vielleicht auch ein Aspekt, der über das seltene Erlebnis eines Theateralarms hinaus in Erinnerung bleiben wird.




Ein Wrack namens Scarpia – Gelsenkirchen zeigt „Tosca“ in ungewöhnlicher Lesart

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das "Te Deum" ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das „Te Deum“ ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Der Mann ist am Ende. Ein Wrack, wie er dasteht, etwas gebeugt, mit strähnigen Haaren, von Dämonen besessen, von einer Obsession getrieben. Sein erster Auftritt ist so, als hätte ihn die nahe Menschenmasse ausgespien. Und dieser müde Außenseiter soll der gefürchtete Baron Scarpia sein? Der Polizeichef Roms als fieser Strolch? Das ist mal eine Umdeutung in Giacomo Puccinis Oper „Tosca“, die wir so noch nicht gesehen haben.

Regisseur Tobias Heyder zeichnet am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (MiR) für diese Lesart verantwortlich, und so wie Scarpia ganz artfremd als schmieriger, gebeutelter Strippenzieher dasteht, sind auch die anderen Hauptfiguren dieses Dreiecksdramas mit politisch-historischem Hintergrund relativ frei ausgestaltet. Tosca zeigt kaum Spuren innerer Verletzbarkeit, ihre Eifersucht ergeht sich bisweilen in seltsam maskulinen Posen, ihre Rache (Scarpias Ermordung) speist sich nur aus milder Verzweiflung und gebremstem Furor. Ihr Geliebter, der Maler Cavaradossi schließlich, ist ein eher ungelenker, fast nüchterner Antiheld, ein Freigeist der naiven Art, der seinem politisch verfolgten Freund Angelotti nahezu geschäftsmäßig hilft.

Jeder leidet für sich allein, scheint das Fazit der Regie, zumal die Interaktion der Beteiligten mehr nebeneinander her läuft, mit geringen Blickkontakten und einer nahezu aseptischen körperlichen Nähe. Tosca in Scarpias Armen, die Erfüllung seiner Obsession, wirkt wie pure Hilflosigkeit, nicht wie die pralle Gier. Und wenn die Frau ihrem vermeintlichen Bezwinger das Messer in die Rippen stößt, fehlt der Szene die Eiseskälte der Täterin ebenso wie die Schockstarre des Opfers.

Toscas Paralyse hingegen setzt erst ganz zum Schluss ein. Wenn sie feststellen muss, dass ihr Geliebter nicht zum Schein, sondern tatsächlich erschossen wurde. Dann zieht und zerrt sie an ihm herum, die Menge, die bereit ist, sie zu lynchen, nicht mehr beachtend. Der Sprung der Tosca von der Engelsburg fällt aus.

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Darüber mag mancher im Publikum die Nase rümpfen wie auch über Scarpias Deformation, die bisweilen in tranceartige Zustände mündet. Verbunden damit sind indes starke, teils verstörende Bilder. Nicht nur in dem Sinne, dass der Maler Cavaradossi riesige Gemälde mit nackten Frauen produziert – Ausstatter Tilo Steffens hat ein entsprechend großformatiges Exponat auf die Bühne gewuchtet, das „Nudes“ im Stile Helmut Newtons zeigt. Sondern auch dergestalt, dass das berühmte „Te Deum“ zum Finale des 1. Aktes zum Höllenspektakel wird, als hätte Hieronymus Bosch seine Gespenstergestalten losgelassen. Scarpia, so ist wohl die Botschaft, hat sich dunklen Mächten hingegeben. Die Symbolkraft des Katholizismus ist für ihn einzige Pein.

Dazu passt, dass im 2. Akt, in seinem Palast, die Gemälde alter Meister abgehängt sind. Der Gott anrufende Chorgesang, der zwischenzeitlich erklingt, dröhnt dem Finsterling in den Ohren. Mag er auch Trost suchen in den Armen einer Nonne (eines Engels?) und dabei der „Erbarme Dich…“-Arie aus Bachs „Matthäuspassion“ lauschen, Frieden findet dieser Mensch im Diesseits wohl nicht mehr. Und sein Tod wird einhergehen mit dem Ende der Despotie in Rom, eingeleitet durch Napoleons Sieg. Die Exekution Cavaradossis, das Übermalen seiner Nackten, ist nur ein letztes Aufzucken des alten Regimes.

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Insofern hat diese Produktion durchaus politischen Charakter. Wenn dieser auch durch die Personenführung nicht explizit beglaubigt wird. Andererseits versagt sich Regisseur Tobias Heyder die konsequente Psychologisierung.

Neben Scarpia wirken seine Gegenspieler blass. Sollte also Puccinis Oper hier lieber „Scarpia“ heißen? Ganz falsch wäre das nicht. Denn ein musikalisches Gerüst dieser Verismo-Oper sind gewiss die wuchtigen Akkordschläge, die den Bösewicht kennzeichnen. Andererseits hat der Komponist sein Werk mit sanfter Liebeslyrik ausklingen lassen – ein Zeichen der Hoffnung gegen die brutale Despotie.

Wuchtige Dramatik und sensible, leidenschaftliche Schwingungen: Das klingende Spektrum ist bei Dirigent Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen in allerbesten Händen. Hier spielen sich aller Hass, alles Aufbegehren und innige Liebe ab. Entäußerungen, die der Regisseur den Figuren teils versagt, haben ihren Platz in der musikalischen Umsetzung. Der tönende Bruitismus ist von unglaublicher Schärfe. Die Mordszene (Tosca-Scarpia) gewinnt nur im Orchester wirklich erschreckende Kontur. Im Graben wüten die emotionalen Wechselbäder.

Mithalten kann da nur Aris Argiris als Scarpia. Die baritonale Mittellage verfügt über schneidende Kraft. Doch fehlt der Stimme einerseits dämonische Tiefe, zum anderen das schmierige Parlando eines Gauners. Derek Taylor singt den Maler höhensicher, wirkt gleichwohl angestrengt. Große, frei gestaltete Legatobögen sind seine Sache nicht. Da hat Petra Schmidt in der Titelpartie durchweg mehr zu bieten. Leuchtende Glut, ein Mezzoton zum Fürchten, schöne Stimmführung. Schade nur, dass ihre große Arie „Vissi d’arte“ so gleichförmig und introvertiert klingt. Aber das passt ja wohl zum Ansatz der Regie.

Der große, in sich gerundete Wurf ist die Gelsenkirchener „Tosca“ also nicht. Eher der, durchaus diskussionswürdige, Versuch einer unkonventionellen Annäherung. Gleichwohl gilt: Unbedingt hingehen, allein schon wegen des famosen Orchesters.

Nächste Aufführungen: 27. Dezember 2015 (15 Uhr), 2. Januar, 14. Januar, 16. Januar und 5. Februar 2016 (jeweils 19.30 Uhr). Infos: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Tosca/




Giacomo Puccinis „Turandot“ in Duisburg: Chinesisches Team löst die Rätsel nicht

Der Schlag auf den Gong entscheidet sein Schicksal: Wird Calaf (Zoran Todorovich) die unnahbare Turandot für sich gewinnen? Foto: Hans Joerg Michel

Der Schlag auf den Gong entscheidet sein Schicksal: Wird Calaf (Zoran Todorovich) die unnahbare Turandot für sich gewinnen? (Foto: Hans Jörg Michel)

Der Ausgangspunkt hat seinen Reiz: Wie sieht ein chinesischer Theatermann, mit der Tradition seines Heimatlands vertraut, ein europäisch exotisches Märchen über ein China, das es nur in der Vorstellung der vielen Bearbeiter des Stoffes gegeben hat? Huan-Hsiung Li hat bei seinem Europa-Debüt als Regisseur mit Giacomo Puccinis „Turandot“ die Perspektive des Märchenhaften vor die Aspekte des Symbolismus oder der Psychologie gesetzt, die man in der Fabel von der mit Eis umgürteten chinesischen Prinzessin entdecken kann.

Der Theatermann aus Taiwan bezeichnet „Turandot“ als ein „politisches, historisches, wirtschaftliches und kulturelles Märchen“ und als einen „Traum, der ein modernes Volk im Schlaf heimsucht“. Mehr noch: Er stilisiert Turandot geradezu zu einer Symbolfigur für das aufsteigende, moderne China – und Calaf wächst so in die Rolle eines Repräsentanten der Welt „außerhalb“. „Wenn Chinas Aufstieg an die Macht die Welt zum Verlierer macht, dann wird die Liebe der Prinzessin ein verzweifeltes Ende finden“, schreibt Li im Programmbuch.

Ein komplexes Vorhaben also für die Neuproduktion des Puccini-Klassikers an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. Sie entsteht in Kooperation mit dem National Kaohsiung Center for the Arts (Weiwuying), das in der Hafenmetropole Kaohsiung im Süden Taiwans als hochmodernes Kulturzentrum für mehr als 6.000 Opern-, Theater- und Konzertbesucher entsteht und 2017 mit dieser „Turandot“-Produktion eröffnet wird. Und ein Programm, das auf der Bühne letztendlich in einem hübsch anzusehenden Bildertheater mit wenigen, die Deutung nicht befördernden Regiezutaten mündet.

Die Zutaten sind etwa die schlanke, weißgekleidete Tänzerin Yi-An Chen, auf die sich zu Beginn in einer regnerischen „city of uncertainity“ – so ein Projektionstext – ein Spot richtet. Die symbolische Gestalt taucht immer wieder auf, ergeht sich in heftigen Verrenkungen, als im dritten Akt die Herren Ping, Pang und Pong Kalaf auf wohlfeilen Sex als Ersatz für seine Fixierung auf Turandot hinzulenken trachten.

Doch die so bedeutungsheischend eingeführte Figur erklärt nichts. Ebenso wenig eine dunkel wogende Volksmenge mit Regenschirmen in der Eröffnungsszene. Die Anspielung auf Protestdemos in Hongkong 2014, bei denen Schirme benutzt wurden, wird nicht weitergeführt: Der Chor taucht bald – der „Traumlogik“ der Inszenierung folgend – in folkloristischen Gewändern auf.

Die Kostüme von Hsuan-Wu Lai sind nicht nur prächtig, sondern stellen Bezüge zu Charakter und Situation der Personen her. Foto: Hans Joerg Michel

Die Kostüme von Hsuan-Wu Lai sind nicht nur prächtig, sondern stellen Bezüge zu Charakter und Situation der Personen her. (Foto: Hans Jörg Michel)

Wenigstens arbeitet Hsuan-Wu Lai mit seinen Kostümen Entwicklung und Beziehungen der Personen durch: Das Blau des Lichts (Volker Weinhart) zu Beginn wird aufgegriffen im Blau des Kostüms von Liu. Und wenn Turandot, überwältigt von des Radikalität der Liebe und des Vertrauens Calafs, ihre prachtvolle rote Robe, ihren Panzer gegen die Außenwelt, abgelegt hat, trägt sie ebenfalls Blau; nicht so leuchtend wie Liu, sondern matter und mit einem Hauch in Schwärzliche. Ping, Pang und Pong changieren zwischen europäischer und chinesischer Kleidung. Und der Kaiser – Bruce Rankin singt ihn nicht als zittrigen Greis, sondern als kräftigen Mann – zitiert den Komponisten selbst in schwarzem Hut, Mantel und Anzug.

Wie entschieden diese Produktion in Bildern denkt, verdeutlicht die Bühne von Jo-Shan Liang: die Silhouette einer burgartigen chinesischen Stadt vor dem Rundhorizont, getaucht in Lichtstimmungen zwischen Kalkgrau, Tiefrot und Varianten von Blassblau bis Violett. Bespielt mit Videoprojektionen (Jun-Jieh Wang), die Grundfarbe mal mit explodierenden Klecksen beschmutzend, mal mit filigranen, laufenden Mustern bedeckend.

Hinauf zum Tor führt eine breite, straßenartige Fläche. Auf den Mauern der Stadt thront der Kaiser, schreitet Turandot herein, erstarrt ihr rotes Prachtgewand am Ende zu einer toten Hülle. Ein imponierendes Setting für die Aufmärsche des Volkes wie für die intimen Szenen zwischen Timur, Calaf und Turandot mit Liu, aber keines, das der Inszenierung Richtung geben würde.

Der Personenführung fehlt jedes Profil

Bilder-Theater also – und damit steht man an der Deutschen Oper am Rhein in der Tradition eines Überwältigungs- und Illustrationstheaters, das letztlich das Illusionstheater alter Prägung nicht abstreifen kann. Das ist, auch wenn es postmoderne Theater-Theorie anders will, nicht verwerflich. Die Frage ist, wohin ein Regisseur mit welchen Mitteln zielt. Und da verharrt Huan-Hsiung Li mit einer unprofilierten Personenführung auf dem Niveau hilfloser Staatstheater-Arrangements für rasch wechselnde Sängerbesetzungen.

Brigitta Kele (Liu), Sami Luttinen (Timur) und der Chor der Deutschen Oper am Rhein in der Neuproduktion von Puccinis "Turandot". Foto: Hans Jörg Michel

Brigitta Kele (Liu), Sami Luttinen (Timur) und der Chor der Deutschen Oper am Rhein in der Neuproduktion von Puccinis „Turandot“. (Foto: Hans Jörg Michel)

Die wunderlichen Primadonnen-Gesten von Linda Watson korrespondieren mit dem tenoralen Biedersinn von Zoran Todorovichs rührend komischem Niederknien vor seiner statuenhaften Diva. Timur bleibt als Nebenfigur ebenso im Ungefähren wie Liu über ihr Opferklischee nicht hinauskommt. Der Blick, der die Rätsel des Stücks beantworten oder wenigstens eine dezidierte Position erschließen würde, bleibt verschlossen. Turandot – ein hübsch erzähltes Märchen; der behauptete Bezug zur Gegenwart erschöpft sich in den Projektionen von Mega-City-Szenen zu Beginn der Akte.

Musikalisch wagt Axel Kober ein anfechtbares, aber unter seinen Voraussetzungen erhellend geglücktes Experiment: Wie wohl kaum ein anderer rückt er Puccini weg vom italienischen Melodramma, weg von der erhitzten Passion des Verismo, hin zur musikalischen Moderne. Die Duisburger Philharmoniker realisieren mit der nötigen Präzision einen scharf geschnittenen, gläsern glitzernden Klang, negieren kompromisslos jedes atmosphärische Ungefähr, aber auch – und da ist das Konzept anfechtbar – eine klanglich gestützte, weitbogige Phrasierung und die spannungsreiche Kantilene.

Konsequenz herrscht unter Kobers Szepter nicht in impressionistisch anmutenden Klangmixturen, nicht in fiebrigem Aufrauschen, nicht in überwältigenden Explosionen. Sondern in der Zügelung der Dynamik, in der geschärften Rhythmik und in expressiv demonstrierten Details, von einem rhythmischen Trommelmotiv in der Rätselszene bis hin zu freigelegten Dissonanzen und offenen Reibungen zwischen Instrumenten.

Puccini, der Melomane und Zauberer orgiastischer Klangexaltationen? Vergesst es! Hier regiert Puccini, der Komponist, der tief verwurzelt in der italienischen Tradition den Weg in seine Moderne freigekämpft hat. Nebenbei bemerkt: Kober hat mit diesem Zugang auch Franco Alfanos oft kritisierter Vervollständigung des Finales Gerechtigkeit angedeihen lassen.

Linda Watson debütiert als Turandot

Bei den Sängern konnte die Duisburger Premiere auf bekannte Namen setzen: Linda Watson, Brünnhilde in Bayreuth und Wien, Elektra in Amsterdam und Buenos Aires, hat sich nach langer Zeit wieder auf eine italienische Partie eingelassen und debütiert als Turandot. Ihr extremes Vibrato kann sie nur in Maßen zähmen; die unnahbare Prinzessin liegt ihrem Rundung und Farbe barem Sopran näher als die in ihrer ganzen Existenz erschütterte Frau im Finale. Für Zoran Todorovich ist der Weg zur Calaf eine logische Folge aus seiner Entwicklung ins Dramatische – von Norma und Madama Butterfly über Andrea Chenier bis Otello, Florestan und der mörderischen Partie des Paolo in Zandonais „Francesca da Rimini“. Ganz glücklich macht das nicht: Wenn er auf einem fremdkörperartigen fahrbaren Treppchen sein „Nessun dorma“ singt, funktionieren die Töne zwar, aber sie haben keine emotionale Farbe. Und die expansiven Phrasen sind nicht so durchgestützt, dass sie Passion, Brillanz und Durchschlagskraft hätten.

Brigitta Kele, bewährtes Ensemblemitglied, kann als Liu die schimmernde Schönheit ihres Soprans ausstellen, hat aber keine Chance, die mangelnde Charakterisierung durch die Regie vokal auszugleichen. Auch Sami Luttinen ist als Timur dazu verurteilt, schöne Töne ohne Relevanz zu produzieren. Das Trio der chinesischen Ministerialen ist mit Bogdan Baciu, Florian Simson und Cornel Frey ideal besetzt. Chor (Gerhard Michalski) und üppig besetzter, klangschöner Kinderchor (Sabina López Miguez) lassen keine Wünsche offen.

Die Neuinszenierung ist bis 26. Dezember in Duisburg zu sehen und wird in der Spielzeit 2016/17 in Düsseldorf wieder aufgenommen, bevor sie 2017 nach Taiwan geht. Info: http://operamrhein.de/de_DE/termin/turandot.13056002




Kolossale Freiheits-Göttin: Stefan Herheim inszeniert Puccinis „Manon Lescaut“ in Essen

Des Grieux (Gaston Rivero) und seine Manon (Katrin Kapplusch. Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Des Grieux (Gaston Rivero) und seine Manon (Katrin Kapplusch. Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Als „Musiker der kleinen Dinge“ sah Giacomo Puccini sich selbst. Mit „Manon Lescaut“, seinem ersten großen Opern-Erfolg, war die erste seiner faszinierenden Frauengestalten geboren: ein junges Mädchen, bildschön und noch sehr unerfahren, erfüllt von übergroßer Lebensgier, die ihr schließlich zum Verhängnis wird. Im Essener Aalto-Theater bläst Regisseur Stefan Herheim die Titelfigur jetzt zur monumentalen Ikone auf. Das Glücksversprechen, das von diesem schillernden Geschöpf ausgeht, setzt er demjenigen der amerikanischen Freiheitsstatue gleich, die zur Entstehungszeit des Stücks gebaut wurde.

Aus Manon Lescaut wird also Madame Liberty, eine kolossale Göttin. Die gewaltsame Vergrößerung bekommt dem kleinen Ding denkbar schlecht. Allein das Ausmaß der Requisiten wirkt erschlagend: Die Fackel, der Kopf mit dem signifikanten Strahlenkranz, die Tafel mit dem Datum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sind durch ihr gigantisches Format furchterregend überpräsent (Bühne: Heike Scheele).

Stefan Herheim zeigt uns diese Teile in der Werkstatt, umgeben von Gerüsten, in denen der Chor als Arbeiterschar herum klettert. Über dem Versuch, die komplizierte und langwierige Entstehungsgeschichte der Oper in Szene zu setzen, gerät die eigentliche Handlung freilich ins Hintertreffen. Das Drama von Manon und Des Grieux, die von ihren ungezügelten Leidenschaften zerstört werden, bleibt uns seltsam fern. Die „passione disperata“, die großen Gefühle, die Puccini in Töne goss, kommen in Essen nicht beim Publikum an.

Giacomo Puccini (Mathias Kopetzki) hält Manon (Katrin Kapplusch) die Seiten seiner Partitur vor (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Giacomo Puccini (Mathias Kopetzki) hält Manon (Katrin Kapplusch) die Seiten seiner Partitur vor (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Die Regie lässt Puccini als stumme Rolle durch die Szene geistern. Wir sehen den Komponisten (Mathias Kopetzki), wie er aus dem Roman von Abbé Prévost Inspiration gewinnt, wie er die Sänger mit stummen Gebärden befeuert, wie er mit dem Werk ringt und mit seinen Protagonisten leidet. Das wirkt sich auf die Dauer als fatales Störelement aus. Immer wieder blättern die Sänger in einem Buch, womöglich der Romanvorlage, und singen zornig den Komponisten an, als begehrten sie zu wissen, wie es denn nun mit ihnen weitergehen solle.

Einem Flickenteppich gleicht die Produktion auch deshalb, weil herzlich unentschieden scheint, was denn nun eigentlich in Szene gesetzt werden soll: die Oper von Puccini, die Romanvorlage von Prévost oder doch lieber gleich der gesamte Manon-Komplex, der bis ins 20. Jahrhundert hinein zahlreiche Künstler inspirierte. Die prachtvollen Kostüme von Gesine Völlm schwanken zwischen dem französischen Rokoko und der Zeit um 1893. Des Grieux, der französische Chevalier, verwandelt sich immer wieder in den Bildhauer Frédéric-Auguste Barholdi. Als solcher fällt er aus der Szene heraus, um an seiner noch unfertigen Freiheitsstatue zu basteln.

Kaum wieder zu erkennen: Des Grieux (Gaston Rivero) verwandelt sich immer wieder in Frédéric-Auguste Bartholdi, den Erbauer der Freiheitsstatue. (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Kaum wieder zu erkennen: Des Grieux (Gaston Rivero) verwandelt sich immer wieder in Frédéric-Auguste Bartholdi, den Erbauer der Freiheitsstatue. (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Die Sänger sind nicht um eine Personenführung zu beneiden, die aus Manon eine prätentiöse Pute und aus Des Grieux einen aufgeregt flatternden Gockel macht. Indes können sie die enttäuschende Produktion nicht heraus reißen. Katrin Kapplusch beweist als Manon zwar Sicherheit und Durchschlagskraft, bleibt aber kalt und monochrom, mithin ohne Herzensglut oder mädchenhafte Farben. Als Gast gibt Gaston Rivero dem Chevalier Des Grieux einen zunächst eher dünnen Tenor, dessen Fragilität erst im Laufe des Abends kraftvolleren Tönen mit mehr Schmelz weicht. Ansprechend besetzt sind die kleinen Partien, von denen vor allen Heiko Trinsinger als Bruder Manons und Abdellah Lasri als Tanzmeister, Lampenanzünder und Edmondo zu nennen sind.

Wenig ist von den Essener Philharmonikern zu vermelden: Sie klingen unter der Leitung des Italieners Giacomo Sagripanti eher blass, begleiten unauffällig das Geschehen. Etliche Wackler gibt es zwischen dem Orchestergraben und den im Prinzip gut disponierten Chören des Aalto-Theaters, womöglich befördert durch manch aktionistisch anmutende Rennerei.

Gemessen an den hohen Erwartungen, geweckt durch den glänzenden Ruf des Regisseurs, muss diese Eröffnungspremiere als Enttäuschung bezeichnet werden. Sie mag als Fundgrube für Dramaturgen taugen, nicht aber für ein Publikum, das sich von Emotionen ergreifen lassen möchte. Das Aalto-Theater, für das die Zeichen in der zweiten Spielzeit unter Generalintendant Hein Mulders noch immer ein wenig auf Neuanfang stehen, hat sich mit dieser Koproduktion der Oper Graz und der Dresdner Semperoper einen ersten Flop eingefangen.

Termine und Informationen zum Stück: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/manon-lescaut.htm)

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen.) 




Glanz einer anderen Welt: Puccinis „Tosca“ als ästhetisches Spektakel in Wuppertal

Ein überwältigender Coup: Tosca im Licht eines metapyhsischen Raums. Foto: Uwe Stratmann

Ein überwältigender Coup: Tosca im Licht eines metapyhsischen Raums. Foto: Uwe Stratmann

Der Coup de Théâtre war überwältigend: Tosca entdeckt, perfide getäuscht, den erschossenen Cavaradossi, flieht vor den Schergen Scarpias, stellt sich im lichtgefluteten Ausgang dem Schuss Spolettas. Das Ende? Nicht in Stefano Podas spektakulärer Inszenierung des Puccini-Thrillers in Wuppertal.

Die rote Robe der Sängerin wandelt sich hier in einen weißen, priesterlich anmutenden Mantel, Tosca schreitet ihren Widersachern entgegen, die schwarze Wand fällt und erschlägt die Peiniger. Und Tosca steht, wie eine Ikone, in einem tiefen, weiß leuchtenden, von Nebelfetzen durchwehten Raum. Racheengel und Erlöste, umwölkt vom Glanz einer anderen Welt.

Man muss Stefano Poda lassen: Von Ästhetik versteht das italienische Allround-Talent eine ganze Menge. Szene, Kostüme, Licht, Regie: Alles kommt aus seiner Hand – oder besser, seiner Fantasie. Träume von einer ihm eigenen verborgenen Welt seien seine Inszenierungen, schreibt er im Programmheft, entzündet an der Musik und wie ein Film von einem inneren Auge aufgenommen. Aktualität? Unnötig! Nicht historisch, nicht modern, nein: zeitlos versteht er seine Arbeiten.

Finale Erster Akt: Die Prozession geisterhafter Kleriker. Foto: Uwe Stratmann

Finale Erster Akt: Die Prozession geisterhafter Kleriker. Foto: Uwe Stratmann

Im ersten Akt schon finden wir uns nicht in der Kirche Sant’Andrea della Valle in Rom, sondern in einer Installation: Gestürzte Kreuze drehen sich um eine Achse, immer wieder. Ein szenisches Mittel, das sich schnell abnutzt.

Die Figuren sind schwarze Schatten in eindrucksvoll gestaltetem Chiaroscuro, mal ins trübe Licht tretend, mal im Ungefähr der tiefen Szene verschwimmend. Die Wände wirken wie die Columbarien eines italienischen Friedhofs: marmorversiegelte Gräber, davor flackernde Grablichter. Scarpia tritt nicht auf, er taucht einfach auf. Die Prozession im Finale: ein Reigen gespenstischer Kleriker, kreuztragender Untoter.

Im zweiten Akt verwandelt sich die Bühne zu einer hohen Halle ohne architektonische Konturen. Ein monströser Tisch voller Papiere. Die Falltür, die im ersten Akt in die Cappella Attavanti führte, öffnet sich nun zum Folterkeller. Zwei Männer rekeln sich mit freien Oberkörpern: Spoletta (Johannes Grau) und Sciarrone (Jan Szurgot) als begehrenswerte Jünglinge; Sex, Brutalität, Abhängigkeit gehören zusammen. Ihre Gewänder sind lange, weite Mäntel, Soutanen nicht unähnlich: Sex und Religion sind gefährliche Geschwister. Später verröchelt Scarpia an der Kugel Toscas, die sich zu Tode erschöpft aus dem Raum schleppt.

Szene aus dem zweiten Akt mit Mirjam Tola (Tosca), Johannes Grau (Spoletta), Mikolaj Zalasinski (Scarpia). Foto: Uwe Stratmann

Szene aus dem zweiten Akt mit Mirjam Tola (Tosca), Johannes Grau (Spoletta), Mikolaj Zalasinski (Scarpia). Foto: Uwe Stratmann

Viel Stoff für das staunende Auge. Doch wer sich den Blick nicht verführen lässt, wer tiefer blickt, erkennt schnell: Poda steht in der Tradition des italienischen Musiktheaters, dem die Ästhetik über alles geht, und das beherrscht er virtuos.

Doch sobald es an die Innenschichten des Dramas, an die Bedeutung der Figuren geht, verliert sich die Wirkung schnell. Da herrscht verkrampfter Modernismus: Der Mesner (Dieter Goffing) macht beim „Angelus“ Liegestütze, von Mario Cavaradossi und seiner Floria Tosca erfahren wir vornehmlich ihre sexuelle Obsession: Der Kopf des Malers liegt bei jeder sich bietenden Gelegenheit am Schoß der Diva.

So geht es weiter: Dass Tosca, wenn sie die dargestellte Frau auf dem Bild der Magdalena identifizieren will, nicht einmal hinschaut, um „L’Attavanti“ zu erkennen, wäre einst ein banaler Regiefehler gewesen. Heute sind solche Schludereien mit höheren Weihen metaphysischer Bühnen-Bedeutung geheiligt – wehe, wenn man ihren „Subtext“ nicht erkennt.

Allround-Künstler und Ästhet: Stefano Poda. Copyright: Stefano Poda

Allround-Künstler und Ästhet: Stefano Poda. Copyright: Stefano Poda

Leider sind Podas Chiffrierungen nicht so, dass sie über sich selbst hinausführten. Das trifft für die koksenden Lustboys Scarpias ebenso zu wie für ein abgeschmacktes erotisches Symbolspiel mit Toscas Schuh.

Und nicht nur beim Auftritt Scarpias verschenkt Poda die Kontur dieser abgründigen Figur. Auch im Verhör des zweiten Akts will es ihm nicht gelingen, aus konventionellen Gängen und Gesten ein Psychogramm dieses raffinierten Gewalttäters zu entwickeln: Die verschlagene Galanterie, die ironische Verstellung, die panthergleich aufspringende Brutalität dieses Mannes erschöpft sich in Gebrüll und Grobheit.

Daran mag auch der Sänger Mikolaj Zalasinksi schuld sein. Dass der polnische Bariton 2011 – von wem auch immer – für eine Darstellung des Scarpia als „bester Sänger“ nominiert wurde, darf als Zeugnis dafür gewertet werden, wie rudimentär heute die Kenntnisse idiomatisch passenden Gesangs geworden sind. Sicher hat Zalasinski ein imponierend machtvolles Organ; seine Artikulation ist tadellos. Aber die monotone Lautstärke, die sich nach den wenigen Differenzierungsversuchen schnell wieder einstellt, enthält der Figur wesentliche Facetten vor. Die Charge eines kruden Brutalos – mehr finden Poda und sein Darsteller für den Scarpia nicht.

Ähnlich eindimensional bleibt Xavier Moreno als Cavaradossi. Er singt ansprechend substanzvoll, hält die Stimme auf dem Atem, zeigt einen robusten Tenor. Aber die zärtliche Abmischung des Tons, die Facetten zwischen der wild auftrumpfenden Genugtuung der „Vittoria“-Rufe, der brennenden Enttäuschung über Toscas Verrat und der todesträchtigen Wehmut seiner letzten Arie bleiben im virilen Einheitsgesang auf der Strecke. Moreno trägt vor, er lebt die Szenen nicht. Ein Schuljunge, der dem Ungeheuerlichen mit stoischer Statik trotzt.

Mirjam Tola ist Tosca. Geschickt laviert sie zwischen den Anflügen slawisch-kehligen Timbres und manch gefährdet dünnen Hochtönen vor allem in der wichtigen Mittellage mit Erfolg: Ihr Sopran leuchtet, zeigt Schmelz und Substanz. Zudem nutzt sie die Chance, die Rolle zu profilieren. Von der Psychologie der kapriziösen, unreif-eifersüchtigen Liebhaberin, der glamourösen, aber naiven Diva, dem intuitiven Mut und der verzweifelten Konsequenz der verletzten, getäuschten Frau sieht man wenig, weil ihr Podas Regie wenig zur Hand geht.

Kongenial setzt Toshiyuki Kamioka die Reduktion des Puccini’schen Meisterwerks auf ästhetische Coups in der musikalischen Gestaltung fort: Er verlyrisiert Puccinis vielgestaltige Musik nahezu komplett. Breite Tempi, schimmernd-schöne Klanggebilde, genussvoll nachgezogene Melodielinien, aber kein hintergründiges Infragestellen der harmonischen Oberfläche, keine zupackende Dramatik, kein schlagender Akzent. Die wehmutsvolle Schönheit des Vorspiels zum dritten Akt bekommt nicht nur durch die Leidensgestalt einer bedrängten nackten jungen Frau eine vordergründige Anmutung. Sie wird von Kamioka auch musikalisch in zerfließendem Lyrismus zelebriert. Puccinis Zähne sind weich abgerundet – zupacken kann er damit nicht mehr. Man muss nicht mit Victor de Sabatas einzigartiger Aufnahme kommen, um diese weichgezeichnete Tosca inadäquat zu finden.

Das also ist die „Weltklasse“, die der neue Intendant Kamioka – oder besser: sein Stellvertreter Joachim Arnold – bei der Pressekonferenz zur Vorstellung seiner ersten Spielzeit unter harten Spar-Vorzeichen angekündigt hatte. Das wäre alles noch verstehbar – Theater bedeutet Risiko, und des einen Königreich ist des anderen Bettlerasyl. Aber dass die Wuppertaler Verantwortlichen sich für den Start ihres neuen Konzepts – so glamourös und abgemagert wie ein unterernährtes Star-Model – auch noch einen künstlerischen Aufguss haben verkaufen lassen, hat eine eigene Ironie: Stefano Podas „Tosca“ ist nämlich mitnichten neu.

Wer 2012 Puccinis Oper in Klagenfurt gesehen hat, wird wesentliche Elemente wiedererkennen: die Kreuz-Skulptur des Anfangs, den Überraschungs-Coup am Ende. Die Inszenierung Podas, die wohl demnächst am renovierten Münchner Gärtnerplatztheater des damaligen Klagenfurter Intendanten Josef E. Köpplinger recycelt wird, ähnelt sicher nicht in Details, aber in den prinzipiellen Linien dem, was die Wuppertaler auf ihrer Bühne bejubelt haben.

Die Oper beeilte sich, auf entsprechende Darstellungen in der Presse mit einem Briefzitat Podas zu entgegnen, in Wuppertal sei eine „Weiterentwicklung“ der Klagenfurter Inszenierung zu sehen. Wer „zeitlose“ Oper schätzt, für den mag das unerheblich sein. Schließlich fährt kaum jemand aus Wuppertal nach Klagenfurt, um dort „Tosca“ zu sehen. Wer aber zum „Weltklasse“-Niveau ein eigenes, für die jeweilige Bühne erarbeitetes Regiekonzept zählt, kann mit dem Poda-Selbstzitat in Wuppertal nicht zufrieden sein. Aber so ist es eben mit Träumen: Sie kehren gern, in leicht veränderter Form, immer wieder.

In Wuppertal lässt sich trefflich weiterträumen: von den Zeiten, in denen ein Regisseur wie Friedrich Meyer-Oertel auch wenig rezipierte bedeutende Werke zur Diskussion stellte. Oder von der jüngsten Vergangenheit, in der Johannes Weigand so wichtige Entdeckungen wie Szymanowskis „König Roger“ oder Wolfgang Fortners „Bluthochzeit“ auf die Bühne bringen ließ; Projekte, die weit über Wuppertal hinaus aufmerksam verfolgt wurden. Kamiokas profilloser, auf Auslastung schielender Spielplan verdient solches Interesse nicht. „Salome“, „Don Giovanni“ oder „Hänsel und Gretel“ sollen die Menschen in das wunderschöne Haus in Barmen locken. Das mag zunächst funktionieren, aber mit anbiederndem Verzicht auf Einfallsreichtum ist es wohl selten gelungen, vor allem ein neues Publikum dauerhaft zu gewinnen.




Mätzchen eines Show-Tenors: Vittorio Grigolo in Essen und Dortmund

Ein Glück, dass er nur den obersten Hemdenknopf geöffnet hat. Wer weiß, ob die enthusiasmierten Damen beim Anblick einer behaarten Brust nicht in Ohnmacht niedergesunken wären. Vittorio Grigolo, die neue italienische Tenor-Hoffnung mit der Betonung auf dem ersten „o“, hat seinen Auftritt in der Essener Philharmonie – der zwei Tage später auch im Konzerthaus Dortmund zu erleben war – zu einer Show genutzt, die sich gar nicht mehr die Mühe macht, den Anschein zu erwecken, als ginge es um die Kunst Donizettis, Verdis oder Puccinis.

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Grigolo, schwarze Locken, gute Figur, dunkle Feueraugen – ein Mann, der sich vom Äußeren her zweifellos zum Tenorstar eignet. So einen brauchen die Italiener, die seit vierzig Jahren ihr musikalisches Bildungssystem und ihr Musikleben ruinieren. Einen, der den längst hohl gewordenen Mythos vom Land des Belcanto und der feurigen Hasardeure auf den Spitzen des hohen C stützt. Tatsache ist: Aus Italien kommt schon lange kein bedeutender Sängernachwuchs mehr – und auch Vittorio Grigolo ficht eher in der Nachhut als in der Attacke.

Wo es an stimmlicher Überzeugungskraft fehlt, muss die Charme-Offensive herhalten. Also wischen wir uns vor „Una furtiva lagrima“ demonstrativ eine heimliche Träne aus dem Auge, um diese sanfte, verinnerlichte, am Rande einer verzweifelten Selbsttäuschung lavierende Arie dann zu singen, wie sie garantiert nicht gemeint ist: extrovertiert, mit mangelhafter Linie, mit hochgedrückten Tönen statt eines fein dynamisierten Legatos, mit substanzlosen Piani und dem falschen Strahlen eines ziemlich hart sitzenden – und hier noch dazu unangebrachten – Forte, wenn der schüchterne Nemorino meint, bei seiner Angebeteten Spuren von Liebe entdeckt zu haben.

Grigolo bedient das Zuschauen, nicht das Zuhören. Er verzieht die Miene wie eine antike Theatermaske, stellt Schmerz oder Wonne überaffektiert aus, statt solche Gefühle stimmlich zu beglaubigen. Er wirkt wie eine Mischung aus Cecilia Bartolis artistischer Darstellungskunst und Rolando Villazóns übertriebenem Chargieren. Doch wo man den beiden das ernsthafte Engagement für die Musik, die sie ihrem Publikum präsentieren, abnimmt, drängt sich bei Grigolo vor allem der Eindruck einer abgeschmackten Fassade auf.

Denn wie soll man es sonst nennen, wenn der Tenor zu „Che gelida manina“ aus Puccinis „La Bohème“ erst mal armereibend den Menschen im Saal klarmachen zu müssen glaubt, dass an dieser Stelle gefroren wird. Wenn er sich hinkniet und seine – nach einem dünntönigen Aufstieg – respektable Höhe auf „speranza“ einer Dame in der Saalecke  hinschmettert? Und wenn er, in komischem Widerspruch zu den Frost-Signalen vorher, das Jackett auszieht und in einer pathetisch outrierten Geste auf den Boden breitet. So stellt sich Lischen Müller die Oper vor. Oder liegt die plötzliche Hitzewallung einfach daran, dass die imaginierte Mimí nun das Feuer des „Latin Lovers“ entzündet hat?

Wie auch immer, solche Eskapaden erinnern eher an Schmuseklassik à la André Rieu oder an Grigolos eigene Crossover-Vergangenheit als an eine seriöse Auseinandersetzung mit dem, was die Komponisten in ihre Musik gelegt haben. Die erste der drei Arien des Programms – mehr hatte Grigolo nicht zu bieten – eignete sich am wenigsten für pseudoszenische Mätzchen: Donizettis bewegendes „Angelo casto e bel“ aus „Il Duca d’Alba“ war mit nervöser Spannung aufgebaut. Um Brillanz zu erreichen, drückt Grigolo den Ton in die Maske. Die Folge: Die Piani können nicht auf dem Atem gebildet werden, bleiben substanzlos wie der Falsetteinsatz in der Höhe auf dem ausklingenden „dolor“.

Die Zugabe musste ein Schlager sein: Der Auftritt des Herzogs von Mantua aus Verdis „Rigoletto“ geriet beinahe zum Mitklatschen – nebst besagter Öffnung des Hemdenknopfs zwecks emotionaler Aufreizung. Die Rechnung geht, das ist das Erschütternde, weitgehend auf: Blümchen, Küsschen, Winkewinke. Da fallen diejenigen im Publikum, die nicht auf die Show hereinfallen, nicht weiter auf.

Der Mythos der „Scala“ lebt nur noch aus dem Glanz der Vergangenheit

Die Filarmonica della Scala half mit, das abgründige Niveau des Abends zu fördern; sicher auch ein Verdienst von Andrés Orozco-Estrada, der den Temperamentsbolzen am Pult mimte und so den Eindruck eines seriösen Dirigenten gefährdete. Auch die Scala lebt vom Nachleuchten eines Mythos, der längst seinen musikalischen Realitätsbezug verloren hat – und die Mailänder Musiker bestätigen das auf umwerfende Weise: So plump und lärmend ist die Ouvertüre zum „Barbiere di Siviglia“ weder in Gelsenkirchen noch in Krefeld zu hören. Das Orchester drosch auf Rossinis filigrane Noten ein, als habe es nie eine kritische Edition mit erheblichen instrumentalen Korrekturen gegeben.

Mascagnis Intermezzo aus „Cavalleria rusticana“ – dass dieser Komponist 2013 sein 150. Geburtsjahr hat, ist auch in Italien untergegangen – geriet zum seifigen Schmachtfetzen. Und in der Ouvertüre zu Verdis „Les Vêpres Siciliennes“ scheinen die saftig drauflos spielenden Scala-Musiker bestätigen zu wollen, dass diese Vorspiele zu italienischen Opern vor allem Lärm seien, um das Publikum zum Schweigen zu bringen. Immerhin: Orozco-Estrada hat den Musikern wohl nahegebracht, dass der Kontrast zwischen dem ätherischen Flirren der Geigen und den ruppig-bösen Einwürfen der Bässe musikalische Innenspannung aufbaut und Expressivität konstituiert.

Der an das Arienkonzert angeklebte zweite Teil mit Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Maurice Ravel rettete nichts mehr – trotz guter Eindrücke über die virtuose Reaktionsschnelligkeit einiger Orchestermusiker. Doch der Anlass zur Klangüberflutung wurde nicht erst am „Großen Tor von Kiew“ wieder dankbar angenommen und umgesetzt – in einer Wucht, die sich am Ende dieses desaströsen Events längst abgenutzt hatte.




Tiefe Gefühle, brisante Konflikte: Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt

Christof Loy bezieht mit seiner Inszenierung von Giacomo Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt klar Position: „Ich finde es … falsch, das Stück zu aktualisieren“, zitiert ihn das Programmheft. Falsch, weil die Naivität der Menschen auf der Bühne verloren gehen würde. Verzicht auf Aktualisierung freilich heißt für ihn nicht Verzicht auf Stilisierung: Herbert Murauer baut keine Hollywood-Wildwest-Kulisse. Sein Raum ist der von Loy so geliebten Kasten, diesmal eng, niedrig, flach wie ein Bretterverschlag.

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis "La Fanciulla del West". Foto: Monika Rittershaus

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis „La Fanciulla del West“. Foto: Monika Rittershaus

Nach draußen führt immer nur ein kleines, bedeutungsvolles Fenster. Es lässt einen blendend hellen Schein in den Raum – und in diesem Licht träumt Minnie, die Protagonistin: Von einem Aufbruch ins Irgendwo? Vom Glanz einer wahren Liebe? Vom inneren Licht der schmerzlich vermissten Bildung? Den Aufbruch wird sie am Ende wagen – hinein in ein goldenes Leuchten (Licht: Bernd Purkrabek), das sich auf den Gesichtern der Goldgräber im Frankfurter Opern-Kalifornien widerspiegelt.

Loy erzählt in dieser Übernahme von der Königlichen Oper Stockholm – ursprünglich sollte Richard Jones diesen Puccini inszenieren – nicht einen saftig-spannenden Western. Nur der Schwarz-Weiß-Filmvorspann spielt an auf die goldene Zeit der amerikanischen Filmindustrie, bedient den Primadonnen-Mythos, der ja auch in der Oper eine Rolle spielt, evoziert die Parallele zum Film, wenn handelnde Personen in Schwarz-Weiß auf die Bühnenwand projiziert werden.

Immer wieder überhöht Loy die vermeintlich realistischen Elemente der Erzählung und der Bühne: Nicht nur das Fenster ist mit seinem unwirklichen Lichteinfall eher eine Chiffre. Wenn Murauer zwischen Minnies Garderobe und die Bar „Polka“ eine Mauer zieht, und wenn der rasend verliebte Sheriff Jack Rance an dieser Wand steht und spürt, er werde sie nie überwinden, wächst der Raum über sich selbst hinaus, wird zum Gleichnisort tiefer Gefühle und brisanter Konflikte.

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis "Fanciulla del West" stehen. Foto: Monika Rittershaus

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis „Fanciulla del West“ stehen. Foto: Monika Rittershaus

Dennoch erzählt Loy vor allem: Er erzählt eine Geschichte von Melancholie, Heimweh, Einsamkeit; von Empathie und der Last der Herkunft, von Schicksal, Gemeinheit und Edelmut. Manchmal wirkt das etwas zu filmisch, macht es dem Zuschauer leicht, sich in der Rolle des genießenden Betrachters zurückzulehnen. Tilman Knabe hat das Konfliktpotenzial und die Tragödie in seiner Mannheimer Inszenierung radikaler zugespitzt: Knabe verlegt die Handlung in eine verlorene, heruntergekommene Militärstation an der Grenze zu Mexiko, brutalisiert die Konflikte zwischen den Goldgräbern, zeichnet Dick Johnson nicht als den edlen Tenor-Ganoven, sondern changierend zwischen Kriminellem und Widerstandskämpfer.

Scharf beleuchtet Knabe den Agenten des Konzerns Wells Fargo, Mr. Ashby, als Drahtzieher im Hintergrund, dessen Rolle die naiven Goldgräber nicht durchschauen, bis das Militär aufmarschiert – eine Lesart, die jene ausbeuterischen Zustände kritisiert, welche die historische Folie des sonst so malerisch empfundenen Western-Milieus sind. In Frankfurt ist Alfred Reiter ein geschniegelter, aber sonst eher harmloser Vertreter – was aber auch daran liegen könnte, dass die nachstudierte Übernahme aus Stockholm manches Profil nicht so scharf wie ursprünglich gedacht umrissen hat.

In seiner „Fanciulla“ – der ersten Inszenierung der Puccini-Oper in Frankfurt seit 1958 – gleicht Loy die zurückhaltende konzeptionelle Zuspitzung aus, weil er seine Protagonisten virtuos und sensibel führt. Das gilt nicht nur für die resolute, warmherzige Minnie der Eva-Maria Westbroek mit ihrer unbestimmten Lebenssehnsucht und ihrer tiefen Menschlichkeit, die man ganz altmodisch als Nächstenliebe bezeichnen möchte. Es gilt auch für den Sheriff Jack Rance, den abgebrühten Spieler, der unter seiner abgewiesenen Liebe zu Minnie wie ein Hund leidet, aber auch berechnend, zuschnappend wie ein scharfer Jäger, sein kann.

Carlo Ventre als Dick Johnson ist letztendlich doch eher Tenor als Darsteller – und nicht einmal ein besonders glanzvoller: Sein Timbre ist stets von einem heiser-verbrauchten Beiklang begleitet, seine Kraft ist eindimensional und führt nicht zu einem weit projizierten Stimmklang. Auch Ashley Hollands Bassbariton ist für den Sheriff nicht so optimal im Körper verankert, dass er seinen Ton resonanzreich gestalten könnte – so kommt sein psychologisch bewusstes, klug gestaltendes Singen leider immer wieder an physische Grenzen.

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus (3)

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus

Und Eva-Maria Westbroek, die oft gefeierte Dramatische, die Sieglinde des Frankfurter „Rings“, schafft es nicht, die Höhe in die Linie einzubinden, muss vor allem forcieren, wenn sie aus der Mittellage ins hohe Register aufsteigt. Dann wird der Ton gequält und prekär. Ihre warme, volle Mittellage dagegen überzeugt, steht ihr in allen gestalterischen Facetten zu Gebot und führt dazu, dass der zweite Akt – in dem das Keimen der Liebe zu Dick Johnson und die entsetzliche Enttäuschung fesselnd entwickelt ist – ein atemberaubender Höhepunkt der Frankfurter „Fanciulla“ wird.

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Der Regisseur hat auch ein Auge auf die zahlreichen Nebenrollen und die Individuen des Chores, den Matthias Köhler musikalisch sicher präpariert hat. Dass Loy Elisabeth Hornungs Wowkle – die indianische Bedienstete Minnies – allerdings zur komischen Figur macht, will nicht mehr einleuchten, wenn man in Mannheim Tilman Knabes an dieser Figur entwickelte Studie über den Rassismus der weißen Frau gesehen hat.

Rundweg begeisternd agiert in Frankfurt wieder einmal das Orchester. Nun hat stellvertretender GMD Alois Seidlmeier in Mannheim seinen Job wirklich ausgezeichnet gemacht, aber die Vielfalt der Farben, die dynamische Finesse, den impressionistischen Klangschmelz, aber auch die Prägnanz rhythmischer und repetitiver Motive, die schon an Janáçek denken lassen, hat das Mannheimer Orchester nicht so bezwingend umgesetzt wie seine Frankfurter Kollegen unter Sebastian Weigle. Modern und klangsinnlich zugleich, emotional und strukturiert: Weigles Blick auf Puccini überwindet alle Vorurteile; lässt hören, wie der Komponist die Traditionen des Belcanto und der Spätromantik transformiert in seine unverwechselbare Klangsprache, die mehr als nur eine ferne Ahnung von den Aufbrüchen der Moderne in sich integriert. Auch deshalb darf man der Frankfurter Oper wieder einmal für einen spannenden, erfüllten Abend dankbar sein.




Vor zehn Jahren im Aalto, jetzt in der ganzen Welt: Martina Serafin zu Gast in der Philharmonie Essen

Willkommen zurück, Frau Serafin! Vor zehn Jahren war die Sängerin am Aalto-Theater in großen Rollen zu erleben wie die Fiordiligi in „Cosi fan tutte“ (1999), die Elsa im „Lohengrin“ (2000) oder die Marschallin im „Rosenkavalier“. Heute singt die Dame in London, Mailand und Wien. Gerade erholt sie sich von der „Tosca“ in der Arena von Verona; bald reist sie weiter zur nächsten „Tosca“ nach Paris und zu Wagners „Ring“ an die Met. In Essen glaubt man offenbar, es brauche den Extra-Hinweis, wer Martina Serafin sei: Eine „weltberühmte“ Sängerin springe ein für die erkrankte Anja Harteros, war auf Aushängen im Foyer der Philharmonie zu lesen. Nun gut, jetzt wissen wir’s.

Martina Serafin. Pressefoto: Philharmonie Essen

Martina Serafin. Pressefoto: Philharmonie Essen

Das Einspringen ist ein undankbarer Job: Die Bochumer Symphoniker und Dirigent Friedrich Haider mussten kurzfristig neu disponieren, haben sogar einer Extra-Probe zugestimmt. Dafür gab`s Lob von Intendant Johannes Bultmann. Heikle Stücke wie das „Lohengrin“-Vorspiel oder das „Siegfried-Idyll“ lassen sich unter solchen Bedingungen nicht optimal erarbeiten. Das war zu hören: körnige Schlacken in den ätherischen Entrückung des „Lohengrin“-Vorspiels und der resignierten Piano-Schwermut von „La Traviata“. Die Violinen an den hinteren Pulten mit eher robustem Ton. Aber auch schön geformte Bläsersoli in der schwungvollen Einleitung zum dritten „Lohengrin“-Akt.

Hätte Haider das Tempo in der Ouvertüre zu Verdis „Nabucco“ nicht so extrem angezogen, wären die Musiker sicher präziser und klangschöner bei der Sache gewesen. Verdis „Macbeth“-Ballettmusik war das spannendste Stück des Abends; man wundert sich, warum man diesen Hexensabbat mit der majestätischen musikalischen Erscheinung der Totendämonin Hekate nicht öfter hört.

Mit den beiden Arien der Tannhäuser-Elisabeth stieg Martina Serafin in den Abend ein, noch ein wenig rau im Ton, mit bebendem Unterkiefer und nicht ganz sitzenden Hochtönen. Die Stärken der Sängerin liegen zweifellos dort, wo sie stimmlich wie eine Verismo-Heroine agieren darf. Etwa bei den Arien von Puccini und Giordano, zum Beispiel „In quelle trine morbide“ aus Puccinis „Manon Lescaut“: bombiger Stimmsitz, klare Artikulation, der klassische Ton einer dramatischen Sängerin. Aber auch tiefe Bewegtheit, fulminante Steigerungen. Nur mit der Höhe muss Martina Serafin vorsichtig sein: Sie scheint Mühe zu haben, die Stimme weit und entspannt auf der Stütze zu halten. Emotional aufgeladen: „La mamma morta“ aus „Andrea Chenier“. Und ein Gruß aus Wien als Zugabe: „Meine Lippen, sie küssen so heiß“ aus Lehárs „Giuditta“. Bei solchen Schmeicheltönen glaubt man der Sängerin aufs Wort!