Parabel über die Narrheit der Macht: „Hamlet“ als Opern-Rarität von Ambroise Thomas in Krefeld

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Der Thron schwebt über der Szene. Unter ihm kauern Lemuren, weisen mit ausgestreckten Armen auf den Sessel, kriechen auf einen undefinierbaren Gegenstand im Zwielicht zu. Sobald der erste zuschnappt, erkennen wir: Es ist eine Krone. Wie mit einer Waffe hält der schwarze Mensch die Menge mit dem Reif in Schach. Fanfaren. Ein Königsmantel. Eine Frau, die mit hartem Griff in Besitz genommen wird. Der Thron gleitet herab, der Hof von Dänemark feiert sein neues Königspaar.

Wenig später kriecht ein dünner, junger Mann mit wirren Haaren auf einen anderen Gegenstand zu, begleitet von einer schwermütigen, fragmentierten Cello-Kantilene: eine Aschenurne. Ein Narr hat das Symbol des Todes, der Vanitas gebracht. Ein Narr, der immer wieder durch die Szene Hermann Feuchters huschen, geistern, schreiten wird. Andrew Nolen verkörpert eindrucksvoll diese – bei Thomas so nicht vorgesehene – Figur der Weisheit, aber auch der Nichtigkeit aller irdischen Gewissheiten. Seine Zweifel, sein Witz löschen alles, was Endgültigkeit für sich beansprucht. Auch die Macht.

Und dass es in Ambroise Thomas‘ selten gespielter, vor fast 150 Jahren in Paris uraufgeführter Oper um Macht geht, daran lässt Helen Malkowsky in Krefeld keinen Zweifel. Die Regisseurin ist in der Region nicht unbekannt. Sie hat in Essen an der Folkwang Universität der Künste mit Brittens „Turn of the Screw“, in Krefeld-Mönchengladbach mit „Stiffelio“ und „Mazeppa“, in Bielefeld mit „Peter Grimes“ ausgezeichnete Arbeiten vorgelegt. Szenisch virtuos deutet sie die düstere Geschichte über Königsmord, unschuldige Opfer, Rache, Angst und Wahnsinn als eine Parabel über die Narrheit und Vergeblichkeit der Macht.

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Der Thron des Anfangs, reduziert auf einen noblen Stuhl, setzt in grellem Licht den Schlusspunkt des Dramas. Die Symbole der Macht, Thron und Königsmantel, in ein surreales Bild drapiert, spucken den Geist von Hamlets Vater aus. Er fordert den Sohn zur Rache an seinem Bruder Claudius auf, der ihn ermordet, Herrschaft und Gattin usurpiert hat. Ein jenseitiger Bote? Eine Stimme aus dem Inneren des bleichen, hohläugigen jungen Mannes, dessen psychische Verletzungen wir nur erahnen und in seiner Musik erlauschen können?

Hamlet jedenfalls „macht“ sich sein Bild, worauf in Hermann Feuchters shakespearianisch klug reduzierter, spielfreundlicher Bühne ein goldener Rahmen im Hintergrund hinweist. In ihm materialisiert sich nicht nur der Geist, aus ihm quellen auch die Gestalten, die den „Mord des Gonzaga“ in der Schlüsselszene im zweiten Akt spielen sollen – eine Pantomime, die König Claudius durch Konfrontation als Mörder seines Vorgängers entlarven soll.

Später vervielfältigen sich die Bilderrahmen und kippen in die Schräge – Zeichen des fortschreitenden inneren Abrutschens Hamlets. Sterben, Schlafen … oder Träumen, so singt der Bariton Rafael Bruck in der Titelrolle in seinem großen Monolog. Dass sich aus einem schräg gestellten Portal eine Gestalt löst wie ein Schatten Hamlets, ist nur folgerichtig: Es ist der König. Schwer trägt er an seinem Thron, schleppt ihn hinter sich her – ein gebrochener Mann. Matthias Wippich singt von der Qual, die Seele dem ewigen Tod preisgegeben zu haben. Das Englischhorn, das Hamlets innere Melancholie begleitet, lässt in einem kurzen Moment die Elegie des drei Jahre vor Thomas‘ Oper in München uraufgeführten „Tristan“ erahnen.

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Mit besonderer szenischer Sorgfalt widmet sich Helen Malkowsky den Frauen des Stücks: Ophélie ist keine Shakespeare-Figur, sondern ganz femme fragile des 19. Jahrhunderts. Mit ihrer kindlichen Gestalt, den nackten Füßen, den gelösten blonden Haaren und den im Licht undefinierbaren Pastellfarben ihres Hemdchens erinnert sie schon beim ersten Erscheinen an die „Willis“, jene Wasserwesen, bei denen sie im Tode aufgenommen werden will. Im herrschaftlichen Kleid, das ihr Susanne Hubrich im Rot der Schauspielertruppe geschneidert hat, unternimmt sie einen letzten Versuch, den liebesunfähigen Hamlet umzustimmen. Im vierten Akt, bevor sie ins Wasser gleitend verlischt, lässt sie das Gewand in die Requisite hinaufziehen. Sophie Witte als beste Stimme des Krefelder Opernabends zeigt alles andere als einen fragilen Sopran. Sie stützt sicher, agiert mit dem klanglichen Kern, schattiert von anrührender Leichtigkeit bis erfülltem dramatischem Impetus und trägt die Phrasierung unverbrüchlich auf dem Atem.

In psychologischen Facetten durchdacht gestaltet Malkowsky auch die Konfrontation zwischen Hamlet und seiner Mutter Gertrud. Im intensiven Spiel und den Farben seiner kühlen, in den exorbitanten Höhen der Partie überaus geforderten Stimme zeigt Rafael Bruck, wie ihn der Zwiespalt innerlich zerreißt: Mutter und Mörderin, Anziehung und Ablehnung, Respekt und Rache – die Pole der Begriffe, die Hamlet sich von dieser Frau macht, sind extrem. Bruck kann auch in seiner Körpersprache mit schauspielerischer Bravour ausdrücken, was in der Seele Hamlets vorgeht.

Janet Bartolova gibt der Gertrude beinahe die Züge einer Klytämnestra, wenn sie, hochfahrend und zerknirscht, angstvoll und liebesbettelnd allmählich erkennen muss, welch ungeheure Andeutungen ihrem Sohn über die Lippen kommen. In diesen Momenten passt der zum Schrillen neigende Ton des dunkel gefärbten Soprans, an anderen Stellen muss Janet Bartolova kämpfen, die Stimme weit und den Ton flüssig zu halten.

Ambroise Thomas auf einer historischen Fotografie von Antoine-Samuel Adam-Salomon, entstanden zwischen 1876 und 1884.

Mit den Niederrheinischen Symphonikern setzt GMD Mihkel Kütson weniger auf die elegante Seite der Musik von Ambroise Thomas, sondern schärft die expressiven Kanten. Das bedeutet auch die Sänger gefährdende Wucht aus dem Graben, ist aber ein Gewinn: Zupackend musiziert, ist die Klangsprache aus schönfärbendem Lyrismus befreit. Bei Kütson haben etwa die Einsätze der Hörner Kontur, die vortrefflichen Holzbläser (Klarinette) ziehen ihre melodischen Linien unverzärtelt durch, das sfumato der Stellen, die an Gounod erinnern, ist spröde gelichtet.

Momente wie die gruslige Spannung der Ouvertüre, der fahle Pomp der Staatsszenerie oder die orchestralen Verzweiflungsschreie Hamlets gelingen ausdrucksstark und zeigen, dass Thomas‘ Musik nicht in die Untiefen lyrischer Belanglosigkeit schwappen muss. Kütson trägt auch den von Michael Preiser einstudierten Chor und die Sänger – unter ihnen Haik Dèinyan als Mord-Mitwisser Polonius und Carlos Moreno Pelizari als herausgeputzten Laertes in goldener Brünne.

Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat stets eine glückliche Hand bei seinen Ausgrabungen und Trouvaillen (am 12. Januar etwa läuft zum letzten Mal Gian-Carlo Menottis „Der Konsul“) und macht mit diesem „Hamlet“ der letzten, psychologisch klugen und bildstarken Inszenierung von Andrea Schwalbach 2015 in Bielefeld kraftvoll Konkurrenz.

Vorstellungen in Krefeld am 29. Dezember, 9., 14., 28. Januar und 7. Februar 2018. In der nächsten Spielzeit ab 24. November 2018 in Mönchengladbach.
Info: http://theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/hamlet/




Philosophische Komödie: Richard Strauss‘ „Der Rosenkavalier“ in Krefeld

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das "Zoferl" der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das „Zoferl“ der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

An „Rosenkavalieren“ ist in diesem Strauss-Jahr 2014 wahrlich kein Mangel. Die jüngste Premiere ist nun aus Krefeld zu vermelden.

Düsseldorf hatte seine traditionelle Otto-Schenk-Inszenierung im Frühjahr wieder ausgegraben, Gelsenkirchen die 150-Jahrfeier der Geburt Richard Strauss‘ gar schon im Oktober vor einem Jahr begonnen (und jetzt mit der „Frau ohne Schatten“ erfolgreich fortgesetzt). In Dortmund wird die silberne Rose in der Regie des Hausherrn Jens Daniel Herzog ab 25. Januar 2015 überreicht. Und in Kassel, Frankfurt oder Weimar machen sich in den nächsten Monaten prominente Regisseure wie Lorenzo Fioroni, Claus Guth und Vera Nemirova an das oft als konservative Kehre im Wirken Strauss‘ verdächtigte Werk.

Aber das Bild einer vergangenen Zeit, mit „Fleiß und Mühe“ entworfen, hat schon der Librettist Hugo von Hoffmannsthal als Täuschung bezeichnet. Und das gilt auch für die Musik. So wienerisch nett sich die Walzertakte durch die Partitur wiegen: Sie sind doch eher Boten der grellen „Tanzmusi“ eines Gustav Mahler oder der verzerrten Dreiertaktgespenster eines Alban Berg als gemütvoller Rückblich auf Johann Strauß oder Joseph Lanner. Mihkel Kütson beharrt mit den Niederrheinischen Sinfonikern auf dieser sperrigen Lesart. Die Walzerseligkeit schwingt aufgeraut. Kein nostalgischer Goldblick, eher die innere Unruhe einer ins Gären geratenen Zeit.

1911 war ja noch alles „in Ordnung“. Und Strauss, mit der politischen Blindheit des karrierebesessenen Großbürgers geschlagen, ist sicher nicht der Mann, den man zum ausschlagenden Seismographen künftiger Verwerfungen adeln sollte: Er hat weder die Zeitwende 1914/18 erkannt noch bemerkt, wie sich mit dem verachteten und dennoch hofierten braunen Pack die finale Exekution ungebrochenen bürgerlichen Selbstverständnisses anbahnte. Aber bei Hoffmannsthal, da schwingt doch etwas mehr mit als die versonnene Philosophie der Zeit, die der alternder Marschallin so balsamisch von den Lippen fließt.

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der "Rosenkavalier"-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der „Rosenkavalier“-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Regisseurin Mascha Pörzgen und ihr Bühnenkünstler Frank Fellmann kaprizieren sich nicht auf das Balancieren einer vermeintlich heilen Welt am Rande des Abgrunds. Sie sehen im „Rosenkavalier“ auch die Komödie, selbst wenn sich noch vor Beginn der Handlung ein riesiger Schatten über das halbdunkle Boudoir der Marschallin legt und ein Scheinwerfer nach einer der Uhren auf dem Wandsims fingert. Bestimmendes Element ist eine Kunstuhr, auf der ein Alter eine Stunde markiert, die mit dem zweiten Zeiger, einer güldenen Sonne, nicht vereinbar ist. Auf die Zeit verweist auch ein astronomischer Globus neben dem Bett der Marschallin, der Armillarsphäre Galileo Galileis ähnlich.

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder "Rosenkavalier". Foto: Matthias Stutte

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder „Rosenkavalier“. Foto: Matthias Stutte

Eine Idee von Prater und Jahrmarkt vermitteln die Kulissen im dritten Akt: Bewusst als solche eingesetzt, erinnern sie mit Wölkchen und Putten an die Dekors alter Karussells oder an die Wunderkabinette reisender Scharlatane.

Im zweiten Akt dagegen ist die Komödie von anderer Natur: Der Empfangssalon Faninals, tapeziert mit dem ins Riesige gesteigerten Adelsprädikat Kaiser Franz Josephs, steht für die begrenzte Weltsicht des neu gekürten Edlen. Fellmann bricht das enge Halbrund auf, wenn er für den Auftritt des Rosenkavaliers eine spiegelnd polierte Rampe in die aufklaffenden Wände einfahren lässt. Ein Steg in einen weiten Raum, der die Welt des biederen Faninal – in der Begegnung von Sophie und Octavian – endgültig transzendiert.

Mascha Pörzgen hat die komödiantischen Anteile zwar präsent gesetzt, aber nicht ausgebreitet; es ging ihr nicht um Ochsen-Klamauk und Beisl-Chaos. Gerade im dritten Akt zeigt sie das „Inszenierte“ an der Farce, die dem Baron auf Lerchenau vorgegaukelt wird. Da bemüht sich der junge Graf Rofrano überhaupt nicht, in die Rolle des „Mariandl“ zu schlüpfen, legt seine selbstbewusste Art des Verhaltens und Sprechens nicht ab. Schlechte „Comödi“ eben. Umso sensibler achtet Pörzgen aber auf die Wandlungen und die inneren Spannungen der Personen. Im ersten Akt etwa auf die emotionalen Wechselbäder des „Quin-quin“, zwischen pubertärer Schwärmerei und zu Tode betrübter Desillusionierung. Im dritten enthüllt Pörzgen, dass es dem jugendlichen Liebhaber der Marschallin nicht leicht fällt, auf die erfahrene, ältere Frau zu verzichten: Das Ringen um eine Entscheidung wird ihm nicht abgenommen.

Die Regisseurin hat ihre Arbeit aus den Figuren heraus entwickelt – eine heute nicht mehr selbstverständliche Kunst feiner Andeutungen, ein Verzicht auf allzu plakative Visualisierungen und allzu eindeutige Zuweisungen. So hat der Charakter der Marschallin etwas Schwebendes: Lydia Easley verkörpert eine Frau an einem Scheideweg ihrer Existenz, der sie bewegt, aber nicht haltlos macht. Easley hat im ersten Aufzug Mühe, mitzuhalten; vor allem, wenn sie der Dirigent mit Lautstärke bedrängt und sie einen nicht ausreichend gestützten, soubrettig grundierten Ton einsetzt. Aber mit ihrem Monolog und mit den Schlüsselstellen in den folgenden Akten gelingen Easley überzeugende Momente. Und als Gegenspielerin des Barons ist sie voll selbstbewusster Würde und Entschiedenheit.

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Mit Eva Maria Günschmann hat Krefeld einen nahezu idealen Rosenkavalier; ein körperlich präsenter, gesanglich tadelloser Octavian, fähig zu nuancierter Charakterisierung, gesegnet mit einem exquisiten Timbre und einem leicht strömenden, unaffektierten Mezzo. Sophie Witte ist ihr eine ebenbürtige Partnerin mit ihrem leichten, klanglich erfreulich unverdünnten Sopran. Diese Sophie, das macht Witte mit leuchtender Stimme klar, hat einen unbeugsamen Charakter, mit dem sie dem Geschacher um Stand und Stolz aufrecht entgegentritt.

Für Matthias Wippich ist der Ochs eine Paraderolle. Nicht nur das künstliche Wiener Idiom beherrscht er vortrefflich; er kann auch mit der Tiefe spielen und im Zentrum die Farben seiner Stimme für geflissentlich annektierte Eleganz und sich entladende Grobheit einsetzen. Nur die Höhe dürfte weniger steif klingen, solider fundamentiert sein. Ganz und gar brünstiger Jupiter und von keinen Skrupeln geschlagen, stürzt er sich sogleich auf das „Zoferl“, lässt – auch ohne Rücksicht auf die Marschallin – nicht locker. Und im dritten Akt – hervorzuheben die bildkräftige, gekonnte Deklamation Wippichs – will er bis zum Schluss partout nicht verstehen, was er denn nun falsch gemacht haben könnte: Des Lerchenaus Charakter hat etwas selbstgefällig Brutales, das fürchten macht.

Krefeld muss sich auch in der Besetzung der weniger umfangreichen Partien nicht verstecken, bis hinein in die stumme Rolle des illegitimen Ochsen-Sohns Leopold (Ruben Knors). Markus Heinrich und Satik Tumyan sind ein zwischen Matrone und Mafia angesiedeltes „wälsches“ Gaunerpaar; Hayk Dèinyan ein anständiger Kommissarius, Sun-Myung Kim und James Park zwei geschäftige Haushofmeister. Debra Hays wirkt als Leitmetzerin angemessen schrill; der Sänger Kairschan Scholdybajew, ein goldgesichtiger Automat, wird von seinem Flötisten (Alexander Betov) sorgfältig aufgezogen wie Offenbachs Olympie in „Hoffmanns Erzählungen“. Sein italienischer Schmelz vertrüge allerdings noch etwas Öl. Auch Hans Christoph Begemann könnte als Faninal noch ein paar Facetten mehr ausarbeiten.

GMD Mihkel Kütson meidet mit den Niederrheinischen Sinfonikern den üppigen Wohlklang mit der Folge, dass sich die raffinierten Strauss’schen Klangmischungen eher spröde als magisch einstellen. In den – zu lauten – Eröffnungstakten leisten sich die Bläser merkliche Unsauberkeiten, die sich im ersten Akt immer wieder in belegter oder spitzer Tongebung fortsetzen. Allmählich formt sich der Klang, klärt sich die Balance, ohne freilich zu jenen ausgesuchten Mischungen zu finden, die man, des kühlen Kopfes ungeachtet, in den Momenten verinnerlichter Lyrik doch zu finden wünscht.

Alles in allem ein höchst beachtlicher „Rosenkavalier“, der sich im Vergleich behaupten wird. Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat wieder einmal gezeigt, dass es seinen künstlerischen Anspruch auf solide gesichertem Niveau behaupten kann.

Weitere Informationen:

http://www.theater-kr-mg.de/spielplan/musiktheater/der-rosenkavalier.htm




Eröffnung der Konzertsaison in Krefeld: Mit Jac van Steen nach Russland

Wieder ein russisches Programm, wieder eine Geigerin: Die Brücke zur vergangenen Spielzeit wird offensichtlich geschlagen. Brachte Generalmusikdirektor Mihkel Kütson im vorletzten  der Serie der Abo-Konzerte der Niederrheinischen Sinfoniker Schostakowitsch und Mussorgsky, startete Gastdirigent Jac van Steen in Krefeld mit Tschaikowsky, Prokofjew und den souverän entfalteten Sinfonischen Tänzen Sergej Rachmaninows.

Viviane Hagner, die in Berlin lebende und unterrichtende Münchnerin, ist die Solistin des Zweiten Violinkonzerts Prokofjews. Keine der Geigerinnen, die auf der Glamourwelle mitschwappen. Ganz konzentriert auf den musikalischen Auftritt, wenn sie mutterseelenalleine das Konzert eröffnet. Ohne Sentiment, aber auch ohne die dunklen Verschattungen der Melancholie. Hagner bezieht Position: Die emotionale Geste, die demonstrative Emphase scheint ihre Sache nicht zu sein.

Das bestätigt sich spätestens im zweiten Satz. Der erste ändert ja seine Haltung rasch, fordert von der Solistin locker-virtuose und energisch-nachdrückliche Passagen. Der zweite flankiert ein pointiert kurznotiges Allegretto mit kantablen Teilen, die sich durchaus zum hymnischen Gesang steigern ließen. Nicht so von Viviane Hagner: Sie bleibt in der leidenschaftlichen Lyrik Prokofjews bei ihrem schlank-energischen, aber wenig eingefärbten Ton – als habe sie sich das Etikett der „Sachlichkeit“ tatsächlich auf die Fahnen gepappt.

Auch der letzte Satz, „ben marcato“, verlässt diese Linie nicht: Hagner markiert Rhythmus und Artikulation in der Tat ausgeprägt. Sie gibt sich keine Blöße in der Sorgfalt, mit der sie selbst kleinste Details modelliert. Aber gefangen nimmt sie mit ihrer Lesart nicht: Die Distanz, das gemiedene Risiko im Ausdruck, sind zu offen hörbar. Auch die Bach-Zugabe Hagners scheint zu bestätigen: Hier ist ein kühler Kopf zugange.

Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Den kühlen Kopf musste auch Jac van Steen bewahren: In der fragwürdigen Akustik des Krefelder Seidenweberhauses wollten sich die Klänge in Tschaikowskys „Romeo und Julia“ nicht verbinden. Das Orchester fand nicht zu geschmeidigem Klang, die Holzbläser schienen ihre Töne direkt und massiv über die Rampe zu wuchten. Auf einem anderen Platz dürfte das wohl anders geklungen haben – die Tücke des Saals ist mir noch unberechenbar. Dafür war deutlich zu hören, wie sauber die Streicher ihre Skalen formen, wie energisch rhythmische Akzente auf den Punkt gesetzt werden und wie bereitwillig die Sinfoniker die leidenschaftliche Phrasierung, die Vorstellung eines breiten, intensiven Klangs umsetzen.

Der Dirigent ist in der Region kein Unbekannter. 2011 hat die Stadt Dortmund seinen Vertrag nicht verlängert – und dies mit dem neuen Profil des Musiktheaters unter Jens-Daniel Herzog begründet. Die Profilierung ist freilich in den Anfängen steckengeblieben, aber Steen hat die Freiräume genutzt und steht inzwischen an Pulten wie dem des Philharmonia Orchestra London. Das Ulster Orchestra hat ihn zu seinem Ersten Gastdirigenten ernannt; an der Opera North In Leeds dirigiert er im Februar 2015 Puccinis „Gianni Schicchi“ und de Fallas „La Vida breve“.

Die brillante Instrumentierung der Rachmaninow-Tänze war der Saal-Akustik dann offenbar gelegener: Jetzt passten Balance und Klangfarben zueinander, fand sich die richtige Mischung von schmelzendem und scharf konturiertem Klang. Zum Beispiel im ersten Satz, der trotz des „non“ in der Bezeichnung ein Allegro ist. In den ans Groteske rührenden Klavierstellen. Oder in der Korrespondenz des Altsaxofons – Martin Hilner spielt es berührend – mit den Bläserkollegen. Oder auch in den herben koloristischen Reibungen und Kontrasten zwischen den Solisten. Oder in den schlank-klaren Trompeten des letzten Satzes. Oder den dunkel-sämigen Klängen der Violine von Konzertmeisterin Chisato Yamamoto.

Überzeugend auch die Momente episch anmutender Lyrik, die sich im Kopf mit den schwermütigen Bildern aus den Weiten Russlands verbindet. Steen bringt nach solchen Ruhepunkten die Musik wunderbar wieder in Bewegung, achtet auf geschmeidige Rhythmen, steigert organisch. Die Sinfoniker beweisen ein beachtliches Format, eine Kultur des Zusammenspiels, die für die kommende Saison schöne Hoffnungen weckt.

Auf die Musiker warten noch ein paar sinfonische Herausforderungen: Leonard Bernsteins „Jeremia“-Sinfonie etwa, Jean Sibelius‘ Erste Sinfonie oder Arthur Honeggers selten gespielte Vierte Sinfonie „Deliciae Basiliensis“. Sympathisch, das Mihkel Kütson immer wieder solche Trouvaillen in seine Programme einstreut. So etwa ein Konzert für Tuba und Orchester (2006) des 1971 geborenen Schweden Fredrik Högberg, oder ein Cellokonzert des einst bedeutenden, aus Seesen am Harz stammenden Cellisten und Komponisten Wilhelm Fitzenhagen (1848-1890), der Tschaikowskys Rokoko-Variationen kritisch begleitet und uraufgeführt hat. Der Cellist Alban Gerhardt wird als Solist in beiden Werken zu hören sein.

Wiederholung des Ersten Sinfoniekonzerts am 4. September in der Kaiser-Friedrich-Halle Mönchengladbach und am 5. September im Seidenweberhaus Krefeld. Info: www.theater-kr-mg.de/karten




Tschaikowskys „Mazeppa“ in Krefeld: Triste Orte ohne Ausweg

Diese Liebe freut sich schwärmerisch auf ihre Erfüllung. Aber sie erreicht, wie so oft bei Tschaikowsky, ihr Ziel nicht. Gegen sie steht nicht nur ein verbohrter Vater, sondern auch eine politische Intrige. Und am Ende regieren Tod, Wahnsinn, Leere. Piotr Iljitsch Tschaikowskys Thema ist immer wieder die unkonventionelle Liebe: So ist es in „Eugen Onegin“, so ist es auch in „Mazeppa“. Das selten aufgeführte Werk steht in dieser Spielzeit in Krefeld auf dem Programm.

Eine kluge Wahl, mit der sich der neue GMD Mihkel Kütson vorstellt und sofort Interesse weckt: Der estnische Dirigent, der bisher GMD am Landestheater Schleswig-Holstein war, wählt keines der üblichen „Chefstücke“ für sein Entrée. Das ist sympathisch und lässt am Niederrhein auf frischen Wind hoffen.

„Mazeppa“ ist nach „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ die dritte Puschkin-Vertonung Tschaikowskys, die am Krefeld-Mönchengladbacher Haus gezeigt wird. Die pessimistischen Sujets, die an der traurigen Verfassung der menschlichen Seele keinen Zweifel lassen, kamen dem homosexuellen Komponisten, der zeitlebens um innere Stabilität und äußere Akzeptanz rang, offenbar sehr entgegen. Das Biografische spielt bei Tschaikowsky – auch in den späten Sinfonien – eine gewichtigere Rolle als bei anderen Komponisten.

Die Liebe zwischen der blutjungen Tochter eines Großgrundbesitzers und dem wesentlich älteren Mazeppa scheitert zunächst am Einspruch des entsetzten Vaters, der in der ehrlichen Liebe der beiden Menschen eine Verirrung und in dem Kosakenführer einen Lüstling sieht. Die beiden setzten sich gegen Kotschubej, den Vater, durch: Maria verlässt ihre Familie, zieht mit ihrem Geliebten weg. Doch sie will nicht akzeptieren, dass sie hinter Mazeppas politischen Ambitionen zurückstehen soll.

Zum inneren Bruch kommt es, als Mazeppa ihr die Hinrichtung ihres Vaters eröffnet: Kotschubej hatte dem Zaren Mazeppas Pläne für die Unabhängigkeit der Ukraine verraten, ist aber Opfer seiner eigenen Intrige geworden. Der Machtmensch zögert nicht, den Vater Marias seinem nationalen Ehrgeiz zu opfern. Doch der Aufstand gegen den Zaren scheitert …

Unwirtliche Orte der Gewalt: Die Bühne Kathrin-Susann Broses thematisiert das Gefangensein. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Unwirtliche Orte der Gewalt: Die Bühne Kathrin-Susann Broses thematisiert das Gefangensein. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Tschaikowsky, der das Libretto weitgehend selbst erarbeitet hat, kann an diesem Stoff alle Aspekte seiner musikalischen Charakterisierungskunst ausleben: Sie reicht von der wehmutsvollen Lyrik, wie wir sie von der jungen Tatjana („Eugen Onegin“) kennen, bis hin zu kraftvollen Eruptionen von Wut, Enttäuschung, Rache und Aggression. In der Instrumentation zeigt sich Tschaikowsky auf der Höhe seines Könnens. Die ergreifenden, von russischer Kirchenmusik-Tradition grundierten Chöre (Maria Benyumova) erinnern an den zehn Jahre vor „Mazeppa“ uraufgeführten „Boris Godunow“: Tschaikowsky hat in seiner Oper von 1884 nicht nur einen historischen Stoff aus der russischen Geschichte gewählt, sondern scheint sich auch musikalisch mit dem Vorwurf einer zu westlich orientierten Musiksprache auseinanderzusetzen.

Kütson spornt das Orchester an, seine Klang-Konzeptionen aufzunehmen. Die wuchtigen Momente der kriegerischen Aktion, das Schlachtengemälde des Zwischenspiels zum Dritten Akt, die unruhevollen „Reiterfiguren“ der Ouvertüre spielen die Symphoniker mit Energie und Engagement. Wird es ruhiger und leiser, sind Piano-Schattierungen oder Mezzoforte-Delikatesse gefragt, poltern die Orchestergruppen oft weiter, lassen auch den elegisch-eleganten Tschaikowsky-Tonfall vermissen. Mihkel Kütson wird in Krefeld noch Aufbauarbeit zu leisten haben.

Mit dem Mazeppa Johannes Schwärskys steht ein kraftvoller Mann auf der Bühne, der zu herrischer Entschlossenheit wie zu sehnsuchtsvoller Nachdenklichkeit, zum Liebesschwur wie zum Rachebekenntnis den richtigen Ton findet. Seine große Soloszene im zweiten Akt gestaltet er emotional facettenreich. Schwärsky erhellt mit stimmlichen Mitteln die komplexe Psyche dieses Helden, der sich zur gescheiterten Figur entwickelt. Anders Heik Dèinyan als Kotschubej, der trotz beeindruckender Tiefe und manch berührender Stelle – vor allem im Angesicht des Todes – seinen Bass nicht aus einer gewissen Befangenheit befreien kann.

Freies, lockeres Singen hört man auch von Satik Tumyan als Mutter nicht. Sie gibt der Figur der Ljuboff ein treffendes darstellerisches Profil, zeigt ihren Stolz, ihre Hilflosigkeit, ihre innere Not. Aber bruchlose Registerwechsel und Flexibilität gehen ihr ab. Mit Carsten Süß steht ein Tenor auf der Bühne, der den dramatischen Momenten seiner Partie durchaus gewachsen ist. Aber sein Andrej bleibt in der Höhe stumpf; der Ton will nicht gut gestützt erblühen.

Izabela Matula, neu engagiert, hat als Maria im ersten und dritten Akt Momente, die aufhorchen lassen: mädchenhaftes lyrisches Leuchten, die selbstvergessen sich weiterspinnenden Phrasen des Endes, das berührende Wiegenlied. Im zweiten Akt geht ihr die Stimme öfter vom Atem, wird flach und unstet. Zudem verordnet ihr die Kostümbildnerin Alexandra Tivig strenge Frisur und Kluft einer Funktionärin, während sie im letzten Akt das aufgelöste Haar einer Lucia di Lammermoor der russischen Steppe tragen muss. Facetten der Figur erschließt das schwerlich.

Die Inszenierung ist Helen Malkowksy anvertraut, die in Nürnberg einen komplexen „Fliegenden Holländer“ und Reimanns „Melusine“ mit viel Sensibilität auf die Bühne gestellt hat. Seit 2010 ist sie am Theater Bielefeld unter anderem mit Brittens „Peter Grimes“ hervorgetreten. Eine gute Wahl, denn Malkowsky weiß die Geschichte spannend zu erzählen, ohne auf dieser Ebene steckenzubleiben. Ihr dominierendes Motiv ist das Gefangensein, das sie bereits während der Ouvertüre thematisiert: Kotschubej vegetiert bereits hinter Gittern; das Geschehen entwickelt sich wie aus einer Rückblende heraus. Der stolze, starre Patriarch ist ein Gefangener seiner selbst, noch bevor er zum politischen Häftling wird.

Orangefarbene Girlanden, Bänder und Accessoires zitieren die ukrainische „orange Revolution“ von 2004. Sie brechen das dominierende Graublau auf, mit dem Kathrin-Susann Brose ihre Bühne als einen Ort der Tristesse und des äußeren und inneren Elends kennzeichnet. Gefängnisgitter, Kerkertüren: An diesem Ort gibt es kein Entrinnen. Vergeblich die Träume, die Helen Malkowsky mit dem Bild einer Sternennacht eher vorsichtig andeutet als aufdringlich vorzeigt. Friedliche Naturbilder an der Wand von Mazeppas Büro wandeln sich zu gespenstisch drohenden Erscheinungen.

Hoffnungslose Zerstörung: Der dritte Akt von Tschaikowskys "Mazeppa" in Krefeld. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Hoffnungslose Zerstörung: Der dritte Akt von Tschaikowskys "Mazeppa" in Krefeld. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Am Ende trägt Maria in ihrem Wahnsinn das Sternenbild mit sich – Symbol verlorener Hoffnung, eines zerstörten Traums. Mazeppa verabschiedet sich mit den lapidaren Worten „gehen wir“ in den Tod durch eigene Hand. Die zunehmende Verrohung dieser Gesellschaft zeigt Malkowsky in immer eindringlicheren Konfrontationen, die bis zur Vergewaltigung Marias durch einen Trupp Soldaten reichen. Der Abgrund der Hoffnungslosigkeit reißt auf; die letzten Spuren der Liebe verwehen im Wiegenlied der Maria für ihren sterbenden Jugendfreund Andrej.

Malkowksy gelingt es, mit „Mazeppa“ eine überzeitliche Parabel über Menschen zu erzählen, die Opfer ihrer selbst und ihrer Zeit werden: gefangen in sich selbst und verstrickt in ihre Leidenschaften, die mit dem dumpfen Druck des Unausweichlichen auf ihnen lasten und doch von ihnen selbst entfesselt werden. Eine sehenswerte Spielzeit-Eröffnung, die für die Premieren von Puccinis „Suor Angelica“ und „Le Villi“ im Januar und „Rienzi“ im März 2013 viel hoffen lassen. Und nicht vergessen: Mit Bellinis „Norma“, inszeniert von Thomas Wünsch, der im Mai 2012 so unerwartet verstarb, wird in Mönchengladbach noch eine Produktion gezeigt, die man nicht verpassen sollte!




Wagner, Maazel, Tristan: In Essen feiert man den „Meister“ etwas anders

Richard Wagner wird 2013 erwartungsgemäß groß gefeiert. Ringe beginnen und Ringe enden, allenthalben eifern Regisseure zu zeigen, was noch nie erschaut, versuchen Dirigenten aus den Partituren zu lesen, was noch nie erlauscht. Staatsopern beschäftigen sich mit den Haupt- und Staatsaktionen der Wagner-Bühne. Den Rest überlässt man den Kleinen und schürt damit das von den Wagner-Vergötterern der Bayreuther Kreise propagierte Vorurteil, erst ab dem „Holländer“ beginne der „echte“ Wagner.

So wird es grad ein wenig „Rienzi“ geben – obwohl ein Experte wie Egon Voss dafür plädiert, in diesem Werk sei das Wagner’sche Idiom erstmals zweifelsfrei durchgehend hörbar. Die Rhein-Ruhr-Region kann ab 9. März 2013 in Krefeld Wagners Versuch erleben, die zeitgenössische französische und italienische Oper zu übertreffen (Regie: Matthias Oldag). Keinen Anwalt finden „Das Liebesverbot“ oder gar „Die Feen“ – mit Ausnahme von Leipzig, das mit Bayreuth kooperierend beide Werke szenisch bringt –, obwohl die Lebenskraft dieser frühen Opern in den letzten Jahren immer wieder auch auf der Bühne zu bestaunen war – zuletzt beim „Liebesverbot“ in Meiningen, das ab 2. Februar 2013 dort wieder dem Spielplan steht.

Dass Hinrich Horstkotte vor den Toren Dresdens, in Radebeul, das „Liebesverbot“ inszenieren darf (Premiere am 8. Dezember 2012), zeichnet nicht nur dieses Mini-Opernhaus aus, sondern ist auch eine schallende Ohrfeige für die keine halbe Stunde Straßenbahnfahrt entfernte Semperoper, der statt des überall gespielten „Tristan“ ein „Rienzi“, uraufgeführt 1842 in Dresden, gut gestanden hätte.

So hebt sich die Essener Philharmonie unter ihrem scheidenden Intendanten Johannes Bultmann aus dem meist überflüssigen Wagner-Gefeiere durchaus mit einem Programm der klügeren Sorte heraus: Unter dem Titel „Tristan Akkord“ rückt Wagners folgenreiches harmonisches Experiment in den Blickpunkt. Der „Tristan-Akkord“ avancierte zum Fanal für den Aufbruch in die musikalische Moderne und hielt Generationen von Musikern in seinem Bann. Wobei die Folge von fünf Sinfoniekonzerten auch die Rolle von Franz Liszt beleuchtet, den man mit Fug und Recht als den kühneren Neuerer bezeichnen darf. Hat er doch schon 1854 in seiner „Faust-Sinfonie“ ein Zwölftonthema verwendet. Aber an Wagner schieden und schärften sich die Geister der kommenden Generationen, und der Akkord aus „Tristan und Isolde“ wurde zur Chiffre für das Neue.

Dieses Neue faltet sich auf bei sonderbaren Hitzköpfen wie Alexander Skrjabin, den das Russische Nationalorchester am 11. November mit seiner Sinfonie „Poème de l’extase“ vorstellen wird. Auch Rachmaninow und Elgar – die beiden anderen Komponisten im Programm – wären ohne Wagner nicht denkbar. Liszt und Skrjabin sind dann die Eckpfeiler einer Klaviermatinee von Evgeny Bozhanov am 14. April. Und am 18. Mai spielt das WDR-Sinfonieorchester Liszts „Faust-Sinfonie“.

Bereits am 6. Oktober ist das hr-Sinfonieorchester zu Gast in der Philharmonie. Auf dem Programm: Arnold Schönbergs „Pelléas et Mélisande“ op.5, 1905 uraufgeführt. Das eher durch seine Verwendung von Leitmotiven mit Wagner korrespondierende Werk ist eine hervorragende Ergänzung zu Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ von 1902, die – leider am gleichen Tag – im Aalto-Theater Premiere hat.

Dass die weit verzweigten Verästelungen des französischen „Wagnérisme“ unbeachtet bleiben; dass von Emmanuel Chabrier bis Vincent d’Indy und Ernest Chausson nichts zu hören ist; dass auch die deutsche musikalische Wagner-Rezeption zwischen kritikloser Imitation und kreativer Transformation durch seinen Sohn Siegfried Wagner unbeleuchtet ist, lässt das Konzept rudimentär bleiben. Für solche konsequente Durchformung eines Programm-Gedankens fehlt dann wohl das Geld und – bei vielen Mainstream-Musikern – auch der Wille.

Den „Tristan-Akkord“ selbst brachte zur Eröffnung der Konzertreihe kein Geringerer als Lorin Maazel zum Klingen: Kaum im Amt als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, kam er mit seinem neuen Orchester, den Münchner Philharmonikern, in den Alfried-Krupp-Saal. Immer wieder war er in Essen gern gesehen: 2005 und 2008 mit dem New York Philharmonic Orchestra, 2010 mit den Wiener Philharmonikern, 2011 mit Mahlers Fünfter und dem Philharmonia Orchestra London. Nach glänzendem Erfolg mit Mahler in München und Bruckner beim Lucerne Festival brachte Maazel nun Schubert, Wagner und Strauss mit – und die Münchner Philharmoniker zu ihrem Debüt in Essen!

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Maazel hat viele unvergessliche Abende dirigiert – und auch dieser wird im Gedächtnis bleiben. Allerdings nicht, weil die Interpretation des 82jährigen überzeugt hätte. Denn Maazel scheitert im „Tristan“-Wunschkonzertstück an einem ins schier Endlose gedehnten Tempo; in Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ an seinem Verständnis von „sehr breit“, das er nicht endenwollend dehnt. Als wolle er in die Spuren von Sergiu Celibidache treten, mit dem die Münchner legendär langsame Konzerte spielten, zerstückelt er die Erregungskurve des „Tristan“-Vorspiels in statische Klangfarbinseln, lässt das Orchester auf der Stelle brodeln, nimmt der Musik das Sehrende, Strebende, Sehnsuchtsvolle.

Dafür entdeckt der klarsichtige Analytiker im „Liebestod“ Begleitfiguren, die sonst im Fieber untergehen, als seien sie ein Welt-Ereignis. Und wenn sich die Musik vor dem ekstatischen Höhepunkt endlich in Bewegung setzt, baut Maazel noch schnell ein Ritardando ein und nimmt dem Schwung die Kraft. Immerhin: Der „Tristan-Akkord“ selbst erklingt in sezierter Klarheit, wie man es von Maazel nicht anders erwartet hat.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Auch die Fanfare aus Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“, vielen bekannt aus Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, verliert so ihre Dynamik und ihre rhythmische Schärfe. Die Bläser winden sich auf Schneckenbahnen, die Celli grummeln, bis ein Fagott Erlösung verheißt. Maazel kostet aber auch die phänomenalen Spieleigenschaften der Münchner aus und lässt hören, mit welcher musikalischen Weltklasse er die nächsten drei Jahre zusammenarbeitet.

Schuberts Vierte zu Beginn war zum Glück kein Einspielstück, sondern eine farbige Demonstration, was der 19jährige Komponist von Mozart, Gluck und seinem Lehrer Salieri abgelauscht und in aufkeimender Individualität verarbeitet hat.




Alltagsnicken (3): „Ich brauch‘ ein Nappo“

Ich stand schon recht teilnahmslos auf Bahnsteig 4 des Hagener Hauptbahnhofes, diese teilnahmslose Grundeinstellung zum beginnenden Tag änderte sich auch nicht, als ich tapsig den Regionalexpress enterte, der ausnahmsweise die vorsichtshalber angekündigte Verspätung von ca. 5 Minuten nicht einhielt, sondern pünktlich war. Und anscheinend bereits ermattet von den Anstrengungen eines Morgens, der unweigerlich der Anfang eines Tages ohne nennenswerte Herausforderungen werden würde, sank ich im Parterre des Doppelgeschoss-Waggons auf einen freien Doppelsitz, um in die sogleich an meinen Augen vorbei brausende Umgebung zu dösen.

Da fiel mein müder Blick auf eine Krefelder Ausgabe der Westdeutschen Zeitung, die ich fast begeistert zur Hand nahm und spontan mit dem Studium dessen begann, was die Krefelder Kolleginnen und Kollegen für berichtenswert halten. So erfuhr ich, dass Willi Brücker 95 Jahre alt wurde, dass Apotheker Klaus Mellis davor warnt, zu oft zu duschen, dass auch in Krefeld der Sommer angebrochen ist, was fünf (vermutlich kreischende) Kinder mit einem Rudelsprung in Freibad-Wasser bildhaft belegen.

Und unter dem Bruch, nur die Zeile des Aufmachers lugt vorwitzig darüber, entdecke ich, dass für 14 Millionen Euro das ehemalige Nappo-Gelände zur Heimat für Familien umgestaltet werden soll. „Nappo“, nimmt die mählich erwachende Masse unter meiner Kalotte wahr. Sofort schnellt rautenförmiges Nougat-Süßzeugs, mit Schokolade umzogen und in wahlweise rotes, grünes oder blaues Silberpapier gehüllt, durch meine Gedanken, das ich gern nach Schulschluss an einem Büdchen erwarb und auf dem Heimweg den Zahnschmelz verheerend zu mir nahm.

Die Bude gibt es schon lange nicht mehr, meine ehemalige Schule kübelt noch immer gymnasiales Wissen in eine zahlenmäßig sinkende Schülerschaft und wie ich da in der Westdeutschen Zeitung sehe, auch von Nappo existiert nur mehr der Name, denn die ehemalige Produktionsstätte von zahnärztlichen Zulieferknabbereien ist planiert und wartet nun auf 200 Bewohner von Niedrigenergiehäusern, die dort entstehen sollen.

1920 war das Unternehmen, das genau unter Nappo-Dr. Helle & Co. GmbH & Co. KG firmierte, gegründet worden. In ganz guten Tagen machten 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Produkte marktreif, die ruinösen Einfluss auf die natürliche Kauleiste von Kindern nahmen. 1994 noch erweiterte die Hartnougat-Firma ihr Angebot um das legendäre Eiskonfekt von Moritz aus Hamburg. 2006 missrieten dann alle Rettungsversuche und das Unternehmen gab auf – mancher mutmaßte, dass zu enges Engagement in Groß-Discounter-Regalen Teilschuld am Niedergang trug.

Und schon war ich am Zielort, musste mich noch sputen, dass ich den Zug verlassen konnte, ehe er wieder ins Rollen kam. Kompliment an die Kollegen der Westdeutschen, ein kleines Kästchen in der Aufmacherstory informiert auch Krefelder darüber, wer oder was Nappo war, die von dem Gelände bisher nur die planierte Daseinsform kannten.

Noch auf Bahnsteig 2 in Unna beschließe ich, heute Abend sowohl nach ein paar Rauten Nappo als auch nach Eiskonfekt zu schauen. Die Zähne kann mir das Zeug nicht mehr ruinieren, Ihr ahnt sicher, aus welchem Grund.




Als die Videokunst noch neu und radikal war

Krefeld. Das Problem betrifft beileibe nicht nur Krefeld: Videokunst, seit den frühen 70er Jahren von Museen angeschafft, vergammelt vielfach in den Depots. Die Arbeiten aus der Video-Steinzeit“ müssten eigentlich überall auf neue Formate (derzeit vor allem DVD) umkopiert werden. Man braucht mittlerweile rare historische Geräte, um überhaupt auf die alten Magnetbänder zugreifen zu können.

Selbst in den Krefelder Museen, die um 1970 bundesweit zu den ersten Kunstvideo-Käufern zählten, wurde dieser Eigenbesitz seit Jahrzehnten kaum noch beachtet. Erst kürzlich hat man sich wieder erinnert. So waren denn bis zu 30 (!) Reinigungs-Durchgänge erforderlich, bevor die Filme neu gespeichert werden konnten. Und was ist dabei zum Vorschein gekommen?

Viel experimenteller Zeitgeist aus den Jahren nach 1968. Vorwiegend grobkörniger, schwarzweißer Sehstoff, der oft mit hartnäckigen Wiederholungsmustern die Geduld auf die Probe stellt und klar macht, wie sehr sich die Bilder seither beschleunigt haben. Damals haben die dritten TV-Programme noch Sperriges riskiert, doch selbst sie schreckten bald zurück. Solche quotenfernen Freiheiten hat es auf diesen Kanälen seither nie wieder gegeben.

Den inzwischen berühmten Künstlernamen zum Trotz: Schier endlos die Hand Richard Serras zu sehen, die einen Kreidestrich nach dem anderen zieht – kein reines Zuckerschlecken. Den Bildhauer Ulrich Rückriem ausgiebig dabei zu beobachten, wie er Stein auf Stein auf Stein umkippt – auch kein Thriller.

Da ist man schon dankbar, wenn Joseph Beuys in einem Video Boxhandschuhe anlegt und unentwegt auf ein Fernsehgerät eindrischt. Oder wenn der Pionier Nam June Paik sein Bildmaterial mit damaligen technischen Finessen nach besten Kräften popkünstlerisch verfremdet.

Zuweilen handelt es sich um rührend unbeholfene Versuche mit dem seinerzeit neuen Medium, häufig um radikale Sinnverweigerung oder den heftigen Willen zum unverstellten Blick, zu ungeahnten Perspektiven. Man wollte offenkundig tabula rasa machen und ganz neu anfangen – wie beim allerersten Morgentau. Immerhin finden sich hier auch schon recht inspirierte Urahnen der späteren Videoclips.

Man bekommt nicht nur Videos zu sehen: Tafelbilder u. a. von Größen wie Gerhard Richter, Sigmar Polke und Andy Warhol bezeugen, wie sehr zu Beginn der 70er das flackernde Zeilenraster der Fernsehoptik die Wahrnehmung in der Malerei geprägt hat.

Wollte man alle Videos jeweils bis zum Ende anschauen, so könnte man mindestens einen ganzen Tag in dieser Schau zubringen. Wer weiß: Vielleicht schlägt das Betrachten irgendwann in Meditation um. Doch fraglos hat es seinen Reiz, den Geist der frühen Jahre gleichsam noch einmal inhalieren zu können.

Krefeld. Museum Haus Lange (Wilhelmshofallee 97). Bis 21. September. Di-So 11-17 Uhr. Tel. 02151/97 55 8-0. Katalog erscheint im August.

(Der Beitrag stand am 25. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Die hohe Kunst des flüchtigen Augenblicks – Aquarelle und Zeichnungen von Gerhard Richter in Krefeld

Von Bernd Berke

Krefeld. „In Köln hätte ich diese Bilder nicht zeigen wollen. Dort werden doch nur große Kunst-Spektakel geboten.“ Das sagt ausgerechnet der weltweit am höchsten gehandelte lebende Künstler, Gerhard Richter. Ganz so, als sei er nicht jederzeit für Aufsehen gut.

Trotzdem hat er Recht. Als seinen Hauptberuf hat Richter (68) stets die Herstellung von Ölbildern bezeichnet. Jetzt zeigt das Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museum die Resultate zweier „Nebenbeschäftigungen“: Aquarelle und Zeichnungen. Also kleinere, „leisere“, intimere Stücke, mithin nicht so geeignet für die landläufige „Event“-Kultur. Aber ein Ereignis im Sinne einer stillen Sensation ist diese Schau allemal.

Wie eine Befreiung von Düsternis

Malerisches und zeichnerisches Werk laufen bei Richter nahezu unverbunden nebeneinander her, ohne nennenswerten gegenseitigen Einfluss. Die Zeichnungen sind keine Vorstudien, die Gemälde also nicht deren reife Früchte. Ein jedes hat seine Zeit. Richter ist ein Künstler, der immerzu etwas erzeugen muss, sein Werk ist wie ein langer Strom, der immer wieder neu fließt.

Rund 200 Zeichnungen und 85 Aquarelle sind in der Retrospektive zu sehen, die frühesten stammen von 1964, etliche Bilder sind zyklisch geordnet. Krefelder Beigabe zur aus Winterthur kommenden Auswahl: 30 neueste Bilder, die – nach einjähriger Schaffenskrise – erst jüngst entstanden sind. Sie wirken wie eine Befreiung von Düsternis. Wie Goethe schon sagte: Mehr Licht!

Die ersten Arbeiten sind noch gegenständlich, teils gar fotorealistisch genau gefasst. Auch später kehrt Richter immer wieder zur Figuration zurück, was er nicht etwa als Rückschritt, sondern nur als anderen Ansatz begreift. Welche Vorlagen als Anregung dienten, erkennt man zuweilen daran, dass auch schon mal die Schrifttypen aus den Zeitungen mit abgezeichnet wurden.

Ein unerforschtes Gelände

Freilich entfernt sich schon das Frühwerk ganz entschieden von direkter Wiedergabe der Realität. Eingefangen werden vielmehr die flüchtigen Momente, die der bewussten Wahrnehmung vorangehen. Es ist eine Kunst gegen alle festen Setzungen, eine Kunst des errungenen Augenblicks. Ein gegenständliches Bild zeigt einen schrecklichen Bunker, in dem die Kunst ein für allemal kaserniert ist. Es ist sozusagen das absolute Gegen-Bild für Richter, der Alptraum, der ihn ins Freie treibt.

Bewundernswert, wie Richter in diesem völlig freien, unerforschten Gelände, in dem es ja keine festen Anhaltspunkte gibt, immer wieder zur gültigen, durchaus auch schönen und poetischen Form findet.

Häufig irren Linien über die Blätter und drohen sich im Nichts oder im Irgendwo zu verlieren. Doch auf höherer, mit Worten kaum greifbarer Ebene vereinen sich all die nervösen, unsicher tastenden Striche zu frappierenden, jederzeit überzeugenden Gesamtwirkungen. Die Bilder vibrieren oder oszillieren, ganz vollgesogen mit unmittelbarer Gegenwart. Daraus ergibt sich eine Art bildnerisches Tagebuch, das mitunter haarfeine Regungen oder Atmosphären festhält und die vagen Stimmungen der Stunde bannt.

Das freie Spiel der Farben

In Richters Aquarellen lösen sich die festen Umrisse erst recht auf, sie verschwinden hinter Verwischungen, Schlieren oder Nebeln, tauchen ein ins vollends freie Spiel der Farben, ins Aufglühen des Lichts.

Das Neue muss man eben zunächst im Ungefähren aufsuchen, nicht im Abgezirkelten. Konstruktive Positionen der Moderne greift Richter denn auch eher parodistisch auf, wie um sie zu entschärfen. Gerüste oder Zurüstungen im Bilde sind seine Sache nicht.

Wie ein Schock wirkt ein mitten zwischen die fragilen Experimente platziertes Kinderbild. Dieses Baby namens Moritz schaut ganz verwundert in die Welt. Es ist genau diese Faszination des „ersten“, noch unschuldsvoll staunenden Blicks, die Richters meisterliche Bilder auszeichnet.

Gerhard Richter. Zeichnungen, Aquarelle. Krefeld, Kaiser-Wilhelm-Museum, Karlsplatz 35. Bis 18. Juni. Di-So 11-17 Uhr. Katalog Aquarelle 45 DM, neue Bilder 28 DM, Werkverzeichnis 95 DM.




Geschmacklich aufs Glatteis – Streckenweise unsägliches Musical „Asyl“ in Krefeld

Von Bernd Berke

Krefeld. Selten begibt sich ein Theater so aufs Glatteis wie jetzt die Vereinigten Bühnen in Krefeld/Mönchengladbach: Sie spielen zum bitterernsten Thema Asyl – ein Musical.

Es war bestimmt alles bestens gemeint. Man wollte sich an den landläufigen Musical-Boom anhängen und dabei kritische Inhalte „transportieren“. Lag das nicht nah? Doch nach der Krefelder Uraufführung von „Asyl“ (Text: Olaf Baumann, Musik: Stephan Benger) kann man sich fragen: Was hätte ferner gelegen als dies?

Erzählt wird die Geschichte des jungen Schwarzen Manuel Makumba, der aus afrikanischer Bürgerkriegsnot nach Deutschland flüchtet und um Asyl bittet. Mit einer freiheitlich-demokratischen Samba wird er „willkommen“ geheißen, doch dann lernt er den schmutzigen „Behörden-Blues“ kennen.

„Hungersnot und Pestilenz / kosten deine Existenz“

Der Anfang spielt noch in Afrika. Da ertönt der Song „Hungersnot und Pestilenz / kosten deine Existenz“. Unbekümmerter Reim, fürwahr. Satirisch soll es sein, unfreiwillig zynisch ist es geworden.

Natürlich verfallen nachher die deutschen Amtspersonen sofort in militärisches Gehabe. Derlei Klischees drängen sich wie von selbst auf, denn die rockbetonten Liednummern zählen nur zur Pop-Handelsware Klasse B.

Es gibt auch stimmig-grimmige Szenen: jene etwa, in der Makumba amtlicherseits in einen Müllcontainer gepfercht wird, um den sich alsbald die „linken Freunde“ scharen. Stimm- und gesinnungsstark lassen sie „Multikulti“ hochleben. Ins absurde Tänzchen mischen sich auch türkische Müllmänner.

„Dem Asylanten, dem geht’s gut…“

Wenn jedoch die zunehmend faschistischen Sprüche, mit denen Makumba in Deutschland gepeinigt wird, in ebenso schmissige Rock-Rhythmen gegossen werden wie die grundgute Gegenmischung, so wirkt das – wohl oder übel – als Anreiz zum Mitklatschen, dem manche im Publikum prompt erliegen. Auch sie wollen nichts Böses, es hat sie eben mitgerissen: „Dem Asylanten, dem geht’s gut / Den packt nie die Arbeitswut“. Welch ein Hit.

Mit der Figur des Makumba (stimmlich passabel: Dennis Durant) hat man sich zudem einen edlen Vorzeige-Schwarzen zurechtgebogen. Er ist fraglos der beste Mensch weit und breit. Wie zum Lohne sorgen zwei groteske Amor-Putten mit ihren Pfeilen dafür, daß er und die „Vorstadt-Perle“ Katharina füreinander entflammen…

Je engagierter hier gespielt wird, desto näher gerät man durch schiere Innigkeit an den Rand der Geschmacklosigkeit. Am Schluß freilich, wenn die bräunlichen Horden (in Trainingsanzügen und mit am Hintern „festgewachsenen“ Bar-Säuferhockern) in einer schrecklichen Walpurgisnacht „den Neger abfackeln“ wollen, gewinnt die Inszenierung (Matthias David) momentweise etwas von jener Dringlichkeit, die ihr über weite Strecken fehlt.

Weitere Termine: 1., 9., 12., 14., 18. November. Karten: Theater Krefeld (Theaterplatz 3): 021 51/805-1 25.




Sechs NRW-Museen zeigen „Westdeutschen Impuls“ – Kunst und Design im Rhein- und Ruhrgebiet nach 1900

Von Bernd Berke

Im Westen. Vom „Museum der gescheiterten Hoffnungen“ war die Rede, und Johann Heinrich Müller, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, sah bestätigt, daß „Kunst seit jeher in politischen Sackgassen endet.“ Eine Pressekonferenz mit Molltönen: Dabei lautet der Titel des gestern in Essen vorgestellten Ausstellungsprojekts von sechs NRW-Museen selbstbewußt: „Der westdeutsche Impuls.“

Die insgesamt 1,1 Mio. DM teure Gemeinschaftsaktion von Museen in Hagen, Wuppertal, Essen, Düsseldorf, Krefeld und Köln soll künstlerische Anregungen und deren Umsetzungen in Architektur, Industrie und Handwerk darstellen, die zwischen 1900 und 1914 im Land an Rhein und Ruhr besonders ausgesprägt waren. Nur wenige Relikte haben „überlebt“, von der Aufbruchstimmung ganz zu schweigen. Darauf bezogen sich die eingangs zitierten Aussagen.

Der Anstoß kam vom Essener Folkwang-Museum, das heute große Teile der Sammlungen von Karl Ernst Osthaus beherbergt. So rankte sich das ursprüngliche Konzept auch um den Hagener Bankierssohn Osthaus, der um 1900 (umgerechnet) 60 Mio. DM erbte und vor allem in die Kunst „steckte“. Leitidee: dem Leben im industriellen Raum durch Verschönerung der Alltagsgegenstände Weihe zu verleihen. Von Osthaus und „seinem Architekten Henri van de Velde gingen „Impulse“ zu einem „Gesamtkunstwerk“ aus, das sich sogar auf eine umfassende Regionalplanung für das Revier erstrecken sollte – eine Keimzelle für den 1920 gegründeten Ruhrsiedlungsverband und für Ideen, die später vom „Bauhaus“ weitergeführt wurden.

Das Essener Konzept erweiterte sich. Das Ergebnis ist kaum überschaubar. „Von der Teekanne bis zur Schwebebahn; von Picasso bis zur Keksdose“ – so könnte man pointieren. Die einzelnen Schwerpunkte:

  • Hagen (Osthaus-Museum und „Hohenhof): Dokumente zur Sammlertätigkeit von Karl Ernst Osthaus, der Hagen nach 1900 zu einem Stützpunkt der Avantgarde machte; Mobiliar, das sich Osthaus im Jugendstil entwerfen ließ.
  • Wuppertal (Von der Heydt-Museum): Dokumente zur Schwebebahn, dem zukunftsweisenden Verkehrsmittel jener Zeit; Ideen zu einer funktionellen „Architektur ohne Ornament“ und Beispiele für die damals in Elberfeld und Barmen geleistete Vermittlung vorausweisender Kunst (z. B. 1911 weltweit der erste Picasso-Ankauf für ein Museum).
  • Essen (Museum Folkwang): Dokumente zur Siedlung Margarethenhöhe, Paradebeispiel für „Gartenstadt“-Konzepte; Industriedesign, das seinerzeit deutschen Waren auf die Weltmärkte verhelfen sollte, wodurch Bestrebungen, dem Alltag etwas „Kunstschönes“ zu verleihen, oft mit imperialistischen Unterströmungen in Berührung kamen.
  • Düsseldorf (Kunstmuseum): Peter Behrens und seine Entwicklung vom Jugendstilkünstler zum Industrie-Designer; „Sonderbund“ -Ausstellungen 1909-1911.
  • Köln (Kunstverein): Dokumentation zum „Werkbund“ (Gründung von Künstlern und Industriellen).
  • Krefeld (Kaiser Wilhelm-Museum): Erstmals eine geschlossene Präsentation der 1923 aus Hagen erworbenen Teile der Osthaus-Sammlung.
  • Sämtliche Ausstellungen beginnen an diesem Wochenende und dauern – je nach Lokalität – bis Mitte oder Ende Mai bzw. Mitte Juni. Der Katalog (6 Bände) kostet komplett 125 DM, einzeln je 25 DM.



Auch Dortmunder Theater erwägt verbilligte Karten für Arbeitslose – Umfrage nach Krefelder Initiative

Von Bernd Berke

Im Westen. Sehr unterschiedliche Reaktionen hat die Nachricht ausgelöst, daß das Krefelder Theater als angeblich erste deutsche Bühne Karten für Arbeitslose um die Hälfte billiger abgeben will.

Während es beim Wuppertaler Theater auf WR-Anfrage hieß, dies könne beispielgebend sein, meinte Bochums BühnenVerwaltungsdirektor Dr. Rolf Paulin: „Verbilligte Theaterkarten für Arbeitslose sind ein uralter Hut. Die gibt’s in Bochum schon seit langem“.

Während in Bochum der Eintrittspreis für Erwerbslose um 50 Prozent reduziert ist, gibt es beim Westfälischen Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel 40 Prozent Ermäßigung. WLT-Rendent Günter Dammeier: „Was die Krefelder jetzt machen wollen, praktizieren wir schon seit Jahren“. Das Angebot werde freilich nicht sehr intensiv genutzt. Eine möglich Erklärung dafür hat Bochums Verwaltungsdirektor Paulin parat: „Kaum ein Arbeitsloser nimmt die Vergünstigung in Anspruch. Die meisten wollen sich lieber nicht zu erkennen geben auch nicht an der Theaterkasse“. Deshalb hätten Bochums Kassierer auch strikte Anweisung, sich nur kurz die übliche Arbeitslosen-Bescheinigung zeigen zu lassen. In Münster wird’s schon komplizierter: Dort müssen Arbeitslose vor verbilligtem Kunstgenuß ein Extra-Papier vorlegen.

In Dortmund gibt es noch keine entsprechenden Ermäßigungen. Wie der stellvertretende Theater-Verwaltungsdirektor Friedrich Gidde der WR sagte, wird eine solche Regelung jedoch seit einigen Wochen ernsthaft erwogen. Gidde: „Das Thema wird den Rat mit Sicherheit in Kürze beschäftigen“. Wenn es eine neue Preisgestaltung geben sollte , so werde sie frühestens zum Beginn der nächsten Saison wirksam. Auch in Dortmund hätten die Betroffenen sich bislang nicht geregt. Friedrich Gidde: „Kein einziger Arbeitsloser hat sich bei uns nach eventuellen Preissenkungen erkundigt.“

Überhaupt keine Chancen gibt man einer Kartenermäßigung in Hagen. Wie aus der Theaterverwaltung zu erfahren war, glaubt man dort, angesichts der Sparzwänge keine Mindereinnahmen verkraften zu können. Wuppertals Verwaltungsdirektor Erich Neumann hingegen hat sich das Krefelder Beispiel zu Herzen genommen. Er will „seinem“ Kulturdezernenten demnächst entsprechende Überlegungen vortragen.

Übrigens: Die Agenturmeldung aus Krefeld hatte einen weiteren Haken. Nicht nur, daß Krefeld gar nicht als erstes Theater preiswerte Arbeitslosenkarten anbietet. Auch den Stadtrat hat der Vorschlag des Generalintendanten noch nicht passiert, sondern erst den Kulturausschuß. Da es dort ein einstimmiges Votum gab, rechnet man allerdings fest mit der Zustimmung des Rates.