Groteske Sozialkritik im Asia-Restaurant: In Hagen startet eine neue Intendanz mit Peter Eötvös‘ „Der Goldene Drache“

Spielfreudiges Ensemble (von links): Nike Tiecke, Anton Kuzenok, Angela Davis, Kenneth Mattice, Ks. Richard van Gemert. (Foto: Leszek Januszewski)

Abschied und Neubeginn: Mit dem ehrgeizigen Projekt einer Uraufführung hat Intendant Francis Hüsers in Hagen noch einmal für einen Höhepunkt gesorgt. Auch sein Nachfolger Søren Schuhmacher bekennt sich zum Musiktheater der Gegenwart.

„American Mother“, die Oper der amerikanischen Komponistin Charlotte Bray, einfühlsam inszeniert von Travis Preston und vom Orchester unter dem ebenfalls scheidenden GMD Joseph Trafton auf makellosem Niveau gespielt, setzte einen tief bewegenden Schlusspunkt unter Hüsers achtjährige Intendanz.

Schuhmacher wird sich am 4. Oktober mit einem Klassiker, Verdis „La Traviata“, als Regisseur vorstellen. Seine auf fünf Jahre angelegte Intendanz eröffnet er jedoch mit Zeitgenössischem: „Der goldene Drache“ des im letzten Jahr verstorbenen Peter Eötvös stellt zugleich das neue Format „CloseUP!“ vor: Das Publikum darf auf die Bühne, sitzt auf drei Seiten um eine zentrale Spielfläche. Die vierte Seite, zum offenen Bühnenportal und dem leeren Zuschauerraum hin, besetzen die sechzehn Musiker des Orchesters.

Seit der Uraufführung 2014 in Frankfurt wird „Der goldene Drache“ häufig gespielt. Das liegt sicher auch an der perfekten Machart der Vorlage, einem Schauspiel von Roland Schimmelpfennig, das 2010 zum „Stück des Jahres“ gekürt wurde. Die Story dreht sich um einen jungen, illegal in einem Schnellrestaurant arbeitenden Chinesen mit wahnsinnigen Zahnschmerzen. Da er nicht zum Zahnarzt gehen kann, reißen ihm die Kollegen den kariösen Zahn mit einer Rohrzange. Der „Kleine“ verblutet; sein Leichnam wird in einen Fluss geworfen.

Lakonisches Erzählen und surreale Komödiantik

Wie Schimmelpfennig verbindet Eötvös sozialkritischen Realismus mit grotesken Zügen, verwebt in das Drama des „Kleinen“ die alte Fabel von der Grille und der Ameise. Sie wird zum schockierenden Gleichnis ausbeuterischer Abhängigkeit und sexuellen Missbrauchs. Kennzeichnend für die stark gekürzten Textfassung, die Eötvös in Absprache mit Schimmelpfennig für sein Musiktheater erstellt hat, ist das Ineinandergreifen von lakonischem Erzählen und surrealer Komödiantik, die einmünden in eine fantastische Übersteigerung am Ende, wenn der „Kleine“ als Toter übers Meer nach Hause schwimmt.

Der Monolog des toten jungen Chinesen ist das einzige ariose Innehalten in den gut 90 Minuten und sprengt die Erzählebenen. Wenn zuletzt der gezogene Zahn in einen Fluss gespuckt wird, erinnert die absurde Szene nicht nur an den von Eötvös geschätzten Samuel Beckett, sondern reißt einen transzendenten Horizont auf: Der junge Mensch und sein Zahn sind im Fließen des Wassers wieder vereint. „Der Zahn ist weg, als ob er nie dagewesen wäre“, ist der letzte Satz des Stücks.

Zwischen leichtfüßigem Boulevard und verstörender Intensität

In ihrer Inszenierung in Hagen bricht Julia Huebner den Strang des Erzählens auf, gibt den realistisch anmutenden Abschnitten in der beengten Küche des Asia-Restaurants einen verfremdenden Touch von überzogenem Boulevard, setzt die Fabel-Szenen der Grille durch eine Gondel und Live-Videos auf Distanz, lässt sie dadurch gleichzeitig verstörend eindringlich wirken.

Das Spiel der fünf Hagener Ensemblemitglieder, die in achtzehn Rollen schlüpfen, hat Züge des Impro-Theaters und wirkt leichtfüßig und überzogen, als käme es von der Bretterbühne eines Jahrmarkts. Die Kostümwechsel auf offener Szene (punktgenau karg von Iris Holstein) unterstreichen die Distanz vom naturalistischen Spiel und heben die Extreme und Kontraste hervor, auf die Eötvös abgezielt hat.

Mit der Musik von Peter Eötvös demonstrieren die Hagener Musikerinnen und Musiker, wie vertraut sie mittlerweile mit dem Idiom zeitgenössischer Klänge und Strukturen sind. Steffen Müller-Gabriel spornt an, wo es um rhythmische Pointen oder Klangakzente geht, dämpft aber ab, wo untergründiges Flüstern, dünnwandige Tongebilde und verhaltene Akkorde gefragt sind. Eötvös‘ setzt nicht auf Schärfe und Überwältigung, aber auch nicht auf süffiges Illustrieren. Er nimmt Anleihen bei Kabarett- und Operettenmusik, lässt dem Sprachrhythmus und dem verständlichen Wort stets den Vortritt. Wenn sich die Leichtigkeit verdichtet, bilden sich magisch schillernde Blasen luftigen Klangs.

Angela Davis in „Der Goldene Drache“, u.a. als Ameise. (Foto: Leszek Januszewski)

Das Hagener Ensemble mit Angela Davis, Anton Kuzenok, Richard van Gemert, Kenneth Mattice und der leichtstimmigen, ursprünglich aus dem Musical kommenden Sopranistin Nike Tiecke als „Kleinen“ findet die Balance zwischen Disziplin und Momenten grotesker Übertreibung. Ein gelungener Start in die neue Spielzeit, der hoffen lässt, dass Schuhmacher das bisherige Niveau in Hagen hält und durch neue Akzente bereichert.

Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/der-goldene-drache-1926/0/show/Play/




Zehn Jahre nach dem Weltkrieg: Als deutsche Abstrakte in Paris reüssierten

Karl Otto Götz: Ohne Titel (9.9.1954) (Drouin-Bild, 1954) / Sammlung von Morgen, Berlin (Foto: Oskar Lee / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Abstrakte deutsche Kunst in Paris zeigen – nur zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs? Das muss ein heikles Unterfangen gewesen sein. 1955 sah man darin von Staats wegen auch eine diplomatische Mission zur Annäherung ans vormals befeindete Nachbarland. Trotz vieler Streitigkeiten im Vorfeld wurde die Schau ein Erfolg und brachte manchen Künstlern den Durchbruch. Wer es in Paris geschafft hat, der damaligen Welthauptstadt der Kunst, konnte es überall vollbringen.

Jetzt, 70 Jahre später, ist die legendäre Ausstellung fürs Hagener Emil Schumacher Museum (ESMH) zu wesentlichen Teilen rekonstruiert worden. Sie führt auf eine Zeitreise in ästhetische Gefilde der 50er Jahre. Es gibt wenige Fotos vom Pariser Ereignis und Schnipsel eines Kino-Wochenschau-Berichts („Blick in die Welt“, dem feinsinnigen Thema zum Trotz im schnarrenden Stil jener Zeit kommentiert). Solche Aufnahmen empfangen einen wandfüllend zu Beginn des Rundgangs in Hagen. Schon ist man eingestimmt.

Möglichst viele Bilder und Skulpturen von damals aufzutreiben, erforderte eine Menge Fahndungsarbeit. 98 Arbeiten von 37 Urhebern (kaum Frauen dabei) wurden 1955 in Paris gezeigt, 56 Exponate konnte Gastkuratorin Anne-Kathrin Hinz von der Bonner Uni-Forschungsstelle Informelle Kunst ausfindig machen, 41 können in Hagen gezeigt werden. Einige Werke sind nicht mehr transportfähig, andere werden aus diversen Gründen nicht verliehen. Schon bald dürfte eine solche Zusammenstellung gar nicht mehr möglich sein. Überhaupt war die Vorarbeit (sowohl 1955 als auch diesmal) fast ebenso spannend wie die schließlich gezeigte Kunst.

Ernst Wilhelm Nay: „Instrumentation“, 1952. Öl auf Leinwand. MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher (Foto: Olaf Bergmann, Witten)

Ganz anders als 1955, als die vielfach frisch aus den Ateliers kommenden Kunstwerke im Cercle Volney (nahe der Pariser Oper) dicht an dicht präsentiert wurden, können sie in Hagen auf größerer Fläche weitaus luftiger ausgestellt werden. 1955 war dem auf deutscher Seite organisatorisch federführenden Iserlohner Künstler Wilhelm Wessel sehr daran gelegen, auch die allerneuesten, noch nicht etablierten Positionen zu zeigen, zu deren Protagonisten z. B. just der Hagener Emil Schumacher oder Karl Otto Götz zählten. Deren frühe, teilweise noch nicht ausgereifte Schöpfungen – Schumacher fand recht spät zu seiner ureigenen Bildsprache – hingen unmittelbar neben denen bereits bekannter Künstler wie Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay oder Fritz Winter.

Gegen dieses anti-hierarchische Konzept regten sich damals starke Widerstände – einerseits aus den Reihen der arrivierten Künstler, die eine Abwertung ihrer Oeuvres fürchteten, vor allem aber vom eher konservativen „Deutschen Kunstrat“, der dem Außenministerium angegliedert war und nur längst anerkannte Spitzenkunst zulassen mochte. Doch Wilhelm Wessel, damals Vorsitzender des Westdeutschen Künstlerbundes, und sein französischer Mitstreiter, der Galerist René Drouin, setzten sich durch.

Die Presse war vom Ergebnis überwiegend angetan bis begeistert, was man auf der Gegenseite nicht wahrhaben wollte. Auch Rezeption und Folgen der Pariser Ausstellung werden nun dokumentiert, sogar Seiten aus dem Gästebuch von damals sind zu sehen. Wie kühn die Schau war, lässt sich ermessen, wenn man bedenkt, dass kurz darauf die allererste Kasseler documenta eröffnet wurde, die noch weitgehend an die klassische Moderne aus Vorkriegszeiten anknüpfte.

Rupprecht Geiger: „Wjasma“ (1955), Eitempera auf Leinwand. (Archiv Geiger, München / Foto: Nikolaus Steglich, Starnberg)

In Hagen erweist sich, dass es etliche abstrakte Wege der Kunst gibt und eben auch schon 1955 gegeben hat. Die oftmals spontanen Prozesse der Gegenstandsferne weisen in verschiedene Richtungen. Von den vielfach düster vergitterten Nachkriegsbildern hebt sich vor allem das frühvollendete, farbintensive Schaffen eines Rupprecht Geiger ab, dem eine singuläre Stellung im Kontext dieser Ausstellung zukommt. Auch die filigranen Skulpturen von Norbert Kricke fanden erst später breiteren Zuspruch.

Man ahmt in Hagen nicht die ursprüngliche Sortierung nach, die etablierte und unbekannte Künstler nach Kräften mischte. Ordnungsprinzip sind vielmehr die Arbeitsorte der Künstler, z. B. Frankfurt (K. O. Götz, Bernard Schultze u. a.), das Rheinland (Georg Meistermann, Hann Trier, Hubert Berke u. a.) oder München (Rupprecht Geiger, Fred Thieler u. a.). Westfalen ist mit Emil Schumacher und Wilhelm Wessel vertreten. Diese Abfolge hat etwas für sich: Jeweils in räumlicher Nähe wirkend, haben sie einander wohl verstärkt beeinflusst. Der Genius Loci scheint immer noch lebendig zu sein.

Die Hagener Rekonstruktion lässt es ahnen: Im Rückblick ist es kaum zu überschätzen, was die Ausstellung 1955 und danach für den deutsch-französischen Kulturaustausch bewirkt hat. ESMH-Direktor Rouven Lotz hält es für denkbar, dass auch die jetzige Schau Folgen hat – wenn etwa Nachfahren der damaligen Künstler aufmerksam werden und auf weitere Werke hinweisen. So entstehen womöglich ungeahnte Zusammmenhänge.

„Paris 1955. Deutsche Abstrakte im Zentrum der Moderne“. Noch bis zum 3. August 2025. www.esmh.de

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Ungeahnte Leuchtkraft der Farben – Heinz Mack (92) stellt in Hagen aus

Der Künstler Heinz Mack (92) und Hagens Osthaus-Museumsdirektor Tayfun Belgin (li.) vor einem Bild von Mack. (Foto: Bernd Berke)

„Ich bin ein stolzer Maler!“ Das sagt der heute 92-jährige Künstler Heinz Mack im Hagener Osthaus-Museum. Dort zeigt er rund 70 neuere Arbeiten, die von ungebrochener Vitalität zeugen.

Seine künstlerischen Anfänge reichen weit zurück. 1957 gründete er mit Otto Piene die Avantgarde-Gruppe ZERO, der sich bald darauf auch der „Nagelkünstler“ Günther Uecker anschloss. Heinz Mack hat sich schon 1963 von der Tafelmalerei verabschiedet und sich vollends auf Skulptur und Kinetik verlegt. Damals sah nicht nur er die Malerei „am Ende“. Doch um 1991 hat er wieder zu malen begonnen und ist bis heute dabei geblieben.

Mack betrachtet sein Oeuvre nicht chronologisch. In Japan habe er die asiatische Sichtweise kennengelernt. „Dort denkt man nicht linear, sondern in Zyklen.“ Auch sein Werk zeichne sich durch kreisende Wiederkehr aus, nicht durch fortschreitende Entwicklung. Von einer Wiederholung des Immergleichen kann jedoch nicht die Rede sein. Mack selbst spricht von der „Kraft des Wachsens“.

Heinz Mack in seinem spanischen Atelier neben einer 2022 entstandenen „Chromatischen Konstellation“. (Foto: © Courtesy Archiv Atelier Mack)

Seit Picasso, so Mack weiter, gehe es in der Kunst nicht mehr um Komposition, sondern um Strukturen. Dieser Entwicklung habe auch er sich nicht entziehen können. Deutlich wird dies in seriellen Mustern seiner Reliefs oder in subtilen Farbstufungen seiner meist titellosen Bilder. Vor allem die Übergänge zwischen verschiedenen Farben erprobt er bis in alle Nuancen.

Eigentlich inspiriere ihn alles, sagt der Künstler. Er gehe „mit offenen Augen durch die Welt“ und orientiere sich an der Natur, auch im mikroskopischen Bereich. Gerade da zeigten sich die wunderbarsten Strukturen. Es sind Anregungen sondergleichen.

Ein Raum der Osthaus-Schau verblüfft mit großformatigen Bildern in Schattierungen von Schwarz, Weiß und Grau. Selbst diese Tönungen beginnen auf ihre Art zu leuchten. Erst recht erstrahlen die farbstarken Arbeiten. Heinz Macks Bekenntnis: „Licht i s t eine Farbe“. Ergo: Farbe zeichne sich vor allem durch Leuchtkraft aus.

Glücklicher Moment: Heinz Mack umarmt seine Tochter Valeria in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Heinz Mack lebt auf einem Anwesen bei Mönchengladbach (und auf Ibiza): „Ich bin da von lauter Frauen umgeben, die mir bei der Arbeit helfen.“ Allen voran seine Ehefrau Ute und seine Tochter Valeria, die Kunstgeschichte studiert hat, zur Vorbesichtigung nach Hagen kam und vom Vater beim Pressetermin ganz spontan herzlich umarmt wurde. Ein anrührender Moment.

Neben der täglichen Malerei beschäftigen ihn vor allem archivarische Katalogisierungen seiner Werke, die sich auf fünf größere Lagerstätten verteilen. Hinzu kommen viele, viele seiner Bilder und Objekte in über 140 öffentlichen Sammlungen. Der Mann hat mehr als 400 Einzel- und zahllose Gruppenausstellungen absolviert. Wie soll da jemand den Überblick behalten? Sogar der Künstler selbst tut sich da manchmal schwer. Der Schöpfer ist eben höchstens in zweiter Linie Archivar.

Heinz Mack – „Das Licht in mir“. Bis zum 3. September 2023 im Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navi-Info: Hochstraße 73). Geöffnet Di-So 12-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 7 Euro, diverse Ermäßigungen. Telefon 02331 / 207 3138.

www.osthausmuseum.de




Sehnsüchte und Selbsttäuschungen: Mit Peter Eötvös‘ Oper „Tri Sestri“ nach Tschechow wächst das Theater Hagen über sich hinaus

„Drei Schwestern“: Dorothea Brandt (Irina), Maria Markina (Mascha), Lucie Ceralova (Olga). (Foto: Leszek Januszewski)

Bis in die siebziger Jahre hinein waren sie in Mode und in jedem gepflegten Haushalt anzutreffen: Runde Deckchen, gehäkelt oder bunt bedruckt, schmückten Tischchen, Vitrinen, Buffets. Die Familie Prosorow macht es sich in Friederike Blums Inszenierung der Oper „Tri Sestri“ von Peter Eötvös im Theater Hagen auf einem solchen Accessoire der Gemütlichkeit bequem.

Eine mehrdeutige Chiffre mitten in der kargen Raffinesse von Tassilo Tesches Bühne. Sie steht für den trügerischen Schein des Äußerlichen, für den vergeblich gesuchten Schutzraum vor den Stürmen der Welt und der eigenen Gefühle, für Sehnsüchte und Selbsttäuschungen. Andrej, der gescheiterte Bruder der „Drei Schwestern“, wird sich darin einhüllen wie in einen Schutzmantel.

Mit Peter Eötvös‘ erster abendfüllender, vor 25 Jahren in Lyon uraufgeführter und 1999 an der Rheinoper Düsseldorf in Deutschland erstmals gespielter Oper „Tri Sestri“ ist das Theater Hagen über sich selbst hinausgewachsen und hat einen Abend präsentiert, an dem einfach alles stimmt. Möglich wird dieser Kraftakt durch den Fonds Neues Musiktheater des Landes Nordrhein-Westfalen und die Kunststiftung NRW.

Geld macht aber noch keinen künstlerischen Erfolg aus: Der ist gleichermaßen zuzuschreiben der wohltuend unspektakulär erarbeiteten Inszenierung Friederike Blums, der Klang- und Rhythmuspräzision des Philharmonischen Orchesters Hagen und dem Ensemble Musikfabrik, Hagens GMD Joseph Trafton und seinem Co-Dirigenten Taepyeong Kwak und dem in allen Partien glänzenden Sängerensemble mit seinen Gästen. Eine runde Leistung auf einem Niveau, das auch ein mit Mitteln reicher gesegnetes Theater in einem solch ambitionierten Stück nicht ohne weiteres erreicht.

Auf Tassilo Tesches Bühne bleibt sichtbar, dass die Oper zwei Orchester fordert: Die 18 Mitglieder des Ensembles Musikfabrik spielen im Graben; das Hagener Theaterorchester ist auf der Bühne platziert und bildet eine (Klang)-Landschaft, die mit Spiegeln im Hintergrund vielfach gebrochen, aber auch ins Spiel mit einbezogen wird. Für die drei „Sequenzen“ der rund 100minütigen Oper wird das weiße Deckchen jeweils neu ausgelegt. Die szenische Geste unterstreicht, dass Eötvös und sein Librettist Claus H. Henneberg von der linearen Erzählweise Anton Tschechows abweichen und den fragmentierten Stoff des Schauspiels aus der Perspektive der Figuren Irina, Andrej und Mascha betrachten.

Auf dem Deckchen: „Tri Sestri“ in Hagen mit Vera Ivanovic (Natascha) in der Mitte. (Foto: Leszek Januszewski)

Keine Tragödie für Olga

Olga, die dritte Schwester, hat keine eigene Sequenz: Sie hat, so sagt der Komponist, „keine Tragödie“, sie macht pragmatisch ihre Sehnsucht an der Welt fest, die sie vorfindet. Lucie Ceralová gestaltet sie als strenge Person, die nicht versteht, wie ihre Schwester Mascha ihrer Zuneigung zu einem Mann nachgeben kann, der die Ordnung ihrer Ehe mit dem sanften, aber farblosen Kulygin (Dong-Won Seo) stört. Mascha (Maria Markina) und der Offizier Werschinin (Insu Hwang) lassen – beide sensibel singend – in ihrem Duett den einzigen Moment anklingen, in dem zwei Menschen tatsächlich zueinander finden könnten, aber das innige Verstehen wird abrupt beendet, als mit der Tee servierenden alten Amme Anfisa (Igor Storozhenko) die gesellschaftliche Konvention einbricht.

In dieser, aber auch in der starken Abschiedsszene zwischen Mascha und dem mit seiner Einheit abziehenden Offizier zeigt die Regie, wie nahe das Schicksal dieser beiden Menschen einer Tragödie kommt, ohne deren Unbedingtheit zu erreichen: Ihre Träume bleiben für das Handeln folgenlos, bedeuten Sehnsucht und Flucht, nicht aber Motiv oder gar Ansporn. Tragische Züge finden sich auch in der Gestalt des Bruders der drei Schwestern, Andrej: Er, der zu Beginn seiner Sequenz eine Sanduhr aufstellt, treibt in der verrinnenden Zeit dahin und erreicht nichts – weder die erstrebte Professur, noch die Liebe seiner überdrehten Frau Natascha (Vera Ivanovic), der Eötvös geradezu obszöne Sprünge und exaltierte Koloraturen geschrieben hat. Kenneth Mattice ist ein melancholisch gebrochener Andrej, weltverloren in seiner wehmütigen Verkrümmung in sich selbst.

Kenneth Mattice als Andrej. (Foto: Jörg Landsberg)

Lichtgestalt Irina

Irina dagegen, weiß gekleidet wie eine Lichtgestalt und durch den leuchtenden Sopran von Dorothea Brandt charakterisiert, versucht als erste, aus der im eröffnenden Terzett der Schwestern – mit seinen langgezogenen Phrasen und engen Intervallen ein musikalischer Spiegel lastender Langeweile –  angesprochenen Angst vor dem Verfließen der Zeit auszubrechen. Doch als sie sich endlich entschließt, dem pragmatischen Rat ihrer Schwester Olga zu folgen und den smarten Baron Tusenbach (Dmitri Vargin) zu heiraten, ist es zu spät: Der junge Soldat fällt im Duell mit seinem Konkurrenten um die Liebe Irinas, dem durch aggressive Pauken gekennzeichneten Soljony, mit der nötigen offensiven Power gesprochen und gesungen von Valentin Ruckebier aus dem Opernstudio der Deutschen Oper am Rhein. Der jungen Frau bleibt nur die Sehnsucht „nach Moskau“, der Stätte ihrer Kindheit – eher der Begriff eines unbestimmten Erinnerns an einen Zustand des Glücks als ein realer Ort.

In Hagen gelingen diese an sich handlungträgen Abläufe atemberaubend spannend und gleichzeitig in einer lähmend bleiernen Atmosphäre, die dem Stück Tschechows eingeschrieben und hier kongenial in die Oper übertragen ist. Wesentlichen Anteil daran haben die Musiker der beiden Orchester, darunter allein vier Schlagzeuger, die Eötvös‘ musikalisches Spektrum in allen Farben leuchten lassen, vom dumpfen Pianissimo-Pochen bis zu gellenden Bläser-Aufschrei, von der kammermusikalischen Finesse der einzelnen Figuren zugeordneten Instrumente bis zum harmonisch verdichteten Arioso. Eine herausragende Leistung des scheidenden Hagener GMD Joseph Trafton, der keine Wünsche bei rhythmischem Zugriff und klanglicher Balance offen lässt.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Sänger der Rollen, die nicht im Mittelpunkt stehen: Anton Kurzenoks burlesker Doktor, der in der Oper nicht die tragende Rolle des Tschebutykin in Tschechows Vorlage hat, Ilja Aksionov, Student an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf, als schönstimmiger Rodé und Robin Grünwald als Fedotik.

Vorstellungen von „Tri Sestri“ am 20., 29. April, 21. Mai, 14. Juni 2023, Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/drei-schwestern-1562/0/show/Play/

 




Satire in antikem Faltenwurf: Offenbachs „Schöne Helena“ mischt in Hagen Schmackhaftes und schlecht Verdauliches

Der Chor des Theaters Hagen spielt eifrig mit: Anton Kuzenok (Paris) schafft es am Ende doch, sich die „schönste Frau der Welt“ zu ergattern. (Foto: Björn Hickmann)

In Hagen ist es wieder bühnenfrisch zu besichtigen, das Dilemma der Offenbach-Rezeption. Gegeben wird „La belle Hélène“, von Simon Werle auf Deutsch übersetzt und von dem aus Wien stammenden Regisseur Johannes Pölzgutter mit ein paar neuen Texten bereichert.

„Die schöne Helena“ also entführt in ein kräftig parodistisches antikes Griechenland, in dem die Helden der Atridensage degenerieren zu Gesellschaftstypen des Jahres 1864. Die Hürde zum Heute ist eine doppelte: Paris, Menelaos, Achill, Ajax, Orest und Kalchas, das sind Namen, die einem wohlerzogenen Europäer von damals selbstverständliches kulturelles Grundwissen waren. Heute sind sie eine Sache von aussterbenden Bildungsbürgern und einer Minderheit von Absolventen humanistischer Gymnasien. Wer aber den Mythos nicht kennt, tut sich mit der Parodie schwer.

Die andere Stolperschwelle: Offenbach benutzte die wohlbekannten Figuren aus der Antike als Camouflage, um Polit- und Gesellschaftsgrößen seiner Zeit im unangreifbaren, aber pikant transparenten Gewand der Mythologie so bissig wie witzig zu karikieren. Aber wer kennt noch Louis-Napoléon Bonaparte mit seinem autoritären Regime und seinem Interesse an Julius Cäsar und der Archäologie? Wer weiß noch von seiner Sucht nach imperialen Erfolgen bei einer gleichzeitig schwachen Armee? Wer kennt sie noch, die Hofschranzen von damals, denen Offenbach offenbar genüsslich den Spiegel vorgehalten hatte?

Sandra Maria Germann (Eris), Angela Davis (Helena) und die schönste der Göttinnen, die „schaumgeborene“ Venus, wie sie Sandro Botticelli in seinem weltberühmten Gemälde sah. (Foto: Björn Hickmann)

Pölzgutter muss sich den Fragen stellen: Wie wirkt das Sujet unterhaltsam, wie ist Offenbachs persiflierender Witz, sein Tiefsinn zu erfassen? Wie seine bisweilen gallige Schärfe in die Jetztzeit zu übertragen, die alle „Werte“ der Gesellschaft seinerzeit verätzt hat und die mondän aufgehübschte Oberfläche der Verlogenheit, der Ideologie, der Selbsttäuschung freilegt? Sein Rezept, entwickelt mit Theresa Steiner (Bühne) und Susana Mendoza (Kostüme) vereint Schmackhaftes mit schlecht Verdaulichem. Zu letzterem gehört ein Teil der Kostüme: Sie sind zwar nett anzusehen, parodieren aber letztlich die Parodie und führen dazu, die Figuren in baren Unernst mit einem sauren Schuss Kitsch abdriften zu lassen, statt sie in behutsam übertriebenem Ernst in ihrem parodistischen Kern freizulegen. Bunte Antike und Herrentäschchen sind eben höchstens lachhaft.

Schauplatz mit Atmosphäre

Die Bühne dagegen hat in ihrer dekorativen Wirkung Potenzial: Das Meer, in Gold gerahmt, davor (und manchmal auch kopfüber eingetaucht) Sandro Botticellis schaumgeborene Venus. Im dritten Akt, wenn’s zur angeblichen Sommerfrische nach Nauplia geht, staffeln sich die gemalten Wellen. Ein Schauplatz mit Atmosphäre.

Zunächst agiert aber eine weitere Zutat der Regie: Pölzgutter führt – durchaus mythenkundig – die Figur der Göttin des Streits und der Zwietracht ein. Eris rächt sich mit dem goldenen Apfel für „die Schönste“ für eine nicht ausgesprochene Einladung – und Paris, der attraktive sterbliche Jüngling, muss unter den drei führenden Göttinnen wählen, eine Aufgabe, aus der er nur als Verlierer hervorgehen kann. In der Antike als verschrumpelte kleine Frau dargestellt, wird Eris auf der Hagener Bühne elegant, scharfzüngig und maliziös von der Schauspielerin Sandra Maria Germann verkörpert und knüpft und spinnt als befrackte Ariadne den Faden der Handlung.

Scheiternde Humorversuche

Was nicht funktioniert – und das hat sich bereits in zahllosen Regiebemühungen andernorts manifestiert – ist der schwerfällig kalauernde Humorversuch, „lustige“ Personen zu kreieren, indem man sie überzogen chargieren lässt. Sicher ist Menelaos ein grenzintelligenter Schwächling, aber wer ihn wie Richard van Gemert nur ein bisschen doof und ziemlich trottelig agieren lässt, unterschlägt das Gefährliche und Verblendete des Charakters. Auch das virile Protzgehabe der beiden Ajaxe (Götz Vogelgesang und Insu Hwang) und der blass gezeichnete Hedonist Orest der sympathisch frischen Clara Fréjacques gewännen durch Verzicht auf vordergründiges Humor-Gehabe. Gerade bei Offenbach lacht man über Personen, die sich selbst überaus ernst nehmen und damit den Graben zur Realität so tief aufreißen, dass sie mit all ihren Lebenslügen und Wichtigkeiten darin abstürzen.

Angela Davis (Helena) und der Damenchor des Theaters Hagen. (Foto: Björn Hickmann)

Glückender ist da schon das Porträt, das Angela Davis von der schönen Helena zeichnet. Auch wenn die Stimme mit eher schwerem Opernton die vitale Leichtigkeit der Diseuse uneinholbar macht, setzt Davis ihre Möglichkeiten gekonnt ein, gibt die aufgestylte Dame selbstbewusst, aber auch mit Momenten anrührender Nachdenklichkeit. Anton Kuzenok ist ihr Prinz Paris; er vermag vor allem durch seinen hübschen leichten, dabei klangvollen Tenor zu verzaubern. Kalchas als Parodie eines schmierigen Klerikers, mit den Blitzen Zeus‘ gekrönt, wäre ohne nachthemdähnliche Verkleidung als Charakter glaubwürdiger und bedrückender angekommen – wiewohl sich Igor Storozhenko alle Mühe gibt, aus der Figur etwas zu machen.

Taepyeong Kwak liefert mit dem Philharmonischen Orchester Hagen einen rhythmisch scharf geschnittenen Offenbach ohne Schwere und Fett. Die Couplets kommen auf den Punkt, die kurzgestanzten Ohrwürmer Offenbachs folgen einander in vergnüglicher Prozession.

Vorstellungen am 23.12., 31.12. (15 Uhr und 19.30 Uhr),  07., 15., 18.01., 25.02., 22.04.. Tickets: (02331) 207 3218, www.theaterhagen.de




Der nächste Promi im Osthaus Museum: Dieter Nuhr als Fotograf

Vom Hagener Museumsdirektor aufgenommen: Dieter Nuhr mit digitaler Fotografie in seinem Atelier. (Foto: © Tayfun Belgin)

Die Zielrichtung ist unverkennbar: Schon wieder setzt das Hagener Osthaus Museum mit Aplomb auf den Promi-Faktor.

Wir erinnern uns, mehr oder weniger flüchtig: Zuerst hat der weltberühmte Hollywood-Star Sylvester Stallone („Rambo“, „Rocky“) hier seine Gemälde präsentiert, dann kam der Popmusiker Bryan Adams mit seinen Fotografien an die Reihe. Und jetzt? Stellt wieder jemand aus, den man aus anderen Bereichen kennt, allerdings eher im deutschen Sprachraum.

„Von Fernen umgeben“

Man weiß ja nicht einmal so recht, wie man seine Berufssparte bezeichnen soll. Ist er Comedian? Kabarettist? Satiriker? Naja, vielleicht irgend etwas in dieser groben Richtung. Es ist jedenfalls Dieter Nuhr, der – weit abseits seiner sonstigen Tätigkeit – „in fast 100 Ländern“ auf den Auslöser gedrückt hat und jetzt (vom 8. Mai bis zum 26. Juni) einige Resultate seiner digitalen Fotografie im Museum vorzeigt. Poetisierender Titel der Schau: „Von Fernen umgeben“. Man ist ja dankbar, dass die Chose nicht etwa „Nuhr belichtet“ oder so ähnlich heißt. Tatsächlich ist es technisch mehr als das. Laut Vorankündigung des Museums malt Nuhr, der auch einmal Kunst studiert hat, mit dem „digitalen Pinsel“, erzeugt also Bilder aus fotografischen Daten.

„Linke“ werden kaum begeistert sein

Wie auch immer: Etwas weiter „links“ angesiedelte Leute werden sich bei der bloßen Namensnennung mit Grausen abwenden und vielleicht alpträumen, dass der bei ihnen ebenso verpönte Harald Martenstein womöglich einen Katalogtext verfasst hat (was nicht der Fall ist). Oder sie bleiben gelassen und sagen sich feixend: Hauptsache, Dieter Nuhr steht nicht auf der Bühne. Mit Fotos kann er ja wohl nicht so viel anrichten. O, wie hinterhältig wäre das. Aber immer noch besser als „Cancel Culture“, oder?

Altbau des Hagener Osthaus Museums, bei Regen durch die Frontscheibe des Autos aufgenommen. Und nein: Das Bild soll nicht „trübe Aussichten“ bedeuten. (Foto: Bernd Berke)

„Demnächst“ eine Ausstellung in Russland?

Osthaus-Direktor Tayfun Belgin ist sozusagen in die Schlusskurve seiner aktiven Museumslaufbahn eingebogen. Offenbar hat er sich für die letzte Strecke vor dem Zieleinlauf vorgenommen, nicht mehr nur der hehren Kunst zu frönen, sondern auch noch einmal ordentlich „Betrieb“ zu machen und mit gesteigerten Besuchszahlen zu glänzen. Man darf schon jetzt gespannt sein, wer mit welchem Konzept seine Nachfolge antreten wird. Und wie es überhaupt weitergeht.

Ach so, übrigens: „Demnächst“, so heißt es auf der Museums-Homepage ganz nebenbei, werde Nuhr seine Fotografien auch im Puschkin-Museum zu St. Petersburg ausstellen. In Russland. Stimmt das wirklich? Immer noch?




Abermals Promi-Faktor im Osthaus Museum: Nach Sylvester Stallone ist Bryan Adams an der Reihe – als vielseitiger Fotograf

Schwer kriegsversehrt und mit Auszeichnungen dekoriert: Sergeant Rick Clement. (© Bryan Adams)

In Hagen gibt sich die internationale Prominenz aus vermeintlich museumsfremden Bereichen die Klinke in die Hand.

Noch für dieses Wochenende (bis 20. Februar) sind Gemälde des weltbekannten Hollywood-Stars Sylvester Stallone im Osthaus Museum zu sehen. Und sogleich beginnt am Sonntag eine neue Schau der Rock- und Pop-Größe Bryan Adams. Der wiederum verdingt sich seit längerer Zeit auch als beachtlicher Fotograf.

Es sieht fast so aus, als sei dieser Ansatz das neue Konzept des Museumsleiters Tayfun Belgin. Darüber ließe sich trefflich diskutieren. Jedenfalls versichert Belgin, der Name Stallone habe spürbar die Besuchszahlen gesteigert. Genaueres möchte er aber noch nicht verraten. Schließlich käme ja noch dieses Wochenende hinzu…

Blick in die Hagener Ausstellung – hier mit Bryan Adams‘ Porträts von Mick Jagger und Amy Winehouse. (© Bryan Adams / Ausstellungs-Foto: Bernd Berke)

Weltstars, Obdachlose und Verwundete

Bryan Adams hatte – wie man sich denken kann – relativ leichten Zugang zu seinesgleichen, sprich: zu zahlreichen anderen A-Promis wie zu Beispiel Mick Jagger, Amy Winehouse, Linda Evangelista, Kate Moss, Ben Kingsley oder auch Wim Wenders, Helmut Berger und den Mannen von Rammstein. Dabei sind Fotografien entstanden, die mitunter durchaus Ikonen-Qualitäten haben. Selbst der Queen hat Adams anno 2008 im Buckingham Palace ein besonderes Lächeln abgewonnen. Sie sitzt ganz entspannt auf einem Stuhl, neben ihr stehen zwei Paar Gummistiefel, als wollte sie sich gleich nach der Fotositzung rustikal auf den Weg machen.

Adams‘ großformatig ausgestellte Motive für den berühmt-berüchtigten Pirelli-Kalender 2022 (längst nicht mehr so lasziv wie ehedem) kommen hinzu. Erstmals darf ein Museum solche Bilder zeigen.

Noch ungleich eindrucksvoller ist freilich die ganz andere Seite des Fotografen Bryan Adams, der uns schmerzlich frontal mit Bildnissen von Obdachlosen (Serie „Homeless“) oder fürchterlich Kriegsversehrten (Serie „Wounded: The Legacy of War“) konfrontiert, die in Afghanistan und im Irak gekämpft haben. Das sind Ansichten, die man erst einmal aushalten muss.

Selbstporträt Bryan Adams. (© Bryan Adams)

Bryan Adams: „Exposed“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1. Vom 20. Februar bis zum 24. April. Di-So 12-18 Uhr. Tel.: 02331/207 3138.

www.osthausmuseum.de

Mitte März will sich Bryan Adams seine Hagener Ausstellung persönlich anschauen.

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Nachtrag am 24. Februar: Die Bilder der Kriegsversehrten bekommen noch einmal akutere Bedeutung, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat.




Wie ich einmal Sylvester Stallone verpasst habe (obwohl er seine Gemälde in Hagen zeigt)

Offenbar gut gelaunt: Sylvester Stallone beim morgendlichen „Medienevent“ im Hagener Osthaus Museum – vor einem seiner Gemälde. (© sabinebrauerphotos)

Um die Überschrift gleich klarzustellen: Natürlich sehe ich den weltbekannten Sylvester Stallone auch sonst nicht, habe ihn überhaupt noch nie leibhaftig gesehen. Doch heute hätte es eine Gelegenheit gegeben, und zwar – man höre und staune – in Hagen.

Im dortigen Osthaus Museum werden jetzt einige seiner Gemälde gezeigt. Der Mann malt, wenn seine Zeit es erlaubt, seit Jahrzehnten leidenschaftlich. Der Hagener Termin wurde denn auch nicht als schnöde Pressekonferenz oder kreuzgewöhnliche Ausstellungs-Vorbesichtigung angekündigt, sondern als „Medienevent“ mit Pressecounter, Check-In, 2G-Regel und sonstigem Zipp und Zapp. Wow!

Als Jungredakteur wäre ich sogleich elektrisiert gewesen. Doch als nunmehr etwas älterer Knabe bin ich, obgleich akkreditiert (dafür Dank) und füglich dreifach geimpft, dann doch nicht hingefahren. Als ich die Wetterprognose (Nullgrade, Glatteisgefahr) hörte und auch noch vernahm, dass Hagen vor Innenstadt-Baustellen derzeit nur so strotze, dachte ich bei mir: Selbst für Stallone möchte ich mir das nicht antun und mir erst recht nicht die Gräten brechen. Sorry.

Das ist ja das Schöne, wenn einem kein Chef-Darsteller mehr etwas vorzuschreiben hat: Man kann manche Dinge auch einfach mal bleiben lassen. Ein solches Versäumnis schmälert das Leben nur ganz unwesentlich; wenn überhaupt.

Sylvester Stallones Gemälde „Hercules O’Clock“. (© Courtesy Galerie Gmurzynska)

Kleiner Rückblick nach dem Motto „Was bisher geschah“: Vor ein paar Jahren hat mich ein wilder Haufen männlicher Nachbarn gedrängt, allen etwaigen Feinsinn fahren zu lassen und endlich einmal ein Video von „Rambo“ anzuschauen. Widerstrebend habe ich mich darauf eingelassen, hab’s tapfer durchlitten und mich beim gemeinsamen Videoabend mit Jacques Tati („Mon Oncle“) als zweitem Programmpunkt revanchiert – ein nahezu größtmöglicher Kontrast zum vorherigen Action-Geballer. Was ich damit sagen will? Ich bin „vorgeschädigt“, was Sylvester Stallone angeht, der bekanntlich „Rambo“ verkörpert hat.

Was habe ich heute wohl versäumt? Mit Sicherheit ein ziemliches Medien-Gerangel, ein Blitzlichtgewitter, wie es Hagen höchstens alle paar Jahre erlebt. Dazu Kameras und Mikrofone sonder Zahl. Es dürfte auf diesem Planeten nur wenige geben, die es an globaler Bekanntheit mit Sylvester Stallone aufnehmen können, der ja u. a. auch den legendären Boxer „Rocky“ Balboa gespielt hat. Nach ersten Vorberichten („Stallone kommt nach Hagen“) haben sich denn auch etliche Menschen aus der Region angelegentlich erkundigt, wie und wo sie Sylvester Stallone in Hagen live erleben können. Das vorherrschende Lokalblatt (Westfalenpost) gelobte daraufhin maximale Zurückhaltung in seiner diesbezüglichen Informationspolitik.

Selbige Zeitung begleitete heute Syvester Stallones Erscheinen ganz aufgekratzt. Rund 100 Fans des Filmstars hätten sich denn doch am Osthaus Museum eingefunden (von wem hatten sie wohl die Tipps?). Stallone sei einer schwarzen Limousine entstiegen, von Bodyguards abgeschirmt worden und habe dennoch ein paar Autogramme geschrieben. Nett von ihm. Die Vermutung steht im Raum und ist kaum von der Hand zu weisen: Die meisten Menschen wollen vielleicht gar nicht so sehr Stallones Bilder sehen, sondern den Filmstar himself.

Stolz auf den Coup: Hagens Museumsdirektor Tayfun Belgin mit Sylvester Stallone vor dessen Gemälde „Finding Rocky“. (© sabinebrauerphotos)

Den vorab versandten Presseunterlagen habe ich staunend entnommen, dass die rund 50 Bilder umfassende Stallone-„Retrospektive“ aus Anlass seines 75. Geburtstages (Geburtsdatum 6. Juli 1946) gezeigt werde. Die Gemälde seien „action-geladen“ wie seine Filme, doch auch „feinnervig und vielschichtig“. Zitiert wird Sylvester Stallones Auffassung von der Malerei als der unmittelbarsten aller Künste, die das Seelenleben unverfälschter ausdrücke als etwa die Literatur. Vom Film ganz zu schweigen. Darüber könnte man lange reden. Oder auch nicht.

Demnach hat Sylvester Stallone schon in den später 1960er Jahren mit dem Malen begonnen, als er noch längst nicht der große Kinostar gewesen ist. Schon vor dem Filmscript habe er zuerst auf der Leinwand die berühmte Figur entworfen – auf dem Bild „Finding Rocky“ (1975).

Bisher wurden seine Werke in St. Petersburg (2013) und Nizza (2015) gezeigt. Keine ganz gewöhnliche Abfolge. Jetzt also Hagen. Über die künstlerische Qualität der Bilder erlaube ich mir – aus der Distanz – selbstverständlich keinerlei Urteil. Osthaus-Direktor Tayfun Belgin wird sicherlich nichts dagegen haben, dass sein Institut einmal so richtig starke Publicity-Effekte außer- und oberhalb des sonst Üblichen erzielt. Er hat denn auch ein passendes russisches Sprichwort gefunden, um Stallones Mehrfach-Begabung zu unterstreichen: „Ein talentierter Mensch ist in jeder Hinsicht talentiert.“ In seinem Text „Der Zauber des Seins“ preist Belgin die expressiven Qualitäten dieser Malerei, dieser Zeit- und Gedankenbilder, wie er sie nennt.

Mh. Na gut. Eventuell gehe ich doch noch einmal hin. In aller Ruhe. Wenn der Medienrummel abgeklungen ist.

Sylvester Stallone. Retrospektive zum 75. Geburtstag. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1. Vom 4. Dezember 2021 bis 20. Februar 2022. Di-So 12-18 Uhr. Tel.: 02331 / 207 2138. Derzeit 2G-Regel (geimpft oder genesen) mit Ausweispflicht.

www.osthausmuseum.de




Manchmal dieser Hang zu Legenden – Streiflichter zur Hagener Stadtgeschichte im Osthaus-Museum

Popstars aus Hagen: die Gruppe „Grobschnitt“ im Jahr 1978. (© Fotografie: Ennow Strelow)

Wie bitte? Die Stadt Hagen ist erst jetzt 275 Jahre alt geworden? Stimmt. Ganz hochoffiziell: Am 3. September 1746 erhielt der westfälische Ort durch einen Verwaltungsakt im Namen des Preußenkönigs Friedrich II. die Stadtrechte. Zum Vergleich: Hagens Nachbarstadt Dortmund hat bereits 1982 das 1100-jährige Bestehen gefeiert.

Das Fehlen einer mittelalterlichen Geschichte hat die Hagener oftmals gewurmt. Darum haben sie manchmal eigene Legenden gestrickt. Auch davon zeugt nun die Jubiläumsausstellung im Osthaus-Museum; ein Gemeinschaftswerk mit dem Stadtmuseum, das künftig einen umgerüsteten Altbau gleich neben dem Osthaus-Museum und dem Emil-Schumacher-Museum beziehen wird – zusammen ergibt das ein kulturelles Quartier von überregionaler Bedeutung.

Doch zurück zur historischen Perspektive. Die im Osthaus-Museum gezeigten Bestände stammen hauptsächlich aus dem Stadtmuseum. Es beginnt mit einer Ahnengalerie, prall gefüllt mit Porträts prägender Persönlichkeiten der Stadtgeschichte – allen voran der frühindustrielle Unternehmer Friedrich Wilhelm Harkort (*1793 nah beim späteren Hagener Ortsteil Haspe), einer der Vorväter des Ruhrgebiets. Auf kulturellem Felde ebenso bedeutsam: der Kunstmäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus (*1874 in Hagen). 1902 begründete er hier das Museum Folkwang, weltweit das erste Museum für zeitgenössische Kunst.

Ergänzt wird die Fülle der Honoratioren durch Fotografien „ganz normaler“ Hagener Bürger von heute. Der Blick richtet sich also nicht nur rückwärts. Überhaupt vergisst das Ausstellungsteam die Gegenwart nicht. Die Übersicht reicht bis hin zu Bildern und Berichten vom Hagener Hochwasser Mitte Juli.

Aus dem Fundus des Stadtmuseums ins Osthaus-Museum: die Schreibmaschine des Hagener Dichters Ernst Meister (1911-1979). (Foto: Bernd Berke)

Ein großer Ausstellungssaal, scherzhaft „Hagener Wohnzimmer“ genannt, versammelt Stücke aus der Stadthistorie, darunter die Schreibmaschine, auf der der Hagener Dichter Ernst Meister einen Großteil seines weithin hochgeschätzten Werks verfasst hat. Als Pendant aus der bildenden Kunst findet sich eine von Farbspritzern übersäte Original-Staffelei des gleichfalls ruhmreichen Hagener Malers Emil Schumacher. Zu Ernst Meister gibt es weitere Exponate. Der Lyriker war auch ein begabter Künstler. Zu sehen sind rund 60 seiner Bilder, die das Osthaus-Museum jüngst als Schenkung erhalten hat. Außerdem hat sich der Hagener Maler Horst Becking mit 13 Gedichten Ernst Meisters auseinandergesetzt. Hier greift eins ins andere.

Original-Staffelei des Hagener Malers Emil Schumacher (1912-1999). (Foto: Bernd Berke)

Im „Wohnzimmer“ wecken auch Objekte wie z. B. ein alter Kinderwagen, ein Stadtplan von 1930, Relikte aus Hagener Firmengeschichten (Varta, Brandt, Villosa, Sinn) oder eine Ansammlung örtlicher Kulturplakate die Aufmerksamkeit. Sollte bei dieser Auswahl etwa auch ein Zufallsprinzip gewaltet haben?

Gar erschröcklich wirkt jene bizarr erstarrte, vollkommen verkohlte „Schwarze Hand“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die erstmals das Schloss im 1975 zu Hagen eingemeindeten Hohenlimburg verlassen hat. Eine Legende besagt, dass die Hand einem Knaben gehörte, der sie gewaltsam gegen seine Mutter erhoben hatte. Sie sei daraufhin scharfrichterlich abgeschlagen und zur ewigen Mahnung verwahrt worden. Tatsächlich handelt es sich um das durch Blitzschlag versengte Beweisstück in einem Mordfall.

Hagener haben eben einen Hang zu Legenden, vor allem, wenn sich damit heimische Traditionslinien verlängern lassen. So hat man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Stadtwappen erkoren – mit stilisiertem Eichenlaub statt der damals verpönten französischen Lilie. 1897 verfügte Kaiser Wilhelm II. den Wechsel. Die Hagener glaubten Belege für die örtliche Verwendung des Eichenblatts im 14. Jahrhundert gefunden zu haben, aber das war ein Trugschluss. Das Dokument bezog sich auf eine andere Gemeinde namens Hagen. Und noch so eine Inszenierung, nicht irrtümlich, sondern vollends willkürlich: Ein Hagener Maler, der den NS-Machthabern zu Diensten war, produzierte reihenweise romantisierende Stadtansichten, die es in Wahrheit so nie gegeben hat.

In solche Ausstellungen werden gern die Bürger einbezogen, so auch diesmal. Nach entsprechenden Aufrufen reichten sie etliche Objekte mit Hagener „Stallgeruch“ ein – von lokal gestalteten Schneekugeln bis zum Brettspiel mit Ortsbezug. Da schlägt das lokalptriotische Herz höher.

Humorig-historische Postkarte: „In Hagen angekommen“. (© Stadtarchiv Hagen)

Da war doch noch was mit Hagen? Richtig, wir erinnern uns an die oft und gern zitierte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“, die am 3. Januar 1982 im „Spiegel“ erschienen ist. Die Überschrift entstand im Zuge der Neuen Deutschen Welle, die in Hagen sozusagen ihren Scheitelpunkt hatte. Nicht nur wurden Nena und die Sängerin Inga Humpe hier geboren, in Hagen gründeten sich auch einflussreiche Bands wie „Extrabreit“ (1978) und zuvor „Grobschnitt“ (1971). Letztere besteht – in wechselnden Formationen – nunmehr seit 50 Jahren. Deshalb ist ihrer Story im Untergeschoss eine üppige Extra-Abteilung gewidmet. Mit Dokumenten, Fotos und Objekten (darunter ein kompletter Bühnenaufbau) geht es so sehr ins Detail, dass wohl selbst Spezialisten noch Neues erfahren.

Etwas für eingefleischte Hagener sind auch die Schwarzweiß-Fotografien von Ennow Strelow, der in den 70er und 80er Jahren einige kernige Typen der Hagener Szene porträtiert hat. Ältere Bewohner kennen vielleicht noch den einen oder die andere, Auswärtige werden zumindest die fotografische Qualität zu schätzen wissen. Doch je mehr biographische Verbindungen jemand zu Hagen hat, umso mehr Genuss verspricht diese Schau.

„Hagen – Die Stadt. Geschichte – Kultur – Musik“. Noch bis zum 21. November 2021. Hagen, Osthaus-Museum, Museumsplatz. www.osthausmuseum.de

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Der Text ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de

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Weiterer Beitrag zur Ausstellung, mit einem Schwerpunkt auf Rockmusik:

Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit




Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit

Im heimatkundlichen Angebot der Hagener Jubiläumsausstellung sind selbstverständlich auch alte Postkarten. (Bild: Stadtarchiv Hagen/Osthausmuseum)

Die schwarze Reiseschreibmaschine Ernst Meisters steht hier, die farbbedeckte Staffelei Emil Schumachers. Einen alten Kinderwagen hat man auf das Podest gehoben, biedermeierliche Möbel fördern nostalgische Empfindungen. Und an den Wänden setzt eine auf Eindruck bedachte Malerei vergangener Jahrhunderte wichtige Männer in Szene.

Hagen im Heimatmuseum ist eigentlich nichts Besonderes – sieht man einmal davon ab, dass das Heimatmuseum seine Bestände nun im Osthaus-Museum aufgebaut hat. Anlass ist das 275-jährige Stadtjubiläum, das hier mit einem eindrucksvollen Ausstellungsprojekt gefeiert wird, Titel: „Hagen – die Stadt“.

Karl-Ernst Osthaus ist noch sehr präsent

Ein weiterer zentraler Raum ist voll von Portraitfotos, großen und kleinen, alten und neuen. Er soll dem Publikum wohl vermitteln, dass die Menschen die Stadt ausmachen, keine ganz neue Erkenntnis. Doch was fällt einem zu Hagen außerdem noch ein? Was ist das Besondere? Da wäre natürlich Karl-Ernst Osthaus zu nennen, Industrieller, Sammler und Förderer der modernen Kunst im frühen 20. Jahrhundert, dem das Museum seinen Namen verdankt. Die Architektur des Gebäudes, die bauliche Leichtigkeit und Jugendstil so entspannt verbindet, atmet immer noch den Geist dieses Mäzens. Und auch die heutigen Bestände, die leider nicht identisch sind mit der nach Essen verkauften Sammlung, lassen an die vergleichsweise glücklichen Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise denken.

Auch das ist Hagen: Rockband Grobschnitt im Jahr 1978. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Hotspot

Mehr als ein halbes Jahrhundert danach sind die ortstypischen Sensationen von ganz anderer Art. Anfang der 1970er Jahre wird Hagen zu einem Hotspot der deutschen Rockmusik. Die Gruppe „Grobschnitt“ erregt bundesweite Aufmerksamkeit, „Extrabreit“ formieren sich, ebenso Nena Kerners erste Kapelle mit dem Namen „Stripes“. „Mein Mann hat den Bass gespielt“, erinnert sich Heike Wahnbaeck bei der Präsentation der üppigen Grobschnitt-Abteilung im Souterrain des Museums. Sie hat diesen Teil der Jubiläumsausstellung erarbeitet, mit zahlreichen Fotos, Plakaten, Zeitungsausschnitten, Videos und Tourneeplänen.

Eine komplette Bühne ist aufgebaut, Besucher bestaunen die antike Technik, die teilweise doch recht zeitlos wirkt. Wichtig ist Frau Wahnbaeck, dass es nicht nur um einige bekannte Bands, bekannte Musiker ging. Hagen, erinnert sie sich, war damals auch ein Zentrum für Studio- und Bühnentechnik, kaum irgendwo sonst waren die Roadies so professionell wie hier. Viele Fotos zeigen sie traut vereint, die Musiker und die Männer, die schleppten, schraubten und pusselten, damit die Gigs wie geplant über die Bühnen gehen konnten. Rund 50 Jahre sind seit den Anfängen vergangen, und das Jahr der Abschiedstournee, 1989, liegt auch schon über 30 Jahre zurück.

Hagen-Rock, Teil II: Kai Schlasse, Sänger von Extrabreit, im Jahr 1984. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Ennow Strelows Fotos

Was aus der Szene wurde? Viele Leute leben nicht mehr, viele Lebenswege verlieren sich. Doch manche Biographien wurden fortgeschrieben. Wir wechseln in die nächste Abteilung der Ausstellung, die einen Großteil des Museums füllt. Der Fotograf Ennow Strelow, der „Extrabreit“ und andere Bands getreulich begleitete, hat auch viele andere Menschen portraitiert, Hagener und Personen mit markantem Hagen-Bezug. Zu den Portraitfotos hat er Kurzbiographien geschrieben. Bei ihm nun taucht Eddy Kante auf, der, als er noch viele Haare auf dem Kopf hatte, zum Umfeld der Hagener Bands gehörte. Später, ohne Haare, wurde er Bodyguard von Udo Lindenberg. Die beiden sollen lange Jahre gut befreundet gewesen sein, bis Eddy Kante eine Lindenberg-Biogaphie schrieb, die diesem nicht gefiel. Aus war es mit der Freundschaft.

An der gesellschaftlichen Peripherie

Ennow Strelows fotografischer Beitrag zum Stadtjubiläum, besticht alleine schon durch den Fleiß, der hier erkennbar wird. Ja, er hatte auch Prominenz vor der Linse, Peter Schütze vom Hagener Theater etwa oder Jürgen von Manger, ebenfalls ein Sohn der Stadt Hagen. Doch viel Sympathie brachte er auch Menschen in der gesellschaftlichen Peripherie entgegen, dem Flaschensammler Paul zum Beispiel, Flaschen-Paul genannt, oder dem Schrauber Charly Haschke, der auch auf größere Entfernung noch stark nach Werkstatt roch.

Hagens bekanntester Dichter Ernst Meister griff gerne auch zum Pinsel. Dieses Aquarell „ohne Titel“ aus dem Jahr 1956, 32 x 24 cm groß, ist jüngst in das Eigentum des Osthaus-Museums übergegangen (Bild: Reinhard Meister/Osthausmuseum)

Meisters Bilder

Schließlich gibt es noch ein bisschen Kunst zu sehen, Kunst sozusagen in der kleinen Form, aber dafür um so beeindruk-kender. Das Museum hat als Schenkung ca. 50 Bilder erhalten, die der Hagener Dichter Ernst Meister schuf. Er hat, was weniger bekannt ist, gerne auch gemalt. Erste Arbeiten ab ca. 1954 erinnern, in den Worten von Museumsdirektor Tayfun Belgin, hier und da an Kandinsky oder das Bauhaus, doch spätestens in den frühen 70er Jahren fand er zu einer eigenen Bildsprache, abstrakt und expressiv, stark reduziert in den Gestaltungsmitteln. 13 weitere Bilder schließlich stammen vom Hagener Maler Horst Becking. Er hat sie zu Gedichten von Ernst Meister geschaffen, farbenfrohe Stücke, vereinzelt gegenständlich wahrzunehmen, auch eine Übermalung ist dabei. Bilder und Texte finden sich in einem kleinen Büchlein wieder, das das Museum herausgibt.

Man hätte gerne mehr gewusst

Viel Originelles ist hier also versammelt, was zwingend gar nicht den Anlass „Stadtjubiläum“ gebraucht hätte. Bei angemessener Gewichtung der stadthistorischen Anteile hätte man dem berühmten Maler Emil Schumacher natürlich mehr Raum geben müssen, doch nun gut, der hat sein eigenes Museum gleich gegenüber. Trotzdem wäre gerade bei ihm doch zu fragen, was ihn zeitlebens in Hagen hielt. Auch Nena hätten wir gern prominenter platziert gesehen, ohne deshalb die Hagener Rock-Szene vernachlässigen zu wollen. Jürgen von Manger ist wenigstens ein Video-Räumchen vorbehalten, wo seine alten Fernsehauftritte laufen.

  • „Hagen – die Stadt. Geschichte, Kultur, Musik“
  • bis 21.11.2021
  • Osthaus Museum Hagen, Museumsplatz 1, Hagen
  • Di-So 12.00 – 18.00 Uhr, Eintritt frei, Maskenpflicht
  • www.osthausmuseum.de

 




Südsee-Glamour und politische Utopie: Paul Abrahams Operette „Blume von Hawaii“ in Hagen

Frank Wöhrmann (Jim Boy) und Penny Sofroniadou (Raka) in Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ in Hagen. (Foto: Klaus Lefebvre)

Was der Gentleman im Dschungel zu tun hat, erfahren wir nicht so richtig. Aber dass ihm bei einem möglichen Rendezvous die Affen zuschauen, der Tiger brüllt und jede Menge „uh uh“ dabei ertönt, macht uns Paul Abraham in diesem herrlichen Nonsens-Song ausgiebig bewusst.

In Hagen, wo die Operette zum Glück noch eine Heimstatt hat, gibt es mit der „Blume von Hawaii“ eine prickelnde Mischung aus höherem Blödsinn, kitschtriefender Südsee-Romantik und behutsamen politischen Anspielungen – also eine Melange wie geschaffen für eine wirkungsvolle Unterhaltungs-Show. Doch die musste coronabedingt mager ausfallen: Bei der Premiere im Oktober letzten Jahres war Abstand nötig und weder große Chorauftritte noch opulente Tanznummern möglich.

Regisseur Johannes Pölzgutter reduziert folgerichtig bis nahe ans Kammerspielformat, in dem jedoch die Personen mit ihren Nöten und Konflikten schärfer gefasst sind. Die Tableaus treten zurück, mit denen Abrahams Operette im Berlin der Wirtschaftskrise und des Verfalls der Weimarer Republik die vergnügungssüchtige Gesellschaft in eine exotische Märchenwelt einlullte. Pölzgutter dagegen hebt auch durch behutsame textliche Retuschen den Konflikt zwischen den Amerikanern als kolonialer Besatzungsmacht und der hawaiianischen Opposition hervor: Die letzte Anwärterin auf den Thron von Hawaii, Prinzessin Laya, kehrt inkognito aus einem durchaus vergnüglichen Pariser Exil in ihre Heimat zurück, verliebt sich nicht nur in den Kapitän ihres Dampfers, sondern auch in Volk und Vaterland und soll statt zur harmlosen „Blume von Hawaii“ zur richtigen Regentin gekrönt werden. Klar, dass der amerikanische Gouverneur not amused ist und die politische Demonstration zu verhindern versucht. Dank der Liebe hat er Erfolg, und die Operette könnte nach dem zweiten Akt in einer Tragödie enden. Doch dem stehen eherne Gesetze des Genres entgegen. Im dritten Akt löst sich alles in liebestolles Wohlbehagen auf und gleich vier Paare finden sich.

Hawaii-Glamour auf Distanz

Prinzessin Laya (Angela Davis) steht im Spannungsfeld zwischen politischen Forderungen und privaten Gefühlen. Kanako Hilo (Insu Hwang) will sie für den Widerstand gewinnen. Die Hochzeit mit Prinz Lilo-Taro (Richard van Gemert) soll die Monarchie von Hawaii festigen. (Foto: Klaus Lefebvre)

Pölzgutter erfindet, um den Hawaii-Glamour durch Distanz erträglich zu machen, eine Rahmenszene: Zu Beginn hängt der unglückliche Kapitän Stone in einem Varieté erinnerungs- und alkoholtrunken mächtig in den Seilen, während eine leicht derangierte Diseuse „ein Schwipserl“ hat und vergeblich um die Aufmerksamkeit des abgetakelten Seemanns buhlt. Dann öffnet sich die Bühne und lässt eine billig aufgemachte Hawaii-Show sehen: Unter Goldpalmen präsentiert sich das „Paradies am Meeresstrand“, bevölkert von Yankees mit Plastik-Blumenkränzen und auf naiv getrimmten Locals.

Doch die Show verliert zunehmend ihren inszenierten Touch; der Bühnenrahmen verschwindet und wir sind mitten in einem Traum, in dem es um Liebe und Verzicht, Macht und Intrige geht. Wirkungsvoll arbeitet Pölzgutter den Konflikt heraus, in dem sich die eindrucksvoll spielende Angela Davis als Laya unversehens wiederfindet: Sie hat nicht damit gerechnet, das politische Faustpfand der Unabhängigkeitsbewegung unter dem wild entschlossenen Kanako Hilo (eine undurchsichtige Gestalt: Insu Hwang) zu werden; sie hat auch nicht damit gerechnet, dem ihr schon als Kind zugesprochenen Bräutigam, Prinz Lilo-Taro (kernig und altväterlich: Richard van Gemert) zu begegnen und sogar Empfindungen jenseits von Pflichtgefühl für ihn zu entwickeln.

Und dann gibt es da noch die Amerikaner, die sich fröhlich und machtbewusst durch die Szenerie steppen: Der pfiffige John Buffy (Alexander von Hugo) überlebt vokal nur mit Mikroport, hat aber dank eines gut geölten Mundwerks das Glück auf seiner Seite. Ebenso Frank Wöhrmann als Jim Boy, dem man seinen Song „Bin nur ein Jonny“ gestrichen hat, um eilfertig jedem Vorwurf von „Rassismus“ zu entgehen, und der damit vom melancholischen „Nigger“ zur frohgemuten Nebenfigur abgewertet wird. Einen mondänen Auftritt hat die verwöhnte Bessie Worthington, die der Gouverneur als gute Partie für den Hawaii-Prinzen importiert hat, die sich aber im saftigen Spiel und Gesang von Alina Grzeschik rasch emanzipiert.

Utopie statt Desaster

Wären wir nicht in der Operette, das Ende käme als Desaster: Die Krönung der Königin vereitelt, Laya gefangen, Lilo-Taro auf dem Weg zum Selbstmord auf offenem Meer, der wackere Kapitän Stone (unstet und unfrei: Kenneth Mattice) wegen Befehlsverweigerung entlassen, Buffy, Jim und das kleine, süße Hawaii-Girl Raka vor dem Vakuum ihrer gescheiterten Liebe. Doch der dritte Akt, in Paris, richtet es: Das Varieté kehrt wieder. Penny Sofroniadou als frischstimmige Raka wandelt sich vom radebrechenden Naivchen zur Strippenzieherin, die studiert hat und drei Sprachen beherrscht. Paar für Paar wird die Liste des Begehrens abgearbeitet; zum Schluss bekommt Buffy auch seine Bessie. Und Pölzgutter erfindet zur Krönung noch eine politische Utopie: Versehentlich unterschreibt Gouverneur Harrison (Götz Vogelgesang) ein Papier, in dem er auf sämtliche Rechte auf Hawaii verzichtet. Schöne, heile Operettenwelt!

Auch in Hagen verwendet man die „bühnenpraktische Rekonstruktion“ der vor etwa 15 Jahren zufällig wiedergefundenen Original-Partitur von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn. Sie stellt die ursprüngliche Instrumentation aus dem Geist der Zwanziger Jahre wieder her, gespeist aus genauer Kenntnis des Notentextes und der alten Aufnahmen. Das gibt ein lebendiges, facettenreiches Klangbild, doch die die Musiker des Philharmonischen Orchesters Hagen legen sich unter Andreas Vogelsberger allzu mächtig ins Zeug und werden zu laut, was auf Kosten der Differenzierung geht und den Sängern Probleme bereitet. Wenn das Schlagzeug nicht überbetont ist, erinnert der swingende Rhythmus – allerdings ohne die Stütze des Sousaphons – an die Schellack-Zeugnisse von Paul Abrahams Stil. Spaß macht es, wenn es gelingt, die vibrierende Energie, die Farbwechsel, den melodischen Schmelz auszuspielen. Dann wird der Sound einer fiebrig-ausgelassenen Zeit lebendig, die ahnungsvoll und besinnungslos in ihren Untergang tanzte.

Buchtipp: Der in Witten lebende Autor Klaus Waller hat 2014 eine Biographie über den Komponisten veröffentlicht, die 2021 in einer Neuauflage erschienen ist: Paul Abraham. Der tragische König der Operette: Eine Biographie. 384 Seiten, 196 Abbildungen. starfruit publications, Fürth, 28,00 Euro.

 




Wie einer den anderen zur Geltung bringt: Hagen zeigt Gemeinschaftsbilder von Jiří Georg Dokoupil und Julian Schnabel

Jiří „Georg“ Dokoupil (li.) und Julian Schnabel vor einem ihrer großformatigen Gemeinschaftsbilder („untitled#14″) im Hagener Osthaus Museum. (Foto: Bernd Berke)

So verschieden sind die Menschen, auch und gerade, wenn es sich um weltbekannte Künstler handelt: Es könnte einem phasenweise fast entgehen, dass Jiří Georg Dokoupil beim Pressetermin zugegen ist, so zurückhaltend gibt sich der 1954 in der Tschechoslowakei geborene, heute in Berlin und Prag lebende Künstler und einstige Protagonist der „Jungen Wilden“ der 1980er Jahre.

Nun aber Julian Schnabel! Einem Malerfürsten gleich, entert der soeben aus New York eingeflogene US-Amerikaner (Jahrgang 1951) die Ausstellungsräume des Hagener Osthaus Museums und beginnt sogleich, das Gestühl für die Pressekonferenz eigenhändig umzustellen. Um freie Sicht auf die Kunst ist es ihm zu tun. Gleichzeitig setzt er sich selbst in Szene. Der Mann fällt unmittelbar auf. Mit seiner Präsenz füllt er jeden Raum. Ist es eine erdrückende Gegenwart? Jedenfalls nicht im produktiven Zusammenspiel mit Doukoupil, das wundersam ausbalanciert erscheint.

Auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Verschiedenheit ist es phänomenal, was die beiden Künstler gemeinsam zuwege gebracht haben. Hagen zeigt jetzt 13 großformatige „Collaboration Paintings“, also gemeinschaftlich bewerkstelligte Gemälde, die 2015 bei einem Besuch Schnabels in Dokoupils Berliner Atelier entstanden sind. Dokoupil kann keinesfalls nur „heftig“ wie ehedem, sondern geradezu duftig und hauchzart wie in seinen Seifenblasen-Bildern, die den hier gezeigten Arbeiten zugrunde liegen und wirklich aus gefärbter Seifenlauge hervorgewachsen sind. Er hat ja auch schon mit Ruß, Muttermilch und Reifenabdrücken gearbeitet. Warum also nicht mit Seifenlauge?

Dokoupil und Schnabel 2015 bei der Arbeit in Berlin. (Foto: Deyan Manolov)

Im ständigen tätigen Dialog mit Julian Schnabel sind diese Bilder durch einen Prozess der Metamorphosen gegangen – bis die beiden Künstler unisono festgestellt haben, dass ihre Schöpfung gelungen war. Folgt man Schnabel, der aber keineswegs die Bilder deuten oder interpretieren mag, so haben sich auf den Bildern nach und nach Landschaften oder syntaktische Muster ergeben. Doch nicht um bewusste Kompositionen handelt es sich, sondern eben um das Resultat eines gemeinsamen Arbeitsprozesses, in dessen Verlauf vorwiegend Acrylfarben, Sprühdosen, Plastikfolie auf Linoleumböden (oder Leinwand) und eben Seifenlauge zum intensiven Einsatz kamen.

Gewiss: Man könnte im Nachhinein dieses oder jenes Bildelement einem der beiden Künstler zuordnen, doch darauf kommt es letztlich gar nicht an. Diese Bilder künden wahrhaftig von einem Zusammenwachsen zweier malerischer Temperamente, sie wirken allerdings auch nicht so, als stammten sie von einem einzigen Urheber. Keine falsche Harmonie. Sie enthalten noch die Spannung zweier verschiedener Arten des Zugriffs.

Doch so sehr und so entschieden Schnabel den zartsinnigen Spuren der Seifenblasen zuweilen peitschenförmig zugesetzt haben mag, so ist es doch an keiner Stelle gewaltsam, sondern emotional bewegte Reaktion aufs Vorhandene, die wiederum Dokoupil zu eigenen Interventionen veranlasst hat. Ein Geben und Nehmen. Oder wie Osthaus-Direktor Tayfun Belgin es ausdrückt: „Auf den Pinselschlag des einen folgte die Antwort des anderen, auf Linie folgte Farbe, auf geschlossene Form eine offene.“ Und so fort.

Es ist, als betonten beide Positionen einander, als brächten sie sich gegenseitig zum gesteigerten Ausdruck. Einer lässt den anderen nicht nur gelten, sondern bringt ihn erst vollends zur Geltung. Ein Fall von echter Freundschaft, von bildgewordenem Vertrauen und Vertrautsein. Überdies müssen sie beide sich und erst recht uns nichts mehr beweisen, drum waltet nicht nur Spannung, sondern schließlich auch etwas souverän Entspanntes in diesen Bildern.

Immer für einen Gag gut: Unter Schnabels Jacke verbarg sich ein Shirt mit der Aufschrift „Second Best“ (Zweitbester)… Im Hintergrund ein weiteres Gemeinschaftsbild – „untitled#10″ (Foto: Bernd Berke)

Schon um 1980 haben sie einander als Künstler wahrgenommen und zunehmend respektiert, seit über 30 Jahren kennen sie sich persönlich. All die Jahre, all die wechselnden Zeitläufte haben wohl mit hineingespielt in dieses gemeinsame Arbeiten. Und doch war es vor allem spontane Aktion. Man habe während des Malens nicht über die Existenz philosophiert, lässt Schnabel mit einem Anflug von Ironie wissen. Bloß nicht zu viel theoretischer Kram. Überhaupt habe man gar nicht so viel gesprochen. Man hat getan, was getan werden musste. Und ja, „lots of joy“ habe man dabei empfunden.

Es muss dem Museumsleiter Tayfun Belgin ein Herzensanliegen gewesen sein, just diese Bilder zeigen zu können. Schon als Student habe er Dokoupil und andere „Junge Wilde“ 1982 in der legendären Berliner „Zeitgeist“-Ausstellung bewundert. Jetzt hat eine Kooperation mit der Düsseldorfer Galerie Geuer & Geuer die von Reiner Opoku kuratierte Ausstellung ermöglicht. Die Künstlernamen schmücken Hagen ungemein.

Witzig entspannt übrigens auch der Titel des ganzen Unterfangens: „Two Czechoslovakians walk into a bar“ (Zwei Tschechoslowaken gehen in eine Bar). Schnabels Vorfahren stammten, wie Dokoupil, aus dem ostmitteleuropäischen Lande. Und auch der zweite Teil hat einen Anschein von Wahrheit. Wie sich Schnabel erinnert, wurde beim gemeinsamen Malen durchaus das eine oder andere Glas Whisky geleert. Sollte etwa dieser goldbraune Fleck auf jenem Bild…?

Jiří Georg Dokoupil und Julian Schnabel: „Two Czechoslovakians walk into a bar“. Collaboration Paintings. 27. Juni bis 15. August, Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Hochstraße). Geöffnet Di-So 12-18 Uhr.

www.osthausmuseum.de

Ergänzend zu den Großformaten sind in der Unteren Galerie Grafiken von Julian Schnabel (seit den später 70er Jahren bis 2021) zu sehen.

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P. S.: Apropos Künstlerfreundschaft. Den muss ich jetzt aber noch loswerden: Der verehrte Max Goldt schrieb einst, alle Kulturwelt rede immer voller Emphase von „Künstler-Freundschaften“. Aber habe man je von einer „Elektriker-Freundschaft“ gehört?




Künstlersohn, Museumsdirektor und Stifter: Ulrich Schumacher gestorben

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem KInderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. - Emil Schumacher: "Ulrich am Tisch" (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Im März 2017 mit einer liebenswerten Erinnerung an seinen Vater Emil: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem Kinderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. – Emil Schumacher: „Ulrich am Tisch“ (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Traurige Nachricht aus Hagen: Der Museumsdirektor und Museumsstifter Ulrich Schumacher ist mit 79 Jahren nach langer schwerer Krankheit gestorben. Ohne ihn hätte es das Hagener Emil-Schumacher-Museum (ESMH) nicht gegeben, das seit 2009 zusammen mit dem Osthaus-Museum das Hagener Museumszentrum („Kunstquartier“) bildet.

Am 3. September 1941 als Sohn des berühmten Malers Emil Schumacher († 1999) und dessen Frau Ursula (geb. Klapproth) in Hagen geboren, studierte Ulrich Schumacher Kunstgeschichte u. a. bei Max Imdahl an der Ruhr-Uni Bochum. 1972 schloss er das Studium mit der Promotion ab. In der Folgezeit sichtete und katalogisierte er die bedeutsame Schenkung des Sammlerpaares Sprengel an die Stadt Hannover.

1976 kam er ans Museum in Bottrop und wurde dort 1983 Gründungsdirektor des damals neuen Josef Albers Museums, das er über Jahrzehnte leitete und weithin bekannt machte. Als Stifter und Museumsgründer beschenkte er seine Heimatstadt Hagen mit einer reichhaltigen Sammlung aus dem Nachlass seines Vaters. Aus diesem Fundus kann das Emil-Schumacher-Museum immer wieder neue, aufschlussreiche Ausstellungen zu Emil Schumacher und seinen Zeitgenossen bestreiten.

Ulrich Schumachers Bedeutung für die Museumslandschaft des Ruhrgebiets kann kaum überschätzt werden.




Facetten der Einsamkeit – von Haydn bis Marilyn Monroe: Gelungener Opern-Doppelabend am Theater Hagen

Auch am Theater Hagen erzwang die Corona-Pandemie eine umfassende Revision der Pläne zunächst für die erste Hälfte der Saison 2020/21.

Eine Ikone des 20. Jahrhunderts greift ein Opern-Doppelabend am Theater Hagen auf: Marilyn Monroe. (Foto: Klaus Lefebvre)

Die Spielzeit-Vorschau, ein hübsches rotes Kästchen, enthält für jedes Projekt aus den Sparten ein loses Blatt, das ausgetauscht werden kann, wenn Intendant Francis Hüsers und sein Team infolge der Corona-Schutzmaßnahmen umplanen müssen. Für die Zeit bis Dezember war das bereits der Fall: Die Schlachtschiffe des Repertoires stehen im Trockendock bereit, zu einem späteren Zeitpunkt gefahrlos auszulaufen. Der Ersatz, klein, kurz und flexibel, macht aber ebenfalls Freude. Krisen fördern zuweilen Kreativität: Wie wäre es sonst zu einem Doppelabend mit Joseph Haydns „L’Isola disabitata“ und Gavin Bryars 2013 uraufgeführter Kammeroper „Marilyn forever“ gekommen?

In beiden etwas mehr als einstündigen Werken geht es um Einsamkeit, um einen Prozess der Selbstfindung und um die Frage, wie authentisch ein Mensch sein Leben eigentlich führen kann. In Haydns „unbewohnter Insel“ sind es zwei Frauen, die sich einen Weg über ihre inneren Limits hinaus bahnen müssen; „Marilyn forever“ wirft die Zuschauer mitten hinein in die Spannung zwischen den inneren Empfindungen und der äußeren Selbstkonstruktion eines Menschen.

Was steckt hinter den Bildern, mit denen die Monroe berühmt wurde? Angela Davis versucht sich, in die Figur „Marilyn“ hineinzufühlen. (Foto: Klaus Lefebvre)

An der Kultfigur Marilyn Monroe, die sie sich als Waisenkind Norma Jeane Mortenson geschaffen hat, versucht Gavin Bryars Einakter zu ergründen, wo der Mensch, wo der Mythos „Marilyn Monroe“ zu entdecken ist, wie sich das Innen und Außen dieser Ikone des 20. Jahrhunderts zueinander verhalten: Die Frau, als warmherzig und selbstbewusst beschrieben, mit ihrer sorgfältig nach außen abgeschirmten Seele, verletzlich, liebesbedürftig, an sich zweifelnd. Die Fassade, glamourös, sexy, mit kalkulierter Ausstrahlung. Und die Wirkung, in Zeiten patriarchaler Herren, rebellierender Söhne, marginalisierter und missbrauchter Frauen, reduziert auf das Objekt: begehrt, vermarktet, konsumiert, vergöttert und gleichzeitig abgewertet.

Kantenlose Musik

Regisseur Holger Potocki versucht sich in etwa 80 Minuten durch dieses verschlungene Dickicht vorzukämpfen zur „echten“ Marilyn Monroe – etwas, was sie selbst wohl nicht geschafft hat. Das Libretto Marilyn Bowerings ist ihm dabei keine Hilfe: Zu ungefähr sind die Gefühlszustände, Gedanken, Träume von „Marilyn“, zu vage die Bezüge zu historisch feststellbaren Ereignissen, etwa die Ehe mit Arthur Miller, zu spekulativ die Andeutungen, etwa über das Verhältnis zu John F. Kennedy.

Kaum Unterstützung auch aus der Musik: Denn der inzwischen 77jährige englische Komponist Gavin Bryars schrieb 2013 eine nachromantisch kantenlose Musik mit Elementen aus minimal music und Jazz, mit verfliegenden Scheinzitaten populärer Musik der Fünfziger, weich, schmeichelnd, mit der dunklen Registerpalette der Instrumente und moderater Dynamik spielend. Alles „well made“, angenehm zu hören, aber nicht charakteristisch, schon gar nicht irgendetwas provozierend. Und neu im Übrigen auch nicht – aber das muss ja nicht unbedingt sein. Joseph Trafton und die elf Musiker des Philharmonischen Orchesters Hagen lassen den schmiegsamen Wohllaut fein abgestimmt verströmen.

Angela Davis als Marilyn. Foto: Klaus Lefebvre

Potocki bleibt also in den Rätseln hängen, und er weiß das: Um dem Wohlfühlfluss der Szenen zu entkommen, teilt er gemeinsam mit Bernhard Niechotz die Bühne in zwei Räume und spaltet die Figur der Marilyn auf: Angela Davis gibt nicht die Ikone Monroe, sondern versucht als – zeitweise sehr intensive – Darstellerin sich in einem Studio für einen Film auf die Rolle „Marilyn Monroe“ vorzubereiten und dafür die Facetten der Figur zu verinnerlichen. In der anderen Hälfte der Bühne, einem Kinosaal, setzt sich Kenneth Mattice als Filmregisseur mit Bildern und Vorstellungen der Monroe auseinander. Er fällt in die Rollen der „Men“ aus dem Leben Monroes, grübelt zwischen Kinostühlen, experimentiert mit Bildern auf der Leinwand. Potocki nutzt die distanzierende Wirkung von Film, Projektion und Spiegeln, um die Entfremdung der Personen von sich selbst auf die Spitze zu treiben, sich dem Geheimnis der authentischen Existenz der Titelfigur anzunähern und es gleichzeitig zu wahren.

Das reicht bis zu den unklaren Umständen ihres frühen Todes: Kenneth Mattice, der sich selbst spielerisch vorbehaltlos verausgabt, dringt in den „Raum“ Marilyns ein und ist – kurz bevor das Licht erlischt – der Funke des Todes für die zitternde Frau. Dass danach das berühmte blaue Kleid und eine weißblonde Perücke auf dem Bühnenboden liegen wie aufgebahrt, ist konsequent: Den äußeren Schein können wir begraben, den Mythos entschlüsseln wir nur bruchstückhaft, die Wahrheit bleibt verborgen. Welchen Anspruch Bryars allzu unverbindliche Oper verwirklicht, darüber mag die Nachwelt entscheiden. Kritiker lagen allzu oft daneben – dennoch sei es gewagt, sich nicht wie die Oper ins Ungefähre zurückzuziehen: Die Nachwelt wird eher den Mythos Monroe als dieses Werk am Leben halten.

Eine Burg aus Polstern

Nicht am Leben blieb auch Joseph Haydns „L’Isola disabitata“, einer seiner gar nicht so wenigen, aber leider kaum bekannten Opern. Uraufgeführt 1779 auf Schloss Eszterháza (heute Fertöd in Ungarn), konnte sie sich trotz mehrerer CD-Aufnahmen nicht im Repertoire durchsetzen. Das Libretto Pietro Metastasios – er schätzt es selbst sehr hoch ein – wirkt in der Inszenierung Magdalena Fuchsbergers geradezu modern: Die „unbewohnte Insel“ wird zu einem Ort von Introversion und Aufbruch, von Selbstverkapselung und Selbstentfaltung.

Maria Markina als Costanza in Joseph Haydns „L’Isola disabitata“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Fuchsberger transferiert das Thema der verlassenen Frau auf dem menschenleeren Eiland in die siebziger Jahre, als die Frauen um Gleichberechtigung kämpfen und der Sex sich aus den Fesseln der überkommenen Moral befreit. Wieder ist die Bühne zweigeteilt: In Monika Bieglers Wohnlandschaft steht links ein graues Sofa, Zuflucht der Frau mit dem bezeichnenden Namen Costanza: Unermüdlich die Männer hassend wartet sie auf den ihren, der seit 13 Jahren verschollen ist. Die einsame Standhafte baut dort eine Burg aus Polstern aus, in deren Gruft sie sich verkriecht.

Auf der anderen Seite Esstisch und Vitrine, Ort der tastenden, misslingenden Versuche, so etwas wie Gemeinschaft oder gar Zuneigung herzustellen. Maria Markinas Gesten und Bewegungen sprechen von ihrem Leid, ihren inneren Zwängen, ihrer Selbstisolierung, ihrem Lebensüberdruss; musikalisch gelingen ihr die Momente der Innerlichkeit besser als die schmerzvolle Empörung in Rezitativen, die mit hartem Ton und druckvoller Emission aus ihr herausbrechen. Ob dieser Frau am Ende gelingt, frei zu werden, als der Mann nach Jahren endlich aus der Sklaverei fliehen und zu ihr zurückkehren kann, bleibt offen: Die Regie dreht die Rollen um, als Gernando, der Mann, auftaucht, als sei nichts geschehen, und die Frau, Costanza, die Chiffren der Entfremdung übernimmt. Der Wein zu viert am Tisch lässt immerhin eine Hoffnung offen.

Ein Kind wird erwachsen

Erstaunlich modern und spannend wirkt, wie sie die jüngere Schwester Costanzas im Lauf des Stücks entwickelt. Haydn hat – zumindest in der Lesart Fuchsbergers – eine überraschend tiefgründige Coming-of-Age-Geschichte in faszinierend sensible Musik gefasst. Silvia, der Name des Mädchens, deutet auf die ungebrochene Natürlichkeit ihres Wesens hin. „Welch‘ glückliche Unschuld“, findet auch Costanza, und Metastasio beschreibt Silvias Liebe zu einem kleinen Reh – eine bezaubernde Chiffre für das kindlich-ungebrochene Einssein mit der Natur, während die Musik Haydns bereits die Trauer über den Verlust dieses „paradiesischen“ Zustands erklingen lässt.

„Glückliche Unschuld“: Silvia (Penny Sofroniadou) mit ihrem geliebten Reh. (Foto: Klaus Lefebvre)

Mit der Ankunft von Gernando und dessen Freund Enrico beginnt der Prozess: Silvia nimmt den Mozart’schen Cherubino vorweg, wenn sie nach der ersten Begegnung mit dem freundlich-virilen Enrico (Insu Hwang mit markantem Bariton) von einem unbekannten „affetto“ in der Brust singt, einer Hoffnung, von der sie nicht weiß, was sie bedeutet. Ihre Schwärmerei hat auch komische Züge, verdichtet sich aber immer mehr zur Erkenntnis der „tyrannischen“ Liebe, die ihr keine Ruhe mehr lässt. Und während Anton Kuzenok die melancholische Suche Gernandos nach seiner geliebten Costanza in einen fein geführten, die Töne frei bildenden Tenor kleidet, erzählt die Musik, wie Silvia das „heftige Feuer“ der Liebe und damit ihr sexuelles Begehren entdeckt, und Penny Sofroniadou schildert ihre Not zum sprechenden Orchester Haydns mit einem leuchtenden, leichten und lockeren Sopran. Aus der engagierten kleinen Truppe im Graben lockt Joseph Trafton alle Herrlichkeiten von Haydns Erfindungskunst hervor und bestätigt ein weiteres Mal, dass man den Esterházy’schen Kapellmeister nicht unterschätzen sollte.

Bisher geplante weitere Aufführungen am 13. und 14. November 2020. Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/die-einsame-insel-lisola-disabitata-marilyn-forever-1339/0/show/Play/




Heimkehr in schwieriger Zeit: Hagener Osthaus-Museum kann seine Expressionisten endlich wieder zeigen

Ungewöhnliche Ansicht während des Ausstellungs-Aufbaus Mitte Januar: drei Gemälde von Christian Rohlfs auf einem Transportwagen. Von links: „Der Trinker“ (um 1915), „Zwei Mädchen“ (um 1917) und „Pierrette“ (um 1911). (Foto: Bernd Berke)

Es scheint schon Jahre her zu sein: Bereits am 17. Januar 2020 hatte ich Gelegenheit, diese Ausstellung des Hagener Osthaus-Museums zu sehen – noch bevor sie richtig aufgebaut war. Schon bald nach der Eröffnung folgte die Schließung „wegen Corona“. Jetzt (ab 19. Mai) kann das Museum – unter den mittlerweile üblichen Auflagen – wieder öffnen und die nach Jahren heimgekehrten expressionistischen Schätze aus seinem Eigenbesitz wieder zeigen. Ein Text mit Verspätung, dennoch zeitlich passend:

Es ist wie die Heimkehr von guten alten Bekannten. Seit Oktober 2015 waren rund 110 Werke aus der Sammlung des Hagener Osthaus-Museums auf weitläufiger Tournee unterwegs. Jetzt sind sie allesamt zurückgekehrt und werden wieder in Hagen gezeigt; beinahe wie Neuerwerbungen und fast so, als kämen sie geradewegs aus einer Verjüngungskur. Tatsächlich kann man sie nun anders und vielleicht genauer wahrnehmen.

Die Rundreise der Bilder führte von Wien und Klagenfurt über Sardinien und das französische Evian am Genfer See bis in die Region Stockholm. Neun Stationen in sechs Ländern, insgesamt 241.779 zahlende Besucher. Jetzt weiß man vielerorts, wo Hagen liegt und dass dort etliche Spitzenstücke aus dem Kreis und Umkreis des Expressionismus daheim sind.

Ein gewisser Lokalstolz

Osthaus-Chef Dr. Tayfun Belgin mag denn auch nicht ganz verleugnen, dass er einen gewissen kulturellen Lokalstolz verspürt. Es sind beileibe nicht viele Museen, die ein solches Konvolut von Expressionisten aufweisen können: beispielsweise famose Schöpfungen von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein und Christian Rohlfs; beispielsweise auch imposante Arbeiten von Franz Marc, August Macke, Emil Nolde, Lyonel Feininger und Max Beckmann. Dem berühmten Mäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus (1874-1921) gebührt bleibender Dank für die Grundlegung der reichen Kollektion.

Im zentralen Schauraum sind nun gleich wieder einige Highlights beisammen, darunter die eindrucksvollen Porträtbilder, die Kirchner (1910) und Heckel (1917) voneinander angefertigt haben; so auch Kirchners „Badende (Fehmarn)“ von 1912. Im weiteren Verlauf verzweigt sich der Rundgang auch zu allerlei graphischen Meisterwerken. Weitere grandiose Ölbilder von Christian Rohlfs („Pierrette“, um 1911 – „Der Trinker“, um 1915), der über Jahrzehnte in Hagen gelebt hat, kommen ebenso hinzu wie etwa Alexej von Jawlenskys „Barbarenfürstin“ (um 1912) – ein unwiderstehliches Farbereignis, das als Leitmotiv auf Plakaten zum besonders erfolgreichen Gastspiel in Wien gelockt hat. Nicht chronologisch oder einer These folgend hat man die Bilder in Hagen gehängt, sondern so, dass sie möglichst ansprechend und „kulinarisch“ zur Geltung kommen.

Wie ein gänzlich neuer Auftritt

Vor der Tournee waren rund 30 dieser Bilder im Hagener Altbau zu sehen, sie wurden seinerzeit nur nebenher beachtet und zumeist nicht ihrem wahren Wert entsprechend geschätzt. Dauerhaftes Inventar eben. Jetzt aber haben sie im neuen Anbau ihren großen gemeinsamen Auftritt. Die 110 Reisebilder wurden durch weiteren passenden Eigenbesitz ergänzt, so dass nun 120 Werke zu sehen sind. In diesem Gebäudeteil werden sonst Wechselausstellungen gezeigt. Das Ganze wirkt denn auch wie eine Wechselschau mit Leihgaben aus mehreren Häusern. Doch alles gehört dem Osthaus-Museum. Kurz gesagt: Hagen leuchtet. Zumindest in diesen Räumen.

Da sage noch jemand, Ausstellungen von Eigenbesitz könnten nicht allzu aufregend sein, weil man die Exponate ja zu kennen glaubt. Hier und jetzt verhält es sich anders. Und das Wiedersehen nach so langer Zeit bereitet doppelt Freude. Tayfun Belgin wählt einen etwas kuriosen, aber sinnfälligen Vergleich: „Wenn ich über vier Jahre keine Banane mehr gegessen habe, will ich schließlich unbedingt Bananen haben!“

Zwiespältiger Emil Nolde

Waren die neun „Auswärtsspiele“ nicht auch mit Risiken behaftet? Nun, Belgin hat sich an jeder einzelnen Station vom tadellosen Zustand der Bilder überzeugen können, Restauratoren haben das gesamte Reiseprojekt eingehend begleitet und fortlaufend protokolliert. Es gibt keinerlei Schäden. Alles findet sich wohlbehalten in Hagen wieder. Überdies haben die Schätze auch noch Leihgebühren eingebracht. Aus Hagen in die Welt – für gutes Geld.

Eines darf man nicht unerwähnt lassen: Zur umfangreichen Schau zählen auch Arbeiten von Emil Nolde, der just in den letzten Jahren als williger Kollaborateur der Nazis in Verruf geraten ist (und dessen Werke trotzdem von den NS-Machthabern als „entartete“ Kunst verfemt wurden). Ein ausgewogener Begleittext stellt die betrübliche Sachlage nüchtern dar. Dennoch sind manche Nolde-Bilder nach wie vor betörend. Künstlerische Qualität und menschlicher Anstand sind (leider) zweierlei. Ein eigentlich bekannter Umstand, der aber immer wieder zu irritieren vermag.                                                      

Expressionisten. Aus der Sammlung. Verlängert bis zum 2. August 2020. Osthaus-Museum Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Di-So 12-18 Uhr. www.osthausmuseum.de

Das Hagener „Kunstquartier“ ist wieder komplett: Auch das unmittelbar benachbarte Emil Schumacher Museum öffnet ab 19. Mai. Die aktuelle Ausstellung über Emil Schumacher („Der Reiz des Materials“) wird verlängert und ist daher bis 29. November 2020 zu sehen. Weitere Infos: www.esmh.de

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Die ursprüngliche Fassung des Beitrags stand im Kulturmagazin Westfalenspiegel, das in Münster erscheint. (www.westfalenspiegel.de)




Corona: Viele Absagen für Theater, Oper und Konzert in NRW – und auch jenseits der Landesgrenzen

Sagt bis 19. April alle Vorstellungen ab: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Werner Häußner)

Für die Kulturszene in NRW hat das Corona-Virus bereits Auswirkungen. Hier ein erster Rundblick:

Die Maßnahmen, die eine weitere Verbreitung von Sars-CoV-2 – so heißt das tückische Kleinteilchen – hemmen sollen, führten bereits gestern, 10. März, zur Einstellung des Spielbetriebs des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen bis voraussichtlich 19. April.

Soeben hat auch das Theater Hagen alle Vorstellungen im Großen Haus – nicht aber in den kleineren Spielstätten – abgesagt. In Dortmunder Konzerthaus sind der Auftritt von Bodo Wartke am heutigen 11. März auf den 23. Juni verschoben und alle öffentlichen Veranstaltungen bis 15. April abgesagt. Und nun hat auch das Beethovenfest Bonn alle Konzerte zwischen 13. und 22. März abgesagt,

Seit dem Erlass des Gesundheitsministeriums vom 10. März sollen die örtlichen Behörden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern grundsätzlich absagen. Liegt die Zahl darunter, sei – wie bisher – eine individuelle Einschätzung der örtlichen Behörden erforderlich, ob und welche infektionshygienischen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, heißt es auf der Homepage der Landesregierung.

Düsseldorf deckelt die Zahl der Besucher

Während bei der Theater und Philharmonie (TuP) Essen die Entscheidungsfindung noch im Gang ist, hat sich die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf entschieden, vorerst weiterzuspielen, den Verkauf von Karten aber so zu deckeln, dass die Zahl von 1.000 Menschen im Raum (Besucher und Mitwirkende) nicht überschritten wird. Auch die Wuppertaler Bühnen führen momentan den Spielbetrieb weiter. Die Historische Stadthalle begrenzt ihren Kartenverkauf ebenfalls, damit die 1000er-Marke nicht überschritten wird.

Nicht – oder noch nicht – betroffen scheinen die Museen: Das Essener Folkwang Museum sagt zwar seine Ausstellungseröffnung zu Mario Pfeifer, Black/White/Grey (am 12. März, 19 Uhr) ab, hat aber ansonsten wie üblich geöffnet. Auch die Beethoven-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn bleibt unberührt.

In Sachsen spielt man vorerst weiter

Ein Blick über die Grenzen: In Bayern sind alle Staatstheater geschlossen, die Theater in Bamberg, Würzburg und Regensburg haben bereits nachgezogen und ihre Vorstellungen bis Mitte April abgesagt. In Wien schließen Burgtheater, Staats- und Volksoper. Auch in den drei Berliner Opernhäuser gibt es bis 19. April keine Vorstellungen. Sachsen dagegen meldet derzeit keine Absagen: Semperoper, Staatsoperette Dresden, Theater Chemnitz spielen, und auch die Landesbühnen Sachsen kündigen die Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in der Regie von Manuel Schmitt – erfolgreicher Regisseur von Bizets „Perlenfischern“ in Gelsenkirchen – weiterhin für den 14. März an.

Fatale Folgen haben die Schließungen und Absagen für freie Künstler, vor allem, wenn Verträge keine Ausfallhaftung vorsehen. Sechs Wochen ohne oder mit deutlich vermindertem Einkommen führen in solchen Fällen schnell in eine prekäre Lage. Es wird sich zeigen, ob die Institutionen bzw. die Geldgeber zu unbürokratischen und großzügigen Lösungen bereit sind. Der Präsident des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat bereits einen Notfonds gefordert – „sehr schnell und mit wenig Bürokratie“.




Der Künstler und seine Frau – die kleinen Bilder, die Emil Schumacher „für Ulla“ malte

Emil Schumacher, Für Ulla-1/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 14,6 x 16 cm. © (Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019/Emil Schumacher Museum Hagen)

Man könnte sie leicht übersehen. Kaum so groß wie ein Blatt Schreibmaschinenpapier sind die Bilder, und auch in ihren Rahmen bleiben sie schmächtig. Es bedurfte eines speziellen Regals für Kleinformate, um sie im Magazin wiederauffindbar unterzubringen. Jetzt aber hängen sie ganz prominent in der Ausstellung. „Für Ulla“ heißt die Serie von Gouachen, die Emil Schumacher für seine Frau malte und die 1996 erstmalig in Jena gezeigt wurde, als der Maler dort die Ehrenbürgerwürde der Universität erhielt.

Emil Schumacher, Für Ulla-7/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 15 x 22,6 cm. © (Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Zum 100. Geburtstag

Warum Hagens berühmter Informel-Künstler 1996 für seine Frau eine Reihe von Bildern auf Packpapier schuf, ist bis ins Letzte nicht beantwortet. Weder standen runde Geburtstage an (Ulla war 77), noch begründeten andere Anlässe ein solches Geschenk. Und Emil Schumacher, der seine Werke eher mit leichter Hand datierte und signierte, steuerte auch nichts Erklärendes bei. Aber die Bilder sind „für Ulla“. Das steht drauf. Anlass dafür, sie jetzt zu zeigen, ist der 100. Geburtstag Ulla Schumachers.

Emil Schumacher, Für Ulla-15/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 14,6 x 16 cm. © Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Sehr persönlich

Die Motive dieser „Suite“ sind abstrakt, wie man es bei Emil Schumacher ja gewohnt ist. Doch der Begriff deutet Bezüglichkeit an, und in der Tat laden viele Bilder dieser Reihe zu assoziativer Vergegenständlichung ein. Landschaften mag man erkennen, Tiere, vor allem Pferde. Und Kreise können Räder sein, Sinnbilder der Reise wie der Wiederkehr, und alles ergibt Sinn. Zwar ginge es zu weit, hier ein strenges System der Chiffrierung erkennen zu wollen, doch sicherlich hat Ulla Schumacher diese Bilder so genau verstanden wie kaum ein anderer Mensch. Emil, unabweisbar dieser Eindruck, formulierte hier wie unter einem Brennglas das Gemeinsame, das gemeinsam Vertraute. Es ist eine Kunst der Intimität, vielleicht gar eine anhaltende Liebeserklärung. Dafür brauchte es keine Stichtagsregelung.

Emil Schumacher, Kirmes, 1948, 27 x 34,5 cm. (Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Biedere Familie

Und ein weiteres Mal ist man erstaunt über das biedere Leben, das dieser Künstler und seine Frau führten. Nichts ist bekannt über Ausschweifungen oder Exzesse, 60 Jahre waren sie verheiratet, und sie haben das als großes Glück empfunden, wie Rouven Lotz unterstreicht, wissenschaftlicher Leiter des Emil Schumacher Museums und Kurator dieser kleinen, hübschen Ausstellung. Und übrigens war das Jahr 1996 doch ein rundes, ein bißchen jedenfalls, weil sich die jungen Leute 60 Jahre vorher auf der Kirmes kennengelernt hatten, auf dem Kettenkarussell, in Hagen, wo sonst.

Traumberuf Telefonistin

Ulla Schumacher, als Ulla Klapprott 1919 in Hagen-Eppenhausen geboren, war gewiß nicht die andere Hälfte eines Künstler-Duos, wie beispielsweise Christos Frau Jeanne Claude. Auch eine Muse war sie nicht, eher schon Managerin ihres zur Zurückhaltung neigenden Gatten. Sie kümmerte sich um die Reisen, schuf und pflegte internationale Kontakte. „Sie war ein bißchen die Außenministerin für den Künstler“, sagt Rouven Lotz. In jungen Jahren hatte sie übrigens als Telefonistin gearbeitet, immer im Gespräch, immer online (wie man heute fast sagen könnte), ein Traumberuf für sie.

Ulla und Emil Schumacher, 1989. (Foto: Stefan Moses / Emil Schumacher Museum Hagen)

„Ach Emil, das wird schön“

Und Ulla war Emil Schumachers wichtigste Kritikerin. Der Maler legte größten Wert auf ihr Urteil, auch im Schaffensprozeß schon. Freunde der Familie berichten von einem unruhigen Künstler, der durch das Haus lief und seine Ulla suchte, damit sie im Atelier ihre Meinung kundtat. Wiederholt verbürgt ist ihr Ausruf „Ach Emil, das wird schön“, mit dem sie in aller Regel ja auch recht hatte und dem kreativen Prozeß gehörigen Schub verlieh.

Zeichnungen der frühen Jahre

Museumsleiter Lotz hat der „Für Ulla“-Suite einige Bilder aus dem Bestand beigesellt, etwas größer in aller Regel, die die enge Verbindung der Kleinformate zum damaligen aktuellen Schaffen Schumachers, frappierend mitunter, dokumentieren. Außerdem gibt es einen zweiten Raum mit frühen Werken, Zeichnungen aus den 30er und 40er Jahren, Alltagsszenen und Akte, auf denen die Dargestellte immer Ulla ist. Diese vergnügliche Reihe, die neben anderem auch deutlich macht, was für ein brillanter Zeichner Emil Schumacher war, beginnt – eben – auf der Kirmes in Hagen, 1936, am Kettenkarussell. Eine Zeichnung wie ein Holzschnitt, hartes Schwarzweiß, mit einer erotischen Figurine im linken oberen Bereich, erste Begegnung mit der Frau fürs Leben.

Emil Schumacher, Ulla, rauchend, 1947, Fettkreidezeichnung, 32,7 x 15,7 cm.(Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Immer wieder Ulla

Er hat sie, für ein Programmheft der Ruhrfestspiele, als „Irre von Chaillot“ gezeichnet (welche allerdings, ganz adrett und comme il faut, hinter einem Kaffeehaustischchen hockt), als Hausfrau und Mutter zu Hause, als rauchende Gesprächs- und Lebenspartnerin. Daran, daß Emil Schumacher die Seine gerne im Akt abbildete, war gewiß auch die lange Phase künstlerischer Abstinenz schuld, erläutert Lotz. In der Nazizeit hatte, wie hier und da bekannt, der Maler Emil Schumacher mit dem Malen aufgehört, weil seine Kunst nicht gelitten war. Er hatte als technischer Zeichner gearbeitet, um die Familie zu ernähren. Als ihn seine Frau nach 1945 ermunterte, doch wieder ein Künstler zu sein, mußte Emil üben. Auch Akte malen. Niemand konnte damals ahnen, daß er dereinst in Kunstrichtungen Furore machen würde, die man mit Informel oder abstraktem Expressionismus bezeichnete. Die frühen Bilder mit der abstrakten „Für Ulla“-Suite in räumlich-inhaltlichen Zusammenhang zu bringen, ist eine kluge, ja fast schon schöpferische Entscheidung.

Langes Leben

Rund 60 Jahre dauerte die Ehe der Schumachers; Emil starb 1999, 87-jährig immerhin, ohne Vorzeichen „als glücklicher Maler“ auf Ibiza. Seine Frau folgte ihm zehn Jahre später, 90-jährig. Die Baustelle des Hagener Schumacher-Museums hat sie noch besichtigt, die Eröffnung leider nicht mehr erlebt.

Nicht so viele Familiengeschichten!

Schluss jetzt! Wenn man über Schumachers schreibt, droht das immer zur Familiengeschichte zu werden, garniert mit unzähligen Anekdoten. Doch hier gilt’s der Kunst! Sie sei ausdrücklich anempfohlen, die anrührende „Für Ulla“-Sonderschau wie auch das Dauerhafte im Hagener Schumacher-Museum mit seinen stattlichen Großformaten.

  • Emil Schumacher: „Für Ulla“ – Ursula Schumacher zum 100. Geburtstag
  • 24.11.2019 bis 9.2.2020
  • Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1
  • Geöffnet Di-So 12-18 Uhr
  • Tel. 02331 207 31 38, www.esmh.de



Neue Ballettchefin Marguerite Donlon spürt in Hagen dem Mythos Frida Kahlo nach

Frida Kahlo gilt als Ikone der Frauenbewegung: stark, unabhängig, politisch aktiv, sexuell selbstbestimmt. Selbstbewusst bewegt sie sich als Künstlerin zwischen volkstümlich inspirierter Malerei, indigener Symbolik, wagemutigem Surrealismus und reflektierter Selbstinszenierung: eine moderne Figur, die sich selbst erschafft.

Luis Gonzalez und Sara Pena als Diego Rivera und Frida Kahlo. Foto: Oliver Look

Luis Gonzalez und Sara Pena als Diego Rivera und Frida Kahlo. Foto: Oliver Look

Aber sie war auch eine Frau, die unendlich gelitten hat, an Kinderlähmung, an den Folgen eines grauenvollen Unfalls, an beinahe 30 Operationen und an schmerzhaft eingeschränkter Körperlichkeit. Ihren Liebesaffären mit Menschen gleich welchen Geschlechts tat das keinen Abbruch – auch diese von Moral und Gesellschaft unbeeinträchtigte erotische Freiheit lässt sie für uns so zeitgenössisch erscheinen. Zu den Büchern, Theaterstücken und Filmen über Frida Kahlo tritt nun im Theater Hagen der Tanz: Marguerite Donlon gibt mit dem 75-Minuten-Abend „Casa Azul“ ihren Einstand als neue Ballettdirektorin.

Die neue Ballettdirektorin am Theater Hagen, Marguerite Donlon. Foto: Werner Häußner

Die neue Ballettdirektorin am Theater Hagen, Marguerite Donlon. Foto: Werner Häußner

Es ist eine Choreografie, die 2009 bereits am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken Premiere hatte und anschließend bis 2012 auf Gastspielen in Europa und Asien höchst erfolgreich gezeigt wurde. Ein rundweg gelungenes Werk, denn die gebürtige Irin erliegt nicht der Versuchung, Kahlos Leben in hübschen Bildern nachzuerzählen. Sie versucht zu überwinden, wo die oberflächliche Rezeption hängenbleibt: bei der Pop-Künstlerin und dem feministischen Abziehbild.

Donlons Interesse richtet sich auf die multiple Persönlichkeit der mexikanischen Künstlerin: Drei Tänzerinnen – Noemi Emanuela Martone, Filipa Amorim, Sara Peña – stellen sie, immer wieder auch gleichzeitig, dar. Das Seelenleben zeigt sich in der ausgefeilten Bewegungschoreografie der Körper, das imaginäre, selbstgeschaffenes Gegenüber der Kahlo, aber auch ihre lebensbejahende Fröhlichkeit und ihre äußerlichen Rollen: Frida in der Badewanne, Frida als femme fatale, Frida voll Sehnsucht nach Liebe, Frida als verträumte Künstlerin und als bräutliche Hoheit, Frida mit blutig verletztem Schoß und zum Schluss Frida mit einer Maske, hinter der nur noch der Tod erscheint.

In diesem Spiel mit Camouflage und Entblößung, voll kraftvoller Symbolik, kommt die kreative Aneignung der Gemälde nicht zu kurz. „Die zwei Fridas“ von 1939 werden wörtlich zitiert, das „fliegende Bett“ (1932) hinterlässt seine Spuren, die bunte, ikonenhafte Umkränzung von „Der Rahmen“ (1938) oder auch „Diego und Frida“ (1944) dürften Pate für das Innere der imaginierten „Casa Azul“ gestanden haben. Faszinierend, wie Filipa Amorim im Kleid aus dem Gemälde „Die gebrochene Säule“ (1944) die versehrte, von ihrem Unfall gezeichneten Frau mit ihrem eigenen Körper repräsentiert. Die finale Szene erinnert an „Das Mädchen mit der Totenmaske“ von 1938. Aber die Gemälde sind nicht einfach nur zitiert, sondern in Zusammenhänge verwoben, die von Szene und Tanz entwickelt werden.

Drei Erscheinungsformen derselben Person: Noemi Emanuela Martone, Filipa Amorim und Sara Peña verkörpern Aspekte der Persönlichkeit Frida Kahlos. Foto: Oliver Look

Drei Erscheinungsformen derselben Person: Noemi Emanuela Martone, Filipa Amorim und Sara Peña verkörpern Aspekte der Persönlichkeit Frida Kahlos. Foto: Oliver Look

Das Bühnenbild von Ingo Bracke lässt die Hagener Compagnie in einem strengen, kühlen Raum agieren, den er beziehungsreich auch mit intensiven Farben fluten kann oder als Projektionsfläche für Videos und für Zitate aus den Tagebüchern nutzt. Im Vordergrund rieseln leise Kristalle über ein sanft glühendes Häuschen – die „Casa Azul“, das blaue Haus, in dem Frida Kahlo 1907 geboren wurde und 1954 starb. Das Haus, damals eine Oase des Rückzugs, heute als Museum ein Wallfahrtsort, steht noch einmal größer im Hintergrund der Bühne. Von Kahlos zweifachem Ehemann Diego Rivera aufgeklappt, offenbart es sich als Lebensschrein: Umrahmt von Symbolen aus ihren Gemälden, farbenfrohen Blumen, Bildern, Skulpturen, indigenen Symbolen, sitzt Frida vor einem Spiegel, in weißem, rot geblümtem Kleid und mit ihren von Selbstbildnissen bekannten hoch geflochtenen Haaren.

Hinter der Maske erscheint der Tod: Filippa Amorim ujd Darion Rigaglia in "Casa Azul" in Hagen. Foto: Oliver Look

Hinter der Maske erscheint der Tod: Filippa Amorim ujd Darion Rigaglia in „Casa Azul“ in Hagen. Foto: Oliver Look

Auf diese Weise verknüpfen Ingo Bracke und der Kostümbildner Markus Maas die Bildwelt der Künstlerin mit den Szenen auf der Bühne und mit autobiographischen Assoziationen aus den Gemälden. So vertiefen und deuten sie die psychischen Situationen, die sich im Tanz entfalten. Denn bei aller Bildverliebtheit bleibt Donlons primäres Ausdrucksmittel der Tanz, den sie mit ihren Tänzerinnen und Tänzern eindringlich, ohne akrobatisches Selbstzweck-Gehabe und in expressiver Körperlichkeit ausbreitet, vielfältig gespeist aus Elementen klassischen Balletts und spannungsreichen Ausdruckstanzes bis hin zu pantomimischen Ansätzen und naturalistischen Schauspiel-Skizzen.

Für die fröhlichen Rhythmen von Folklore, verbreiteten mexikanischen Tanzformen und populären Schlagern aus der Zeit Kahlos – teils in historischen Aufnahmen in die Arrangements von Claas Willeke eingearbeitet, teils aus dem Soundtrack des Films „Frida“ von 2002 – entwickelt Donlon auch einmal ein Ensemble ungestüm trivialer Tanzlust; aber die elektronischen Klangwelten, die schwermütigen Tangos und Canciones setzt sie oft in ruhige Gedanken-Figuren der Körper um. Ein Glücksgriff ist Luis Gonzalez, der nicht nur Kahlos zweifachen Ehemann, den Maler Diego Rivera darstellt, sondern live Gesang und Gitarrenmusik beiträgt, zum Teil unterstützt von Alexandre Démont, dessen Cajónes das rhythmische Spektrum reizvoll öffnen. Das Leben als Kunstwerk, Kampf und Lust spiegelt sich in dieser Musik, und Hagen hat einen Ballettabend, der den Besuch lohnt und wohl auch diejenigen überzeugen dürfte, die früheren Tanzhöhepunkten nachtrauern.

Weitere Vorstellungen: 17.11. (18 Uhr); 21.11. (19.30 Uhr); 27.12.2019 (19.30 Uhr); 18.1.2020 (19.30 Uhr); 29.1. (19.30 Uhr); 22.2. (19.30 Uhr); 29.3. (18 Uhr); 18.4. (19.30 Uhr). Karten: (02331) 207 32 18. www.theaterhagen.de




Die Sprache zeitgemäßen Musiktheaters: Hagen überzeugt mit Paul Hindemiths „Cardillac“

Thomas Berau in Paul Hindemiths "Cardillac" in Hagen in den Wolf Gutjahrs Bühne. Foto: Klaus Lefebvre

Thomas Berau als Paul Hindemiths „Cardillac“ in Wolf Gutjahrs Bühne. (Foto: Klaus Lefebvre)

Paul Hindemith hat in „Cardillac“ ein düsteres Kriminalstück aus den „Serapionsbrüdern“ E.T.A. Hoffmanns in bewusster Distanz zum romantischen Schauer und zum nachwagnerisch eklektischen Drama großer Gefühle in neubarock inspirierte musikalische Sachlichkeit gekleidet. Jochen Biganzoli setzt am Theater Hagen noch eins drauf und inszeniert die Oper von 1926 radikal abgekehrt vom Handlungsdrama als Statement zur Problematik von Kunst und Gesellschaft, von Künstler und Werk.

Mit diesem mutigen Saisonauftakt hat das in den letzten Wochen mit Anerkennung geradezu überschüttete Theater in Hagen zwar keinen Publikumserfolg gelandet – der Saal war in der Premiere erschütternd schütter besetzt –, sich aber in der Opernlandschaft Nordrhein-Westfalens (und darüber hinaus) erneut prominent positioniert.

Ähnlich wie in „Tristan und Isolde“ zum Abschluss der letzten Spielzeit schafft es das Team Biganzoli (Regie), Wolf Gutjahr (Bühne) und Katharina Weissenborn (Kostüme), eine Meta-Ebene aufzuschließen, auf der die Handlung weit weniger relevant ist als das Statement. Es geht weniger um das Erzählen einer Geschichte als um einen in sinnlichen Bildern zu fassenden Diskurs – und vielleicht auch um ein Psycho-Drama mit katastrophalem Ausgang.

Der Mensch, der nicht loslassen kann

Der Goldschmied Cardillac, der einzigartig kostbare Geschmeide schafft, aber alle ihre Käufer ermordet, damit er den Schmuck wieder zu sich holen kann, ist mehr als eine romantisch-dämonische Figur. Hindemith hat zwar aus der Hoffmann-Vorlage ein Künstlerdrama geschaffen, aber die Oper meint mehr: Der Mensch, der nicht loslassen kann, der die Identität von Schaffen und Geschaffenem nicht auflösen kann, der in einer radikalen Selbstbezogenheit die Außenwelt ausschließlich aus seiner Perspektive wahrnimmt. Während Gott als Schöpfer seine Schöpfung in die Freiheit entlässt – so jedenfalls die christliche Konzeption – ist Cardillac ein Gott imitierender Schöpfer, ein Künstler, der „eingewachsen dem Werk“ ist, „wie Gott, als er die Welt erschuf“.

Ein hermetischer Blick also, den Wolf Gutjahr in seiner Bühne widerspiegelt: Ein geschlossener Kasten, in von Szene zu Szene unterschiedlichen Farben ausgeleuchtet, darauf projiziert markante Sätze aus Kunstmanifesten, vom italienischen Futurismus (1909) über Walter Gropius‘ „Bauhaus-Manifest (1918) bis Wolf Vostell (1968).

Tod des verzerrten „Schöpfergottes“

Den Personen haben Hindemith und sein Librettist Ferdinand Lion keine Namen gegeben; sie sind Typen, aus der Sicht des Goldschmieds rein funktional definiert. „Die Tochter“ enthüllt Cardillacs völlig Abwesenheit von Empathie; am „Offizier“ wird deutlich, wie er selbst die Macht ignoriert: Sie ist angesichts des Kunst-Werkes unwesentlich, die Konsequenz einer Konfrontation mit ihr ist dem Goldschmied gleichgültig. Erst am Ende, angesichts der Masse, die den Mörder sucht, scheint in Cardillacs Bewusstsein etwas aufzuschimmern, das ihn die Diskrepanz von Innen und Außen ahnen lässt. Das ist zugleich sein Tod: Seine bisherige Existenz als verzerrter Schöpfergott ist unwiderruflich zu Ende. Die Projektionsflächen der Bühne fallen in sich zusammen. Es bleibt die vorher schon gestellte Frage, was „Kunst mit Wahrheit zu tun hat“. Und Hindemith setzt den reinsten Akkord des Werkes ans Ende.

Die "Dame" (Veronika Haller) und der "Kavalier" (Thomas Paul). Foto: Klaus Lefebvre

Die „Dame“ (Veronika Haller) und der „Kavalier“ (Thomas Paul). (Foto: Klaus Lefebvre)

Biganzoli entwickelt diesen abstrakt wirkenden Diskurs in sinnlichen, aber konsequent distanzierten Bildern und Tableaus. Die Kostüme Katharina Weissenborns unterstützen das Konzept, weil sie konkret gegenwärtig wirken, andererseits aber auch den Zug zum Zeitgenössischen überstilisiert auflösen: Die Dame etwa erscheint in schillerndem Gold und wird begleitet von einer kindlichen und einer greisenhaften Doppelgängerin; der Kavalier steckt in einem silbernen Overall.

Alles wirkt zeichenhaft

In der Führung der Personen vermeidet Biganzoli Naturalismus wie Psychologie. Alles wirkt zeichenhaft, reduziert auf Grundkonstellationen. Das Bauhaus lässt grüßen – und in der Tat hatte Paul Hindemith mit dieser bedeutenden Kunstbewegung der Zwischenkriegszeit, an die 2019 mit ganzjährigen Centenarfeiern und der Eröffnung des neuen Bauhausmuseums in Dessau erinnert wird, einiges zu tun: Die Komposition der – in Hagen gespielten – Erstfassung von „Cardillac“ fällt ins Jahr 1926, in dem auch das Dessauer Bauhaus-Gebäude fertiggestellt wurde; Hindemith arbeitete u .a. mit dem Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer, dem Leiter der „Bühnenwerkstatt“ zusammen, und sein Liederzyklus „Marienleben“ erklang erstmals bei der ersten Bauhaus-Ausstellung 1923 in Weimar.

Joseph Trafton und das in weiten Teilen präzise agierende Philharmonische Orchester Hagen nehmen die Idee Ferruccio Busonis zur Leitschnur der musikalischen Wiedergabe – jene Forderung nämlich, dass Musik nicht beschreibend sein solle, dass sie (in welcher Form auch immer sie auftrete) „ausschließlich Musik und nichts anderes“ bleibe. Wachsamkeit, schnelle Reaktion und musikalische Sicherheit zeigen, dass Trafton seine Musiker sicher durch die Strudel Hindemith’scher freitonaler Wagnisse geleitet. Ein Genuss zu verfolgen, wie sich das Hagener Orchester unter Trafton stetig weiterentwickelt.

Figuren mit deutlichen Konturen

Das Sängerensemble und der Chor Wolfgang Müller-Salows halten auf gleichem Niveau mit, sichern dem Werk eine gleichbleibend anspruchsvolle Wiedergabe. Veronika Haller als Dame und Angela Davis als Tochter lassen in intensivem Spiel und in stimmlicher Präsenz keine Wünsche offen. Milen Bozhkov und Thomas Paul als Offizier und Kavalier gewinnen nicht zuletzt durch präzise Artikulation und expressive Färbung der Töne ihren Figuren deutliche Konturen ab. Auch Ivo Stánchev (Goldhändler) und Kenneth Mattice (Führer der Prévoté) füllen ihre Partien anstandslos aus.

Für Thomas Berau, Gast vom Nationaltheater Mannheim, ist Cardillac eine Rolle, in der er alle Facetten seines versierten Baritons aufleuchten lassen kann. Er gibt diesem schöpferischen Dämon die Züge eines Regisseurs, lässt ihn den Chor dirigieren und zum Mikro greifen. Wenn am Ende der Offizier Cardillac zum „Helden“ erhebt und als „Opfer eines heiligen Wahns“ entschuldigt, wenn dieser vorher noch seine Morde als belanglos erklärt („Nichts gilt hinwehendes Leben“), wird die ganze Ambivalenz dieser Figur deutlich, die Jochen Biganzoli ins Bild setzt, wenn Cardillac halb wie ein Opfer, halb wie ein christusförmiger Erlöser am Kreuz über den Köpfen des Chores schwebt: der faszinierende Verbrecher, der durch sein Genie aller Moralität enthobene Künstler, der protofaschistisch verehrte große Mann – und dahinter erhebt sich die Frage: „Wozu Kunst“?

Hagen hat mit dieser Produktion wieder ein Zeichen gesetzt: Das ist die Sprache und das ist das Repertoire eines anspruchsvollen, zeitgemäßen Musiktheaters.

Vorstellungen am 10. November (15 Uhr), 13. November, 10., 16. und 26. Januar 2020. Karten Tel.: (02331) 207 3218. Info: www.theaterhagen.de




Weltstädte, Technik und Jazz als Triebkräfte – die energetische Bildwelt des K. R. H. Sonderborg

K. R. H. Sonderborg: „12.4.66, 16h31-17h12", 1966. Eitempera auf Fotokarton über Leinwand. Leihgabe Osthaus Museum, Hagen (© Galerie Maulberger, 2019)

K. R. H. Sonderborg: „12.4.66, 16h31-17h12″, 1966. Eitempera auf Fotokarton über Leinwand. Leihgabe aus dem benachbarten Osthaus Museum, Hagen. (© Galerie Maulberger, 2019)

Als junger Mann vom Jahrgang 1923 lebte Kurt Rudolf Hoffmann, dem von Geburt an der rechte Arm fehlte, im Hamburg der NS-Zeit bewusst als Außenseiter. Statt in der Hitlerjugend mitzumachen, pflegte er im ganzen Auftreten einen britischen Stil. Der Sohn eines Bigband-Posaunisten (im damals sehr renommierten Telefunken-Swingorchester) hörte vorzugsweise Jazzmusik und galt daher als sogenannter „Swing Boy“.

Jemand, der so eigensinnig war, stand damals unter Beobachtung. 1941 holte ihn die Gestapo ab und inhaftierte ihn vier Monate lang im Konzentrationslager Fuhlsbüttel. So war es nur konsequent, dass er sich nach Kriegsende von deutscher Herkunft distanzierte, seinen eigentlichen Namen auf die Initialen K. R. H. zurückstutzte und statt dessen seinen dänischen Geburtsort Sonderborg hervorhob.

Bildnis des (späteren) Künstlers als junger Mann: K. R. H. Sonderborg als 17-Jähriger in Hamburg, An der Alster bei „Tante Loh", 1940/41. (in: K. R. H. Sonderborg, Arbeiten auf Papier, schwarz/weiß, Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart 1985/85, Seite 13)

Bildnis des (späteren) Künstlers als junger Mann: K. R. H. Sonderborg als 17-Jähriger in Hamburg, An der Alster bei „Tante Loh“, 1940/41. (aus: K. R. H. Sonderborg, Arbeiten auf Papier, schwarz/weiß, Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart 1985/86, Seite 13)

Unterschiede zu Emil Schumacher

Als K. R. H. Sonderborg also wurde er seit den 1950er Jahren mit informeller Malerei bekannt. Er gehörte damit im Grunde der gleichen oder zumindest verwandten Stilrichtung an wie der Hagener Emil Schumacher. Eine Sonderborg-Schau im Emil Schumacher-Museum zu Hagen (ESMH) erscheint mithin folgerichtig. Doch wie verschieden waren die beiden!

Nun gut, sie malten abstrakt und gestisch, ihre Werke setzen jeweils ungeahnte Energien frei. Doch der 1912 geborene Schumacher musste sich zunächst mühsam von Vorkriegs-Einflüssen befreien, während der über zehn Jahre jüngere Sonderborg sich gegen Ende der 1940er Jahre gleich aufs Abenteuer der Abstraktion einlassen konnte.

Der Unterschied zeigte sich auch im malerischen Duktus. Schumachers in die dritte Dimension geschichtete, durchgrabene, zumeist pastose Bilder tragen die Spuren und gleichsam die Wundmale eines unablässigen Ringens mit dem Material. Sonderborgs flächige Darstellungen wirken hingegen weniger erkämpft, sie sind sozusagen „selbstverständlicher“ vorhanden. Was beiderseits noch gar nichts über die Qualität besagen muss.

Überdies hatte Schumacher stets eigene, recht geräumige Ateliers, während Sonderborg ruhelos unterwegs war, vielfach in Hotelzimmern arbeitete und daher schon aus praktischen Gründen kleinere Bildformate vorzog. Auch das ist keine reine Äußerlichkeit, sondern hat Folgen für die Kunstausübung.

Im legendären Chelsea Hotel

Für die jetzige Ausstellung mit dem etwas lauen Allerwelts-Titel „Bilder von Zeit und Raum“ hat ESMH-Leiter Rouven Lotz einige prägnante Arbeiten versammeln können. Somit lassen sich gewisse Grundlinien des Oeuvres ziemlich gut verfolgen. Es ist seit über 15 Jahren die erste umfangreichere Auseinandersetzung mit Sonderborg.

K. R. H. Sonderborg im Jahr 1987 (© Foto: Manfred Hamm)

K. R. H. Sonderborg im Jahr 1987 (© Foto: Manfred Hamm)

Der über längere Zeitstrecken umtriebig in Weltstädten lebende und deren Eigenarten geradezu inhalierende Sonderborg (über Jahre hinweg im Winter New York, im Sommer Paris, später in Chicago) logierte in den 1960ern im legendären New Yorker Chelsea Hotel, das durch viele Pop-Größen wie Bob Dylan, Nico, Leonard Cohen und Janis Joplin berühmt wurde. Sonderborg war dort Nachbar und Freund zweier Heroen der Pop Art, Claes Oldenburg und James Rosenquist. Er selbst hat später nur episodische Ausflüge in Gefilde der Pop Art unternommen, beispielsweise im bleiernen deutschen RAF-Herbst 1977 mit dem hyperrealistischen Bild einer Maschinenpistole, das in Hagen zu sehen ist. Sarkastischer Titel: „Peacemaker“. Doch vermutlich war es Sonderborg sogar hierbei vornehmlich ums Bildliche und nicht so sehr ums Politische zu tun.

Immer freiere Bildauffassung

Ansonsten aber waltet allemal die Abstraktion. Um 1948 kann man noch eine Orientierung an Paul Klee vermuten. Auch bezieht sich ein frühes Bild von 1950 zwar noch deutlich auf Kran- und Stahl-Strukturen im häufig aufgesuchten Hamburger Hafen, doch derlei Lineaturen verselbständigen sich zusehends.

Während anfangs noch Hintergründe als eine Art perspektivischer Halt im Bildgeviert auszumachen sind, lebt sich alsbald die malerische Energie im gänzlich freien Bildraum aus. Kalligraphische Studien und ab 1953 der intensive Kontakt zur Künstlergruppe ZEN (u. a. Rupprecht Geiger, Willi Baumeister) dürften das geistige „Loslassen“ im Sinne der Zen-Philosophie begünstigt und zu jener freieren Bildauffassung beigetragen haben.

K. R. H. Sonderborg: „3. VII. 58, 16.11-17.23 h, 1958. Eitempera auf Fotopapier, auf Leinwand aufgezogen. Sammlung Grässlin, St. Georgen (© Galerie Maulberger, 2019)

K. R. H. Sonderborg: „3. VII. 58, 16.11-17.23 h, 1958. Eitempera auf Fotopapier, auf Leinwand aufgezogen. Sammlung Grässlin, St. Georgen (© Galerie Maulberger, 2019)

Sonderborg (1923-2008) muss in seinen besten Jahren recht lebenshungrig gewesen sein, er mochte nicht viel Zeit verlieren, oft nicht einmal fürs Malen. Nicht selten hat er seinen Arbeiten als Titel lediglich Tagesdaten und Uhrzeiten zwischen Beginn und Vollendung des Malprozesses gegeben, beispielsweise so: „3. VII. 58, 16.11-17.23 h“. Fertig in gerade mal 72 Minuten. Viele andere Künstler tun sich da ungleich schwerer.

Eine bevorzugte Arbeitsweise Sonderborgs war denn auch die Verwendung schnell trocknender Eitempera-Farben auf Fotokarton. Diese Materialien kamen der spontanen gestischen Aktion entgegen, die mitunter ungeheure Energien erzeugte, welche dann auch den Bildern einbeschrieben sind.

Die bleibende Liebe zum Jazz

Die seit jeher gehegte Liebe zum Jazz ging K. R. H. Sonderborg naturgemäß auch in den USA nicht verloren. In New Yorker Jazzkellern erlebte er mitreißende Konzerte von Thelonious Monk oder Charles Mingus. Wenn er malte, liefen häufig Platten von Ornette Coleman, Charly Parker und Miles Davis – „dieser ganze City Sound“, wie er es nannte. In bestimmten Bilderreihen sind Anklänge an Notenschriften und Partituren unverkennbar. Sie werden zu bildnerischen Zeichenfolgen ohne unmittelbaren Realitätsbezug, wenn auch in ungefährer Analogie zu musikalischen Schöpfungen.

Fotovorlage mit abgelegtem Rucksack: Foto vom 11. Dezember 1990, Schloss Solitude, Stuttgart (aus: K. R. H. Sonderborg, Manfred de la Motte/Georg Nothelfer, Berlin 1991)

Fotovorlage mit abgelegtem Rucksack: Foto vom 11. Dezember 1990, Schloss Solitude, Stuttgart (aus: K. R. H. Sonderborg, Manfred de la Motte/Georg Nothelfer, Berlin 1991)

Doch nicht nur Musik hat ihn inspiriert, sondern – siehe schon die Frühzeit mit dem Hamburger Hafenbild – vielfach auch technische Strukturen, zumal mit Energie geladene, so etwa Stromspulen, elektrische Leitungen, Hochspannungsmasten, Wassertürme auf Hochhäusern in New York und Chicago. Eher eine bildräumliche Rarität sind zwischendurch jene dynamisch schwingenden Saloon-Flügeltüren auf einzelnen Bildern. Sie eröffnen eine imaginäre Tiefendimension.

Was aus einem Rucksack wurde

Die vielleicht verblüffendste Malvorlage des mehrfachen Biennale- und documenta-Teilnehmers ist ein Foto, das Sonderborg selbst aufgenommen hat. Es zeigt einen Rucksack, der anscheinend (oder nur scheinbar?) achtlos in einer Fensternische des Stuttgarter Schlosses Solitude abgestellt worden war. Doch man schaue, was daraus auf Büttenpapier geworden ist! Dem Gegenstand ward ungeahntes, geisterhaftes Leben eingehaucht.

Künstlerischer Ertrag des Rucksack-Fotos: K. R. H. Sonderborg, Ohne Titel, Schloss Solitude, 1991, Tusche auf Bütten (© Galerie Geeorg Nothelfer)

Künstlerischer Ertrag des Rucksack-Fotos: K. R. H. Sonderborg, Ohne Titel, Schloss Solitude, 1991, Tusche auf Bütten (© Galerie Georg Nothelfer)

Das malerische Gesamtwerk Sonderborgs, so auch diese Ausstellung, setzt sich im Wesentlichen aus kraftvollen Schwarz- und Weiß-Tönungen zusammen. Allenfalls kommt akzentuierendes Rot hinzu. Das war’s. Ob das in der Summe auch schon mal eintönig werden kann? Berechtigte Frage. In Hagen darf man sich zuallermeist vom Gegenteil überzeugen lassen.

K. R. H. Sonderborg – Bilder von Zeit und Raum. Emil Schumacher Museum,  Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Di-So 12-18 Uhr. Katalog (Kettler Verlag, Dortmund) in der Ausstellung 29,90 Euro, im Buchhandel 34,90 Euro. Tel.: 02331 / 207 31 38. www.esmh.de




Der Zeit voraus in allen Wissenschaften – Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci

Von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv" (um 1490). (Galleria dell'Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Auch so ein berühmtes Bild, von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv“ (um 1490). (Galleria dell’Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Eigentlich muss man das nicht klarstellen, doch sei’s drum: Tayfun Belgin, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, hält also spaßeshalber fest, dass in seinem Haus weder die „Mona Lisa“ noch die „Anna selbdritt“ oder „Das Abendmahl“ zu sehen sind, obwohl die neue Ausstellung doch von Leonardo da Vinci handelt.

Na, sicher: Solche weltberühmten Bilder könnte man nimmermehr ausleihen, auch wenn man weder Mühen noch Kosten scheut. Außerdem ist die Malerei gar nicht Leonardos Hauptbeschäftigung gewesen, heute werden ihm lediglich rund 20 Gemälde zugeschrieben. Den Großteil seiner Zeit auf Erden (1452-1519) hat er mit teilweise visionären Erkundungen und Erfindungen zugebracht, die ihrer Zeit sehr weit voraus waren. Genau damit befasst sich die Schau – anhand von 119 handkolorierten Faksimile-Skizzen und von 25 Modellnachbauten, die recht exakt Leonardos Entwürfen folgen.

Das Ausstellung-Konvolut stammt vom Tübinger „Institut für Kulturaustausch“ (Leitung: Maximilian Letze). Anlass des Hagener Gastspiels der Wanderschau ist der 500. Todestag Leonardos. Der Aufbau der Ausstellung wirkt nur auf den ersten Blick womöglich etwas dröge. Sobald man sich aufs Thema einlässt, entsteht ein Sog.

Nach einer Leonardo-Skizze von 1495 gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Nach einer Leonardo-Skizze gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Der 1485 skizzierte Fallschirm funktioniert tatsächlich

Und siehe da: Die allermeisten Ideen des Universalgenies funktionieren tatsächlich, sie sind staunenswert ausführbar; so etwa auch ein Fallschirm, der einen sicher zu Erde bringt. Der Fallschirmspringer Adrian Nicholas hat es anno 2000 am eigenen Leibe ausprobiert, die Ideenskizze stammt von 1485!

Leonardo hat sich seinerzeit auch Gedanken über einen Hubschrauber-Vorläufer und eine Art Flugdrachen gemacht. Wahrlich, das waren Gedankenflüge sondergleichen, wenn auch die beiden zuletzt genannten Apparaturen sich zu Leonardos Zeit noch nicht dauerhaft in die Lüfte erhoben haben. Immerhin wandelte das Genie auch hierbei auf den richtigen Wegen. Unter anderem hatte Leonardo dafür intensive Studien zum Vogelflug absolviert. Pendant im anderen Element: Bevor er sich mit Schiffen befasste, widmete er sich genauesten Untersuchungen zur Wasserströmung.

Hin und her zwischen vielen Projekten

Die Ausstellung ist zwar thematisch recht säuberlich gegliedert, doch das täuscht über die wohl ziemlich chaotische, demiurgische Arbeitsweise Leonardos hinweg, der stets an einigen Projekten zugleich arbeitete, gar vieles ergriff und zwischendurch manches beiseite legte. Es ist ja überhaupt kaum zu glauben, über welche verschiedenen Gegenstände Leonardo da Vinci fundiert nachgedacht und dabei immer wieder geistiges und technisches Neuland entdeckt hat. In der Anatomie machte er ebenso bahnbrechende Fortschritte wie im Schiffs-, Brücken- und Kanalbau. Eine weit geschwungene Brücke, die im heutigen Istanbul von Europa nach Asien führen sollte, ist freilich nie gebaut worden, sie erschien dem Sultan gar zu visionär und wohl auch zu kostspielig. Sie war übrigens so konstruiert, dass sie Erdbeben überstanden hätte.

Leonardo zeichnete sich zudem als ebenso ebenso kühner wie umsichtiger Stadtplaner aus, u. a. für Mailand, wo er ein Kanalsystem ersonnen hat, das die gar zu eng gebaute Metropole hätte entlasten sollen. Auch Müllabfuhr und Gesundheitsvorsorge gehörten zum weitsichtigen Planungsumfang. Doch er kam mit seinen vielfältigen Ideen nicht zum Zuge.

Auch die Arterien-Verkalkung entdeckt

Müßig zu erwähnen, dass Leonardo auch als Architekt und Ingenieur Maßstäbe setzte. Die damals noch nicht so exakte Zeitmessung (mit Sonnen- und Sanduhren) reizte Leonardo zur Konstruktion ausgefeilter Uhrmechanik. Sein geradezu besessener, offenbar nie ermüdender Wissensdurst trieb ihn auch zu anatomischen Studien, die etwa zur ersten Entdeckung der Arterien-Verkalkung führten, also auch die Medizin voranbrachten. Seine Zeichnungen vom menschlichen Körper und dessen Innenleben sind von bis dahin unerreichter Präzision. Gruselige Kehrseite: Er sezierte dafür gelegentlich auch die Leichen vormaliger Strafgefangener.

Modellnachbau eines „Automobils" mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Modellnachbau eines „Automobils“ mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Für Leonardo bestand kein grundlegender Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, eins geht ersichtlich ins andere über. Erfindungen werden nicht zuletzt in ästhetischer Weise erwogen, geglückte Funktion erfüllt sich sozusagen auch im Anblick. Wenn er etwas Vorgefundenes aus der Natur zergliederte, diente dies auch der Verbesserung im Malerischen.

Ebenfalls keinen prinzipiellen Unterschied sah Leonardo zwischen Mensch und Maschine. Aufs „Funktionieren“ kam es beiderseits an. Wer weiß: Mit solchen Gedanken stünde er heute vielleicht an der Spitze einer Bewegung, die mit Nachdruck Künstliche Intelligenz erforscht und Mensch-Maschinen-Konstrukte in allerlei Abstufungen für denkbar oder gar für wünschenswert hält.

Eine Frühlingsgöttin auf dem „Automobil“

Die Modelle aus Holz und Metall, die auf der Basis von Leonardos Skizzen entstanden sind, kann man zum Teil selbst erproben, beispielsweise auch den Nachbau eines frühen „Automobils“, dessen Original sich per Federspannung (gespeicherte Kraft) immerhin rund 30 Meter weit selbsttätig fortbewegen konnte. Mit großem Pomp hatte das von den Medici in Auftrag gegebene Fahrzeug seine öffentliche Premiere, spektakulär beladen mit einer „Frühlingsgöttin“. Jammerschade, dass es davon keine Filmaufzeichnung gibt. Die entsprechende Erfindung (oder wenigstens Vorarbeiten dazu) hätte man Leonardo beinahe auch noch zutrauen dürfen. Nun gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Generell nahmen übrigens die Zeitgenossen manche seiner Erfindungen nicht ernst, weil sie die Tragweite nicht erkannt haben.

Je elf Läufe in drei Lagen: Modell eines Orgelgeschützes nach einer Skizze (1482) Leonardo da Vincis. (Foto: Bernd Berke)

Ein zwiespältiges Kapitel sind Leonardos Forschungen für militärische Zwecke. Obwohl im Herzen wohl eher Pazifist, erfand er beispielsweise martialische Belagerungsmaschinen oder einen fürchterlichen Sichelwagen, der durch die Reihen feindlicher Kämpfer rasen und sie massenhaft niedermähen sollte wie Gras oder Getreide. Allerdings hätten sich auch die Zugpferde schwer verletzt.

Furchtbar raffinierte Militärtechnik

Ein schon neuzeitlich anmutendes Orgelgeschütz konnte aus vielen Rohren zugleich feuern, die Geschützbatterien sollten sich durch Drehung rasch auswechseln lassen. Sogar ein trutziger Panzer, ebenfalls rundum mit Geschützen ausgestattet, zählte zu Leonardos Ideen-Arsenal. Derlei Kriegsgerätschaften beeindruckten so manchen italienischen Fürsten, der in jenen unruhigen Zeiten im Hader mit anderen lag. Auf lukrative fürstliche Aufträge war Leonardo angewiesen.

Die Skizzen sind oftmals dermaßen kleinteilig ausgeführt, dass man als Laie zumindest sehr lange hinschauen muss, um daraus halbwegs schlau zu werden – von der winzigen Beschriftung ganz zu schweigen. Verständnishilfe gibt’s an sechs Multimedia-Stationen, wo man mit mehr als 8000 Bildern etliche Einzelheiten über Leonardo und seine Zeit aufrufen kann. Mit einem allzu kurzen Aufenthalt im Museum sollte es also nicht getan sein. Erst recht nicht, wenn man am Schluss noch ein paar heutige Patente aus Hagen und Südwestfalen in Augenschein nehmen will. Erfindergeist regt sich noch, wenn auch nicht mehr im Sinne von Originalgenies.

Im Verlauf des Rundgang fragt man sich, woran ein Leonardo wohl heute arbeiten würde. Ob er sich mit Klimafragen beschäftigen würde? Oder mit etwas ganz anderem, was uns Heutigen noch gar nicht in den Horizont gerückt ist? Genügend Nahrung für Phantasie.

Leonardo da Vinci – Erfinder und Wissenschaftler. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 15. September 2019 bis 12. Januar 2020, geöffnet Di-So 12-18 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Katalogbuch erhältlich. Tel.: 02331 / 207 3138. www.osthausmuseum.de

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Direkt nebenan, im selben Kunstquartier, zeigt das Emil Schumacher Museum vom 15. September 2019 bis zum 9. Februar 2020 eine Sonderausstellung mit abstrakten Bildern von K. R. H. Sonderborg. Darauf werden wir in den nächsten Tagen zurückkommen. Infos: www.esmh.de

 

 

 




Mörderischer Goldschmied, getarnter Zar: Theater Hagen stellt Programm für die Spielzeit 2019/20 vor

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

192 Seiten, vollgepackt mit Programm: Ironisch signalisiert das Theater Hagen mit dem Reclam-Heft-Format seiner Spielzeit-Übersicht 2019/20 wieder Sparsamkeit. Inhaltlich allerdings fächert es den ganzen Reichtum auf, den das in den letzten Jahren arg gebeutelte Haus mit dem Team um Intendant Francis Hüsers aus seinem 18-Millionen-Etat zaubert. Eine bunte Vielfalt tut sich auf, die gleichwohl einige durchgehende Linien sichtbar werden lässt, die sich in den nächsten Jahren in den Spielplänen abzeichnen sollen.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das "Datenheft" des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das „Datenheft“ des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Im Musiktheater schreitet Hüsers vom Schwerpunkt der Romantik in der laufenden Spielzeit weiter in Richtung des Beginns der Moderne: Die Spielzeit eröffnet am 21. September 2019 Paul Hindemiths „Cardillac“, basierend auf dem romantischen Stoff des „Fräuleins von Scuderi“ E.T.A. Hoffmanns, komponiert aber in bewusster Abkehr von romantischer Einfühlung, in einem betont objektivierenden, „neusachlichen“ Stil. Der Stil der Oper, auch als „Bauhausbarock“ bezeichnet, passt zum 100-Jahre-Jubiläum des Bauhauses, das auch in Hagen gefeiert wird.

Den zweiten Schritt in die Moderne signalisiert Richard Strauss‘ „Salome“ ab 4. April 2020, inszeniert von Magdalena Fuchsberger, die in dieser Spielzeit mit Verdis „Simon Boccanegra“ als ambitioniertes Kopftheater für kontroverse Kritiken sorgte. Die Hindemith-Oper ist Jochen Biganzoli anvertraut, der momentan mit seiner Inszenierung von „Tristan und Isolde“ dem Theater Hagen überregionale Aufmerksamkeit sichert.

Mit dem Beginn der Moderne könnte man auch Franz Lehárs „Der Graf von Luxemburg“ verbinden – eine Operette, die wie die „Lustige Witwe“ ironisch mit der Auflösung scheinbar althergebrachter gesellschaftlicher Strukturen und Werte spielt. Roland Hüve inszeniert den Erfolg von 1909, der am 26. Oktober Premiere hat. Als Kontrapunkt zur Operette „Pariser Leben“ in dieser Spielzeit und als Abschluss des Offenbach-Jahres kommt „Hoffmanns Erzählungen“ auf die Hagener Bühne. Susanne Knapp inszeniert die Reminiszenz an die Romantik, die in der Zerrissenheit ihres Helden auch in die Moderne vorausweist; Premiere ist am 30. November. Auch das Ende der Spielzeit im Sommer 2020 hat mit der Moderne zu tun: In Jerry Bocks „Anatevka“ geht auch eine alte Welt unter, die viel mit nostalgischen Träumen zu tun hat, und muss der neuzeitlichen Brutalität organisierter Pogrome weichen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Eine andere Linie, die in dieser Spielzeit mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ (Premiere am 18. Mai) bedient wird, führt Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ am 29. Februar 2020 weiter. Kerstin Steeb übernimmt die Aufgabe, in ihrer Inszenierung die Inhalte freizulegen, die eine Oper an der Schwelle der Aufklärung mit unserer Zeit verbindet. Um einen aufgeklärten Herrscher geht es auch in „Zar und Zimmermann“, mit dem am 1. Februar 2020 endlich wieder einmal eine Oper Albert Lortzings in der Rhein-Ruhr-Region zu sehen ist. Denn Zar Peter der Große schleicht sich inkognito in eine niederländische Hafenstadt ein und mischt die kleinbürgerliche Gesellschaft ordentlich auf – alles natürlich versteckt unter harmlosem Gedöns, um die damalige Zensur nicht aufmerksam zu machen.

Neue Ballettdirektorin choreografiert zwei Abende

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Mit Marguerite Donlon tritt in Hagen eine neue Ballettdirektorin ihre Aufgabe an und stellt sich am 5. Oktober mit einem Abend um eine starke Frau vor: „Casa Azul“ nennt die gebürtige Irin Donlon ihren Einstand den sie der mexikanischen Malerin mit deutschen Wurzeln Frida Kahlo widmet – einer Künstlerin, die lange als „exotische Blume am Knopfloch des großen Meisters Diego Rivera“ galt und erst in den Siebziger Jahren im Zuge der Frauenbewegung in ihrer wirklichen Bedeutung erfasst wurde.

Eine weitere Choreografie, die Donlon bereits 2009 in ihrer Zeit als Ballettdirektorin in Saarbrücken entwickelt hatte, bildet den Abschluss der Hagener Ballettabend-Trias: „Schwanensee – Aufgetaucht“ in einer Kombination der Musik Tschaikowskys mit elektronischen Sounds von Sam Auinger und Claas Willeke (Premiere am 9. Mai 2020). Dazwischen, am 13. Februar, zeigen die Tänzer*innen (das Heft ist konsequent mit Sternchen durchgegendert) der Compagnie in kurzen Szenen einer „kreativen Werkstatt“ ihr choreografisches Können. „Substanz“ heißt dieser Abend.

Rock-Shows und sinfonische Neugier

Im Schauspiel setzt das Haus neben einer eigenen Produktion – Shakespeares „Sommernachtstraum“ in der Regie von Francis Hüsers – auf Gastspiele. Im Programm finden sich auch die bewährten Kabrett-Abende sowie als Wiederaufnahme die erfolgreiche Rock-Show „Take a Walk on the Wild Side“, fortgesetzt durch die Neuproduktion „Wenn die Nacht am tiefsten (… ist der Tag am nächsten)“ am 14. März 2020, eine Bühnen-Party, in der nach den amerikanischen Titeln nun deutscher Rock und Punk zu seinem Recht kommt – von den Toten Hosen bis Nena.

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Der Blick ins orangefarbene Heft zeigt auch, dass GMD Joseph Trafton mit dem Orchester Hagen ein Programm auflegt, das so gar nichts von verstaubter Abonnenten-Bedienung an sich hat, sondern pfiffig und vielseitig Neugier weckt: Ob eine von Bauhaus-Künstler Wassily Kandinskys Bühnenentwürfen inspirierte Video-Show von Arthur Spirk zu Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“, ein russisches Programm mit dem von Steven Isserlis gespielten Cellokonzert Nr. 2 von Dmitri Kabalewsky oder Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“, ergänzt von „Blue Cathedral“, einem von bisher über 400 Orchestern gespielten Klangpoem der Amerikanerin Jennifer Higdon aus dem Jahr 2000. Orchesterdirektorin Antje Haury bestätigt die Beobachtung: Im sinfonischen Repertoire stehen diesmal viel mehr Werke von Frauen als sonst üblich: Neben dem Klavierkonzert der Jahres-Jubilarin Clara Schumann, gespielt am 19. Mai 2020 von Alexander Krichel, enthalten die Programme Werke von Lili Boulanger, Fanny Hensel-Mendelssohn und Kaija Saariaho.

Das abwechslungsreiche Programm des Kinder- und Jugendtheaters im Lutz, zwei große Vermittlungsprojekte gemeinsam mit dem Orchester, die Gründung einer neuen Jugendtanzgruppe und einer Orchesterakademie zeigen: Das Theater Hagen geht gut aufgestellt in die neue Spielzeit und wirkt mit seinen großen, ambitionierten Produktionen, aber auch mit seinen kleinen ehrgeizigen Projekten hinein in die Stadtgesellschaft.

Info: www.theaterhagen.de




Was von den Orgien übrig blieb: Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch im Hagener Osthaus Museum

Quasi-sakraler Raum in Hagen: vorwiegend blutrote und pechschwarze Großformate mit rituellem Tragegestell als „Altar" in der Mitte. (Foto: Bernd Berke)

Quasi-sakraler Raum in Hagen: vorwiegend blutrote und pechschwarze Großformate mit rituellem Tragegestell als „Altar“ in der Mitte. (Foto: Bernd Berke)

Der Mann hat längst seinen Ruf weg. Den weniger aufgeschlossenen Zeitgenossen galt und gilt er als blutrünstiger Berserker der Kunst, seit er 1962 seine erste Aktion vollzog.

Der Österreicher Hermann Nitsch wurde berühmt-berüchtigt mit den Riten seines oft tagelang ausufernden „Orgien-Mysterien-Theaters“, bei dem vorzugsweise Unmengen von Tierblut über nackte Menschenkörper flossen, etliche Helfer*innen in animalischen Innereien wühlten, intensiv sudelten oder Kreuzigungen simulierten. Im Hagener Osthaus Museum kann man nun einige Relikte dieses Tuns betrachten und Nitschs selbst komponierte Musik dazu hören. Auch Gerüche fehlen nicht beim angestrebten Gesamtkunstwerk.

Sprengwirkung im reaktionären Österreich

Ein äußerer Anlass ist der heuer (natürlich mit einer Aktion) begangene 80. Geburtstag des Zeremonienmeisters, der stets zahlreiche Jüngerinnen und Jünger um sich versammelte, die zu manchem Treiben staunenswert bereit waren. Drei Filme in der Hagener Ausstellung zeugen ausgiebig davon. Man mag da an einen Guru mitsamt seiner Sekte denken und wird wohl nicht vollkommen falsch liegen. Überdies könnte man sich fragen, ob Besucher nicht wenigstens ein gewisses Alter erreicht haben sollten, um derlei Filme zu sehen. Man nenne mich konservativ, aber: So richtig kinderfrei scheint mir diese Ausstellung nicht in all ihren Teilen zu sein.

Der zuweilen überaus tolerante Kunstbetrieb freilich findet dergleichen heute – nicht zuletzt angesichts realer Brutalität – nahezu harmlos und feiert den Klassiker des „Wiener Aktionismus“ als einen Bahnbrecher, der seinerzeit im vielfach reaktionären Österreich befreiende Sprengkraft entfaltet habe.

Fotowände dokumentieren Momente aus Nitsch-Aktionen. (© Originalbilder: Atelier Hermann Nitsch, Fotos von Archiv Cibulka-Frey, Fondazione Morra/Ernesto Mastrascusa, Martin Kitzler - Foto der Bilderwand: Bernd Berke)

Fotowände dokumentieren Momente aus Nitsch-Aktionen. (© Originalbilder: Atelier Hermann Nitsch, Fotos von Archiv Cibulka-Frey, Fondazione Morra/Ernesto Mastrascusa, Martin Kitzler – Foto der Bilderwand: Bernd Berke)

Sein Nachname ist jedenfalls zum Markenzeichen geronnen. Es genügt, einfach nur „Nitsch“ zu sagen. So lakonisch prangt es ja auch auf den ebenfalls präsentierten Weinetiketten aus den Gütern seines eigenen Schloss-Anwesens zu Prinzendorf in Niederösterreich. Befragt, ob er nebst Blut auch Rotwein für seine Bilder verwende, deutet er auf seinen Mund: „Nein, der kommt eher hier hinein.“ Wein ergebe ja auch keine kraftvolle Färbung auf Leinwänden. Er muss es wissen.

Fußspuren auf blutroten Leinwänden

Was aber bleibt? Was ist zu sehen? Ein imposanter Raum in Hagen versammelt, dicht an dicht gehängt und schier auf Überwältigung angelegt, vorwiegend blutrote Großformate noch und noch. Nicht alles ist veritables getrocknetes Blut, dies und das aber eben doch – ganz ohne Koketterie, wie es denn ohnehin reichlich ernst und feierlich zugeht. Prosaischer mutet dies an: Auf einigen Leinwänden finden sich noch Fußspuren, die im Laufe von Aktionen entstanden sind.

Hermann NItsch und Ko-Kuratorin Julia Möbus in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hermann Nitsch und Ko-Kuratorin Julia Möbus in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Inmitten dieser drangvoll gewaltigen Bilder-Ansammlung erhebt sich ein Gestell, das sich als Trage für rituelle Zeremonien erweist. Man denkt allerdings unwillkürlich an eine Richtstätte, auf der Ungeheuerliches geschehen könnte. Eine Art Messgewand (häufiges Motiv in Nitschs Oeuvre) verweist auf mögliche Opfergaben, ferner auf die Passionsgeschichte, auf die mysteriöse Wandlung von Brot und Wein in der christlichen Liturgie, die denn überhaupt eine kaum je versiegende Hauptquelle der Inspiration ist, sich jedoch auch ins „Heidnische“ oder gar zu Schwarzen Messen hinwenden kann.

Erste Konzepte zu dermaßen entgrenzter Performance und Body Art hat Nitsch bereits um 1957/58 ersonnen, als er 19 Jahre alt war und noch im Bann des Informel gestanden hat. Es scheint so, als habe sich sein Werk hernach nicht allmählich entwickelt, sondern als sei es zu Eruptionen gekommen. Mit den Formen von Fluxus und Happening wurde die Zeit zunehmend reif für seine Aktionen, die auf Basis von ausgeklügelten „Partituren“ ins Werk gesetzt wurden.

Das einzelne Bild zählt nur als Teil des Ganzen

Kein Bild in dieser Schau trägt einen Titel. Nitsch hält dafür, dass man seine Bilder nicht einzeln würdigen solle, sondern gleichsam als Gesamtereignis. Es steht zu vermuten, dass ein solch genereller Zugang sie eventuell auch der „kleinlichen“ Kritik entheben kann. Tatsächlich finden sich bemerkenswerte ästhetische Valeurs in so manchen Bildern. Sind sie quasi nebenher „unterlaufen“ oder sind es gesetzte Zeichen? Kann man, um weiterhin ketzerisch zu fragen, die gleich nebenan (just im benachbarten Emil Schumacher Museum) befindlichen Schöpfungen des Informel-Meisters auch nur irgend mit Nitschs Hevorbringungen vergleichen? Oder waltet da eine ganz andere Kraft?

Detail aus einem „Blut-Bild" von Hermann Nitsch. (Foto: Bernd Berke)

Detail aus einem „Blut-Bild“ von Hermann Nitsch. (Foto: Bernd Berke)

Vitrinen mit alten Zeitungsausschnitten belegen, wie sehr Nitsch (ebenso wie artverwandte Aktionisten, etwa Otto Mühl oder Rudolf Schwarzkogler) ehedem für seine Kunstorgien angefeindet worden ist – beispielsweise auch vom Musiker Yehudi Menuhin (Vorwurf gegen Nitsch: „Gewalt um der Gewalt willen“) oder von der notorischen Tierschützerin Brigitte Bardot, zuvörderst aber von der populistischen österreichischen Presse à la „Kronenzeitung“.

Fast nur tote Tiere verwendet

In Hagen beteuert Nitsch abermals, „99 Prozent“ der in seinen Aktionen verwendeten Tiere seien vorher schon tot gewesen. Nur ganz selten habe man auf der Bühne Tiere geschlachtet, die jedoch ohnehin dafür vorgesehen gewesen seien. Er selbst, so Nitsch weiter, sei ein ausgesprochener Tierfreund, er halte u. a. einige Pfauen, eine Ziege, ein Maultier und fünf Katzen.

Auch solche frühen Fingerübungen von Hermann Nitsch werden gezeigt. (Foto: Bernd Berke)

Auch frühe Fingerübungen von Hermann Nitsch werden gezeigt. (Foto: Bernd Berke)

Die Ausstellung besteht nicht nur aus gigantischen „Blut“-Bildern (oder auch ungemein pastosen Variationen in Schwarz, Gelb oder Blau) und Videos bzw. Fotos der Aktionen sowie einer Art „Apotheke“ mit verwendeten Flüssigkeiten, sondern auch aus ebenso windungsreichen wie peniblen Skizzen und Planzeichnungen.

Dabei entwirft die Phantasie (unterirdische) Labyrinthe und vielleicht gar Verliese als Theateranlagen, sie fabuliert zudem von der Zu- und Abrichtung, der Umwandlung, Auflösung und womöglich Erlösung des menschlichen Leibes und somit der Seele. Manche Arbeit mutet an wie eine geradezu ingenieurhafte Vorschau auf kommende Aktionen. Auch Orgien wollen ordentlich organisiert sein, jedenfalls in deutschsprachigen Landen. Doch nicht nur dort. Man weiß ja, wie einst der Marquis de Sade alle noch so wüsten Körperverrenkungen der sexuellen Qualen geradezu systematisch durchkonjugiert hat.

„Ja, ja und ja“ sagen zur Schöpfung

Nitsch bekennt sich derweil als Freund und Verehrer der Schöpfung, er wolle „Ja, ja und ja sagen“ zum Sein. Er sieht sich in der Tradition von Friedrich Nietzsche und der von ihm postulierten „Ewigen Wiederkunft des Gleichen“. Gerade deshalb habe er immer wieder in Abgründe blicken und selbige darstellen müssen, Leid und Tod gehörten eben zum Leben. Er habe ein metaphysisches Anliegen, seine Kunst sei eine immerwährende „Auferstehungsfeier“. In kleinerer Münze zahlt Nitsch eben nicht.

Und wie kommt gerade Hagen zu dieser Retrospektive? Osthaus-Chef Tayfun Belgin war von 2003 bis 2007 Leiter der Kunsthalle Krems in Niederösterreich, da hat sich der Kontakt zu Nitsch fast wie von selbst ergeben. Die damals schon vorhandenen Pläne zu einer Ausstellung konnten seither noch reifen. Ko-Koratorin ist nun die junge Julia Möbus, die über Nitsch promoviert und auch schon als Akteurin für ihn tätig war, so dass man in ihrem Falle beileibe nicht von grauer Theorie reden kann.

Hermann Nitsch. Eine Werkschau in Hagen. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Eröffnung am Samstag, 1. Dezember (16 Uhr), Dauer vom 2. Dezember 2018 bis zum 3. Februar 2019. Geöffnet Di-So und Feiertage 12-18 Uhr. 24.12., 25.12 und 31.12. geschlossen. Kein Katalog. Eintritt 7 Euro (Kinder bis 6 kostenlos, ab 6 Jahre 3,50 Euro).  Tel. 02331 / 204-2740. Weitere Infos: www.osthausmuseum.de




In diesen Hallen wirken sie fast zierlich – Museum Küppersmühle zeigt Großformate von Emil Schumacher

„Atlanta I“ von 1987 aus der Sammlung Ströher. „Atlanta“ aus dem Bestand des Hagener Schumacher-Museums sieht fast genauso aus. (Bild: MKM, Sammlung Ströher/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018)

Jetzt hängen sie traulich nebeneinander, als ob es anders gar nicht sein könnte: „Atlanta“ und „Atlanta I“, zwei von dunkel aufglühendem Blau dominierte Hochformate aus dem Jahr 1987, je 170 x 125 Zentimeter groß. „Atlanta“ aber ist eine Leihgabe aus dem Hagener Schumacher-Museum, „Atlanta I“ Eigenbesitz des Museums Küppersmühle aus der Sammlung Ströher. Ein Diptychon mit Verfallsdatum, wenn man so will, doch liegt es noch in weiter Ferne: Am 10. März 2019 endet die Ausstellung „Emil Schumacher – Inspiration und Widerstand“ im Duisburger Museum Küppersmühle, die heute (Donnerstag, 15.11.2018) eröffnet wird.

Das verschlimmbesserte Documenta-Bild

Über Emil Schumacher, er hat ihn noch persönlich in seinem Atelier erlebt, weiß Museumsdirektor Walter Smerling Geschichten zu erzählen. Wie jene der Bilder für die Documenta III, 1964 in Kassel. Drei Großformate hatte Schumacher für die Kunstschau gemalt, jedes um die sieben Quadratmeter groß, ein blaues, ein rotes und ein weißes. Mit dem roten war er aber nicht ganz zufrieden, und als er es nach der Documenta wieder im Atelier hatte, besserte er nach. Jedenfalls versuchte er es. Es wurde jedoch, in des Künstlers eigenen Worten, ein Verschlimmbessern, irreparabel schließlich. Schumacher vernichtete das Bild, hob aber den Keilrahmen auf. 1991 schuf er auf dem alten Keilrahmen ein neues Werk, „Palmarum“, Öl und kleine Pflanzenteile, nunmehr dominiert von leuchtendem Gelb. Es hängt jetzt als Leihgabe aus Hagen in der Duisburger Küppersmühle.

Eine späte Arbeit: „Gorim II“ von 1996. (Bild: Emil Schumacher Museum, Hagen, VG Bild-Kunst, Bonn 2018/Ralf Cohen, Karlsruhe)

Dezentral gesammelt

Das blaue Documenta-Bild, die Geschichte ist noch nicht zuendeerzählt, hängt auch hier, das weiße hingegen blieb im Westfälischen Landesmuseum in Münster, da nicht transportfähig. Der Katalog jedoch bildet es ab.

Alles in allem ist die Geschichte dieses Triptychons, das nicht mehr zusammenkommen konnte, auch typisch für die an sich reiche Kunstmuseenlandschaft des Ruhrgebiets (inklusive Münster in diesem Fall), wo in besseren Zeiten recht dezentral gesammelt wurde.

Mehr als die Hälfte kommt aus Hagen

Nun also Schumacher in Duisburg, 80 Arbeiten, Gemälde überwiegend, davon 44 aus Hagen und 16 aus der Sammlung Ströher, der Rest aus weiteren Museen und aus Privatbesitz. Da könnte man sich natürlich fragen, warum so viel Aufwand betrieben wurde. Das moderne Hagener Museum vermag die Bilder ebenso gut zu präsentieren wie die Küppersmühle, ist groß und regelmäßig geöffnet, so daß eine punktuell veranstaltete Werkschau wirklich nicht zwingend nötig wäre. Doch natürlich fragen wir das nicht, sondern freuen uns, daß die Hagener Werke noch etwas Gesellschaft bekommen. Und daß die Küppersmühle Besucher anlocken wird, die nicht nach Hagen reisen würden.

Penibel strukturiert

Die Schau ist sehr penibel nach Werkgruppen und Arbeitsschwerpunkten aufgebaut, beginnt mit dem jungen Schumacher der frühen 50er Jahre, zeigt dessen Weg in die Abstraktion, den er in wenigen Jahren hinter sich brachte. Seine Bilder wurden größer, Schumacher experimentierte mit Materialien wie Stein und verklebten Stoffresten, tauschte die Leinwand gegen Holz und später gegen Zimmertüren.

Als Malgrund dient eine Zimmertür. „Petros“ von 1976, Steincollage und Acryl auf Holz (Bild: Privatsammlung Münster/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018/Ralf Cohen, Karlsruhe)

Auf Zimmertüren gemalt

Walter Smerling erzählt, wie das kam: In den 60er Jahren hatte Emil Schumacher zunehmend auf Holzplatten gemalt. Als seine Bilder für eine Ausstellung in die USA verschifft werden sollten, waren sie deshalb viel zu schwer. Auf der Suche nach leichten, steifen Maluntergründen entdeckte Schumacher die Zimmertür, schlichtes Baumarktmodell, die ihre Unverformbarkeit einer Wabenstruktur aus Pappe im Türblattinneren verdankt. Einige dieser Türen, hoch und quer, hängen als Maluntergründe in der Ausstellung (die Petros-Bilder, mit Stein und Acryl), konservatorisch offenbar unproblematisch.

Widerstand des Materials

In späteren Jahren, als er einmal mit seiner Arbeit unzufrieden war, hat Schumacher eine solche Malgrundtür übrigens mit dem Hammer traktiert. Die Verletzungen ließen die Wabenstruktur sichtbar werden, was wiederum seinen Reiz hatte. Und selbst diese Aktion ist in gewisser Weise typisch für Schumachers Radikalität beim Umgang mit dem Stofflichen. Das Wort Widerstand im Ausstellungstitel, sei auch in diesem Sinne gemeint, sagt Walter Smerling: Widerstand gegen die Beschränkung des künstlerischen Strebens ebenso wie Widerstand des Materials gegen die Intention des Künstlers.

Auch Hagen lohnt den Besuch

Auch Schumachers größte Bilder wirken in dieser Ausstellung zierlich. Diese Räume sind für Größeres gebaut worden, wie etwa für Anselm Kiefers wandfüllende Historienbilder im Obergeschoß. Lediglich ein (kleinerer) Raum zeigt eingerahmte Papierarbeiten, Mappenwerke wie die „Genesis“ fehlen ganz. Wer so etwas sehen möchte, muß weiterhin nach Hagen reisen.

Die große Freiheit

So, das soll es mal gewesen sein. Leben und Werk Emil Schumachers von Grund auf zu erzählen, scheint mir an dieser Stelle nicht nötig zu sein, so bekannt wie der Mann bei uns ist. Man wird in Duisburg nicht unbedingt Neues entdecken; doch die Einladung, einmal mehr sich hineinzubegeben in die große Freiheit dieser Werke, die nichts weniger als Leere ist, lohnt allemal den Besuch der Ausstellung.

  • „Emil Schumacher – Inspiration und Widerstand“
  • 15.11.2018 bis 10.3.2019
  • Geöffnet Mi 14-18 Uhr, Do-So 11-18 Uhr, Feiertage 11-18 Uhr
  • MKM Museum Küppersmühle für moderne Kunst, Duisburg, Philosophenweg 55
  • Eintritt: Wechselausstellungen 6 €, Gesamtes Haus 9 €
  • www.museum-kueppersmuehle.de

 




Strukturen, Wörter, Schläuche – die informelle Bilderwelt des Malers Gerhard Hoehme im Hagener Emil Schumacher Museum

Gerhard Hoehme, Hymne an Heraklit/Hommage à Heraklit, 1959, Öl und Polyester auf Leinwand, 140 x 160 cm, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2018

In den frühen Jahren der Bundesrepublik war er fast so etwas wie ein Star des gänzlich ungegenständlichen „Informel“. Er nahm an der documenta II teil und hatte 24 Jahre lang den Lehrstuhl für frei Malerei an der Düsseldorfer Kunstakademie inne. Doch mit der Pop Art verlor das Informel auch in Westdeutschland rasant an Bedeutung, und die letzte große Werkschau liegt zehn Jahre zurück. Mit einer uneingeschränkt sehenswert zu nennenden Ausstellung widmet sich jetzt das Hagener Emil Schumacher Museum dem Werk Gerhard Hoehmes.

Ein einziges Bild kokettiert noch mit dem Gegenständlichen. „Rote Zeichen“ von 1951 lässt hinten links einen Klavierspieler erkennen. Ohne ihn wäre das Instrument nicht zu identifizieren, wäre nur schwarze Fläche mit den titelgebenden Elementen. Gerhard Hoehme malte das Bild 1951, in dem Jahr, als er die DDR mit ihrer beengenden Kunstauffassung verlies und nach Düsseldorf zog. Seitdem zeigen seine Bilder auf unterschiedlichste Weise Strukturen, wirken Mal um Mal wie ein weiterer Entgrenzungsversuch. Wenn die Formulierung nicht in sich unsinnig wäre, befindet Museumsleiter Rouven Lotz, könne man bei Gerhard Hoehmes Werk von dem unablässigen Versuch sprechen, die Grenzen des Informel zu überwinden.

Gerhard Hoehme, Fensterbild S. Remo Str. 6 / Fenster und Baum III , 1968, Acryl auf Leinwand und Holz, 200 × 160 cm, Privatsammlung Meerbusch. © VG Bild-Kunst Bonn, 2018

In die dritte Dimension

Da das Informel aber keine Grenzen hat, hat Hoehme sich beizeiten daran gemacht, die traditionelle Präsentationsform des Tafelbildes zu überwinden. In seinen „Borkenbildern“ wird die rauhe Oberflächenstruktur durch Aufkleben von getrockneten Farbschnitzeln oder Leinwandstücken verstärkt, schiebt sich das an sich flache Bild gleichsam in die dritte Dimension. Spektakulär ist das Titelbild des Katalogs „Hommage an Heraklit“ von 1959, das, vollständig mit gelben Polyesterschuppen besetzt, tatsächlich eine Aura der Wertigkeit aufweist, wie sie eine Ehrbezeugung auch haben sollte.

Ost und West

Doch Hoehmes Oeuvre weist beiweitem nicht die Linearität auf, die etlichen seiner informellen Weggefährten eigen ist. Auf der einen Seite bearbeitet er sein Material mit rohen Methoden, ist nahe dran an der „art brut“ eines Jean Dubuffet; auf der anderen kann der Informel-Künstler nicht von Buchstaben, Schriften und ganzen Texten in seinen Bildern lassen. Das sieben Quadratmeter große Diptychon „Berliner Brief“ von 1966 ist eine launige Montage von Wörtern aus West (links) und Ost. Im bunten Westen lesen wir „Berliner Kindl“, „Mampe“ oder „BP“, aber wiederholt auch „Bestattungen“; im farblich zurückhaltenden, aber doch hellgründigen Osten beispielsweise „Kampftruppen der Arbeiterklasse“ oder „Internationalismus“, aber auch, verschwimmend, „Haus Vaterland“. Was mag es bedeuten, wenn der Künstler Berlins angesagteste Vergnügungsadresse der Vorkriegszeit in der DDR montiert? Methodisch jedenfalls scheint er da einem Klaus Staeck sehr viel näher zu sein als einem Emil Schumacher.

Gerhard Hoehme, Berliner Brief, 1966, Acryl, Collage, Graphit- und Farbstift auf Leinwand, 200 × 360 cm (zweiteilig), MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher. © VG Bild-Kunst Bonn, 2018

Vogelperspektive

Die Wörter dieses „Berliner Briefs“ stehen quasi in Augenhöhe vor dem Betrachter, und damit unterscheidet er sich von fast allen anderen Arbeiten Hoehmes, die, wären sie nach der Natur entstanden, aus der Vogelperspektive auf die Erde blicken. Hoehme war im Krieg Kampfpilot gewesen, und die Globalsicht wurde für ihn stilprägend. „Die Anfänge der informellen Malerei (…) lagen fast alle im letzten Kriege – also in einer Zeit der Kollektivschicksale, der Unterdrückung und Tötung des Individuums…“ beschrieb er es 1974. Da konnte die Kunst nicht so tun, als sei nichts geschehen; da aber auch erweist sich das Informel als unerwartet politisch.

Die Essenz

Mit Nägeln, Fäden, Schnüren, Schnittbögen und Trouvaillen hat Hoehme gearbeitet, hat Kästen wie den „Gewitterkasten“ mit düsterer Andeutung gefüllt, hat seine Motive in Fensterrahmen gestellt („Fensterbilder“) – stand also gewissen „Moden“ im künstlerischen Tagesbetrieb keineswegs ablehnend gegenüber.

Doch wirklich typisch für ihn wurden die Kunststoffschnüre, die in unterschiedlichsten Gestaltungen aus etlichen Bildern herausragen. Suchen sie den Kontakt zum Betrachter, bedrohen sie ihn? Oder sind sie in der Lage, gleichsam die Essenz abzusaugen? „Epiphanie des Informel“ ist der Name der Ausstellung, entlehnt dem Titel eines Bildes: Unten an den Kunststoffschnüren, die aus ihm herausragen, kleben große Kunstharzbrocken, abgeleitete, ausgehärtete Materie, wenn man so will. Wenn Epiphanie als Gotteserscheinung übersetzt werden kann, dann mag da ein Zusammenhang bestehen. Aber wer weiß? Auch wenn der Kaiser kam, sprach das begeisterte Volk in Griechenland von einer solchen.

  • „Gerhard Hoehme – Epiphanie des Informel“. Bis 17. Februar 2019
  • Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1, 58095 Hagen
  • www.esmh.de
  • Geöffnet Di – So 12 – 18 Uhr
  • Katalog 72 Seiten, 60 Abb., 14 € im Museum, 18 € im Buchhandel.



Radikal und doch gefällig – Werkschauen der Informel-Künstler Karl Fred Dahmen und Peter Brüning in Duisburg und Hagen

Karl Fred Dahmen: „Terrestrische Intention II“ (1958), Mischtechnik auf Leinwand 176,5 x 216,5 cm.  Sammlung Ströher, Darmstadt (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

In den letzten Jahren werden seine Bilder karg. Wolkige Hellgründigkeit dominiert, sparsame Schraffuren und Texturen ordnen die Flächen. Die allerletzte Arbeit von Karl Fred Dahmen, „Ohne Titel (Letztes Bild)“ von 1980/81 gar könnte man, läßt man den rotbraunen Balken am unteren Bildrand außer Betracht, „leer“ nennen, was natürlich nicht stimmt, aber der Dominanz der Flächigkeit Rechnung trägt.

Er hatte nicht immer so gemalt. Das Museum Küppersmühle präsentiert in seinen wunderbaren, lichten, großzügigen Räumen nun gut 110 Werke dieses Großmeisters des Informel aus rund drei Schaffensjahrzehnten.

Karl Fred Dahmen: „Komposition III“ (1952),  Öl auf Rupfen/Papier 60,5 x 80 cm.  Karl Fred Dahmen, Nachlassverwaltung, Van Ham Art Estate, Köln (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: Saša Fuis Photographie, Köln)

Tod mit 41 Jahren

Auch das Hagener Emil Schumacher-Museum widmet sich mit einer Sonderausstellung einem Großen des deutschen Informel. Dort sind auf einer ganzen Etage Werke von Peter Brüning zu sehen, der in etwa zur selben Zeit lebte und arbeitete wie Dahmen, jedoch schon 1970 mit gerade einmal 41 Jahren einem Herzinfarkt zum Opfer fiel.

Dahmen war 12 Jahre älter als Brüning, doch künstlerisch standen sie sich nahe. 1953, es war die Zeit der Künstlervereinigungen, gründeten sie zusammen mit Gerhard Hoehme die „Gruppe 53“, ein rheinisches, wenn man so will, Pendant zum „Jungen Westen“. Vorher, 1951, werden sie sich vermutlich auch bei ihren Paris-Reisen begegnet sein. Sechs Jahre nach Ende des Krieges waren deutsche Jungtouristen, Künstler zumal, an der Seine wohl noch eine Seltenheit. Also auf in die Museen, erst nach Duisburg, dann nach Hagen.

Zum 100. Geburtstag

Karl Fred Dahmen, nun gut, ist einer jener Namen, die ganz sicher fallen, wenn vom frühen deutschen Nachkriegs-Informel die Rede ist – neben Karl Otto Goetz zum Beispiel, Fred Thieler, Bernard Schultze, Emil Schumacher und natürlich den Zero-Leuten Otto Piene, Heinz Mack und Günther Uecker. Doch den Prominentheitsgrad der Letztgenannten hat er nie erreicht. Man kennt ihn am ehesten noch aus den Katalogen der Kölner Auktionshäuser, wo regelmäßig Arbeiten angeboten werden, eher im fünf- als im sechsstelligen Bereich, was ja nicht wenig Geld ist. Aber Spitzenlose sind es eben auch nicht.

So muß man es durchaus verdienstvoll nennen, wenn das Stifterehepaar Ströher, das die Küppersmühle finanziert, zusammen mit dem Versteigerungshaus van Ham und etlichen prominenten Leihgebern nun, zum 100. Geburtstag des Künstlers, diese große Retrospektive auf die Beine gestellt hat. Van Ham, zur Erläuterung, hütet treuhänderisch einen Großteil des Dahmen-Nachlasses.

Karl Fred Dahmen: „Ein Tag“ (1964), Mischtechnik auf Leinwand 165 x 145 cm,  Privatsammlung Köln (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: Robert Häusser, Mannheim)

Von Landschaften inspiriert

In Karl Fred Dahmen nur den abstrakten Künstler zu sehen, den die sichtbare Welt nicht interessiert und der mit Verve sein Inneres auf die Leinwand wirft – nun, das würde es nicht ganz treffen. Dahmens Bilder sind Kompositionen, die von den Landschaften seiner Umgebung inspiriert sind. Die aufgelassenen Braunkohletagebaue seiner Heimatstadt Stolberg nahe Aachen sind da eine starke, oft verwendete Bildwelt, ebenso Schrottplätze und rottende Industrieruinen.

Es ist dies eine Form der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Veränderungen, die in Hinterlassenschaften wie, eben, Schrottplätzen und Müllhalden ihren vielleicht authentischsten Ausdruck finden. Letztlich geht es ihm, wie Kuratorin Ina Hesselmann unterstreicht, immer um die „Aufsicht auf die Städte“ – seien die Früchte der künstlerischen Produktion nun Strukturbilder, Mauerbilder, Montagebilder oder Objektkästen.

Karl Fred Dahmen in Stolberg (1958) (Foto: Ann Bredol-Lepper, Aachen)

Schaffenskrise in Bayern

Wie nahe Dahmen mit seinen vermeintlich abstrakten Arbeiten an der visuellen Wirklichkeit ist, wird besonders deutlich, als er 1967 als Dozent für Malerei nach Bayern übersiedelt. Dort übernimmt er die vorher von Georg Meistermann geleitete Klasse, wird im Folgejahr zum Professor ernannt. Das Ehepaar Dahmen kauft sich in Niederham im Chiemgau, nahe München, einen verwunschenen, alten Bauernhof, und die neue Wohnung stürzt den Künstler in die Krise. Statt kaputter Industrielandschaften nur noch Lieblichkeit, wohin das Auge fällt.

Geschundene Kreatur

Doch Dahmen arrangiert sich. Zukünftig herrscht in seinen Arbeiten die Farbe Grün vor, und bald schon fällt sein Augenmerk auf das Leiden der Tiere im ländlichen Raum, das er in der Folge ausgiebig thematisiert. In seinen dreidimensionalen Objektkästen, die er seit den 60er Jahren mit Trouvaillen füllt und anschließend bearbeitet, landen nun auch Tierhaare vom Bauernhof, Stricke oder auch üble Instrumente, die das Vieh gefügig machen. Bemerkenswerteste Arbeit in diesem Kontext ist sicherlich das archaisch-schroffe „Ambienteobjekt“ mit dem Titel „An die geschundene Kreatur“ von 1972/74, eine von Stricken umschlungene Achse mit eisernen Rädern, gemacht, um von Tieren gezogen zu werden doch auch fixiert an einem grünen Objekt im Hintergrund. Eigentlich ist das eine Rauminstallation, und dankenswerterweise ist sie in Duisburg zu sehen.

Weiß ist der Winter

Übrigens gibt es neben grünen Arbeiten auch etliche mit ausgeprägter Weiß-Dominanz. Sie reflektieren den Winter, und wenn Stricke heraushängen, handelt es sich um „Galgenbilder“. Erfreut nimmt man wahr, daß es auch dem älter werdenden Künstler nicht an Obsession fehlte.

Karl Fred Dahmen: „Maskuline Legende“ (1972), Objektkasten 133 x 56 x 11 cm Frankfurter Privatbesitz (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017  Foto: Saša Fuis Photographie, Köln)

Ein bißchen Kunstgewerbe

Allerdings sind die meisten Bilder, fast oder vollständig quadratisch und mit geschätzt zwei bis drei Quadratmetern Gesamtfläche auch noch recht gut aufhängbar, von oft geradezu unerträglicher Wohlproportioniertheit. Alles ist aufs Wunderschönste komponiert, lieblich möchte man fast sagen. Spannungen zwischen Bildelementen oder, in den Kästen, dem Gemalten und den Fundstücken, fehlen. Man weiß um des Meisters Ringen, doch das böse Wort „Kunstgewerbe“ bricht sich in den Gedanken des Betrachters Mal um Mal Bahn. Und man ahnt, warum damals so plötzlich Schluß war mit dem ganzen Nachkriegs-Informel, damals, als die Pop-Art über den Atlantik schwappte und uns mit ihrem provokanten Auftritt sprachlos machte. Doch wäre dies das Thema einer anderen Geschichte.

Peter Brünings Muster

So wenden wir uns nach Hagen, wo Karl Fred Dahmen übrigens 1966 den Karl Ernst Osthaus-Preis erhielt und sich dem Westdeutschen Künstlerbundes anschloß. Jetzt aber sind hier Bilder von Peter Brüning zu sehen. Einige „gegenständliche“ Baumbilder von 1954 lassen mit ihren prallen Stämmen das Vorbild Fernand Léger erahnen, doch schon wenige Jahre später ist der junge Künstler – 1956 war er gerade einmal 27 Jahre alt – in der Abstraktion unterwegs, wälzt flächige, düstere Kompositionen mit Ölfarbe auf Hartfaserplatten, erschafft eher Muster als Strukturen.

Bildhafter wird es Ende der 50er Jahre, wenn glühendes Rot und tiefes Schwarz das Bildgeschehen dominieren. Den „Kompositionen“ gesellen sich als Bildtitel nun die (Plural?) „Ohne Titel“ hinzu, wilder wird das Ganze, und wenn die beherrschende Farbe Blau ist, dann denkt man nun auch an Emil Schumacher. Oder wenigstens an Yves Klein.

Ein Bild, das jetzt in Hagen hängt: „Komposition 91/62“ (1962) von Peter Brüning, Öl und farbige Kreide auf Leinwand, 170 x 200 cm groß, Düsseldorfer Privatbesitz (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen/Katalog)

Landschaftswahrnehmungen

In den 60er Jahren wiederum entstehen äußerst luzide, durchsichtige, weißgründige Arbeiten, die der Künstler mittlerweile durchnumeriert. Pflanzen? Menschen? Man weiß es nicht. Landschaften sind dies sicher nicht, Landschaftswahrnehmungen indes gewiß.

Welt der Zeichen

Richtig landschaftlich wird es erst in Peter Brünings letzten Schaffensjahren. Mitte der 60er Jahre klopft die Pop-Art an die Tür, und voller Humor übernimmt der Künstler in erstaunlicher Gegenständlichkeit und Schärfe kartographische Symbole und Linienführungen, etwa für sein „Blow-up“-Bild einer imaginären Landkarte mit dem Titel „Légende 9/66“ von 1966.

1968/69 schließlich hat Brüning das Offset-Plakat eines Industriegebiets um utopische Regenwolken (oder sind es Ufos?) ergänzt und das Ganze „Super-Rhein-Land“ genannt. Nun ja: Wenn er auch bisher schon vor allem Landschaft gemalt haben sollte, wie der Katalog nahelegt, ist dies ja kaum mehr als die konsequente Fortsetzung einer alten Idee. Doch wüßte man gerne, wohin sich Peter Brüning weiterentwickelt hätte, wenn er nicht ein Jahr später schon gestorben wäre.

„In den aus heutiger Sicht in Hinblick auf Natur und Gesellschaft visionär wirkenden Darstellungen einer von den Erscheinungsformen der modernen Industrie veränderten, geprägten und gleichzeitig gefährdeten Landschaft, in denen – wie Brüning es ausdrückte – ,die Zeichen unsere zweite Natur werden‘, ist er ein klar vorausschauender Seismograph seiner Zeit“, schreibt Rouven Lotz, wissenschaftlicher Leiter des Emil Schumacher-Museums, zutreffend zu dieser Ausstellung.

Artige Tapetenmuster

Gewiß, auch Brünings Bilder sind für uns Heutige sehr artig, sehr wohlkomponiert, in keiner Weise übertrieben. „Tapetenmuster“, wie böse Menschen sagen. Passiert man auf dem Rückweg einige späte große Arbeiten Emil Schumachers in der ersten Etage, so wird einem dieser Mangel an Dramatik und Unbedingtheit geradezu schmerzlich bewußt. Doch der große Hagener hatte auch mehr Zeit, sich zu vervollkommnen.

Baustelle Küppersmühle

Zweimal sehenswertes Informel, ganz ohne Frage. Und es ist auch wohltuend, wenn Kunst einmal nur aus „richtigen“ Bildern besteht – wiewohl Weitungen des Kunstbegriffs auf gesellschaftliche Prozesse und ihre möglichst unorthodoxe Vermittlung sicherlich auch ihren Reiz haben (können). Am besten fährt man selber hin und schaut, ob es gefällt. In Duisburg kann man dann übrigens noch einen Blick auf die Baustelle werfen, wo der Anbau der Küppersmühle munter an Gestalt gewinnt.

Infos:




Was im Revier sonst noch so geschieht… – Es war wieder mal einer dieser Donnerstage mit lauter neuen Ausstellungen

Wir erinnern uns: Das seit jeher von Kirchturmpolitik geplagte Ruhrgebiet hatte sich für 2010 zusammengerauft, um einmal gemeinsam als „Kulturhauptstadt Europas“ zu firmieren. Um das Thema einige Nummern kleiner aufzugreifen: Schon oft hätte man sich gewünscht, dass es eine Koordinationsstelle gäbe, die beispielsweise regionale Pressetermine miteinander abgleicht – und sei’s für den Anfang auch nur (ganz bescheiden) auf musealem Gebiet.

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte "Hiddensee", 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte „Hiddensee“, 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

Doch nein! Immer und immer wieder kommt es vor, dass zum allseits beliebtesten Vorbesichtigungs-Tag, dem Donnerstag, vier, fünf, sechs oder noch mehr Termine in mehr oder weniger unmittelbarer Nachbarschaft gleichzeitig anberaumt werden. So beispielsweise auch gestern, am 2. Februar.

Man sollte ab 11 bzw. 11.30 Uhr beileibe nicht nur die neue Ausstellung über Emil Schumacher in Hagen („Orte der Geborgenheit“) geneigt zur Kenntnis nehmen, sondern etwa auch eine Auswahl von Reisebildern des Landschaftsmalers Siegward Sprotte im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, die gleichfalls mit „Orten“ im Titel daherkommt („Reise doch – bleibe doch!“ – Orte der Inspiration). Hier hätte man sich also schon bei der Formulierung absprechen können. Zu spät…

Zwei weitere Termine liefen überdies praktisch parallel in derselben Stadt, nämlich in Dortmund: Das Künstlerhaus im Sunderweg präsentierte der Presse seine neue Schau „Ohne Netz und doppelten Boden – Über die Uneindeutigkeit von Bildern“, die DASA Arbeitswelt Ausstellung lud unterdessen zur „Alarmstufe Rot“ über Katastrophen und deren Bewältigung. Keine Kunst, aber ebenfalls ein museales Angebot.

Damit längst nicht genug: Zur gleichen Zeit bat „nebenan“, in der Landeshauptstadt Düsseldorf, die Kunstsammlung NRW/K 21 zur umfangreichen Retrospektive über den belgischen Künstler Marcel Broodthaers. Gewiss, Düsseldorf zählt nicht zum Ruhrgebiet, doch sollte man vor allem im Raum Duisburg und Essen ein Auge darauf haben, wann dort was geschieht. Sonst fahren die meisten Kulturschreiber dorthin und nicht in die Ruhr-„Provinz“.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner "Zick Zack" (2016), Acry auf Holz.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner „Zick Zack“ (2016), Acryl auf Holz.

Und damit habe ich noch nicht einmal alle Gelegenheiten aufgezählt, die sich gestern ergeben haben.

Klar, wenn ich jetzt für Ruhrgebietswerbung zuständig wäre, würde ich entgegnen, dass wir hier eben sooooo viele Kulturstätten haben, dass gelegentlich ein zeitliches Zusammentreffen kaum zu vermeiden ist. Das Argument lassen wir jetzt mal auf uns wirken.

Immerhin gibt es ja inzwischen den beachtlichen Kooperations-Verbund der Ruhrkunstmuseen, mit dem 20 Häuser in 15 Städten ihre Kräfte bündeln wollen. Hier erfolgen Absprachen mittlerweile auf kürzeren Dienstwegen als ehedem. Es möge weiterhin nützen. Und die Idee möge niemals auf bloße Einsparmöglichkeiten reduziert werden.

Es war zu hören, dass gestern auch bei personell halbwegs potenten Medien ob der Termin-Überschneidungen gestöhnt wurde. Nun aber wollen wir, die wir als Kulturblog erst recht kein halbes Dutzend kunstsinniger Journalistinnen und Journalisten gleichzeitig aufbieten können, wenigstens noch zu den Internet-Auftritten der oben genannten Häuser verlinken. Here we go:

Emil Schumacher Museum, Hagen: www.esmh.de
Gustav-Lübcke-Museum, Hamm: www.museum-hamm.de
Künstlerhaus Sunderweg, Dortmund: www.kh-do.de
DASA, Dortmund: www.dasa-dortmund.de
K21 in Düsseldorf: www.kunstsammlung.de




Das Haus und die Geborgenheit im Werk von Emil Schumacher – eine Ausstellung, die so nur in Hagen möglich ist

Emil Schumacher: "Hama X", 1984, Öl auf Karton. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Emil Schumacher: „Hama X“, 1984, Öl auf Karton. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Über das reichhaltige Werk von Emil Schumacher (1912-1999) kann man immer wieder staunen. Stets aufs Neue finden sich ungeahnte Aspekte, Themen und Formen. Längst meint man, diesen Künstler als internationale Größe des Informel und der Abstraktion zu „kennen“. Tatsächlich kam er in seinem Spätwerk – wie verschlüsselt auch immer – aufs gegenständliche Repertoire früherer Zeiten zurück. Beispielsweise auf das Haus und sonstige Orte der Geborgenheit.

Solche Motive haben sein Sohn, der vormalige Bottroper Museumsdirektor Dr. Ulrich Schumacher, und Rouven Lotz, Leiter des Hagener Emil Schumacher Museums, im Werkzusammenhang so auffallend häufig vorgefunden, dass jetzt eine eigene Ausstellung daraus entstanden ist. Man muss diese Bilder gar nicht unbedingt, wie Rouven Lotz es unternimmt, mit dem in der Nachkriegszeit und leider auch jetzt wieder so virulenten Themenkomplex Flucht und Vertreibung in Bezug setzen, um ihnen zeitgemäße Bedeutsamkeit zuzusprechen.

Die Ausstellung umfasst rund 70 Bilder, überwiegend intimere, oft spontan skizzenhafte Arbeiten auf Papier. Zeitlich reicht der Bogen von den späten 1930er Jahren bis in die 1990er. Auch hierbei zahlt es sich wieder aus, dass der Künstlersohn Ulrich Schumacher etliche Arbeiten aus dem Kunstmarkt herausgehalten und verwahrt hat. Jetzt bilden sie zum großen Teil den Fundus des Schumacher Museums.

Aus dem Frühwerk: Emil Schumacher "Industriestraße I", 1946, Aquarell und Tusche auf Bütten. (© VG Bild-Kunst, Bonn, 2017/Emil Schumacher)

Aus dem Frühwerk: Emil Schumacher „Industriestraße I“, 1946, Aquarell und Tusche auf Bütten. (© VG Bild-Kunst, Bonn, 2017/Emil Schumacher)

Fast alle Bilder erstmals zu sehen

So kommt es auch, dass abermals bislang nie öffentlich gezeigte Bilder zum Vorschein kommen. In der neuen Ausstellung sind es rund 60 von 70, also beinahe alle. Man kann mit Fug und Recht von einer vielfältigen Premiere sprechen, wie sie so nur in Hagen möglich ist. Apropos: In diese Stadt und in das zu Beginn des 19. Jahrhunderts von seinem Urgroßvater errichtete Haus in der Bleichstraße ist Emil Schumacher von allen Reisen immer wieder zurückgekehrt. Lokale Verwurzelung und Weltgeltung sind keinesfalls Gegensätze.

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem KInderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. - Emil Schumacher: "Ulrich am Tisch" (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem Kinderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. – Emil Schumacher: „Ulrich am Tisch“ (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Der angenehm überschaubare und gehaltvolle Rundgang beginnt u. a. mit Porträts, die Emil Schumacher in der Nachkriegszeit von seinem Sohn Ulrich angefertigt hat, als der noch ein kleines Kind gewesen ist. Man merkt es Ulrich Schumacher wahrlich an, wie freudig bewegt er ist, wenn er diese Bilder heute betrachtet. Damals hat er das mitunter langwierige „Modellsitzen“ für den Vater nach eigenem Bekunden eher als Tortur empfunden. Signatur der ärmlichen Zeit: Auf einem Bild trägt der kleine Ulrich eine kurze Hose, die notdürftig aus einer alten Wehrmachtsdecke genäht worden war; auf einem anderen sieht man ihn in Erwartung des Essens, seine kindliche Ungeduld ist nur mühsam gebändigt.

Zum Wesen der Dinge vordringen

Mit den Sohnesbildern ist zugleich der Bereich des Familiären und Häuslichen aufgerufen, mithin auch der des Schutzes vor der stürmischen, zudringlichen Außenwelt, auf den man auch und gerade in finsteren Zeiten hofft. Anfangs noch im Stile der Neuen Sachlichkeit, dann in expressionistischer Weise, hat Emil Schumacher solche bergenden und einhegenden Räume oder Zonen dargestellt.

Interessant ist ein Vergleich zweier Darstellungen seiner Ateliers von 1938 und 1983. Auch diese Arbeitsstätten hat er als Schutzräume begriffen, in die einzig und allein seine Frau eintreten durfte. Jahrzehnte eines intensiven und ertragreichen Künstlerlebens liegen zwischen den beiden Fassungen. Immer mehr ist das innere, nicht sogleich sichtbare Wesen der Dinge in den Vordergrund gerückt.

Emil Schumacher: "G-35/1980" (1980), Gouache auf braunem Packpapier. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Emil Schumacher: „G-35/1980“ (1980), Gouache auf braunem Packpapier. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Anfangs sehen wir noch Bilder mit erzählender, ja anekdotischer Anmutung, später gerinnen sie zusehends zu einer ursprünglichen, archaischen Formensprache, die menschliche Urerfahrungen betrifft – wie nur je bildliche Entwürfe seit den vorzeitlichen Höhlenzeichnungen.

Die Grenzen der Interpretation

Vor den späteren, letztlich zeitenthobenen Bildern kann jeder Betrachter sozusagen seine Phantasie spazieren führen. Eben dies empfiehlt auch Rouven Lotz, der angesichts solcher Schöpfungen sehr wohl die Grenzen der kunstwissenschaftlichen Interpretation sieht. Die Schlussakkorde sind gleichzeitig der Übergang zu Teilen der Dauerausstellung. Hier zeigt sich, dass die Hausform auch in den großen Gemälden unversehens wieder auftaucht. Je nach Gusto könnte man den Rundgang auch an dieser Nahtstelle beginnen und sodann rückwärts durch die Zeiten schreiten.

Emil Schumacher im Jahr 1981. (Foto: Ralf Cohen, Kalrsruhe / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Emil Schumacher im Jahr 1981. (Foto: Ralf Cohen, Kalrsruhe / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Wüsste man nicht, wie sehr sich Emil Schumacher schon früh für Grundformen des Hauses und der Häuslichkeit interessiert hat, so würde man sie freilich auch nicht so leicht in den abstrakten Arbeiten entdecken. Hie und da mag dieses Wissen bei der Entschlüsselung des manchmal hermetisch erscheinenden Spätwerks helfen.

Andererseits kehren gerade in späteren Bildern figurative Elemente wieder. Das aber macht die Angelegenheit nicht unbedingt leichter. Im Gegenteil: Eigentlich ist sie ziemlich vertrackt. Denn der zur und durch Abstraktion gereifte Schumacher hat nicht mehr plan- und absichtsvoll den Vorsatz gefasst, Häuser auf Papier oder Leinwand zu bringen. Derlei Formen haben sich vielmehr aus dem gestischen Malprozess selbst ergeben, oft auch nur als vage Anklänge oder gar aus „Zufällen“ der Linienführung. Auf gesichertem Gelände befinden wir uns also nicht. Es ist schließlich Kunst, die ins Offene strebt.

Emil Schumacher: Orte der Geborgenheit. Emil Schumacher Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navi: Hochstraße 73). Vom 5. März bis zum 28. Mai 2017.  Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Katalog 80 Seiten, rund 90 Abb., im Museum 19,90 Euro (im Buchhandel 24,90 Euro). Internet: www.esmh.de




Als man in Unna um die Kirchenkanzel kämpfte: Philipp Nicolai – Dichter, Pfarrer, Lutheraner

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den streitbaren Theologen und Dichter Philipp Nicolai (1556-1608), der zur frühen Literaturgeschichte Westfalens gehört:

Die Unnaer Stadtkirche kenne ich aus meiner Schulzeit. Am dortigen Ernst-Barlach-Gymnasium (damals Aufbaugymnasium) habe ich Abitur gemacht. Jeden Mittwoch morgen fand in der Stadtkirche ein Schülergottesdienst statt.

Natürlich sind wir, als wir älter wurden, oft nicht hingegangen, haben uns am Bahnhof getroffen, Cola getrunken und geredet, aber kurz vor Schluss des Gottesdienstes haben wir uns doch in die Stadtkirche geschlichen, haben oben auf der Empore gesessen und das Schlusslied laut mit geschmettert, so dass sich unsere Lehrer, die natürlich vorne, in der Nähe des Altars saßen, zufrieden umblickten. Ja, es war schön für sie, fromme Schüler zu haben.

Vertont von Bach und Händel

Dass es in dieser Kirche mal eine folgenschwere Schlägerei zwischen zwei Pfarrern gegeben hatte, die noch dazu literarische Folgen hatte, habe ich damals nicht gewusst. Wer weiß, vielleicht hätte ich die Gottesdienste sonst aufmerksamer verfolgt.

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain - Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) Porträt-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain – Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum). Digitaler Portrait-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Es gibt zwei Kirchenlieder, die nahezu jeder kennt. „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ lautet das eine und das andere beginnt: „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“ Gedichtet wurden sie um 1598 von dem damaligen Pfarrer der Unnaer Stadtkirche, Philipp Nicolai.

Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach hat diesen beiden Texten Kantaten gewidmet, und Georg Friedrich Händel hat ein Motiv des so genannten „Wächterliedes“ in den Halleluja-Chor seines „Messias“ übernommen. Größere Anerkennung konnten die Lieder wohl kaum finden – und das, obwohl man sie eher als Gelegenheitsschriften ihres Verfassers ansehen könnte. Er hat sie nämlich 1599 erstmals im Anhang seines Buches „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ veröffentlicht, und durch sie ist er zu Lebzeiten auch nicht bekannt geworden.

Zu einem der berühmtesten Pfarrer seiner Zeit haben ihn vielmehr religiöse Streitschriften gemacht, in denen der glühende Lutheraner vehement den Calvinismus bekämpfte. Heute sind diese Streitschriften nur noch von religionsgeschichtlichem Interesse. Umso einziger ragen aus seinem umfangreichen literarischen Werk die beiden Kirchenlieder heraus.

Eltern stammten aus Hagen und Herdecke

Was hat diesen streitbaren und umstrittenen Theologen nach Unna geführt? Da ist einmal seine westfälische Herkunft zu nennen. Geboren wurde er zwar am 10. August 1556 in Mengeringhausen in der Grafschaft Waldeck, aber beide Eltern stammten aus Westfalen: Vater Dietrich Rafflenboel aus Hagen und Mutter Katharina Meyhan aus Herdecke.

Die Rafflenboels waren eigentlich Bauern, aber Dietrich brach mit der Tradition, begann ein Theologiestudium und wurde zuerst, wie später auch sein berühmter Sohn Philipp, Pfarrer in Herdecke. Einer damaligen Mode folgend übertrug er den Vornamen seines Vaters Klaus ins Lateinische und nannte sich mit Nachnamen Nicolai.

1552 musste er wegen der Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten aus Herdecke fortziehen – sein Sohn sollte ihm drei Jahrzehnte später auch darin folgen – und übernahm eine Pfarrstelle in Mengeringhausen, das einige Kilometer entfernt von Kassel liegt, wo Philipp als eines von acht Kindern geboren wurde. Philipp Nicolai hatte also eine enge Beziehung zu Westfalen, als er 1596 ein Angebot aus Unna erhielt.

Wichtiger für dieses Angebot aber war seine strenge lutherische und anticalvinistische Grundhaltung. In einem Streitgespräch 1590 hatte er zwar noch Mohammed und den Papst als schlimmste Helfershelfer des Teufels ausgemacht und das als strenger Lutheraner womöglich sogar von der Bibel her begründet. Später aber hat er in hitzig-polemischen Schriften nur noch den Reformator Calvin und seine Anhänger bekämpft.

Gegen den Calvinismus

Hitzige Kämpfe zwischen Lutheranern und Calvinisten gab es kurz vor seiner Berufung auch in Unna. Einige Kaufleute und ein Teil des Rates um die Altbürgermeister Winold von Büren, Ernst Brabender und Hinrich zum Broch wünschten 1592 eine enge Anlehnung an die Niederlande, die damals – nach der Vernichtung der spanischen Armada – den Welthandel kontrollierten und wirtschaftlich in Blüte standen. Man wollte deshalb die Stelle des Vizepastors mit dem Rotterdamer Pfarrer Hermann Grevinckhoff besetzen, der jedoch, durchaus passend für das aufstrebende Bürgertum, ein Calvinist war.

Vordergründig ging es im Streit zwischen Calvinisten und Lutheranern um die Abendmahlsfrage. Luther, in dieser Frage durchaus in katholischer Tradition, wollte der Abendsmahlsfeier weiter Heilscharakter zubilligen. Er vertrat zwar nicht mehr die so genannte Transsubstantiationslehre, nach der sich Wein und Brot direkt in Blut und Leib Christi verwandeln, lehrte jedoch, dass sich Wein und Brot bei der Abendmahlsfeier durch die Einsetzungsworte auf geheimnisvolle Weise damit verbinden. Für Calvin (und auch für Zwingli) war sie dagegen eine reine Symbolhandlung.

Wichtiger für das aufstrebende Bürgertum war allerdings Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Ob ein Mensch reich oder arm war, ob er der Seligkeit teilhaftig würde oder nicht, das alles hatte Gott vorherbestimmt. Deshalb brauchten reiche Kaufleute wegen der Armut der anderen Menschen auch kein schlechtes Gewissen zu haben, während sie selbst in ihrem Reichtum eine Bestätigung für Gottes Auserwähltheit sehen konnten. Sozialpolitisch war damit die Nächstenliebe ausgehebelt, ein glänzendes Ruhekissen für die Besitzenden.

Wüste Rauferei im Gotteshaus

Die Abt von Deutz lehnte jedoch Grevinckhoffs Berufung wegen dessen calvinistischer Einstellung ab und berief statt dessen den jungen Lutheraner Joachim Kersting. Der aber wollte zuerst seine theologischen Studien in Jena fortsetzen und schickte als Vertreter den lutherischen Kaplan Uphoff, eine Schwäche, die die calvinistische Fraktion sofort ausnutzte. Sie berief den aus Essen stammenden Magister Berger, der sofort, in strenger calvinistischer Tradition, die Bilder aus der Stadtkirche entfernen ließ. Kersting, alarmiert, eilte von Jena nach Unna und dort soll es in der Stadtkirche zu einem tollen Zweikampf gekommen sein.

Altbürgermeister Brabender gab Berger vor einem Gottesdienst die Anweisung, Kersting auf jeden Fall von der Kanzel fern zu halten und befahl dem Küster, die Kirchentüren zu schließen. Während draußen die herbeigerufenen Lutheraner gegen die verschlossenen Kirchentüren trommelten, kämpfte Kersting drinnen einen heroischen Kampf. Es war ihm gelungen, sich am Aufgang zur Kanzel festzuklammern, und so sehr Berger auch zerrte, riss und schimpfte, Kersting ließ nicht los. Der Mantel wurde ihm dabei zerrissen, aber was ist schon Kleidung im Kampf um den richtigen Glauben?

Kersting jedenfalls verteidigte die Kanzel, die auch sein Gegner nicht besteigen konnte, bis die Lutheraner sich über eine kleine Seitentür Zutritt verschaffen konnten und Berger mitsamt seinen Helfern vertrieben. Ein feste Burg ist unser Gott…

Über Schimpfwörter und handfeste Auseinandersetzungen in Glaubensfragen zu dieser Zeit darf man sich nicht wundern. Es war das Zeitalter der Orthodoxie, da galt: Es gibt nur einen richtigen Glauben. Und da es natürlich der jeweils eigene war, mussten die Anhänger des anderen, falschen Glaubens überzeugt werden. Zur Not mit Gewalt.

„Freudenspiegel des ewigen Lebens“

In Unna wollten die Lutheraner ihren Sieg festigen. Unnas neuer Bürgermeister, ein aus Köln zugezogener Patrizier namens von Westfalen, hatte gehört, dass Philipp Nicolai in der waldeckschen Landessynode calvinistische Irrlehrer exkommunizieren ließ, er hatte wohl auch dessen bekannteste Schrift „Nothwendiger und gantz vollkommener Bericht von der gantzen calvinistischen Religion“ gelesen. Wenn d a s nicht der richtige Mann für Unnas Lutheraner ist, muss er wohl gedacht haben.

Zwei Angebote aus Unna lehnt Nicolai noch ab, dann fuhr Bürgermeister von Westfalen selbst ins Waldecksche und überredete ihn. Sein Verdienst war ansehnlich: 50 Mütte reinen Korns, dazu 60 Reichstaler, sechs Fuder Holz sowie freie Wohnung mit großem Garten (eine Mütte Korn hatte den Wert von 4 Talern).

Man scheint in der ganzen Grafschaft Mark an Nicolais Kommen interessiert gewesen zu sein, denn einen Teil der Kosten für seinen Umzug übernahm die Stadt Soest, der Nicolai dann auch sein schönstes Buch, eben den „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ widmete.

In den furchtbaren Zeiten der Pest

In Unna aber traten kurz nach seinem Amtsantritt die religiösen Streitfragen in den Hintergrund. 1597 brach über Nacht die Pest aus. Nicolai stellte den Kirchenkampf hintan und beschränkte sich auf die Seelsorge. Er ging zu den Sterbenden, sprach ihnen Trost zu, hatte bis zu 30 Beerdigungen am Tag und musste miterleben, wie auch der tapfere Kanzelverteidiger Kersting der Seuche erlag.

Nicolai selbst fürchtete die Pest nicht. Er vertraute seinem Gott und fuhr – zur medizinischen Unterstützung dieses Vertrauens – zu einer Apotheke nach Dortmund, um sich Medizin zu besorgen.

Wie kann man die allgegenwärtige Todesgefahr, den vergeblichen Kampf gegen den Tod, den Zuspruch des Trostes für Hunderte von Sterbenden psychisch durchstehen? Nicolai schaffte es, indem er am Tage unbeirrt und unermüdlich seine Pflicht tat und sich abends in den erlösenden Trost der himmlischen Herrlichkeit flüchtete, in der es keinen Tod, keine Seelennot mehr gab. Während immer mehr Menschen der Pest erlagen, schrieb er seinen „Freudenspiegel“ als Trost für die Sterbenden und Hinterbliebenen, als Stärkung aber auch für sich selbst. Und im Anhang des Buches, das viele Auflagen erlebte, veröffentlichte er – wie erwähnt – seine berühmt gewordenen Lieder.

Auf dem Friedhof in der Nähe seines Gartens wurden die Leichen aufgeschichtet, Pest- und Verwesungsgeruch lag über der Stadt, Philipp Nicolai aber konnte in der Gewissheit seines Glaubens singen: „Wie schön leuchtet der Morgenstern.“ Die Musik zu seinen Liedern hat er übernommen und nicht selbst geschrieben, obwohl er das vermutlich auch gekonnt hätte. Er hat nämlich eine sehr gute Schulbildung genossen, die ihn u.a. nach Mühlhausen in Thüringen führte, wo später Bach Organist gewesen war. Dort hat Nicolai im Gymnasialkirchenchor mitgesungen und ist von dem fähigen Musiklehrer Joachim Müller a Burck unterrichtet worden, der selbst auch komponieren konnte.

Gottesreich für 1670 vorhergesagt

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ ist ebenso wie „Wachet auf“ ein Zeugnis barocker Brautmystik, in der, im Bild des Bräutigams, vom Kommen Christi und damit vom Jüngsten Tag die Rede ist. Der 45. Psalm, das Hohe Lied der Liebe und das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen im Matthäusevangelium haben mit ihrer Hochzeitsmetaphorik den biblischen Anstoß zu beiden Liedtexten gegeben.

Nicolai stand übrigens wirklich unter dem Eindruck der Naherwartung. In einer anderen Schrift, der „Historie des Reiches Christi“, hat er das Kommen des Gottesreiches sogar genau vorausberechnet und auf das Jahr 1670 datiert. Vorsichtig hat er allerdings hinzugefügt, dass es „wegen des Elends und der Bedrängnis der auserwählten Kinder Gottes“ auch früher kommen könne.

Dieses Denken ist spätestens seit der Aufklärung überwunden. Wenn Nicolais Lieder trotzdem bekannt blieben, das „Wächterlied“ sogar stetig populärer wurde, dann müssen Text und Musik wohl viel ausdrücken. Glaubensstärke und Zuversicht, Optimismus angesichts von Tod und Krankheit (in den Liedern metaphorisch ausgedrückt durch die Überwindung von Nacht und Schlaf) sprechen die Menschen auch heute an. Als König und Königin des Gesangbuchs wurden beide Lieder gelegentlich bezeichnet. Regelmäßig werden sie im Gottesdienst gesungen und Bachs Kantaten sprechen auch Nichtchristen an. In Unna sind also die Texte entstanden, in der Not einer bedrängenden Pestzeit.

Dem Ruf nach Hamburg gefolgt

Philipp Nicolai ist aber nicht in Unna geblieben. 1600 heiratete er noch in Unna die Witwe eines Dortmunder Pfarrerkollegen, eine Katharina von der Recke. Doch schon 1601 folgte er einem Ruf als Hauptpastor in der Katharinengemeinde in Hamburg. Dort wurde sein einziger Sohn Theodor geboren, dort schrieb er noch weitere 17 theologische Abhandlungen, aber schon 1608, im Alter von gerade 52 Jahren, ist er gestorben.

Vor dem Altar der Katharinenkirche hat man ihm ein Ehrengrab gegeben. Als die Kirche 1856 jedoch umgebaut wurde, hat man seine Gebeine aufgenommen und auf dem Katharinenfriedhof vor dem Dammtor beigesetzt. In Hamburg also liegt Philipp Nicolai begraben, in Unna aber hat er seine beiden schönen Kirchenlieder geschrieben.

Und wenn wir Schüler schon damals von dem tollen Zweikampf zweier Pfarrer in der Stadtkirche gewusst hätten, die Voraussetzung für seine Berufung nach Unna waren, wären wir bestimmt pünktlich zum Schulgottesdienst erschienen. Glaube ich jedenfalls.




Wenn die Eschen und Kastanien sterben…

Obacht, hier kommt ein Text, der im naiv-grünen Sinne von „Mein Freund, der Baum“ rezipiert werden könnte und den manche vielleicht belächeln oder herzig finden werden. Mir doch egal. Ich mache mir trotzdem Sorgen um „unsere“ Kastanien. Und um ein paar andere Bäume, zum Exempel Eschen. Ernsthaft jetzt.

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Die bange Rede ist von heftigen Baumkrankheiten, gegen die offenbar einstweilen kein Kraut gewachsen ist. Die Ruhrnachrichten schrieben bereits im Juli über „Blutende Stellen am Hauptstamm, eingetrocknete Äste“ und starken Blattverlust. Es schmerzt schon beim bloßen Lesen. Es sei denn, man gehöre zu jenen impotenten Vollidioten, die immer schon lauthals tröten „Mein Auto fährt auch ohne Wald“.

Was im Juli drohte, ist im September wohl noch dringlicher geworden. Dieser Tage berichtete der WDR in TV und Hörfunk (Landesstudio Dortmund) vom rapide fortschreitenden Befall. Während die Ruhrnachrichten noch quasi-wissenschaftlich vom Bakterium der Spezies Pseudomonas syringae pv. aesculi geraunt hatten, gab sich WDR-Autorin Claudia Wietfeld jetzt geradezu poetisch morbid: „Falsches weißes Stengelbecherchen – so schön der Name – so tödlich die Krankheit“.

Wenn man solchen winzigen Wesenheiten denn böse Absichten unterstellen will: Heimtückische Bakterien sind also am Siechtum der Kastanien schuld. In den Eschen-Beständen wütet derweil ein (asiatischer) Pilz. Die Bäume verfaulen elendiglich. Nur gut, dass wir sie nicht schreien hören.

Haben die lokalen Medien den Sachverhalt nun aufgebauscht oder womöglich sogar noch unterschätzt?

Schon werden die Äxte und Motorsägen geschärft: Hunderte Bäume müssen allein in Dortmund gefällt werden. Auch in den Nachbarstädten Hagen und Witten geht’s sozusagen ans Eingemachte. Und wer weiß, wo sonst noch überall. Schon munkelt man, in zehn bis 15 Jahren könne die Kastanie im Revier ganz und gar ausgestorben sein.

Alles bloße Panikmache? Das in den 80er Jahren immerzu beschworene Waldsterben ist ja auch nicht so apokalyptisch eingetreten. Und heute sehnen altgediente Zyniker an jedem etwas kühleren Tag den wahren Klimawandel mitsamt tropischen Temperaturen herbei.

Doch nun mal von der naturnahen, meinethalben treudeutschen Gemütsanwandlung („Waldeslu-hu-hust“) aufs Gelände der schieren Ästhetik, also zur Kultur übers Pflanzwesen hinaus: Ich mag mir einige schattige Straßen nicht ohne die bislang so majestätischen Kastanien vorstellen. Ich mag mir auch nicht ausmalen, dass Kinder in den Herbsten der näheren Zukunft keine herabgefallenen Kastanien mehr sammeln können, wie es gerade jetzt wieder an der Zeit ist. Mir geht’s da übrigens nicht nur ums Basteln von Kastanienmännchen.

Wieso ist eigentlich noch kein Gegenmittel gefunden? Schläft die Forschung? Und ist mal wieder vor allem das Ruhrgebiet betroffen, während Holsteiner, Bayern und Schwaben weiterhin unter Kastanien lustwandeln? Das kann doch wohl nicht wahr sein.




Games und Gaffer – das tägliche und manchmal tödliche Elend mit den Smartphones

Eigentlich sollte man alle „Smartphones“ in den Orkus werfen. Dann Deckel drauf. Fertig. Und keine Wiederkehr. Warum ich so wütend bin? Abwarten. Kommt gleich.

Manchmal sind die Dinger nützlich, gewiss. Doch sie richten immensen Schaden an.

Nein, es geht nicht in erster Linie zum 1000. Mal darum, dass so viele Zeitgenossen (nein: zeitabwesende, geisterhafte Gestalten) ständig auf die lächerlichen Bildschirmchen stieren und starren, um sich aller wirklichen Umgebung zu entziehen. Nähme man ihnen die Handys weg, wüssten gar manche wohl nicht, was sie mit sich und der Welt noch anfangen sollten.

Man hat ja selbst auch so'n Zeug. (Foto: BB)

Man hat ja selbst auch so’n Zeug. (Foto: BB)

Auch geht es jetzt nicht um Autofahrer, die durch „Simsen“ oder sonstigen Handy-Gebrauch werweißwieviele Unfälle verursachen.

Hier dreht es sich vielmehr um zwei Nachrichten der vergangenen Tage, die einem gleichermaßen Schrecken einjagen:

Zum einen besteht der dringende Verdacht, dass der Fahrdienstleiter, unter dessen Aufsicht (Aufsicht?) das schreckliche Zugunglück von Bad Aibling geschehen ist, durch ein Online-Game auf seinem Handy abgelenkt war. Der 39-Jährige sitzt deshalb in U-Haft, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Elf Tote und 85 Verletzte wegen eines läppischen Computerspielchens? Ach, wäre es doch nicht wahr…

Weiter nordwärts, in Hagen am Rande des Ruhrgebiets, gab es am letzten Mittwoch eine unfassbare Steigerung des ohnehin schon elenden „Gaffens“. Ein zehnjähriges Mädchen war von einem Auto angefahren worden, ein Rettungshubschrauber musste es in eine Spezialklinik bringen.

Die Helfer hatten eigens Tücher aufgehängt, welche das schwerverletzte Mädchen vor neugierigen Blicken schützen sollten. Tatsächlich hat ein ungebetener Zuschauer eines der Tücher weggerissen, um die Szenerie mit seinem Smartphone besser ablichten zu können. Angeblich soll er es auch so idiotisch begründet haben: „Das muss ich so machen, ich kann sonst nicht richtig filmen.“ Was für ein armseliger Wicht.

War’s ein selbsternannter „Bürgerreporter“, der den Film womöglich noch verkaufen wollte? Egal. Er war wahrscheinlich der übelste, aber beileibe nicht der einzige Schaulustige, der im Umkreis des lebenswichtigen Einsatzes die Grenzen allen Anstands überschritten hat. Auch andere haben nach Kräften Film- und Fotoaufnahmen gemacht. Ob sich andere Passanten dagegen gewendet haben? Davon ist leider nichts zu lesen.

Aber hat denn die Polizei gar keine richtige Handhabe gegen solche ruchlosen Leute? Offenbar blieb ihr nichts übrig, als das schäbige Verhalten im Internet zu brandmarken. Wenigstens das.

Für einen unmissverständlich formulierten „Gaffer-Paragraphen“ wäre ich sofort zu haben. Statt dessen steht bei uns immer noch „Majestätsbeleidigung“ unter Strafe…

Spontan möchte man also am liebsten die Geräte einstampfen und sich für immer davon verabschieden. Mir ist schon klar, dass das vollkommen illusorisch ist. Auch der innige Wunsch, dass man die hochgerüsteten Handys einiger Funktionen beraubt, so dass man mit ihnen nicht mehr ins Netz gehen oder fotografieren könnte, sondern nur – wie ehedem – telefonieren; auch dieser Wunsch wird ein frommer bleiben. Es ist ein Jammer.

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Mit Nachrichtenmaterial von www.spiegel.de (Bad Aibling) und www.derwesten.de (Hagen)




Acht Städte zwischen Rhein und Ruhr zeigen zeitgenössische Kunst aus China

Warum, beginnen wir den Aufsatz ruhig ein bißchen ketzerisch, gibt der Bundeswirtschaftsminister wohl den Schirmherrn für diese Ausstellung? Ein Grund könnte sein, die Chinesen zu erfreuen und so die Wirtschaftsbeziehungen zu ihnen zu verbessern.

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„Big Woman and Little Man“ (2012) von Zhang-Xiaogang hängt jetzt in der Küppersmühle (Foto: Zhang Xiaogang/china8)

Das Interesse der Wirtschaft an diesem Ausstellungsprojekt ist jedenfalls erheblich, unter anderem sponsern Duisburger Hafen und Düsseldorfer Flughafen, Evonik Industries und Deutsche Bahn und last not least, qua Stiftungsauftrag dazu veranlaßt, die Brost-Stiftung.

Veranstalter der Mammutausstellung ist die Stiftung für Kunst und Kultur e.V. in Bonn, der Walter Smerling vorsteht, der in Personalunion auch die Duisburger Küppersmühle leitet. Der Eigenanteil der beteiligten Städte am Ausstellungsprojekt hingegen ist übersichtlich. „Das Projekt haben wir privat gehoben“, gibt Smerling selbstbewußt zu Protokoll.

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„The Night of Time Vivarium“ (2015) von Sun Xun ist im Hagener Osthaus-Museum zu sehen. (Foto: Sun Xun/china8)

Rund 500 Werke von 120 Künstlern

Nun ist es keineswegs verwerflich, wenn die Wirtschaft die Kunst fördert, und sei es die chinesische. Zu sehen also gibt es – viel. Rund 500 Werke von rund 120 Künstlerinnen und Künstlern in neun Museen in acht Städten. Küppersmühle und Lehmbruck in Duisburg, NRW-Forum in Düsseldorf, Folkwang in Essen, Kunsthalle Recklinghausen, Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, Osthaus Museum Hagen und Kunstmuseum Gelsenkirchen.

Düsseldorf zeigt einen üppigen Querschnitt, die anderen Häuser haben sich spezialisiert. So widmet Essen sich der Fotografie, Recklinghausen setzt einen Schwerpunkt bei besonders jungen Positionen, die Küppersmühle bietet exklusive Vergleichsmöglichkeiten und präsentiert zu den zehn chinesischen Künstlern, „deren Entwicklung wir seit 20 Jahren intensiv verfolgen“, in etwa zeitgleich entstandene Werke der Herren Baselitz, Beuys, Götz, Kiefer, Lüpertz, Richter, Schultze und so fort. Sie entstammen der Sammlung Ströher, die Küppersmühle hat da einiges zu bieten.

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„Sidewalk“ (2014) – ein Tintenstrahlausdruck von Alfred Ko, jetzt in Essen zu bewundern. (Foto: Alfred Ko/china8)

Pioniertaten in Duisburg

Seit er das Haus im Duisburger Innenhafen leitet, hat Walter Smerling sich in Bezug auf chinesische Kunst zahlreiche Verdienste erworben. Lange Zeit war er der einzige, der in einem Museum (Galeristen waren da häufig schon weiter) chinesische Zeitgenossen breit präsentierte.

Wie es scheint, war Smerling unter den Museumsleuten auch die treibende Kraft für „China 8“, doch beansprucht er den Lorbeer nicht für sich allein. Dankbar erinnert er sich an einen Besuch bei Ferdinand Ullrich in der Recklinghäuser Kunsthalle vor etwa zwei Jahren, wo dieser „Kunst aus Beijing“ aus der Sammlung eines niederländischen Industriellen präsentierte, der ungenannt bleiben wollte. Viele der Werke hatte auch Smerling schon gezeigt, als sie noch nicht Teil jener niederländischen Sammlung waren. Da wurde gleiches Interesse spürbar; und so reiften erste Pläne für die China-Schau.

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„Appearance of Crosses“ (2007-10) von Ding Yi – jetzt in der Duisburger Küppersmühle. (Foto: Ding Yi/china8)

Warum kommt Ai Wei Wei nicht?

Kenner der Materie mögen mich geißeln, aber ich kann nicht behaupten, auch nur einen der präsentierten Künstler zu kennen – sicherlich eine Mißlichkeit, die durch ausgiebigen Ausstellungsbesuch behoben werden könnte.

Der einzige wirklich weltberühmte chinesische Künstler wäre wohl Ai Wei Wei, doch der wollte nicht teilnehmen. Man hatte ihn, beteuert Smerling, angefragt, und für diese Anfrage hatte es von den chinesischen Behörden grünes Licht gegeben.

Ai Wei Wei kommt angeblich also aufgrund einer persönlichen Entscheidung nicht. Was ihn so entscheiden ließ und ob Repression im Spiel war, unterliegt der Spekulation. Allerdings, so Smerling, sei ja auch bekannt, daß der regimekritische Künstler Gruppenausstellungen nicht liebe.

Was nun aber gibt es zu sehen? Viel Öl auf Leinwand, viel Acryl auf Leinwand, einige Videos, einige Installationen, gut plazierbares Skulpturales. Von den Formaten her fühlt man sich oft an die Art Cologne erinnert, wo (ganz anders als im zeitgenössischen deutschen Ausstellungsbetrieb mit seinen immer komplizierteren konzeptionellen Verschwurbelungen) solide Flachware dominiert, gut ins Wohnzimmer zu hängen. Gleiches gilt sinngemäß für die prominent präsentierbaren Skulpturen und Blumenvasen. Keine Experimente – allerdings sollten die Wohnzimmerwände eine gewisse Größe haben, um die ausladende Chinakunst aufzunehmen.

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Die Skulptur „Bang!“ (2002) von Xiang Jing ist 162 cm hoch und steht jetzt im Duisburger Lehmbruck-Museum. (Foto: Xiang Jing/china8)

China-Pop adé

Und inhaltlich? Verglichen mit den poppig bunten, oft auf sehr eindringliche Art gesellschaftskritischen Werken, die in den vergangenen Jahrzehnten bei uns zu sehen waren, ist die „China 8“-Kunst bedenklicher, bedeckter, kontemplativer, in gewisser Weise europäischer. Die Farbigkeit wirkt häufig zurückgenommen, gesellschaftskritische Botschaften sind zwar wahrzunehmen, dominieren aber nicht. Doch selbstverständlich sind Globalbewertungen wie diese immer schwierig. Das Schaffen von 120 Künstlerpersönlichkeiten läßt sich nicht seriös auf einen Punkt bringen.

Die Karte des Reviers, die die teilnehmenden Museen verzeichnet, weist im Raum Dortmund lediglich eine weiße Fläche auf. Wollten die nicht, konnten die nicht? Ferdinand Ullrich, der nicht nur die Recklinghäuser Kunsthalle leitet, sondern auch den Ruhr-Kunstmuseen vorsteht, in deren Kontext das China-Projekt entstand, kann es nicht erklären, findet den Umstand aber auch nicht sehr bedeutsam. Für ihn wurde andersherum ein Schuh daraus. Immerhin nehmen acht Häuser teil, das bewertet er als großen Erfolg.

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Das „New China Series Car No. 1“ (2009) von Ma Jun steht im Hagener Osthaus-Museum und ist aus Porzellan (Foto: Ma Jun/china8)

Daß die Dortmunder nicht mitgezogen haben, mag der personellen Situation geschuldet sein, dem Machtvakuum auf der Leitungsebene im Dortmunder „U“. Bekanntlich sucht man einen „Intendanten“ für das kompliziert strukturierte Haus, der wohl auch den derzeitigen Museumschef Kurt Wettengl beerben wird. Doch sind das einstweilen noch Spekulationen.

Weil aber Spekulieren so viel Freude bereitet, spekuliere ich noch etwas weiter und wage die nicht allzu mutige Prognose, daß die Menge der chinesischen Kunst auf dem Kunstmarkt in den nächsten Jahren enorm wachsen wird. Es gibt viel gelangweiltes Geld, das man im Austausch mit den Kunstwerken einsammeln kann. Zur Freude der Chinesen und ihrer deutschen Partner.

 

  • „China8“
  • 15. Mai bis 13. September 2015.
  • Neun Ausstellungen in acht Häusern
  • Duisburg: Küppersmühle und Lehmbruck-Museum
  • Düsseldorf: NRW-Forum in Düsseldorf
  • Essen: Folkwang-Museum
  • Recklinghausen: Kunsthalle
  • Marl: Skulpturenmuseum Glaskasten
  • Mülheim/Ruhr: Kunstmuseum
  • Hagen: Osthaus-Museum
  • Gelsenkirchen: Kunstmuseum
  • Öffnungszeiten und Eintrittspreise sind unterschiedlich.
  • An den Wochenenden verkehren kostenlose Bus-Shuttles zwischen den Museen.
  • Für die ganze Schau wird auch ein Kombi-Ticket zum Preis von 18 Euro (erm. 10 Euro) angeboten, mit dem in der gesamten Laufzeit des Projekts jede Ausstellung einmal besichtigt werden kann.



Versöhnung im Sterben: Charles Gounods „Faust“ gelingt am Theater Hagen

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Charles Gounods „Faust“ stand lange unter Kitschverdacht, vor allem bei literarische Gebildeten in Deutschland: Die Konzentration des komplexen „Faust“-Stoffes auf die Liebestragödie, die Abkunft von einem französischen Boulevard-Stück, der Transfer der musikalischen Diktion aus der „Großen Oper“ und die Spuren der tragischen Frauen Donizettis – all das rückte Gounods Werk in abschätziges Zwielicht, ausgedrückt auch durch den lange gebräuchlichen deutschen Titel „Margarethe“.

Seit einer Generation hat sich die Rezeption gründlich verändert, „Faust“ wird nicht mehr länger unsinnigerweise an Goethe gemessen, Gounods Musik unvoreingenommen betrachtet und geschätzt. Dafür haben die Regisseure erhebliche Probleme mit den religiösen Bezügen in der Oper des überzeugten Katholiken Gounod. Der Erlösungsschluss als befremdendes Element will nicht zu „aufgeklärten“; transzendenzfreien Deutungsversuchen passen und geht so regelmäßig schief, wird denunziert oder entwertet.

Dabei wird übersehen, wie entscheidend dieses Finale für die Konzeption der Gounod’schen Oper ist. Mephistopheles ist eben ein prinzipieller Gegenspieler des Lebens, kein Spaßmacher und auch kein bloßer Gangster. Und die „Liebestragödie“ wird, spielt man Gounods Oper komplett, zur Apotheose einer Frau, die ihre Selbstbestimmung und ihre Wahrheit auch gegen gesellschaftliche Ächtung und existenzielle Vernichtung behauptet: Sie alleine erkennt im letzten Terzett im Gefängnis – kurz vor der Hinrichtung – den wahren Charakter des Dämons, der selbst Faust in seiner ganzen Tragweite nicht aufgeht.

In Hagen hat die unspektakuläre, sorgfältige Inszenierung von Holger Potocki diese Interpretations-Leerstellen gefüllt. Potocki will das Transzendente nicht eliminieren, geht unbefangen mit christlich-religiösen Symbolen um, macht aber aus „Faust“ weder eine Predigt noch ein Moralstück. Sein „Faust“ ist die Geschichte einer Selbsterkenntnis im Moment des Todes. Das Drama einer Versöhnung eines alten Mannes mit sich selbst.

Sie beginnt in einem Krankenzimmer: Lena Brexendorff schafft einen beziehungsreichen Raum: Der alte Faust (Klaus Klinkmann) liegt, verkabelt und verschlaucht, im Bett. An der Wand ein Kreuz, im Vordergrund das Bild einer idyllischen Landschaft: die geistigen Koordinaten des Stücks, Christentum und Romantik. „Rien“ – das erste Wort Faustens, das „Nichts“, das ihn in diesem Moment erfüllt, kommt aus der Seitenbühne – ein Gedanke, in den sehnsuchtsvollen Klang des Tenors Paul O’Neill gekleidet.

Gounod schreibt kein Stück über die Last des Alters und die Freuden der Jugend, sondern eines über die Qual des Nihilismus angesichts des nahenden Todes. Das gibt dem „Gerettet“ am Ende eine gewichtige Wendung: Nicht nur Marguerite ist aus den Fängen des Bösen gerettet; auch Faust kann ruhig und versöhnt entschlafen. Ostern ereignet sich für Faust im Moment seines Todes.

Zunächst sucht der Todkranke jedoch eine andere Lösung: „Salut, dernière matin“ – der Gruß an den letzten Morgen – signalisiert die Entscheidung zur Selbsttötung. Er reißt sich die Schläuche aus. Die Krankensalbung, von einem Bischof gespendet, verstärkt nur die Zweifel: „Dieser Gott, was soll er mir?“. Mephisto schält sich aus dem Priester, ganz in Rot: die pervertierte Seite der Transzendenz.

Brexendorffs Bühne lässt nicht vergessen, dass der Traum Fausts anhält: Das Bett bleibt präsent, als übergroßes Gestell im Hintergrund, als Spielfläche, am Ende als Gefängnis Marguerites. Ein Zwischenvorhang, der in den Konturen eines Gehirns die Sicht auf die Bühne zulässt, erinnert vielleicht etwas zu plakativ daran, dass wir in der Gedankenwelt Fausts verharren. Die Videos von Volker Köster zeigen Fausts Mienenspiel in Großaufnahme, blenden bei Mephistos Lied vom Goldenen Kalb Kriegsaufnahmen und Aktienkurse ein. Das Kreuz steht in grünem Licht auf dem Kopf.

Die Begegnung von Faust und Marguerite: ein falscher Traum. Die idyllisch-romantische Landschaft des Gemäldes aus dem Krankenzimmer beherrscht nun die Szene. Der Sternenhimmel zur Juwelen-Arie ist ambivalent; er deutet ultimativen Kitsch und letzte Sehnsuchts-Erfüllung an. In der großen Klage der Marguerite wird dann der leere Bilderrahmen in der Szene schweben: Der romantische Traum ist aus.

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods "Faust" in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods „Faust“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Potocki lässt auch in der Zeichnung seiner Figuren beziehungsreiche Sorgfalt walten. Valentin ist der Vertreter des gesellschaftlich etablierten Glaubens: Kenneth Mattice zeichnet ihn als pflichtbewusst, überzeugt und kämpferisch, aber auch unbarmherzig, dogmatisch, unversöhnlich, rechthaberisch und auf sexuelle Reinheit fixiert: Gounod wusste offenbar sehr genau, wie die düsteren Seiten des Katholizismus seiner Zeit ausgesehen haben.

Die rührende Tragödie des kindlich liebenden Siebel (Kristine Larissa Funkhauser) beleuchtet Potocki mit viel Emphase: Weihwasser machen seine Hände vom Zauber Mephistos rein, aber gegen die Juwelen – die „Ableger“ des Goldenen Kalbs – sind seine romantischen Blumen machtlos. Aber diesem sauber gescheitelten Jungen mit der Hornbrille gelingt es, seine begehrende Leidenschaft in liebevolle Freundschaft zu wandeln.

Mephisto, der Herr der Narren (und der Pfaffen) ist von Rolf A. Scheider als eleganter Verführer, aber auch brutaler Macher charakterisiert. Vor der Madonna knickt er schwächelnd ein – aber er kann die Statue auch in seinem Sinn benutzen: Im dämonischen Theater der Kathedralszene ist sie mit blutrotem Sternenkranz und böse funkelnden Rubinaugen die von Mephisto manipulierte Erscheinung einer strafenden transzendenten Macht, die dann – hart an der Grenze zum Kitsch – im Dampf der Hölle versinkt. Scheider lässt keinen Zweifel, dass dem Teufel diese Welt gehört: Der wieder in seine Jugend zurückversetzte Faust steckt in einem Anzug, der an eine Zwangsjacke erinnert. Er hat keine Wahl: Auf dem Weg zur Rettung muss er das Böse in jeder Konsequenz durchdenken.

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O'Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O’Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Auch musikalisch überwiegen in Hagen die erfreulichen Aspekte: Steffen Müller-Gabriel weckt immer wieder in dem symphonisch ausgebauten Orchestersatz Gounods das Potenzial des Philharmonischen Orchesters, gestaltet dynamische Bögen, trifft die grelle, plakative Melodik der Mephisto-Ständchen, die untergründige Bosheit der Szene in der Kathedrale mit ihren „Dies Irae“-Drohungen, aber auch die schwärmerische Lyrik der vergeblichen Träume einer reinen, zukunftsfrohen Liebe. Nicht vergessen machen kann er, dass sein Orchester oft zu laut und zu vordergründig bleibt. Ein flexiblerer Umgang mit dem Metrum würde etwa der hymnischen Steigerung in der Finalszene Marguerites mehr Leidenschaft gewähren.

Der Chor von Wolfgang Müller-Salow ist diesmal in den wabernden Frauenstimmen richtig schlecht, muss im Finale aus dem Lautsprecher tönen, was den musikalischen Reiz der Szene zerstört, bringt aber die forschen Gesänge der Studenten konzentriert auf den Punkt.

Mit viel Stilempfinden und einer nahezu souveränen Stimme widmet sich Paul O’Neill der Rolle des Faust: Anfangs etwas gequetscht, singt er sich zunehmend frei, kommt in seiner Arie „Salut, demeure“ zu lyrischer Intensität und meistert die Höhe wunderbar vorbereitet und sicher gebildet. Dass er das Diminuendo nicht bruchlos verwirklicht, ändert nichts an einer großartigen Leistung, die man so auch von heute gesuchten Vertretern dieses Faches nicht so ohne weiteres erwarten darf.

Mit Kenneth Mattice hat sich Hagen einen viel versprechenden Bariton aus den USA verpflichtet: Ein attraktiver Valentin mit feuriger Mittellage und nicht ganz sattelfester, aber ungezwungener Höhe. Ein wenig mehr Eleganz in Tonbildung und Legato – und ein überzeugendes musikalisches Rollenporträt ist fertig. Rolf A. Scheider ist als Méphistophéles auch stimmlich ein direkter Sänger, der machtvolle Töne in den Raum schleudert, gut artikuliert, aber die elegante Bosheit, den heuchlerischen Kavalierston, die subtile Grausamkeit Mephistos differenzierter ausdrücken könnte.

Das bewährte Damenterzett im Ensemble des Hagener Theaters kommt auch in diesem „Faust“ zum Einsatz: Veronika Haller ist eine attraktive, die selbstbewussten Seiten der Figur herausarbeitenden Marguerite, aber ihre harte Tongebung, der Mangel an lyrischer Noblesse und Flexibilität stehen ihrem ambitionierten Rollenporträt immer wieder im Wege. Auch Kristina Larissa Funkhauser hat als Siebel stimmlich nicht ihren besten Tag: sie schluckt das Ende von Phrasen und tut sich schwer mit der geforderten Leichtigkeit und Innigkeit. Marylin Bennett hat als Marthe einen kurzen, aber wirkungsvollen Auftritt. Summa summarum hat das Theater Hagen aber wieder einmal mit einer ehrgeizigen Produktion überzeugt.

Infos: www.theater-hagen.de




Künstler auf der Suche – Hagener Museum zeigt frühe Bilder von Emil Schumacher

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Der junge Emil Schumacher im Jahr 1950 (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

Als Emil Schumacher begann, ein berühmter Maler zu werden, war er immerhin schon 33 Jahre alt. Der Moment ist klar bestimmbar. Am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, kündigte Schumacher seinen Job als technischer Zeichner in einer Hagener Batteriefabrik und wurde freier Künstler.

Dieser mutige Schritt – wie auch das Ende des Zweiten Weltkriegs – liegt jetzt fast 70 Jahre zurück und ist Anaß für eine Sonderausstellung im Hagener Schumacher-Museum, die dem Frühwerk gewidmet ist, Titel: „1945 – Wiedersehen in den Trümmern“.

Wenn ein Familienvater in schwerster Zeit eine solche Lebensentscheidung trifft, dann ist Druck da, Getriebenheit, Radikalität. Mit gleicher Radikalität hatte der 21-jährige Emil Schumacher 1933 sein Studium an der Dortmunder Kunstgewerbeschule abgebrochen, weil er sich nicht der Nazi-Ideologie unterwerfen wollte. Nun aber gab es so etwas wie eine zweite Chance, wenngleich ein Studium wohl nicht mehr in Frage kam.

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Entgrenzt: Schumacher-Bild Sodom (1957) im Format 132 x 170 cm (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

In den Jahren 1945 bis 1951, deren Schaffen die Hagener Ausstellung dokumentiert, erlebt man einen Künstler, der zum einen fraglos noch auf der Suche nach dem richtigen Weg ist, der andererseits bereits auffällt durch die tiefe Durchdringung von Themen und Sujets zum einen und großer handwerklicher Meisterschaft zum anderen. Wenn dieser Suchende Anfang der 50er Jahre scheinbar so plötzlich seinen unverwechselbaren „informellen“ Stil gefunden hat, ist das zwar nicht selbstverständlich, aber auch nicht verwunderlich. Viel Typisches war früh im Keim schon angelegt.

Schlüsselwerk für ein besseres Schumacher-Verständnis ist fraglos „Die brennende Stadt“ von 1946, eine Serie von schwarz gedruckten Holzschnitten, die der Künstler auf mehreren Blättern mit unterschiedlichen Farbigkeiten belegte.

Es sind Bilder des Grauens, Feuer, Rauch, Verwüstung und Verzweiflung, und die Farben machen es noch schlimmer. Es sind Schmerzensschreie wie Picassos „Guernica“ von 1937 – und sie markieren gleichzeitig Schumachers Abwendung vom Figurativen, hin zur grundlegenden elementaren Empfindung. In der Ausstellung wie im Katalog hat Kurator Rouven Lotz die Reihe der kolorierten Holzschnitte dankenswerterweise in räumliche Nähe zu dem Kolossalgemälde „Sodom“ von 1957 gerückt, stattliche 132 x 170 cm groß, das in Flächenentgrenzung, Farbe und Stimmung und unter Weglassung gegenständlicher Elemente doch dem „Bombenangriff“-Zyklus ganz nahe ist.

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Die Hütte in Hagen-Haspe – als es sie in den späten 40er Jahren noch gab (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

Der „suchende“ Schumacher malte, zeichnete, druckte mit Holz und Linoleum, arbeitete mit gefundenen Materialien wie groben Geweben oder ausgestanzten Blechen. Immer wieder scheint das karge Leben der Nachkriegsjahre in seinen Arbeiten auf. Eine Zeichnung zweier alter Männer, die sich unterhalten, ist mit „1000 Kilokalorien“ unterschrieben; das war das Diskussionsthema jener Zeit, ganze 1000 Kalorien gab es pro Kopf.

Vier Bilder eines alten Mannes hängen an der Wand. Alte Männer prägten das Bild, der männliche Teil der Nachkriegsbevölkerung beschränkte sich weitgehend auf Greise und Kinder, die anderen waren großenteils im Krieg geblieben. Nutzlose Greise verkörperten gleichsam die trostlose Lage. Der eine Greis, den Schumacher immer wieder abbildete, war bei seiner Familie zwangseinquartiert worden und in diesem Sinn ein „dankbares Objekt“ für den jungen Maler. Wiederum beeindruckt bei diesen Blättern die souveräne Technik, die Sicherheit des Ausdrucks, gleichgültig, ob sie mit Farbstift, Tusche oder als Aquarell ausgeführt wurden.

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Da war der Künstler erkennbar noch auf der Suche nach seiner malerischen Position. Papierfabrik Kabel, 1949 gemalt. (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

Ja, diese 40er- und 50er-Jahre waren eine schlimme Zeit, obwohl das elterliche Haus in Hagen nicht Opfer von Bombardierungen geworden war und der junge Emil in seinem Dachzimmer malen, zeichnen und drucken konnte. Trotzdem lugt bei vielen Arbeiten auch Humor hervor, Lebenshunger und ein leise triumphierendes „Hurra, wir leben noch“. Die Kirmes zum Beispiel ist auf einem Linolschnitt von 1948 schwarz vor Menschen, und die Finger, die sich auf einem farbigen Linolschnitt über einem Kanonenofen wärmen, tun dies in recht neckischer Pose. Mit betonter Leichtigkeit und frecher Kombination von bunten Flächen und gegenständlichen Formen können etliche Bilder ihre Herkunft aus der frühen Nierentischzeit nicht verleugnen, aber warum sollten sie auch?

Man sieht, daß er ein brillanter Portraitist war, dessen Zeichnungen einem Kirchner oder Zille zur Ehre gereicht hätten; zum anderen zeigt sich ganz früh schon, insbesondere bei den harten Drucken, der souveräne Flächenkompositeur, als der der Hagener bald schon berühmt wurde.

In den Fünfzigern ging es steil bergauf mit Emil Schumachers Ruhm, waren seine Bilder unter anderem auf Biennalen in Venedig und Sao Paulo sowie auf der Documenta in Kassel zu sehen. Die vorzügliche kleine Hagener Schau mit ihren rund 60 Arbeiten – Eigenbestand und Leihgaben – macht höchst informativ, abwechslungsreich und manchmal auch vergnüglich klar, wie und wo dieses unverwechselbare Oeuvre seinen Anfang nahm.

„Emil Schumacher – 1945 – Wiedersehen in den Trümmern“, Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1. 22. Februar bis 7. Juni 2015. Geöffnet Dienstag bis Sonntag: 11 – 18 Uhr. Katalog mit Vorwort von Ulrich Schumacher und einem Beitrag von Rouven Lotz, 84 Seiten, 19,90 €. Eintritt 9 €. Tel.: 02331/207-3138. www.esmh.de




Kunst als ewiger Kreislauf: Bilder von Friedensreich Hundertwasser in Hagen

Man ist beileibe kein Prophet, wenn man dieser Ausstellung ganz profan einen zählbaren Erfolg vorhersagt. Hundertwasser „zieht“ immer. Sicherlich auch in Hagen.

Tayfun Belgin, Leiter des Hagener Osthaus Museums, wo jetzt rund 130 Arbeiten aller Schaffensphasen des Friedensreich Hundertwasser (1928-2000) zu sehen sind, hofft auf rund 60000 Besucher – plus X. Dann wäre man mit der kostspieligen Schau auch finanziell „im grünen Bereich“.

Friedensreich Hundertwasser: Blackmister Sky (1975), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz)

Friedensreich Hundertwasser: Blackmister Sky (1975), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz)

Hagen genießt übrigens nicht zuletzt deshalb den Vorzug, die Ausstellung im Verein mit der Hundertwasser Stiftung und „Die Galerie“ (Frankfurt) auszurichten, weil im Osthaus Museum schon 1964 ein wichtige Hundertwasser-Wanderschau zu sehen war, die seinerzeit auch in Hannover, Amsterdam, Bern, Stockholm und Wien gastierte und den endgültigen Durchbruch für diesen Künstler bedeutete. Damals erwarb das Osthaus Museum das Hundertwasser-Bild „Der Traum des toten Indianers“.

Doch jetzt mal abgesehen vom Zahlenwerk und historischen Reminiszenzen. Was fruchtet eine Werkschau dieses Künstlers heute? Wirkt er noch weiter? Erfährt man etwas, was man noch nicht geahnt hat?

Nun, immerhin wird einem abermals die außerordentliche Leuchtkraft seiner Bilder vor Augen geführt. Sie kommen einem buchstäblich entgegen, sitzen sie doch nicht direkt auf den Wänden, sondern rund zehn bis zwölf Zentimeter davor. Zudem sind diese Wände in dezenten Farben gehalten (Blau, Violett, Anthrazit, Grün), so dass all die mäandernden Linien der bildnerischen Traumwelten umso mehr hervortreten. Im Katalog (24,90 Euro) sieht man die Farbenspiele vor pechschwarzem Hintergrund, was einen ähnlichen Kontrast-Effekt zeitigt.

Wenige Beispiele aus dem Frühwerk zeigen, dass auch Hundertwasser einmal ganz konventionell begonnen hat. Doch wurde er gerade kein Akadamiekünstler, sondern schritt auf autodidaktischen Pfaden in seinen ganz eigenen Kosmos, in dem es allzeit wächst und wuchert, spiralförmig sprießend, schier endlos in sich selbst versponnen, geradezu kindlich bunt fabulierend.

Friedensreich Hundertwasser: "Der Traum des toten Indianers" (1964), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz / Fotografie: Achim Kukulies)

Friedensreich Hundertwasser: „Der Traum des toten Indianers“ (1964), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz / Fotografie: Achim Kukulies)

Irgendwann hat der gebürtige Wiener mit bürgerlichem Namen Friedrich Stowasser sich beherzt entschieden, die fortwährende Hetzjagd nach Neuem nicht mehr mitzumachen, die die westliche Avantgarde über viele Jahrzehnte prägte. Die als Lehrmeisterin verehrte Natur ist nicht pfeilförmig in die Zukunft gerichtet, sondern ein Kreislauf. Wachstum ist deshalb nicht mit Beschleunigung und Entgrenzung verbunden, sondern mit einem ewigen Wechselspiel aus Blüte und Vergehen. Schon im Diesseits soll der Paradiesgarten gedeihen.

Um das Jahr 1953 hatte Hundertwasser seine unverwechselbare, heute weltweit bekannte Formensprache entwickelt, die zuweilen manisch oder gar in milder Weise wahnhaft wirkt. Und schon in den 1960er Jahren ist Hundertwasser zum Vordenker und „Vorfühler“ ökologischer Bewegungen geworden. Also wollte er mit seinem Schaffen, das alsbald auch in architektonischen Visionen (in der Ausstellung mit staunenswerten Modellen präsent) Gestalt annahm, ins Leben hinein wirken – mit womöglich heilsamer Schönheit. Hagen zeigt auch Beispiele für angewandte Kunst. Eine Installation zur Wasserreinigung und eine zur erweiterten Nutzung von „Scheiße“ treiben die Kunst-Ökologie auf fast schon bizarre Art weiter.

Ein markantes Zitat prangt in Hagen auf einer Wand: „Die optische Umweltverschmutzung ist die gefährlichste, weil sie die Seele des Menschen tötet.“ Meiner Treu, da ist etwas dran, wenn auch der Satz beileibe nicht allerklärend ist und eine Spur zu idealistisch klingt.

Wer will, mag sich – gleichsam meditativ – in diese Bilder versenken oder auch speziellen Hinweisen nachgehen, die sich etwa auf die zahlreichen Zwiebeltürme in Hundertwassers Werk beziehen. Scheinen hier Anregungen aus dem orthodoxen Christentum zu walten, so finden sich anderwärts auch Bauformen, die an Moscheen erinnern. Müßig ist’s, aus heutiger Sicht etwas hineinzudeuten.

Tatsächlich ersehnte Hundertwasser eine friedliche Koexistenz der Weltreligionen, was auch eine von ihm gestaltete Fahne mit grünem Halbmond und blauem Davidsstern belegt. Allerdings regiert in diesem Werk vielfach auch wohlfeile Harmonie, bei der kaum noch etwas wie erkämpft und errungen wirkt.

Mit etwas bösem Willen könnte man weite Teile von Hundertwassers Oeuvre als quirlig farbstarkes Einerlei bezeichnen. Er schreitet den einmal gefundenen Formenkanon mit endlosen Variationen bis zur Erschöpfung aus.

Mit der Zeit wirkt das übersättigend oder auch bloß noch kraftlos dekorativ. Dann ist man zuweilen geneigt, Hundertwasser allenfalls für einen liebenswerten Spinner zu halten. Doch man sollte ihn nicht vorschnell gänzlich abtun. Dieser asketische Weltverbesserer musste seine schöpferische Energie wohl just so und nicht anders in solche Lebenslinien strömen lassen. Damit wir ein für allemal ein Beispiel haben.

Hundertwasser. Lebenslinien. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 1. Februar bis 10. Mai 2015. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 3 Euro), Kinder unter 6 Jahren gratis. Weitere Infos: www.osthausmuseum.de




Kommissar, Derrick und finstere Zeit: Herbert Reinecker vor 100 Jahren in Hagen geboren

Herbert Reinecker im Jahr 1995. Foto: ZDF/Hermann Roth

Herbert Reinecker im Jahr 1995. Foto: ZDF/Hermann Roth

Jeder kennt ihn, wenn vielleicht auch nicht bewusst: Herbert Reinecker gehört zu den erfolgreichsten Drehbuchschreibern des deutschen Nachkriegsfernsehens. Er ist der Schöpfer von Figuren, die Fernsehgeschichte gemacht haben: „Der Kommissar“ und „Derrick“. Zwischen 1952 und 1958 schrieb er rund fünfzig Filmdrehbücher: Für „Canaris“ bekam er 1955 das Filmband in Gold.

Aber Herbert Reinecker ist nicht nur der Grandseigneur der bundesrepublikanischen Filmunterhaltung. Er hat seine Karriere im Deutschland Adolf Hitlers begonnen und bis April 1945 für die nationalsozialistische Propaganda gearbeitet – als Journalist, Theaterdramatiker und Filmautor. Das Buch „Reineckerland“ beschreibt die Karriere des Autors detailliert und zeigt auch, wie Reinecker die alten Nazi-Verbindungen geholfen haben, in der jungen Republik Karriere zu machen.

Anders als etwa sein Derrick-Hauptdarsteller Horst Tappert, aber auch anders als spätere „moralische“ Größen in der Bundesrepublik wie Günter Grass hat Reinecker aus seiner Vergangenheit nie ein Hehl gemacht. Der Sohn eines Eisenbahners aus Hagen in Westfalen, geboren am 24. Dezember 1914, aufgewachsen in schlichten Verhältnissen, macht 1934 das Abitur und greift zu dem, was ihm die „neue Zeit“ bietet: Nach Anfängen bei der lokalen Zeitung redigiert er eine Jugendzeitschrift und macht das so gut, dass er nach Berlin geholt wird.

Mit der SS in den Krieg

1940 zieht er mit der SS als Berichterstatter in den Krieg. Noch im April 1945 schreibt er für „Das schwarze Korps“. Sein Schauspiel „Das Dorf bei Odessa“ ist das erfolgreichste seiner vier Dramen: Die Nazis sahen in Reinecker einen kommenden Vertreter ihrer Bühnenkunst. Mit „Junge Adler“ (1944) schreibt er das Buch zu einem Film, der neben „Hitlerjunge Quex“ der wohl wichtigste Jugend-Propagandafilm der NS-Zeit wurde.

Eine der erfolgreichsten Figuren Herbert Reineckers: Kommissar Keller (Erik Ode). Foto: ZDF/Neue Münchner Filmproduktion

Eine der erfolgreichsten Figuren Herbert Reineckers: Kommissar Keller (Erik Ode). Foto: ZDF/Neue Münchner Filmproduktion

Nicht zuletzt durch die Unterstützung alter NS-Kameraden wie Alfred Weidenmann schafft es Reinecker, sich Anfang der fünfziger Jahre als Drehbuchschreiber für den Film und das junge Fernsehen zu etablieren. Sein erstes Fernsehstück „Abteilung für Notwohnung“ schreibt er 1953. Da hatte er schon mit „Weg in die Freiheit“ ein wichtiges Filmdrehbuch an den Mann gebracht.

Fortan gehörte er zu den vielbeschäftigten Schreibern im deutschen Film. Im Interview erinnert sich Reinecker an seine Auszeichnung für „Canaris“; „Als mir der Innenminister den Preis überreicht hat, hab ich zu Alfred Weidenmann gesagt, du, ich glaube, jetzt gehören wir wieder dazu. Dann ging’s los mit vielen, vielen Spielfilmen.“

Moral, Disziplin, Pünktlichkeit: So beschreibt Martin Betz in einem Portrait Reineckers Erfolgsgrundlagen. Dazu kommen ein Blick für die Stoffe, ein Gefühl für die Zeit und für das spannende Erzählen, eine ungeheure Erfahrung.

Ob „Anastasia, die letzte Zarentochter“ oder der Kriegsfilm „Stern von Afrika“, ob „Die Trapp-Familie in Amerika“ oder Edgar Wallaces „Der Hexer“: Reinecker konstruierte seine Handlungen stets übersichtlich, dramaturgisch zielsicher und – wenn irgend möglich – mit einem Blick auf die Moral einer Story, die sich nicht in der bloßen Handlung erschöpft.

Schuld und Sühne als wiederkehrende Themen

Szene aus der Derrick-Folge "Das absolute Ende": Derrick (Horst Tappert) und Klein (Fritz Wepper) erleben eine böse Überraschung. Foto: ZDF/Michael Ewerbeck

Szene aus der Derrick-Folge „Das absolute Ende“: Derrick (Horst Tappert) und Klein (Fritz Wepper) erleben eine böse Überraschung. Foto: ZDF/Michael Ewerbeck

Das zeigt sich wohl am deutlichsten in seinen großen Krimi-Serien. 97 Folgen schrieb Reinecker zwischen 1968 und 1976 für „Der Kommissar, 281 Mal ließ er zwischen 1973 und 1997 den einsamen Jäger Stephan Derrick auf Verbrechersuche gehen.

Schuld und Sühne sind immer wiederkehrende Themen. Die Frage nach dem Bösen im Menschen treibt Reinecker um: Wie wird ein Mensch zum Verbrecher? „Herzlich willkommen beim Jüngsten Gericht“ heißt ein Buch, das Reinecker fünf Jahre vor seinem Tod im Jahr 2002 vorlegte. „Was könnten wir sagen, um vor dem höchsten aller denkbaren Gerichte bestehen zu können?“, fragt sich darin ein Bühnenautor. Es gehöre nicht viel Phantasie dazu, in dem Bühnenautor ein Alter ego Herbert Reineckers zu erkennen, meinte Michael Seewald in der FAZ dazu.

Unabhängig von der Frage nach möglicher eigener Schuld, die sich der willige Mittäter öffentlich nie gestellt hat, schienen Reinecker solche Fragen nicht losgelassen zu haben. Schuldhafte Verstrickungen gehören zu seinen Hauptmotiven, auch wenn er von sich selbst rechtfertigend sagt, er habe sich die Zeit und die Verhältnisse nicht ausgesucht. Der Frage nach der Moral stellte er sich in seinem Leben freilich immer wieder.

Als Hochbetagter war er der Überzeugung, die Welt rolle der Apokalypse entgegen. Vielleicht hat er in seinen Kriminalgeschichten – von so manchem als „moralinsauer“ missgedeutet – versucht, sich dem „dunklen Kern“ im Menschen, in der Geschichte mit dem verzweifelten Blick auf eine gefährdete Humanität zu nähern. In den Depressionen seines Alters, so sagte der 2007 verstorbene Reinecker einmal in einem Interview, träume er in ruhelosen Nächten „vom Krieg, nur noch vom Krieg“.




Krasser „Sanierungs“-Vorschlag: Kunst aus dem Hagener Osthaus-Museum verkaufen…

Im Sommer stach mir beim Einkauf ein Plakat ins tränende Auge, worauf die famose Gruppierung namens „Hagen aktiv“ die Forderung aufstellte, man möge sich doch durch Verkauf des Schumacher-Museums und der mit ihm verbundenen Kosten einiger Gelsorgen entledigen.

Ziemlich überflüssiger Gedanke, weil ohnehin nicht bis an sein finanzielles Ende durchdacht, dachte ich damals und schrieb es auch. Und, was ich noch dachte: Sie sind zwar aktiv, attestieren sie sich selbst, aber wie so häufig ist bloße Aktivität noch weit entfernt davon, vernünftige Gedanken zu entwickeln.

Nun dachte ich, das wär’s gewesen und nach Jörg Dehm, der mal Ferdinand Hodlers „Der Auserwählte“ über Christie’s vom Hohenhof auf den internationalen Kunstmarkt werfen wollte (10 Millionen Bruttoerlös taxierte man damals) und den „aktiven“ Hagenern käme niemand mehr auf Schnapsideen wie den Verkauf von Hagener Kunstwerken. Weit gefehlt: Nun muckt doch tatsächlich ein hoch erfahrener Politiker wie Dietmar Thieser (SPD) auf und merkt an, man könne ja den Verkauf von Magazin-Beständen des Osthaus-Museums ins Auge fassen, von Werken, die weder ein Hagener kennt noch so schnell zu Gesicht bekäme.

Ehrwürdig: der Altbau des Hagener Osthaus-Museums. (Foto: Bernd Berke)

Ehrwürdig: der Altbau des Hagener Osthaus-Museums. (Foto: Bernd Berke)

„Um den maroden städtischen Haushalt zu sanieren, hat Dietmar Thieser, heute Bezirksbürgermeister von Hagen-Haspe (und früherer Oberbürgermeister der Stadt), einen Verkauf von Kunstwerken aus dem Karl-Ernst-Osthaus-Museum ins Spiel gebracht. Darüber müsse man angesichts des Spardrucks und der von den Sportvereinen geforderten Hallennutzungsgebühr diskutieren: ,Es darf keine Tabus geben.’“ So heißt es im WAZ-Portal www.derwesten.de.

Flugs hat Thieser eine populäre Vokabel zur Hand, weil er mit dem energischen Schritt „Transparenz“ in den Magazin-Kellern herstellen wolle, flugs auch noch einen griffigen Vergleich, nicht weniger populär: Nur 7,8 Millionen Euro stecke die Stadt derzeit in die Sportförderung, 28,7 Millionen in Wissenschaft und Kulturförderung. Und nun wolle man die Sportler auch noch mit Nutzungsgebühren für ihre Sportstätten belasten. Wenn das nicht kracht.

Ich schrieb unlängst an anderer Stelle, dass es glatter Blödsinn sei, sich mit der Einführung von erfahrungsgemäß ziemlich erlösschwachen Sportstättennutzungsgebühren eine unselige öffentliche Diskussion an den Hals zu laden. Da isse! Klar, es verbietet sich, Ausgaben für Schule, Sport oder Kultur gegeneinander aufzurechnen. Wer so was beginnt, der wird mit der gestaltenden Politik alsbald aufgeben müssen, weil dann nämlich jede Gruppe mit subjektiv für unverzichtbar gehaltenen Einzelinteressen mit demselben Unsinn begänne.

„Es darf keine Tabus geben“, mahnt Dietmar Thieser via Medien. Natürlich nicht, aber dann gilt diese Aussage auch umgekehrt. Es darf dann auch keine Tabus bei der Sportförderung geben, es darf keine bei öffentlichem Nahverkehr geben, es darf keine bei den Grünflächen geben… usw. Wo hören wir denn da auf? Beim Hasper Kirmeszug? Ja, unbedingt, denn der ist meiner Ansicht nach ein unverzichtbares Stück Hagener Lebens. (Das meine ich ernst!)

Aber, Kunst, Kultur, innovative Sprünge in einer städtischen Lebensqualität, auch sie gehörten stets zu Hagen. Karl Ernst Osthaus, dessen Museumsmagazin Dietmar Thieser versilbern will, war ein Mann, der mit dem Geld seiner Bankiersfamilie viel Seliges für Hagen anstellte. Er begründete die Folkwang-Bewegung, schuf eine unvergleichliche Sammlung, ließ den Hohenhof entstehen, bescherte dem Bahnhof eine noch heute unschätzbare Glasmalerei von Jan Thorn Prikker. Renoir, Matisse, van Gogh, Czézanne, Christian Rohlfs gehörten zu seinem Bekannten- und Freundeskreis. Ohne ihn und die Muttererde Hagens gäbe es in Essen kein Folkwang-Museum.

Nein, wir dürfen keine Tabus setzen. Wir dürfen vor allem keine Angst davor haben, den götzenanbetenden Schwarzzahlenverehrern in Berlin zu sagen, dass sie es sind, die Städte und Gemeinden (namentlich in NRW) wortbrechend veröden lassen, dass sie es sind, die ihnen Lasten auferlegen, die der Bund zu tragen hätte, dass sie es sind, die versuchen, den eigenen finanziellen Sumpf trockenzulegen und gleichzeitig den Kommunen das Wasser bis zum Halse stauen.

Täte der Bund zeitnah das, was er den Städten und Gemeinden nach der zurückliegenden Wahl versprach, müsste in Städten wie Hagen niemand auf so blöde Ideen kommen, Sportstättengeühren als Zwietracht säendes Folterinstrument zu erheben, müsste andererseits auch kein Sportsfreund sich auf die unfaire Vergleichsdiskussion einlassen, wieviel Geld für was und wen ausgegeben wird in einer einstigen Kulturstadt von europäischem Rang.

Langer Rede kurzer Sinn: Macht lieber Vollfront gegen den Unsinn im Bund als darüber nachzudenken, was man alles versilbern könnte, das dann aber unwiederbringlich weg sein wird.

(Der Text ist zuerst in Rudi Bernhardts Blog http://dasprojektunna.de erscheinen)




Hagener Künstler stellen im schönen Schwelmer Schloss „Haus Martfeld“ aus

Da haben die Hagener Maler und Bildhauer mal einen Sprung über die Ennepe gewagt und sind mit ihren Werken in die Kreisstadt Schwelm gefahren, um sie dort auszustellen. Die „Künstler-Gilde Hagen“ war im Frühjahr nach einem Besuch in der Schwelmer Wasserburg „Haus Martfeld“ vom Ambiente so angetan, dass sie das Angebot für eine Ausstellung dort sehr gerne angenommen hat.

„Farbe kommt nicht nur aus der Tube“ heißt nun die Schau, die man sich im Martfeld-Obergeschoss noch bis zum 11. Januar ansehen kann. Mehr als 40 Künstler und Künstlerinnen gehören der Hagener Gilde an. Gut die Hälfte von ihnen beteiligt sich an der Schwelmer Ausstellung. In einer so heterogenen Gemeinschaft gehen selbstverständlich auch die Qualtitätsvorstellungen auseinander, und entsprechend finden sich in der Ausstellung nicht nur Bilder von technisch hervorragendem Niveau oder mit überraschend umgesetzter Bildidee wie jener Katze, die Gitarre spielt, oder die überdimensional großen Schweizer Schokoladenstücke. Auch eher an naive Malerei erinnerende Bilder mit falscher Perspektive oder fast kitschige Blumenbilder kann man sehen.

„Das Haus Martfeld hat ein tolles Ambiente – genau die passende Atmosphäre für unsere Bilder“, meinte zur Eröffnung Christiane Bispinghoff, eine der Künstlerinnen, die seit zwei Jahrzehnten dabei ist. Tatsächlich ist die alte Wasserburg mit ihrem großen öffentlichen Park für sich schon einen Besuch wert. Das Haus beherbergt neben den Räumen für Wechselausstellungen wie diese auch ein Museum zur Kultur und Geschichte des Schwelmer Raumes und eine große Münzsammlung sowie das Schwelmer Stadtarchiv. Leider ist die Hauptstadt des Ennepe-Ruhr-Kreises finanziell derart klamm, dass sie sich Öffnungszeiten nur am Wochenende erlaubt.

Ausstellung der Hagener Künstler-Gilde im Haus Martfeld in Schwelm, Haus Martfeld 1. Bis zum 11. Januar 2015, jeweils am Samstag und Sonntag von 12 bis 17 Uhr geöffnet, Eintritt 1 Euro.

www.kuenstlergilde-hagen.de und schwelm.de




Der Irrsinn, die Stadt und der Krieg: Zur Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“

Um das Jahr 1900 war das westfälische Hagen – ganz anders als heute – eine prosperierende, aufstrebende Stadt. Mochten auch Nachbarorte wie Dortmund (Freie Reichsstadt im Mittelalter, Hansestadt) eine weitaus längere Geschichte haben, so entwickelte sich doch jetzt auch in Hagen ein bürgerliches Selbstbewusstsein.

Hier wirkte damals der umtriebige Mäzen Karl Ernst Osthaus (1874-1921) mit seinem später so genannten „Hagener Impuls“, der 1902 zum seinerzeit weltweit ersten Museum der Gegenwartskunst führte. Die Blüte zeigte sich auch im Stadtbild: Damals entstanden in Hagen ein neues Rathaus (1903) und ein neuer, repräsentativer Bahnhof (1910), beide in historisierenden Stilformen, dazu das schmucke Stadttheater (1911). Auch eine machtvolle Stadthalle war beinahe fertiggestellt, als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann. Damit endete auch Hagens Aufstieg jäh – mit ungemein weit reichenden Folgen, deren Ausläufer teilweise noch heute nachwirken.

"Wir müssen siegen!" (Bildpostkarte, um 1915 - Stadtarchiv Hagen)

„Wir müssen siegen!“ (Bildpostkarte, um 1915 – Stadtarchiv Hagen)

In diesem vielfach tragischen Spannungsfeld bewegt sich nun die Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“ im Osthaus Museum, die vorwiegend die Perspektive der „Heimatfront“ einnimmt. 100 Jahre nach der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts sind an der Bilanz auch das Stadtmuseum und das Stadtarchiv beteiligt. Mit dermaßen vereinten Kräften hat man es geschafft, dass rund 90 Prozent der Exponate in dieser kulturhistorischen Schau aus eigenen Hagener Beständen stammen.

Rund 120 Kunstwerke sowie zahllose Archivalien und Abschauungsobjekte lassen in den besten Sequenzen der Ausstellung einen (lokal und regional zentrierten) Dialog zwischen Kunst und Alltagszeugnissen entstehen.

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Wo Stücke wie etwa Mobilmachungsbefehle und Sterberegister, alte Schreibmaschinen, Ladenkassen, Soldatenhelme oder (kriegerisches) Spielzeug für sich genommen nicht beredt genug sein sollten, tritt die Kunst in ihr Recht. Bilder der Expressionisten (Schmidt-Rottluff, Kirchner, Heckel) oder von George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann – um nur wenige zu nennen – geben so manche Ahnung von den Schrecken des Krieges, der Not, des Hungers und des Irrsinns, den der Weltenbrand mit sich brachte. Bewegend auch die Blätter eines Walther Bötticher, der 1916 im Weltkrieg gefallen ist. Und überhaupt einige Unscheinbarkeiten am Wegesrand des Rundgangs.

Christian Rohlfs: "Tod als Sargträger" (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Christian Rohlfs: „Tod als Sargträger“ (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Neben Bildern mit verzweifelter Gebärde oder deutlich kritischem Sinn finden sich auch Beispiele für einen seelenlos oberflächlich registrierenden Zugriff oder gar nationalistisch und martialisch dröhnende Schöpfungen, wie beispielsweise das 1915 am Hagener Rathaus aufgestellte Standbild „Der Eiserne Schmied“ des „völkisch“ gesinnten Dortmunder Bildhauers Friedrich Bagdons.

Natürlich sieht man hier nicht das Original, sondern eine Dokumentation zur Entstehung. Der Schmied selbst ist – annähernd so groß wie die echte Statue – nur als „Pappkamerad“ gegenwärtig. Karl Ernst Osthaus wollte damals übrigens das Schlimmste verhindern und ermunterte Ernst Ludwig Kirchner zu einem Gegenentwurf, welcher jedoch keine Chance bei den kriegsbegeisterten Stadträten hatte…

Ein aufschlussreiches Kapitel ist der Rüstungsproduktion in gewidmet. Hier tat sich besonders die Accumulatoren Fabrik AG (AFA, Vorläuferin von Varta) hervor, die u. a. damals neuartige Spezialbatterien für U-Boote fertigte.

Nicht wenige historische Fotografien zeigen die entsetzlich angefachte Kriegslust der Bevölkerung – bis hin zu Kindern beim Kriegsspiel. Am Ende der Ausstellung wird in einer Art Epilog deutlich, wie nach dem verlorenen Krieg schon die Drachensaat für den nächsten aufgegangen ist. Was aus Hagen noch hätte werden können ohne Kriege, diese Frage könnte einen in tiefe Depressionen stürzen. Doch das gilt ja für alle betroffenen Städte und Länder.

Einige Exponate vermitteln hingegen bloßes Kolorit und reichen in ihrer Harmlosigkeit nicht so recht an das Thema heran. Nicht sehr schlüssig, wenn nicht gar überflüssig erscheint es, in einem Saal Kriegsrelikte beiderseits eines angedeuteten „Schützengrabens“ anzuordnen.

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener  Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Wenn man so will, ist das größte „Ausstellungsstück“ der Altbau des Osthaus Museums (also das frühere Folkwang-Museum von 1902), in den die Schau schließlich überleitet. Sigrid Sigurdssons stetig anwachsendes und mäanderndes Archivwerk „Architektur der Erinnerung“ gibt auch einige Dokumente aus dem Umkreis des Jahres 1914 her. Und das Junge Museum steuert noch Fotos, Materialien und Installationen aus pazifistischem Geiste bei. Möge es fruchten.

„Weltenbrand – Hagen 1914“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 20. Mai bis 10. August 2014 (Eröffnung So., 18. Mai, 15 Uhr). Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9 Euro, diverse Ermäßigungen. Tel.: 02331/207-2740. Internet: www.osthausmuseum.de

P.S.: Wenn man schon einmal in Hagen ist, sollte man einen Abstecher ins benachbarte Wuppertal machen, wo noch bis zum 27. Juli im Von der Heydt-Museum die Ausstellung „Menschenschlachthaus“ deutsche und französische Kunst zum Ersten Weltkrieg versammelt. Siehe auch hier: http://www.revierpassagen.de/24161/24161/20140404_1647




„Kannibalismus“ in unseren Innenstädten – ein neues Beispiel in Hagen

In der Innenstadt von Hagen kann man ihn wieder erleben, den Kannibalismus der geschäftigen Projektentwickler: Eine Galerie jagt die nächste, eine moderne Mall verdrängt die junge alte.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass in Hagen ein Teil des Rathauses abgerissen und an seiner Stelle ein überdachtes Einkaufszentrum errichtet wurde – die „Volmegalerie“, benannt nach dem Flüsschen Volme, das hinter dem Gebäudekomplex in Richtung Ruhr fließt. Integriert wurden dort ein Sportartikel-Kaufhaus und ein Saturn-Elektronikmarkt.

Gut zehn Jahre später entsteht nun direkt nebenan eine ganz neue Mall, wieder etwas heller, wieder etwas moderner, wieder etwas größer. Auch dafür wurde ein ganzer Häuserkomplex abgerissen, und wenn diese „Rathaus-Galerie“ demnächst eröffnet wird, ist auch Saturn wieder dabei: Die ziehen nämlich um von der jungen alten in die dann schon bald wieder veraltete junge Galerie. Auch andere Geschäfte wandern mit, und so sieht man jetzt schon, wie in der Volme-Galerie die ersten Läden leergezogen werden.

Und wie helfen sich die Volmer? Es wird umgebaut und auf Optimismus gemacht – es wird alles noch schöner und aufregender, liebe Kunden, bleiben Sie uns treu! Aber dieser Kannibalismus wird immer weiter gehen, das liegt wohl im Wesen unserer Markwirtschaft. Und warum ist das so? Wir als Kunden wollen es doch so, wenn wir nicht schon längst zum Kaufen ins Netz abgewandert sind.

Bestellt wird da fast alles, nur den Cappuccino und die Bruschetta kann man sich noch nicht heiß von Amazon schicken lassen. Kommt vielleicht auch noch.