Seelenfenster geöffnet: Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Krefeld-Mönchengladbach

Sofia Poulopoulou als Tatjana in der Inszenierung von Helen Malkowsky am Theater Mönchengladbach. (Foto: Matthias Stute)

„Eugen Onegin“ hat in diesem Jahr Konjunktur in Nordrhein-Westfalen. Bonn, Düsseldorf und Krefeld-Mönchengladbach zeigten Peter Tschaikowskys Meisterwerk. In Mönchengladbach wird die Inszenierung nun wieder aufgenommen.

Am 25. Februar dieses Jahres näherte sich Michael Thalheimer in Düsseldorf den „Lyrischen Szenen“ in einem harten hölzernen Verschlag von Henrik Ahr mit strengem, unbestechlich beobachtendem Minimalismus, gestützt von der leidenschaftlichen Lesart des neuen GMD der Rheinoper, Vitali Alekseenok (Wiederaufnahme war am 28. September). Nur eine Woche später präsentierte Regie-Shootingstar Vasily Barkhatov eine detailverliebte, psychologisch präzise Version der tragisch verfehlten Liebesgeschichte in opulenten Bildern von Zinovy Margolin an der Oper Bonn, begeisternd flexibel und transparent dirigiert vom neuen GMD des Theaters Hagen, Hermes Helfricht.

Einleuchtend erzählte Geschichten

Die Neuinszenierung in Mönchengladbach, die jetzt wieder aufgenommen und ab 16. November in Krefeld gezeigt wird, stammt von Helen Malkowsky, Wieder einmal stellt sie unter Beweis, wie einleuchtend sie eine Geschichte zu erzählen, wie unverkünstelt sie Figuren führen und Konstellationen entwickeln kann. Originelle, aber nie aufgesetzte Konzepte entwickelte die Professorin für Musiktheaterregie und Szenische Interpretation an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien schon vor 20 Jahren, als sie in Nürnberg „Der fliegende Holländer“ oder Aribert Reimanns „Melusine“ mit Sensibilität für metaphorische Bühnenlösungen in szenische Psychogramme verwandelte. In ihre Zeit als Operndirektorin in Bielefeld (2010 bis 2013) fielen die faszinierend doppelbödigen „Contes d’Hoffmann“; an den Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach entdeckte sie bereits in Tschaikowskys „Mazeppa“ ebenso wie in Verdis „Stiffelio“ und Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ die heute relevanten Aspekte der Stoffe.

Nun also „Eugen Onegin“: Der junge, schlanke Dandy bricht absichtslos in die bleigraue Welt auf Larinas Gut ein, sein goldener Rock (Kostüme: Anna-Sophie Lienbacher) spiegelt die zögerliche Faszination der Frauen wieder, stellt aber auch seine in diesen stumpfen Räumen schillernde Exotik aus. Malkowksy erfindet keine Charakterzüge über die im Stück angelegten hinaus, aber sie schärft das Profil der Menschen, indem sie – ähnlich wie Dietrich Hilsdorf in seiner sensationellen Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – genau beobachtet. Sie arbeitet mit sprechenden Gesten und offenbarenden Konstellationen: Larina (Katarzyna Kuncio) ist eine pragmatisch gewordene Frau in mittlerem Alter, Filipjewna (Satik Tumyan) ein sympathisch mütterliches Wesen, gezeichnet mit feinem Humor.

„Das Glück, es war so nah“: Tatjana (Sofia Poulopoulou) und Onegin (Rafael Bruck) verfehlen sich auf tragische Weise. (Foto: Matthias Stutte)

Vor den vermauerten oder zugeklebten stilisierten Fenstern der Bühne Tatjana Ivschinas fehlt der verträumten Tatjana mit ihren langen dunklen Haaren ebenso die Wärme wie dem Licht, das eine Trauergesellschaft in fahle Helle kleidet. Offenbar ist der Gutsherr verstorben; Damen und Herren mit Mantel und Hut in Schwarz kondolieren. Der Vorsänger (Irakli Silagadze) singt tonschön und entspannt, wie es selten in dieser kleinen Partie zu erleben ist.

Nuancen von bösem Gelb

Die Briefszene gestaltet die vorzüglich dunkelglühend singende Sofia Poulopoulou – in weißem Kleid und barfuß ganz bei sich selbst – als einen verzweifelt-feurigen Ausbruchs- und Erweckungsmoment. Das Chaos ihrer Gefühls- und Gedankensplitter kritzelt sie auf Papier, das sie von den halb blinden, halb von Regentränen benetzten Fenstern kratzt, und bindet die Blätter zuletzt zu einem Konvolut. Das Öffnen eines der Fenster mag eine konventionelle Metapher sein: Malkowsky inszeniert es als ein ergreifendes Befreiungserlebnis. Die Zurückweisung Tatjanas wiederum wird zur Charakterstudie Onegins. Gelangweiltes Wohlwollen, unterschätzende Belehrung: Rafael Bruck gestaltet diesen Moment wort- und klangsensibel.

Beim Namensfest Tatjanas tragen die Protagonisten wie die geschwätzigen Gäste Kostüme in den Nuancen von bösem Gelb. Die Inszenierung schildert, wie sich Lenski, vom Alkohol benebelt, in seine Eifersucht hineinsteigert. Wie sorgfältig auch Nebenfiguren gezeichnet werden, ist am Triquet von Arthur Meunier abzulesen: Endlich einmal kein übergriffiger Fummler oder kasperlhafter Trottel, sondern ein sanft frustrierter, still mitwissender Charmeur mit leichtem Hang zur Selbstübersteigerung. Eine Studie, die Meunier auch durch solides gesangliches Gestalten aufwertet.

Nur die Olga der leuchtend leicht singenden Kejti Karaj aus dem Opernstudio Niederrhein bleibt etwas zu sehr am Rande. Das ist aber angemessen, denn das „Kind“ ist nichts weiter als eine Projektionsfigur der romantisch übersteigerten Wünsche des Dichters Lenski, die beim verhängnisvollen Tanz mit Onegin nichts, aber auch gar nichts provoziert. Lenski ist bei Woongyi Lee, ausgestattet mit einem fast überpräsent in der Maske gebildeten, in der Höhe gezwungenen und daher nicht immer intonationsreinen Tenor, ein verstiegener junger Mann, der sich im Duell todesbereit präsentiert. Seine Arie singt Lee mit gestalterischem Feinsinn. Nicht der widerstrebende Onegin erschießt ihn, sondern die Pistole entlädt sich, während jener mit dem Sekundanten ringt. Gereon Grundmann ist der düstere Hüter der Duellregeln und wirkt damit wie ein metaphorischer Repräsentant einer obstruktiven Ordnung, die es wieder herzustellen gilt. Matthias Wippich als balsamfrei singender Fürst Gremin ist im letzten Bild dann der Katalysator für die finale Lebenskatastrophe Onegins.

Die Niederrheinischen Sinfoniker und der Opernchor Krefeld-Mönchengladbach, einstudiert von Michael Preiser, haben in GMD Mihkel Kütson einen erfahrenen Kenner der russischen Romantik am Pult. Kütson hat auch „Mazeppa“ dirigiert und sich mit CD-Aufnahmen entlegenen russischen Repertoires etwa von Alexander Glazunov und Mili Balakirev hervorgetan. Das Orchester überzeugt mit einem dunkel-weichen Klang und ist auch in dramatischen Momenten nie unkontrolliert massiv. Kütson sorgt für sorgfältig gestaltete Tempi und Übergänge, einen überlegten Aufbau emotionaler Spannungen, lyrische Finesse und wehmütige Pastellfarben. Die Konkurrenz mit Düsseldorf und Bonn müssen die Niederrheiner nicht scheuen.

Eine weitere Vorstellung am 10. Oktober in Mönchengladbach-Rheydt. Premiere in Krefeld ist am 16. November, weitere Termine am 20.11., am 5., 14., 29.12 sowie 10.01., 4. und 14.02.2025. Info: https://theater-kr-mg.de/spielplan/eugen-onegin/




Parabel über die Narrheit der Macht: „Hamlet“ als Opern-Rarität von Ambroise Thomas in Krefeld

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Der Thron schwebt über der Szene. Unter ihm kauern Lemuren, weisen mit ausgestreckten Armen auf den Sessel, kriechen auf einen undefinierbaren Gegenstand im Zwielicht zu. Sobald der erste zuschnappt, erkennen wir: Es ist eine Krone. Wie mit einer Waffe hält der schwarze Mensch die Menge mit dem Reif in Schach. Fanfaren. Ein Königsmantel. Eine Frau, die mit hartem Griff in Besitz genommen wird. Der Thron gleitet herab, der Hof von Dänemark feiert sein neues Königspaar.

Wenig später kriecht ein dünner, junger Mann mit wirren Haaren auf einen anderen Gegenstand zu, begleitet von einer schwermütigen, fragmentierten Cello-Kantilene: eine Aschenurne. Ein Narr hat das Symbol des Todes, der Vanitas gebracht. Ein Narr, der immer wieder durch die Szene Hermann Feuchters huschen, geistern, schreiten wird. Andrew Nolen verkörpert eindrucksvoll diese – bei Thomas so nicht vorgesehene – Figur der Weisheit, aber auch der Nichtigkeit aller irdischen Gewissheiten. Seine Zweifel, sein Witz löschen alles, was Endgültigkeit für sich beansprucht. Auch die Macht.

Und dass es in Ambroise Thomas‘ selten gespielter, vor fast 150 Jahren in Paris uraufgeführter Oper um Macht geht, daran lässt Helen Malkowsky in Krefeld keinen Zweifel. Die Regisseurin ist in der Region nicht unbekannt. Sie hat in Essen an der Folkwang Universität der Künste mit Brittens „Turn of the Screw“, in Krefeld-Mönchengladbach mit „Stiffelio“ und „Mazeppa“, in Bielefeld mit „Peter Grimes“ ausgezeichnete Arbeiten vorgelegt. Szenisch virtuos deutet sie die düstere Geschichte über Königsmord, unschuldige Opfer, Rache, Angst und Wahnsinn als eine Parabel über die Narrheit und Vergeblichkeit der Macht.

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Der Thron des Anfangs, reduziert auf einen noblen Stuhl, setzt in grellem Licht den Schlusspunkt des Dramas. Die Symbole der Macht, Thron und Königsmantel, in ein surreales Bild drapiert, spucken den Geist von Hamlets Vater aus. Er fordert den Sohn zur Rache an seinem Bruder Claudius auf, der ihn ermordet, Herrschaft und Gattin usurpiert hat. Ein jenseitiger Bote? Eine Stimme aus dem Inneren des bleichen, hohläugigen jungen Mannes, dessen psychische Verletzungen wir nur erahnen und in seiner Musik erlauschen können?

Hamlet jedenfalls „macht“ sich sein Bild, worauf in Hermann Feuchters shakespearianisch klug reduzierter, spielfreundlicher Bühne ein goldener Rahmen im Hintergrund hinweist. In ihm materialisiert sich nicht nur der Geist, aus ihm quellen auch die Gestalten, die den „Mord des Gonzaga“ in der Schlüsselszene im zweiten Akt spielen sollen – eine Pantomime, die König Claudius durch Konfrontation als Mörder seines Vorgängers entlarven soll.

Später vervielfältigen sich die Bilderrahmen und kippen in die Schräge – Zeichen des fortschreitenden inneren Abrutschens Hamlets. Sterben, Schlafen … oder Träumen, so singt der Bariton Rafael Bruck in der Titelrolle in seinem großen Monolog. Dass sich aus einem schräg gestellten Portal eine Gestalt löst wie ein Schatten Hamlets, ist nur folgerichtig: Es ist der König. Schwer trägt er an seinem Thron, schleppt ihn hinter sich her – ein gebrochener Mann. Matthias Wippich singt von der Qual, die Seele dem ewigen Tod preisgegeben zu haben. Das Englischhorn, das Hamlets innere Melancholie begleitet, lässt in einem kurzen Moment die Elegie des drei Jahre vor Thomas‘ Oper in München uraufgeführten „Tristan“ erahnen.

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Mit besonderer szenischer Sorgfalt widmet sich Helen Malkowsky den Frauen des Stücks: Ophélie ist keine Shakespeare-Figur, sondern ganz femme fragile des 19. Jahrhunderts. Mit ihrer kindlichen Gestalt, den nackten Füßen, den gelösten blonden Haaren und den im Licht undefinierbaren Pastellfarben ihres Hemdchens erinnert sie schon beim ersten Erscheinen an die „Willis“, jene Wasserwesen, bei denen sie im Tode aufgenommen werden will. Im herrschaftlichen Kleid, das ihr Susanne Hubrich im Rot der Schauspielertruppe geschneidert hat, unternimmt sie einen letzten Versuch, den liebesunfähigen Hamlet umzustimmen. Im vierten Akt, bevor sie ins Wasser gleitend verlischt, lässt sie das Gewand in die Requisite hinaufziehen. Sophie Witte als beste Stimme des Krefelder Opernabends zeigt alles andere als einen fragilen Sopran. Sie stützt sicher, agiert mit dem klanglichen Kern, schattiert von anrührender Leichtigkeit bis erfülltem dramatischem Impetus und trägt die Phrasierung unverbrüchlich auf dem Atem.

In psychologischen Facetten durchdacht gestaltet Malkowsky auch die Konfrontation zwischen Hamlet und seiner Mutter Gertrud. Im intensiven Spiel und den Farben seiner kühlen, in den exorbitanten Höhen der Partie überaus geforderten Stimme zeigt Rafael Bruck, wie ihn der Zwiespalt innerlich zerreißt: Mutter und Mörderin, Anziehung und Ablehnung, Respekt und Rache – die Pole der Begriffe, die Hamlet sich von dieser Frau macht, sind extrem. Bruck kann auch in seiner Körpersprache mit schauspielerischer Bravour ausdrücken, was in der Seele Hamlets vorgeht.

Janet Bartolova gibt der Gertrude beinahe die Züge einer Klytämnestra, wenn sie, hochfahrend und zerknirscht, angstvoll und liebesbettelnd allmählich erkennen muss, welch ungeheure Andeutungen ihrem Sohn über die Lippen kommen. In diesen Momenten passt der zum Schrillen neigende Ton des dunkel gefärbten Soprans, an anderen Stellen muss Janet Bartolova kämpfen, die Stimme weit und den Ton flüssig zu halten.

Ambroise Thomas auf einer historischen Fotografie von Antoine-Samuel Adam-Salomon, entstanden zwischen 1876 und 1884.

Mit den Niederrheinischen Symphonikern setzt GMD Mihkel Kütson weniger auf die elegante Seite der Musik von Ambroise Thomas, sondern schärft die expressiven Kanten. Das bedeutet auch die Sänger gefährdende Wucht aus dem Graben, ist aber ein Gewinn: Zupackend musiziert, ist die Klangsprache aus schönfärbendem Lyrismus befreit. Bei Kütson haben etwa die Einsätze der Hörner Kontur, die vortrefflichen Holzbläser (Klarinette) ziehen ihre melodischen Linien unverzärtelt durch, das sfumato der Stellen, die an Gounod erinnern, ist spröde gelichtet.

Momente wie die gruslige Spannung der Ouvertüre, der fahle Pomp der Staatsszenerie oder die orchestralen Verzweiflungsschreie Hamlets gelingen ausdrucksstark und zeigen, dass Thomas‘ Musik nicht in die Untiefen lyrischer Belanglosigkeit schwappen muss. Kütson trägt auch den von Michael Preiser einstudierten Chor und die Sänger – unter ihnen Haik Dèinyan als Mord-Mitwisser Polonius und Carlos Moreno Pelizari als herausgeputzten Laertes in goldener Brünne.

Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat stets eine glückliche Hand bei seinen Ausgrabungen und Trouvaillen (am 12. Januar etwa läuft zum letzten Mal Gian-Carlo Menottis „Der Konsul“) und macht mit diesem „Hamlet“ der letzten, psychologisch klugen und bildstarken Inszenierung von Andrea Schwalbach 2015 in Bielefeld kraftvoll Konkurrenz.

Vorstellungen in Krefeld am 29. Dezember, 9., 14., 28. Januar und 7. Februar 2018. In der nächsten Spielzeit ab 24. November 2018 in Mönchengladbach.
Info: http://theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/hamlet/




Philosophische Komödie: Richard Strauss‘ „Der Rosenkavalier“ in Krefeld

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das "Zoferl" der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das „Zoferl“ der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

An „Rosenkavalieren“ ist in diesem Strauss-Jahr 2014 wahrlich kein Mangel. Die jüngste Premiere ist nun aus Krefeld zu vermelden.

Düsseldorf hatte seine traditionelle Otto-Schenk-Inszenierung im Frühjahr wieder ausgegraben, Gelsenkirchen die 150-Jahrfeier der Geburt Richard Strauss‘ gar schon im Oktober vor einem Jahr begonnen (und jetzt mit der „Frau ohne Schatten“ erfolgreich fortgesetzt). In Dortmund wird die silberne Rose in der Regie des Hausherrn Jens Daniel Herzog ab 25. Januar 2015 überreicht. Und in Kassel, Frankfurt oder Weimar machen sich in den nächsten Monaten prominente Regisseure wie Lorenzo Fioroni, Claus Guth und Vera Nemirova an das oft als konservative Kehre im Wirken Strauss‘ verdächtigte Werk.

Aber das Bild einer vergangenen Zeit, mit „Fleiß und Mühe“ entworfen, hat schon der Librettist Hugo von Hoffmannsthal als Täuschung bezeichnet. Und das gilt auch für die Musik. So wienerisch nett sich die Walzertakte durch die Partitur wiegen: Sie sind doch eher Boten der grellen „Tanzmusi“ eines Gustav Mahler oder der verzerrten Dreiertaktgespenster eines Alban Berg als gemütvoller Rückblich auf Johann Strauß oder Joseph Lanner. Mihkel Kütson beharrt mit den Niederrheinischen Sinfonikern auf dieser sperrigen Lesart. Die Walzerseligkeit schwingt aufgeraut. Kein nostalgischer Goldblick, eher die innere Unruhe einer ins Gären geratenen Zeit.

1911 war ja noch alles „in Ordnung“. Und Strauss, mit der politischen Blindheit des karrierebesessenen Großbürgers geschlagen, ist sicher nicht der Mann, den man zum ausschlagenden Seismographen künftiger Verwerfungen adeln sollte: Er hat weder die Zeitwende 1914/18 erkannt noch bemerkt, wie sich mit dem verachteten und dennoch hofierten braunen Pack die finale Exekution ungebrochenen bürgerlichen Selbstverständnisses anbahnte. Aber bei Hoffmannsthal, da schwingt doch etwas mehr mit als die versonnene Philosophie der Zeit, die der alternder Marschallin so balsamisch von den Lippen fließt.

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der "Rosenkavalier"-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der „Rosenkavalier“-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Regisseurin Mascha Pörzgen und ihr Bühnenkünstler Frank Fellmann kaprizieren sich nicht auf das Balancieren einer vermeintlich heilen Welt am Rande des Abgrunds. Sie sehen im „Rosenkavalier“ auch die Komödie, selbst wenn sich noch vor Beginn der Handlung ein riesiger Schatten über das halbdunkle Boudoir der Marschallin legt und ein Scheinwerfer nach einer der Uhren auf dem Wandsims fingert. Bestimmendes Element ist eine Kunstuhr, auf der ein Alter eine Stunde markiert, die mit dem zweiten Zeiger, einer güldenen Sonne, nicht vereinbar ist. Auf die Zeit verweist auch ein astronomischer Globus neben dem Bett der Marschallin, der Armillarsphäre Galileo Galileis ähnlich.

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder "Rosenkavalier". Foto: Matthias Stutte

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder „Rosenkavalier“. Foto: Matthias Stutte

Eine Idee von Prater und Jahrmarkt vermitteln die Kulissen im dritten Akt: Bewusst als solche eingesetzt, erinnern sie mit Wölkchen und Putten an die Dekors alter Karussells oder an die Wunderkabinette reisender Scharlatane.

Im zweiten Akt dagegen ist die Komödie von anderer Natur: Der Empfangssalon Faninals, tapeziert mit dem ins Riesige gesteigerten Adelsprädikat Kaiser Franz Josephs, steht für die begrenzte Weltsicht des neu gekürten Edlen. Fellmann bricht das enge Halbrund auf, wenn er für den Auftritt des Rosenkavaliers eine spiegelnd polierte Rampe in die aufklaffenden Wände einfahren lässt. Ein Steg in einen weiten Raum, der die Welt des biederen Faninal – in der Begegnung von Sophie und Octavian – endgültig transzendiert.

Mascha Pörzgen hat die komödiantischen Anteile zwar präsent gesetzt, aber nicht ausgebreitet; es ging ihr nicht um Ochsen-Klamauk und Beisl-Chaos. Gerade im dritten Akt zeigt sie das „Inszenierte“ an der Farce, die dem Baron auf Lerchenau vorgegaukelt wird. Da bemüht sich der junge Graf Rofrano überhaupt nicht, in die Rolle des „Mariandl“ zu schlüpfen, legt seine selbstbewusste Art des Verhaltens und Sprechens nicht ab. Schlechte „Comödi“ eben. Umso sensibler achtet Pörzgen aber auf die Wandlungen und die inneren Spannungen der Personen. Im ersten Akt etwa auf die emotionalen Wechselbäder des „Quin-quin“, zwischen pubertärer Schwärmerei und zu Tode betrübter Desillusionierung. Im dritten enthüllt Pörzgen, dass es dem jugendlichen Liebhaber der Marschallin nicht leicht fällt, auf die erfahrene, ältere Frau zu verzichten: Das Ringen um eine Entscheidung wird ihm nicht abgenommen.

Die Regisseurin hat ihre Arbeit aus den Figuren heraus entwickelt – eine heute nicht mehr selbstverständliche Kunst feiner Andeutungen, ein Verzicht auf allzu plakative Visualisierungen und allzu eindeutige Zuweisungen. So hat der Charakter der Marschallin etwas Schwebendes: Lydia Easley verkörpert eine Frau an einem Scheideweg ihrer Existenz, der sie bewegt, aber nicht haltlos macht. Easley hat im ersten Aufzug Mühe, mitzuhalten; vor allem, wenn sie der Dirigent mit Lautstärke bedrängt und sie einen nicht ausreichend gestützten, soubrettig grundierten Ton einsetzt. Aber mit ihrem Monolog und mit den Schlüsselstellen in den folgenden Akten gelingen Easley überzeugende Momente. Und als Gegenspielerin des Barons ist sie voll selbstbewusster Würde und Entschiedenheit.

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Mit Eva Maria Günschmann hat Krefeld einen nahezu idealen Rosenkavalier; ein körperlich präsenter, gesanglich tadelloser Octavian, fähig zu nuancierter Charakterisierung, gesegnet mit einem exquisiten Timbre und einem leicht strömenden, unaffektierten Mezzo. Sophie Witte ist ihr eine ebenbürtige Partnerin mit ihrem leichten, klanglich erfreulich unverdünnten Sopran. Diese Sophie, das macht Witte mit leuchtender Stimme klar, hat einen unbeugsamen Charakter, mit dem sie dem Geschacher um Stand und Stolz aufrecht entgegentritt.

Für Matthias Wippich ist der Ochs eine Paraderolle. Nicht nur das künstliche Wiener Idiom beherrscht er vortrefflich; er kann auch mit der Tiefe spielen und im Zentrum die Farben seiner Stimme für geflissentlich annektierte Eleganz und sich entladende Grobheit einsetzen. Nur die Höhe dürfte weniger steif klingen, solider fundamentiert sein. Ganz und gar brünstiger Jupiter und von keinen Skrupeln geschlagen, stürzt er sich sogleich auf das „Zoferl“, lässt – auch ohne Rücksicht auf die Marschallin – nicht locker. Und im dritten Akt – hervorzuheben die bildkräftige, gekonnte Deklamation Wippichs – will er bis zum Schluss partout nicht verstehen, was er denn nun falsch gemacht haben könnte: Des Lerchenaus Charakter hat etwas selbstgefällig Brutales, das fürchten macht.

Krefeld muss sich auch in der Besetzung der weniger umfangreichen Partien nicht verstecken, bis hinein in die stumme Rolle des illegitimen Ochsen-Sohns Leopold (Ruben Knors). Markus Heinrich und Satik Tumyan sind ein zwischen Matrone und Mafia angesiedeltes „wälsches“ Gaunerpaar; Hayk Dèinyan ein anständiger Kommissarius, Sun-Myung Kim und James Park zwei geschäftige Haushofmeister. Debra Hays wirkt als Leitmetzerin angemessen schrill; der Sänger Kairschan Scholdybajew, ein goldgesichtiger Automat, wird von seinem Flötisten (Alexander Betov) sorgfältig aufgezogen wie Offenbachs Olympie in „Hoffmanns Erzählungen“. Sein italienischer Schmelz vertrüge allerdings noch etwas Öl. Auch Hans Christoph Begemann könnte als Faninal noch ein paar Facetten mehr ausarbeiten.

GMD Mihkel Kütson meidet mit den Niederrheinischen Sinfonikern den üppigen Wohlklang mit der Folge, dass sich die raffinierten Strauss’schen Klangmischungen eher spröde als magisch einstellen. In den – zu lauten – Eröffnungstakten leisten sich die Bläser merkliche Unsauberkeiten, die sich im ersten Akt immer wieder in belegter oder spitzer Tongebung fortsetzen. Allmählich formt sich der Klang, klärt sich die Balance, ohne freilich zu jenen ausgesuchten Mischungen zu finden, die man, des kühlen Kopfes ungeachtet, in den Momenten verinnerlichter Lyrik doch zu finden wünscht.

Alles in allem ein höchst beachtlicher „Rosenkavalier“, der sich im Vergleich behaupten wird. Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat wieder einmal gezeigt, dass es seinen künstlerischen Anspruch auf solide gesichertem Niveau behaupten kann.

Weitere Informationen:

http://www.theater-kr-mg.de/spielplan/musiktheater/der-rosenkavalier.htm




Aufbruch ins Reich der Freiheit: Schostakowitschs Zehnte Symphonie in Krefeld

Das musikalische Porträt einer Epoche – geht das? Ein Charakterbild in Tönen – ist das möglich? Wer Dmitri Schostakowitschs Zehnte Symphonie hört, wird dem zustimmen, auch wenn er das „Programm“ des Komponisten nicht kennt: Der erste Satz exponiert ein Motiv, das gewalttätig und verzerrt wirkt, führt es auf eine extrem geschärfte Art durch. Im vierten Satz will dieses Motiv noch einmal die musikalische Dominanz übernehmen, doch es wird verdrängt: Ein anderes setzt sich durch, das der Hörer im zweiten Satz kennengelernt hatte.

Schostakowitsch hat von diesem 1953 uraufgeführten Werk in seinen Memoiren behauptet, es gehe um die Stalin-Ära, ja um den Menschenschlächter selbst. Biografische Hinweise legen sich nahe, wenn das zweite Thema aus den Noten d-es-c-h, den Anfangsbuchstaben des Namens Dmitri Schostakowitsch gebildet wird. Doch man muss die Symphonie nicht als musikalische Genugtuung über den Tod des Diktators und das Überleben des Komponisten lesen: Schostakowitsch verbindet die formalen Ansprüche der klassischen Symphonie grandios mit einer modernen Ausdruckssprache, die damals wie heute in ihren Bann zieht.

Gemessen an ihrer Qualität stehen Schostakowitschs Symphonien immer noch zu selten auf den Spielplänen. Denn sie führen selbst internationale Spitzenorchester an ihre Grenzen. In Krefeld und Mönchengladbach wagten sich die Niederrheinischen Sinfoniker dran – und triumphierten auf ganzer Linie. Unter seinem Generalmusikdirektor Mihkel Kütson stellte sich das Orchester nicht nur den spieltechnischen Herausforderungen: Die Musiker trafen Atmosphäre und spezifischen Tonfall der aus dunklem e-Moll erkeimenden Symphonie, die sich dann tonal ein Reich der Freiheit erkämpft.

Der düstere Beginn im verschatteten Piano der tiefen Streicher ist ein Bild der Erstarrung. Die Musik kommt nicht von der Stelle. Die grelle Solo-Trompete bringt den unverwechselbaren Schostakowitsch-Ton ins Spiel – mit seinen dissonanten Blöcken, seinen hochgetriebenen Violinen und den harten Bläserkontrasten. Im Seidenweberhaus in Krefeld klingen solche Momenten öfter verschwommen: Sie überfordern die Akustik, nicht aber das Orchester.

Kütson lässt Piani färben, dass sie kriechend lauern wie eine Schlange, bereit zum Zupacken. Er zündet die Tuttischläge scharf und heiß wie die Flamme eines Schweißgeräts. Er hält in den Bläser-Eruptionen und den katastrophischen Zusammenbrüchen die unverstellte Gewalttätigkeit und den nackten Bruitismus der Musik fest, mit der sie in der Tat ein klingendes Dokument der Stalin-Ära wird. Man kann sich an den vier Sätzen nicht satthören: Die Sinfoniker überraschen stets aufs Neue mit ihrer reaktionsschnellen Präzision, dem Sog einer kraftvollen Phrasierung, aber auch der klanglichen Palette in den Soli – von skurril gellenden Einwürfen bis hin zur weichen Resignation kantabler Linien.

Für das viel gespielte Violinkonzert Jean Sibelius‘ haben die Sinfoniker mit Carolin Widmann eine Solistin gewonnen, die sich nicht mit den Zugpferden des Repertoires, sondern mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem Einsatz für zeitgenössische Musik einen Namen gemacht hat. Sie macht schon mit dem sanft vibrierenden, schlanken, leuchtend erfüllten Ton der Einleitung klar, dass sie den schmerzgebärenden Gestus des „romantischen“ Virtuosen nicht übernehmen will. Details wie die traumsicheren Akkordgriffe oder die perfekten Sprünge auf der G- und D-Saite, das plastische Herausarbeiten von Details, der auch in schwierigsten Momenten souverän geführte Bogen sprechen für eine Solistin, die technisch problemlos in der Spitzengruppe heutiger Geigerinnen mithält.

Was nachhaltig für Widmann einnimmt, ist die musikalische Durchdringung des Sibelius-Konzerts: Der bewusst gestaltete Ton ist in der Farbe oder dem Charakter des Vibratos nicht am Zauber des schönen Moments orientiert. Er steht im Dienst einer komplexen Entwicklung, die großräumig gedacht und über die eine oder andere Phrase hinaus konzipiert ist. Das weckt beim Zuhören Entdeckerfreude und Spannung; das viel gehörte Konzert wirkt frisch und unverbraucht. Widmann schenkt dem Zuhörer den Aha-Effekt des neu Entdeckens, nicht des wohligen Wiedererkennens. So trägt der feinherbe, schimmernde Klang des „Adagio di molto“ im zweiten Satz eine edle Kantilene, führen die energischen Non-Legati und die stets zielführend gebildeten Repetitionen des dritten zu Sinn und Tiefe. Die Abstimmung mit dem Orchester klingt vorzüglich, Kütson ist ein engagierter, zuhörender Partner.

Begonnen hatte das Konzert mit Modest Mussorgskys „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ – in der schroffen, unangepassten Urfassung ein Zeugnis für die visionären, von seiner Zeit nicht verstandenen klanglichen und formalen Entwürfe des Russen. Kütson hatte anscheinend ein wenig Respekt vor der eigenen Schneid: Er legte temperamentvolle Tempi und dynamische Entwicklungen vor, entschied sich im Zweifelsfall aber eher für den kultivierten Klang eines technisch versierten Sinfonieorchesters als für das Ausstellen sich aneinander reibender Dissonanzen und klanglicher Extreme, etwa in den sehr schön, aber nicht abgründig offen intonierenden tiefen Holzbläsern. Dazu begünstigt die Akustik des Krefelder Saales die Detailschärfe des Klangs nicht: Die krachenden Fortissimo-Exzesse gerieten so neblig wie ein Wintertag auf dem Brocken. Dennoch: Die Begegnung mit diesem Orchester – jenseits der Oper – gab einen überzeugenden Eindruck mit, der auf einige auch programmatisch ansprechende Konzerte der nächsten Saison 2014/15 viel Appetit macht.




Seltenes zum Verdi-Jahr: Fesselnder „Stiffelio“ in Krefeld-Mönchengladbach

Für einen Augenblick sieht es so aus, als würde er es schaffen, der Papierflieger. Aber dann schmiert er jämmerlich ab. Ein schüchternes Zeichen von Hoffnung stürzt. In der Gesellschaft, in der Lina und Raffaele versuchen, zueinander zu kommen, haben ihre Träume keine Chance. Helen Malkowsky exponiert ihre Version der Verdi-Oper „Stiffelio“ mit diesem Verweis auf eine unlebbare Vision. Sie endet im grellen Licht der Hoffnungslosigkeit.

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Zum Verdi-Jahr 2013 entschied sich das Theater Krefeld-Mönchengladbach gegen den üblichen Reigen aus Rigoletto – Traviata – Troubadour und setzte Verdis bedeutende, aber kaum bekannte Oper „Stiffelio“ auf den Spielplan. Eine Maßnahme, die dem Theater am Niederrhein ähnlich viel Aufmerksamkeit garantiert wie im Frühjahr ein neuer szenischer „Rienzi“ zum Wagner-Jubiläum. Mit Recht, denn unter den deutschen Musiktheatern hält sich die Spielplan-Kreativität in Sachen Verdi sehr in Grenzen.

Das 1850 entstandene Werk ist in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Schon die Uraufführung in Triest war von massiven Problemen überschattet. Eine protestantische Sekte, ein verheirateter Pastor, eine Predigt und eine Beichte auf offener Szene waren für die Zensur inakzeptabel. Von den wenigen Inszenierungen ging nur eine – 1852 im liberalen Venedig – in der ursprünglich vorgesehenen Form über die Bühne. Verdi zog das Werk zurück und verarbeitete die Musik in seiner heute ebenfalls unbekannten Kreuzfahrer-Oper „Aroldo“. Die Mittelalter-Camouflage diente dazu, die Zensur kaltzustellen.

Eine Rarität trotz unverkennbarer Qualitäten

„Stiffelio“ war verschollen und wurde erst 1968 Jahren wieder entdeckt. In Köln gab es 1972 einen ersten Versuch in Deutschland, sich der Oper zu nähern. Doch erst als 1993 eine kritische Edition auf der Basis der in Verdis Villa S. Agata aufbewahrten Autographteile vorlag, waren gültige Inszenierungen von „Stiffelio“ möglich. Auf die deutsche Opern-Szene hatte das keinen Einfluss. Trotz seiner unverkennbaren Qualitäten bliebt „Stiffelio“ eine Rarität. Man arbeitet sich lieber zum hundertsten Mal am unmittelbar danach entstandenen „Rigoletto“ ab.

Beide Werke haben in der Tat einiges gemeinsam: Verdi rückt einen unkonventionellen Helden ins Zentrum; die Liebesgeschichte tritt in ihrer dramatischen Brisanz zurück. Verdi sah, das hat er später noch deutlich angemerkt, im „Stiffelio“ einen der neuen, leidenschaftlichen Stoffe, die er sich so sehnlich gewünscht hatte. Das Libretto Francesco Maria Piaves – Grundlage ist ein allerdings kaum mehr erkennbares französisches Boulevardstück – inspirierte ihn zu frei angelegten Szenen, zu einer subtilen musikalischen Charakterisierung zu diffizilen instrumentalen Details, aber auch zum Vermeiden gassenhauerischer Melodiebildung – aus Sicht der Rezeptionsgeschichte zweifellos ein Hindernis.

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

„Stiffelio“ ist zweifellos Verdis „theologischste“ Oper – und ein Unikum unter den zeitgenössischen Werken. Die Titelfigur, ein protestantischer Pastor mit einer Frau an seiner Seite, war für das italienische Publikum ebenso exotisch wie ein Libretto, das die Fragen nach Schuld und Versöhnung, nach authentischer Liebe und ehelicher Treue im Kontext des Evangeliums stellt. Doch was damals befremdlich wirkte, könnte heute eine Chance sein. Denn „Stiffelio“ gibt uns nicht nur einen tiefen Einblick in die Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts, sondern lässt auch gewisse Schlüsse auf Verdis eigene Religiosität und seine Stellung zum Christentum zu. Und trotz der philosophischen Fragen agieren auf der Bühne, wie immer bei Verdi, lebendige, leidenschaftliche Menschen aus Fleisch und Blut.

Die Vaterfigur spielt eine entscheidende Rolle

Es mag sein, dass die Story von der evangelischen Pfarrersfrau Lina, die während der langen Abwesenheit ihres Gatten dem Werben eines jungen Mannes nachgibt, Verdi besonders berührt hat: Er lebte jahrelang mit seiner späteren Frau Giuseppina Strepponi zusammen, ohne verheiratet zu sein, und hat die moralische Missbilligung in seiner Heimat schmerzlich erfahren. In Verdis Oper werden aber auch zentrale ethische Themen verhandelt: Es geht um „Reinheit“, um „Ehre“, um Rache.

Wie in vielen Verdi-Opern, auch im „Rigoletto“, spielt eine Vaterfigur eine entscheidende Rolle: Der alte Stankar, Linas Vater, ist ein Offizier (man denke an den Vater Luisa Millers), dem die Ehre über alles geht. Mit allen Mitteln versucht er, den Ehebruch seiner Tochter zu kaschieren. Der Patriarch wütet im Namen der Ehre gegen jede barmherzige Lösung, kennt nur eine Konsequenz: die Rache, die er schließlich mörderisch an Linas Verführer Raffaele vollzieht. Der wiederum ist einer der schwachen Verdi’schen Liebhaber, eine Person ohne Profil. Lina dagegen tritt uns als starke Frau entgegen, die nicht bereit ist, sich vom Druck der Gesellschaft und der Männer um sie herum entwürdigen zu lassen. Sie ist sich ihrer Schuld bewusst und verleugnet sie nicht, steht aber dazu, eine „Sünderin“ zu sein.

Zahn um Zahn – oder Barmherzigkeit und Vergebung

Der zerrissene Held, Stiffelio: ein von seiner Mission durchdrungener Prediger und Seelsorger, aber auch ein eifersüchtiger Ehemann. Herausgefordert von der versöhnlichen Botschaft des Evangeliums und der barmherzigen Gestalt Jesu, aber auch erfüllt von rasender Rachgier. Das Programmheft hat den Konflikt auf den Punkt gebracht: Alttestamentliche Vorstellungen von Vergeltung („Zahn um Zahn“), die Verdi in der Institution und der unerbittlichen Morallehre der Kirche seiner Zeit erkannt haben mag – stehen der neutestamentlichen Botschaft des Verzeihens und der Barmherzigkeit gegenüber. In Stiffelios Bekehrung im Finale der Oper mag sich Verdis eigene Glaubenssehnsucht wiedergefunden haben: Heilung statt Rigorismus. Stiffelio schlägt das Johannes-Evangelium auf und liest die Stelle, in der Jesus der Ehebrecherin vergibt: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

Helen Malkowksy zeigt in ihrer Inszenierung eine Gesellschaft, die in ihren Tugendbegriffen gefangen ist wie in den bühnenhohen Mauern von Hartmut Schörghofer. Die Rituale – als Chiffren dienen Tücher – wirken entleert. Immer wieder geht die Gemeinde – der Chor ist von Ursula Stigloher bestens präpariert – wie in einer Front auf Konfrontation; sie distanziert sich, sie grenzt aus. Lina im spießig adretten blauen Kleidchen ist verdammt zur Existenz eines „Blaustrumpfs“: demütig sollen solche Frauen sein, sich unterordnen, keine eigenen Wünsche verfolgen. Izabela Matula gibt der von Schuldkomplexen schwer beladenen Frau, die es sich nicht nehmen lässt, zu sich selbst zu stehen, ein gesanglich bewegendes Profil, dem auch die bisweilen schrillen und engen Töne nichts nehmen.

Der äußere Schein zählt

Eine fesselnde Studie eines zwischen seinen patriarchalistischen Blockaden und seiner inneren Traumatisierung zerriebenen Charakters bietet Johannes Schwärsky als Oberst Stankar. Schwärsky setzt einen machtvollen, aber nicht immer gut fokussierten Bass ein. Mit bewegender Intensität bewältigt er sein Solo zu Beginn des dritten Akts, das man zu den großen psychologisch durchdrungenen und musikalisch avancierten Szenen Verdis zählen darf.

Stankars verkrüppelte linke Hand steht als Zeichen für seinen deformierten Charakter: Er ist der Repräsentant einer Gesellschaft, für die der äußere Schein alles zählt, in der die dunklen Seiten unter den Tisch gekehrt werden: Die Leiche des im rächenden Rausch erstochenen Raffaele wird hastig unter dem Altartisch versteckt; Stankar zieht noch das Tuch ordentlich gerade. An dem Alten lässt sich vielleicht auch ablesen, auf welche Weise Verdi Exponenten des katholischen Glaubens erfahren hat: Unter der Kruste einer nur selektiv akzeptierten christlichen Ethik brodeln atavistische Leidenschaften.

Auch Stiffelio ist von diesen Impulsen geschüttelt: Eben noch von Güte und Nachsicht durchdrungen, packt ihn das Begehren nach Rache, als er erfährt, wer der Verführer seiner Frau ist. Erst der Gesang der Gemeinde aus der Ferne – wie eine innere Eingebung wirkend – bringt ihn zur Besinnung. Michael Wade Lee kann in diesem Moment klar machen, wie schwer es Stiffelio fällt, dem Vorbild des vom Kreuz herab noch verzeihenden Jesus zu folgen. Die Figur macht klar, dass Verdi der Anspruch ehrlich gelebten Christentums bewusst ist, wie er ihn selbst als Maßstab in seinem Urteil anlegt. Nicht durchgehend hat Michael Wade Lee so eindrucksvolle Momente als Sänger und Darsteller: Gerne neigt er dazu, seine kraftvolle Stimme auszustellen, statt sich der Palette der von Verdi vorgegebenen psychologischen Grundierungen zu stellen. Michael Siemon als Raffaele bewegt sich klug im Bereich des Lyrischen; Hayk Dèinyan als Gemeindevorsteher Jorg scheint am Premierenabend nicht gesund gewesen zu sein: Er überzeugt als Darsteller, aber seine wenigen Sätze klingen heiser.

Wie stets klug konzipierend, gelingt es der Regisseurin Helen Malkowksy, die philosophisch-theologischen Fragen mit psychologisch glaubwürdigen, auch im Detail überzeugend gestalteten Personen zu verbinden. Sie will sich der verzeihenden Predigt Stiffelios nicht als Happy End nähern: Ob die Botschaft auf fruchtbaren Boden fällt, bleibt offen. Stiffelio will nicht nur Verzeihen, sondern auch Wahrheit: Während des Gottesdienstes wird das Licht entlarvend hell; schließlich reißt Stiffelio selbst das Altartuch vom Tisch und lässt der schockierten Menge die Leiche Raffaeles sehen. Und im Hintergrund leuchtet kalt und weiß ein Gitter aus Leuchtröhren auf: Werden sich die Menschen aus ihren inneren Gefängnissen befreien?

Mit Mihkel Kütson hat Verdi einen Anwalt am Pult der Niederrheinischen Sinfoniker, der auf differenzierende Detailarbeit Wert legt. Verdi hat den Bläsern viele dankbare charakterisierende Aufgaben gestellt, denen sich die Solisten im Theater in Rheydt gewachsen zeigen. Aber er fordert auch von den Streichern ein Höchstmaß an aufmerksamer Arbeit am expressiven Moment. Dem stellen sich die Sinfoniker anfangs noch etwas wackelig, später mit beträchtlichem Erfolg. Wieder einmal hat das Theater Krefeld-Mönchengladbach unter seinem Generalintendanten Michael Grosse gezeigt, wie anspruchsvolle Theaterarbeit abseits der Aufmerksamkeit heischenden Zentren aussieht. Gut, dass es solche Häuser gibt!




Wagner-Jahr 2013: „Rienzi“ in Krefeld oder das Scheitern eines Ideals

Ein Riss durchzieht die Bühne, mal blutrot leuchtend, mal in giftigem Pink strahlend. Oder ist es eine Fieberkurve, ein Schützengraben, eine Börsengrafik?

Thomas Gruber hat für den Regisseur Matthias Oldag in Krefeld wieder einmal (wie schon bei Poulencs „Dialogues des Carmélites“ in Gera) einen schwarzen Kasten gebaut, dessen Boden und Wände programmatische Texte zeigen: Zeitungsausschnitte über Syrien, die Ukraine – und das Rom vor 800 Jahren. Damals lebten die Päpste im Asyl in Avignon, war das antike und christliche Haupt der Welt zerrissen zwischen machtgierigen Parteien Vieh züchtenden Stadtadels, wurde in unbedeutenden Verhältnissen ein Junge namens Nicola geboren, der später als Cola di Rienzo zu einer der schillerndsten Figuren des späten Mittelalters wurde.

Ein Riss spaltet die gesellschafttlichen Gruppen in "Rienzi" in Krefeld, sinnlich erfahrbar auf Thomas Grubers Bühne. Alle Fotos: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Ein Riss spaltet die gesellschafttlichen Gruppen in „Rienzi“ in Krefeld, sinnlich erfahrbar auf Thomas Grubers Bühne. Alle Fotos: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Die Buchstaben auf der Bühne wollen uns sagen: Hier, in Richard Wagners „Rienzi“, wird ein Ideendrama durchgespielt, hier geht es nicht um Liebe und scheiternde Beziehungen, sondern um Aufstieg und Fall eines Menschen, der eine Idee in sich trägt, sie fanatisch verfolgt und schließlich scheitert: Die gewaltigen roten Buchstaben, die den Namen „Rienzi“ bildeten, liegen im fünften Akt von Wagners Großer Oper wie Trümmer verstreut; der Chor, der sie  beiseite räumt, bildet für einen Moment daraus scheinbar zufällig „INRI“, die Aufschrift auf Jesu Kreuz.

Jesus, Hitler und Rienzi

Rienzi als „politischer“ Christus? Ein Mensch, der sich um eines höheren Ziels, eines Ideals willen opfert? Der wie Jesus aus dem Weg geräumt wird, als er den Mächtigen im Wege steht? Ein Charismatiker, der seine Verführungs-Macht von Gott zu haben glaubt und sich einzig durch den „Himmel“ rechtfertigt? Oldags Bezüge wollen theologisch nicht korrekt sein, aber sie benennen einzelne Aspekte, die sich auch in der Passion Jesu entdecken lassen. Doch sie lassen auch an eine gespenstische Parallele denken, die in einem Text Saul Friedländers im Programmheft angesprochen wird: An die von Hitler und Rienzi, die sich beide von der „Vorsehung“ berufen fühlten und beide als von jedem Zweifel ungetrübte Fanatiker ihre Mission verfolgten.

Die Stoßrichtung von Oldags Krefelder Neuinszenierung der dritten Oper Wagners geht freilich in eine andere Richtung: Es geht um das Scheitern einer humanen Befreiungs-Idee aus äußeren politischen, aber auch inneren psychologischen Gründen. In der Gestalt des – in jedem Moment überlegt und glaubwürdig agierenden – Sing-Schauspielers Carsten Süß ist Rienzi zunächst ein vom Ideal der „hohen Roma“ beseelter Charismatiker, der das Volk befreien will aus der Umklammerung der Orsini und Colonna – düstere Geld- und Machtmenschen, an denen das einzig Edle die Marke ihrer Zocker-Anzüge ist.

Auf dem Höhepunkt der Macht: Carsten Süß als Rienzi und der Chor.

Auf dem Höhepunkt der Macht: Carsten Süß als Rienzi und der Chor.

Dass es vor allem um viel Geld geht, will der vierte Akt zeigen: Die Abwärtskurve der Kurse und die fallenden Notierungen bilden den Rahmen, in dem sich die Nobili und die vordem von Rienzi aus ihrer Umklammerung befreite Kirche in Gestalt des päpstlichen Legaten (Matthias Wippich) gegen den Tribun verschwören. Die zunehmende Fanatisierung Rienzis, die das Konzept des freien Rom zunehmend zu einer politischen Idée fixe degenerieren lässt, bleibt angesichts der massiven Kürzungen nur skizzenhaft wahrnehmbar: Jede Bühne, die das monumentale Sechseinhalb-Stunden-Stück Wagners bringen will, steht vor diesem Problem. Aber es passt auch zum Konzept: Es liegt nahe, dass Oldag in Rienzi eher die scheiternde politische Utopie Wagners im vorrevolutionären Deutschland entdecken will. Oder, grundsätzlicher genommen, die misslingende Idee einer Erlösung einer Gesellschaft vom Bösen. Das hat ja, politisch gesprochen, nicht einmal Jesus geschafft.

Aus Oldags Sicht ist es somit auch sinnvoll, die privaten Stränge der Handlung, vor allem die Liebesgeschichte zwischen Irene und dem zur Feind-Partei gehörenden Adriano Colonna, nur marginal anzudeuten. Immerhin belässt er Adriano seine wundervolle Szene im Dritten Akt, die den 29jährigen Wagner auf der Höhe psychologisch-musikalischer Charakterisierungskunst seiner Zeit zeigt – eine Fähigkeit, die freilich schon zehn Jahre zuvor in den „Feen“ weit entwickelt war. Mit Eva Maria Günschmann steht die beste Sängerin des Abends auf der Bühne: eine schlanke Gestalt, auch in der Stimme ohne pseudo-dramatische Verdickung, gesegnet mit einem adeligen Timbre und soliden technischen Grundlagen.

Das Ende eines Narrenkönigs

Rienzi endet als Narrenkönig: Die Königskrone, die er im ersten Akt zurückweist – er will lediglich „Tribun“ sein –, setzen ihm die Nobili als Parodie aus glänzender Pappe aufs Haupt. Wie der Gottesnarr in Mussorgskys „Boris Godunow“ irrt er durch den blutroten Graben, der sein Rom spaltet. Am Ende steht das Feuer: Rienzi und seine Schwester Irene werden mit Benzin übergossen; jemand gibt ihm ein Feuerzeug in die Hand, ein roter Vorhang fällt …

Untergang im Feuer - ein beziehungsreiches Bild, auch zur Rezeptionsgeschichte des Werks, das Hitlers Lieblingsoper war.

Untergang im Feuer – ein beziehungsreiches Bild, auch zur Rezeptionsgeschichte des Werks, das Hitlers Lieblingsoper war.

Ist er Zufall, der Gedanken an die Verbrennung von Hitlers Leiche im Hofe der Reichskanzlei, mitten im finalen Feuer auf Berlin? Und damit der behutsame Verweis auf die unglückliche Rezeptionsgeschichte des „Rienzi“ als Hitlers Lieblingsoper und Begleitmusik zu den Nürnberger Parteitagen? Philipp Stölzl hat in seiner Berliner Inszenierung die Parallelen zwischen Rienzi und modernen Diktatoren drastisch herausgestellt. Dass sich Oldag und seine Kostümbildnerin Heike Bromber nicht auf diesen Weg einlassen, nimmt seiner Inszenierung nichts an Brisanz. Nicht immer führt eine explizitere Bildsprache auch zu überzeugenderen Ergebnissen.

Ausschweifender Zugriff auf musikalische Mittel

Musikalisch gibt es viel Lärm zu vermelden: Das liegt an der Instrumentierung, aber auch an Mihkel Kütson, der das gut aufgelegte Orchester die hochfliegende Musik mit aller Inbrunst und ungehemmtem Willen zum Glanz spielen lässt. Es liegt auch an Wagners ausschweifendem Zugriff auf alle musikalischen Mittel seiner Zeit: Aubers Hymnen und Gebete aus „La Muette du Portici“, Halévys groß angelegte Finali in „La Juїve“, Bellinis krachende „Norma“-Chöre, Rossinis Feuer aus „Guillaume Tell“. Und dazwischen immer wieder Vorboten seiner Weiterentwicklung in Richtung der „Tannhäuser“-Romantik. Manchmal hätte Kütson den Furor des Wagner’schen Totalitarismus bremsen sollen; die anfangs erhaben-gluckisch gedehnte Ouvertüre wird zu rasch zu laut und kennt dann keine Steigerung mehr. Und Sänger wie die arg kopfig-enge Anne Preuß (Irene) haben gegen die Klangüberflutung keine Chance.

Krefeld schafft es tatsächlich, die Riesenpartien des Stücks ansprechend zu besetzen: Carsten Süß meistert sein Grundproblem mit einer wenig resonanzreichen Höhe und punktet vor allem mit psychologisch begründeten Klangschattierungen im Zentrum. Hayk Dèinyan ist als Steffano Colonna ein unheimlicher Finsterling, dessen standardisierter Geschäftsleute-Dress die häßlich enthumanisierte Gier nur mühsam verhüllt; auch sein grollend dumpfer Bass passt zu dieser Rolle. Der andere Clanchef, Paolo Orsini, wirkt bei Andrew Nolen eher wie ein abgedrehter Ex-Hippie, der seine langen Haare behalten und seine Brust mit billigen Blechorden behängt hat. Walter Planté und Thomas Peter überzeugen mit durchsetzungsfähigen Stimmen als beflissene Stützen der Macht. Maria Benyumova löst die gewaltige Aufgabe, den Chören Format zu geben, mit glücklicher Hand.

In Krefeld wird momentan unter Generalintendant Michael Grosse ehrgeiziges Musiktheater gemacht: „Rienzi“ ist die einzige Neuinszenierung des Wagner’schen Frühwerks in diesem Jubiläumsjahr im deutschsprachigen Raum; lediglich in Rom kommt im Mai dieses ur-römische Thema noch auf die Bühne. Das verdient angesichts der lahmenden Wagner-Routine an manch großem Haus Hochachtung. Aber „Rienzi“ ist – und das spricht noch mehr für Krefeld-Mönchengladbach – ein Glied in einer Kette, zu der solche Perlen wie Tschaikowskys „Mazeppa“, Nielsens „Maskarade“, Puccinis „Suor Angelica“ und „Le Villi“ und die „Lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus gehören: Ein Spielplan, dem in seiner vielfältigen Entdeckerfreude nur wenige andere Theater an die Seite zu stellen sind.




Tschaikowskys „Mazeppa“ in Krefeld: Triste Orte ohne Ausweg

Diese Liebe freut sich schwärmerisch auf ihre Erfüllung. Aber sie erreicht, wie so oft bei Tschaikowsky, ihr Ziel nicht. Gegen sie steht nicht nur ein verbohrter Vater, sondern auch eine politische Intrige. Und am Ende regieren Tod, Wahnsinn, Leere. Piotr Iljitsch Tschaikowskys Thema ist immer wieder die unkonventionelle Liebe: So ist es in „Eugen Onegin“, so ist es auch in „Mazeppa“. Das selten aufgeführte Werk steht in dieser Spielzeit in Krefeld auf dem Programm.

Eine kluge Wahl, mit der sich der neue GMD Mihkel Kütson vorstellt und sofort Interesse weckt: Der estnische Dirigent, der bisher GMD am Landestheater Schleswig-Holstein war, wählt keines der üblichen „Chefstücke“ für sein Entrée. Das ist sympathisch und lässt am Niederrhein auf frischen Wind hoffen.

„Mazeppa“ ist nach „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ die dritte Puschkin-Vertonung Tschaikowskys, die am Krefeld-Mönchengladbacher Haus gezeigt wird. Die pessimistischen Sujets, die an der traurigen Verfassung der menschlichen Seele keinen Zweifel lassen, kamen dem homosexuellen Komponisten, der zeitlebens um innere Stabilität und äußere Akzeptanz rang, offenbar sehr entgegen. Das Biografische spielt bei Tschaikowsky – auch in den späten Sinfonien – eine gewichtigere Rolle als bei anderen Komponisten.

Die Liebe zwischen der blutjungen Tochter eines Großgrundbesitzers und dem wesentlich älteren Mazeppa scheitert zunächst am Einspruch des entsetzten Vaters, der in der ehrlichen Liebe der beiden Menschen eine Verirrung und in dem Kosakenführer einen Lüstling sieht. Die beiden setzten sich gegen Kotschubej, den Vater, durch: Maria verlässt ihre Familie, zieht mit ihrem Geliebten weg. Doch sie will nicht akzeptieren, dass sie hinter Mazeppas politischen Ambitionen zurückstehen soll.

Zum inneren Bruch kommt es, als Mazeppa ihr die Hinrichtung ihres Vaters eröffnet: Kotschubej hatte dem Zaren Mazeppas Pläne für die Unabhängigkeit der Ukraine verraten, ist aber Opfer seiner eigenen Intrige geworden. Der Machtmensch zögert nicht, den Vater Marias seinem nationalen Ehrgeiz zu opfern. Doch der Aufstand gegen den Zaren scheitert …

Unwirtliche Orte der Gewalt: Die Bühne Kathrin-Susann Broses thematisiert das Gefangensein. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Unwirtliche Orte der Gewalt: Die Bühne Kathrin-Susann Broses thematisiert das Gefangensein. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Tschaikowsky, der das Libretto weitgehend selbst erarbeitet hat, kann an diesem Stoff alle Aspekte seiner musikalischen Charakterisierungskunst ausleben: Sie reicht von der wehmutsvollen Lyrik, wie wir sie von der jungen Tatjana („Eugen Onegin“) kennen, bis hin zu kraftvollen Eruptionen von Wut, Enttäuschung, Rache und Aggression. In der Instrumentation zeigt sich Tschaikowsky auf der Höhe seines Könnens. Die ergreifenden, von russischer Kirchenmusik-Tradition grundierten Chöre (Maria Benyumova) erinnern an den zehn Jahre vor „Mazeppa“ uraufgeführten „Boris Godunow“: Tschaikowsky hat in seiner Oper von 1884 nicht nur einen historischen Stoff aus der russischen Geschichte gewählt, sondern scheint sich auch musikalisch mit dem Vorwurf einer zu westlich orientierten Musiksprache auseinanderzusetzen.

Kütson spornt das Orchester an, seine Klang-Konzeptionen aufzunehmen. Die wuchtigen Momente der kriegerischen Aktion, das Schlachtengemälde des Zwischenspiels zum Dritten Akt, die unruhevollen „Reiterfiguren“ der Ouvertüre spielen die Symphoniker mit Energie und Engagement. Wird es ruhiger und leiser, sind Piano-Schattierungen oder Mezzoforte-Delikatesse gefragt, poltern die Orchestergruppen oft weiter, lassen auch den elegisch-eleganten Tschaikowsky-Tonfall vermissen. Mihkel Kütson wird in Krefeld noch Aufbauarbeit zu leisten haben.

Mit dem Mazeppa Johannes Schwärskys steht ein kraftvoller Mann auf der Bühne, der zu herrischer Entschlossenheit wie zu sehnsuchtsvoller Nachdenklichkeit, zum Liebesschwur wie zum Rachebekenntnis den richtigen Ton findet. Seine große Soloszene im zweiten Akt gestaltet er emotional facettenreich. Schwärsky erhellt mit stimmlichen Mitteln die komplexe Psyche dieses Helden, der sich zur gescheiterten Figur entwickelt. Anders Heik Dèinyan als Kotschubej, der trotz beeindruckender Tiefe und manch berührender Stelle – vor allem im Angesicht des Todes – seinen Bass nicht aus einer gewissen Befangenheit befreien kann.

Freies, lockeres Singen hört man auch von Satik Tumyan als Mutter nicht. Sie gibt der Figur der Ljuboff ein treffendes darstellerisches Profil, zeigt ihren Stolz, ihre Hilflosigkeit, ihre innere Not. Aber bruchlose Registerwechsel und Flexibilität gehen ihr ab. Mit Carsten Süß steht ein Tenor auf der Bühne, der den dramatischen Momenten seiner Partie durchaus gewachsen ist. Aber sein Andrej bleibt in der Höhe stumpf; der Ton will nicht gut gestützt erblühen.

Izabela Matula, neu engagiert, hat als Maria im ersten und dritten Akt Momente, die aufhorchen lassen: mädchenhaftes lyrisches Leuchten, die selbstvergessen sich weiterspinnenden Phrasen des Endes, das berührende Wiegenlied. Im zweiten Akt geht ihr die Stimme öfter vom Atem, wird flach und unstet. Zudem verordnet ihr die Kostümbildnerin Alexandra Tivig strenge Frisur und Kluft einer Funktionärin, während sie im letzten Akt das aufgelöste Haar einer Lucia di Lammermoor der russischen Steppe tragen muss. Facetten der Figur erschließt das schwerlich.

Die Inszenierung ist Helen Malkowksy anvertraut, die in Nürnberg einen komplexen „Fliegenden Holländer“ und Reimanns „Melusine“ mit viel Sensibilität auf die Bühne gestellt hat. Seit 2010 ist sie am Theater Bielefeld unter anderem mit Brittens „Peter Grimes“ hervorgetreten. Eine gute Wahl, denn Malkowsky weiß die Geschichte spannend zu erzählen, ohne auf dieser Ebene steckenzubleiben. Ihr dominierendes Motiv ist das Gefangensein, das sie bereits während der Ouvertüre thematisiert: Kotschubej vegetiert bereits hinter Gittern; das Geschehen entwickelt sich wie aus einer Rückblende heraus. Der stolze, starre Patriarch ist ein Gefangener seiner selbst, noch bevor er zum politischen Häftling wird.

Orangefarbene Girlanden, Bänder und Accessoires zitieren die ukrainische „orange Revolution“ von 2004. Sie brechen das dominierende Graublau auf, mit dem Kathrin-Susann Brose ihre Bühne als einen Ort der Tristesse und des äußeren und inneren Elends kennzeichnet. Gefängnisgitter, Kerkertüren: An diesem Ort gibt es kein Entrinnen. Vergeblich die Träume, die Helen Malkowsky mit dem Bild einer Sternennacht eher vorsichtig andeutet als aufdringlich vorzeigt. Friedliche Naturbilder an der Wand von Mazeppas Büro wandeln sich zu gespenstisch drohenden Erscheinungen.

Hoffnungslose Zerstörung: Der dritte Akt von Tschaikowskys "Mazeppa" in Krefeld. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Hoffnungslose Zerstörung: Der dritte Akt von Tschaikowskys "Mazeppa" in Krefeld. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Am Ende trägt Maria in ihrem Wahnsinn das Sternenbild mit sich – Symbol verlorener Hoffnung, eines zerstörten Traums. Mazeppa verabschiedet sich mit den lapidaren Worten „gehen wir“ in den Tod durch eigene Hand. Die zunehmende Verrohung dieser Gesellschaft zeigt Malkowsky in immer eindringlicheren Konfrontationen, die bis zur Vergewaltigung Marias durch einen Trupp Soldaten reichen. Der Abgrund der Hoffnungslosigkeit reißt auf; die letzten Spuren der Liebe verwehen im Wiegenlied der Maria für ihren sterbenden Jugendfreund Andrej.

Malkowksy gelingt es, mit „Mazeppa“ eine überzeitliche Parabel über Menschen zu erzählen, die Opfer ihrer selbst und ihrer Zeit werden: gefangen in sich selbst und verstrickt in ihre Leidenschaften, die mit dem dumpfen Druck des Unausweichlichen auf ihnen lasten und doch von ihnen selbst entfesselt werden. Eine sehenswerte Spielzeit-Eröffnung, die für die Premieren von Puccinis „Suor Angelica“ und „Le Villi“ im Januar und „Rienzi“ im März 2013 viel hoffen lassen. Und nicht vergessen: Mit Bellinis „Norma“, inszeniert von Thomas Wünsch, der im Mai 2012 so unerwartet verstarb, wird in Mönchengladbach noch eine Produktion gezeigt, die man nicht verpassen sollte!