Große Bekenntnismusik – das Quatuor Danel interpretiert Streichquartette von Weinberg und Schostakowitsch

Das belgische Quatuor Danel besticht durch äußerst subtiles Spiel. (Foto: Ant Clausen)

Im vergangenen Jahr feierte das belgische Quatuor Danel sein 25jähriges Bestehen. Längst ist es auf vielen Podien der Welt zu Gast, doch noch immer gilt dieses Streichquartett als Geheimtipp, zumindest in unseren Breiten. Das sollte sich dringend ändern: Marc Danel und Gilles Millet (1./2. Violine), Vlad Bogdanas (Bratsche) und Yovan Markovitch (Cello) sind in ihrem subtilen, expressiven und hoch konzentrierten Spiel ein fabelhaftes Ensemble. Das hat jetzt ihr Auftritt im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier (MiR), mit Werken von Mieczyslaw Weinberg und Dmitrij Schostakowitsch, aufs Eindrucksvollste bewiesen.

Der Abend gehört zum attraktiven, sehr umfangreichen Begleitprogramm, das sich um die Aufführung von Weinbergs Oper „Die Passagierin“ rankt. Das musikalische Drama um eine ehemalige KZ-Aufseherin, die auf einer Schiffsreise nach Südamerika einem ihrer ehemaligen Opfer begegnet, wurde im Januar von Gabriele Rech bewegend in Szene gesetzt.

Doch der Pole Weinberg, dessen Familie im Holocaust umkam, und der selbst schon 1939 in die Sowjetunion emigrierte, hat unendlich viel mehr komponiert als diese Oper, darunter allein 17 Streichquartette. Das Bestreben des MiR, dieses Œuvre zumindest ein wenig aufzufächern, ist dem Haus hoch anzurechnen.

Mit dem Quatuor Danel hat man vier Experten eingeladen, die sowohl alle Streichquartette von Schostakowitsch als auch von Weinberg eingespielt haben. Beide Komponisten verband eine innige Freundschaft, das Werk des jüngeren Polen verweist im übrigen nicht selten auf die Musik des Russen.

Doch von bloßer Apologetik kann keine Rede sein, das zeigt die Programmauswahl des Abends: Weinbergs 5. und 16. Quartett umrahmen das 10. von Schostakowitsch. Ähnlichkeiten sind natürlich unüberhörbar, aber jeder pflegt doch seine eigene „Sprache“. En détail kitzelt das Quatuor Danel die jeweilige Idiomatik so präzis wie lustvoll heraus.

Weinberg schrieb sein 5. Quartett 1945. Das fünfsätzige Werk kommt oft in karger Faktur daher, der Beginn etwa (Melodia) oder die „Improvisation“ wird überwiegend von der 1. Violine intoniert. Es ist eine ganz eigene, etwas verhangene lyrische Intimität, die so entsteht, ein bittersüßer Tonfall, der ohnehin wesentliches Merkmal von Weinbergs Musik ist. Marc Danel gestaltet diese Solostellen betörend schön und intensiv, seine Mitstreiter, vor allem Cellist Yovan Markovitch, steuern wunderbare Klangflächen oder delikate Gegenstimmen bei.

Andererseits können diese vier Streicher durchaus zupacken, das Scherzo des 5. Quartetts wird so an Schostakowitschs Sarkasmus herangerückt. Gleichwohl bleibt die Distanz: Bei Weinberg regiert eher der subtile Spott. Und die Interpretation des Quatuor Danel lässt mehr an die robusten Attacken Beethovens denken. Die vier Musiker legen dabei bisweilen einen geradezu stoischen Zugriff an den Tag – sehr wirkmächtig ist das, gar nicht mechanisch.

Noch intensiver gerät die Deutung von Weinbergs Streichquartett Nr. 16, komponiert 1981, zum Andenken seiner im KZ ermordeten Schwester. Fahle Klänge wechseln mit wild herausfahrenden, dissonanten Passagen, die mitunter wie ein Aufbäumen wirken. Die Elegie des 3. Satzes atmet Trauer und Schmerz, das Finale gleicht einem zärtlich ummantelten Totentanz. Neben dem jüdischen Idiom, das dieses Werk durchzieht, fällt zudem die Nähe zu Bartók auf.

Beide Weinberg-Stücke umschließen Schostakowitsch 10. Quartett, das der Russe seinem jüngeren Freund gewidmet hat. Es beginnt eher verhalten, das Staccato-Thema erfährt einige Varianten ohne wirkliche Entwicklung, und nur die gespenstisch enervierenden Repetitionen lassen Unruhe ahnen. Die bricht im Allegretto furios, energisch, mit schroffen Akzenten heraus, im scharfen Kontrast zur Klage des 3. Satzes mit seinen fahlen, wie weltverlorenen Klangmischungen. Das Finale greift auf vorherige Motive zurück, verliert zunehmend an Dichte, und wo eben noch Rausch, herrscht letztlich das karge Verlöschen.

So zelebriert das Quatuor Danel einen Abend mit facettenreicher Bekenntnismusik. Das ist so spannend wie herzergreifend, in keinem Falle aber sentimental. Ein außerordentliches Konzert.

________________________

Nächstes Ereignis des Weinberg-Programms am MiR ist ein Gesprächskonzert mit dem Geiger Linus Roth und dem Pianisten José Gallardo am 26. März 2017 im Kleinen Haus (18 Uhr). Es erklingen wiederum Werke von Weinberg und Schostakowitsch. Info unter www.musiktheater-im-revier.de




Kein Recht auf Vergessen: Gelsenkirchen überzeugt mit Mieczysław Weinbergs erschütternder Oper „Die Passagierin“

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs "Pasazerka" - zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. Foto: Forster

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs „Pasazerka“ – zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. (Foto: Forster)

Namen. Die Menschen haben Namen. Sie heißen Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz. Und sie erzählen Geschichten, Lebens-, Sehnsuchts-, Erinnerungsgeschichten. Ganz im Gegensatz zu ihren Peinigern. Bei denen sind sie Nummern. Die Menschen, die ihre Fäuste, Schlagstöcke und Pistolen gegen ihre Mitmenschen richten, erzählen nichts. Sie räsonieren nur über ihre Ideologie. Und als die Geschichte in das Leben einer der Uniformierten einbricht (durch eine stumme Begegnung, nur einen Blick), offenbart sich die ganze Erbärmlichkeit ihrer Existenz.

Ja, man könnte Mieczysław Weinbergs „Pasażerka“ („Die Passagierin“) auf eine „KZ-Oper“ eingrenzen. Ein tief berührendes Zeugnis dafür, dass Kunst sich selbst diesem furchtbarsten aller Schreckensorte des Bösen nähern kann. Wie erschütternd die Konfrontation wirkt, war nach der Premiere im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen spürbar: Betroffenheit und Beklemmung lasteten geradezu greifbar im Raum.

Beim Beifall stand auf der Bühne, mitten unter den Künstlerinnen und Künstlern, eine zierliche Frau: die 93-jährige Zofia Posmysz. Sie hat Auschwitz überlebt und in einer durch ein persönliches Erlebnis angeregte Novelle die fiktive Begegnung einer Täterin mit einem ihrer Opfer beschrieben. Die Erzählung bildet die Grundlage für Weinbergs Oper.

Aber das bis 2010 in der westlichen Welt unbekannte Werk des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten will nicht zuerst die Vernichtungsmaschinerie der Nazis dokumentieren. Als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“, bezeichnet Weinbergs enger Freund und Förderer Dmitri Schostakowitsch die Oper.

Das Libretto von Alexander Medwedew fügt in die Erzählung Zofia Posmysz‘ Frauen ein, die aus Polen, Frankreich, Russland kommen, die ihre Leiden und Hoffnungen ins Lager mitgebracht haben, die dulden, beten, weinen, sich empören und lieben. Und die auf diese Weise Menschlichkeit im Verborgenen weiterleben lassen, kleine Inseln der Humanität schaffen. Die aber auch die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes stellen, nach seiner Anwesenheit in der Hölle von Auschwitz. Vielleicht, so eine der Frauen, sei Gott in Auschwitz noch einmal Mensch geworden und hier gestorben.

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin" am Musiktheater im Revier. Foto: Forster

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ am Musiktheater im Revier. (Foto: Forster)

Die kalten Zahlen, die in einer Projektion die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn es die Denunziantin, den weiblichen „Kapo“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock gibt. „Abstrakter Humanismus“ wurde Weinberg vorgeworfen, die Oper daher erst 2006, zehn Jahre nach seinem Tod, konzertant in Moskau erstmals aufgeführt. Was für ein abstruser Vorwurf, aber er enthüllt in seiner perversen Form eine Wahrheit: Worauf Weinberg besteht, ist das Überleben der Menschlichkeit selbst dort, wo nur noch Tod und Teufel zu regieren scheinen. Eine Botschaft, die über die Bedingungen der historischen Konkretion in Auschwitz hinaus beansprucht, gültig zu sein.

Weinberg lässt die „Passagierin“ mit einem Appell für die Erinnerung enden. „Wenn das Echo eurer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde“, zitiert er einen Paul Eluard zugeschriebenen Satz. In ihrem sanften, lyrischen Schlussgesang nennt die überlebende Marta noch einmal die Namen ihrer Mitgefangenen im Lager.

Es geht nicht um ein abstraktes, formalisiertes Gedenken. Es geht um Menschen. Keiner der Ermordeten geht in der Opferrolle auf. Jeder hat Charakter, Geschichte, Beziehungen, Herkunft und Ziel. Der Namen hält das Leben fest. Nicht umsonst sind in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel die Namen der Holocaust-Opfer in Stein graviert, können auch im Internet recherchiert werden. Und daher noch einmal: Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz, Katja, Krystina, Vlasta …

„Die Passagierin“ wurde erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführt und seither in Europa und Amerika mehrfach, in Deutschland in Karlsruhe und Frankfurt wieder inszeniert. Gelsenkirchen nimmt die Herausforderung an, dieses wichtige und schwierige Werk erneut zur Debatte zu stellen. Die Premiere – einen Tag nach dem Internationalen Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus  – ist begleitet von einem umfangreichen Rahmenprogramm, das am 1. Juli mit einem Gastspiel des Theaters Hof mit George Taboris „Mein Kampf“ endet.

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Regisseurin Gabriele Rech legt Wert auf sorgfältige Menschenstudien, von der eilfertig prügelnden Aufseherin (Patricia Pallmer), die sich durch Anbiederung zu retten hofft, über die resignierten, aber nicht gebrochenen Frauen, die wie Yvette (Bele Kumberger) sogar noch zu träumen wagen, bis hin zu dem Musiker Tadeusz (Piotr Prochera), der bis zur Hingabe des eigenen Lebens entschlossen ist, sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen: Als der Lagerkommandant, ein „Musikkenner“, von ihm einen trivialen Walzer fordert, spielt er ein Beispiel universaler Musik, Johann Sebastian Bachs Chaconne.

Das Einheitsbühnenbild von Dirk Becker macht es der Regisseurin nicht leicht, die filmähnlichen Rückblenden zu inszenieren. Der Raum, durch dunkel vertäfelte Holzportale gegliedert, mit einem Podium im Hintergrund und einer Bar an der Seite, ist anfangs der moderne Salon eines Schiffes, auf dem der Diplomat Walter und seine Frau Lisa nach Brasilien reisen. Im eleganten Cocktailkleid der ausgehenden fünfziger Jahre – die historisch verorteten Kostüme sind von Renée Listerdal – versuchen die beiden, ihr Recht auf Vergessen zu behaupten, aber die „schwarze Todeswand“ von Auschwitz widerspricht: Der Chor singt aus dem Rang und vergegenwärtigt, was verdrängt werden soll.

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin". Foto: Forster

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. (Foto: Forster)

Als Lisa – die KZ-Aufseherin Anna-Lisa Franz war das Vorbild – in einer Passagierin die ehemalige Auschwitz-Gefangene Marta zu erkennen glaubt, schiebt sich die Vergangenheit in die elegante Wirtschaftswunder-Kulisse. Aus dem Salon wird der Schauplatz des Totentanzes, Uniformierte marschieren auf. Dass der Raum genauso gut als SS-Kasino durchgehen könnte, weist subtil darauf hin, dass es zwischen der Nazizeit und der jungen Bundesrepublik mehr Kontinuitäten gegeben hat als fassbar waren: Die Letzten, die als Täter in Frage kommen, stehen erst heute vor Gericht.

Rech lässt das blonde Lieschen zur „arischen“ Frau in Uniform mutieren, die nicht prügelt oder tötet, sondern mit ihren Opfern ein subtiles Spiel einfädelt: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Dass sie damit an der charakterlichen Festigkeit von Marta und Tadeusz scheitert, irritiert sie zutiefst: In sinisterer Verwunderung beklagt Lisa den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Hanna Dóra Sturludóttir zeigt, wie diese Frau den Halt verliert, der ihr das Verdrängen und ihre konstruierten Rechtfertigungen gegeben haben – und wie die Beziehung zu dem karrierebewussten Walter (Kor-Jan Dusseljee) zerbricht. Ihre letzten Klagen hört der Mann überhaupt nicht mehr; er blättert teilnahmslos am Tresen in der Zeitung. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer und einem träumerischen Lied Martas. Ilia Papandreou singt es mit anrührender Einfachheit, nachdem sie drei intensive Stunden lang die schweigende, allein durch ihre Präsenz wirkende Passagierin und die auch angesichts des sadistischen Hohns der „Aufseherin Franz“ starke, mutige Frau im Lager verkörpert hat.

Auch wenn die Frankfurter Inszenierung Anselm Webers vor zwei Jahren nicht zuletzt wegen der überzeugenden Bühne von Katja Haß für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine noch prägnantere Bild-Lösung gefunden hat: Gelsenkirchen kann sich neben den bisherigen Produktionen der „Pasażerka“ anstandslos behaupten und punktet mit einem alles in allem großartigen Ensemble, zu dem die zahlreichen, in mehreren Sprachen singenden Darsteller ebenso beitragen wie der von Alexander Eberle sattelfest einstudierte Chor und die Statisterie des Hauses.

Valtteri Rauhalammi festigt den Eindruck, ein präsenter, genauer, sensibler Orchesterleiter zu sein; die Neue Philharmonie Westfalen bestätigt den Aufwärtstrend der vergangenen Jahre erneut eindrucksvoll in den vielen genau ausgehörten kammermusikalischen Abschnitten der Musik Weinbergs, aber auch in den an Schostakowitsch erinnernden schrägen Zitaten von Unterhaltungsmusik, den unheimlich präzisen Schlägen und den harmonisch verdichteten Stellen, an denen der Klang des ganzen Orchesters gefordert ist.

Mit solchen ambitionierten Produktionen lässt Intendant Michael Schulz das Musiktheater im Revier in einer Liga spielen, in der es die im Mainstream erstarrende Deutsche Oper am Rhein Christoph Meyers deklassiert und das Aalto-Theater in Essen ernsthaft herausfordert. Und auch in Dortmund wird sich der Nachfolger Jens-Daniel Herzogs ab 2018 einiges einfallen lassen müssen, um gleichzuziehen.

Vorstellungen am 5., 18. Februar; 2., 17. März; 2., 23. April 2017.
Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2016-17/die-passagierin/

_____________________________________

Das Rahmenprogramm des Musiktheaters im Revier in Kooperation mit Partnern aus Stadt und Land Nordrhein-Westfalen läuft bis zum Ende der Spielzeit mit Konzerten, Ausstellungen, Lesungen, Vorträgen und Zeitzeugen-Begegnungen. Seit 29. Januar zeigt das Kunstmuseum Gelsenkirchen eine Ausstellung mit Arbeiten von Michel Kichka, die das Holocaust-Trauma seiner Familie verarbeiten. Am 7. Februar erzählen Zeitzeugen aus Gelsenkirchen in der Neuen Synagoge ihre Geschichten vom Überleben und der Rückkehr in die Heimatstadt.

Bei einem Liederabend mit Almuth Herbst am 12. Februar im Kleinen Haus der Musiktheaters erklingen unter anderem die in Theresienstadt entstandenen von Victor Ullmann. Am 12. März spielt das Danel-Quartett im Kleinen Haus Werke von Mieczysław Weinberg und Dmitri Schostakowitsch. Und am 26. März kommt der Geiger Linus Roth, der unter anderem Weinbergs Violinkonzert auf CD eingespielt hat, zu einem Gesprächskonzert ins Musiktheater und stellt Kompositionen Weinbergs für Violine und Klavier vor. Das Rahmenprogramm gibt es als Download unter https://musiktheater-im-revier.de/assets/files/068cb1d4-e1ba-395b-9357-0fa76433c69f.pdf

Weitere Informationen zu Mieczysław Weinberg gibt es auf der Webseite der Internationalen Mieczysław Weinberg Society: http://www.weinbergsociety.com/index.php?article_id=16&clang=0




Holocaust als Opernstoff: Bochums Intendant Anselm Weber inszeniert „Die Passagierin“ in Frankfurt

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper "Die Passagierin" in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Zeit, sich zu erinnern, ist immer. Aber manchmal verdichtet sich Erinnerung, behauptet sich im Präsens und drängt sich in den gleichgültigen Lauf des Alltags. Momentan liegt es nahe, Vergangenes in die Gegenwart zu holen, auf dass es nicht vergessen werde: Vor 100 Jahren tobte der Erste Weltkrieg, vor 70 Jahren rissen die letzten Zuckungen des Nazi-Systems noch einmal Zehntausende in einen sinnlosen Tod. Aber vor 70 Jahren gab es auch Aufatmen: Die Alliierten erreichten die Tore der Vernichtungslager, gaben denen die Freiheit, die der Tötungsmaschinerie noch nicht zum Opfer gefallen waren.

Wie sich erinnern? Darüber gibt es zu Recht gesellschaftliche Debatten. Die Zeitzeugen sterben aus; das unmittelbar Erlebte ist auf geschichtliche Vermittlung angewiesen. Wie diese missbraucht wird, ist in diesen Tagen zu erleben, wenn die neue Banalität marschiert, den Bombenterror der letzten Kriegswochen gegen die deutschen Städte verzweckt, um ihre fragwürdigen Botschaften zu transportieren.

Erinnern ist auch eine Frage des kulturellen Gedächtnisses. Die deutsche Theaterlandschaft nimmt daran teil. Aber: Wie erinnert man sich auf der Bühne an den industriellen Vernichtungskrieg? An Schützengräben und Feuerstürme? Wie an die unvorstellbaren Gräuel der Lager? Wie an Gaskammern, Todeswände, Stehbunker und Verbrennungsöfen? Lange schien es undenkbar, das Furchtbare künstlerisch vermittelt auf einer Bühne zu thematisieren.

Adornos Diktum von 1949, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, wirkte praktisch wie ein Darstellungsverbot. Erst in den achtziger Jahren begannen vorsichtige Versuche, dem unsagbaren Leid den Ausdruck nicht mehr zu verweigern: Götz Friedrichs erschütternde Inszenierung von Leos Janaceks „Aus einem Totenhaus“ in Berlin war ein solches Beispiel. Peter Ruzickas „Celan“ thematisierte 1998 im reflexiven Rückbezug das Grauen des Holocausts in einem sperrig-komplexen Musiktheater. Aber von einer ausdrücklichen Thematisierung wie in Joshua Sobols Schauspiel „Ghetto“ von 1984 war die Opernbühne noch weit entfernt.

Erst Stefan Heuckes „Das Frauenorchester von Auschwitz“ – uraufgeführt 2006 am Theater Krefeld/Mönchengladbach – machte das Leben im KZ zum Gegenstand einer Oper. Im selben Jahr erklang in einer konzertanten Aufführung in Moskau zum ersten Mal eine Oper, von der die musikalische Welt bis dahin keinerlei Kenntnis hatte: „Pasażerka“ („Die Passagierin“) des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg. Der Komponist, enger Vertrauter von Dmitri Schostakowitsch, hat sein Werk selbst nie gehört: Er verstarb 1996. Die szenische Uraufführung der „Passagierin“ fand erst 2010 in Bregenz statt und war ein Ereignis mit weltweiter Ausstrahlung.

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Nach einer Novelle von Zofia Posmysz, die selbst das KZ überlebt hatte, schildert Weinberg eine Begegnung: Auf einem Schiff meint die frühere KZ-Aufseherin Lisa in einer Mitreisenden eine Lagerinsassin, Marta, erkannt zu haben. Sie versucht, die Identität der Passagierin zu erkunden. Gegenwart und Erinnerung verschränken sich, bis sich – ausgerechnet durch Musik – die Gewissheit verdichtet: Die Passagierin lässt die Bordkapelle den Lieblingswalzer des einstigen Lagerkommandanten spielen.

Schostakowitsch bezeichnete Weinbergs Oper als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“. So sieht sie auch Regisseur Anselm Weber in der Frankfurter Neuinszenierung – rechtzeitig zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Die Bestialität des Lagerlebens, die nackte, menschenverachtende Brutalität lässt der Intendant des Bochumer Schauspiels nicht zu: Gewalt auf der Bühne droht immer ins Malerische abzugleiten.

In sorgfältigen Menschenstudien thematisiert Weber, wie die Gefangenen mit dem Horror leben: gebrochen bis zum Verlust des Gedächtnisses, getröstet von Gebet und winzigen Inseln gelebter Menschlichkeit, entschlossen bis zur Hingabe des eigenen Lebens, um sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen.

Katja Haß, die Bühnenbildnerin, hat für die Gleichzeitigkeit von Schiff und Lager, für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine überzeugende Bühnenlösung gefunden. Vor einer riesigen Schiffswand sehen wir auf einer Gangway Walter, einen deutschen Diplomaten, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere 1960 nach Brasilien reist. Seine junge Frau Lisa im modischen Petticoat, die blonden Haare in Wellen gelegt: Man ahnt das „arische“ Weib von damals. Marta, die „Passagierin“: eine schlanke, elegante Frau in Schwarz. Sie zündet den Impuls des Erinnerns – da öffnen sich die Türen und aus dem Dunkel schälen sich drei Menschen in gestreifter Häftlingskleidung.

Anna-Lisa Franz, die ehemalige SS-Aufseherin, beharrt auf dem Recht auf Vergessen – aber es ist selbst für sie eine Illusion. Die Toten kommen wieder – die Schreckvision aller Gewaltmenschen bis hin zu de Schlächter Macbeth in Verdis Oper – und lassen sich nicht bannen: Die schwarze Frau zieht Lisa hinein in die Erinnerung; die Schiffwand dreht sich und öffnet sich zu einem Raum mit kalten Wänden.

Die Reling wird zum Wachtturm, die Schotten zum Lagertor. Wie es im Leben der Anna-Lisa Franz ein „Außen“ und „Innen“ gibt, so auch auf diesem Schiff: Das Äußere ist weiß, realistisch, gegenständlich. Das Innere ist der schmutziggraue Alptraum, die brutale Realität der Opfer. Das „Lieschen“ der Wirtschaftswunderzeit wandelt sich zur blonden Uniformierten. Die Frankfurter Inszenierung der „Passagierin“ hat also nicht – wie Holger Müller-Brandes (Regie) und Philipp Fürhofer (Bühne) in der deutschen Erstaufführung 2013 in Karlsruhe – auf realistische Elemente verzichtet, sie aber immer wieder in der Tiefe eines metaphorischen Raums gebrochen.

Weinbergs Oper klagt nicht an durch brutale, ungeschönte Szenen aus der Lagerqual. Aber das Libretto von Alexander Medwedew zitiert geradezu jene wohlbekannten Sätze, mit denen die Täter ihre Schuld relativierten: Befehl und Gehorsam, Pflicht und Korrektheit. Monströs ist die Verwunderung Lisas über den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Für den Regisseur Anselm Weber (Intendant des Bochumer Schauspielhauses) ist Fräulein Franz keine „blutige Stute“, die prügelt oder tötet. Ihre Mittel sind subtiler, perfider: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Marta spielte nicht mit – und Tadeusz auch nicht: Der Geiger, der den Lieblingswalzer des Kommandanten einüben soll, bevor er sich „in Rauch auflöst“, lehnt die Chance ab, Marta noch einmal zu sehen. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer der Bordkapelle und einem träumerischen Lied Martas: Sie nennt die Namen ihrer Mithäftlinge, die nicht vergessen werden sollten – ein bezeichnender Kontrast zu der Szene im Lager, in der die Menschen mit bloßen Nummern aufgerufen wurden.

Die kalten Zahlen, die auch auf dem Zwischenvorhang die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn Weber mit den „Kapos“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock ein Stück Realität zeigt. Mit bewegendem Spiel machen die Sängerinnen des Frankfurter Ensembles deutlich, wie Menschlichkeit im Verborgenen weiterlebt: Anna Ryberg, Maria Pantiukhova, Jenny Carlstedt, Judita Nagyova, Nora Friedrichs, Barbara Zechmeister und die beeindruckende Bronka von Joanna Krasuska-Motulewicz stehen für intensive Momente – und die hohe Ensemblekultur der Frankfurter Bühne.

Peter Marsh als Tadeusz in Weinbergs "Die Passagierin" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Brian Mulligan als Tadeusz in Weinbergs „Die Passagierin“ an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Tanja Ariane Baumgartner fügt mit der Lisa ihren stets reflektierten Rollenporträts ein weiteres, höchst gelungenes hinzu: Der Wechsel vom putzigen Fräulein zum camouflierten, schließlich hohnvoll ausbrechenden Sadismus der Aufseherin gelingt ihr szenisch wie stimmlich. Sara Jakubiak konkretisiert die „Passagierin“ Marta von einer fast schemenhaften Erscheinung zu einer starken, mutigen Frau im Lager; ihr poetisches Erinnerungslied am Ende der Oper singt sie mit feinen lyrischen Lasuren als einen sanften Appell, nicht zu vergessen.

Die Männer im Ensemble halten mit: Peter Marsh setzt seinen unverwechselbaren Charaktertenor für den konsternierten, um seine Karriere besorgten Diplomaten ein; Brian Mulligan verinnerlicht den Geiger Tadeusz, der als letztes Fanal des inneren Widerstands statt des geforderten Walzers vor dem Lagerchef die Chaconne Johann Sebastian Bachs spielt.

Der Frankfurter Chor war selten so glaubwürdig wie in dieser Produktion. Unter Leo Hussain brilliert das Orchester in den vielen kammermusikalischen Momenten ebenso wie in den schneidend harten Schlägen der Perkussionsgruppe oder in den verzerrten, in Mahler- und Schostakowitsch-Tradition stehenden parodistischen Zitaten aus der Unterhaltungsmusik. Um noch einmal Adorno zu zitiere: Hier hat das „perennierende Leiden“ sein Recht auf Ausdruck gefunden.

Weitere Aufführungen: 14., 20., 22., 28. März; www.oper-frankfurt.de

 




Auschwitz auf der Opernbühne: „Die Passagierin“ als DVD-Edition

51PRfuZM1DL

Dies ist eine nachdrückliche Empfehlung: Die DVD der Bregenzer Aufführung von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ überzeugt durch präzise Inszenierung, durchdachtes Bühnenbild, spannungsvollen Handlungsablauf, die Figurenzeichnung und -verkörperung, die Rezitative sowie den Einzel- und Chorgesang und durch die orchestrale Musik.

Nie hätte ich vorher gedacht, dass es möglich wäre, noch dazu überzeugend möglich wäre, ein derartiges Thema ins Zentrum einer Oper zu stellen. Zwar, dass man sich auch an diesem Thema mal vergreifen können würde, habe ich schon vor 30 Jahren geargwöhnt, als ich mal gesprächsweise prognostizierte, dass der Tag nicht fern sei, dass man auch aus Auschwitz noch ein Musical machen werde.

Was ich damals noch nicht wusste, was fast jeder nicht wissen konnte, war dies, dass eine Oper zu diesem Thema schon seit dem Jahre 1968 existierte. Eine Oper übrigens, die auch ihr Komponist, ein russischer Komponist mit polnisch-jüdischen Wurzeln, den ich vor drei Jahren noch nicht einmal namentlich kannte, zeitlebens nie in einer Aufführung hören konnte, nämlich weil sie nie aufgeführt wurde, in der UdSSR nicht aufgeführt werden durfte.

„Als er in den letzten Jahren seines Lebens gefragt wurde, welches Werk er für sein wichtigstes halte, antwortete Weinberg ohne Zögern: D i e P a s s a g i e r i n. Noch zwei Tage vor seinem Tod 1996 klagte er gegenüber Alexander Medwedjew, dem Librettisten des Werkes und bedeutenden Musikwissenschaftler, dass er das Werk nie gehört habe. Um ihn zu trösten, versprach Medwedjew, ,doppelt‘ genau zu hören, falls die Uraufführung jemals stattfinden würde: einmal für den Komponisten und einmal für sich selbst. Medwedjew konnte sein Versprechen am 25. Dezember 2006 bei der konzertanten Aufführung des Werkes im Swetlanow-Saal des Moskauer Hauses der Komponisten einlösen.“ (Zitat aus David Fanning: Mieczysław Weinberg / Auf der Suche nach Freiheit“ / aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Wolke Verlag, Hofheim 2010, S. 131)

Im Sommer 2010 hatte ich zwar in einem sehr positiven Bericht der Sendung „Kulturzeit“ in 3sat mitbekommen, dass Weinbergs Oper im Rahmen der Bregenzer Festspiele aufgeführt worden sei, ohne dass ich diesen Hinweis damals mehr als zur Kenntnis nahm. Erst in diesem Jahr wurde ich wieder auf Weinberg aufmerksam, zunächst durch die ganz hervorragenden, brandaktuellen Aufnahmen seiner sämtlichen Violinwerke auf 3 CDs mit Linus Roth, Violine, und José Gallardo, Klavier, dann durch 4 (inzwischen 6) CDs mit den von dem Quatuor Danel dargebotenen Streichquartetten Weinbergs, und schließlich, nachdem ich endlich gemerkt hatte, welch großartigen Komponisten ich bislang noch nicht gekannt hatte, die Opern-DVD „The Passenger“ (op. 97), von der hier vor allem die Rede ist.

Fürs Fach Deutsch war in der gymnasialen Oberstufe in NRW vor nicht allzulanger Zeit noch Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ als Kurs-Lektüre verbindlich vorgeschrieben. Dieser Roman kam (trotz aller kritischen Vorbehalte, die man haben könnte; vgl. etwa die Rezension von Jeremy Adler) bei den Schülern in der Regel gut bis sehr gut an. Dies habe ich in meiner allerletzten aktiven Zeit als Lehrer noch mitbekommen. Heute würde ich ganz entschieden diesen Roman mit der zunächst ganz ähnlich in deutscher Nach-Auschwitz-Zeit ansetzenden Oper konfrontieren: als Ergänzung und Kontrast für eine mit ziemlicher Sicherheit noch ergiebigere Besprechung.

Wer Opern immer noch vorurteilsvoll grundsätzlich meidet, könnte sich zumindest die der Oper zugrundeliegende Romanvorlage der polnischen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz aus dem Jahre 1962 etwas genauer ansehen. Dieser Roman mit dem gleichen Titel „Die Passagierin“ erschien auf deutsch erstmals 1969 in der Übersetzung von Peter Ball und ist inzwischen wieder neu aufgelegt worden.

Die Opern-DVD überrascht übrigens auch durch eine außergewöhnlich gute Kameraführung und durch exzellente, sehr aufschlussreiche Extras, so mit einem Documentary unter dem Titel „In der Fremde“. (Je nach dem, wo man diese DVD der Firma NEOS erwirbt, kostet sie zwischen 30 und 40 Euro.)