Wie Heimat zu erfahren und zu schildern sei: Judith Kuckarts Dortmunder Hörfilm „Hörde mon Amour“

Blick auf die Siedlung Am Sommerberg/Am Winterberg in Dortmund-Hörde. (Screenshot aus dem besprochenen Film / © Judith Kuckart)

Dortmund vergibt bekanntlich (und endlich) ein Literaturstipendium. Das temporäre Amt, das andernorts meist Stadtschreiber(in) heißt, nennt sich hier Stadtbeschreiber*in. Die literarisch etablierte Judith Kuckart hat den Anfang gemacht. Ihr Dortmunder Aufenthalt begann im August und dauert bis Ende Januar 2021. Leider wurde auch ihre Tätigkeit von Corona eingeschränkt. Anders als vorgesehen, hat sie keine theatrale Umsetzung ihrer Ortserkundungen verwirklichen können, sondern einen rund einstündigen „Hörfilm“ produziert. Es ist ein „Heimatfilm“ ganz eigener Art.

Die 1959 in Schwelm geborene Judith Kuckart hat als Kind – aus traurigen familiären Gründen – „vier oder fünf Sommer“ im Dortmunder Ortsteil Hörde verbracht und kennt also noch das Alltagsleben in der früheren Stahlwerksgegend. In jenen Jahren war sie etwa 9 bis 14 Jahre alt. „Hörde war eine Schule fürs Leben“, sagt sie. Und Hörde sei für immer Teil ihrer „inneren Landschaft“. Ein „Downtown“ Dortmund, also eine zentrale Innenstadt, habe es für sie damals nicht gegeben. Folglich trägt der Film den Vorort liebevoll im Titel: „Hörde mon Amour“.

Westfälische Witterung

2017, als der Kongress der Autorenvereinigung PEN in Dortmund stattfand, hatte die heute in Berlin lebende Judith Kuckart Gelegenheit, erneut westfälische Witterung aufzunehmen. Zwar hat sie für die Stipendienzeit in der Nordstadt am Dortmunder Borsigplatz gewohnt, sich aber auf den Spuren ihrer Kindheitserinnerungen weit überwiegend wieder „auf den Hügeln von Hörde“ umgetan. Das 1340 gegründete (und 1928 nach Dortmund eingemeindete) Hörde hat schon immer ein gewisses Eigenleben geführt und lange Zeit mit Dortmund auf Kriegsfuß gestanden. Auch daraus bezieht der ebenso eindringliche wie wohltuend ruhige Film untergründige Spannungsmomente.

Die Autorin und Dortmunder Stadtbeschreiberin Judith Kuckart – hier in Berlin, März 2019. (Foto: Burkhard Peter)

Äußerst langsam und behutsam tastet die Kamera (Martin Rottenkolber) Einzelheiten ab, die Erinnerung in sich bergen (könnten): die Siedlung „Am Sommerberg“/„Am Winterberg“ im vogelperspektivischen Überblick; sodann geht’s Fassade für Fassade an verwitterten Häusern entlang. Auch sieht man eine typische Wohnung daselbst mit allen Einzelheiten, die nicht gerade auf Wohlstand hindeuten und wirken, als seien sie rücklings aus der Zeit gerutscht. Hinzu kommt ein verfallenes, inzwischen auch verwunschenes früheres Schwimmbad („Schallacker“), dessen Areal zur Stätte des Urban Gardening mutiert ist. Lauter wehmütige Ansichten von zumeist menschenleeren Orten. Kein Wunder, wenn dabei Kopfkino entsteht, zumal als Bezugspunkt ein kartographierter, aber nicht existierender Phantom-Ort bei New York aufgerufen wird, der zur Kultstätte für Jugendliche von weither geraten ist. Auch Hörde ist nicht zuletzt ein imaginäres Gelände.

„Schäbiges Paradies“

Nicht in den Bildern, wohl aber in den Texten dieses „Hörfilms“ scheint auf, wie sehr hier einst das pralle, wenn auch oft etwas ärmliche Leben sich begeben hat. Im besagten Schwimmbad, so heißt es, sei gleichsam alles Lebendige geschehen, es seien auf den Liegedecken in diesem „schäbigen Paradies“ auch Kinder gezeugt worden. Mittlerweile gibt es einen machtvollen und scharfen Kontrast, ein ganz anderes Hörde, das gleichfalls, wenn auch eher schaudernd, ins Auge gefasst wird: die Gegend rings um den künstlich erstellten Phoenixsee mit ziemlich seelenlosen Neubauten zu exorbitanten Preisen. Dies sind keine Kindheitsräume mehr, aber vielleicht Orte für unstete „Wandermenschen“, die allüberall ihresgleichen finden.

Judith Kuckart erinnert sich hingegen lieber an die Jahre um 1968, als die Frauen in der Hörder Siedlung ganztags im Morgenmantel umher gingen, die bescheidenen Haushalte führten und Kinder versorgten, während die Männer bei Hoesch malochten oder in der Kneipe zechten. Eine 1979 aus Jamaika zugewanderte Frau bedauert den späteren Wandel gleich zu Beginn des Films: Früher sei ihr der Lichtschein des Hochofenabstichs stets wie eine wärmende, tröstende Sonne erschienen, später sei hier und in anderen Stadtteilen jedoch „alles den Bach runtergegangen“. Um in Hörde herzlich und herzhaft heimisch zu werden, muss man wahrlich nicht dort geboren sein.

Wo wir uns sicher bewegen können

Fixsterne in Kuckarts Hörder Kindheitssommern waren mehrere Tanten, die dort gelebt haben. Eine von ihnen ist mit 24 Jahren gestorben, ihr kurz vorher geborenes Baby hielt sie bis zuletzt fest umklammert. „Oma Schüren“ (in Dortmund heißen Großeltern familiär häufig nach dem Stadtteil) ist gegen Ende einer Kinovorführung in der – bis heute als letztes Vorort-Lichtspielhaus existierenden – „Postkutsche“ in Aplerbeck gestorben. Heute kann niemand mehr sagen, welchen Film die Großmutter zuletzt gesehen hat.

Man ahnt, dass der Ton zum Film sich keineswegs in „Dönekes“ erschöpft, sondern wesentlich tiefer lotet, manchmal ganz unversehens. Nach und nach stellt sich mit zunehmender, freilich allemal sanfter Dringlichkeit die Frage, was eigentlich „Heimat“ sei und wie von ihr zu erzählen wäre. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns immer sicher bewegen können“, heißt es an einer Stelle. Ob es zugleich ein konkreter Ort ist, steht allerdings dahin. Überhaupt ergeben sich viele Fragen: Ist die Heimat ein Ort oder ein Gefühl? Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht nach Heimat? Kann man eine Heimat gründen oder entwerfen? Kann Sexualität eine Heimat sein? Und so fort. Hier lagert Stoff fürs eine oder andere weitere Buch im Sinne des „autofiktionalen“ Erzählens, der Selberlebensbeschreibung, angereichert mit fiktionalen Elementen, wie sie seit einiger Zeit wieder vermehrt Teile der Literatur prägt (und nicht die schlechtesten).

Um das Erzählte noch genauer zu verankern, versichert sich Judith Kuckart der Kenntnisse einiger langjährig ortsansässiger „Heimatexpert(inn)en“. Jede(r) von ihnen trägt ureigene Bruchstücke zum Mosaik der Heimatlichkeit bei. Und nein: Das berühmte Diktum von Ernst Bloch („…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“) kommt an keiner Stelle vor.

„Hörde Mon Amour“. – „Hörfilm“ von Judith Kuckart, 2020. Zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Dortmunder Literaturhauses: 

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Im Mai 2021 soll Anna Herzig übernehmen

P.S.: Als nächste Dortmunder Stadtbeschreiberin wird – vermutlich ab Mai 2021 – Anna Herzig aus Salzburg in der Stadt sein. Sie hat keine Dortmunder Kindheitserfahrungen, will aber hier an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der in einem Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt…




Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart: Heftige Kindheit im Schatten der Hörder Hochöfen

„Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart, deren letzter Roman von 2019 sinnigerweise „Kein Sturm, nur Wetter“ heißt. (Aufnahme vom März 2019 in Berlin: © Burkhard Peter)

Dortmunds erste Stadtbeschreiberin Judith Kuckart hat sich heute im Literaturhaus am Neuen Graben 78 vorgestellt. Ihren Lebensmittelpunkt hat die renommierte Autorin seit etlichen Jahren in Berlin, doch kann sie auf Dortmunder Erinnerungen zurückgreifen. Genauer: auf Kindheitserinnerungen aus dem Stadtteil Hörde, wo es, wie sie sagt, damals ziemlich heftig zugegangen ist.

Irgendwann liefen dort ziemlich viele 15- oder 16-jährige Mädchen herum, die bereits schwanger waren. Da beschloss ihre Familie denn doch, dass diese Gegend nicht ganz das Richtige für Judith sei – und zog wieder zurück in ihre betulichere Geburtsstadt Schwelm.

Ohne Sattel auf dem Fahrrad

Zuvor hatte Judith Kuckart ein paar gleichsam typische Ruhrgebiets-Kindheitsjahre im Malocherviertel erlebt. „Ich habe in Hörde Fahrradfahren gelernt – ohne Sattel.“ Auch habe sie damals tagtäglich aus der Nähe gesehen, wie kompliziert es zwischen Männern und Frauen zugeht. Gar nicht zu vergessen das Milieu der knochenharten Arbeitswelt: Ein Onkel habe am Hochofen gearbeitet und sei schon mit 40 Jahren gestorben.

Die damalige Wohnadresse: Am Winterberg 72 a. Die Straße lag im Schatten der gewaltigen Hoesch-Hochöfen, heute erstreckt sich auf dem früheren Werksgelände der Phoenixsee. Vor zwei Jahren, als ein Bundeskongress der Schriftstellervereinigung P.E.N. sie wieder einmal nach Dortmund führte, hat Judith Kuckart (Jahrgang 1959) in Hörde eine Cousine besucht, die sich mit der Gentrifizierung rund um den künstlichen See so gar nicht abfinden mag.

Niemand sitzt mehr auf den Stufen

Jedenfalls stellten beide fest, dass in diesen Straßenzügen – ganz anders als früher – niemand draußen auf den Stufen saß, um nachbarschaftlich zu plaudern. Es ist eine dieser Beobachtungen, aus denen schließlich Literatur erwachsen kann. Judith Kuckart fragt sich, ob es heute Berührungspunkte zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen gebe. Oder liegt hier eine eklatante gesellschaftliche Spaltung vor? Kuckart wird versuchen, es herauszufinden, mit ihren Mitteln. Einsam Spaziergänge um den Phoenixsee seien ihre Sache nicht, sie wolle mit vielen Menschen reden.

Derlei sinnfällige Veränderungen eines Stadtteils, so Kuckart, könnten ein Ansatzpunkt für ihre Stadtbeschreiberinnen-Arbeit in Dortmund sein, die im Mai beginnen und bis Oktober dauern wird. Schon vor ihrer Bewerbung ums Dortmunder Stipendium hat sie fürs Romanprojekt „Die Unsichtbaren“ eine Figur entwickelt, die aus Dortmund-Hörde stammt. Auch hierzu dürften sich weitere Recherchen anlagern. Sprich: Die Kindheit und ihre Schauplätze sind keineswegs vergessen, da regt sich immer noch einiges im Gemüt. Mehr noch: Als die Presseleute nicht allesamt Ralf Rothmanns Ruhrgebiets-Roman „Milch und Kohle“ (2000) kennen, ruft sie aus: „Na, ihr seid mir ja schöne Dortmunder!“

Interessanter als Heidelberg

Und überhaupt. Sie bewerbe sich eigentlich nicht mehr um Stadtschreiber-Ämter, in diesem Falle aber habe sie es getan, „w e i l es um Dortmund geht. Heidelberg hätte mich zum Beispiel nicht so interessiert.“ Obwohl sie dort schon gearbeitet hat – als Mitglied der Tanzcompagnie von Johann Kresnik. Tanz und Choreographie waren nämlich ihr ursprüngliches Metier, bevor sie immer mehr zum Schreiben kam. Also kennt sie sich auch mit Bühnenpraxis aus, was in ihrer Dortmunder Zeit durchaus eine Rolle spielen könnte. An einer Stelle fällt das Wort Erzähltheater. Bürgerinnen und Bürger sollen dabei mitmachen. Hört sich schon mal vielversprechend an.

Ein Satz, der Schülern gefallen dürfte

Damit nicht genug der medialen Auffächerung. Kuckart denkt auch schon an ein visuell angereichertes Dortmunder Tagebuch, das eventuell im Internet erscheinen könnte. Und sie kann sich gut vorstellen, hie und da in Schulen am Unterricht mitzuwirken. In Hamburg hat sie mal mit Achtklässlern einen „Schulhausroman“ erarbeitet, in dem ein verschwundener Lehrer gesucht wurde. Mit einer Aussage, die offensichtlich von Herzen kommt, dürfte Judith Kuckart manche Schüler rasch auf ihre Seite bringen: „Warum müssen Kinder im Achtklässler-Alter überhaupt zur Schule gehen? Furchtbar!“

Um die Dortmunder Gretchenfrage aufzuwerfen und flugs zu beantworten: Ja, Judith Kuckart kennt sich auch mit Fußball aus. Das erwähnte P.E.N.-Treffen nutzte sie seinerzeit auch, um den BVB gegen den 1. FC Köln spielen zu sehen. Einschlägige Texte gehören hin und wieder ebenso zu ihrem Repertoire wie auch schon mal eine Lesung im Stadion.

Bestimmt nicht wegen des Geldes beworben

Die Dotierung des Stipendiums beläuft sich monatlich auf 1800 Euro. Dazu befragt, erklärt Judith Kuckart sehr glaubhaft, sie habe sich gewiss nicht wegen des Geldes beworben. Sie wird sich auch nicht in einem schicken Viertel ansiedeln, sondern höchstwahrscheinlich eine (seit jeher schwarzgelb dekorierte) Schreibwohnung in der bundesweit bekannt-berüchtigten Dortmunder Nordstadt beziehen. „Heftige“ Zustände kennt sie ja von damals aus Hörde.

Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann (Kulturdezernent und Kämmerer in Personalunion) versichert, mit 1800 Euro bewege man sich finanziell im „oberen Drittel“ vergleichbarer Stipendien. Man habe sich in dieser Angelegenheit von Autoren und anderen Kennern des Literaturbetriebs eingehend beraten lassen.

Keinen Auftrag zu erfüllen

Stüdemann betont außerdem, dass – anders als bei vielen sonstigen Stadtschreiber-Posten – der Preisträgerin nichts Konkretes abgefordert werde. Sie habe keinen Auftrag zu erfüllen, sondern könne sich nach Belieben in der Stadt umsehen. Die ungewöhnliche Bezeichnung Stadtbeschreiberin lässt (im Vergleich zur Stadtschreiberin) ja schon ahnen, dass es hier nicht um Dienstbarkeiten für die Kommune geht, sondern ums Wahrnehmen und Aufzeichnen.

Judith Kuckart macht deutlich, dass es ihr nicht um „Meinungen“ über Dortmunder Verhältnisse zu tun sei, auch nicht um investigative Nachforschungen („Das kann ich gar nicht“), sondern just um möglichst genaue Beobachtungen und hernach ums Erzählen. Nur dann könne Verborgenes sichtbar gemacht werden. Und nun lasst uns mal ganz wohlwollend abwarten, wie die angenehm unprätentiöse Schriftstellerin ihre Vorhaben umsetzen wird.




Vom üblen Abwasserkanal zum munteren Bächlein – eine Radtour entlang der Emscher

Impression vom Emscherquellhof in Holzwickede bei Dortmund. (Foto: Gerd Puls)

Impression vom Emscherquellhof in Holzwickede bei Dortmund. (Foto: Gerd Puls)

Gastautor Gerd Puls über den renaturierten Wasserlauf, der früher so dreckig war wie kein anderer:

Unscheinbar, aber idyllisch. Ein Gehöft, ein Quellteich am Rande Holzwickedes. Emscherquellhof. Zuerst ein paar Tropfen, ein Rinnsal bloß, ein schmaler Bach, ein Graben, mehr nicht. Holzwickede, vor den Toren Dortmunds. Tor zum Sauerland nennen manche ihre schmucke Gemeinde. Gerade mal 17.000 Menschen leben hier, viele pendeln zur Arbeit ein. Im Norden der Dortmunder Flughafen, Stadtteil Wickede, wenige Meter von hier zum Holzwickeder Bahnhof.

Zurück zur Emscher, etwas südlich geht es, der Bachlauf schlängelt sich durch den Ort. An der Sparkasse das kleine Denkmal, die Emscher, Quelle und Verlauf, die Orte rechts und links des Flüsschens, ein Schulkind mit Ranzen, hier geboren, hier zu Haus.

Der Holzwickeder Markt. Nur am ersten Adventswochenende findet hier vor dem historischen Rathaus ein rummeliger, dennoch stimmungsvoller Weihnachtsmarkt statt, ausgerichtet von Holzwickeder Vereinen, Schulen, Organisationen. Zusammengehörigkeit, Heimatverbundenheit, hier trifft man sich. Wen es im Laufe seines Lebens woandershin verschlagen hat, der kommt oft extra zum Weihnachtsmarkt von weither angereist.

Schaurig schöne Anblicke, doch es gibt Abwechslung

Der kleine Emscher-Park, der schöne Baumbestand, an der Kirche vorbei, weiter Richtung Westen. Du kannst prima mit dem Rad die Emscher entlang, lautete die Empfehlung. Emscher-Radweg. In Nullkommanix durch Sölderholz, Sölde, alles längst Dortmund, Aplerbeck, und zack, bist du am Phoenixsee. Also versuch ich es und halte die Augen auf. Schön hier, schaurig schön, manchmal ein wenig uniform und trist bei der dichten Bebauung. Doch Abwechslung gibt es, vom Rad aus gut zu registrieren: alte Industrie, neue Logistikflächen, Straßenzüge, Siedlungen, Wohnblocks und schmucke Einfamilienhäuser.

Die Dortmunder Stadtgrenze ist rasch erreicht, Westfalens größte Stadt, flächenmäßig weit vorne bei Deutschlands Städten. Eine ganze Menge Stadtteile, etliche mit dörflichem Charakter. Von Barop, Brackel, Bövinghausen über Lanstrop und Lindenhorst bis Wambel, Wellinghofen, Westerfilde.

Ich radle. Sölde, Sölderholz, Aplerbeck. Als ich in den 1970ern in Dortmund studierte, Kunst und Pädagogik, schanzte mir ein Professor einen kleinen Auftrag zu. Die Kranich-Apotheke in Aplerbeck möchte ein neues Emblem. Für Briefbögen und Schaufenster, kannst du das machen? Also pingelte ich einen stilisierten Kronenkranich hin für 50 Mark, und der Apotheker hatte ein billiges hübsches Erkennungszeichen, heute noch prangt es in Gold prächtig und filigran an Fenster und Fassade.

Früher hieß es: „Der gehört nach Aplerbeck“

Dann die psychiatrische Landesklinik, später im Lehrerberuf hatte ich hin und wieder dort zu tun. Irgendein gemeinsames Gutachten, ein Kind, dem man dort helfen konnte. Als ich selbst Kind war, klang das manchmal gar nicht schön. Der gehört nach Aplerbeck, hieß es, wenn einer mal ein wenig Unsinn gemacht und über die Stränge geschlagen hatte. Toleranz und Akzeptanz sahen anders aus.

Links der Phoenixsee im Stadtteil Hörde, an Wochenenden beliebtes Ausflugsziel. All die Parkplätze dann knüppelvoll. Ruhrgebietsfreizeit, einmal den Rundweg, oder halb und dann ins Eiscafé. Mit der Emscher hat der Phoenixsee nichts zu tun, sie fließt bloß nah vorbei. Sumpfiges Gelände noch vor 200 Jahren. Eine Mulde, Sumpf, Morast und Mücken. Bevor man hier das gigantische Stahlwerk errichtete, das vor ein paar Jahren dem künstlichen Teich seinen Namen gab. Ein flaches Gewässer, das künstlich mit Sauerstoff versorgt werden muss, damit es nicht umkippt. Von der gewaltigen Stahlschmiede steht längst nichts mehr, nur die Thomasbirne an der Promenade als Wahrzeichen und Erinnerungsstück.

Stahlwerk wanderte von Hörde nach China

Das Stahlwerk ist längst demontiert, ab per Schiff, in China wieder aufgebaut. Hörde, Dortmund, das Ruhrgebiet hat es verkraften müssen. Der Niedergang, Verlust von Kohle und Stahl. Die Hörder Burg, direkt am See, das Gebäude der ehemaligen Stiftsbrauerei, damals die biertrinkenden Mönche, sich zuprostend, fett an der Fassade. Der frühere Dortmunder Dreiklang: Kohle, Stahl und Bier.

Ich sehe mich um. Wohin ist die Emscher entschwunden. Verläuft sie unterirdisch? Nachdem das Stahlwerk platt war, hat der See etwas gebracht für den Stadtteil Hörde. Quadratische Häuser säumen das Ufer, hier wohnen Fußballer des BVB und andere Leute, die es sich leisten können. Moderne Architektur, viel Glas nach Süden hin, Sonnensegel und Weinreben gar. Fast wie im Urlaub, Eisdielen locken. Büroflächen, Gewerbeansiedlungen, die Sparkasse hat ein großzügiges Schulungszentrum errichtet.

Rostiger Hochofen als „Tatort“-Kulisse

Weiter die Pedale treten, es geht durch Hördes Zentrum. Die Überreste von Phoenix West, immer noch eindrucksvolle Industrieruine. Endlos die braunen Backsteinmauern, Hallen sind neu zu nutzen. Flächen reichlich, eine neue, überbreite Zubringerstraße, hier sind Ansiedlungen möglich. Die rostigen Streben des letzten Hochofens locken Fotografen an. Schaurig bizarre „Tatort“-Kulisse bei manchem Sonntagskrimi. Zwischendurch dröhnen Motoren bei illegalen Autorennen, surren ferngesteuerte Drohnen hoch in die Dortmunder Luft. Zeichen dafür, dass man alt geworden ist. Damals, in Kindertagen, als die Emscherbrühe dreckig und stinkend in ihrem Kanalbett schwappte, ließen wir harmlose Papierdrachen steigen.

Neu nebenan die kleine Brauereimanufaktur, Bergmann-Bier, alte Tradition. An guten Wochenenden und wenn Borussia spielt, ist der Schankraum proppenvoll. Das Bier schmeckt gut. Ich könnte noch ein Stück weiter radeln durch Dortmunds Süden, Hombruch, Lütgendortmund, bevor die Emscher das Stadtgebiet verlässt, sich nach Norden windet und doch die Richtung hält, nach Westen, zum Rhein hin.

Bitte keine brüllendheißen Sommer

Besser zurück, für heute reicht es. Bewegung an der frischen Luft. Ein Stück Heimat, ein schöner Weg die Emscher entlang. Früher der dreckigste Fluss überhaupt. 80 Kilometer stinkender Abwasserkanal, Kloake, Köttelbecke. Transportvehikel für Schlamm, Dreck, Gestank und Giftmüll, den es überall gab, wo viele Menschen waren, wo mächtig malocht wurde, egal ob Kohle oder Stahl, Chemie oder sonst was, und bei Hochwasser überschwemmte die übel riechende Brühe ganze Stadtteile. Vergangenheit.

Heute ein munterer Bach, die Abwässer unter die Erde verbannt. Renaturiert lautet das Zauberwort, egal ob in Holzwickede, Aplerbeck, Hörde oder den Ruhrgebietsstädten, die bis zur Mündung folgen.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Sommer nicht dauernd brüllendheiß und knüppeltrocken werden und die Emscher eines Tages versiegt und verschwindet.

Verlauf der Emscher quer durchs Ruhrgebiet – Hinweistafel der Emschergenossenschaft. (Foto: Gerd Puls)

Verlauf der Emscher und der Radstrecke quer durchs Ruhrgebiet, dargestellt auf einer Hinweistafel der Emschergenossenschaft. (© Emschergenossenschaft / Foto Gerd Puls)

 




„Wenn der Wind von Hörde kam, roch es wie Pech und Schwefel“ – Erinnerung an eine Kindheit im Dortmunder Süden

Unsere Gastautorin, die aus Dortmund stammende Malerin und Lyrikerin Marlies Blauth, ergänzt und erweitert mit diesem Beitrag die vor wenigen Tagen erschienene Dortmunder Kindheitsskizze von Bernd Berke:

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Dortmunder Süden, jedenfalls Berghofen, war früher noch ziemlich ländlich. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich was drauf einzubilden, dort zu wohnen – allenfalls wusste man zu schätzen, einen Garten zu haben und nutzen zu können. Es gab kaum einen, in dem nichts Essbares wuchs. Auch die „besseren“ Leute hatten immerhin ein Eckchen mit Johannisbeeren im Garten und zogen ein paar Kräuter und Salatköpfe.

War Erntezeit und diese ertragreich, wurde wild herumverschenkt oder getauscht: Birnen hin, Kartoffeln zurück. Ab einem bestimmten Alter hatte ich diese Botengänge zu übernehmen. Wir besaßen mittlerweile ein Auto, wären aber nie auf die Idee gekommen, damit zwei Kilo Kartoffeln eine Straße weiter zu transportieren.

Der Eierkauf war manchmal Glückssache

Auch einzukaufen war meine Aufgabe. Bereits als ich vier Jahre war, schickte man mich zum Tante-Emma-Laden „umme Ecke“, um „mal eben ein Pfund Mehl“ zu holen. Man gab mir einen Zettel ins Portemonnaie, ich reichte es an der Theke vorbei (da ich noch nicht oben dran kam), erhielt meine Sachen und das Wechselgeld auf demselben Weg und dackelte nach Hause.

Manchmal musste ich auch zweimal gehen, wenn etwas bei Tante Emma (es waren in Wirklichkeit zwei Schwestern, die den winzigen Laden betrieben) bereits ausverkauft war. „Dann gibt’s halt Wirsing, wenn kein Rotkohl da ist. Geh nochmal schnell.“ Eier wurden grundsätzlich bei Omma L. gekauft, die Hühner hielt. Manchmal bekam man die Anzahl, die man wollte, manchmal nicht, manchmal gab es überhaupt keine, weil auch die allerbeste Legehenne mal Urlaub braucht.

Ein Uhrengeschäft – welch ein Luxus

Nach Norden sahen wir auf das Himmelrot von Phoenix. Das war Hörde, da begann „die Stadt“. Denn dort gab es größere Läden als Tante Emmas. Ein Uhrengeschäft, wahrer Luxus! Eine Schulfreundin träumte einmal, dass der Phoenix-Kühlturm explodiert sei, an dem wir oft vorbeifuhren. An diesen dramatischen Traum muss ich manchmal denken, wenn ich heute von derselben Stelle zum Phoenixsee (durch-)gucke, ohne den Turm.

Manchmal, wenn der Wind von Hörde kam, roch es „wie Pech und Schwefel – mach’s Fenster zu“. Die Emscher und deren kleinere Bach-Geschwister kommen als „grauer Leberpudding, der aus dem Mund stank“ in einem meiner Gedichte vor. Ich war übrigens schon länger in der Schule, als Berghofen noch immer nicht vollständig kanalisiert war: Bäche mit Bäh-Wasser flossen neben der Straße her.

Einfaches „Häuschen“ auf gepachtetem Acker

Diejenigen, die dem Süden seinen Ruf einer privilegierten Gegend verpassten, kamen erst deutlich später, ich mag so im dritten oder vierten Schuljahr gewesen sein. Meine Eltern hatten zwar auch neu gebaut, allerdings ohne jedes Kapital ein „Häuschen“, einfach und dünnhäutig, auf gepachtetem Acker. Diese Bedingungen waren es wohl, weshalb wir überhaupt in Berghofen gelandet sind.

Natürlich waren wir nicht wirklich arm, da mein Vater Lehrer war; der aber wurde er erst ziemlich spät im Leben, da er sieben Jahre seines Lebens in Krieg und Gefangenschaft gezwungenermaßen vergeudet hatte, krank zurückkam, seine musikalische Aufnahmeprüfung ein zweites Mal machen musste (alle Dokumente waren verbrannt) und sich – früh vaterlos geworden – sein Studium mit irgendwelchen musikalischen „Jobs“ finanzieren musste.

Die wenigsten Kinder hatten ein eigenes Zimmer

Meine Mutter war das älteste Kind einer Flüchtlingsfamilie. Meine Eltern hatten also beide bei Null angefangen, es gehörte ihnen vom „Häuschen“ erstmal so gut wie nix. Vielen Nachbarn ging es damals ähnlich. Obwohl es sich in unserer Straße ja um durchweg neue Häuser handelte, war es nicht üblich, dass jedes Kind ein eigenes Zimmer besaß. Bei mir war das allein deshalb so, weil ich keine Geschwister hatte. Waren mehr Kinder da, teilten sie sich selbstverständlich einen Raum.

Ich kannte auch eine Familie, die gar kein Kinderzimmer hatte, die drei Kinder wurden einfach irgendwo in der engen Wohnung verteilt. Ein Kind aus meiner Klasse wohnte die ersten Jahre sogar in einer Baracke. Ein Spielkamerad lebte mit seiner Mutter, auch einer Lehrerin, im winzigen „Keller“ (also Souterrain) eines Hauses in unserer Straße.

Einige Jahre später bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

…und einige Jahre danach bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

Ich erinnere mich auch an eine Berghofer Familie mit zehn Kindern, sie wohnten in einem abgerumpelten Bauernhaus neben dem Friseur, zu dem ich gescheucht wurde, wenn meine Haare „keine Facon mehr“ hatten. „Aber lass dir genug abschneiden, sonst musste bald wieder hin“ (und das wäre zu teuer). Scheußlich, den Friseurladen jedesmal als hässliches Entlein zu verlassen!

…und später zogen ein paar hochnäsige Leute zu

Eins von den „edlen“ Kindern, die dann später zuzogen (und in größeren, aufwändiger gebauten Häusern wohnten), bekam hingegen seine Haare jede Nacht „aufgedreht“, damit sie morgens zu schönen Löckchen würden. Diese Familie war es auch, die eines Tages meinte, hochnäsig feststellen zu müssen, dass ich „wieder mal was Selbstgestricktes“ trug. Bislang war das ganz normal, wir liefen meistens in geflickten und gestopften Sachen herum und fanden nichts dabei. Beim Herumstrolchen und Baumklettern war das ohnehin egal. Viele Anziehsachen waren auch gebraucht übernommen; das „beleidigte“ mich insofern, als die Mädels, von denen ich den Kram bekam, einen völlig anderen Geschmack hatten als ich. Aber das half überhaupt nichts. Was „noch gut“ war, wurde genutzt, egal, um was es ging.

Bei uns gab es fast immer einfaches Essen, und auch damit standen wir nicht allein. Der riiiesige Luxus eines jeden Kindergeburtstages bestand aus zwei oder drei Kuchen (einer davon war „Kalter Hund“, mit dem ich mich regelmäßig überfressen habe), abends dann Bockwürstchen mit Kartoffelsalat.

Der Wohlstand kam auf ganz leisen Sohlen

Der Wohlstand erwischte uns alle auf ganz leisen Sohlen, und er brauchte viele Jahre dafür. Irgendwann „ließ“ meine Mutter mal irgendwas machen, das war ein Anzeichen. Einige Bekannte hatten dann bessere (und auch zweite) Autos.

Ich erinnere mich allerdings auch an die Zeit, in der es nur ganz wenige Autos gab und stattdessen immer mittwochs der „Gemüsewagen“ kam. Na klar, und die Milch wurde jahrelang gebracht; „gold und silber“. Die gespülten Glasflaschen stellte man wieder raus, sie wurden bei der frischen Lieferung mitgenommen.

Der Bierkutscher mit seinem Gaul

Der Bierkutscher – ich glaube, er hieß Hoffmann – kam jahrzehntelang mit seinem Gaul vorbei, ich höre immer noch sein „Hüah“. Meine Mutter bedauerte das Pferd jedesmal, da es doch nun Autos gab. Und wenn ich heute fahrende Schrotthändler sehe, denke ich immer dran, dass „unsere“ früher grundsätzlich aus Essen kamen und noch auf einer richtigen Flöte „piffelten“. Vor allem fuhren sie viel langsamer als heute, so dass jeder es noch in den Keller schaffte, um irgendwas Metallenes nach oben zu wuchten. Und man bekam noch Geld dafür.

„Die Reichen“ wohnten, so hörten wir, in Kirchhörde, die „ganz Reichen“ in Lücklemberg. Einmal war ich dort, bei so entfernten wie ungeliebten Bekannten in deren Haus, dessen Ausmaß mir unbegreiflich vorkam und auf dessen „offenen Treppen“ über drei Stockwerke ich einen Heulanfall kriegte, weil mir vor Höhenangst schwindelig wurde.




„Ich träume davon, dass die Sache gut ausgeht“ – zum 25. Todestag des Publizisten Walter Dirks

Walter Dirks, geboren 1901 in Hörde (seit 1928 Stadtteil von Dortmund), ist vor 25 Jahren, am 30. Mai 1991, in Wittnau bei Freiburg gestorben. Er war ein Querdenker, ein wichtiger Publizist der zweiten Hälfte des vergangen Jahrhunderts. Er verzagte nicht, obwohl seine Utopien als „christlicher Sozialist“, der nach 1945 die hessische CDU mitgründete, nie eine Chance hatten, verwirklicht zu werden.
Unserem Gastautor Horst Delkus gab Walter Dirks, der spätere Ehrenbürger der Stadt Dortmund, am 13. Marz 1988 eines seiner letzten Interviews. Wir veröffentlichen es hier in Auszügen:

Die gesammelten Schriften von Walter Dirks sind im Zürcher Ammann Verlag erschienen. (Bild: Ammann Verlag/ZVAB)

Die gesammelten Schriften von Walter Dirks sind im Zürcher Ammann Verlag erschienen. (Bild: Ammann Verlag/ZVAB)

Herr Dirks, Sie sind jetzt 87 Jahre alt. Was ist Ihre vorherrschende Gemütsbewegung?

Ich muss leider gestehen, dass meine Grundempfindlichkeit Dank ist. Das ist sehr schwer zu verantworten vor den vielen Opfern der Geschichte, vor den vielen Leidenden in aller Welt und vor den ungelösten Problemen. Ich müsste also eigentlich entweder resigniert oder verzweifelt sein. Aber ich habe so viel Gutes erfahren in meinem Leben, von Menschen und vom lieben Gott, dass ich bekennen muss, dass das Grundgefühl Dankbarkeit ist.

Woher rührt dieses Grundgefühl?

Aus den guten Erfahrungen, die ich mit dem Leben gemacht habe. Trotz der großen Schwierigkeiten, die es manchmal gab. Ich habe einen großartigen Start gehabt durch meine Eltern und meinen Großvater. Ich habe einen etwas komplizierten Jugendweg gemacht, aber das ging dann durch die Jugendbewegung gut aus, diese kritische Jugendzeit. Und ich habe beruflich Erfolg gehabt und niemals ernsthafte Schwierigkeiten.
Ein Sonderkapitel ist das Dritte Reich. Das war natürlich eine sehr schwierige Zeit, aber sie ist ja überwunden worden. Ich kann da nicht gegen an, gegen diese Dankbarkeit. Sie überfällt mich stufenweise. Dazwischen habe ich auch Perioden, in denen ich auch deprimiert bin.

Wie sah ihr Lebensweg aus?

Zunächst die Kindheit in Hörde selbst. Mein Großvater war ein „Bauerndemokrat“, ein Bäcker-Bauernsohn, der uns beibringen wollte, dass der 1868 Krieg zwischen Österreich und Preußen falsch verlaufen sei, weil leider nicht die Österreicher gewonnen hätten sondern die militaristischen Preußen in Berlin. Meine Mutter war eine Sozialarbeiterin, eine der ersten Fürsorgerinnen der Stadt Dortmund. Sie hat mich sehr in die sozialen und sozialpolitischen Aspekte des Lebens eingeführt und mich auch in Verbindung gebracht mit der Arbeiterschaft in Hörde. Das hat mich mein ganzes Leben lang geprägt.

Bildung gegen die Schule

Es war eine schöne Jugendzeit, obgleich die Penne eine Last für mich gewesen ist. Ich war dort auf dem Königlichen Gymnasium an der Lindemannstraße. Mein Schulfreund und ich haben uns eigentlich gegen die Schule gebildet. Das war auch eine großartige Erfahrung, dass wir in der Musik, in der Literatur unsere eigenen Wege gegangen sind. Die Schule war gleichsam so die Wand, gegen die wir unsere Bälle warfen. Wir fingen sie wieder auf und so kamen wir weiter.
Schwierig war es mit der Sexualmoral der römisch-katholischen Kirche. Die hat mich sehr geplagt. Und ich nehme an, dass die Tatsache, dass ich gestottert habe, mit diesem Problem zu tun hatte. Ich war ein sehr frommer Junge und wurde mit den Sexualproblemen nicht fertig. Das hat mich sehr irritiert.
Dann war die Jugendbewegung selbst für mich entscheidend. Die hat auch bewirkt, dass das Stottern aufhörte, dass ich ein anderes Lebensgefühl bekam. Die hat mich also aufgewühlt bis dort hinaus. Das war ja ein Umbruch, vor allem die antibürgerliche Komponente. Nach dem Krieg gab es auch eine katholische Jugendbewegung. Das war ein Reifungsprozess und ein großer Wandlungsprozess. Der hat mich auch in meinen Beruf geführt: Während ich vorher ein Stotterer war, wurde ich ein Journalist, das heisst, einer der sich einmischt, der mit seiner Rede und mit seinem Wort die Welt verändern will.
Mein erster Beitrag in dieser jugendlichen Presse hieß „Vom Westen“, um den Bayern und Hessen und den Schlesiern klar zu machen, dass wir im Ruhrgebiet ein anderes Lebensgefühl hatten als die Süddeutschen und die Ostdeutschen, durch die Industrielandschaft und das, was sie uns zumutete.

„Grüne vor den Grünen“

Gab es damals eine Aufbruchstimmung?

Unbedingt! Schon dass sich die Jugendbewegung entschieden als Bewegung verstand und nicht als Organisation. In gewisser Hinsicht sind wir sozusagen Grüne vor den Grünen gewesen. Das fing ganz bescheiden an, dass wir eben auf Wanderungen sorgfältig unser Butterbrotpapier versteckten im Waldboden, um den Wald nicht zu entweihen. Dann eben die Naturnähe zu den Pflanzen und zu den Tieren. Sodann eine Verhalten, das auf Änderungen zielt, auf Reformen. Eine Orientierung weniger auf die Vergangenheit als auf die Zukunft.
Wir waren geneigt, den Kapitalismus sehr gründlich zu kritisieren. Und wir dachten schon damals in Richtung auf einen freien Sozialismus, einen demokratischen Sozialismus, auf eine Überwindung des Klassenkampfes durch eine radikale Reform der Gesellschaft. Und der Gedanke des Friedens hat uns sehr beschäftigt. Es ging ja auch damals darum, den Ersten Weltkrieg zu „verdauen“.

Die Endlichkeit der Nazizeit

Wie haben Sie als Journalist in der Nazizeit mit Anstand überwintern können?

Ich war überzeugt, dass das Regime zwar einige Zeit dauern würde, aber dass es sich nicht auf Dauer halten könne. Das hatte drei Ursachen. Einmal das Stück Naturrecht: Der liebe Gott hat die Menschen nicht zu Katastrophen bestimmt. Die menschliche Natur ist nicht so, dass sie so eine verrückte Diktatur so auf die Dauer aushält. Das war zweitens mein christlicher Glaube an den Heiligen Geist, der die Menschheit auch nicht endgültig verlassen werde und drittens das, was ich vom Marxismus gelernt habe, dessen Geschichtstheorien, dessen politische Theorie. Diese Dinge haben sich sehr verbündet miteinander und deswegen war ich immer sicher, dass es zu Ende gehen würde.
Gerade diese Haltung hat mir auch eine gewisse Bewegungsfreiheit gegeben, denn es würde ja zu Ende gehen. Deswegen war meine Formel, wir müssen versuchen mit Anstand zu überleben. Das ist mir in weitgehendem Maße, aber doch nicht völlig gelungen. Ich meine, dass es meine Aufgabe wäre, auch meine Fehler und meine Schwächen von damals aufzudecken. Es gehört sich, dass man die Karten auf den Tisch legt.
Da ist auf der einen Seite die Periode bei der „Frankfurter Zeitung“. Die glaube ich rechtfertigen zu können. Die Nazis verlangten nicht von uns, dass wir Nazis waren. Aber riskiert haben wir im Feuilleton auch nicht allzu viel. Als die Zeitung geschlossen wurde, gehörte ich zu den elf Leuten, die Berufsverbot bekamen, während die anderen an andere Zeitungen vermittelt wurden.

Journalismus ist im Kern Kritik

Zurückblicken können Sie auf eine jahrzehntelange journalistische Tätigkeit. Wie würden Sie Ihr journalistisches Selbstverständnis beschreiben?

Ich hab dafür einmal eine Formel gefunden: Das Geld der Macht, der Reiz der Macht, der Erfolg der Macht, die Macht der Macht u n d `ne gute Presse – das ist zu viel verlangt. Der Kern des Journalismus ist für meinen Begriff „Kritik“. Kritik an der ersten, zweiten und dritten Gewalt. Vielleicht noch mit einem anderen zusammen: „Vermittlung“. Das dämpft ein wenig die Einseitigkeit der Kritik. Diese zweite Funktion erscheint mir, darin zu bestehen, dass sie dem Publikum, dem einzelnen Menschen, dem Staatsbürger helfen soll, unabhängig machen soll von dem Fachmann, sie schützen soll vor der Übermacht der Experten.
Journalisten sind Vermittler zwischen der Wissenschaft, zwischen dem, was auf anderen Gebieten Experten sagen und dem kleinen Mann. Das ist so eine produktive Funktion neben der kritischen, wobei es natürlich eine Arbeitsteilung geben kann: Der eine Journalist hat mehr die eine Funktion auf sich genommen, der andere die andere.

Sie haben viele Niederlagen erlebt. Warum hat sie das nicht völlig entmutigt?

Wir sind mehrere Male gescheitert: 1933, 1945, mit der Währungsreform, wir haben Adenauer nicht verhindern können. Die Versuchung ist, dann zu sagen: Es war alles für die Katz! Das bringe ich aber nicht fertig, dieser Versuchung Raum zu geben. Ich habe immer mit dem Bösen und den negativen Möglichkeiten gerechnet. Das hab ich aber in der Schule schon gelernt, dass man kämpfen muss für das Gute gegen das Böse. Ein elementare Grundmoral. Und die möchte ich durchhalten bis zum Schluss. Optimismus hat eine Menge von Gefahren in sich: Gleichgültigkeit, Tatenlosigkeit, falsche Zufriedenheit und so weiter. Aber ich bin einer, der auf die gute Karte setzt. Und dabei möchte ich bleiben. Ich träume davon, dass die Sache gut ausgeht!




Als Hörde noch groß und wichtig war

Ein Reprint einer Landkarte aus dem Jahre 1791 kam mir vorgestern in die Hände. Da sieht man, welche Maßstäbe damals der Wiener Kartograph Freiherr von Reilly setzte.

Eine noch ältere Karte der Grafschaft Mark.

Der Ort Hörde ist neben Bochum und Wattenscheid als gleichwertige Stadt dargestellt, daneben gibt es noch den Weiler „Lutken Dortmund“, und Blankenstein an der Ruhr sieht genauso groß aus wie „Herdicke“ und „Westhoven“. Radevormwald hieß noch „Radt vor dem Walde“, das heute recht beschauliche Breckerfeld wird als Zentrum dargestellt, ebenso wie Limburg und „Elverfeld“. Natürlich gab es den Namen Wuppertal noch nicht.

Wien war ja weit weg, und so schlichen sich auch wohl einige Hörfehler ein: Stiepel findet sic h in der Karte als „Stieget“, Albringhausen im heutigen Wetter ist als „Alvinghausen“ aufgeführt, und statt des uralten „Gut Rochholz“ in Gevelsberg an der Ennepe heißt es bei Reilly „Rothholz“.

Straßen oder Chausseen, wie man früher sagte, findet man übrigens nicht eingezeichnet, und – na klar – Autobahnen schon gar nicht. Interessant ist aber der Titel der Karte, denn der sagt etwas über die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Sauerland“ („Süderland“) aus. Er lautet in voller Länge: „Der Grafschaft Mark Sauerland oder der Südliche Theil mit der Grafschaft Limburg und der Abtey Werden“.




Der Preis für Eis ist heiß

Neulich in Dortmund-Hörde: Nach der Anfahrt mit der Bahn und einem Gang um den neuen Phoenixsee folgte ein Besuch in der Fußgängerzone, und da lockte ein leckeres Eis. Zwei Bällchen im Hörnchen für zwei Euro vierzig.

Teurer Eisladen am Hafen in St. Tropez. (Foto: Pöpsel)

Für eine solche Gegend eine ganz schön happige Summe, dachten wir uns, aber marktwirtschaftlich verständlich. Immerhin muss man doch auf so ein Touristenziel wie den Phoenixsee entsprechend reagieren und den Eventcharakter einpreisen, und lecker war das Eis auch noch.

Dabei war das noch gar nicht das teuerste Eis in unserer Ausflugswelt: In der Düsseldorfer Altstadt kosten zwei Kugeln drei Euro vierzig, und das kostbarste „Glace“ erstanden wir bei „Barbarac“ im alten Hafen von St. Tropez: Für eine einsame Kugel wurden uns zwei Euro achtzig abgenommen. Da waren eben auch die Umgebung und der Blick auf die Schönen und Reichen und ihre Yachten eingepreist, aber auch dort galt: Es war sehr lecker.




Die Zerlegung der sichtbaren Welt – Ausstellung zum Medienkunstpreis „Nam June Paik Award“ in der Dortmunder Phoenixhalle

Von Bernd Berke

Dortmund. Welch ein famoser „Spielort“ für die Künste! Die Phoenixhalle auf dem früheren Hoesch-Stahlwerksgelände erweist sich jetzt mit der Schau zum „Nam June Paik Award“ erneut als Stätte, zu der man pilgern sollte. Wenn der Weg dorthin nur etwas besser ausgeschildert wäre…

Im Namen des berühmten koreanischen Videokünstlers Nam June Paik lobt die Kulturstiftung NRW (Präsidentin: Ilse Brusis) zum zweiten Male ihren Preis für Medienkunst aus – just auf dem Felde also, wo Dortmund neue Schwer- und Glanzpunkte setzen will. Es war folgerichtig, mit der Schau der nominierten Künstler diesmal hierher zu kommen.

Hochkarätige, weitläufig besetzte Jurys gingen und gehen für Dortmund ans Werk: Die Vorauswahl ist bereits erfolgt, am 13. Oktober (19 Uhr) wird der Preis vergeben. Chefsache: NRW-Minister Präsident Peer Steinbrück wird die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung überreichen. Außerdem gibt’s einen mit 15.000 Euro ausgestalten Förderpreis.

Die Weltelite des Genres ins Land holen

Nun werden in der Phoenixhalle die Arbeiten der verbliebenen Kandidaten auf die Probe gestellt. Die Künstler kommen aus etlichen Ecken der Welt: Brasilien, Japan, Ungarn, Libanon, Kanada, USA. Man will eben keine NRW-Nabelschau betreiben, sondern eine Elite des Genres ins Land holen.

Erster flüchtiger Eindruck: allseits Geflacker und Getösse. Doch im Sog mancher Installation kann man auch auf meditative Spuren geraten.

Namensgeber Paik (lange in Düsseldorf, heute in den USA lebend) empfängt die Besucher mit seiner runden Wunderscheibe „Mercury“: Zwölf simultane Videosequenzen stimmen darauf ein, dass diese einst von ihm angestoßene, längst ungemein vielfältig gewordene Kunstgattung gern die sichtbare Welt zerlegt und auf ungeahnte Arten anders zusammensetzt; gelegentlich so, dass einem zunächst Hören und Sehen vergeht. Auf dass man dann die Wahrnehmung neu sortiere.

Album des Lebens mit 150.000 Bildern

Beispiel: das Duo „exonemo“ (Kensuke Sembo, Yae Akaiwa). Bei ihrer Arbeit kann man Hand anlegen und das Video-Bildergewitter steigern oder drosseln. Die zufallsgesteuerte optische Mixtur erinnert ans Verfahren jener DJs, die Ähnliches mit Tönen veranstalten. Und es entstehen rasante Kombinationen – so etwa ein Flugzeug, das durchs Wohnzimmer zu sausen scheint.

Ungleich ruhiger geht’s bei den Brasilianern Angela Detanico und Rafael Lain zu: Video-Aufnahmen von einer Bootsreise im Mekong-Delta (Vietnam) wurden aufwendig durch die Pixel-Mühle gedreht und erscheinen „nur noch“ als Farbstreifen, dazu kommen asiatische Klänge aus einem Kofferradio. Staunenswert: Nach und nach erahnt man in der scheinbar totalen Abstraktion die Stimmung der Tageszeiten oder Wasser-Bewegungen.

Irritierendes Raumerlebnis: Szabolcs KissPál (Ungarn) zeigt auf einer Großleinwand schlicht den Himmel und Vögel, die pfeilschnell durchs Bild kreuzen. Lucien Samaha blättert gar ein digitales Album seines Lebens auf, mit bislang 150 000 Elementen – vom abgelichteten Essenste bis zur schritte Fete. Samaha bleibt zudem selbst in der Schau, um mit Besuchern zu reden. Viel Gesprächsstoff!

Phoenixhalle Dortmund, Ortsteil Hörde, Ecke Rombergstraße / Hochofenstraße). 4. Sept. bis 7. Nov. Di und Do bis So 11-20, Mi 11-17 Uhr. Katalog 15 Euro.




In der kleinen Messekoje spürt „Grafit“ den Trend zum Krimi – Verlag aus Dortmund-Hörde auf dem Frankfurter Büchermarkt

Von Bernd Berke

Wie ist das eigentlich – als Kleinverlag unter 8403 Ausstellern der Frankfurter Buchmesse um Aufmerksamkeit zu buhlen? Nun, unter Umständen gar nicht so schlimm.

Rutger Booß, Gründer und Eigner des Grafit-Verlages in Dortmund-Hörde, der sich vor allem auf Revier-Krimis und Hotelführer spezialisiert hat, ist mit dem Messeverlauf zufrieden. Zwar sagt er: „Eine Teilnähme ist so kostspielig, daß sie sich für uns kaum rechnet.“ Doch die Kontakte, die hier geknüpft werden können, sind im Grunde nicht bezahlbar. Allein in der Zeit, als die WR den Stand besuchte, wurden gleich mehrere Projekte angeregt, darunter eine Krimi-Nacht der VHS in Bottrop mit Beteiligung von Grafit-Autoren.

Seit etwa dreieinhalb Jahren gibt es den Verlag. Inzwischen kann Booß samt zwei Mitarbeitern davon leben. Und es stellen sich auch größere Erfolge ein. So hat der Deutsche Taschenbuchverlag (dtv) mehrfach wegen Lizenzen angeklopft, und kürzlich hat Grafit dem ZDF die Verfilmungsrechte an einem Münsterland-Krimi verkaufen können. Allmählich, so scheint es, weiß man auch außerhalb des Ruhrgebiets mit dem Namen Grafit etwas anfangen. Doch nach wie vor verkaufen die Dortmunder den Löwenanteil des Programms rund um Ruhr und Emscher.

Mit der Lage seines Messestandes ist Booß nicht so glücklich. Man ist mit der kleinen Koje zwischen lauter anderen Kleinverlagen gelandet. Durch diese Zeile fließen nicht gerade die großen Publikumsströme. Doch das, so Booß, werde durch einen noch verstärkten Trend zum deutschsprachigen Krimi mehr als wettgemacht: „Diese Sparte läuft spürbar besser als 1992.“ Unterdessen hat man auch die neuesten Zeitzeichen erkannt und ist zusätzlich in der Messehalle 1 vertreten – bei den elektronischen Büchern; freilich nur als Anbieter von Urheberrechten. Grafit sucht nämlich einen Partner, der die Daten seiner Hotelführer auf CDs überspielt.




„Heldenhafte“ Industriearbeit in Pastellfarben – Bilder des Niederländers Herman Heyenbrock

Von Bernd Berke

Münster. Ausgesprochenes Mitleid hatte Herman Heyenbrock (1871-1948) mit dem Proletariat kaum. Eher bewunderte der niederländische Maler das „Heldentum“ der Industrie-Arbeiter, die alle bis dahin gekannten Schranken der Produktion überwanden.

Der Künstler hielt zu Beginn unseres Jahrhunderts Industrieszenen in Nord- und Westeuropa (Wales, Schweden, Ruhrgebiet) für die Nachwelt fest. Dabei machte er auch für einige Wochen in Hörde, dem heutigen Dortmunder Ortsteil, Station.

80 Heyenbrock-Bilder, darunter einige Ansichten der Hörder Hermannshütte aus der Zeit vor 1910, sind jetzt im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster zu sehen (bis 9. Juni, Katalog 10 DM). Seit 1910 hat kein deutsches Museum eine solche Auswahl zusammentragen können. Insgesamt soll es 1200 Industriebilder von Heyenbrock geben.

Heyenbrock war Sohn eines Amsterdamer Bäckers. Sein Augenmerk richtete sich denn auch zunächst auf das Handwerk, etwa auf die Zigarrenherstellung (1898). Handwerkliche Fertigkeiten spürte er sodann auch im industriellen Prozeß auf. Da wird – vor allem in den frühen Serien über Bergbau – der einzelne Arbeiter hervorgehoben, sofern er eine Tätigkeit ausübt, die Fachwissen erfordert.

Im Lauf der Zeit spiegelt sich aber der Industrialisierungsfortschritt bei Heyenbrock darin, daß er Individuen zunehmend als Statisten vor kolossalen Maschinen darstellt. Hier ist er (vielleicht unfreiwillig) Realist.

Freilich konnte er seine grundsätzlich idealistische Prägung nicht verleugnen. Sein Fortschrittsoptimismus bleibt unverkennbar. Allerdings beschönigt er die Situation der Arbeiter nicht durch hohles Pathos. Höchstens setzt er hie und da ein paar impressionistisch-dekorative Spitzlichter oder Illuminationen auf. Generell aber stellt er die Kohle- und Hüttenreviere jener Zeit so verqualmt und rußig dar, wie sie eben gewesen sind. Man bekomme Staublunge, wenn man diese Bilder nur länger anschaue, soll einmal ein Betrachter gesagt haben.

Ein großer Künstler war Heyenbrock, der in Amsterdam als Gründer eines (1948 aufgelösten) „Museums der Arbeit“ eine Pioniertat vollbrachte, gewiß nicht. Man könnte ihn als getreulichen Dokumentaristen bezeichnen, der mit gestalterischem Anspruch zu Werke ging. Diesem Anspruch wurde er mit Pastellbildern eher gerecht als mit seinen weit selteneren Ölgemälden. In Pastell erzielte der an schnelle Auffassung und Wiedergabe gewöhnte Ex-Pressezeichner lebendigere Wirkungen.




Dem Zeitgeist hinterhergerannt – Werke von Bernhard Hoetger in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Wohl wenige aus dem Dortmunder Raum stammende Künstler dürften so sichtbare Zeichen ihres Wirkens gesetzt haben wie Bernhard Hoetger. Wer, bitte?

Bernhard Hoetger, am 4. Mai 1874, also vor 110 Jahren, im damals noch selbständigen Ortsteil Hörde geboren, Lehrjahre in Paris, Hauptwirkungsstätten Darmstadt und Worpswede/Bremen. Hoetger entwarf nicht nur die Bauten in der Bremer Böttcherstraße oder das „Cafe verrückt“ in der Künstlerkolonie Worpswede; um ein Haar wäre nach seinen Plänen auch noch Deutschlands erste und einzige „äyptische Stadt“ gebaut worden – im Auftrag des Keksfabrikanten Bahlsen, dessen Tod (1919) das monströse Projekt einer Arbeitersiedlung im Pharaonenstil allerdings scheitern ließ. Den Architekten, Designer und vor allem den Bildhauer Hoetger stellt jetzt das Ostwall-Museum mit einer Werkschau vor. Erstmals wird dabei auch der Nachlaß gezeigt, der 1962 in städtischen Besitz überging (bis 13. Mai, Katalog 24 DM).

Wer fast sämtliche Kunststile bis zur Mitte des 20. Jahrhunlerts nachgeahmt sehen möchte, der gehe jetzt ins Ostwall-Museum. Hoetger hat sich nach und nach – offenbar wahllos – Stilrichtungen „einverleibt“. Am Anfang stehen Einflüsse Rodins, dann dominieren Vorlieben für ägyptische, afrikanische, ostasiatische, gotische und expressionistische Kunstauffassungen. Die Ergebnisse haben nie unverwechselbare Gestalt; sie sind lediglich mal nah am Zeitgeist, mal weit von ihm entfernt. Wie abwegig Hoetgers Entwürfe gerieten, wenn sie sich auf keinen fremden Stil stützten, zeigt sein nichtssagendes Berliner Alterswerk.

In den 20er Jahren entstanden allerdings Werke, die sich annähernd auf der Höhe ihrer Zeit befanden: Möbel im Art Deco-Stil oder Plastiken, die, eigenartigerweise auf dem Wege der Beschäftigung mit afrikanischer Kunst, in Richtung „Neue Sachlichkeit“ wiesen. Doch Nachahmung – und das dokumentiert diese Ausstellung nachhaltig – hat Schattenseiten: Bemerkenswertes steht neben Unsäglichem. Damit ist nicht nur der „Schweinehund als Tischfeuerzeug“ gemeint, den man notfalls noch als witzige Kuriosität à la Dada durchgehen lassen könnte. Geradezu prekär ist Hoetgers Anpassung geworden, als die Nazis die Macht erschlichen. Hitler wollte das von Hoetger konstruierte Portal der Böttcherstraße abreißen lassen. Hoetger entfernte das mißliebige Dekor und ersetzte es durch eine Drachen-Szene im Dutzendstil.

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Leserbrief: „Schnoddrige Polemik“

Sehr geehrter Herr Berke, ich bekomme erst jetzt Ihren Artikel über die Hoetger-Ausstellung im Museum am Ostwall in die Hand. So haben da nicht bloß mit schnoddriger, sondem auch mit böswilliger Polemik gearbeitet. Jedenfalls zeigt Ihr Text doch wohl, daß Sie über Entwicklungsvoränge bei Künstlern nicht besonders unterrichtet sind. Hoetger war, und das liegt in seiner Zeit, zu einer – suchenden – Existenz verureilt. Wenn einer sich bloß anpaßte, konnten niemals solche Qualitäten entstehen – die in vielen seiner Werke doch wohl unbestritten vorhanden sind. Nicht in allen – klar.

Jedenfalls kommt es mir so vor, als ob Sie sich in erster Linie spektakulär profilieren wollten – und nicht daran gedacht haben, daß die Stadt Dortmund (der ich sehr verbunden bin) in Sachen bildender Kunst doch eine starke Grauzone ist. Da wäre eher mit sachlicher Aufklärung gedient – die selbstverständlich auch Kritik beinhalten sollte.

Eva Niestrath-Berger, 58 Hagen-Helfe