„Nichts ist, das ewig sei“: Bewegender Film über Detroit, Bochum und die Vergänglichkeit

Verblasster Schriftzug – Als die Buchstaben auf dem geschlossenen Bochumer Opel-Werk nur noch schemenhaft sichtbar waren… (Foto/Filmstill: © loekenfranke Filmproduktion)

Kaum zu glauben, aber offenkundig: Das anno 1643 in deutscher Sprache verfasste, barocke Vergänglichkeits-Gedicht „Es ist alles eitel“ von Andreas Gryphius scheint sich staunenswert genau zur desolaten Situation in der einstigen US-Autometropole Detroit zu fügen. „Seems like he got it“, sagt einer von denen, die vor der Kamera ein paar Worte aus der englischen Übersetzung vorgelesen haben. Ja, er hat’s im Grunde wohl schon damals verstanden, dieser Herr Gryphius, der solche gültigen Zeilen geschrieben hat:

„Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein.
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.“

Es ist ein famoser Einstieg in den Film „We are all Detroit. Vom Bleiben und Verschwinden“, der an diesem Donnerstag (12. Mai) in ausgewählten Programmkinos der Republik startet (siehe den Nachspann dieses Beitrags). Die fast zweistündige Dokumentation stellt die überaus missliche Lage in Detroit neben jene in Bochum, wo bekanntlich das Opel-Werk dicht gemacht wurde. Inwieweit sind die Verhältnisse vergleichbar? Können Bochum und das Ruhrgebiet etwas aus den Zuständen in Detroit lernen – und wäre es möglich, dass umgekehrt Bochumer Impulse auf Detroit einwirken?

Filmplakat zu „We are all Detroit“ (© loekenfranke Filmproduktion)

Cadillac und andere Legenden

In Detroit wurden Legenden wie der Cadillac gebaut. Doch seit die großen, früher so stolzen und weltweit renommierten Fabriken von General Motors (GM) bis Packard geschlossen haben, ist es ein Jammer um die einst prosperierende Stadt und ihre Bewohner.

Das in Witten ansässige Regie-Duo Ulrike Franke / Michael Loeken, das schon mit dem Film „Göttliche Lage“ (zum sozialen Wandel durch den Dortmunder Phoenixsee auf einem vorherigen Stahlwerks-Areal) beeindruckte, hat diesmal beiderseits des Atlantiks recherchiert und bei den einfühlsamen Sondierungen starke Bilder eingefangen. Bemerkenswert zumal, welche Valeurs sie den verfallenden Fabrikhallen und dem tristen Ödland abgewinnen. Stellenweise scheint es, als wären die Bauten beseelte Wesen. Mit Wehmut sieht man die kilometerweit sich erstreckenden Industrie-Wüsteneien mitsamt der ringsum maroden Infrastruktur. Sarkasmus geht auch: Von „ruin porn“ (Ruinen-Porno) spricht ein Fremdenführer in den einsturzgefährdeten Fabrikhallen. Aas lockt die Geier an.

Krise? Doch nicht bei General Motors!

Ein ehemaliger GM-Ingenieur erzählt, dass der Konzern die Signale des Niedergangs nicht an sich herankommen ließ. Krise? Doch nicht bei General Motors! Wir scheitern doch nicht. „We’re too good to fail.“ Mussten die Konzerne und ihre Manager sich für all die Misswirtschaft verantworten? Nichts da! Das Kapital ist einfach weitergezogen, um andernorts aufzublühen und sodann abermals Verheerungen anzurichten.

Helden des Alltags und erste Hoffnungsschimmer

Hüben wie drüben hat das Filmteam Menschen befragt, die seit Jahrzehnten in den Autofabriken gearbeitet oder deren Mitarbeiter verköstigt bzw. sonstwie versorgt haben; Menschen, die nun seit geraumer Zeit unter dem Verfall der Urbanität leiden, aber auch solche, die (allmählich) neue Hoffnung schöpfen oder sogar ein gänzlich neues Leben begonnen haben. So haben sich einige Bewohner Detroits auf Gartenbau und Pflanzenzucht verlegt, um durch dieses „Zurück zur Natur“ auch persönlich zu reifen und ihren vergammelten Stadtteil wieder ein Stück lebenswerter zu machen. Der Verkauf von Obst und Gemüse sichert ein bescheidenes Einkommen. Da scheint so etwas wie konkrete Utopie auf. Überhaupt ist es geradezu heroisch, wie manche Leute dem Niedergang, wie sie der jahrelang vorherrschenden Gewalt- und Drogenkriminalität etwas entgegensetzen. Tatsächlich zeigen sich nun endlich erste Hoffnungsschimmer, es kehrt wieder Leben in manche Quartiere ein. Freilich sind es überwiegend andere Leute, die da kommen: „Hipster“, sagt einer etwas ratlos. Sei’s drum? Oder keimt da bereits die nächste Verlustgeschichte? Wait and see.

Den Geldströmen ihren Lauf lassen

An vielen Ecken und Enden der US-Millionenstadt hat sich seit langer Zeit kaum etwas getan. Hunderttausende haben die Gegend verlassen. Grundstücke haben für Spottpreise die Besitzer gewechselt, aber die meisten Investoren blieben untätig, so gut wie nichts ist vorangekommen. Da möchte man den Bochumer Weg loben, wo millionenschwere öffentliche Fördermittel in die Herrichtung des vormaligen Opel-Areals fließen und wahrhaftig erste Neubauten entstanden sind, so etwa ein gigantisches DHL-Paketzentrum. Auch eine Reisegruppe aus Detroit bewundert in Bochum derlei Fortschritte und ersehnt Ähnliches für daheim. Doch in den Staaten läuft die Chose anders, dort lässt man den Geldströmen noch weitaus ungehemmter freien Lauf. NRW fördert den Umbau in Bochum, Michigan kümmert sich hingegen nicht ums Schicksal von Detroit.

Eine grässliche „Blechbüchse“

Doch Vorsicht! Die bei Pressekonferenzen und Eröffnungen skizzenhaft eingefangene Selbstbeweihräucherung der politisch Verantwortlichen in Bochum (Projekt „Mark 51.7″) hat offenbar eine Kehrseite. Da gibt ein DHL-Sprecher auf Nachfrage zu, dass zwar zunächst 600 Arbeitsplätze entstehen, man aber auch schon darüber nachdenke, wie Roboter mehr Aufgaben übernehmen könnten. Außerdem vertritt jemand eine nachvollziehbare Gegenposition: Der Bochumer Architektur-Professor Wolfgang Krenz findet die knatschgelbe DHL-„Blechbüchse“ grässlich. So etwas Durchschnittliches stehe doch überall herum, während eine rund 500 Meter lange und weltweit nahezu einmalige Opel-Fabrikhalle unbedingt erhaltenswert gewesen wäre – als mächtiges Zeichen und ebenso ästhetisches wie lebensweltliches Statement fürs unbeugsame Selbstbewusstsein des Reviers.

Zur Erinnerung: Das 1962 fertiggestellte Bochumer Opel-Werk verhieß dem Ruhrgebiet in der Zechenkrise sichere Arbeitsplätze anderer Sorte. Den jetzigen neuerlichen „Strukturwandel“ sehen Anwohner und frühere Opel-Arbeiter mit sehr gemischten Gefühlen, Zuversicht und Skepsis halten sich die Waage. Jedenfalls kann das zögerliche Vorgehen in Detroit wohl keine ernsthafte Alternative sein.

Menschen, die sich „irgendwie“ durchbringen: der Inhaber des Baumarktes (rechts) und ein befreundeter Kunde, der gerade seine behinderte Tochter verloren hat… (© loekenfranke Filmproduktion)

Begegnungen mit einem „anderen Amerika“

Eine ausgesprochene Stärke des in den US-Passagen deutsch untertitelten Films ist es, die betroffenen Menschen freimütig für sich sprechen zulassen. Daraus entstehen einige bewegende „Erzählungen“, so etwa die Geschichte(n) eines liebenswert kernigen Typen, der seit Jahrzehnten im Detroiter Autobezirk eine Art Tante-Emma-Baumarkt (Schraubenhandel & Artverwandtes) betrieben hat und nun den Laden schließen muss, weil alle Welt nur noch online kauft. Diesem auf seine ganz eigene Art lebensweisen Mann könnte man sehr lange zuhören. Solche Begegnungen sind vielleicht gar geeignet, in unseren Köpfen ein etwas anderes „Amerika“-Bild entstehen zu lassen. Das gilt auch für die Imbisskellnerin, die sich – zeitweise parallel mit zwei Jobs – mühsam über Wasser hält (Hungerlohn: 3,20 Dollar pro Stunde ohne Trinkgeld) und an der Heroinsucht ihres Sohnes verzweifelt: „It is the door to hell.“ Da möchte man heulen.

Generell zeigt sich, welche Verheerungen das mangelhafte US-Sozialsystem angerichtet hat. Massenhaft campieren Obdachlose unter den Brücken, der Film zeigt dieses Elend aus diskreter Distanz. Der Himmel oder was auch immer bewahre uns vor dem weiteren Fortgang solcher Entwicklungen.

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Der Film läuft u. a. hier:

Bochum, endstation (Wallbaumweg 108): endstation-kino.de
Bochum, Casablanca (Kortumstraße 11, im „Bermuda-Dreieck“): casablanca-bochum.de
Dortmund, Sweet Sixteen im „Depot“ (Immermannstraße 29): sweetsixteen-kino.de
Essen, Filmstudio Glückauf (Rüttenscheider Str. 2): filmspiegel-essen.de
Münster: Cinema/Kurbelkiste (Warendorfer Str. 45-47): cinema-muenster.de

…und vielleicht auch in Eurer Stadt.




Beileibe nicht nur wegen Corona: Nachdrückliche Empfehlung eines ehrgeizigen Streaming-Dienstes für Kinofilme

Ein Esel als Sinnbild des Leidens: Screenshot aus Robert Bressons außerordentlichem Film „Zum Beispiel Balthasar“. (Mubi)

…und noch eine Online-Empfehlung für diese Tage mit ihren Beschränkungen; nicht nur, aber auch für die Osterzeit. Nein, ich rede nicht von Netflix. Da kann man zwar auch mal reinschauen, wenn man mag. Weitaus schätzenswerter finde ich persönlich jedoch einen anderen Auftritt mit Kino-Streaming, nämlich MUBI.com/de

Damit erneuere, bekräftige und variiere ich eine vor rund anderthalb Jahren schon einmal ausgesprochene Empfehlung. Nennt es meinethalben „Schleichwerbung“. Aber das wäre unsinnig, da der lobende Hinweis ja ganz offensiv daherkommt. Es wird nichts verschleiert.

Nur ein Beispiel dafür, was einen bei Mubi erwartet: Gestern Abend – also am Karfreitag – habe ich dort einen der heimlichen (und unheimlichen) Höhepunkte der Nachkriegs-Filmgeschichte wiederentdecken dürfen, nämlich Robert Bressons ungemein bewegenden Film „Zum Beispiel Balthasar“ („Au hasard Balthazar“) von 1966, der die Leidens- und Passionsgeschichte unserer Gattung erzählt, freilich immer wieder gebündelt und gespiegelt im Leben eines geschundenen Esels.

Wie dieses Tier aus großen fragenden Augen schaut, wenn es wieder einmal gequält wird! Wie kreatürlich seine Schmerzenslaute sind! Wie inständig es das Elend in einer gierigen, selbst- und herrschsüchtigen Welt als manchmal störrisch-widerständiges, aber letztlich wehrloses Opfer verkörpert, so dass einem am Ende schier zum Heulen zumute sein muss! Obwohl Bresson manches nur andeutet, ist dieser durchaus notwendige Film doch schwer auszuhalten.

Die ganze Welt in eineinhalb Stunden

Jean-Luc Godard hat über „Au hasard Balthazar“ gesagt, der Film enthalte die ganze Welt in eineinhalb Stunden. An dieser Einschätzung ist viel Wahrheit. Auch Größen wie Louis Malle und Marguerite Duras haben – neben vielen anderen – die außerordentliche Bedeutung dieses Films hervorgehoben. Hier ein Auszug ihrer Stellungnahmen.

Nicht selten finden sich im laufenden Mubi-Programm solche großartigen Klassiker, die man sonst allenfalls in Retrospektiven sehr ambitionierter Arthouse-Kinos zu sehen bekäme, welche speziell im Ruhrgebiet schon bislang kaum zu finden sind. Und wer weiß, welche Häuser nach den zwangsläufigen Schließungen in der der Corona-Krise noch übrig bleiben werden… Ein trauriges Thema für sich.

Doch gehören zum Mubi-Angebot nicht nur Meisterwerke der Kinogeschichte, sondern auch an- und aufregende Entdeckungen, Festival-Raritäten sowie Streifen aus Ländern, deren Filmschaffen man sonst kaum zur Kenntnis nimmt. Begrüßenswert auch die jeweilige Wahlmöglichkeit, Filme in den Originalsprachen (mit oder ohne Untertitel) zu sehen.

Mubi hält nicht alle Filme auf längere Dauer bereit, sondern jeweils nur für einen Monat. Man stellt pro Tag ein neues Werk ein, wofür wiederum ein anderes ausläuft. Auf diese Weise schichtet man das Programm alle 30 Tage komplett um. In einer angegliederten Community kann man sich gegenseitig Filme empfehlen und darüber diskutieren. Ein Angebot für echte Cineasten also. Ich mag nicht mehr darauf verzichten. Und das bestimmt nicht nur wegen Corona.




Die Geburt des Kinos in Europa: Vor 125 Jahren markierte das Patent der Brüder Lumière den Beginn einer neuen Epoche

Zunächst sieht man nur ein Tor. Dann quellen Damen mit langen Röcken und Hüten daraus hervor. Ein Hund springt einem Radfahrer aus dem Weg. Schließlich, nach einer Dreiviertelminute, nähert sich ein Pferdegespann. Der erste öffentlich projizierte Film der Weltgeschichte hält eine scheinbare Alltagsszene fest, aufgenommen mit einem „Kinematographen“ am Tor der Fabrik seiner Erfinder, der Gebrüder Lumière in Lyon.

Historische Aufnahme der Brüder Auguste und Louis Lumière. (Wikimedia Commons / public domain / Institut Lumière)

Der Name der beiden erfolgreichen Unternehmer ist geradezu sinnbildlich, denn das Licht war ein entscheidendes Medium in ihrer Arbeit. Auguste und Louis Lumière stellten ab 1882 in der Firma ihres Vaters, eines Malers und Porträtfotografen, Fotoplatten her. Im Jahre 1894, ein Jahr vor ihrer epochemachenden Entwicklung, ließen die Lumières von 300 Arbeitern 15 Millionen dieser Platten produzieren.

Im Februar 1895 meldeten sie ihren neu entwickelten „Cinématographe“ als Patent an. Das Gerät war in der Lage, einen Streifen eines Bromsilbergelatine-Negativfilms zu belichten, zu entwickeln und das Positiv zu projizieren. Vor 125 Jahren, am 22. März 1895, zeigten die Unternehmer-Brüder erstmals vor den Mitgliedern der „Gesellschaft für die Förderung der nationalen Industrie“ in Paris zehn ihrer Kurzfilme: die „Geburt“ des Kinos in Europa.

Erträumt: Projektion bewegter Bilder

Das Lumière-Verfahren war neu im Vergleich zu den Versuchen anderer Pioniere des bewegten Bildes. Vorgänger waren etwa die drehenden Bildscheiben des Belgiers Joseph Plateau und des Österreichers Simon von Stampfer um 1830, das „Kinetoskop“ Thomas Alva Edisons und das „Bioskop“ der Gebrüder Max und Emil Skladanowsky, die am 1. Dezember 1895 im Berliner „Wintergarten“ erstmals öffentlich bewegte Filmbilder gegen Eintritt vorführten.

Ein paar Wochen später, am 28. Dezember 1895, ließen die Gebrüder Lumière im Salon „Indien“ im Keller des Grand-Café in Paris eine Reihe kurzer Filme vor einer kleinen Schar von rund 30 zahlenden Gästen vorführen. Erstmals wurde ein praktikables System der Filmprojektion kommerziell eingesetzt: Der Tag darf als die Geburtsstunde des kommerziellen Kinos in Europa gelten. Der 35-Millimeter-Film mit den perforierten Transportstreifen an beiden Rändern jedoch, wie wir ihn bis zur Digitalisierung des Kinos kannten, feierte seine Premiere bereits 1893 auf der Weltausstellung in Chicago, wo Edison den Prototyp vorführte.

Allerdings war Edison noch nicht von der Möglichkeit überzeugt, den Film zu projizieren. Diesen Traum erfüllten sich Louis und Auguste Lumière. Sie wollten einem größeren Publikum auf einer Leinwand bewegte Objekte und Personen wirklichkeitsgetreu zeigen. Auguste Lumière erinnerte sich später: Eines Morgens Ende 1894 sei er zu seinem Bruder ins Zimmer gegangen und habe das Bett verwaist vorgefunden. „Mein Bruder hatte über Nacht den Kinematographen erfunden.“ Entscheidend war der Mechanismus des Filmtransports, den sich Louis Lumière von der Nähmaschine abgeschaut hatte.

Erschreckend: Bilder jenseits der Foto-Realität

Von dem kurzen Film „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke in Lyon“ existieren mehrere Versionen; eine davon zeigten die Unternehmer-Brüder  erstmals vor den Mitgliedern der „Gesellschaft für die Förderung der nationalen Industrie“. Bei der Pariser Premiere im Grand-Café war unter den zehn von den Lumières selbst gedrehten Kurzfilmen „Abbruch einer Mauer“, der auch rückwärts gezeigt wurde und den verblüfften Zuschauern schon damals die Möglichkeiten des Kinos jenseits der Foto-Realität veranschaulichte.

Der Kurzfilm „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ soll der Überlieferung zufolge einen Teil der Besucher in Panik versetzt haben: Die frontal auf die Zuschauer zurollende Lokomotive ließ die einen hinter den Bänken Zuflucht suchen, die anderen sollen den Salon fluchtartig verlassen haben. Der Schweizer Medienwissenschaftler Johannes Binotto nimmt allerdings an, nicht die Furcht vor dem Zug habe die Menschen erschreckt, sondern dessen offensichtlich irreales und zugleich doch erstaunlich realistisches Abbild.

Das Interesse an den Vorführungen wuchs rasant: Schon im Januar 1896 nahmen die Lumières mit 20 Aufführungen pro Tag 2500 Francs ein. Am 20. April 1896 ließ der Unternehmer Ludwig Stollwerck in Köln den „Cinématographe“ zum ersten Mal in Deutschland vorführen. Die „perfekte Illusion des wahren Lebens“ (so ein Pressebericht) wurde zur Attraktion des Tages. Allerdings steht am Beginn des modernen Films und des Kinos bereits die Inszenierung. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die auf der Minute Zelluloid das Lyoner Werktor verlassen, sind nicht etwa auf dem spontanen Weg in die Mittagspause aufgenommen. Sondern sie hatten sich auf ein Zeichen von Auguste Lumière in Bewegung gesetzt, während sein Bruder Louis an seinem Apparat zu „kurbeln“ begann.




Bevor der Tonfilm das Kino entzauberte – die poetischen Kritiken von Ernst Blass zwischen 1924 und 1933

Ernst Blass ist vor allem als Lyriker im Umfeld des Expressionismus in Erscheinung getreten. Dass er in den Jahren 1924–1933 für verschiedene Berliner Zeitungen als Theater- und Filmkritiker tätig war, dürfte nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt sein. Das könnte sich durch die Auswahl seiner Essays und Kritiken im Berliner Elfenbein Verlag nun ändern.

Der schöne, von Angela Reinthal herausgegebene Hardcover-Band mit mehreren Abbildungen historischer Filmplakate und einem Anhang, der neben dem kenntnisreichen Nachwort der Herausgeberin auch ein Namensregister sowie eine Liste der im Band besprochenen Filmkunstwerke umfasst, schafft die besten Voraussetzungen, um die literarisch herausragenden Texte des „Lyrikers unter den Filmkritikern“ (so Michael Mendelssohn über Ernst Blass) erneut im alten Glanz erstrahlen zu lassen.

Der Band führe uns, wie Dieter Kosslick, der langjährige Leiter der Berlinale, in seinem Geleitwort schreibt, in (…] „die goldene Ära des ,Weimarer Kinos‘ zu einer poetisch-cineastischen Reise in ein instabiles Land, das sich nach dem Ersten Weltkrieg mit größtmöglicher Lust, Freiheit und Kreativität neu erfinden wollte.“

Vitale Kinolandschaft um den Ku‘damm

Im Umkreis der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eröffneten immer neue Filmpaläste – das „Capitol“, der im Barockstil erbaute „Gloria-Palast“, der „Ufa-Palast am Zoo“ mit 2.165 Sitzplätzen, der Tauentzien-Palast“ oder das „U. T. Kurfürstendamm“. Wie aus einer Anmerkung zum Nachwort hervorgeht, gab es 1925 in Berlin 342 Kinos mit 147.126 Sitzplätzen; im Jahr 2018 war es noch 71 mit 48.595 Plätzen.

Ernst Blass, so brillant und professionell seine Kritiken geschrieben sind, teilt gern die Erwartungen des großen Publikums an gute Unterhaltung und beschreibt die „Ferienstimmung“, die sich einstellt, wenn der erwachsene Mensch die schnell vorbeifliegenden Bilder mit ihren lustigen Streichen genießen kann. So schreibt er im Berliner Tageblatt vom 05.07.1925 (Beiblatt Lichtspiel-Rundschau):

„Man sitzt im Dunkel und auf der Bildfläche wird es hell. Dort geschieht irgend etwas federleicht und ohne Verantwortung. Ein dicker Mann ist da mit seinem kleinen Bruder, ein Hutgeschäft soll in Gang gebracht werden. Der Kleine verbirgt sich irgendwo und wirft den Vorübergehenden die Hüte vom Kopf, sowie der Hut auf der Straße liegt, kommt der Dicke auf einer Dampfwalze angefahren und vernichtet den Hut. Der Mann kauft sich einen neuen, dieser fliegt wieder herunter, wieder kommt der Dicke mit der Dampfwalze, auch der neue Hut ist zermalmt. So jagt ein heiterer Scherz den anderen, aber der heiterste von ihnen ist vielleicht, daß man vor diesen Schuljungenphantasien selbst wieder zum Schuljungen wird. (…) In diesen schwachen Stunden haben wir eine dankbare Empfänglichkeit für alles, was wir mit unserem Schwamm leicht wieder auslöschen können. Von den Lichtspielereien haben wir eine Hingabefähigkeit, die vielleicht dem Universum gegenüber gleichfalls nicht unangebracht wäre.“ 

Große Zeit des Slapstick

Es war die Zeit der Slapstick Comedies, mit dem fabelhaften Chaplin, dem todernsten Buster Keaton oder dem tollkühnen Fassadenkletterer Harold Lloyd, der selbst bei riskantesten Aktionen ohne Stuntman auskam – die meisten kennen ihn, in schwindelerregender Höhe am Zeiger einer Uhr hängend. Ernst Blass bewundert Ernst Lubitsch, der ab 1916 in seinen Stummfilmkomödien regelmäßig die heute fast vergessene, damals vom großen Publikum geliebte Ossi Oswalda einsetzte – neben Henny Porten und Asta Nielsen einer der ersten großen weiblichen Stars des deutschen Films. Zu einem etwas späteren Film mit ihr (Niniche von Victor Janson) schreibt er: „Ossi Oswalda ist zwar zu schelmisch, aber doch graziös und niedlich. Man sieht sie gern, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob ihr Spiel und ihr Gehaben ästhetisches Niveau hat.“ (Berliner Tageblatt vom 15.2.1925)

Mauritz Stiller, der im August 1924 zur deutschen Premiere seines Films Gösta Berling (nach dem Roman von Selma Lagerlöf) nach Berlin kam, ist für Blass der „menschlich und künstlerisch ernsthafteste Filmregisseur Europas“. Die achtzehnjährige Greta Gustafsson tritt in dem schwedischen Film erstmals unter dem Namen Garbo auf. Mauritz Stiller und Greta Garbo gingen 1925 gemeinsam nach Hollywood; „die Göttliche“ Garbo machte Karriere bei Metro-Goldwyn-Mayer; ihr Entdecker und Mentor ging sang- und klanglos unter und starb mit nur fünfundvierzig Jahren. Ihm widmet Ernst Blass einen ausführlichen Nachruf.

All die späteren Klassiker des Stummfilms

Im vorliegenden Band sind viele der ersten Besprechungen jener großen Filme vertreten, die heute bekannte Klassiker sind. Robert Wienes Kabinett des Dr. Caligari und Paul Wegeners Golem-Filme sind für Blass „einige der besten deutschen Filmtaten und Erfolge“. Von Fritz Lang ist Blass‘ Favorit nicht Metropolis (1927) – für ihn „ein Koloss auf tönernen Füßen“, „… leider kein Ganzes“ – und auch nicht Frau im Mond (1929), dessen „gewalttätige Regie“ er rügt, sondern der frühe Film Der müde Tod (1921), den er auch nachträglich bei verschiedenen Gelegenheiten hervorhebt.

Zu Carl Theodor Dreyers Die Passion der Jungfrau von Orleans von 1928 notiert er begeistert: „Diese Antlitze, anwesend mit den fremdartigen Furchungen und absonderlichen Rundheiten einer ganz fernen Zeit, mit anderen Augen, Lidern, Blicken, Nasen – inmitten einer fernen und ewigen Tragödie. Ein Geheimnis. Das Geheimnis, um dessentwillen es sich lohnt, Kunst zu machen. Nicht ein Spiel nur, sondern eine bekennende Kontemplation. Solche also vermochte der (stumme) Film.“

Enthusiamus, aber auch gnadenlose Verrisse

Seine Begeisterungsfähigkeit lässt sich höchstens mit Sergei Eisensteins Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potemkin steigern, dessen Premiere Blass am 29. April 1926 im „Apollo-Theater“ verfolgte. Am darauffolgenden Morgen steht im Berliner Tageblatt: „Nicht begreifbar ist, daß ein einzelner Mensch etwas derart Wunderbares zustandebringt. Es sind kaum Szenen darin, die nicht von einem machtvollen und menschlichen Genie stammen müssen. Welche Hingabe muß notwendig sein, um solche Darstellung nur zu ersinnen, und erst sie auszuführen! Eisenstein hat hier den gewaltigsten und kunstvollsten Film geschaffen, den die Welt sah.“

Wer so enthusiastisch lobpreisen kann wie Ernst Blass, der kann auch gnadenlos verreißen. Unter den Historienfilmen gab es auch viel Unhistorisches, Übertriebenes. Der ironische Titel des Auswahlbands bezieht sich auf eine Besprechung des Kolossalfilms Quo vadis? mit Emil Jannings als Nero, den die Unione Cinematografica Italiana 1924 in Rom hergestellt hat – die damals bereits dritte Verfilmung des gleichnamigen Romans von Henryk Sienkiewicz. „Das Rom Neros ist hier aufgebaut ungefähr im Stil unserer Nationalgalerie, und die auftretenden Römer machen den Eindruck außerordentlich später Römer. Sie könnten etwa sagen: in kino veritas!“

Über die Ausdruckskraft des Hundes „Rin Tin Tin“

Um Künstlichkeit oder übertriebenes Theaterspiel musste sich zumindest einer der Filmhelden aus der Stummfilmzeit keine Sorgen machen: der Schäferhund Rin Tin Tin. 1918 in Lothringen geboren,1932 in Los Angeles gestorben, wurde er mit 26 Schwarz-Weiß-Filmen in den 1920er Jahren zum Star und hat inzwischen einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame erhalten. Die spätere Fernseh-Kinderserie aus den 50er-Jahren kann keinen Eindruck von den spannenden Abenteuerfilmen aus den Zwanzigern vermitteln, mit dem Tier, das – so die Filmlegende – unter Wölfen aufwuchs und in der abgelegenen Natur Kanadas in einem gesellschaftlichen Außenseiter seinen Herrn findet.

„Der Hund aber drückt sich völlig aus. Es ist ein Wunder der Regie, daß bei all diesen gespielten Dingen der Hund wie ein unmittelbar Erlebender wirkt. Gar nicht dressiert und gar kein Schauspieler, sondern in allen Einzelheiten sieht er genau so aus, wie dieser (vorgestellte) Hund bei diesen Szenen aussehen müßte, wenn sie wirklich wären. Fast wie ein Wolf, dunkel und gefährlich, als er dem Mörder begegnet. In der Haltung und in der Miene. Oder der Ausdruck der Traurigkeit, als er, hungrig, einen abgenagten Knochen findet. Oder das Erstaunen, als sein Herr die Geliebte wiederfindet. Oder die Siegesfreude nach der ersten Rettung. Das ist alles sehr feinfühlig aufgefaßt und rätselhaft gut wiedergegeben. (…)

Die Wirklichkeit dieses Hundes inmitten gespielter Imagination, die völlig unzweideutige Teilnahme einer so seelenvollen Kreatur an einer nur vorgespiegelten Handlung – das ergibt eine Märchenwirkung von verwirrender und unergründlicher Tiefe; es ist ein schlechthin wunderbares Zwielichtspiel.“

Filme brachten die große weite Welt in die deutschen Kinos. Da gab es zum einen die Ufa-Naturfilme im Beiprogramm. Erfolgreich waren aber auch abenteuerliche Reiseberichte wie etwa die Kameraaufnahmen des Seglers und Flugpioniers Gunther Plüschow, der auf einem kleinen Segelboot den Atlantik überquerte und mit seinem Wasserflugzeug, einer Heinkel HD 24, als erster Flieger Patagonien und Feuerland aus der Luft erkundete.

„Der Tonfilm naht mit Brausen“

Technische Neuerungen fanden nicht nur im Flugwesen statt; für den Film ließ der Tonfilm Ende der Zwanzigerjahre ein neues Zeitalter anbrechen. „Der Tonfilm naht mit Brausen. Daß er nicht schon lange in unserer Mitte tönt und redet, das liegt an allgemeinen Verhältnissen. Immerhin: jüngst hat ein Kommerzienrat gesagt, der Tonfilm stehe vor den Toren wie eine Braut“, schreibt Ernst Blass am 31.5.1929 in der Literarischen Welt. Ein gutes Jahr später, im September 1930, resümiert er: „Der Tonfilm also brachte im ersten Jahr keine Vermenschlichung des Films, aber seine Entzauberung. (…) Eine Weiterentwicklung des stummen Films ist der Tonfilm nicht. Aber er ist etwas anderes. (…) Der Mensch hier nun spricht, – aber fast nur Schales und Klamottiges. (…) Höhere Werte, menschlichere, sind auch im Film denkbar. Aber sahen wir im Sprechfilm bereits Ansätze zu ihrer Verwirklichung? Nicht im geringsten.“

Seine Prognose: „Nun, der Apparat wird sich sehr verbessern, höchstwahrscheinlich auch die Form. Aber was werden die Menschen singen und sagen, das sich messen könnte mit dem Geheimnis und der Zauberkraft des Ungesprochenen? Wenn nicht neben den Schauspieler der Dichter tritt oder der echte Komponist oder doch zumindest ein Zauberer? Und da dies Ausnahmen und Glückszufälle sein werden, wird der Film durch den zugeordneten Ton im ganzen mehr verlieren als gewinnen.“

„in kino veritas“. Essays und Kritiken zum Film. Berlin 1924—1933. Ausgewählt, mit einem Nachwort versehen und herausgegeben von Angela Reinthal. Mit einem Geleitwort von Dieter Kosslick. Elfenbein Verlag, Berlin. 286 Seiten, 22 Euro.

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Aktuelle Stummfilm-Vorführungen:

Zu keiner Zeit war der Stummfilm stumm. Er war immer von Musik begleitet, mindestens von einem (manchmal automatischen) Piano, oft von einer Kinoorgel, wie es sie auch heute noch in einigen Kinos gibt, manchmal aber auch von großen Orchestern. Stummfilm-Vorführungen waren immer auch Konzerte.

An diesem Samstag, 29.6., zeigt das Filmmuseum in Düsseldorf in seinem Kino Black Box um 20:00 Uhr den deutschen Historienfilm Anna Boleyn (1920) von Ernst Lubitsch mit Henny Porten und Emil Jannings in den Hauptrollen. Daniel Kothenschulte (Köln) begleitet das Lichtgebilde am Klavier – und auf der Guillotine.

Nach der Sommerpause geht es im Filmmuseum weiter mit Klassikern der Stummfilmzeit; am 24.9. wird in der Reihe „Stationen der Filmgeschichte“ Germaine Dulacs Kurzstummfilm Die Muschel und der Kleriker gezeigt (Originaltitel: La Coquille et le Clergyman – 1927, nach einem Drehbuch von Antonin Artaud).

Am 28.9. folgt in der Reihe „Stummfilm + Musik“ von Friedrich Wilhelm Murnau Faust – eine deutsche Volkssage (1926; mit Gösta Ekman als Faust, Emil Jannings als Mephisto und Camilla Horn als Gretchen).

Am 26.10. ist zu sehen: Anders als die Andern, ein Spielfilm von Richard Oswald zum Thema Homosexualität aus dem Jahr 1919, der unter Mitwirkung von Magnus Hirschfeld entstand, und anschließend am selben Abend die Komödie Ich möchte kein Mann sein (1918) von Ernst Lubitsch mit Ossi Oswalda.

Weitere Termine: 30.11.: Das Grabmal einer großen Liebe / Shiraz (Regie: Franz Osten; 1928) und 21.12.: Carl Theodor Dreyer: 1928: Die Passion der Jungfrau von Orleans (La passion de Jeanne d’Arc).

Der Veranstaltungsort ist jeweils die Black Box im Filmmuseum Düsseldorf, Schulstraße 4, 40213 Düsseldorf.

 




So also standen damals die Dinge – Bilder schlürfen, Dialoge trinken auf filmischen Zeitreisen in die 60er und 70er Jahre

In den letzten Wochen und Monaten habe ich zuweilen Streaming-Dienste wie vor allem den auf deutsche Filme spezialisierten Auftritt alleskino.de in Anspruch genommen, um mich auf cineastischem Wege in die späten 60er und frühen 70er Jahre zurückzuversetzen. Warum nur?

Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm von (Screenshot)

Weitwinkel-Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm „Fremde Stadt“ von 1972. (Screenshot)

Es war die Zeit, in der man sein bisschen Bewusstsein herausbildete, in der man sich aber stark und gelegentlich sogar unbesiegbar fühlte, was natürlich auch den einen oder anderen „Kater“ nach sich zog.

Wie sehr ist das alles mit der Zeit geschwunden! Wie kopfschüttelnd und zugleich verständnisinnig sieht man heute die Jungen sich am Weltenlauf abarbeiten.

Nun trinkt, schlürft und inhaliert man geradezu die Signaturen jener alten Zeiten, in denen man selbst so sehr nach vorne schaute. Musikalisch sowieso. Doch auch im Lichtspiel: Man scannt gleichsam jedes einzelne Bild. So also haben die Lichtschalter und Hinterhöfe ausgesehen. So die Möbel. So die Kleidungsstücke. So die Tapeten. So die Autos. So die Straßen und Gebäude. Wie man damals redete und sich gab…

Deutlicher und dringlicher als heute

Und man war ja selbst mitten darin, wohl deutlicher und dringlicher als heute. Eigentlich unfassbar. Es war Botho Strauß, der gegen Ende des Jahrzehnts in seinem Theaterstück  „Groß und klein“ (1978) den nachmals legendären Satz prägte: „In den siebziger Jahren finde sich einer zurecht!“

Es war ein anderes Deutschland damals. Es war anscheinend alles noch so einfach und vergleichsweise übersichtlich verteilt. Wie war das denn noch ohne Handy, Computer und all das Zeug? Wie war das mit den Schreibmaschinen? Man weiß ja kaum noch, wie das gegangen ist. Und was hat man damals versäumt? Wie wirklich und unwirklich hat man gelebt; keineswegs so, wie es einem im Kino vorkommt.

Auf den Spuren von Rudolf Thome

Besonders die Filme von Rudolf Thome („Tagebuch“, „Fremde Stadt“) haben es mir angetan. Nicht, weil sie besondere Meilensteine des Kinos wären, sondern weil sie so viel von dem Lebensgefühl jener Jahre enthalten und bewahren. In all ihrer Unbeholfenheit und Naivität. Oder gerade deshalb. Wie quälend in „Tagebuch“ – mit gesuchtem Bezug auf Goethes „Wahlverwandtschaften“ – Beziehungen durchkonjugiert wurden, jaja, so schrecklich verkopft war das mitunter in den Siebzigern. Und wie Thome beispielsweise versucht hat, amerikanische Gangsterfilme nachzubilden… Mit heißem Bemüh’n, jedoch teilweise mit untauglichen Mitteln, mit unzulänglichen Darstellern. Und dennoch: Respekt! Das damals in diesem Lande so gewagt zu haben, ist ein bleibendes Verdienst.

…und natürlich Wenders, Herzog, Fassbinder

Sogar May Spils‘ „Zur Sache Schätzchen“ habe ich mir noch einmal angetan. Und tatsächlich: Die impulsive Rebellion, das Andersseinwollen ist auch in diesem Film gültig aufbewahrt. Auch Ulrich Schamonis „Alle Jahre wieder“ habe ich mir abermals angeschaut, in dem das altbekannte Spießertum der westfälischen Provinz (Münster) und seine noch zaghaften Gegenkräfte wieder aufleben. Kein Wunder, dass der Streifen alljährlich zur Weihnachtszeit am Hauptdrehplatz wieder und wieder gezeigt wird, wie andernorts nur „Das Leben des Brian“.

Auch Wim Wenders‘ „Alice in den Städten“ und Werner Herzogs „Stroszek“ zählen zum Umkreis der Filme, die mich zuletzt wie magisch angezogen haben. Und ich weiß schon, dass demnächst die üblichen Verdächtigen wieder an der Reihe sein werden: mehr von Wenders, Herzog und Fassbinder. Lieber noch wär’s einem auf der Kinoleinwand, doch zeigt mir bitte das Lichtspielhaus im Ruhrgebiet, in dem nennenswerte Arthouse-Retrospektiven laufen. Dabei wäre das Publikum der passenden Jahrgänge durchaus vorhanden.

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P.S.: Der obige Screenshot kommt erst in Vergrößerung richtig zur Geltung. Ein Hinweis zu Vorgehen:  https://www.revierpassagen.de/groessere-bilder




Mubi, alleskino und realeyz: Drei Kino-Streamingdienste mit cineastischem Ehrgeiz

Seit einigen Wochen schaue ich gelegentlich bei MUBI rein. Das ist ein Kino-Streamingdienst, der deutlich abseits vom Mainstream operiert und vorwiegend Independent-Filme vorhält; zum Teil auch Besonderheiten, die es selbst in manchen Programmkinos schwer hätten.

Wahrlich keine kindgerechte Umgebung - Screenshot aus Peter Nestlers Mülheim-Film von 1964.

Wahrlich keine kindgerechte Umgebung – Screenshots aus Peter Nestlers Mülheim-Film von 1964.

Bevor hier jemand „Schleichwerbung“ grummelt, sei die ebenfalls achtbare direkte Konkurrenz genannt. Bei www.alleskino.de erhält man einen Überblick zum ambitionierten deutschen Filmschaffen, www.realeyz.de ist ein cineastisch kuratierter, international ausgerichteter Auftritt von einigen Graden. Nur gut, dass es diese drei Offerten gibt, die den globalen Riesen Netflix, Amazon, Maxdome etc. wenigstens ein paar filmkünstlerische Statements entgegensetzen. Demnächst wird wohl auch bei uns noch www.sundancenow.com hinzukommen.

Das Prinzip bei www.MUBI.com lautet, stets 30 Filme vorrätig zu halten. Pro Tag kommt einer hinzu – und dafür verschwindet ein anderer, der halt schon 30 Tage lang im Angebot ist. Nach einem Monat hat sich also der ganze temporäre Bestand einmal umgewälzt.

Die Wiederentdeckung des Filmemachers Peter Nestler

In den letzten Tagen hält man die Abonnenten zeitlich etwas knapper. Statt dass pro Tag (wie sonst meist üblich) ein mehr oder weniger abendfüllender Streifen hinzukommt, speisen sie einen mit lauter Viertelstunden-Stückchen ab. Davon könnte man ruhig vier oder fünf auf einen Hieb präsentieren. Warum eigentlich nicht, wenn man schon eine solche Wiederentdeckung im Köcher hat?

Es handelt sich um kurze Dokumentarfilme von Peter Nestler, der schon in den frühen und mittleren 1960er Jahren prägnante Sozialreportagen gedreht hat. Kein Geringerer als Jean-Marie Straub hat Nestler als den wichtigsten Nachkriegs-Filmemacher Deutschlands bezeichnet. Welch ein Ritterschlag!

Nestler hat sich damals in den Armutszonen Griechenlands ebenso umgetan wie im rheinischen Weinbaugebiet. Fast überall dasselbe, freilich je nach Region variierte Grundmuster: ungemein harte Arbeit, arg begrenzter Lohn, Ablenkung und mitunter Betäubung durch gehörige Mengen an Alkohol und Zigaretten.

Das Ruhrgebiet des Jahres 1964

Kein Wunder also, dass der gebürtige Freiburger Nestler auch im Revier unterwegs war. Ein rund viertelstündiger Film ist 1964 in Mülheim/Ruhr entstanden. Und obwohl man jene Lebenswelt teilweise noch selbst erlitten hat, erschrickt man doch zutiefst ob der trostlosen Schwarzweißbilder. Dieser ungeheuer dichte Smog! Da tanzt ein kleines Mädchen im fast undurchdringlichen Nebel und es ist ein berührendes Inbild der Lebensfreude inmitten einer lebensfeindlichen Umgebung.

Typen in einer Revierkneipe - weiterer Screenshot aus Peter Nestlers Mülheim-Film.

Typen in einer Revierkneipe – weiterer Screenshot aus Peter Nestlers Mülheim-Film.

Die Erwachsenen scheinen indes alle kopflos eilig vorüber zu huschen, als wollten sie der Kamera möglichst rasch entgehen – und als gäbe es durchaus Dringlicheres zu besorgen. Was ja wohl auch gewiss der Fall war.

Und immer wieder dieser Nebel, schlimmer als in einer Edgar-Wallace-Verfilmung der späten 50er und frühen 60er Jahre. Dabei gab es in den fraglichen Vierteln nur ganz wenige Autos. Doch die Schwerindustrie stand noch unter Volldampf.

Sodann die vielfach noch vom Krieg und von Nachkriegsentbehrungen gezeichneten Menschentypen, die damals die Gegend prägten. Sehr knorrig und kernig, sozusagen durch und durch rußig, gar nicht „schick“. Und wie bedenkenlos sie gezecht und geraucht haben. Übler als die verpestete Luft ringsum konnte das ja auch schwerlich sein. Seltsam zu denken, dass und wie man sich als Kind in diesem Umfeld bewegt hat.

Wie bitte? Ja, natürlich sollt ihr noch weiterhin fleißig in die Programmkinos gehen. Was für eine Frage! Das Erlebnis im Kino ist durch kein Streaming und durch keinen Beamer zu ersetzen.




Anmerkungen zur neuen WAZ-Beilage „Lust aufs Wochenende“

Es ist wahrlich kein neues Phänomen, dass viele Chefredakteure ihre Schwierigkeiten mit Kulturrezensionen haben. Vorab häppchenweise Appetit machen – okay. Das lassen sie schon mal gern durchgehen. Doch all das nachträgliche Kritisieren erscheint ihnen überflüssig. Die Leute werden schon selbst merken, ob es ihnen gefallen hat. Das könnte jetzt auch eine ziemlich populistische Denkfigur sein, oder?

Ausriss aus dem Titelseitenkopf der neuen Beilage (© WAZ)

Ausriss aus dem Titelseitenkopf der neuen Beilage (© WAZ)

Nach diesem unbedarften Gusto ist jetzt auch eine neue Beilage gefertigt, die heute erstmals in der WAZ erschienen ist. Sie heißt „Lust aufs Wochenende“, kommt donnerstags (mit 8 Seiten) und samstags heraus. Am Donnerstag besteht die Neuheit zu großen Teilen aus einem Terminkalender, der mit ein paar Texten garniert wird. Erleben, entdecken, genießen – so heißen die Leitwörter. Mann, sind die gut drauf! Immer jung und flott. Ein bisschen Kulinarik, ein bisschen Pop, Lifestyle und Events – fertig ist die bonbonbunte Mischung.

Von den Autor(inn)en hat man als Leser des WAZ-Mantelteils bislang noch nicht viel gehört, sie zählen nicht zur Kerntruppe des Blattes. Vergebens habe ich heute nach einem speziellen Impressum gesucht. Hab‘ ich’s übersehen? Gern hätte ich jedenfalls gewusst, wo die Funke-Gruppe diese Beilage produzieren lässt. Vielleicht erfährt man’s ja noch nachträglich.

Schauen wir mal etwas genauer hin: Bislang sind donnerstags in der WAZ stets einige Kinokritiken erschienen, weit überwiegend von erfahrenen und sachkundigen Mitarbeitern verfasst. Daran konnte man sich schon ganz gut orientieren. Und jetzt? Hat man diese Rezensionen offensichtlich gestrichen.

Statt dessen gibt’s praktisch nur noch kurzatmige Zehn-Zeilen-Vorstellungen neuer Filme, natürlich mit Sternchen-Wertung von 1 bis 5. Damit man sofort sieht, woran man ist und keine Zeit verschwenden muss. Richtig geraten: Kinocharts werden natürlich auch abgedruckt. Man muss ja unbedingt wissen, ob man zur großen Mehrheit gehört. Diese ganze Hit-oder-Niete-Top-oder-Flop-Denke. Ihr wisst schon, was ich meine.

Ein einziger Kino-Text ist in der Premierenausgabe ein ganz klein wenig länger geraten. Doch natürlich hat er empfehlenden Charakter, wenn man dabei von „Charakter“ sprechen kann. Mit Kritik hat man hier so gut wie nichts im Sinn. Schon gar nicht mit nachvollziehbaren Begründungen oder mit abwägendem Für und Wider. Fazit: Als kritische Instanz (hahaha! Der war gut…) ist diese neue Beilage ein Totalausfall.

Diese Donnerstags-Beilage u. a. in Großbuchstaben mit dem Slogan „MEHR KINO“ anzukündigen, ist jedenfalls ein schlechter Witz. Dass es dabei eh nicht um Arthouse-Filme, sondern um „die spannendsten Blockbuster und Familienfilme“ geht, dürfte wohl klar sein.

Damit nicht genug. Auf vier luftig layouteten Spalten wendet man sich in aller Kürze auch neuen Büchern zu. Kostprobe der heutigen drei „Bewertungen“ gefällig? Wortwörtlich: „Ein nahezu perfekter Roman“ (Julian Barnes), „Ein großer Roman von einem wahrlich meisterhaften Autoren“ (James Lee Burke) und „gelingt es in ihrem Debütroman großartig…“ (Noemi Schneider). Alles bestens also. Kein lästiges Gemecker. Mit dem ungefilterten Pressematerial der Verlage und werblichen Klappentexten ließe sich die Trommel kaum penetranter rühren. Überdies darf man gespannt sein, ob die WAZ-Kulturredaktion dieselben Bücher auch noch einmal aufgreift. Man kann ohnehin nur hoffen, dass sich dort noch weiterhin das eine oder andere Gegengewicht bemerkbar macht.

Schon am Mittwoch hatte die WAZ Reklame in eigener Sache betrieben. „Die WAZ macht Lust aufs Wochenende“, hieß es da im Anreißer auf der Titelseite und man dachte schon, es ginge gleich los. Doch wir, die wir das Wochenende bislang immer so verschmäht haben, mussten uns noch einen Tag gedulden, bevor uns die Zeitung endlich Lust darauf machte. Ein weiterer Hieb wird dann am kommenden Samstag folgen, die Ausgabe soll sich in Erscheinungsbild und Themenstruktur deutlicher von den Wochentagen abheben, soll sozusagen „wochenendiger“ werden und dabei offenbar Anleihen bei den Sonntagszeitungen nehmen. Man wird sehen.




„Rambo“ statt Rezensionen

Meine Rezensions-Faulheit hat sich auch über den Jahreswechsel hinaus gehalten. Daher wird gnadenlos weiter gefaselt.

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Rezensionen gehen ja heute sowieso anders. Zunächst einmal: Man gurkt nicht mehr umständlich mit Fachbegriffen herum, überhaupt kann man sich nähere Kenntnisse sparen. Denn dann könnte man ja den Kontakt zu den einfacheren Leuten verlieren. Und das wiederum spielt nur den Populisten in die Karten. Stimmt’s oder hab‘ ich recht?

Auch gibt man sich nicht empfindsam oder einlässlich. Jeder Feinsinn ist verpönt. Viel lieber sollte man seine Kulturkritik mit jeder Menge Anspielungen auf mehrheitsfähige populäre Mythen garnieren und das Ganze kräftig „anpunken“.

Der eine oder andere * Ausruf nach dem Muster „Verfickte Scheiße!“ ist sozusagen ein Muss, will man seine street credibility auch nur ansatzweise wahren. Wer will denn schon elitär sein oder als „Intellektueller“ wahrgenommen werden?

Ich, ich!

Ich will euch was sagen. Zwei Nachbarn, die eigentlich schwer in Ordnung sind, haben mich dieserhalb auf dem Kieker. Sie verdächtigen mich, am liebsten Filme von Bergman, Rohmer, Truffaut, Tarkowskij und Angelopoulos zu sehen (was haargenau stimmt).

Drum wollen sie unbedingt erreichen, dass ich mir mit ihnen gemeinsam den allerersten „Rambo“-Film anschaue, dessen Kenntnisnahme ich bis heute – über Jahrzehnte hinweg – standhaft verweigert habe. Denkt euch nur: Zu diesem Zweck haben sie mir das Machwerk als DVD geschenkt. Einem geschenkten Gaul…

Sie locken mich mit der Behauptung, das alles sei als Ausbund kritischer Ironie höheren Grades zu verstehen. Der eine ruft schon, wenn er mich sieht, quer über die Straße „Hey, Rambo!“ Peinlich, peinlich. Was sollen die Leute von mir denken? Der andere (und ich ahne, dass er dies früher oder später lesen wird – Haaallo, winke, winke, zwinker, zwinker – Ich möchte auch meine Omas in Ludwigshafen und Greetsiel grüßen) will gar einen Beamer mitbringen, auf dass die größte freie Wandfläche im Wohnzimmer vollkommen ramboisiert werde. Dazu dürfte es dann wohl alkoholhaltige Getränke geben.

Nun frage ich in die imaginäre Runde: Soll ich mich darauf einlassen?

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* Heute sagt und schreibt man übrigens „Der ein oder andere“, weil Grammatik ja eh scheißegal ist. Fuck, fuck, fuck!




Kino-Ödnis in einer Großstadt: Wenn auch noch die Dortmunder „Schauburg“ schließen würde…

Dortmund ist eh schon alles andere als eine Kinostadt, und nun schließt auch noch – nach 104 Jahren – mit der „Schauburg“ das älteste Lichtspielhaus am Platze. 1912 war das Vorläuferkino eröffnet worden, also bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Wenn das keine Tradition ist!

Wie die Nordstadtblogger und die Ruhrnachrichten übereinstimmend berichten, gibt’s in der Brückstraße schon am 26. Dezember die allerletzte Vorstellung; ein Rückschlag auch für alle städtischen Bemühungen, das Problemviertel ein wenig aufzuwerten.

Immerhin halten Konzerthaus, Chorakademie (Europas größte Singschule) und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte im näheren Umkreis die kulturelle Stellung, wie denn überhaupt (vom Theater mal abgesehen) das Dortmunder Musikleben wohl noch die lebendigste Sparte in der Stadt ist.

Es liegt übrigens nicht einmal an mangelndem Publikumszuspruch, sondern offenbar allein daran, dass der Mietvertrag nicht verlängert wird. Was aber wird der Eigentümer an dieser Stelle statt dessen vorhaben? Noch eine drittklassige Boutique, noch einen Sexshop? Nun, wir wollen nicht polemisch spekulieren. Aber schlecht wird einem doch.

Es ist zum Heulen. Und es bleiben (beide ebenfalls in der Nordstadt) einstweilen eigentlich nur noch „Roxy“ und „Camera“ als ernsthafte, gelegentlich filmkunstgeneigte Kinos in einer Großstadt, die gerade erst wieder die magische Marke von 600.000 Bewohnern überschritten hat. Traurig, traurig. Wir reden von der einwohnerstärksten Kommune des Ruhrgebiets, die zu den zehn größten der Republik gehört. Man vergleiche einmal die Kinodichte in ähnlich (und weniger) bevölkerten Kommunen…

Immerhin: Edith Pioch-Vogt, seit einigen Jahren Betreiberin der „Schauburg“, will nicht völlig aufgeben, sondern an anderer (zentraler) Stelle ein neues Kino eröffnen, entsprechende Verhandlungen laufen bereits. Sie wird doch nicht etwa das „Film Casino“ am Ostenhellweg wiederbeleben wollen? Das wäre eine mittlere Sensation. Man gäbe was drum. Bisher sind alle Anstrengungen gescheitert, dem im Inneren stilecht nostalgisch ausgestatteten Haus neues cineastisches Leben einzuhauchen. Auch dort hat sich bislang eine Eigentümerin gegen alle kreativen Nutzungen gesträubt. Manchmal ist es schon ein Kreuz mit dem Eigentum.




Das Revier im Paket: Adolf Winkelmanns Ruhrgebiets-Filme im Kino und auf DVD

Der legendäre Spruch aus "Jede Menge Kohle". (Grafik: Winkelmann / Turbine Medien)

Der legendäre Spruch aus „Jede Menge Kohle“. (Grafik: Winkelmann / Turbine Medien)

Witz, Gefühl und Lebensechtheit hat der berühmte Kritiker Hellmuth Karasek Adolf Winkelmann 1981 im „Spiegel“ für den Film „Jede Menge Kohle“ attestiert. Komplimente, die sich auf die gesamte Ruhrgebiets-Trilogie des Regisseurs ausweiten lassen. Sie kommt jetzt, technisch frisch poliert und mit einigem Bonus-Material, passend zum 70. Geburtstag Winkelmanns (10. April), noch einmal in Dortmund ins Kino und in einer DVD-Box auf den Markt.

Wenn man (wie ich) 1978 geboren wurde, hat man zwar das „Entstehungsdatum“ mit den „Abfahrern“ gemein, hat aber gleichwohl den ursprünglichen Kult um die drei Ruhrgebietsfilme von Adolf Winkelmann nicht live miterlebt. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig die Distanz zu der Zeit und ihrem Lebensgefühl der Rezeption schadet: Gerade bei den Abfahrern erstaunt die Frische, die Unverbrauchtheit und Authentizität des Films.

Die Geschichte der drei arbeitslosen Jugendlichen, die aus Langeweile den Lkw einer Möbelspedition klauen und so planlos wie vergnügt in die Nacht fahren, um skurrile Abenteuer zu erleben, hat einen so situativen Witz und eine Lässigkeit, wie man sie vielen deutschen Filmen nur wünschen kann.

Der Dortmunder Winkelmann hat schon in diesem Film einen Blick für kleine Perlen des Ruhrgebietsalltags – und das, ohne die Region und ihre Menschen für einen billigen Gag zu verkaufen. Die Musik von den Schmetterlingen – die übrigens eigentlich eine österreichische Band waren und sich in das Ruhrpott-Idiom einfach hineinsangen (mit dem Titelsong „Wir sind die Gang von Johnny Vermessen“) geht einem tagelang nicht mehr aus dem Ohr.

Klischees ohne Schablonen

Das Talent, Klischees zwar zu thematisieren, aber nie ins Schablonenhafte oder Zynische zu überführen, prägt auch „Jede Menge Kohle“: Der Bergmann Katlewski, der unter Tage von Recklinghausen nach Dortmund läuft, um vor seinem alten Spießerleben mitsamt gescheiterter Ehe und hohen Schulden zu fliehen, erinnert an die Tragik mancher Figur aus der Hochliteratur. Und trotzdem gibt es genügend Szenen, die gerade durch die präzise Beobachtung und die Lust an der Anarchie besten absurden Humor entfalten. Inhaltlich wirkt „Jede Menge Kohle“ wie eine Fortschreibung der Abfahrer. Tatsächlich sagt Adolf Winkelmann, dass er nichts schlimmer fände, als sich zu wiederholen: „Ich fühle mich nur wohl, wenn ich nicht gefangen bin in Konventionen.“

Technisches Neuland

Deswegen wollte er nach seinem kleinen, ‚dreckigen‘ Erstlingswerk nun einen Streifen drehen, der „technisch Neuland war: Alles, was nicht ging und noch keiner gemacht hatte, wollten wir schaffen.“ Seinen Tonmann Hans Peter Kuhn stellte er vor die Herausforderung, Dolby Stereo im Originalton aufzunehmen – ein Verfahren, das laut Winkelmann kein Spielfilm danach mehr genutzt habe. Was Dolby für Ton, war damals Cinemascope für das Bild: Winkelmann und sein Kameramann David Slama fuhren eigens nach London zu dem Panavision-Hersteller Samuelson, um ein Problem zu lösen. Denn unter Tage durften sie nur ohne Elektrizität drehen, wegen des Funkenflugs. „Die kamen dann tatsächlich mit einer Art Schuhkarton aus Blech aus ihrem Museum wieder und statteten ihn extra für uns mit dem Objektiv aus“, berichtet Winkelmann.

Eine Spur Verrücktheit

Geschichten wie diese hält die neue Box von Turbine Medien im Bonus-Material bereit: Interviews, Drehortbesuche, Fotografien ermöglichen einen Blick auf die drei Filme, der ein Gefühl von Aufbruch, Unkonventionalität und einer Spur Verrücktheit hinterlässt – verbunden mit der Frage, ob Ähnliches in dem überregulierten Filmgeschäft heute überhaupt noch realisierbar wäre.

Mit dem dritten Film im Bunde schließlich vollzieht Adolf Winkelmann einen harten Bruch: Zeigte er die schrägen, unheldenhaften Protagonisten bis dato mit einem liebevollen Blick, ändert sich in „Nordkurve“ Ton und Perspektive drastisch. In diesem Film, bei dem sich viele kleine, menschliche Tragödien rund um den Kulminationspunkt, das Fußballspiel, ereignen, wird der Zuschauer mit Gewalt, Suff, Sex konfrontiert. Enthemmte Menschen sind da zu sehen, offen brutal auf der Fanseite, verschlagen und noch viel skrupelloser auf Manager-Ebene. „Unser Ziel war es, jede einzelne Figur bis auf die Haut nackt auszuziehen“, sagt Winkelmann.

Alles auf einmal

Alle drei Filme sind jetzt, am Freitag, 8. April (20 Uhr), in der Dortmunder „Schauburg“ (Brückstraße 66 – Tel.: 0231 / 95 65 606) zu sehen. Adolf Winkelmann und einige Schauspieler bzw. Beteiligte sind anwesend. Die Veranstaltung ist bereits ausverkauft. Die DVD-Box mit der Ruhrgebietstrilogie kommt ebenfalls am 8. April heraus.

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Und hier noch eine kurze Impression: https://www.youtube.com/watch?v=lqycf2CugnI

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P. S.: Transparenz ist uns immer wichtig. Also sei’s offen gesagt: Revierpassagen-Autorin Nadine Albach moderiert den erwähnten Winkelmann-Abend in der Dortmunder „Schauburg“. Deshalb hat sie sich intensiv mit seinem Werk befasst.

 




Kinoschauspieler, Folkmusiker und vieles mehr: Theodore Bikel starb mit 91

Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an die TV-Sendung und ihren genauen Namen erinnern, ist einfach zu lange her. Aber der Name des Moderators (wie man es heute nennen würde) blieb haften. Es war Theodore Bikel. Theodore Meir Bikel ist jetzt im Alter von 91 Jahren gestorben. Nach meinem Dafürhalten ist er auf eine Stufe zu stellen mit beispielsweise Sir Peter Ustinov.

Immer wieder seit unserem ersten Kennenlernen via TV ereignete es sich, dass ein Film begann oder endete, und ich im Vorspann seinen Namen las oder im Nachspann erfuhr, dass er es war, dessen Rolle mir auffiel, aber wieder mal sein Name mir nicht eingefallen war. Meist entfuhr mir dann leise: „Ah, ja, Theodore Bikel.“ Und selten waren es Rollen und Filme, deren Auftauchen in einer späteren Filmografie hätten bedauert werden müssen.

Auftritt beim St. Louis Jewish Books Festival: Theodore Bikel am 2. November 2014. (Foto: Fitzaubrey / Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Auftritt beim St. Louis Jewish Books Festival: Theodore Bikel am 2. November 2014. (Foto: Fitzaubrey / Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ob es in John Hustons „African Queen“ der zackige deutsche Marineoffizier war, dem sein Schiff von Humphrey Bogarts handgeklöppeltem Torpedo im tapferen Flussschiffchen unter den Füßen abgeschossen wurde, oder ob er als Sheriff Max Muller in Stanley Kramers „Flucht in Ketten“ neben Tony Curtis und Sidney Poitier auftrat – fast alle Filme mit dem gebürtigen Wiener (auch in scheinbar randständigen Nebenrollen) hatten eine tolle Geschichte zu erzählen. „Flucht in Ketten“ bescherte Theodore Bikel sogar eine Oscar-Nominierung.

Der multibegabte junge Mann musste indes wie viele seiner Konfession im Jahre 1938 mit Mutter Miriam und Vater Joseph vor den Hitler-Deutschen fliehen, als die Österreich anschlossen. Erst einmal nach Palästina, wo sie britische Staatsbürger wurden. Dort war er zunächst Kibbuzim, dann studierte er am Habimah-Theater in Tel Aviv, und schließlich war er Mitbegründer des Tel Aviv Chamber Theater. Niemand anderem als Sir Laurence Olivier war es vorbehalten, sein Talent zu entdecken und ihm den Weg nach London zu weisen, wo er dann in „Endstation Sehnsucht“ auftrat.

Aber nach „African Queen“ zog’s ihn endgültig in die Staaten, nach New York. Dort führte er seine lebenslange Doppelkarriere fort – als anerkannter Bühnen- und Filmschauspieler und als beklatschter Folksänger, der mit Pete Seeger das „Newport Folk Festival“ ins Leben rief, der selbst außer Gitarre, Mandoline, Balalaika und Mundharmonika spielte, um sich selbst zu begleiten, wenn er in 20 Sprachen dieser Welt sang (sechs davon beherrschte er perfekt).

Und immer wieder kamen die Filmanfragen. Bis hin zu „007“, wo er fast Gerd Fröbe den Bösewicht Goldfinger weggeschnappt hätte. Auch an seine Auftritte in „Star Trek – The Next Generation“ wird man sich wieder erinnern, wenn sie im TV wiederholt werden.

Theodore Meir Bikel war sein Leben lang ein ungemein politischer Mensch. Immer stand er den amerikanischen Demokraten nahe. 1977 nahm Präsident Jimmy Carter ihn ins National Council for the Arts auf, was er bis 1982 beibehielt. Er war Präsident der Actors’ Equity Association und war bis zu seinem Tod Präsident der Associated Actors and Artistes of America. Er engagierte sich bei Americans for the Arts und natürlich im American Jewish Congress, dessen Vizepräsident er war.

Theodore Bikel spielte jedoch im Film gern den Schurken, den garstigen Typen, der seinen Weggefährten Übles antat. Seltsam, aber so oft ich ihn in Filmen genau so sah, so oft er selbst diesen Rollen eine manchmal fast sympathische Wärme gab, werde ich doch Theodore Bikel immer nur mit dem freundlich aus dem Schwarz-Weiß-Fernseher blickenden Herrn verbinden, der uns Kindern Freude machte und dabei immer wieder eines der Lieder aus seinem grenzenlosen Repertoire klampfte.




Genie der Selbstzerstörung: Aus dem wilden Leben des Drummers Ginger Baker

Er ist wahrscheinlich der vielseitigste und einflussreichste Drummer der Rock-Musik.

Seine Lehrer waren Jazz-Größen wie Max Roach und Art Blakey, seine Mentoren Alexis Korner und Graham Bond. Seine musikalischen Meisterstücke hat er mit Supergruppen wie Cream und Blind Faith abgeliefert. Er hat in unzähligen Bands gespielt und mal in England oder Italien, mal in den USA, Nigeria und Südafrika gelebt. Oft ist er schon wegen seiner Drogensucht und Tabletten-Abhängigkeit für tot erklärt worden. Doch auch wenn es stiller um diesen kauzigen Weltenbummler und neugierigen Multikulti-Musiker geworden ist: Ginger Baker lebt.

Er ist noch immer angriffslustig und schlagkräftig wie eh und je. In einem Interview hat er jüngst behauptet, die Rolling Stones seien völlig unmusikalisch. Und als ihm die Fragen von Jay Bulger auf die Nerven gingen, hat er dem Regisseur kurzerhand mit seinem Gehstock verprügelt und die Nase gebrochen. „Beware of Mr. Baker“ heißt der dokumentarische Film, der jetzt in die Kinos kommt und Schlaglichter auf das abenteuerliche und ereignisreiche Leben von Ginger Baker wirft.

Exzentrisch: Schlagzeuger Ginger Baker im Januar 1970. (© NFP)

Exzentrisch: Schlagzeuger Ginger Baker im Januar 1970. (© NFP)

Jay Bulger hat den von unzähligen Abstürzen und Entziehungskuren schwer gezeichneten Musiker auf dessen Farm in Südafrika besucht und mit Fragen gelöchert. Während der zittrige Ginger Baker eher unwillig Einblicke in sein Leben gewährt und immer wieder ätzende Kritik an den meisten seiner Kollegen und Weggefährten übt, werden Fotos und Filmstücke eingespielt, Kommentare seiner Ex-Gattinnen und Kinder, Konzertmitschnitte, Reisedokumente, Hasstiraden und Liebeserklärungen von Kollegen.

Ginger Baker hat mit allen gespielt, mit seinem furiosen und variablen Spiel alle fasziniert und mit seinen Launen und Gewaltausbrüchen alle schier in den Wahnsinn getrieben: Ob Eric Clapton oder Jack Bruce, Steve Winwood, Carlos Santana oder Charlie Watts, sie alle verneigen sich vor dem Ausnahme-Drummer. Aber alle auch meiden diesen Derwisch des Schlagzeugs. Die (einmalige) Wiedervereinigung von Cream war denn auch beileibe keine Herzensangelegenheit von Eric Clapton und Jack Bruce: Es ging ganz schnöde ums liebe Geld. Ginger Baker, der stets über seine Verhältnisse lebt und ein Pferdegestüt sein eigen nennt, war wieder einmal pleite und benötigte dringend eine Finanzspritze.

Der zur Selbstzerstörung neigende Ginger Baker und der zur Selbstverleugnung fähige Regisseur Jay Bulger sind ein ideales Gespann. Während der eine meckert, stellt der andere hinterhältige Fragen. Beide ringen bis zum Nasenbruch miteinander. Das Resultat ist eine hoch spannende, musikalisch und filmisch gelungene Biografie.

(Ab 19. Dezember 2013 im Kino)

Trailer zum Film: http://www.youtube.com/watch?v=RkIiAkx4LtQ




Wer erweckt dieses frühere Kino zum Leben?

Blick durch die geschlossene Glastür: Foyer des früheren Film-Casinos in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Blick durch die geschlossene Glastür: Foyer des früheren Film-Casinos in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Ich muss gestehen: Ich bin überrascht. Heute habe ich bei Facebook das auch hier beigegebene Foto eingestellt und folgende Zeilen daneben gesetzt:

„Eine Schande, dass dieses Dortmunder Innenstadt-Kino seit Jahren geschlossen ist und vor sich hingammelt. Es ließe sich was draus machen. Dann müssten ‚nur noch’ ein paar Leute kommen und Filme gucken.“

Mit der Vielzahl qualifizierter Wortmeldungen und „Gefällt mir“-Markierungen, die diese knappe Äußerung hervorgerufen hat, hätte ich nicht gerechnet.

Bei dem früher ausgesprochen schmucken Kino handelt es sich ums einstige Dortmunder Film-Casino (Passage am Ostenhellweg, gegenüber von C & A), das 1956 den Spielbetrieb aufgenommen hat und bereits seit dem Jahr 2000 leersteht. Letzter Betreiber war Hans-Joachim Flebbe.

Wenn man durch die Glastür schaut, ahnt man noch heute, welch ein Kleinod hier verloren gegangen ist.

Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, frage ich mich, wie dieser Ort wohl wieder zum (kulturellen) Leben erweckt werden könnte. Ich denke, dass man hier (für einen winzigen Bruchteil der Kosten des „Dortmunder U“) beispielsweise eine prächtige Stätte etwa für so genannte „Kleinkunst“ und musikalische Darbietungen hätte schaffen können. Allerlei kulturelle Mischformen wären möglich gewesen, die diese Stadt gewiss bereichert hätten. Theater, Literaturhaus, Café. Der kombinatorischen Phantasie wären zunächst einmal keine Grenzen gesetzt. Nur als reines Kino dürfte man die Immobilie wohl nicht mehr betreiben, denn Dortmund ist alles andere als eine Cineasten-Stadt und hat mit Roxy, Camera sowie Schauburg Lichtspielhäuser, die den örtlichen Bedarf decken.

Manche Reaktionen aufs heutige Facebook-Posting haben gezeigt, dass dennoch auch einige andere Leute von einer neuen Nutzung träumen. Einer rief gar spontan aus: „Also, wer traut sich???“ Mit anderen Worten: Wer nimmt das Herz und das Geld in die Hand, um hier etwas zu bewirken?

Was das Herz angeht, scheint es etliche Leute zu geben, die dazu bereit wären. Eine Legende der Dortmunder Szene gibt gar zu Protokoll, er habe schon kurz nach der Kino-Schließung versucht, hier mit tragfähigem Konzept einzusteigen – leider vergebens.

Inzwischen, so andere Stimmen, wäre es schon baurechtlich (Brandschutz etc.) nahezu unmöglich, hier wieder eine „Versammlungsstätte“ zu gründen, mit welchem Konzept auch immer. Die Pacht, so heißt es weiter, sei dem Vernehmen nach exorbitant hoch angesetzt und schrecke etwaige Interessenten ab. Auch ist von einer offenbar hartleibigen Eigentümerin die Rede, die nicht mit sich reden lassen wolle. Wer könnte das Eis brechen? Oder sind schon alle Chancen vertan?

Zu vermuten steht, dass das ehemalige Kino seit zwölf Jahren (außer Verdruss) gar nichts mehr einbringt und somit totes Kapital darstellt. Ein absurder Zustand.




„Roller Girl“: Auf Rollen erwachsen werden

Bei „ROLLER Girl – Manchmal ist die schiefe Bahn der richtige Weg“ (im US-Original Whip it) handelt es sich um die Verfilmung des Buches Derby Girl von Shauna Cross. Der Film handelt von der 17-jährigen Bliss Cavendar aus dem texanischen Kaff Bodeen, die von ihrer Mutter von einem Schönheitswettbewerb zum anderen „Mutter-Tochter-Lunch“ getrieben wird und sich in Wirklichkeit gar nicht dafür interessiert. Bliss, die in Bodeen zur Schule geht und mit ihrer besten Freundin in einem Imbiss jobbt, kommt mit ihrer Mutter in die nahegelegene Großstadt Austin (Texas) und erfährt dort etwas vom Vollkontaktsport auf Rollschuhen namens Roller Derby, einer Art Mannschaftsrennen ((bzw. „Frauschaftsrennen“, da Roller Girl primär von Frauen gespielt wird)) auf Rollschuhen, wo es teilweise recht ruppig zugeht.

Gemeinsam mit ihrer Freundin machen sie sich heimlich (unter dem Vorwand ein Football-Spiel zu besuchen, was Ihnen beinahe Bliss‘ Vater nicht nur als Fahrer sondern auch als Mitzuschauer beschert) auf den Weg nach Austin, um sich das Rennen anzuschauen. Dort passiert es dann – um Bliss ist es geschehen, denn sie ist total begeistert von dem Spiel auf den Rollschuhen und will da mitmachen. Außerdem sieht sie auch Oliver, einen Zuschauer des Roller Derbys, für den sie zu schwärmen beginnt. Nach dem Derby spricht sie mit einer der Spielerinnen, die sie einlädt doch mal zum Training zu kommen, was Bliss gerne annimmt…

… im weiteren Verlauf erlebt man, wie Bliss langsam (bzw. eher schnell) aber sicher zum neuen Star ihres Teams wird, wie sie die Liebe mit dem Musiker Oliver, den sie beim ersten Mal nur am Rande gesehen hat, erlebt und wie sie versucht, ihre Wünsche mit denen der Familie (insbesondere der dominanten Mutter) in Einklang zu bringen.

Roller Girl ist in den USA schon vor zwei Jahren auf den Markt gekommen, hierzulande wird das Regiedebüt von Drew Barrymore (die auch eine Rolle im Film hat) am kommenden Donnerstag anlaufen. In der Hauptrolle der Bliss agiert die aus Juno und Inception bekannte Ellen Page.

Bewertung

Das ganze klingt schon ein wenig surreal – so nach dem Motto „coming of age on roller blades“. Auch wundert ein wenig die zeitliche Einordnung des Filmes – die Ausstattung (Autos, Gebäude, Fernseher, Polaroid-Kamera) lässt eigentlich den Schluss zu, dass es sich um einen Film aus einem eher weiter entfernten Jahrzehnt (siebziger Jahre?) handelt, wobei sparsam auch moderne Technik (Handy, Internet mit Google und Wikipedia) eingesetzt wird.

Doch wenn man sich erstmal von der Frage trennt, wann der Film spielt (wobei das für die kulturell-historische Einsortierung schon wichtig ist), dann erlebt man einen gelungenen Streifen, der die Probleme des Erwachsenwerdens, die erste Liebe, erste Enttäuschungen, das Abgrenzen von den Eltern usw. sehr schön thematisiert und dabei auch schöne, schnelle Bilder liefert.

Die Schauspieler liefern eine grandiose Arbeit ab. Gerade der Hauptdarstellerin Ellen Page nimmt man die Wandlung von der kleinen fast schon unscheinbaren Bliss zum „Ruthless Babe“ ab, die unter diesem Kampfnahmen für ihr Team bei den Rollerderbies antritt. Doch auch die anderen Schauspieler wissen, was sie tun – insbesondere Bliss‘ Vater (dargestellt von Daniel Stern) weiß zu gefallen.

Doch der Film ist nicht nur ein Lehrstück über das Erwachsenwerden (da hätte er auch großes Potential langweilig zu sein), sondern auch immer wieder witzig, denn es ist gelungen, im Drehbuch und den Dialogen immer wieder humorige Szenen einzubauen, die das Ganze auflockern und im Kinosaal für heiteres Gelächter sorgen – ohne dass es sich dabei um eine Knallbumm-Komödie handelt, wo ein vermeintlicher Gag auf den anderen folgt.

Das Regie-Erstlingswerk der bekannten Schauspielerin Drew Barrymore ist wirklich gelungen, so dass eigentlich nur die Frage offen bleibt: Warum brauchte dieser Film zwei Jahre, um auch in Deutschland seine Premiere zu feiern?

Bewerbung:

Nachfolgend der Trailer zum Film:




„Nichts zu verzollen!“ – Komödie über Streitigkeiten an der Grenze zwischen Belgien und Frankreich

Der Film Nichts zu verzollen ist eine französische Komödie von Dany Boon, die sich der europäischen Einigung im Allgemeinen und der Abschaffung der Zollgrenzen zwischen Belgien und Frankreich im Speziellen widmet. Ort der Handlung ist das belgisch-französische Grenzörtchen Courquain, welches durch das Schengener Abkommen seine wahrscheinlich größte Besonderheit verliert – den Schlagbaum an der gemeinsamen Grenze.

Für den belgischen Zöllner Ruben (Benoît Poelvoorde) bricht dabei eine Welt zusammen, denn „die Camenberts“ ((so nennt er die Franzosen)) mag er nicht wirklich (und das ist noch sehr freundlich ausgedrückt). Seine inoffizielle „Mission“ (gegen die verhassten Franzosen zu stänkern und agieren) scheint dabei manchmal wichtiger als seine eigentliche Aufgabe als Zöllner, wie beispielsweise das Verhindern von Drogenschmuggel. Sein Gegenpart auf der anderen Seite, der Zöllner Mathias (Dany Boon), sieht das mit dem Streit zwischen Belgien und Frankreich nicht so, wiewohl er natürlich auch auf Rubens Provokationen reagiert – teilweise sogar recht heftig…

Das macht seine Situation nicht unbedingt einfacher, denn schon seit einem Jahr pflegt er eine enge Beziehung über die Grenze. Was grundsätzlich kein Problem wäre, wenn nicht gerade seine Angebetene Louise die Schwester von Ruben wäre, was auch der Grund dafür ist, dass er die Beziehung mit Louise versucht geheim zu halten.

Die Situation wird – gerade für Ruben – immer schlimmer, je näher der Tag der Grenzöffnung kommt. So haben die Vorgesetzten auf belgischer und französischer Seite beschlossen, dass nach Schließung der festen Schlagbäume mobile Grenzkontrollen eingerichtet werden sollen. Diese Grenzkontrollen sollen gemischt besetzt werden und auch wenn Ruben noch hofft, dass dabei männlich/weiblich gemeint ist, ist natürlich damit belgisch/französisch gemeint. Es kommt wie es kommen musste – und Ruben und Mathias gehören gemeinsam einer solchen Kontrolle an und müssen versuchen mit einem klapprigen Renault R4 und einen einem Drogenspürhund ihre hoheitlichen Aufgaben zu erfüllen.

Ohne zu viel verraten kann man sich denken, dass es zu dem einen oder anderen Konflikt verbaler und non-verbaler Art zwischen Mathias und Ruben kommt, was durch auftretende Drogenschmuggler, redselige Wirtsleute und mehr komplettiert wird.

Sprachliches…

Dany Boons Erstlingswerk Willkommen bei den Sch’tis wird auf dem Kinoplakat von Nichts zu verzollen genannt, und wer diese Komödie kennt, der wird sich bei diesem Film schnell an die besondere Sprache des Filmes erinnern. Dort war die picardische Sprache ein Thema, die – zur besseren Verständlichkeit für das deutsche Publikum – in der deutschen Fassung durch einen fiktiven deutschen Dialekt ersetzt wurde. Ähnlich ist es bei Nichts zu verzollen, wo sprachliche Unterschiede zwischen dem in Frankreich gesprochenen Französisch und dem in Belgien gesprochenen Französischen durch unterschiedliche Dialekte präsentiert werden (wobei laut der Kritik der „Rheinischen Post“ das nicht so gut ausgeprägt ist, wie bei den Sch’tis).

Während die teilweise sich ziemlich dämlich anhörende Sprache in den ersten paar Minuten noch ziemlich irritierend wirkt, gewöhnt man sich recht schnell daran und kann im Verlauf des Filmes die Belgier und die Franzosen schon sprachlich unterscheiden. Wer die Sch’tis nicht kennt, kann sich eine Kostprobe im Trailer anhören.

Inhaltliches…

Der Film ist unterhaltsam und spielt mit vielen Klischees, wobei das zum Teil etwas einseitig (pro französisch) ist. Zwar wirkt die Geschichte an manchen Stellen etwas übertrieben, aber das ist bei einer Komödie nicht unbedingt außergewöhnlich. Die Charaktere sind – fast schon logischerweise – teilweise sehr überzeichnet dargestellt, aber gerade das macht auch ein wenig den Reiz des Filmes aus. Die Geschichte selbst ist nicht besonders komplex und lässt sich teilweise auch gut vorhersehen, aber hier gilt dann die filmische Variante von „der Weg ist das Ziel“.

Fazit

Der Film Nichts zu verzollen! ist ein guter Unterhaltungsfilm, bei dem man immer wieder über die abstrusen Einfälle und Dialoge lachen muss. Die Geschichte selber wirkt zwar an der einen oder anderen Stelle etwas konstruiert, aber das stört nicht wirklich. Die Schauspieler gehen in ihren Rollen auf und gerade die Hauptdarsteller Mathias und Ruben brillieren als die beiden Gegenspieler des Filmes, die sich notgedrungen zusammenraufen müssen, weil es so von ihnen verlangt wird.

Ungewohnt ist die spezielle Sprache, doch hat man sich da nach wenigen Minuten dran gewöhnt, macht es sogar ein wenig Spaß und weiß zu gefallen. Außerdem zeigt dies auch den enormen Aufwand, der im Rahmen der Synchronisation betrieben wurde.

Der Trailer

Nachfolgend der Trailer zum Film:




Im Kino: Udo ist eben doch nicht Kurt Krömer

Mal wieder ins Kino gegangen, weil im WDR ein Interview mit Kurt Krömer über seine Rolle als „Udo“ zu sehen und zu hören war. Hat es sich gelohnt?

Natürlich ist Kurt Krömer im Detail immer ein Hinsehen wert. Im Film „Eine Insel namens Udo“ spielt Krömer aber gar nicht seine Rolle als Kurt Krömer, sondern einen eher schüchternen, etwas zerbechlichen Mann, ohne Krömers markante Brille. Er ist der Kaufhausdetektiv Udo, der von allen übersehen wird – „schwersichtbar“ eben – bis die Managerin Jasmin kommt und ihn wahrnimmt, samt Flecken im Hemd und seiner schrulligen Art. Sie ist auf ihre Weise eben selbst ein wenig kauzig, und so endet diese Komödie dann auch etwas naiv romantisch.

Gelohnt hat sich der Kinobesuch wegen der teils witzigen Dialoge und der schrägen Bilder. Auch die Grundidee, dass Udo unsichtbar sein kann und nur von seinen engen Freunden und eben von Jasmin gesehen wird, hat einen gewissen Reiz. Allerdings habe ich mich in der Mitte auch ein wenig gelangweilt, denn die Geschichte wird doch sehr in die Breite gewalzt. Übrigens waren wir im Kino auch fast allein – „Bad Teacher“ zieht doch mehr Leute an.

Im Abspann konnte man lesen, dass ARTE und der WDR die Mitfinanzierer waren. Also aufgepasst: Demnächst auf Ihrem Bildschirm „Eine Insel namens Udo“. Wahrscheinlich um Mitternacht.




„Alles koscher!“ – britische Komödie, die mit religiösen Klischees spielt

Bei Alles koscher! handelt es sich um eine britische Komödie. Thematisch geht es um Religionen – neben der jüdischen, die ja auch schon im Titel mehr als deutlich angedeutet wird, auch um die muslimische Religion. Hauptperson des Films ist der muslimische Familienvater Mahmud, der in der Londoner Vorstadt mit seiner Familie lebt, dort eine kleine Firma hat und bezüglich religiöser Regeln es nicht ganz so genau nimmt, denn der westliche Lebensstil gefällt ihm (und seiner Familie) schon.

Problematisch wird das ganze nur, als sein Sohn Rashid seine große Liebe heiraten will. Eigentlich wäre das kein Problem, doch er braucht dazu die Einwilligung des Stiefvaters der Braut. Dieser ist jedoch niemand Geringeres als ein sehr bekannter fundamentalistischer Prediger. Das gefällt Mahmud nicht wirklich, auch wenn er seiner kleinen Tochter immer was vom Kampf gegen die Ungläubigen erzählt. Doch für das Glück seines Sohnes ist er bereit, sich auch mal zu verstellen (dauert ja auch nicht lange…).

Kurz zuvor ist jedoch Mahmuds Mutter gestorben und bei der Regelung des Nachlasses fällt ihm plötzlich eine Adoptionsurkunde in die Hände – seine eigene…
Er versucht daher herauszufinden, wer seine leiblichen Eltern sind und schafft es zumindestens seinen ursprünglichen Namen herauszufinden:
Heute heißt er Mahmud Nasir, früher war er Solly Shimshillewitz – ein Jude!

Da bricht ein Weltbild zusammen und er versucht seine leiblichen Eltern zu finden. Hilfreich ist dabei der jüdische Taxifahrer Lenny, den er vorher noch immer wieder mal verflucht hatte und der ihn jetzt belustigt als Teil der Weltverschwörung begrüßt. Lenny erinnert sich an einen Shimshillewitz, der in der Nähe wohnte und man versucht gemeinsam ihn zu suchen.

Natürlich kommt es da zu Komplikationen, vor allem nachdem der Schwiegerstiefvater in spe überraschend vorzeitig auftaucht und wissen will, ob seine Stieftochter in eine gottesfürchtige muslimische Familie einheiratet…

Alles koscher! spielt gewitzt mit den Klischees der Religionen und der Historie, teilweise sogar recht drastisch. Die Identitätsprobleme Mahmuds werden sehr gut dargestellt, sowohl schauspielerisch als auch szenisch, wenn er plötzlich nur noch Juden um sich herum sieht (was nicht so ganz verwundert, da sie in direkter Nähe zu einer Synagoge spielt).

Auch die Vermutungen von ihm mehr (seine Frau) oder weniger (sein Imam) nahestehenden Personen über den Grund seiner momentan bemerkbaren Verwirrung sind gut dargestellt und auch noch amüsant.

A propos amüsant: Der ganze Film ist – was bei einer Komödie eigentlich auch so sein sollte – durchweg amüsant, dabei aber auch gesellschaftskritisch. Es ist jedoch kein Film, wo man noch über den einen Gag lacht, wenn der andere schon im Anflug ist – aber insgesamt gesehen kommt der Humor definitiv nicht zu kurz. In der Kino-Vorstellung, in der ich den Film gesehen habe, gab es daher auch diverse laute Lacher an besonders lustigen Stellen.

Doch ein wenig Kritik muss auch sein – denn gerade am Ende des Films gewinnt man den Eindruck, dass die Drehbuch-Autoren das ganze in eine bestimmte Richtung drängen wollten und es daher dann nicht so ganz mit der Logik und Glaubwürdigkeit nahmen. Da war schon etwas zu viel Deus ex machina – aber irgendwie passt das ja bei einem Film zum Thema Religion(en).

Der Trailer „Alles koscher!“
Nachfolgend gibt es den Trailer zum Film – wobei ich persönlich vielleicht den Trailer erst nach dem Besuch mir anschauen würde (so versuche ich es generell bei Komödien zu halten – womit ich aber in diesem Fall nicht andeuten will, dass man gerade mal 100 Sekunden was zu lachen hat!) … aber der Vollständigkeit halber ist er hier:




Nostalgisches Kino: „Wasser für die Elefanten“

Jacob Jankowski ist irgendwas über die Neunzig, so ganz genau weiß er das nicht mehr. Eben noch mitten im turbulenten Trubel seines Familienlebens steckend, findet er sich in den Niederungen eines Seniorenheimes wieder. Hauptsächlich damit beschäftigt, etwas für seine Würde zu tun. Als ein Wanderzirkus seine Zelte auf dem Parkplatz vor dem Seniorenheim aufschlägt, träumt er sich in seine Vergangenheit zurück. In die Zeit, welche die schönste und zugleich auch die schlimmste seines Lebens war. Im Amerika der 30er-Jahre-Depression steht er – Student einer Elite-Universität – nach einem Schicksalschlag plötzlich vor dem Nichts und findet sich unvermutet wieder als Tierarzt bei „Benzinis spektakulärster Show der Welt“ , einem der legendären Eisenbahn-Zirkusse jener Zeit. Die Autorin Sara Gruen erzählt in ihrem Roman Jacobs Geschichte auf zwei Zeitebenen so zart und liebevoll wie leidenschaftlich und bildgewaltig. Das Buch (Rowohlt-TB) lag all jenen am Herzen, die sich nach einer seelenvollen Geschichte sehnten. Einer Geschichte mit einem ebenso überraschenden wie befriedigendem Ende.

Nun also der Film. Es heißt, Sara Gruen sei begeistert gewesen. Ihre Leser werden ihr größtenteils zustimmen. Der Film folgt der vorgegebenen bescheidenen Linie, verzichtet auf Effekthascherei und Sensationsgier. Darstellerisch überzeugte er mich nur bedingt. Es fragt sich, ob Robert Pattinson mehr als zwei Gesichtsausdrücke zu bieten hat, Reese Witherspoon kann eigentlich auch anders als nur unterkühlt. Ihre Marlena ist in der Buchvorlage nur vordergründig kühl, ihre besondere Gabe zur Zärtlichkeit kommt deutlich zum Tragen. Böse Zungen behaupten, der Elefant sei der beste Darsteller gewesen, aber es gab ja auch noch Christoph Waltz. Seine Rolle ist eine ambivalente, was ihm bekanntermaßen liegt. Folgerichtig ist sein August die Rolle, welche dem Zuschauer am endrucksvollsten in Erinnerung bleibt.

Die Film-Adaption erinnert an das gefühlige Kino  der 80er Jahre. Heute wirkt sie altmodisch. Im guten Sinne. Die nostalgische Atmosphäre des Films, seine wehmütige Dichte bieten Kino zum Träumen und zum Eintauchen in eine fremde Welt.

„Wasser für die Elefanten“ läuft – noch – in den großen Multiplex-Kinos in Essen, Bochum und Dortmund.




Markenzeichen: Letzter Bohemien

Markenzeichen müssen wohl sein: Er gilt als „letzter wahrer Bohemien” der Kunstgeschichte und hat sich als solcher wohl tatsächlich selbst inszeniert. Doch in Mick Davis‘ biographischem Filmdrama nimmt der Darsteller des Malers Amedeo Modigliani (1884-1920) derart viele Posen ein, dass er wie eine Karikatur aufs Künstlerleben wirkt.

Seine letzten Jahre auf Erden werden vor allem zugespitzt auf Duelle mit Pablo Picasso. Gleich der erste große Auftritt macht’s klar: Mit italienischer Grandezza tänzelt der aus Livorno stammende Modigliani (zunächst strahlender Frauenheld, jedoch mit starkem Hang zu Melancholie, Suff und Selbstzerstörung: Andy Garcia) ins pittoreske Künstlerlokal am Pariser Montmartre – und stiehlt Picasso die Schau, der dort mit seinen Bewunderern bechert. Ein maliziöses Wort gibt rasch das andere, und schon zieht der erzürnte Spanier die Pistole. Nur mit knapper Not lässt sich ein Blutbad zwischen den beiden Gockeln verhindern. Die geschniegelte Choreographie dieser Szenenfolge bewegt sich irgendwo zwischen Tango und Stierkampf. Ansonsten werden uns die Künstler als „verrücktes Völkchen” vorgeführt. Ob dies der Wahrheitsfindung dient?

Im Grundmuster ähnelt „Modigliani” einer jener unbedarften Highschool-Komödien, bei denen alles auf einen Rockband-Wettstreit hinausläuft. Hier muss halt ein historischer Wettbewerb unter Malern herhalten, für den sich – nach langem Zögern – endlich auch unsere beiden Streithähne anmelden. Außerdem am Start: Größen wie Maurice Utrillo, Chaim Soutine und Diego Rivera. Wow! Das riecht nach WM-Finale. Berühmte literarische Zaungäste finden sich ebenfalls dazu ein, auch sie allerdings filmisch von jeglichem Geist befreit: Jean Cocteau steht ratlos herum, Gertrude Stein ist die dralle Mutti eines wildgewordenen Kulturbetriebs.

Wahrhaftig wird dann die „Pinsel-Konkurrenz” (ach, nichts anderes ist es hier!) vom schottischen Regisseur wie ein Sportereignis inszeniert. In einer langen, heftig sich steigernden Sequenz sehen wir sie alle fieberhaft an ihren Leinwänden werkeln – bis sie erschöpft die „Ziellinie” erreichen. Da kommen einem auch die jeweiligen Gespielinnen fast wie Boxenluder vor.

Picasso (Omid Djalili) jedenfalls erscheint als wohlhabender, saturierter Sack, der verarmte Modigliani hingegen wie ein Vorläufer jener Rockstars, die schnell lebten und jung starben. Den allerhöchsten Segen bekommt der Italiener vom greisen Impressionisten Auguste Renoir, der wie Gottvater persönlich aussieht und Modiglianis genialische Verrücktheit still verschmitzt zu würdigen weiß.

Keine Liebesgeschichte? Oh doch, natürlich! Modiglianis Muse Jeanne Hébuterne (madonnenhaft: Elsa Zylberstein), die er oftmals nackt und mit schier endlos langer Halslinie malte, hat sogar ein Kind von ihm und erwartet ein zweites. Doch ihr erzböser Vater stellt sich dem Glück entgegen und lässt das „Bastard”-Baby gar von der Fürsorge ins Heim stecken. Doch auch dieser Konfliktstrang wirkt grob geschnitzt und sorgt für weitere Genrebilder der gängigen Sorte.

Unmengen von Zigaretten, Alkohol, Koks und Opium werfen den seit seiner Kindheit lungenkranken Modigliani schließlich aufs Sterbebett. Seine letzten Worte lauten sinngemäß: „Schluss mit dem Wahnsinn.” Tags darauf stürzt sich seine Jeanne mitsamt Leibesfrucht in den Tod. Selbst diese Tragik kommt einem in diesem Umfeld effekthascherisch vor.

P.S.: Der Film hat nie einen Start in den deutschen Kinos erlebt, ist allerdings auf DVD herausgekommen.




„Ein fliehendes Pferd“: Beziehungsstress am Bodensee

Das ist fürwahr ein Alptraum, man stelle sich vor: Alter Schulkollege taucht nach 25 Jahren unverhofft auf – blutjunge Blondine im Schlepptau. Der Kerl gibt sich sturzvital, heftet sich penetrant an deine Fersen und gibt dir immer wieder nassforsch zu verstehen, wie falsch und fade du lebst. Und dann macht er sich flugs an deine Frau heran.

So erleidet’s in Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1978) der bedauernswerte Studienrat Halm. Rainer Kaufmann („Die Apothekerin“) bringt den behutsam umgemodelten Stoff jetzt mit prominenten Akteuren ins Kino. Sie holen aus der Tragikomödie tatsächlich etliche komische Nuancen heraus.

Klaus heißt die Kanaille. Mit jedem Wort lässt er den Deutsch- und Geschichtslehrer Halm spüren, dass dessen Alltag in blutleerer Routine erstarrt ist. Und er hat damit gar nicht so unrecht. Selbst im Urlaub löst und lockert sich nichts: Helmut Halm (Ulrich Noethen) und seine Frau Sabine (ihre wohl beste Rolle seit langem: Katja Riemann) verbringen seit vielen Jahren rituelle Ferien am Bodensee. Dort kann – anders als im Buch – der behäbige Halm in aller Frühe und Stille die heimische Vogelwelt beobachten. Der Ruf einer Rohrdommel als Höhepunkt des Tages. Nicht sonderlich aufregend. Der virile „Macher“ Klaus Buch (rasant: Ulrich Tukur) belustigt sich drüber und geht lieber auf Segeltörns – am liebsten bei gehöriger Gischt oder gar mitten im Gewittersturm. Heißa!

Jeder Satz ein Gegen-Satz, jede Tat ein Affront. Klaus drängt Sabine zur Untreue, während Halm sich eher verdattert in dessen Gespielin Helene (Petra Schmidt-Schaller) verguckt. So lädt sich die missliche Konstellation auch noch sexuell auf. Halm wahrt eine Zeit lang krampfhaft die Selbstbeherrschung. Aber dann! In dem bisher so stillen Mann schwellen Todeswünsche an. Ulrich Noethen macht den Zwiespalt erschütternd glaubhaft. Da tun sich Risse auf.

Drehbuch und Darsteller mussten die vielen inneren Monologe der Novelle in Handlung, Gestik und Mimik übertragen. Dem Ensemble-Quartett gelingt dies mit Bravour, auch Martin Walser soll’s gefallen haben.

Hinter all dem Dampf-Geplauder lässt der famose Ulrich Tukur Spuren von Verzweiflung durchscheinen, als nehme dieser Klaus gerade seine letzten Chancen wahr. Wie aus dem Nichts ist er aufgetaucht, wie ein Spuk verschwindet er schließlich. Das Ehepaar Halm ist wieder mit seinen (nunmehr aufgewühlten) Enttäuschungen allein. Gehen sie einander an die Gurgel? Beinahe. Doch dann fassen sie einen geradezu heldenhaften Entschluss . . .




„Tuyas Hochzeit“: Armut lässt keinen Platz für Romantik

Hier zählen die einfachen, lebenswichtigen Dinge: eine Bleibe haben. Einen Brunnen graben, um Wasser zu finden. Erst wenn dies getan ist, können die Menschen an alles Weitere denken.

Der chinesische Berlinale-Gewinner „Tuyas Hochzeit” spielt in der inneren Mongolei. Fürwahr keine häufig „abgefilmte” Weltgegend. Schon deshalb schaut man mit Entdeckeraugen hin – und wird beileibe nicht mit bunter Folklore abgespeist.

Tuyas Mann, der Hirte Bater, hat beim Brunnenbau beide Beine verloren. Nun muss die junge Frau ganz allein für ihn, ihre zwei Kinder und sich selbst sorgen. Die kleine Schafherde wird dafür nicht reichen. In dieser Notlage beschließen die beiden, sich scheiden zu lassen, damit Tuya einen neuen Ernährer heiraten kann, der für alle einsteht. Welch eine schmerzliche Vernunft!

Schon bald sprechen Männer auf Brautschau vor, die nicht gerade von edlen Motiven getrieben werden. Man merkt: Romantische Liebe europäischen Zuschnitts hat hier keinen Raum – von Hollywood-Träumen ganz zu schweigen.

Regisseur Wang Quan’an und sein deutscher Kameramann Lutz Reitemeier finden großartige, gleichsam tief atmende Bilder für ihre Geschichte. Natürlich kommen ihnen die ungeheuer weiten Landschaftspanoramen entgegen. Vielfach denkt man: Genau diese Szenerie könnte ein grandioses Fimplakat ergeben. So soll Kino sein.

Doch das Werk erschöpft sich keineswegs in optischer Sensation. Geduldig, ruhig und präzise zeichnet Wang Quan’an die soziale Lage der Figuren. Der Horizont reicht übers Individuelle hinaus: Man ahnt, wie harsch einerseits die patriarchalischen Verhältnisse des Landes sind. Doch andererseits gibt es Anzeichen, dass einige schmalere Ströme des weltweit zirkulierenden Geldes die alte Zeit auch hier überfluten werden.

Wenn man es aus deutscher Sicht ins Auge fassen will: Einem Bert Brecht hätte die Art gefallen, erst die materielle Lebensbasis zu untersuchen und erst in zweiter Linie die Regungen des Seelenlebens (wobei eins vom anderen schließlich kaum zu trennen ist). Und ein Rainer Werner Fassbinder hätte die heißkalte Erzählweise goutiert, die an seine besten Werke erinnert.

Ein durch Ölfunde reich gewordener, bestürzend einsamer, entwurzelter und eigensüchtiger Hochzeitskandidat will Bater ins dürftige Heim abschieben. Herzzerreißend die Sequenz, in der Bater dort allein zurückbleibt, sich dem Suff ergibt und sich mit einer Flaschenscherbe die Pulsader aufschlitzt. Doch damit ist nicht aller Tage Abend. Tuya beginnt sich zu wehren – so sehr bis zur allgemeinen Verhärtung, dass sie den einzig wahren Bräutigam lange zurückstößt. Selbst diese nach und nach in stiller Größe wachsende Liebe kann man nicht in unserem Sinne „romantisch” nennen, wohl aber: existenziell, notwendig. Und das ist gewiss mehr.




Damit die alten Filme nicht zerbröseln – Archivare stemmen sich gegen den Verfall von historischen Dokumenten in NRW

Von Bernd Berke

Duisburg. Kaum zu glauben, dass dies einmal Filme gewesen sein sollen: Eine Dose enthält nur noch ein seltsam bräunliches Pulver, aus einer anderen riecht es übel nach Essigsäure. Was immer auf den Streifen drauf gewesen sein mag – sie sind unwiederbringlich dahin!

Gegen derlei optischen Gedächtnisverlust stemmt sich der „Arbeitskreis Filmarchivierung NRW“. Federführend ist Sabine Lenk, Leiterin des einzigen Filmmuseums im Lande. Sie hat die zerbröckelten Filme zur Anschauung mit nach Duisburg gebracht. In ihrem Düsseldorfer Institut befindet sich das größte Filmlager von NRW, das sich über 1000 Quadratmeter erstreckt und laut Lenk „noch Platz für neue Fundstücke bietet.“ Dort lagern bereits Tausende Spulen bei konstanter Temperatur und einer idealen Luftfeuchtigkeit von nur 25 Prozent. Filme könnten auf diese Weise – so eine erstaunliche Schätzung – theoretisch bis zu 1000 Jahre überdauern.

Auch Alltagsszenen auf „Super 8″ gesucht

Zahlreiche Filmschätze im Lande sind allerdings bedroht, darunter rare Dokumente zur Vergangenheit Westfalens und des Ruhrgebiets. Selbst in städtischen Depots werden sie oft nur unzureichend verwahrt. Um zu retten, was zu retten ist, bieten die Institutionen, die hinter dem Archivkreis stehen (siehe Infos am Schluss), sachkundige Hilfe an. Und sie suchen nun verstärkt nach verborgenen Kleinoden auf Zelluloid. Auch Alltagsszenen aus dem privaten Bereich sind gefragt. Hans Hauptstock vom WDR-Archiv: „Der Badeausflug der Dortmunder Familie zum Sorpesee kann auf seine Art ein historisches Belegstück sein.“ Also: Alle mal nachschauen, was sich seinerzeit (beispielsweise auf „Super 8″) so angesammelt hat…

Der Archivkreis wurde vor 15 Jahren auf Anregung des damaligen Kulturministers Hans Schwier gegründet und meldete sich gleich mit einer „Bielefelder Erklärung“ zu Wort, die zur Erhaltung filmischer Werte aufrief. Jetzt erneuert eine „Düsseldorfer Erklärung“ den Appell und bittet um finanzielle Förderung durchs Land. Denn schon die Restaurierung eines einstündigen Streifens kann leicht um die 10 000 Euro kosten.

Immerhin: Seit 1991 ist einiges geschehen. Der Archivkreis hat systematisch rund 400 wichtige Fundorte für Filme aufgespürt – vom Wirtschafts- und Polizeiacrhiv bis hin zu kirchlichen Sammlungen. Fast überall gammelten regionale Bestände vor sich hin. Farbtöne waren verblasst, ganze Filme zerbröselten allmählich, waren bereits  unauflöslich verklebt oder brüchig geworden. Einiges hat man bewahrt und teilweise auf neuere Medien umkopiert. Anfangs war Nordrhein-Westfalen mit solchen Aktionen bundesweit Vorreiter, inzwischen hat Baden-Württemberg gleichgezogen.

Ein ständiger Kampf mit der Zeit

Beim Sichten und Bewahren historischer Filme führen die Experten seit jeher einenKampf mit der Zeit, sprich: vor allem mit technischen Neuerungen. Nachdem der Tonfilm aufkam, sind etliche Stummfilme verrottet. 1957 wurden Nitratfilme verboten, weil sie so leicht entflammbar sind. Folglich interessierte sich kaum noch jemand für das Material, es wanderte häufig in die Mülltonne. Ähnlich erging’s der Normal-8- und der Super-8-Schmalfilmtechnik, als die Videokassette aufkam. Die wiederum wird von digitalen Speichermedien verdrängt: CD-ROM, DVD, Festplatte. Deren Verfallszeiten liegen bei wenigen Jahrzehnten. Zudem kommt ständig neue Software heraus, so dass bald niemand mehr mit früheren Varianten umgehen kann. Probleme genug.

Was aber geschieht mit den glücklich geretteten Filmen? Sie sollen nicht nur im Archiv schlummern, sondern wissenschaftlich ausgewertet und möglichst oft gezeigt werden. So manche TV-Dokumentation hat schon Honig aus diesem Fundus gesogen, so etwas Paul Hofmanns nostalgischer WDR-Dreiteiler „Als der Ruhrpott noch schwarz-weiß war“, der derzeit im „Dritten“ wiederholt wird (Teil 2 am 27. November).

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HINTERGRUND

Universitäten der Region ins Boot holen

  • Zum 1991 gegründeten NRW-Arbeitskreis Filmarchivierung gehören u. a. folgende Einrichtungen:
  • Das Filmmuseum Düsseidorf (Schulstraße 4, 40213 Düsseldorf, Tel.: 0211/899-3788).
  • Das NRW-Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf.
  • Das Archiv des Westdeutschen Rundfunks (WDR).
  • Die „Kinemathek im Ruhrgebiet“.
  • Das Medienzentrum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL).
  • Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen.
  • Das Duisburger Filmforum.
  • Das Wirtschaftsarchiv der Firma Mannesmann.
  • Dringend erwünscht, aber noch nicht verwirklicht ist eine engere Kooperation mit den regionalen Universitäten.



Fieberträume im Komödienstadl – Kinofilm „Wer früher stirbt, ist länger tot“

Von Bernd Berke

Eins muss man dem jungen Filmemacher Marcus Hausham Rosenmüller schon mal lassen: Seine Titel klingen prägnant.

Ein kürzeres Werk hieß vor Jahren „Nur Schreiner machen Frauen glücklich“. Jetzt absolviert er sein abendfüllendes Spielfilmdebüt mit „Wer früher stirbt, ist länger tot“. Wer wollte an der Wahrheit dieses Satzes zweifeln?

Hauptfigur ist der 11-jährige Sebastian, der in einem bayerischen Dorf lebt. Der Radius zwischen Schule und Bauernhof wird hier kaum je überschritten. Da fühlt man sich ein wenig an die seligen „Lausbubengeschichten“ eines Ludwig Thoma erinnert.

Zwischendurch wird’s allerdings ernst. Sebastians Mutter ist bei seiner Geburt gestorben. Nun fühlt er sich irgendwie schuldig an ihrem Tod. Es plagt ihn fortan eine Sorte von Alp- und Fieberträumen, die wirkt, als hätte sich der Schreckensmaler Hieronymus Bosch in den Komödienstadl verirrt. Das bayerisch-katholische Gewissen droht dem Kleinen in Form eines bizarren Jüngsten Gerichts. Jeder Bubenstreich wird ihm da dröhnend vorgehalten. Um dem angedrohten Fegefeuer zu entgehen, muss Sebastian entweder „unsterblich“ werden oder seine Sünden tilgen, indem er dem betrübten Vater endlich wieder eine fesche Frau verschafft.

Damit beginnen die halbwegs komischen Missverständnisse. Der Partner von Sebastians hübscher Grundschullehrerin ist droben am Berg Radiomoderator einer Rocksendung – im Studio kündet jedes Detail von den glorreichen 60er Jahren mit Woodstock, Marihuana & Co. Dieser Mann sagt Sebastian, mit Musik könne man just unsterblich werden – wie einst Jimi Hendrix. Der Junge nimmt die Ansage eins zu eins und will unbedingt Gitarre spielen lernen. Auch verschafft er einer alten Dame, die im Sterben liegt, eine allerletzte Freude. Und nebenher sorgt er auf Umwegen dafür, dass die Lehrerin seinen Vater kennenlernt. Noch Fragen?

Dieser sommerlich leichte Heimatfilm ergötzt sich an allerlei Anspielungen und Zufällen, es ist eine gar hübsch gehäkelte Geschichte. Mit Fleißer, Fassbinder oder Kroetz, die einst auch das Abgründige und Bösartige im Bajuwarischen aufspürten, hat das alles nichts zu tun. Dieses Dorf gebiert nur kleine, eher putzige Ungeheuer.




Das Ende der Vorurteile – Kinofilm „Unkenrufe“ nach der Erzählung von Günter Grass

Von Bernd Berke

Fürs „Buch zum Film“ hat Literaturnobelpreisträger Günter Grass ein Vorwort geschrieben. Er ist also wohl gnädig einverstanden mit der Adaption seiner 1992 erschienenen Erzählung „Unkenrufe“.

Leicht kann die Umsetzung nicht gewesen sein, denn Grass hat vielfach mit indirekter Rede und erzählerischen Mutmaßungen gearbeitet. Das alles musste fürs Kino konkretisiert, auf Figuren verteilt, zugespitzt oder ausgelassen werden. Daran gemessen, ist der Film des polnischen Regisseurs Robert Glinski passabel geraten. Und er bebildert getreulich manche sinnliche Grass-Spezialitat: von lukullischen Genüssen bis zum pittoresken Rikscha-Dienst mitten in Danzig, der auf die Kalkutta-Aufenthalte des Autors zurückgeht.

1989, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer: Der Bochumer Kunsthistoriker Alexander Reschke forscht in seiner (und Grass‘) Geburtsstadt Danzig, die bekanntlich seit1945 Gdansk heißt und zu Polen gehört, nach einem besonderen Grabstein. Durch Zufall lernt er die polnische Kunst-Restauratorin Aleksandra Piatkowska kennen – verwitwet wie er selbst, des Deutschen mit charmantem Akzent mächtig und auch beruflich kompatibel. Deutsch-polnische Vorurteile gibt es zwar zuhauf, doch diese beiden lebensklugen Menschen umschiffen derlei Klippen höchst freimütig.

Alexander und Aleksandra

Alexander und Aleksandra – wenn das nichts wird! Zartfühlend, mit feiner Ironie spielen Matthias Habich und Krystyna Janda diese späte Liebe zweier gereifter Menschen. Sie verleihen dem Film menschliche Wärme – ebenso wie die weise Marktfrau Erna Brakup (Dorothea Walda), eine pralle Grass-Figur wie aus dem Bilderbuch.

Unsere beiden haben eine spontane Idee, deren Sinn der Film mit dem Untertitel „Zeit der Versöhnung“ überdeutlich ankündigt. Sie gründen eine polnisch-deutsch-litauische Friedhofs-Gesellschaft, die jedem Menschen am Ende dieses zerrissenen 20. Jahrhunderts die Beisetzung an seinem Geburtsort ermöglichen soll. So möge etwa der gebürtige Danziger, der in der Bundesrepublik lebt, seine letzte Ruhe in der alten Heimat finden – über alle ideologischen Gegensätze und Bedenken („Kein Deutscher in polnischer Erde!“) hinweg. Es finen sich Mittel und Wege.

Herzensgute Sympathieträger

In Rückblenden erzählt der Film aus der Kindheit Alexanders in der NS-Zeit und Aleksandras im Kommunismus, wo sie jeweils Außenseiter waren. Diese herzensguten Sympathieträger taugten eben nie fürs dröhnende Kollektiv.

Immer wieder kommt die sprichwörtliche Unke ins Spiel, die kommendes Unheil quakend verkündet. Als literarisches Zeichen mag das angehen, doch als real vorhandenes Tier im Film mag man’s schon bald nicht mehr haben.

Die Mauer fällt, die Blöcke beginnen sich aufzulösen. Wie skeptisch Grass diese historischen Vorgänge gesehen hat, weiß man. Auch die Friedhofs-Gesellschaft lässt er mit satirisch getönten Anstrengungen in kapitalistisches Fahrwasser geraten. Im deutsch-polnischen Komitee gewinnen Leute wie der Unternehmer Vielbrand (Udo Samel) die Oberhand, die die Idee gnadenlos kommerziell ausbeuten wollen.

Das ist nicht mehr die Welt von Alexander und Aleksandra. Sie ziehen sich nach Italien zurück: „Neapel sehen und sterben“. Filn und Buch finden ein trauriges Ende. Schon zu Beginn ist ja ein steinerner Engel symbolisch gestürzt…

Volker Schlöndorff hat, lang ist’s her, mit der Verfilmung von Grass‘ „Blechtrommel“ einen Oscar errungen. Dazu wird’s diesmal nicht kommen. Die recht konventionelle Dramaturgie wirkt so vorsichtig, als solle nur ja kein Schaden angerichtet werden. An Gedenk- und Feiertagen wird man das in diesem Sinne mustergültige Stück später im Fernsehen zeigen.




DVD-Scheiben bereiten den Kinos Sorgen

Von Bernd Bcrke

Die Fronten schienen erstarrt: Bereits zum zweiten Mal binnen weniger Wochen hatten sich die großen deutschen Kinoketten geweigert, einen neuen Film des Verleihs Buena Vista in ihren Häusern zu zeigen. Erst ging’s um die „Käfer“-Klamotte „Herbie Fully Loaded“, dann um das von vielen Kritikern gepriesene Werk „Sin City“. Doch die Boykott-Maßnahmen sind nach wenigen Tagen schon wieder vorbei.

Der Streitpunkt war in beiden Fällen der gleiche. Aus Sicht der Kinobetreiber heikel: Allzu zeitig nach dem Kinostart (schon im Dezember) will der Verleih das Geschäft mit den entsprechenden DVD-Editionen nachschieben. Bisher galt als Spielregel ein Abstand von einem halben Jahr. Diese Frist soll nun gleich zweimal unterschritten werden. Sind es Präzendenzfälle?

Beim Konsumenten könnte leicht der Gedanke aufkommen: Warum soll ich jetzt ins Kino gehen, wenn ich den Film schon bald als DVD-Scheibe fürs Heimkino (mit tendenziell immer größeren und brillanteren Bildschirmen) bekomme? Wer weiß, welche relativ frischen Produktionen bereits im nächsten Weihnachtsgeschäft auf DVD feilgeboten werden…

Konflikt mit den Verleihen

Wenn’s denn schon so kommen muss, dann möchten die Kinos wenigstens spürbar geringere Abspielgebühren an die Verleiher bezahlen. Cinestar-Sprecher Jan Oesterlin mag keine vertraglichen Details nennen, doch mit der jetzt erzielten Einigung über die beiden Filme könne man „gut leben“. Offenbar hat es also einen gewissen Nachlass gegeben. Oesterlin hofft auf ähnlich gütliche Regelungen für die Zukunft. Auch die Ketten Cinemaxx und UCI haben mit Buena Vista einvernehmliche Absprachen über die beiden Filme getroffen. Doch damit ist der Konflikt gewiss nicht grundsätzlich beigelegt.

In der Branche rechnet man damit, dass künftig viele weitere DVDs vor der ominösen Sechsmonats-Frist herauskommen werden. In den USA verfolgen große Filmproduzenten diese kommerzielle Strategie schon ganz offensiv. Angesichts arg rückläufiger Besucherzahlen (bei uns derzeit rund 17 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr) haben Kinos ohnehin Probleme. Mal ganz abgesehen von illegaler Verbreitung via Internet: Auch die gesetzestreu erworbene DVD kann sich bedrohlich auswirken – erst recht, wenn sie immer früher auf den Markt kommt. Dieses Medium bedient den cineastischen Sammeltrieb und bietet überdies meist Interviews mit Regisseuren oder Impressionen von den Dreharbeiten.

Die Verwertung beschleunigt sich

Zum Vergleich: Mit DVDs (nicht nur Kinofilme, sondem auch Musik usw.) wurden in Deutschland im Jahr 2004 rund 1,6 Milliarden Euro umgesetzt, an den Kinokassen hingegen nur 893 Millionen Euro. Und welch ein Zeichen der Zeit, dass weltweit mit Computerspielen schon erheblich mehr Umsatz gemacht wird als mit der gesamten Kino-Produktion!

Eine ähnliche Beschleunigung in der Verwertungskette erlebt auch der Buchhandel. Nicht nur, weil Neuerscheinungen in immer kürzeren Zyklen aussortiert und alsbald „verramscht“ werden. In den letzten Jahren sorgen vor allem Hörbücher für dringlich benötigten Gewinn. Während vormals das Hörbuch erst im gewissen Abstand zur gedruckten Version erschien, ist heute eine parallele Veröffentlichung die Regel. Man hat sofort die Wahl zwischen Lesen und Lauschen.

Allerdings genießen Buchhändler den Vorteil, dass sie selbst die tönenden Bücher verkaufen – und nicht die Verlage. Kinos hingegen vermarkten keine DVDs. Dieses lukrative Geschäft teilen sich die Verleihe und der einschlägige Versandhandel.




Geheimnisse hinter der falschen Tür – „Intime Fremde“ von Patrice Leconte

Von Bernd Berke

Liebhaber französischen Filmschaffens wissen es: Meist handeln die Werke von den tausend Spielarten der Liebe. Leichtlebige Geschichten spielen zwischen Bistro und Bett, die ernsteren werden vorzugsweise mit melancholischer Piano- oder Cellomusik untermalt. Patrice Lecontes „Intime Fremde“ zählt zu dieser verhaltenen Sorte.

Kaum zu glauben: Anna hat sich offenbar in der Tür geirrt und taumelt ins falsche Büro. Statt einem Psychiater schüttet sie dessen Etagennachbarn, dem Steuerberater William, ihr wehes Herz aus. Dieser etwas hüftsteife Finanzfachmann ist von den Bekenntnissen, die ihm da zu Ohren kommen („Mein Mann .berührt mich seit sechs Monaten nicht mehr“), derart sprachlos fasziniert, dass er „vergisst“, die ernüchternde Wahrheit über seinen Beruf zu sagen.

Also verabreden sie weitere Termine, einmal pro Woche. Und so sehr finden sie beide ihr Behagen an der freimütigen Aussprache, dass sie die Verabredungen nach kurzer Verstimmung sogar fortsetzen, als sie seinen Job kennt. Man rätselt nun doch: Hat sie vielleicht gar nicht die Türen verwechselt, sondern das kleine Abenteuer willentlich eingefädelt?

Sexuelle Avancen ergeben sich nicht

Leconte („Der Mann der Friseuse“) treibt bis zum Schluss ein subtiles, rituelles Spiel mit solchen Ungewissheiten und Geheimnissen. Sein Psychothriller der veredelten Art hat Momente, die eines Hitchcock würdig wären. Eben weil sexuelle Avancen sich hier partout nicht ergeben wollen, doch stets in der Luft liegen, bleibt Spannung bestehen. Darin ist „Intime Fremde“ ein kraftvoller Gegenentwurf zu Patrice Chéreaus „Intimacy“, wo das Ritual gerade im wortlosen wöchentlichen Sex bestand.

Anna und William wetteifern darin, einander auszuspionieren und sich dabei selbst bedeckt zu halten. Dabei fallen mitunter Sätze wie jener schwermütige Seufzer des echten Psychiaters: „Wenn die Tür zum Mysterium Frau einmal geöffnet ist, lässt sie sich nicht wieder schließen . ..“ Da knarrt sie mal ein wenig, die symbolisehe Pforte ins Unbekannte.

Anna wird immer „südlicher“ und begehrenswerter

Die beiden Hauptdarsteller, in etlichen Filmen von Jacques Rivette bzw. Eric Rohmer erprobt, entfalten eine fein nuancierte Skala der Gefühle. Die wundervolle Sandrine Bonnaire als Anna blüht im Verlauf der „Sitzungen“ auf. Sie spricht (und raucht) immer verführerischer, kleidet sich leichter, wird begehrenswerter, sozusagen „südlicher“. In diese Himmelsrichtung zielen denn auch ihre diffusen, undurchsichtigen Sehnsüchte.

Bei William (Fabrice Luchini; auch er vieldeutig in all seiner Zurückhaltung) geht das alles etwas langsamer. Seit über 30 Jahren hockt er in der Kanzlei, die er einst von seinem Vater übernommen hat. Auf seiner Seele liegt gleichsam Aktenstaub. Doch dieser geschiedene, kinderlose Mann hat auch eine jungenhafte Seite, die er halb neckisch, halb schüchtern, im Sammeln von witzigem Spielzeug auslebt.

Nach und nach scheint William sich in Anna zu verlieben. Die behauptet, sie wolle sich keine Freiheiten nehmen, sondern sich ihrem Ehemann Marc wieder annähern. Der wiederum bleibt lange ein Phantom, taucht aber schließlich in leibhaftiger Düsternis auf. Es scheint so, als sei William wie eine Brücke, über die dann andere zueinander finden! Doch dabei muss es ja nicht bleiben…




Wenn das Böse einmal in der Welt ist – Pedro Almodóvars Film „La mala educación“ (Die schlechte Erziehung)

Von Bernd Berke

Kommt nach vielen Jahren ein alter Schulkumpel vorbei und sagt mal wieder „Hallo“. Man erkennt ihn kaum noch. Eine Überraschung, aber keine umwerfende. Freilich: Beim spanischen Kult-Filmemacher Pedro Almodóvar erwächst daraus in „La mala educadión“ (Die schlechte Erziehung) eine abgründige Geschichte.

Dieser Ignacio, der da unversehens auftaucht, ist angeblich Schauspieler geworden und begehrt gleich eine Kino-Rolle von seinem Schulfreund Enrique, mittlerweile ein bekannter Filmregisseur.

Freund? Beileibe nicht nur. Denn als Zöglinge eines erzkatholischen Internats waren die beiden einst heftig ineinander verliebt. Dies wird wieder aufgewühlt, als Enrique nun ein Manuskript liest, das Ignacio aus der Tasche gezogen hat: Die Erzählung „Der Besuch“ (und somit auch Almodóvars Film) führt zurück in jene Schulzeit.

Pater Manolos verderbliches Wirken

Diese Erzählung schildert, wie Pater Manolo, ihr heimlich auf Knaben versessener Literaturlehrer, die beiden Jungs rabiat voneinander getrennt hat, um den kleinen Ignacio innerlich bebend anhimmeln zu können. Daraus quellen hier Ur-Szenen des Bösen, mit denen das Leben aller Beteiligten ein für allemal vergiftet wird, als sei der Teufel am Werk.

Fortan liegt auf ihren Biographien buchstäblich kein Segen mehr. Denn damals haben die Jungen und letztlich auch der Geistliche (der denn auch später Buchverlegen wird) ihren Glauben an Gott verloren. Und nun entfaltet sich das, was einst schon der Großdichter Dostojewski erkannte: Wenn Gott tot ist, dann ist – philosophisch betrachtet – „alles erlaubt“. Lüge, Treulosigkeit, Mord. Almodóvar häuft Fragen auf diesen Befund: Wie weit kann man unter solchen Umständen gehen, was kann man selbst ertragen? Aber auch, etwas konkreter: Ist Enriques Besucher wirklich der Ignacio von damals?

Strammstehen oder Liebliches singen

Zwischen die für Almodóvar typischen Bonbonfarben, die nur vage konturierten Identitäten, die gleitenden Rollenwechsel und Geschlechter-Travestien sickert also einige Düsternis und Schwärze. Dass die Kirche im Schatten des Diktators Franco viel Unheil angerichtet hat, bildet einen straffen Themenstrang des spanischen Kinos (Buñuel, Saura), an den hier angeknüpft wird.

Die Jungs müssen vor den Patres entweder stramm exerzieren (Liegestütz) oder ihnen etwas Liebliches vorsingen. Klebrig genug. Doch solche Kleriker sind nicht das einzige Problem. Das Verhängnis zeigt sich hier abermals allgemeiner, existenzieller, es dringt in alle Ritzen und zeugt sich fort.

Das dunkle Kino als Zufluchtsort

Regisseur Enrique, in mancher Hinsicht wohl eine Art Selbstbildnis Almodóvars, überwindet seine anfängliche Schaffenskrise, indem er den Ignacio-Erzählstoff mit der Kamera erkundet. Also wird auch noch eine irrlichternde Film-im-Film-Studie darüber geliefert, welche Wahrheit(en) das Kino nur umkreisen und welche es vielleicht ergründen kann. In mehreren Szenen und Zusammenhängen erscheint Hier der dunkle Kinosaal als Zuflucht für jene Stunden, in denen man die Wirklichkeit gar nicht mehr aushält. Wahrlich ein unstet flimmernder Trost.

 




Exzess und Geborgenheit – Berlinale-Sieger „Gegen die Wand“ von Fatih Akin

Von Bernd Berke

Wahrlich, das gibt es im deutschen Kino höchst selten: Dass ein Film die raue Wirklichkeit nahezu ungefiltert auf die Leinwand bannt, ja uns geradezu damit anspringt – und noch dazu eine überlebensgroße Liebesgeschichte erzählt. Auch wenn Fatih Akins „Gegen die Wand“ kein zwingender Berlinale-Sieger sein sollte, so ist er doch der Ehren würdig.

Der 40-jährige Cahit (auf barsche Weise einprägsam wie derzeit kaum ein Darsteller in unseren Breiten: Birol Ünel) ist „ganz unten“ in den Gossen des Alkoholismus angelangt. Im Vollrausch pflanzt der Deutsch-Türke seinen rostigen Ford frontal gegen eine Hamburger Betonwand. Offenkundig ein Selbstmordversuch.

„Ich will leben, tanzen, ficken“

In der Klinik setzt ihm das schöne Mädchen Sibel zu (ebenbürtiger Widerpart: Sibel Kekilli, über deren vorherige Pornofilme wir hier kein Wort mehr verlieren, weil’s nichts zur Sache tut). Sibel also hat sich die Pulsadern so gezielt aufgeschlitzt, dass sie nicht inLebensgefahr schwebt, wohl aber ihren sittenstrengen türkischen Eltern entkommt. Sie bedrängt Cahit nun mit sanfter, dann roher Gewalt: Er solle sie gefälligst heiraten. Sie wolle nur ihre Freiheit und werde ihn in Ruhe lassen. Klares Ziel: „Ich will leben, tanzen, ficken.“

Cahit stößt sie anfangs rüde zurück. Wahrscheinlich keimt aber hier schon die Liebe, gegen die beide sich lange wehren. Irgendwann heiraten sie zwar, allerdings nur pro forma. Doch als sie seine versiffte Säufer-Hütte nach und nach mit Leben füllt, lässt sich der Berserker Zug um Zug besänftigen. Ein vages Gefühl von „Zuhause“ beschleicht ihn, obwohl sie fast jede Nacht mit einem anderen schläft und nie mit ihm.

Sibel ist stärker als er, sie zieht ihn aus dem Sumpf, obwohl beide schon mal gemeinsam „koksen“. Exzess und Geborgenheit passen hier wunderlich zusammen. Doch dann begeht Cahit einen Eifersuchts-Mord und kommt in den Knast. Wird Sibel wie versprochen auf ihn warten, oder wird sie andere Wege gehen? In Istanbul trifft man sich Jahre später wieder…

Neben dem furiosen Auf und Ab dieser Liebe gerät die desolate Umgebung ins Visier. An vorwiegend trostlosen Orten skizziert Akin andere Frauen- und Mannsbilder.

Musterstück eines neuen deutsch-türkischen Filmgenres

Da ist die Friseuse Maren (Catrin Striebeck), mit der es Cahit gelegentlich treibt, die sich nicht nur im Bett als rabiate, illusionslose „Punkerin“ geriert; Sibels Cousine Selma hingegen macht eiskalt Karriere im Istanbuler Hotelgewerbe. Zwei herzlose Gestalten, die nicht entfernt an Sibels Vitalität heranreichen. Zudem erleben wir in Cahits Umfeld üble Beispiele türkischen Macho-Verhaltens: Die Frau daheim trage ihr Kopftuch und hege die Kinder, der Mann besucht der weil das Freiwild im Bordell. Eine Liebe, die sich gegen solche Rollenvorgaben behauptet, wiegt doppelt.

Hier haben wir sogleich das schwer zu übertreffende Musterstück eines Filmgenres: Diese Melange aus deutschen und türkischen Tönungen ist bislang einzigartig. Zuweilen wechseln die zwischen beiden Ländern wurzellos gewordenen Figuren das Idiom mitten im Satz. Mentale und seelische Akzente neigen sich im Verlauf der Handlung freilich immer mehr der türkischen Seite zu. So driftet denn das Geschehen auch zusehends von Hamburg nach Istanbul, wo es lauter, bunter, lebendiger, gefährlicher zugeht.

Schon vorher hat die Hansestadt eher wie eine zufällige Metropolen-Staffage gewirkt, Menschen deutscher Abstammung kommen praktisch nicht vor. Man sieht eben eine andere Seite dieses Landes. Fatih Akin beweist hier genaueste Milieukenntnis. Bestürzend authentisch, ohne falschen Zungenschlag, entfaltet sich das wuchtige Drama.




Eine Legende hebt ab – Sönke Wortmanns verklärender Film „Das Wunder von Bern“

Von Bernd Berke

Allzu viele bleibende Legenden hat die Bundesrepublik nicht hervorgebracht. Schon deshalb gehört der deutsche Sieg bei der Fußball-WM 1954 („Wir sind wieder wer“) unbedingt ins Kino. In seinem Film „Das Wunder von Bern“ trägt Regisseur Sönke Wortmann das Zeitkolorit mit breitem Spachtel auf.

Der in Marl geborene Wortmann, früher selbst ein begabter Kicker, hat sich viel vorgenommen: In etlichen Spielszenen sucht er den berühmten „Geist von Spiez“ zu beschwören, der die deutschen Balltreter um Fritz Walter und den kürzlich verstorbenen Helmut Rahn zum Titel getragen haben soll.

Zudem schildert er das in kohlenschwarzer Dürftigkeit geradezu pittoreske Ruhrgebiet jener Zeit – zwischen Zechensiedlung, Taubenschlag und Eckkneipe. Noch dazu erzählt Wortmann die (Familien)-Geschichte eines Kriegsheimkehrers – und die WM-Erlebnisse eines jungen Sportreporters aus München, der mit seiner schicken Frau als Kontrastfigur zur Revier-Tristesse daherkommt.

Wie passt das zusammen? Nun, der elfjährige Matthias Lubanski (Louis Klamroth) wohnt mit Mutter (Johanna Gastdorf) und zwei älteren Geschwistern in einer Essener Bergarbeitersiedlung, sie betreiben eine Schankwirtschaft. Einer der Nachbarn im Viertel heißt – Helmut Rahn! Täglich trägt Matthias ihm, der sein Ersatzvater oder starker Bruder sein könnte, die Tasche zum Training von Rot-Weiß Essen. Rahn wiederum, den sie alle „Boss“ nennen, redet dem Jungen (und sich selbst) ein, dass er wichtige Spiele nur gewinnt, wenn der kleine „Furzknoten“ Matthias im Stadion ist.

Sascha Göpel spielt das Essener Fußball-Idol als kernigen Reviertypen – immer einen deftigen Spruch auf den Lippen, öfter mal die Bierflasche am Hals und das Herz auf dem richtigen Fleck. Eines Tages kehrt Matthias‘ Vater (Peter Lohmeyer) aus russischer Kriegsgefangenschaft heim. Als der Kumpel wieder in „seinen“ Schacht einfährt und die Presslufthämmer dröhnen, glaubt er Maschinengewehre zu hören. Auch hat er sich von der Familie entfremdet, will aber sofort wieder das Heft in die Hand nehmen. Konfliktstoff! Und der wird schauspielerisch sorgsam, wenn auch nicht ganz klischeefrei abgetragen.

Bei Rahns Tor jubeln Mönche und Kommunisten

Parallel dazu durchleidet man noch einmal das ganze WM-Turnier. Trainer Sepp Herberger (knorrig-verschmitzter Patriarch: Peter Franke) sondert klassische Sprüche ab. „Der Ball ist rund, und das Spiel dauert 90 Minuten“. Diese unvergängliche Weisheit hat er (laut Film) von einer betagten Schweizer Hotelputzfrau.

Es ist einer der raren ironischen Momente, wenn Herberger ihre verbale Steilvorläge anderntags der WM-Journaille auftischt. Sonst vermisst man solche sanften Brüche. Die Heldensaga treibt zwischen Trübsal und Pathos voran. Meist ist die Geschichte gut „geerdet“, doch einige Szenen heben bedenklich verklärend ab.

Hauptsache fürs Revier, dass Rahn endlich aufgestellt wird. Mit jedem Sieg heilen (so Wortmanns Kurzschluss) auch die Wunden der Faimilie Lubanski. Hier gilt als das wahre Wunder von Bern, dass die Menschen vom Krieg und seinen Folgen genesen.

Der Vater leiht sich vom Pfarrer („mit Gottes Segen“) einen klapprigen DKW und tuckert mit Sohn Matthias zum WM-Finale. Man weiß ja: Wenn der Kleine vor Ort ist, kann’s klappen. Als Rahn das erlösende 3:2 gegen Ungarn schießt, jubeln hier alle mit – vom Mönch bis zum Ost-Berliner Kommunisten. Bestimmt will Wortmann damit keine neue „Volksgemeinschaft“ aufleben lassen. Doch der Regisseur hat sich mitreißen lassen vom Mythos, bis hin zum fragwürdigen Schluss: Wenn die WM-Gewinner mit dem Zug heim gekommen sind, schwebt die Kamera hoch und schwelgt im bäuerlichen Idyll, als sei die „deutsche Scholle“ der Urgrund, auf dem glorreiche Siege wachsen. Da sind, mit Schaudern sei’s gesagt, gewisse Entäußerungen der NS-Malerei nicht allzu fern. Zwiespältig genug! So kann’s gehen, wenn sich einer kopfüber in die Zeitgeschichte stürzt.




Am Ende droht die große Leere – Kinofilm „About Schmidt“ mit einem grandiosen Jack Nicholson

Von Bernd Berke

Die Anfangs-Szene ist ganz konzentriert, sie bannt unheimlich stille, zerdehnte Momente des Wartens: Ein Mann allein im Büro. Seine Aktentasche. Eine Wanduhr. Er blickt müde hin. Die Zeit tickt. Als der Zeiger zur nächsten vollen Stunde umspringt, war’s das mit dem Arbeitsleben: Der Versicherungs-Statistiker Warren Schmidt ist ab sofort im Ruhestand.

Was nun? Sequenzen von solch ufigeheurer Dichte, die Einschnitte im Leben markieren, enthält dieser Film von Alexander Payne häufig. „About Schmidt“ geht frei und doch treffsicher mit der Romanvorläge von Louis Begley um, auf dem Papier war z. B. die Hauptfigur Anwalt und kein Versicherungsmann. Egal! Nicholson spielt hier eine ganz große Altersrolle; würdevoll und doch bestimmt vom leisen Schrecken des nahenden Todes, des womöglich gescheiterten Lebens.

Es zerreißt einem ganz sachte das Herz, wenn man sieht, wie dieser Schmidt mit den ersten arbeitsfreien Tagen so gar nichts Rechtes anzufangen weiß. Mal geht er lustlos einkaufen, dann wieder hockt er vor dem Fernsehgerät, wo er allerdings mittendrin aufhorcht: Eine Hilfsorganisation wirbt um zahlende „Paten“ für arme Kinder der Dritten Welt.

Ein Kinderbild scheint den ganzen Sinn des Lebens zu enthalten

Schmidt wird für den kleinen Ndugu aus Tansania monatlich Geld spenden und ihm lange Briefe schreiben, in denen er sich (zunehmend wahrhaftig) seiner selbst versichert. Die Schrift gerät zur Hoffnungslinie. Und am Ende wird als Antwort ein von Ndugu gemaltes Bild eintreffen, das in seiner vermeintlichen Naivität den ganzen Sinn des Lebens zu enthalten scheint…

Doch zunächst geht’s bergab. Schon bald besucht Warren Schmidt seinen jungen Job-Nachfolger. Der Schnösel begrüßt ihn mit großem „Hallo“, hat sich aber bereits bestens im Office eingerichtet und gibt mit jeder dynamischen Geste zu verstehen, dass er keinen erfahrenen Rat mehr braucht. Seiner Frau wird Schmidt jedoch vorgaukeln, er habe in der Firma noch einmal helfen können.

Die ihm nun ganztägig nahe Gattin (June Squibb), so denkt Schmidt bei sich, widert ihn nach 42 Jahren Ehe an. Ihre lachhaften Gewohnheiten, ihr Geruch gar. Waren sie einander überhaupt die Richtigen? Oder hätte „alles anders“ verlaufen müssen?

Wenigstens die Tochter vor einer üblen Ehe bewahren

Achtlos geht Schmidt eines Tages aus dem Haus, als sie die Wohnung saugt. Wenn er zurückkehrt, surrt der Sauger noch immer genau so – nur: Sie liegt tot auf dem Fußboden. Selbst wenn es eine späte Befreiung vom Ehe-Jochsein sollte, so schmerzt es doch. Nicholson zeigt alle Facetten zwischen dem (schalen) Triumph des Überlebenden und tiefster Bestürzung.

Nun droht die ganz große Leere. Denn auch die geliebte Tochter Jeannie (Hope Davis) wohnt weit entfernt, findet nur Zeit für eigene Belange. Zudem will sie den reichlich deppert wirkenden Randall (Dermot Mulroney) heiraten, der mit Wasserbetten handelt und überwiegend ungehobelte Verwandte hat. Schmidt zürnt: Ach, könnte er der Tochter doch die üble Liaison verbieten! Aber als alternder Mann ist man ja machtlos.

Schluss jetzt mit Erstarmng: Warren Schmidt macht sich mit dem Wohnmobil auf den Weg, besucht Stätten seiner Jugend, atmet unter weiten Himmeln durch, wird weltfromm unterm Sternenzelt. Dann wiede fürchtet er, sein Leben verrinne folgenlos.

Grandios lässt Nicholson die inneren Kämpfe ahnen bis zur notgedrungenen Hochzeitsrede für seine Tochter. Am liebsten würde er mit derben Worten die Feier platzen lassen, doch er nimmt hinter jeder Satzbiegung gerade noch die Kurve ins halbwegs Sozialverträgliche. Noch so eine brillante Szene.

Immer wieder werden in dieser bewegenden Spätlese eines Lebens Toasts und Trinksprüche an feierlichen Tischen ausgebracht. Es sind meist wohl gesetzte Lügenworte. Dahinter aber lauern die existenziellen Fragen.




Die Kunst und ihre hundert Augenblicke – Ausstellung in Bonn: Buñuels Filme und der Surrealismus

ñVon Bernd Berke

Bonn. Diese Ausstellung blickt auf einen zurück, wenn man sie anschaut. Auf zahllosen Bildern sieht man: Augen, Augen und nochmals Augen. So heißt die große Bonner Schau denn auch „Buñuel – Auge des Jahrhunderts“.

Der Regisseur Luis Buñuel (1900-1983) gehört zu den Übergroßen der Filmgeschichte. Er gilt als Surrealist. Es liegt nah, Bilder aus seinen Filmen der Malerei eines Dalí, Max Ernst oder Magritte gegenüberzustellen.

Genau dies tut die Ausstellung in der Bundeskunsthalle. Buñuels Filmschaffen – vom „Andalusischen Hund“ bis zum „Diskreten Charme der Bourgeoisie“ – wird im direkten Vergleich zur bildenden Kunst nochmals mit höchsten Weihen versehen. Vielleicht, so ahnt man, hat Buñuel den Kern des Surrealismus in bewegten Bildern gar eindringlicher zum Ausdruck gebracht, als alle Maler dies konnten.

Darin liegt aber auch das Problem. Um Filme im Museum mit Tafelbildern zu vergleichen, braucht man starre Momentaufnahmen. Dann aber sind es eben keine Filme mehr. Hätte Buñuel das erlebt, wäre er vielleicht auf seinen provozierenden Satz von den Museen, die er gern anzünden würde, zurückgekommen.

Sehtrieb, Begierde, Todestrieb

Sequenzen aus Buñuels Filmen strahlen in senkrecht angeordneten Leuchtkästen bis hoch unter die Decke (man kommt sich fast vor wie auf dem Kino-„Rasiersitz“), Werke der bildenden Kunst sind jeweils thematisch zugeordnet. Die Leitfäden heißen, gut freudianisch-surrealistisch: Sehtrieb, Begierde, Todestrieb.

Eine lebensgroße Giraffe reckt sich eingangs empor. Tatsachlich gibt es in „Das goldene Zeitalter“ (1930) ja jene Szene, in der ein solches Tier aus dem Fenster gestürzt wird. Es ist nicht schwer, in der Kunst jener Zeit Artverwandtes aufzuspüren, man denke nur an Salvador Dalís „Brennende Giraffen“. Mit derlei motivischen Überlappungen geht es dann weiter. Nicht immer verdichten sich die Vergleiche, manches wirkt herbeigezerrt.

Solche Motiv-Übereinstimmungen überraschen nicht allzu sehr, waren die Surrealisten doch (bis zur Spaltung an der Gretchen-Frage des Kommunismus) ein ziemlich eingeschworener Verein. Buñuel war mit Dali eng befreundet. Und über allen schwebte herrgottsähnlich André Breton.

Bis zum Schulungs-Modell für Augenärzte

Reichhaltig ist die Auswahl zum „Sehtrieb“. Auf Filmbildern, Gemälden und Zeichnungen treten Augen hundertfach aus den Höhlen, lösen sich vom Körper, schweben durch Traumlandschaften, oft gierigen Blicks, manchmal verletzt. In jener berüchtigten Schock-Szene aus Buñuels Erstling „Der andalusische Hund“ wird ein Auge zerschnitten, Max Ernst „kontert“ mit durchstochenen Augäpfeln. Aufschlußreicher Schwenk: Hier wird auch ein wächsernes Schulungs-Modell für Augenärzte aus dem 19. Jahrhundert gezeigt, bei dem ein operativer Schnitt angesetzt wird.

Hauptereignis dürfte die komplette Retrospektive der 36 Buñuel-Filme sein. Dazu wurden sämtliche Werke revidiert. Man hat weltweit verstreute Originalnegative aufgetrieben und restauriert, neue Kopien gezogen und elektronisch so untertitelt, daß keine Schadspuren das Filmmaterial verunzieren. Eine Rettungstat!

Hervorragend auch der Katalog (pralle 518 Seiten), der in manchen Punkten sogar dieAusstellung übertrifft. Hier haben Einzelbilder Sinn, wenn Filmszenen untereinander verglichen werden. Da merkt man erst, welche Szenenfolgen Buñuel über Jahrzehnte hinweg aufgegriffen und variiert hat“. Wer hätte etwa gedacht, daß ständig stickende Frauen in seinen Filmen vorkamen?

„Buñuel – Auge des Jahrhunderts“. Bundeskunsthalle Bonn (Friedrich-Ebert-Allee). Bis 24. April (di-so 10-19 Uhr). Eintritt 8 DM, Katalog 78 DM.




Ganz Dortmund gab sich dem Vergnügen hin – Üppige Ausstellung zur Freizeit-Geschichte

Von Bernd Berke

Dortmund. Hereinspaziert, hereinspaziert! Ganz Dortmund gibt sich dem Vergnügen hin. Die einen wandern ins Grüne, die anderen schlendern durch elegante Passagen; nachmittags geht’s ins (fast) original Wienerische Caféhaus — und abends ins Theater oder Varieté.

Natürlich war es nicht ganz so. Nicht jeder konnte sich alles leisten. Und außerdem ist es so lange her, daß es jetzt ins Museum kommt: Das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte hat – für seine bislang größte Präsentation – rund 800 Exponate zusammengetragen. Sie sollen davon zeugen, wie die Dortmunder zwischen 1870 und 1939 ihre oft karge Freizeit verbrachten.

Freizeit gleich Vergnügen? Diese Rechnung geht nicht bruchlos auf. Hinter den knallbunten Kulissen von Zirkus, Jahrmarkt oder Lunapark gab es schon zu Kaisers Zeiten Freizeit-Streß. Und mancher Spaß war reichlich bizarr. Da ließen sich unsere Altvorderen etwa auf der Kirmes freiwillig leichte Stromstöße verpassen – welch‘ fröhliche Wissenschaft… Vor allem aber setzte früh die Kommerzialisierung der Freizeit ein. Verkaufs- und Spielautomaten von anno dazumal beweisen es. An dem Modell „Hopp-Hopp“ konnte man (durchaus stadttypisch) Biermarken gewinnen.

Die üppig bestückte und teilweise drangvoll eng gestellte Schau „umarmt“ ihr Thema gleichsam von allen Seiten: Um das Vorort-Freibad Froschloch geht es ebenso wie um luxuriöse Warenhäuser und Hotels; die Westfalenhalle (Sechstagerennen) spielt ebenso eine Rolle wie die berüchtigte Linienstraße, Dortmunds Zeile der käuflichen Liebe. Auch einige alte Radios werden gezeigt. Man hörte halt in der Freizeit Funk.

Beim Anblick von Fotos und Programmblättern der großen alten Varietés befällt zumindest den eingesessenen Dortmunder Wehmut: Wo ist diese Eleganz geblieben? Zu Schutt und Asche ist sie geworden – im Zweiten Weltkrieg. Jahre zuvor hatten sich die Nationalsozialisten schon der Freizeit bemächtigt. Besonders interessant ist der Fall des Marionettentheaters Kastner. Der Bayer hatte sich mit seiner Puppenbühne in Dortmund niedergelassen und spielte zwar keine Blut-, aber Boden-Stücke. Das kam den Nazis gelegen. Die spannten Kastner für ihre KfF-Belustigungen („Kraft durch Freude“) ein. Freizeit als Ablenkung vom gesellschaftlichen Elend. Nicht minderen Dienst genommen wurde das Dortmunder „Haus der Kunst“.

Freizeit war auch eine Klassenfrage. Während der Proletarier sich aufs Fahrrad schwang, nahm der Bonze beispielsweise in der kapitalen „Horch“-Limousine Platz – eines der auffälligsten Exponate neben dem imposanten „Kaiserpanorama“.

Freizeit war, das Wort sagt es ja, eben auch eine Zeit-Frage. Auf einem Podest voller Uhren wird dem Besucher allerdings kaum klar, daß erst die Einteilung der Zeit, die Abgrenzung von Arbeit und Muße den Begriff „Freizeit“ hervorbrachte.

Rundum gelungen ist die Schau nicht. Obwohl der Bühnenbildner Gerd Herr hie und da für schöne „Inszenierungen“ gesorgt hat, gibt es auch ein paar ärmlich wirkende Ecken. Daß man etwa einige Reihen alter Kinostühle vor ein Großfoto aus einem Harold-Lloyd-Streifen stellt, bleibt weit hinter einer entsprechenden Installation in der thematisch vergleichbaren Essener Ausstellung „Viel Vergnügen“ (Ruhrlandmuseum, bis 12. April ’93) zurück.

Ansonsten haben die Dortmunder eine ungleich größere Fülle zu bieten, in der jeder etwas für sich findet. Und im Ganzen ist die Sache höchst sehenswert. Deshalb, wie gesagt: Hereinspaziert!

„8 Stunden sind kein Tag“. Freizeit und Vergnügen in der Industriestadt Dortmund 1870 bis 1939 – Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Eingang Königswall). Ab sofort bis 4. Juli 1993. Di-So. 10-18 Uhr – Umfangreiches Begleitprogramm mit Aufführungen, Diskussionen usw. (Info: [02 31] 5 02 55 22). Eintritt 6 DM, ermäßigt 3 DM. Katalog mit 360 Seiten 49 DM.




„Das weite Land“ der Menschenseele – Luc Bondy hat Schnitzlers Drama verfilmt

Von Bernd Berke

Köln. In der Menschenseele regiert das Chaos: „So vieles und so verschiedenes hat zugleich Raum in uns. Liebe und Trug, Treue und Treulosigkeit; Anbetung für die eine und dennoch wildes Verlangen nach der anderen. (…) Die Seele (…) ist weites Land.“

Dieses wildzerklüftete Laiidschaftsbild, das man für banal, aber auch für unterschwellig ironisch halten kann, entwarf der österreichische Dramatiker Arthur Schnitzler 1910 in seiner Tragikomödie „Das weite Land“. Luc Bondy, noch Mitdirektor der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, hat daraus einen Film gemacht, der heute in ausgewählten Kinos anläuft.

Bondy, der das Stück 1984 in Paris fürs Theater inszenierte, leuchtet nicht etwa gesellschaftliche Hintergründe (Stichwort: „Bürgerdämmerung“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs) aus. Er konzentriert sich ganz auf die „Chemie“ der Gefühlsregungen, aufs treulose Spiel der Emotionen, das jedoch unvermittelt in tödlichen Ernst umschlagen kann. Komische Akzente sind äußerst sparsam und zurückhaltend gesetzt, eine Stimmung der Vergeblichkeit herrscht vor.

Im Mittelpunkt steht der Glühlampenfabrikant Friedrich Hofreiter (Michel Piccoli), der sich auch bei glanzvollen Soireen nur mäßig vom Geschäftsleben erholt. Allgemeine Leere und Künstlichkeit (mehrfach formieren sich die Filmdarsteller zu kühlen Tableaus nach Art eines Wachsfigurenkabinetts) verlangen nach Aufstachelung, nach Kitzel. Hofreiter sucht solchen „thrill“ auf erotischem und sportlichem Felde. Das „weite Land“ seiner Seele führt Eroberungskriege. Piccoli zeigt eindrucksvoll, wie dieser Mann – unfähig zur Liebe – nur den Schauer vor der Erfüllung sucht. Nach solchen Aufwallungen stößt er die Frauen buchstäblich und brüsk zurück – eine eigentümlich hitzige Mischung aus gewaltsamer „Keuschheit“ und galoppierender Gier. In diesen Strudel reißt Hofreiter auch andere mit hinein: seine Frau, deren vermeintliche Liebhaber, seine eigenen Geliebten.

Bondy hat ersichtlich um bildkräftige Umsetzung gerungen. Vielen Bildern sieht man es an, wie überlegt sie durchkomponiert sind. Da gibt es Symmetrien oder ins Bild ragende Diagonalen, die genau so stimmen und nicht einen Deut anders sein dürften. Künstlichkeit allenthalben, wir sind im Museum der Gefühle, in dem, es zwar auch für den Kinozuschauer nicht ganz ohne Langeweile abgeht, aber es ist doch stets edle, gepflegte Langeweile.

Hinzu kommt eine ausgeklügelte Choreographie der Gänge und Verrichtungen, vorgeführt mit häufigem Tempowechsel. Mal hält die Kamera (Thomas Mauch, oft Kameramann bei Werner Herzog), erbarmungslos geduldig, auf unscheinbarste Gesichtsregungen, dann verfolgt sie ruhelos die Figuren, die mit ihren willkürlich aufgepeitschten Emotionen in stille Naturwinkel einfallen und sie mit Chaos anfüllen: der Mensch als Störenfried der Welt.

Neben Michel Piccoli bleibt vor allem Bulle Ogier als Hofreiters Frau Genia in Erinnerung, die vor Resignation ganz hell, fast wie eine Heilige, erstrahlt.




Auf der Suche nach der verlorenen Kinozeit im Ruhrgebiet

Von Bernd Berke

Essen. Kinokultur im Revier – gibt’s die? Es hat sie jedenfalls gegeben, und eine „goldene Zeit“ dieses Gewerbes waren die 50er Jahre.

1952 beispielsweise gab es in einer Stadt wie Essen vierundsiebzig (!) Lichtspielhäuser, darunter das damals größte Kino Europas mit 1200 Plätzen und 40 Leuten Personal. Einen Filmfan wie den Fotografen Heiko Preller (27) befällt da leicht sa etwas wie Nostalgie. Seine Suche nach Überresten der verlorenen Kinozeit dokumentiert jetzt (bis 5. September) eine Foto-Ausstellung im Essener Ruhrland-Museum.

Prellers Farbbilder aus Essen und Dortmund („Camera“-Kino) sind in den letzten beiden Jahren entstanden. Auf eine vergleichende Konfrontation mit Fotos aus den 50er Jahren konnte er leicht verzichten, finden sich doch auch so noch einige Spuren der 50er Jahre in den heutigen Kinos. Man muß nur den Blick dafür haben; dann findet man in zahlreichen Abspielstätten des Reviers auch jetzt noch Ecken mit Tulpenlampen, nierenförmigen Theken, schneckenartigen Deckenleuchten und Clubsesseln jener Jahre. Solche Restbestände der Kinoblüte – heute zum Bedauern Prellers nur noch Durchgangsschleusen, aber keine Zutat zum Filmerlebnis – hielt der Design-Student ohne jedes Zusatzlicht fest, so daß sie nur in ihrem eigenen, fremdartigen Neonglanz erstrahlen. Kein Mensch ist da zu sehen, nur Architektur, Mobiliar, Accessoires – stumme Überbleibsel jener Jahre, als Fernsehen noch keine ernsthafte Konkurrenz furs Kino war.

Die Fotoserie zeigt auch, wie sich ganz allmählich die atmosphärischen Verluste einstellten. Vor allem Eis- und Cola-Firmen stellten die Häuser mit Plastikzeug voll. Immer häufiger kam es zu Stilbrüchen, immer öfter wurden etwa grauenhaft gefärbte Teppichböden unter die alten Möbel gelegt. Endpunkte des Verfalls: verrottende Bauten, Parzellierung in Kleinst-„Kinos“, Umbau ehemals stolzer Lichtspieltheater in rentablere Supermärkte oder gar in Tapetengeschäfte, in denen nur noch ein angestaubter Vorhang an die Vergangenheit erinnert.




„Rosa Luxemburg“: Blumen für die Utopie

Von Bernd Berke

Bochum. Eigentlich liebt sie die Natur mehr als alle Parteigenossen. Eigentlich will sie ja nur unbeschwert leben. Aber die Verhältnisse, sie sind nicht so. Sie drängen Rosa Luxemburg zur Agitation, zum revolutionären Kampf mit flammendem Wort.

Jedenfalls ist dies in Margarethe von Trottas Film „Rosa Luxembürg“ der Fall, der das bewegte Leben der Sozialistin (Titelrolle: Barbara Sukowa, Kinostart morgen) von 1899 bis zu ihrer Ermordung 1919 nachzuzeichnen versucht.

Rosa, die die politischen Geschäfte nur notgedrungen und widerstrebend, dann aber um so beherzter in die Hand nimmt, friedet sogar noch in der Haft eine „Gartenlaube“ ein: Ein buntes Beet, das sie gleich neben der hohen Gefängnismauer anlegt, erinnert sie an den utopischen Zustand der Freiheit, des unbehinderten Blühens. Auch in ihrer Zelle hat sie ein schützendes „Gatter“ aus Pflanzen und Büehern errichtet.

Überhaupt steht Rosa Luxemburg bei Frau von Trotta im Zeichen der Natur, vor allem der Blumen. Rückblende in Rosas Kindheit: Sie will unbedingt die Nacht durchwachen, um zu erleben, wie die Rose auf dem Tisch erblüht. Es ist dies, so suggeriert die Szene eindringlich, bereits das unerschütterlich-aufrechte, gleichermaßen geduldige wie dringliche Zu-Warten, das sie später auf politischem Felde auszeichnen wird.

Es geht hier kaum um den historischen Widerstreit von Theorien des Sozialismus, kaum um Richtungskämpfe der damaligen Arbeiterbewegung. Andernfalls stünde der Film in diesen Tagen auch wahrhaftig sperrig in der Kino-„Landschaft“. Es rücken indes ganz andere Dinge in den Mittelpunkt, und die muten „heutig“ an: DerBlick richtet sich nämlich vornehmlich auf Rosa L. als Frau, die gemeinsam mit Clara Zetkin (Doris Schade) nicht nur gegen den Klassenfeind, sondern letztlich auch gegen die zumeist zaudernden Männer in den eigenen Reihen (August Bebel, Karl Kautsky) antreten muß.

Nur Karl Liebknecht (Otto Sander) ist kampfentschlossen, wirkt aber dann doch wie ein leichtfertiger Filou, den es mächtig, aber eher zufällig umtreibt. Zentral auch die Friedensfrage: Rosa Luxemburg im aussichtslosen Kampf gegen die vom Reichstag bewilligten Kriegskredite am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Und schließlich: Rosa Luxemburg als Liebende, die auch von so „bürgerlichen“ Gefühlen wie Eifersucht bedrängt wird.

Seine besten Szenen hat der Film aber doch in den eher politischen Passagen. Dann nämlich, wenn Barbara Sukowa vom Rednerpodium herab mit wahrhaftiger Ausstrahlung Ideen wachruft, die längst vergessen schienen.




„The Wall“: Mitreißende Bilderfluten

Von Bernd Berke

Die britische Rockgruppe „Pink Floyd“ war mit ihrer Show „The Wall“ („Die Mauer“) 1981 auf Tournee. Es erschienen das dazugehörigen Platten-Album (Auflage 12 Millionen) und ein einschlägiges Buch. Nun wird das Spektakel auf Zelluloid vermarktet. Ab morgen kann man das Ergebnis in den Kinos sehen. Dann läuft der Film „The Wall“ an, in Breitwandformat und Dolby-Stereo versteht sich.

Regisseur Alan Parker hat laut Presseheft nur ein einziges „Wall“-Konzert von „Pink Floyd“ gesehen, jenes in der Dortmunder Westfalenhalle. „The Wall“ ist als Film aber kein Produkt geworden, das die Bühnenshow nochmals originalnah für die Kinozuschauer reproduziert. Parker ließ sich vielmehr von der Musik dazu inspirieren, die Geschichte des von Eltern und Erziehern „kaputt“ gemachten Rockstars Pink (Bob Geldof) neu zu gestalten. Dabei ist ein mitreißender Film entstanden.

Parker hat nach dem Drehbuch von „Pink-Floyd“-Chef Roger Waters in 16-wöchiger Dreharbeit einen opulenten Augenschmaus angerichtet. Spielfilmelemente wechseln mit aufregend choreographierten, wortlosen Szenen, zwischendurch gibt es fulminante Trickfilmeinlagen. Stets gilt: die Bilder schmiegen sich eng an den Ablauf der Musikstücke. Der Sound strukturiert das Geschehen. Meist bedeutet das (vor allem zerstörerische) Aktion und ein ungeheuer hohes Tempo. Die Alptraumgestalten, die Pink halluziniert, verkörpern Visionen ziellosen Hasses. Endlich zerbirst die „Mauer“, die der Frustrierte um sich aufgebaut hat – Symbol für psychische Panzerungen. Am Ende steht – tja, was eigentlich? – Befreiung und/oder Irrsinn.

Man müßte den Film eigentlich viermal sehen (was wohl nur altgediente „Pink-Floyd“ Fans ihrem Geldbeutel zumuten werden): einmal, um die Bilderflut zu bewältigen, von der man sofort in Bann gezogen wird, als gerate man selbst in den Strudel des Geschehens. Ein zweites Mal, um die Musik zu genießen. Ein drittes Mal, um den Gehalt der Texte wahrzunehmen, die als deutsche Untertitel laufen und ständig von den Bildern ablenken. Ein viertes Mal schließlich, um das alles zusammen auf sich wirken zu lassen.

Gerade weil der Streifen die Sinne also vielfach bestürmt, beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Man wird nämlich nicht nur in Anspruch, sondem auch gefangengenommen von diesem Werk des ehemaligen Werbefilmers Parker. Für eigene Phantasie bleibt kein Platz. Das Stakkato der Bilder tenorisiert oft mehr, als daß es anregt. Genau darauf spekuliert der Film wohl auch: daß der Zuschauer sich ausliefert und nur noch aufnahmebereiter Konsument ist.