Auch ohne Bundesinstitut: Essen will Maßstäbe in der Fotokultur setzen

Sein Nachlass kommt nach Essen: Fotograf Michael Schmidt (1945-2014), hier in seiner Ausstellung „Waffenruhe“ im Essener Museum Folkwang, aufgenommen am 9. Februar 1988. (© Marga Kingler/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Essen als d i e deutsche Fotografie-Stadt? Nun ja, es ist kompliziert. Nach politischem Willen, insbesondere auf Bundesebene, wird das noch zu gründende Deutsche Fotoinstitut eben nicht in der Ruhrstadt, sondern in Düsseldorf angesiedelt. Doch just heute ging man in Essen an die Öffentlichkeit, um kundzutun, dass man auch so gehörige Pflöcke einschlagen kann: Das hochkarätige Archiv Michael Schmidt, Nachlass eines prägenden Fotografen des 20. Jahrhunderts, kommt im Herbst aus Berlin dauerhaft in die Fotografische Sammlung des Museums Folkwang.

Da erhob sich im Verlauf der Pressekonferenz gar die Frage, ob Düsseldorf angesichts solcher Entwicklungen vielleicht nur noch die zweite Geige spielen werde. Nun aber mal halb lang! Folkwang-Museumschef Peter Gorschlüter legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, dass die Essener mit dem künftigen Bundesinstitut und anderen fotografischen Einrichtungen einvernehmlich kooperieren wollen – und das in guter föderalistischer Tradition. Gorschlüter gehört zur Gründungskommission des Deutschen Fotoinstituts und vertritt von daher nicht ausschließlich Essener Interessen, sondern nimmt eine übergeordnete Perspektive ein. Er mag sich nicht einmal andeutungsweise zu Äußerungen über den vormaligen Konkurrenten Düsseldorf verleiten lassen.

Neuer Verein bündelt kulturelle Anstrengungen

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen fasste es so: Die Stadt habe sich „redlich und engagiert“ um den Standort des Fotoinstituts bemüht. In der nun einmal gefällten Entscheidung für Düsseldorf sehe er keinen Fehlschlag. Überdies sei kaum eine deutsche Region seit Erfindung der Fotografie gründlicher ins Bild gesetzt worden als das Ruhrgebiet. Man könnte anfügen: Das Revier ist ja auch nicht so furchtbar weit von der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf entfernt.

Unterdessen hat sich in Essen ein Zusammenschluss gewichtiger Institutionen formiert, der hier Anstrengungen zur fotografischen Kultur bündeln soll. Das Ruhr Museum auf Zeche Zollverein zählt ebenso zum erlesenen Kreis wie das Historische Archiv Krupp, die Folkwang Universität der Künste und eben das Museum Folkwang. Neuerdings (genauer: seit 31. Januar) agieren sie zusammen als gemeinnütziger Verein mit Sitz im markanten SANAA-Gebäude auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein. Auch dieses „Zentrum für Fotografie Essen“ ist ein Statement.

Bedeutsamer Nachlass kommt von Berlin nach Essen

Vor diesem Hintergrund darf die bevorstehende Überführung des Archivs Michael Schmidt als bedeutsames Signal gelten. Der Fotograf, der von 1945 bis 2014 gelebt hat, hatte schon sehr früh und fortan recht häufig Ausstellungen in Essen, wo er – in der Tradition eines Otto Steinert – zeitweise auch eine Lehrtätigkeit ausgeübt hat. Zentraler Ort seines bildnerischen Schaffens war allerdings Berlin, wo in Kreuzberg nach und nach ein bestens aufgearbeitetes Archiv seiner Werke entstanden ist. Folkwang-Direktor Gorschlüter über den wertvollen Nachlass: „Wir übernehmen also keine Bananenkisten.“

Schon jetzt hat man im Depot eine spezielle Ebene vorbereitet, auf der das Archiv Platz finden wird. Das Schmidt-Konvolut kommt als Dauerleihgabe nach Essen – vorläufig bis zum 31. Dezember 2039, sodann mit Verlängerungs-Option bis 2045, wenn sich Michael Schmidts Geburtstag zum 100. Mal jährt. Auch danach sind Vertrags-Verlängerungen möglich. Zur Bedeutung des Werks nur diese Stichworte: Nach schwierigen Anfängen brachte es Michael Schmidt zu einer internationalen Fotokunst-Laufbahn, die bis hin zu einer großen Retrospektive im Museum of Modern Art (MoMa) in New York führte. Zu seinen bekanntesten Schülern gehört Andreas Gursky.

Kein Ankauf, sondern großzügige Dauerleihgabe

Wie Peter Gorschlüter erläuterte, handelt es sich nicht um einen Ankauf, sondern um eine großzügige Überlassung durch die „Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt“, eine Einrichtung des finanzkräftigen Sparkassen- und Giroverbandes. Mit der Übergabe ans Museum Folkwang gelangt der Nachlass in öffentliche Obhut. Weitere Vergünstigung: Das Copyright an den Fotografien geht für die Dauer der Leihgabe ans Essener Museum über, kann also womöglich lukrativ genutzt werden. Außerdem stellt die Stadt Essen in diesem und wohl auch im nächsten Jahr je rund 250000 Euro bereit, um die Übernahme zu begleiten.

Schmidts Nachlass umfasst u. a. 107 Ordner mit Negativen, etwa 2000 Prints mit Werkcharakter sowie rund 20000 Kontakt-, Arbeits- und Testabzüge. Hinzu kommen umfangreiche Fachbibliotheken. Künftig wird all das für Forschungsarbeiten an der Folkwang Universität der Künste zur Verfügung stehen. Gut denkbar, dass der Bestand eine Art Magnetwirkung ausüben und weitere Sammlungen nach sich ziehen wird.




Pläne im Museum Folkwang: Digitale Abenteuer, Ideen für Krisenzeiten

In der digitalen Welt: Rafaël Rozendaal „much better than this, 2006″, Multimedia-Installation, Times Square, New York City, 2015. (© Rafaël Rozendaal / Upstream Gallery, Amsterdam)

Das Jubiläumsjahr neigt sich dem Ende zu: Essens Museum Folkwang besteht seit 100 Jahren und hat den Anlass vielfältig begangen, u. a. mit der opulenten Kunstschau „Renoir, Monet, Gauguin“, aber auch mit etlichen Festivitäten und Aktionen im Stadtgebiet, worauf Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter besonderen Wert legt – ebenso wie auf Nachhaltigkeit, die sich neuerdings in Photovoltaik auf den Flachdächern des Museums manifestiert.

Derart viel „Wumms“ (sagt man heute manchmal so) wird es 2023 wohl nicht geben können. Derweil erfordert es einige Phantasie, um sich Details zum einen oder anderen Projekt überhaupt vorzustellen.

Da wäre etwa eine Ausstellung des Niederländers Rafaël Rozendaal (21. April bis 20. August 2023), der in New York lebt und als Digital-Künstler von sich reden macht. Als eines der ersten Institute wagt sich das Museum Folkwang dabei aufs Terrain der „NFT“-Kunst, die sich aus der ihrerseits nicht leicht zu begreifenden Blockchain-Technologie herleitet und sich noch im Pionierstadium befindet.

Die Abkürzung NFT steht für „Non Fungible Token“ (ungefähr: „nicht austauschbare Wertmarke“) und bezeichnet digitale Dateien, denen vertragsähnliche Merkmale implementiert werden, so dass die entsprechenden Kunstwerke nicht frei im Netz schweben, sondern als Besitz existieren, der eindeutig zugeordnet werden kann. Einstweilen klingen die Pläne etwas kryptisch, so werden im Museum „Transit-Räume“ eingerichtet. Lassen wir uns überraschen, was sich hinter all dem verbirgt und wie es zu vermitteln ist. Thomas Seelig vom Folkwang-Leitungsteam (Spezialgebiet: fotografische Sammlung) findet jedenfalls, dass sich die Museen zur aufkommenden NFT-Kunst positionieren sollten, es betreffe ja auch die Zukunft ihrer Sammlungs-Tätigkeit. Wir werden sehen.

Henri Matisse: „Icare“ (Ikarus), Blatt 1 aus dem Portfolio „Jazz“ (1947), Druckgrafik, 42 x 65,5 cm (© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Beinahe konventionell mutet demgegenüber eine Ausstellung an, die wiederum mit drei berühmten Künstlernamen umschrieben wird: „Chagall, Matisse, Miró – Made in Paris“. (1. September 2023 bis 7. Januar 2024). Aber was heißt in diesem Kontext schon konventionell? Diese und andere Künstler erprobten seit Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls neuartige Strategien, die ihrer Zeit voraus waren. Es geht um Mappenwerke, Editionen und Künstlerbücher, deren Urheber auf weite Verbreitung (Fernziel: „Kunst für alle“) abzielten. Im Vordergrund steht Druckgraphik, die u. a. durch Zeitschriften in hohen Auflagen verbreitet wurde. Herausragende Beispiele sind Henri Matisse mit seiner Scherenschnitt-Mappe „Jazz“ oder Marc Chagall mit einem Zyklus um die antiken Gestalten „Daphnis und Chloé“. In jenen Jahren wurden, zumal in Paris, immer mehr auf künstlerische Druckgraphik spezialisierte Werkstätten gegründet, die unternehmerisch arbeiteten und Gewinn anstrebten. Vereinzelt existieren sie bis heute. Auch dieser Aspekt soll ausführlich dargestellt werden.

Die vielleicht aufwendigste Ausstellung des nächsten Jahres erfordert wiederum Vorstellungsvermögen, sie heißt „Neue Gemeinschaften“ (ab 24. November 2023) und blickt zurück auf utopische Lebensentwürfe in den Künsten und sozialen Bewegungen der letzten 120 Jahre. Vielleicht sind ja Energien zu entdecken, die auch in der heutigen Krisenzeit Impulse geben können. Es erhebt sich also die gewaltige Frage, wie wir künftig leben wollen, ohne den Planeten weiter zu zerstören.

Der Reigen beginnt mit frühen Lebensreform-Ideen (Stichwort Kolonie Monte Verità) im erhofften Einklang mit der Natur. Ferner geht es um die kristalline Bauweise der Architektur-Gruppierung „Gläserne Kette“ in den 1920er Jahren, um die Hippie-Kultur der späten 1960er Jahre, um „Afro-Futurismus“ und um Überwindung des Menschen-Zeitalters („Anthropozän“). Ganz recht: Was all das zu bedeuten habe, wird sich – so oder so – wohl erst vollends in der Ausstellung zeigen können. Die Pläne klingen nach geistigem Abenteuer und nach tastender Suche.

Übrigens wird auch noch in diesem Jahr eine bemerkenswerte Ausstellung eröffnet: Am 2. Dezember beginnt im Museum Folkwang eine Retrospektive zu Helen Frankenthaler (1928-2011), die als eine Leitfigur der Farbfeldmalerei und des Abstrakten Expressionismus gilt.

Weitere Infos, auch zu Plänen der fotografischen Abteilung:
www.museum-folkwang.de

P. S.: Und wie wappnet sich das Museum gegen Attacken mit Kartoffelbrei und sonstigen Substanzen? Mit Taschenkontrollen – und mit weiteren Maßnahmen, die man nicht öffentlich ausposaunt. Außerdem, so heißt es, stehe man im vertrauensvollen Dialog mit Klima-„AktivistInnen“.




Zum 100-jährigen Bestehen: Museum Folkwang lockt 2022 mit Impressionisten – und anderen Highlights

Kommt mit etlichen weiteren Bildern aus Japan nach Essen: Claude Monet „Sur le bateau (Jeunes filles en barque)“ – „Im Boot (Junge Mädchen im Ruderboot)“, 1887. Öl auf Leinwand (The National Museum of Western Art, Tokyo, Matsukata Collection)

Stolze 100 Jahre alt wird das Essener Museum Folkwang anno 2022. Zum Jubiläum haben der Museumsleiter Peter Gorschlüter und sein Team einiges vor, doch eine Ausstellung überstrahlt wohl alle anderen Projekte: „Renoir, Monet, Gauguin. Bilder einer fließenden Welt“ (ab 6. Februar 2022) dürfte eine jener Schauen werden, die – wenn nichts Arges dazwischenkommt – die magische Besuchsmarke von 100.000 übertreffen.

Just 1922, also vor bald 100 Jahren, wechselte die phänomenale Sammlung des Mäzens Karl Ernst Osthaus von Hagen nach Essen. Für Hagen war es ein bis heute nachwirkender, äußerst schmerzlicher Verlust, für Essen ein geradezu triumphaler Zugewinn.

Osthaus und sein ebenso kunstsinniger japanischer Zeitgenosse

Wenn demnächst in Essen rund 120 Werke des Impressionismus und seiner Ausläufer zu sehen sein werden, hat dies einen besonderen, quasi globalen Hintergrund: Etwa zeitgleich mit Osthaus tat sich der japanische Sammler Kojiro Matsukata in Europa und hier insbesondere in Paris um. Der Mann, der ein Schiffbau-Unternehmen betrieb, hatte es vor allem auf Impressionisten abgesehen – ganz ähnlich wie Osthaus.

Es mag durchaus sein, dass die beiden Sammler einander damals bei befreundeten Künstlern begegnet sind oder simultan dieselben Ausstellungen besucht haben. Es ist halt nur nicht überliefert. Jedenfalls werden in Essen Spitzenwerke aus beiden Sammlungen vereint. Zum großen Teil kommen die kostbaren Stücke aus Japan erstmals seit den 1950er Jahren wieder nach Europa. So kehrt auch Paul Signacs „Saint-Tropez“ (1901/1902), einst im Folkwang-Besitz, aus Japan erstmals wieder nach Essen zurück; auf Zeit, versteht sich.

Auf Zeit aus Japan nach Essen zurück: Paul Signac „Saint-Tropez“, 1901/02 – Der Hafen von Saint-Tropez, Öl auf Leinwand (The National Museum of Western Art, Tokyo, ehemals Museum Folkwang, Hagen/Essen)

In diesem Umfang ist die von Nadine Engel kuratierte Ausstellung nur möglich, weil das „National Museum of Western Art“ in Tokyo (ein 1959 eröffneter Bau nach Plänen von Le Corbusier), das die Schätze von Matsukata beherbergt, gründlich renoviert wird und daher geschlossen ist. Also kann das Haus etliche Werke verleihen – neben den im Titel genannten Künstlern sind u. a. auch Manet, Cézanne, Van Gogh und Rodin vertreten. Essen wird sich späterhin mit der leihweisen Gegengabe von rund 40 Meisterwerken bedanken, die im dann renovierten Tokyoter Museum gezeigt werden.

Plakate, Fotografie, Expressionisten, Helen Frankenthaler

1939 befand sich der Kernbestand der japanischen Sammlung in Frankreich und wurde als Feindbesitz (Kriegsgegner Japan im Zweiten Weltkrieg) vom französischen Staat beschlagnahmt. Vieles, doch nicht alles wurde hernach restituiert. Einige Lücken füllt nunmehr das Pariser Musée d’Orsay als weiterer Leihgeber. Man darf den Sensations-Begriff nicht leichtfertig bemühen, doch in diesem Falle…

Gehört zur Expressionisten-Ausstellung: Ernst Ludwig Kirchner „Tanzpaar“, 1914, Öl auf Leinwand (Museum Folkwang, Essen – Foto Jens Nober)

Ein paar weitere Jubiläums-Vorhaben sollen nicht unerwähnt bleiben: Unter dem passend appellierenden Titel „We want you!“ wird Plakat- und Werbekunst von den Anfängen bis heute ausgebreitet (ab 8. April 2022). Mit „Folkwang und die Stadt“ will sich das Museum mitten in die Stadtgesellschaft begeben, vorwiegend mit ortsbezogenen Kunstaktionen (ab 21. Mai), die derzeit noch entwickelt werden. „Expressionisten am Folkwang. Entdeckt – verfemt – gefeiert“ widmet sich einem zweiten Schwerpunkt der Sammlertätigkeit von Karl Ernst Osthaus (ab 20. August).

„Image Capital“ heißt ein Projekt, das – zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelt – Strategien und Techniken der Fotografie behandelt. Auch Themenbereiche wie Apps, Gaming, Simulation, Archivierung und manche Dinge mehr kommen dabei in Betracht (ab 9. September). Essen macht sich derweil berechtigte Hoffnungen auf die Gründung eines Deutschen Fotoinstituts daselbst, konkurriert aber immer noch mit Düsseldorf.

Schließlich wird es ab 2. Dezember 2022 eine Retrospektive zum Werk der abstrakten Expressionistin Helen Frankenthaler (1928-2011) geben. Museumschef Peter Gorschlüter findet, es sei „höchste Zeit“, das einflussreiche Werk der US-Amerikanerin wieder in den Blick zu nehmen, das seit Jahrzehnten in Deutschland nicht mehr ausgiebig präsentiert wurde.

Kein Zweifel: Die Kunsthäuser der anderen Revierstädte werden sich anstrengen müssen, um im nächsten Jahr neben den Essener Glanzpunkten zu bestehen.




Martin Kippenberger und die Arena des Lebens-Wettkampfs – zwei Ausstellungen in Essen

Sportfeld mit „Wimmelbild“: Essener Ausstellungsansicht von Martin Kippenbergers Installation „The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika'“ (Museum Folkwang, Essen, 2021 – © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Simon Vogel)

Um einen flapsigen Spruch war Martin Kippenberger (1953-1997) nie verlegen. Von ihm stammt z. B. der Nonsens-Reim „Jetzt geh ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald.“ Vor allem aber sprudelten seine künstlerischen Ideen wie aus einem Füllhorn hervor.

Manchmal hat sich Kippenberger auch Zeit genommen und über Jahre hinweg am selben Projekt gearbeitet. Was daraus werden konnte, ist nun im Essener Museum Folkwang zu besichtigen: „The Happy End of Franz Kafka’s ‚Amerika‘“ heißt dieses Opus magnum, das sich auf einem 20 mal 23 Meter großen Fußballfeld erstreckt. Man kann entweder außen herum gehen oder seitwärts auf zwei Tribünen Platz nehmen.

Zu sehen sind 50 Tisch-Stuhl-Kombinationen, 32 Einzelstühle, Skulptur-Elemente, verschiedene Wachtürme und Hochsitze, dazu Videos, u. a. mit Cheerleader-Anfeuerungen. Folkwang-Chef Peter Gorschlüter findet, dass man das Ganze zuerst als „Wimmelbild“ wahrnimmt, bevor man sich auf die vielen Einzelheiten konzentrieren kann. Im Katalog wird jedes der vielen Ensembles näher erläutert. Jegliches Detail (einige Elemente stammen von befreundeten Künstler*innen) hat seine Geschichte, seinen Deutungs-Spielraum.

Auf Schienen rund ums Spiegelei: weitere Kippenberger-Installationsansicht aus Essen. (Museum Folkwang, Essen, 2021 – © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Simon Vogel)

Wenige Stichworte: Ein von Kippenberger verwendeter Aldo-Rossi-Stuhl, Ikone modernen Designs, wurde gezielt durchlöchert – eine Reminiszenz an schusswütige Western-Filme. Auf einer Art Kinder-Karussell fahren Schleudersitze im Kreis, rund um ein riesiges Spiegelei. Ein Tisch ist jenem nachempfunden, an dem Robert Musil seinen Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ verfasst hat. Ein weiteres Gebilde greift einen Sketch von Karl Valentin auf, der Schreibtischbeine so lange passend zurechtsägen wollte, bis praktisch nichts mehr übrig war. Und so weiter…

Der „Happy End“-Titel spielt auf Franz Kafkas Romanfragment „Der Verschollene / Amerika“ an. Dessen Hauptfigur Karl Roßmann muss sich in rätselvoller Fremde zurechtfinden. All die Tische und Stühle simulieren denn auch gleichzeitige, massenhafte Einstellungsgespräche mit höchst ungewissem Ausgang. Das stellenweise gespenstische, jedoch mit luzidem Witz funkelnde Großwerk erweist sich als Sinnbild des Lebens als Wettkampf, des unsicheren Ankommens in der Fremde, der permanenten Überwachung.

In der altehrwürdigen Villa Hügel begibt sich das zweite, deutlich stillere Kippenberger-Ereignis. Hier werden zwei Werkgruppen gewürdigt: Plakate und Künstlerbücher.

Die 100 Plakate aus dem Kippenberger-Kosmos nehmen sich im überaus gediegenen Ambiente der einstigen Krupp-Villa wie kleine Nadelstiche aus. Früher hätte das Ganze für einen Skandal getaugt. Inzwischen weiß man längst, dass Kippenberger seinerzeit der Richtige war, um den Kunstbetrieb provozierend auf Trab zu bringen. Auf gar spezielle Weise ist er, dem erst posthum große Ausstellungen gewidmet wurden, heute nobilitiert.

Kippenberger-Plakat in der Villa Hügel: „Gib mir das Sommerloch“ (Galerie Klein, Deutschland, Bonn, 1986 – Siebdruck, 83,8 x 59,5 cm) (© Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Jens Nober, Museum Folkwang)

Selbst seine beißend spöttischen Plakate sind heute fast schon nostalgische Anlässe zum Lächeln: Nein, wie rotzfrech er doch gewesen ist! Ganz gleich, ob er sich dem Publikum nackt, besoffen oder ernstlich verletzt gezeigt hat. Es war ihm völlig egal, wie unvorteilhaft er auf seinen Selbstdarsteller-Plakaten aussah. Es war just das Gegenteil heutiger „Selfie“-Optimierung.

In einer anderen Zimmerflucht, der Bibliothek des Hauses, werden die historischen Bestände nun dicht an dicht konterkariert von rund 120 Künstlerbüchern. Typisches Beispiel für den ironischen Zugriff: Als Künstlerkollege A. R. Penck sein majestätisches Buch „Die Welt des Adlers“ publiziert hatte, konterte Kippenberger mit niedlichen kleinen Bändchen. Titel: „Die Welt des Kanarienvogels“.

„The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika‘”. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. – Bis 16. Mai 2021. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr, Do und Fr 10-20 Uhr. Eintritt 5 Euro. Katalog (ab April) 48 Euro. www.museum-folkwang.de – Zeitfenster-Tickets (erforderlich): https://museum-folkwang.ticketfritz.de

„Vergessene Einrichtungsprobleme in der Villa Hügel“. Plakate und Künstlerbücher von Martin Kippenberger. Essen, Villa Hügel, Hügel 1. – Bis 16. Mai 2021. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Kurzführer gratis. www.villahuegel.de

Ausstellung in der Villa Hügel verlängert

Update vom 20. Mai 2021: Die Ausstellung in der Villa Hügel (wieder geöffnet ab Dienstag, 25. Mai) wird bis zum 4. Juli verlängert!

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„Kind des Ruhrgebiets“

Martin Kippenberger war ein „Kind des Ruhrgebiets“. 1953 als Sohn einer Ärztin und eines Zechendirektors in Dortmund geboren, wuchs er in Essen auf – als „Hahn im Korb“, mit zwei älteren und zwei jüngeren Schwestern.

Martin Kippenberger 1994 mit einem Element seiner damals – in Rotterdam – erstmals gezeigten Kafka-Installation. (Foto: Wubbo de Jong / MAI – Maria Austria Institut)

1968 brach er die Schule ab und begann eine Dekorateurslehre, die er wegen Drogenkonsums nicht abschließen durfte. In den 70er Jahren warf er ein Kunststudium in Hamburg hin.

Bald aber lernte die jüngere Kunstwelt Kippenberger als begnadeten, gewiss nicht uneitlen Selbstdarsteller kennen, der jedoch auch diese Eigenschaft selbstironisch zu brechen wusste. Lebenshunger trieb ihn umher. In Florenz und Berlin hat er gelebt, auch in Paris (um dort Schriftsteller zu werden) und in Kalifornien. Und noch und noch.

Legendär seine Begabung zum Netzwerker, der überall Freunde um sich scharte. Der wohl wichtigste Zirkel war jener mit Werner Büttner, Albert und Markus Oehlen, nachmals den „Neuen Wilden“ zugerechnet, die die Rückkehr zur (heftigen) Malerei kraftvoll betrieben haben. Um 1977 war das, als auch die Punk-Bewegung aufkam, der Kippenberger manchen Impuls verdankte.

Und was geschah 2011 in seiner Geburtsstadt Dortmund? Eine Reinigungskraft schrubbte sein Werk „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“ kurzerhand blank. Gut möglich, dass Kippenberger den Vorfall spaßig gefunden hätte. Aber da hat er nicht mehr gelebt. Am 7. März 1997, nur 44 Jahre alt, ist er in Wien an Krebs gestorben.

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P. S.: Demnächst erscheint eine längere Fassung des Ausstellungsberichts im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“.

 




Museum Folkwang: Auf ein Neues mit Kippenberger, Fotokunst, Tanzdynamik und Filmskizzen

Ausstellungs-Teilansicht von Martin Kippenbergers raumgreifender Installation „The Happy End of Franz Kafka’s Amerika“ (hier 2008/2009 im MOCA Grand Avenue – Courtesy of The Museum of Contemporary Art, Los Angeles / Foto: Brian Forrest)

Es hätte fürs Museum Folkwang alles so gut geraten können. Das Jahr 2020 ließ sich geradezu prächtig an. Museumsdirektor Peter Gorschlüter blickt etwas wehmütig auf diese Zeit zurück: Die publikumsträchtige Aktion des durchgehend freien Eintritts konnte verlängert werden, das Essener Haus wurde derweil zum „Museum des Jahres“ erkoren – und schließlich wuchsen die Chancen auf ein Bundesinstitut für Fotografie in der Revierstadt.

Seit Corona regiert das Prinzip Hoffnung

Doch dann kam Corona. Man musste ab 16. März schließen und konnte auch nach Wiedereröffnung im Mai bei weitem nicht an vorherige Besucherzahlen anknüpfen. Jetzt sind die Museen bekanntlich wieder zu und müssen sich ans Prinzip Hoffnung halten – oder soll man sagen: klammern? Gorschlüter betont, noch sei das Museum Folkwang in einigermaßen komfortabler Lage und er selbst guter Dinge. Er wisse aber, dass viele andere Museumsleute bereits zu kämpfen hätten.

So weit die getrübte Rückschau nebst Ausblick zwischen Hoffen und Bangen. Doch viel lieber ließen die Essener Museumsleute auf der heutigen Video-Jahrespressekonferenz wissen, was sie für 2021 vorhaben. Neben Gorschlüter stellten die Kurator(inn)en Tobias Burg (Grafische Sammlung), Anna Fricke (Zeitgenössische Kunst) und Thomas Seelig (Fotografische Sammlung) ihre Pläne vor. Tatsächlich versprechen erste Einblicke ein durchaus spannendes Programm.

Installation von der Größe eines Sportplatzes

Martin Kippenberger in seiner Kafka-Installation – im Museum Boijmans Van Beuningen, 1994 (© Cees Kuiper/Rotterdams Dagblad)

Schon der Auftakt hat es in sich: Martin Kippenberger (1953-1997), in Dortmund geborener und in Essen aufgewachsener Künstler von bleibender Bedeutung, wird in großem Stile präsentiert. Im Museum Folkwang wird seine ungeheuer raumgreifende Installation „The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika'“ zu sehen sein. Kippenbergers Werk von der Ausdehnung eines Sportplatzes bezieht sich aufs Schlusskapitel von Kafkas Roman „Der Verschollene/Amerika“. Natürlich handelt es sich nicht um bloßen Kafka-Nachvollzug, sondern um eine Adaption aus der ganz spezifischen Perspektive Kippenbergers, der in seine Installation etliche Werkelemente befreundeter Künstler(innen) sowie zahlreiche Fundstücke eingearbeitet hat. Die insgesamt 50 Ensembles aus Tischen und Stühlen dürften tatsächlich so etwas wie eine „kafkaeske“ Atmosphäre erzeugen. Imaginiert ist das Ganze als Raum für viele gleichzeitige „Einstellungsgespräche“. Es geht um die verstörende Erfahrung einzelner Menschen, die sich einer fremden Gesellschaft gegenübersehen. Aber bitte das Thema nicht bruchlos eins zu eins nehmen. Bei Kippenberger sind stets einige Doppelbödigkeiten, Denk- und Blick-Fallen zu gewärtigen.

Zeitgleich werden in der altehrwürdigen Bibliothek der Essener Villa Hügel die vor zuweilen frecher Schaffenslust geradezu sprühenden Künstlerbücher Kippenbergers gezeigt – welche Kontraste sind da zu erwarten! Im Obergeschoss, wo sich die gediegenen Wohnräume des Krupp-Palastes erstrecken, sollen ausgewählte Plakate Kippenbergers gleichfalls eine völlig gegenläufige Dimension eröffnen.

Beide Kippenberger-Präsentationen sollen am 7. Februar 2021 starten und bis 2. Mai dauern – ob und ab wann mit physisch anwesendem Publikum, steht noch dahin.

Zwei Generationen der Fotografie

Auch schon am 19. Februar wird eine Folkwang-Retrospektive zum Werk des Fotografen Timm Rautert (Jahrgang 1941) beginnen. Anhand von rund 350 Arbeiten soll das vielfältige Oeuvre des einstigen Schülers von Otto Steinert aufgeblättert werden. Ab 25. Juni schließt sich ein Überblick zum fotografischen Schaffen von Tobias Zielony (Jahrgang 1973) an, der einer ganz anderen Generation angehört und sich vor allem auf die Spuren neuerer Jugend(sub)kulturen geheftet hat.

Tobias Zielony: „Make Up“, 2017. Fotografie aus der Serie „Maskirovka“ (Pigmentdruck, 70 x 105 cm / Courtesy KOW, Berlin / © Tobias Zielony)

Grenzen der künstlerischen Disziplinen soll ab 13. August die Schau „Global Groove. Kunst, Tanz, Performance und Protest“ überschreiten. Im Fokus steht die tänzerische Bewegung als Triebkraft politischer, kultureller und lebensweltlicher Veränderungen. Zugleich wird die wechselvolle Kulturgeschichte der Kontakte zwischen fernöstlichen und westlichen Ausdrucksformen des Tanzes erzählt.

Was Fellini zu seinen Filmen zeichnete

Federico Fellini: „Die Marktfrauen auf Rädern“, um 1972 (Faserstift-Zeichnung zum Film „Amarcord“ – Sammlung Jakob und Philipp Keel / © VG Bild-Kunst, Bonn, 2020)

Bildende Kunst, Literatur (Kafka), Fotografie und Tanz hätten wir also schon beisammen. Was fehlt? Nun, zum Beispiel der Film. Auch hierzu gibt es ein interessantes, gattungsübergreifendes Projekt: „Federico Fellini. Von der Zeichnung zum Film“ (ab 12. November 2021) beleuchtet ein bislang wenig beachtetes Kapitel im Werk des ruhmreichen Regisseurs der Opulenz. Fellini hat zahllose Skizzen angefertigt, um sich Typen, Figuren, Kostümierungen und Szenarien seiner Lichtspiele besser vorstellen zu können. Gar manches diente als mehr oder weniger direkte Vorlage für die filmische Umsetzung. Etwa 150 Zeichnungen (dazu Standbilder und Filmausschnitte) aus den Jahren 1950 bis 1982 werden gezeigt, karikaturistischer Gestus und pralle Sinnlichkeit gehen dabei fruchtbare Verbindungen ein. Und was wird Fellini wohl bei seinen Frauendarstellungen besonders betont haben? Dreimal dürfen wir raten.

Museum Folkwang. Museumsplatz 1 in 45128 Essen.

www.museum-folkwang.de

 




Das Ruhrgebiet – von allen Seiten betrachtet: 100 Jahre Regionalgeschichte, wichtige Kulturbauten und zigtausend Luftbilder

Auch ein Aspekt bei „100 Jahre Ruhrgebiet“: selbstironische Imagekampagne „Der Pott kocht“ (1999) mit einem hässlichen Entlein aus dem Revier. (© Leihgeber Regionalverband Ruhr RVR)

Zur Zeit geht’s aber so richtig rund mit der allseitigen Selbstvergewisserung im Ruhrgebiet: Neben der hier bereits ausführlich vorgestellten Schau „Kindheit im Ruhrgebiet“ des Essener Ruhr Museums gibt es jetzt mehrere bemerkenswerte Projekte, welche die ganze Region in den Blick nehmen.

Zuvörderst wäre eine weitere, noch aufwendigere Ausstellung des Ruhr Museums zu nennen, die parallel zu den Kindheits-Betrachtungen läuft: „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“ umgreift mit über 1000 Exponaten alle wesentlichen Bereiche des öffentlichen Lebens im Revier, und zwar seit Gründung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, die am 4. Mai 1920 von der preußischen Landesversammlung beschlossen wurde, um den „Wilden Westen“ zu zähmen und zu ordnen. Erst damals entstand im Ruhrgebiet das Bewusstsein der Gemeinsamkeiten. Der Rundgang durch die Ausstellung erweist sich als vielfach aufschlussreicher Streifzug durch Politik, Verwaltung, Industrie, Infrastruktur, Kultur, Wissenschaft und Sport in der Region. Welch eine überbordende Themenfülle! Mehr Einzelheiten dazu folgen demnächst an dieser und an anderer Stelle, nämlich im „Westfalenspiegel“.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“. 13. September 2020 bis 9. Mai 2021 im Ruhr Museum, Zeche Zollverein, Essen, Gelsenkirchener Str. 181 (Navi: Fritz-Schupp-Allee). Gebäude Kohlenwäsche, 12-Meter-Ebene. Geöffnet Mo-So (täglich) 10-18 Uhr, Eintritt 7, ermäßigt 4 Euro. Kinder/Jugendliche unter 18 frei. Katalog im Verlag Klartext (304 Seiten, über 300 Abb.), 29,95 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de

Stätten der Revierkultur

Glamouröser Auftritt: Hollywood-Star Joan Crawford mit einem Modell des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier – bei Eröffnung der Ausstellung „The New Theatre in Germany“, New York, 5. Februar 1961. (Silbergelatine-Abzug / © Baukunstarchiv NRW)

Eine zweite regionale Selbstbetrachtung mit deutlich mehr eingrenzender Fokussierung ist jetzt im Essener Museum Folkwang zu sehen, und zwar die Ausstellung mit dem (ironisch) staunenden Titel-Ausruf „Und so etwas steht in Gelsenkirchen…“ Hier dreht sich alles um bedeutsame „Kulturbauten im Ruhrgebiet nach 1950″ (Untertitel). Die in Kooperation mit dem Dortmunder Baukunstarchiv NRW und der TU Dortmund entstandene Zusammenstellung umfasst vor allem Skizzen, Pläne und Modelle, beispielsweise zu Bauten wie dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier, der Essener Aalto-Oper und dem Bottroper Museum Quadrat.

„Und so etwas steht in Gelsenkirchen…“. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. Bis 10. Januar 2021. Öffnungszeiten Di, Mi, Sa, So 10 – 18 Uhr, Do, Fr 10 – 20 Uhr, Mo geschlossen. Der Katalog (ca. 200 Seiten, 34 Euro) erscheint im November 2020 im Dortmunder Verlag Kettler.

Aus der Vogelperspektive

Nur mal so als Beispiel von der Seite 3d.ruhr: Schrägluftbild des Dortmunder Westfalenstadions (aka Signal-Iduna-Park), des Stadions Rote Erde, der Körnighalle, der Westfalenhalle und des Messegeländes. (© Geonetzwerk Metropole Ruhr / Regionalverband Ruhr (RVR) / virtualcity SYSTEMS GmbH)

Die Resultate des dritten Projekts kann man besichtigen, ohne das Haus zu verlassen. Auf der Internetseite https://www.3d.ruhr lassen sich – Stück für Stück, Straße für Straße, Haus für Haus – die Städte und Kreise des Ruhrgebiets aus der Vogelperspektive betrachten. Ein kurzes Video auf der Startseite erklärt diverse Zugriffs-Möglichkeiten. Insgesamt 150.000 Luftbilder sind die Grundlage für diesen bundesweit beispiellosen Auftritt, für den die Vermessungs- und Katasterämter der gesamten Region sich untereinander abgestimmt haben. Federführend beteiligt ist der Regionalverband Ruhr (RVR).

https://www.3d.ruhr

 

 




Perfekt, freudlos – das Folkwang-Museum zeigt italienische Malerei der 20er Jahre unter dem Titel „Unheimlich real“

Antonio Donghi: „Donna al caffè – Frau im Café“ von 1931 (Foto: Museum Folkwang / Archivio Fotografico – Fondazione Musei Civici di Venezia / Franzini C.)

Sie lachen nicht. Sie zeigen kaum eine Gefühlsregung. Und wenn doch einmal Leben in den Gesichtern ist, so sind es grimassierende Gaukler wie im Bild „Maschere – Masken“ von Cesare Sofianopulo. Die Ausstellung, die nun bis 13. Januar im Essener Folkwang-Museum zu sehen ist, heißt „Unheimlich real“, und natürlich ist der Titel eine Spiel mit dem umgangssprachlichen Doppelsinn des Wortes.

In der Tat kann einem unheimlich werden zwischen diesen unbeteiligten, teilnahmslosen, jedoch mit großer Meisterschaft und Detailverliebtheit in realistischer Manier auf die Leinwand geworfenen Gestalten. Fehlende Zugewandtheit eint sie, sie ist fast das stärkste Band zwischen ihnen. Atmosphärisch betrachtet reihen sich sogar die Bilder ein, auf denen gar keine Menschen zu sehen sind. Freudlose Zeiten?

Giorgio de Chirico: „Piazza d’Italia (Souvenir d’Italie) – Italienischer Platz (Souvenir aus Italien)“ von 1924-25 (Bild: Museum Folkwang / MART – Archivio Fotografico e Mediateca)

Kunst im Faschismus

In gewisser Weise: ja. 1922 hatte der Faschist Mussolini in Italien die Macht übernommen, die Moderne mit ihrem Hang zur Abstraktion, die es in Italien nie leicht gehabt hatte, schwächelte, Künstler suchten das Konkrete, Gegenständliche, eben das Reale. Es mag durchaus auch sein, daß man bei den Machthabern nicht anecken wollte, wenngleich der „Kunstsinn“ eines Adolf Hitler bei Mussolini, so weit bekannt, keine Entsprechung fand.

Was aber wollte diese Kunst recht eigentlich erzählen? Ich will gerne an dieser Stelle schon, abweichend von den dramaturgischen Usancen des Artikelbaus, bekennen, daß ich eine letztendliche Antwort nicht weiß. Sicherlich wäre es zu kurz gegriffen, in der durchgängigen Freudlosigkeit der Bilder so etwas wie Kritik an den politischen Verhältnissen erkennen zu wollen.

Richtig ist andererseits, daß diese Kunst eine starke formale Rückwärtsgewandtheit prägt, ebenso aber auch, daß surreale Überhöhungen des „Realismo magico“ diesen konservativen Duktus häufig ad absurdum führen. Zu den wenigen auch bei uns bekannten Künstlern dieser Ausstellung gehört Giorgio de Chirico, dessen „Piazza d’Italia (Souvenir d’Italie)“ von 1924/25 mit seinen oft bemühten kompositorischen Elementen wie Säulenfassaden und zentralgestellten Skulpturen vergleichsweise vertraut wirkt.

Cesare Sofianopulo: „Maschere – Masken) von 1930 (Bild: Museum Folkwang / Nicola Eccher)

Fast allegorisch

Häufig setzen kraftvolle Details gleichsam allegorische Akzente, wie im Titelbild der Ausstellung „“Ritratto della moglie sullo sfondo di Venezia – Die Frau des Künstlers vor venezianischer Kulisse“ (1921) von Ubaldo Oppi: Gondeln, Segelschiff und Stadtkulisse sowie ein merkwürdig streng drapierter Vorhang, der auf dem Balkon fast etwas fehl am Platze wirkt. Doch das könnte alles eben auch noch ganz „real“ sein, unzweifelhafte Allegorien wie Cagnaccio di San Pietros „L’alzana – zwei Treidler“ von 1926 bilden eher die Ausnahme. Zwei kräftige Männer ziehen hier ein Schiff, dessen Bug das Bild einer Pietà ziert – kraftvoll mit geballten Fäusten vorwärts strebend der eine, schlaf und einem Gefesselten gleich der andere. Doch arbeitete Cagnaccio di San Pietro auch in anderen Genres, man begegnet ihm mehrfach in dieser Ausstellung, er ist keineswegs so etwas wie ein „konsequenter Allegoriker“.

Ubaldo Oppi: „Ritratto della moglie sullo sfondo di Venezia – Die Frau des Künstlers vor venezianischer Kulisse“ von 1921 (Bild: Museum Folkwang / Carlo Baroni, Rovereto)

Futurismo und Neue Sachlichkeit

Zeitgleich mit der hier ausgestellten italienischen Malerei feierte im Deutschland der 20er Jahre die „Neue Sachlichkeit“ Erfolge, die sich jedoch, schaut man auf die Bilder ihres heutzutage wieder stark nachgefragten Protagonisten Karl Hofer, von der schnöden Wirklichkeit fern hielt und ihr Heil in schmucken, nur sehr ungefähr verorteten Personenarrangements suchte. Eine zeitlich-thematische Abgrenzung zu Marinettis „Futurismus“ findet sich leider nur in den erläuternden Texten am Eingang der Ausstellung.

Es wäre schön gewesen, diese naiv fortschrittsgläubige, dem Faschismus manchmal bedenklich nahe Kunstrichtung, mit der es 1920 ja keineswegs ein Ende hatte, im ästhetischen Vergleich zur ausgestellten „unheimlich realen“ Material zu sehen. Unvergeßlich bleibt in diesem Zusammenhang die große Futurismus-Ausstellung, die der 2007 viel zu früh verstorbene Leiter des Dortmunder Ostwall-Museums Ingo Bartsch 2002 unter dem Titel „Auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert“ ausrichtete. Bartsch bemaß die Zeit des italienischen Futurismus von 1915 bis 1945.

Carlo Carrà: „Vasi sul davanzale / Blumentöpfe auf dem Fensterbrett“ von 1923 (Bild: Museum Folkwang / Courtesy Galleria dello Scudo, Verona)

Die Wärter

Viele Portraits, von Frauen zumal, Landschaften, Stilleben – diese in neun Themengruppen sehr ordentlich sortierte Ausstellung ist unbedingt sehenswert und ein Spitzlichtlein im diesjährigen Museumsbetrieb des Reviers, zu dem wir ausnahmsweise auch mal Düsseldorf und Köln zählen wollen.

Wenn nur die Wärter nicht wären, also: diese Museumswärter. Persönliche Umstände brachten es mit sich, daß ich die Ausstellung nicht in der relativ unbeschwerten Atmosphäre eines Presserundgangs erkunden durfte, sondern ganz normal als zahlende Kundschaft. Und als solche mußte ich miterleben, wie ein älterer Herr, der sich ein Bonbon oder ähnliches in den Mund steckte, derb (anders kann man nicht sagen) darauf hingewiesen wurde, daß „das Essen“ in der Ausstellung verboten sei. Kein Essen in Essen also (Brüllwitz). Dunkel meine ich mich zu erinnern, daß das Publikum in früheren Zeiten von der Essener Bewachungsfirma Kötter bewacht wurde, die das sehr viel relaxter machte.

  • Unheimlich real – Italienische Malerei der 1920er Jahre“.
  • Bis 13. Januar 2019. Eintritt 8 €, Katalog im Museum 32 €, im Buchhandel 39,90 €
  • www.museum-folkwang.de



Akte und Architekturen: Essener Museum Folkwang würdigt den Schweizer Fotografen Balthasar Burkhard

Balthasar Burkhard: Normandie 01,1995. Silbergelatineabzug 115 x 115 cm. Museum Franz Gertsch, Burgdorf © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Normandie 01,1995. Silbergelatineabzug 115 x 115 cm. Museum Franz Gertsch, Burgdorf © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Einen der bedeutenden Fotografen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts würdigt das Museum Folkwang in Essen mit einer Ausstellung: Die 150 Werke und Werkgruppen umfassende Retrospektive für Balthasar Burkhard ist die erste große museale Würdigung des Schweizers in Deutschland und zeichnet das facettenreiche Schaffen des Fotografen etappenweise nach. Die Palette der Werke reicht von frühen Schwarzweiß-Aufnahmen aus den sechziger Jahren bis zu Architektur- und Landschaftsfotografien aus dem Spätwerk des 2010 gestorbenen Fotokünstlers.

Der 1944 geborene Balthasar Burkhard lernte bei Kurt Blum, einem der bekanntesten Schweizer Fotografen seiner Generation. 1965 eröffnete er ein eigenes Studio in Bern und fotografierte im Auftrag der Kunsthalle Bern die Künstler, die der bekannte Kurator Harald Szeemann damals ausstellte.

1966 und 1968 fotografierte Burkhard auf der Biennale in Venedig, 1972 dann auf der documenta Kassel. 1969 zeigte er erstmals die gemeinsam mit Markus Raetz geschaffenen großformatigen Fotoleinwände, mit denen er international beachtet wurde. Erstmals sind in der Essener Ausstellung Burkhards Fototagebücher dieser Zeit in einer umfassenden Zusammenschau zu sehen.

Balthasar Burkhard: Der Körper I (Installationsansicht Ausstellung Kunsthalle Basel 1983), 1983. Silbergelatineabzug 30,7 x 45,5 cm © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Der Körper I (Installationsansicht Ausstellung Kunsthalle Basel 1983), 1983. Silbergelatineabzug 30,7 x 45,5 cm © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Auch in den USA, wo er einen Lehrauftrag an der Universität von Illinois annahm, arbeitete er weiter an monumentalen Leinwand-Tableaus und hatte 1977 in Chicago seine erste Einzelausstellung.

Ab 1983, zurück in der Schweiz, entdeckte Balthasar Burkhard zunehmend den menschlichen Körper. Es entstanden riesige Akte, etwa ein dreizehn Meter langer liegender Akt. Aber Burkhard interessierte sich auch für Details, Fragmente und Mikrostrukturen. Die Essener Retrospektive widmet sich dieser Werkgruppe anhand des erhaltenden Materials in Form von Studien und Skizzen und mit Hilfe von Nachdrucken. Gezeigt werden auch Architekturfotos, die seit Mitte der neunziger Jahre entstanden, und Burkhards großformatige Luftaufnahmen von Städten und Wüsten.

Balthasar Burkhard: Mexico City (Vulkan), 1999. Silbergelatineabzug auf Barytpapier 136,7 x 267,7 cm. Fondation Cartier pour l'Art contemporain, Paris © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Mexico City (Vulkan), 1999. Silbergelatineabzug auf Barytpapier 136,7 x 267,7 cm. Fondation Cartier pour l’Art contemporain, Paris © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Die Ausstellung entstand in Kooperation des Museums Folkwang mit dem Fotomuseum Winterthur, der Fotostiftung Schweiz und dem Museo d’arte della Svizzerra italiana.

Essen, Museum Folkwang, 20. Oktober bis 14. Januar 2018. Öffnungszeiten: Di, Mi, Sa und So 10 bis 18 Uhr, Do und Fr 10 bis 20 Uhr. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Katalog (Steidl Verlag, Göttingen) 28 Euro.




Der teuerste Maler der Welt: Gerhard Richter wird zum 85. Geburtstag in Köln, Essen und Bonn ausgestellt

Gerhard Richter feiert heute, am 9. Februar 2017, seinen 85. Geburtstag. (Foto: Hubert Becker/Museum Folkwang, Essen)

Für die Kunstwelt ein großer Tag: Einer der prägenden Meister des letzten halben Jahrhunderts, Gerhard Richter, feiert heute, am 9. Februar, in Köln seinen 85. Geburtstag. Der in Dresden geborene Maler ist mit dem Rheinland seit mehr als einem halben Jahrhundert verbunden und lehrte bis 1994 als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie. Richter zählt zu den teuersten zeitgenössischen Künstlern auf dem Kunstmarkt; seit 2004 belegte er bis 2015 fast durchgehend den ersten Platz des „Kunstkompass“, einer Weltrangliste lebender Künstler.

Richter hatte sich 1961 nach dem Studium an der Dresdner Kunstakademie, ersten Arbeiten in Dresden, einem Besuch der Kasseler documenta 1959 und einer Reise nach Leningrad und Moskau zur Flucht in den Westen entschlossen, um für seinen künstlerischen Werdegang frei zu sein.

Hier begann er ein Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Ferdinand Macketanz und Otto Götz, wo Richter Freunde wie Sigmar Polke und Blinky Palermo fand. Mit großem Interesse verfolgte er das Informel und die beginnende Fluxus-Bewegung, für die Joseph Beuys‘ Berufung an die Akademie einflussreich war. Außerdem profitierte er von der lebendigen Kunstszene in Düsseldorf und Köln, wo Otto Piene und Heinz Mack mit der Gruppe ZERO wesentliche Impulse setzten.

1963 stellte Richter zum ersten Mal aus – mit Manfred Kuttner in Fulda. Gemeinsam mit Polke und Konrad Lueg (später Konrad Fischer) zeigte er seine Arbeiten in einem gemieteten Laden in der Düsseldorfer Altstadt. In diesem Ambiente fand Richter den Zugang zur Arbeit mit Pop Art und zu seinem großen Thema der nächsten Jahre, dem Zusammenhang von Fotografie und Malerei. Im Sommer 1964 verließ Richter die Akademie. Im September ermöglichte ihm der Galerist Alfred Schmela in Düsseldorf die erste Einzelausstellung. Eine Schau gemeinsam mit Lueg und Polke in der Galerie Parnass in Wuppertal machte die Kunstwelt auf die jungen Aufsteiger aufmerksam.

1967 erhielt Richter den Kunstpreis Junger Westen in Recklinghausen. Als Richter im Oktober 1970 erstmals im Museum Folkwang in Essen ausstellte, war er in den Zirkeln zeitgenössischer Kunst schon über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. In Essen zeigte er Fotos, Skizzen, Zeitungs- und Illustrierten-Ausschnitte, aufgeklebt auf Karton, die 1972 zu seinem Atlas führten, einem mehrfach ausgestellten Schlüsselwerk, das 1997 auf der documenta zu sehen war und von der Münchner Galerie im Lenbachhaus erworben wurde.

Gerhard Richter: Abstraktes Bild (946-3), 2016. Öl auf Leinwand © Gerhard Richter 2016 (221116)

Gerhard Richter: Abstraktes Bild (946-3), 2016. Öl auf Leinwand (© Gerhard Richter 2016 (221116))

Richter, der 1971 zum Professor für Malerei an die Düsseldorfer Kunstakademie berufen wurde, lebte in dieser Zeit in Düsseldorf, zog aber 1983, nach der Hochzeit mit der Künstlerin Isa Genzken, nach Köln um. Ende der achtziger Jahre war Richter eine der prominentesten Künstlerpersönlichkeiten Deutschlands. Auf dem internationalen Markt war er spätestens seit seiner ersten umfassenden Retrospektive 1986 in der Kunsthalle Düsseldorf mit seinen Foto-Abmalungen, Landschaften und abstrakten Arbeiten sehr gefragt. Seit 1996 lebt Gerhard Richter in Hahnwald im Kölner Süden. Im Jahr 2000 erhielt Richter den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen, 2004 den Katholischen Kunstpreis Köln.

In diesem Jahr wird Richter in acht Einzel- und dreizehn Gruppenausstellungen gewürdigt. Am heutigen Tag seines 85. Geburtstags eröffnet das Museum Ludwig in Köln eine Ausstellung, die 26 abstrakte, im letzten Jahr entstandene Bilder zeigt. Parallel dazu werden wegweisende Werke Richters aus der Sammlung Ludwig gezeigt, darunter das zur Ikone gewordene frühe Werk Ema (Akt auf einer Treppe) von 1966, das abstrakte Bild Krieg von 1981 oder die Glasarbeit 11 Scheiben von 2003. Die Sammlungspräsentation ist von Richter selbst eingerichtet. Die Ausstellung ist bis 1. Mai zu sehen.

Gerhard Richter Kerze I, 1988. Offsetdruck und Kreide auf Papier, Courtesy Olbricht Collection © Gerhard Richter, 2017

Gerhard Richter Kerze I, 1988. Offsetdruck und Kreide auf Papier (Courtesy Olbricht Collection © Gerhard Richter, 2017)

Das Museum Folkwang in Essen widmet ab dem 7.April den Editionen Gerhard Richters eine Ausstellung. Erstmals werden sämtliche Editionen in einer großen Einzelausstellung zusammengefasst. Zu sehen sind über 170 Werke, darunter Gemälde, Objekte, Fotografien, Künstlerbücher und Drucke aus den Jahren von 1965 bis 2014. So bieten die Editionen, mit denen Richter seine Bilderfindungen verbreitete, aber auch neu interpretierte, einen Überblick des Schaffens eines halben Jahrhunderts. Die Ausstellung entsteht in enger Kooperation mit dem Leihgeber (Olbricht Collection) und wird bis 30. Juli gezeigt.

Thomas Olbricht besitzt nach Angaben des Museums Folkwang die weltweit einzige vollständige Sammlung aller Editionen Gerhard Richters. Editionen sind Kunstobjekte, die in einer – wechselnd hohen – Auflage hergestellt werden. Für die Verbreitung neuer Kunst spielten und spielen sie eine wichtige Rolle. Als „Kunst für alle“ sollen sie das Sammeln von Kunst für neue Käuferschichten möglich machen. Richter sieht seine Editionen als Anstiftung, sich mit Kunst zu beschäftigen: „Ich sah, und sehe immer noch, Editionen als einen willkommenen Ausgleich für die Produktion von Gemälden, die Unikate sind. Es ist eine großartige Möglichkeit, meine Arbeit einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln.“

Ab 15. Juni werden im Kunstmuseum Bonn rund 20 Schlüsselwerke aus dem frühen Œuvre Gerhard Richters ausgestellt. Bis 1.Oktober zeigt die Ausstellung vor allem Vorhang- und Fensterbilder aus den sechziger Jahren. Auch in Oberhausen wird Richter im größeren Kontext gezeigt: Die Ludwig Galerie thematisiert das Kaufen von Kunst, beginnend mit Albrecht Dürer, der als einer der Ersten seine Kunst zu vermarkten wusste, bis hin zu Andy Warhol, für den die Warenwelt künstlerisches Thema und zugleich Präsentationsort seiner Kunst gewesen ist. Gerhard Richter, der „teuerste Maler der Welt“ hat in diesem Zusammenhang mit seinem Bild Mutter und Tochter, das zwei Frauen beim Shoppen zeigt, seinen Platz.

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Ausstellungen:

Köln, Museum Ludwig: Gerhard Richter. Neue Bilder. 9. Februar bis 1. Mai 2017.

Essen, Museum Folkwang: Gerhard Richter. Die Editionen. 7. April bis 30. Juni 2017.

Bonn, Kunstmuseum: Gerhard Richter. Über Malen –  Frühe Bilder. 15. Juni bis 1. Oktober 2017.

Oberhausen, Ludwig Galerie Schloss Oberhausen: Let’s buy it. Kunst und Einkauf. Von Albrecht Dürer über Andy Warhol bis Gerhard Richter. Bis 14. Mai 2017.




Was man mit 1 Million Euro anfangen kann – zum Beispiel viele Menschen ins Museum holen

Kürzlich hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung auf einer ganzen Seite die Frage abgehandelt, was sich mit 1 Million Euro auf dem deutschen Immobilienmarkt anfangen ließe.

Gut ausgeschildert: freier Eintritt in die Sammlung. (Foto: © Museum Folkwang, 2016)

Weithin sichtbar ausgeschildert: freier Eintritt in die Sammlung. (Foto: © Museum Folkwang, 2016)

Befund: In abgelegenen Ecken Brandenburgs könnte man damit ein repräsentatives Anwesen erwerben, in Münchens gefragtesten Vierteln mitunter nur noch eine 70-Quadratmeter-Wohnung. Verrückt.

Man kann aber besagte Million auch ganz anders verwenden, nämlich nutzbringend für die Allgemeinheit. Just diesen Betrag hat die Krupp-Stiftung zur Verfügung gestellt, um im Essener Museum Folkwang fünf Jahre lang kostenfreien Zutritt zur ständigen Sammlung zu ermöglichen.

Vor ziemlich genau einem Jahr (19. Juni 2015) hat die löbliche Aktion begonnen. Wie jetzt bekannt wird, zeigt sie erwartungsgemäß ordentlich Wirkung. Denn seitdem und bis vorgestern haben exakt 103 763 Menschen das Angebot angenommen, das entspricht einer Steigerung der Besucherzahl um 141 Prozentpunkte. Bei Kindern betrug der Besucherzuwachs sogar exorbitante 186 Prozentpunkte.

Es gehört zur angenehmen Routine, dass sich angesichts solch erfreulicher Zahlen sowohl der Musumsdirektor (Dr. Tobia Bezzola) als auch die Kuratoriumsvorsitzende der Krupp-Stiftung (Prof. Ursula Gather, zugleich Rektorin der Dortmunder Uni) sehr angetan äußern. Wie auch sonst?

Und tatsächlich. Das ist mal ein kultureller Lichtblick. Weiß man, was vor allem bei Kindern die frühzeitige Berührung mit den Künsten fürs spätere Leben anstiftet? Man ahnt es ja und hofft das Beste.

Und die 70-Quadratmeter-Behausung in bester Münchner Lage? Soll kaufen, wer da will (und kann). Sympathie wird so jedenfalls nicht erworben.




In des Königs Wunderkammer – Objekte aus der Sammlung Olbricht im Museum Folkwang

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In der Tat: Der Helm aus Vitrinen ist einem Motorradhelm nachempfunden. (Foto: Museum Folkwang, Courtesy of the Artists and Ivorypress)

Wo beginnen? Der raumgreifende „Helm“, den das kubanische Künstlerduo Los Carpinteros (die Zimmerleute) 2014 extra für das Museum Folkwang geschaffen hat, besteht aus 192 verglasten Waben, jede mithin eine Ausstellungsvitrine. Es gibt Vitrinen auf Bodenniveau, in Knie-, Brust- und Augenhöhe und auch ganz oben, in vier, fünf Metern. Alle buhlen sie um die Aufmerksamkeit des Betrachters, fein beleuchtet und mit gut 400 Objekten reich bestückt. Es macht wenig Sinn, sie von links nach rechts oder von oben nach unten „lesen“ zu wollen. Sinnzusammenhänge des Ausgestellten stellen sich, wenn überhaupt, anders dar.

Bunte Mischung

Zu sehen gibt es „Gediegenes und Kurioses“ aus den reichen Beständen des Sammlers Thomas Olbricht. Und der Titel der Schau ist ziemlich wörtlich zu nehmen, die Liste der Exponate reicht vom Kugelfisch über afrikanische Masken und eine gruselig-bunte Totenschädelplastik der Chapman-Brüder zu entzückenden Kopfvasen aus den 50ern, Korallenbäumen und dramatisch gewundenen Bonsai-Stämmchen, Vogelpräparaten, einem leidenden Jesuskopf aus dem 18. Jahrhundert und der Skulptur eines stromlinienförmigen Mataré-Rinds aus den 20er Jahren. Womit beileibe nicht alles aufgezählt wäre. Eine Vitrine zum Beispiel beherbergt das Technische Hilfswerk (THW), das mit einer stattlichen Anzahl von Wiking-Modellautos angerückt ist, eine zweite amerikanische Straßenkreuzermodelle aus Blech, eine dritte Jubiläumseditionen edler Märklin-Modelleisenbahnlokomotiven, samt Originalverpackung. Und so fort.

Mit Modellautos fing es an

Spätestens jetzt mag sich der eine oder andere daran erinnern, daß schon die letzte Ausstellung im „alten“ Essener Museum Folkwang, bevor es umgebaut wurde, Teile der Sammlung Olbricht zeigte, damals aber mehr „richtige“ Kunst, die Stücke waren überwiegend auch größer. Jedoch gab es auch damals schon einige Vitrinen mit Modellautos, denn mit denen hat Olbricht das Sammeln begonnen. Das erwähnt er gern. Übrigens war Hartwig Fischer damals noch der Direktor des Hauses. Bekanntlich machte er mittlerweile eine steile Karriere und ist nun in London Chef des British Museum.

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Gruselig: „Famine“ von Jake und Dinos Chapman (2004), Bronze und Kunststoff, bemalt, 16 x 25 x 21 cm (Foto: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2016, Friedrich Rosenstiehl, Köln)

Zurück zum Essener Helm, der zu anderen Zeiten andere Objekte, vorzugsweise aus Folkwang-Beständen, zeigt. Ihm zugesellt hat Olbricht einige große Tierpräparate (Giraffe, Leopard und weißen Pfau), die, der Sammler legt Wert darauf, selbstverständlich völlig legal und (sozusagen) umweltgerecht erworben wurden. Die Giraffe entstammt einer Sammlung des 19. Jahrhunderts, die anderen beiden sind Präparate von dahingeschiedenen Zirkustieren.

Verbindendes

Von Los Carpinteros sind einige Architekturmodelle und Zeichnungen zu sehen, an den Wänden hängen quadratmetergroße, naiv-chiffrenhafte Darstellungen von monarchischen Prunkzügen, „The Coronation of the Usurper“ heißt eine von ihnen, „The King’s Woman“ eine andere. Geschaffen hat sie der Chinese Ouyang Chun, ausgeführt sind sie in Öl und Goldbronze auf Leinwand, und davon abgesehen verbindet sie mit der anderen gezeigten Kunst kaum mehr als der Umstand, daß Thomas Olbricht sie mag.

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Ebenfalls vitrinenwürdig: Cadillac-Model, 20. Jahrhundert, Blech, lackiert, verchromte Zierteile, Schwungradantrieb, Länge ca. 31 cm (Foto: Museum Folkwang, Jana Ebert, Berlin)

Oberbegriffe? Thematische Klammern? „Vanitas“-Motiv wie auch das biblisch-barocke „Memento Mori“ seien in vielen Exponaten gegenwärtig, sagt Olbricht. Realisiere man dies, so würden Bezüge manchmal klarer, die sich durch die Nachbarschaft der Dinge ergäben. Wohl wahr. Trotzdem bleibt ein Großteil der Präsentation im Helm willkürlich, rätselhaft, systematisch nicht zu fassen.

Ein reicher Mann

Helm und umgebende Exponate stehen in der Tradition der Wunderkammern absoluter Monarchen, die Freude an schönen, seltenen, kostbaren, wertvollen, auf jeden Fall exzentrischen Dingen fanden. Der Sammler Olbricht könnte sich da einreihen, zum Geldadel zählt er sowieso. Das „Manager Magazin“ schätzt sein Vermögen auf 850 Millionen Euro (Quelle: Wikipedia) und sieht ihn auf Platz 138 der deutschen Reichenliste (Stand 2013). Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang, daß Olbricht als Chemiker, Arzt und ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzend der Wella AG beruflich sehr erfolgreich war und seinen Hang zur Kunst nicht mit Ererbtem finanzieren mußte.

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Giraffenkopf, undatiert, Präparat, 230 x 60 x 110 cm (Foto: Museum Folkwang, Jana Ebert, Berlin) Download

Als was nun also sieht er sich? Allein als Bewunderer und Erhalter irdischer Vielfalt und Schönheit, oder auch als Selbstdarsteller? Olbricht lacht. „Ich bin der Generalkünstler“, antwortet er, solcherart befragt. Etwas anderes hätte man ihm auch nicht abgenommen.

Schwimmende Schätze

Da nun aber, Spaß beiseite, in den fürstlichen Wunderkammern sozusagen die Wiege des modernen Museumsbetriebs stand (der heute zwischen Kunst und Kunstgewerbe, Natur, Technik Wissenschaften und so weiter streng unterscheidet), mögen sie nach wie vor dazu taugen, junge Menschen für Kunst, Schönheit, Ästhetik und was der Werte mehr sind zu begeistern. Deshalb läßt Olbricht Ende April im Brandenburgischen eine schwimmende Wunderkammer in See stechen („in Kanal stechen“ wäre genauer, existiert als Begriff aber nicht), die den Schulunterricht bereichern soll.

Wer schließlich mehr von des Sammlers Sammlungen sehen will, findet es in seinem Privatmuseum: „me Collectors Room“ in der Auguststraße in Berlin.

  • „Gediegenes und Kurioses – Los Carpinteros, Ouyang Chun und Lieblingsstücke aus der Sammlung Olbricht“
  • Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen – www.museum-folkwang.de
  • Bis 16. Mai 2016
  • Geöffnet Di, Mi 10-18 Uhr, Do, Fr 10-20 Uhr, Sa, So 10-18 Uhr.
  • 1. Mai, Christi Himmelfahrt, Pfingstsonntag und Pfingstmontag, Fronleichnam geöffnet.
  • Der Eintritt ist frei

 

 




Detlef Orlopps starke Strukturen und Plakate aus der DDR im Essener Folkwang-Museum

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Nur Struktur. Das Bild heißt „2.8.1987“ (Foto: Museum Folkwang/Detleff Orlopp)

In der Malerei wären solche Bilder etwas Vertrautes. Viele von ihnen zeigen gleichmäßige Oberflächen, sind monochrom und wirken in der Hängung schnell wie Serien. Vielleicht würde man, wäre es Gemaltes, von „konkreter Kunst“ sprechen, vielleicht auch könnte man in ihnen Totalübermalungen im Stil Gerhard Richters zu erkennen glauben.

Tatsächlich jedoch sind die rund 160 Bilder Fotografien und zeigen sorgfältig abgelichtete Strukturen in urwüchsigen Landschaften oder auf bewegten Wasseroberflächen. Sie entstanden in einem Zeitraum von rund 60 Jahren, ihr Schöpfer ist der Fotograf Detlef Orlopp, dem das Essener Folkwang-Museum jetzt eine große Werkschau ausrichtet. Die Bilder entstammen einem Ankauf von rund 500 Arbeiten, den das Museum 2012 tätigte.

Detlef Orlopp, 1937 in Westpreußen geboren, gehörte zu den ersten Schülern Otto Steinerts, der als Fotolehrer zunächst in Saarbrücken, später in Essen die „subjektive Fotografie“ begründete. Und wenn man nun in Essen Orlopps Arbeiten sieht, mag man das kaum glauben. Denn schon seine seriellen Portraitreihen, die er in den frühen 60er Jahren beginnt, prägt offenkundig der Versuch, die subjektive Handschrift des Lichtbildners durch formale Einheitlichkeit verblassen zu lassen.

Orlopps Landschaften aus jener Zeit indes lassen das Topographische, das Ortstypische noch erkennen, zeigen Bergspitzen und Felswände, Dünenformationen und Küstenlinien. Man ahnt die Wucht der urwüchsigen Natur, doch „beweist“ der Fotograf sie nie, etwa durch Größenvergleiche mit Spuren zierlicher Zivilisation. Die minimalistische Kunstrichtung Zero, so Kurator Florian Ebner, habe Orlopp in seinen frühen Schaffensjahren sehr beeinflusst. Man glaubt es, sieht man seine Bilder, gern.

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„4.9.1966“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

In den folgenden Jahrzehnten entstehen Arbeiten, die noch radikaler sind. Sie zeigen ausschließlich rhythmische Struktur und sind nicht mehr verortbar. Seriell reiht Orlopp das Ähnliche aneinander , was dieser Ausstellung in den angenehm zurückhaltenden Räumlichkeiten des Folkwang-Neubaus geradezu meditativen Charakter verleiht. Doch auch wer hier nicht die Seele schweben lässt, ist tief beeindruckt von der Vielfalt der wahrgenommenen Strukturen und von der vielen (Fotografier-) Arbeit, die in dieser Ausstellung steckt. Übrigens entstanden alle Abzüge – die meisten von ihnen im lange Zeit größten Konfektionsmaß 50 x 60 Zentimeter – sämtlich noch auf traditionelle Weise als Bromsilbergelantine-Abzüge in der Dunkelkammer.

Der serielle Charakter des Oeuvres lässt einen an die Bechers denken, die es mit ihren fotografischen Reihungen von Industrieanlagen, Fachwerkhäusern usw. zu Weltruhm brachten. Interessanterweise machte Orlopp von 1952 bis 1954 eine Fotografenlehre in Siegen, der selben Stadt, in der der sechs Jahre ältere Bernd Becher das Licht der Welt erblickt hatte. Gleichwohl war ihrer beider künstlerischer Werdegang höchst verschieden, haben sich die kreativen Lebensbahnen wahrscheinlich nie gekreuzt.

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„Helen von B., 8.10.1963“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

Der vorzügliche Katalog zur Ausstellung übrigens wurde, eine Besonderheit, auf zwei verschiedenen Papiersorten gedruckt. Frühe Bilder erscheinen in Hochglanz und reinem Weiß, spätere mit einem Hauch von Sepia auf mattem Papier. So kommt der Druck den Vorlagen besonders nahe. Ältere Fotografen fühlen sich bei dieser Materialwahl an die traditionsreichen Agfa-Fotopapiere „Brovira“ und „Record rapid“ erinnert.

Plakate aus der DDR 1949 – 1990

Die andere neue Ausstellung im Essener Folkwang-Museum hat mit der ersten nur Ort und Zeit gemein. Sie zeigt „DDR-Plakate 1949 – 1990“, ein Gutteil des Materials kommt von der Berliner Stiftung Plakat Ost.

Ja, auch in der DDR wurde geworben – für die richtige Politik und gegen den Klassenfeind, gewiss, aber ebenso für Kino und Theater und auch für die Waren, die beispielsweise der „Konsum“ für die Werktätigen (oft leider nicht) bereithielt.

Werbung hatte in der Mangelwirtschaft der DDR immer die Aura des Absurden. Und sie galt als ungelenk, über „Plaste und Elaste aus Schkopau“, die mit schäbigem Schild an einer Brücke beworben wurden, haben Generationen von westdeutschen Transitautobahnbenutzern gelacht. Gleichwohl entstand in der DDR eine Vielzahl vorzüglicher Plakate. Manche davon waren auch im Westen bekannt, wie die schwungvolle Erweiterung des „MM“-Logos der Leipziger Messe zu einem Pärchen mit Koffern, das energisch durch das Bild strebt, der Messe entgegen vermutlich. Es entstand schon 1956, seine Schöpfer waren Margarete und Walter Schultze.

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Klaus Wittkugel: „Kunst im Kampf“. Plakat zur Ausstellung der deutschen Akademie der Künste, 1962 (Foto: Museum Folkwang/VG Bild-Kunst, Bonn)

Viele klassenkämpferische Arbeiten mit roten Fahnen und geballten Fäusten, für den sozialistischen Aufbau und gegen die Bonner Kriegstreiber, sind fachlich und ästhetisch ausgesprochen gelungen. Es ist Plakatkunst im Stil der Zeit, der auf beiden Seiten der immer stärker befestigten Staatsgrenze recht ähnlich war. In den Siebzigern hielt vereinzelt die Pop Art Einzug ins DDR-Plakatschaffen, beispielsweise in der Werbung für Ulrich Plenzdorfs auch im Westen stark beachteten Film „Die Legende von Paul & Paula“ mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Entwurf von Heinz Edelmann, der das Cover der Beatles-Platte „Yellow Submarine“ gestaltete. Doch der tatsächliche Schöpfer hieß Klaus Vonderwerth.

Die jüngsten Plakate stammen aus der Zeit, als es die DDR fast schon nicht mehr gab. 1990 bewarb das Bündnis 90 einen gewissen Jochen Gauck mit dem Slogan „Freiheit – wir haben sie gewollt – wir gestalten sie!“ – „Tatkräftig – zuversichtlich – mit norddeutschem Profil“ steht außerdem noch auf dem Plakat, was immer mit Letzterem gemeint ist.

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Jürgen Freeses Plakat „Nürnberg schuldig!“ von 1946 ist sogar um einiges älter als die DDR. (Foto: Museum Folkwang)

„Anschläge von ,Drüben’“, so der Titel der Plakatausstellung mit dem heutzutage wohl unvermeidlichen Doppelsinn, ist nicht zuletzt eine Einladung zum Nachdenken über den anderen deutschen Staat, den es eben auch einmal gab und den viele am liebsten einfach vergessen wollen. Bilder aus einer untergegangenen Welt mithin. Das wäre fast schon ein Plakatmotiv.

  • Detlef Orlopp: „Nur die Nähe – auch die Ferne. Fotografien“. Katalog 34 €.
  • „Anschläge von ,Drüben’. DDR-Plakate 1949 – 1990“. Katalog 20 €.
  • Beide Ausstellungen: Bis 19. April 2015, Di-So 10-18 Uhr, Do u. Fr 10-20 Uhr, Eintritt 5 €.
  • Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen
  • www.museum-folkwang.de



Aluminium in Duisburg, Videos in Essen – die Installationen der Ruhrtriennale

Die Kunst kann jetzt besichtigt werden. Man darf sogar auf ihr gehen, rennen, hüpfen und – bei hinreichender Körperbeherrschung – tanzen. Der Grund ist schwankend, genauer: federnd: „Melt“, so heißt die Arbeit, besteht aus 50 Aluminiumplatten, die auf einer durablen Federung lagern und aneinander verlegt einen 70 Meter langen Weg ergeben.

Der Weg befindet sich zum größten Teil unterhalb der stillgelegten Hochöfen auf dem Hüttengelände im Landschaftspark Duisburg Nord, weshalb er etwas dunkel ist und auch tagsüber von Scheinwerfern bestrahlt wird. Hier spürt man in den Worten des Künstlerduos Rejane Cantoni und Leonardo Crescenti, das gern auch etwas griffiger als „cantoni crescenti“ zeichnet, die „vibes“, die „communication“, den „sound“, und natürlich ist das alles „very social“.

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„Melt“ (Foto: Leonardo Crescenti/Ruhrtriennale)

Tja.

Eindrucksvoll ist diese Arbeit ganz ohne Frage. Das verbaute Material dürfte einen beträchtlichen Wert haben (Achtung! Metalldiebe!), und ob es die Laufzeit (!) der Triennale bis 28. September ohne Blessuren übersteht, muß sich noch zeigen. Das wäre jedenfalls der Beweis für eine hervorragende technische Qualität dieser Konstruktion.

Der arglose Flaneur indes könnte die Installation unter dem gigantischen Stahlkorsett der rostigen Hochöfen glatt übersehen, würden nicht Schilder und Menschenmassen von ihrer Existenz künden. Wenn er sie dann doch betritt und sein Gleichgewicht suchen muß, läßt ihn das langgestreckte Aluminiumgebilde spontan an eine Hüpfburg denken, an eine aufgeblasene Bereicherung sommerlicher Kinderfeste. Nur sind die dank der Materialien Luft und Plastik deutlich leiser.

Fraglos jedoch gehören Scheppern und Donnern des Aluminiums mit zum künstlerischen Konzept der federnden Laufbahn, und grundsätzliche Gedanken über einen gültigen Kunstbegriff und die zeitgenössischen Weitungen desselben wollen wir uns verkneifen. Wenn wir aber standhaft akzeptieren, daß dies ohne Wenn und Aber ein Kunstwerk ist, bleibt doch eine gewisse Beklommenheit angesichts des Aufwands, der hier getrieben wurde.

Einwenden könnte man jetzt natürlich, daß andere soziale Kunstwerke viel teurer kommen, man denke nur an das Denkmal für die deutsche Einheit, das in Berlin (unter anderem unter Mitwirkung der Choreographin Sascha Waltz) entstehen sollte und aus einer Art Wippe besteht, die das Publikum durch Gewichtsverlagerung bewegen kann. Auch so ein beglückendes soziales Erlebnis; allerdings ist mittlerweile fraglich, ob das Berliner Millionenprojekt noch realisiert wird.

Doch den federnden Alusteg mit Namen „Melt“ gibt’s in Duisburg wirklich. Ein Jeder und eine Jede mögen selber urteilen, der Eintritt ist frei.

 

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Nicht eine – viele Filmeinstellungen versammelt Harun Farockis Arbeit „Eine Einstellung zur Arbeit“ im Folkwang-Museum. (Foto: Achim Kukulies/Ruhrtriennale)

Zu sehen ist jetzt auch die Videoarbeit „Eine Einstellung zur Arbeit“ des jüngst verstorbenen Film- und Videokünstlers Harun Farocki und seiner Frau Antje Ehmann, und der Titel ist von feinem Doppelsinn. Filmemacher aus der ganzen Welt filmten Männer und Frauen in Stahl-, Bau- oder Textilindustrie, Wachpersonal, Museumswärter und so fort. Sie lieferten kurze Filme (maximal zwei Minuten Länge) ab, 450 an der Zahl. Die Filme durften nicht geschnitten sein, sind somit in der Sprache der Filmleute jeweils „eine Einstellung“.

Nun sieht die deutsche Sprache für das Wort Einstellung aber auch die Bedeutung von Haltung, Wertschätzung vor, was dem Projekt seine qualitativen Valeurs verleiht. Wenn im abgedunkelten Ausstellungsraum des Essener Folkwang-Museums auf zehn Leinwänden die Zweiminutenfilmchen in bunter Reihenfolge laufen, stellen sich beim Betrachter gegenläufige Empfindungen ein. Der serielle Charakter des Gezeigten verstärkt den Eindruck der Gleichförmigkeit, die Gleichzeitigkeit des Gezeigten hebt dessen Vielfalt hervor. Die Botschaft des ganzen allerdings bleibt verhalten. Und ähnliches hat man häufig schon gesehen, übrigens auch von Farocki.

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Die Choreographie „Levée“ von Boris Charmatz läuft im Folkwang-Museum als Videofilm von César Vayssié. (Foto: Ruhrtriennale)

„Levée“ schließlich ist ein Videofilm, der bei der Ruhrtriennale 2013 entstand. Auf der Halde Haniel in Bottrop führte das Musée de la danse die Performance „Levée des confits“ des Choreographen Boris Charmatz auf, der Filmemacher César Vayssié filmte. Es entstand ein Video aus Luft- und Bodenaufnahmen, das nun in einem separaten Saal des Folkwang-Museums gezeigt wird und hübsch anzusehen ist. Tänzerinnen und Tänzer sind in ununterbrochener Bewegung und vollführen Posen und Gebärden, wie man sie aus dem Tanztheater kennt, gestikulieren, werfen sich in den Staub, fegen Sand und so weiter. In den Luftaufnahmen scheint sich die Gruppe gegen den Uhrzeigersinn zu bewegen, „Entwicklung“ im dramatischen Sinn indes ist nicht auszumachen – anders als beim geradezu schon klassisch zu nennenden Tanzstück „Le sacre du printemps“ (Frühlingsopfer) von Igor Strawinsky, das das nämliche Opfer nicht überlebt. Das inszeniert, wie berichtet, Romeo Castellucci unter Verzicht auf menschliche Darsteller mit Knochenmehl.

www.ruhrtriennale.de




Museum Folkwang: Bis zum Rausch in Farben schwelgen

Von Zeit zu Zeit schwingt sich das Essener Museum Folkwang immer mal wieder auf, mit kräftiger Sponsorenhilfe die Spitzenposition im Ruhrgebiet zu behaupten. Das geht schon seit Jahrzehnten so. Diesmal heißt das Ereignis (eigentlich wenig originell) „Im Farbenrausch“.

So oder ähnlich tauft man eben jene populären Ausstellungen, deren Macher mit Besucherzahlen weit oberhalb der 100 000 kalkulieren können. Sei’s drum. Dass sich die Farbe irgendwann vom umrissenen Gegenstand gelöst hat und vorwiegend Stimmungsträger wurde, gehört zum bildnerischen Basiswissen. Hier kann man’s vielfach sinnlich nachvollziehen und dabei ins Schwärmen geraten.

Davon abgesehen, eröffnet sich immerhin die Chance, Teile des Essener Eigenbesitzes im ungewohnten Kontext neu zu bewerten. Denn 24 von 153 Exponaten gehören zum Essener Fundus. Die Schau, die sich im Kern auf die Jahre 1905 bis 1911 beschränkt, ist also sozusagen in den Beständen verankert. Deren Anfangsgründe gehen bekanntlich auf den Hagener Mäzen Karl Ernst Osthaus zurück, der sehr vorausschauend Arbeiten seiner Zeitgenossen gesammelt hat und dessen Kunstschätze 1922 nach Essen wanderten.

Henri Matisse: "Les toits de Collioure / Die Dächer von Collioure", 1905 (Staatliche Eremitage, St. Petersburg / © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatliche Eremitage, Vladimir Terebenin, Leonard Kheifets, Yuri Molodkovets)

Henri Matisse: "Les toits de Collioure / Die Dächer von Collioure", 1905 (Staatliche Eremitage, St. Petersburg / © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatliche Eremitage, Vladimir Terebenin, Leonard Kheifets, Yuri Molodkovets)

Der Untertitel lautet „Munch, Matisse und die Expressionisten“, es werden also zwei geniale Anreger namentlich genannt. Etwas wolkig sprechen die Kuratoren (Sandra Gianfreda, Mario-Andreas von Lüttichau) von geistiger Verwandtschaft und daraus entspringender subjektiver Empfindung, welche die Bildsprache(n) geprägt hätten.

Punktuell oder auch streckenweise gibt es tatsächlich frappierende Anklänge. Marianne von Werefkin hat mit „Die Landstraße“ (1907) ganz offenkundig Munch nachgeeifert. Heckels „Die Elbe bei Dresden“ scheint aus dem Geiste Van Goghs zu fließen, Pechsteins „Seine-Brücke“ sich den Anstößen der Fauves zu verdanken. Überhaupt hat besonders Pechstein hier einige grandiose Auftritte, etwa mit „Sitzendes Mädchen“ oder „Liegendes Mädchen“, beide von 1910.

Edvard Munch: "Sitzender Akt auf dem Bett", 1902 (Staatsgalerie Stuttgart / © The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatsgalerie Stuttgart)

Edvard Munch: "Sitzender Akt auf dem Bett", 1902 (Staatsgalerie Stuttgart / © The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatsgalerie Stuttgart)

Doch vielfach kann man auch und gerade die Unterschiede besichtigen. Vor allem Munch hebt sich von allen anderen deutlich ab. Zwar wird das eine oder andere seiner Sujets etwa von deutschen Expressionisten aufgegriffen, doch Bildsprache und Atmosphäre sind unvergleichlich.

Eine finanziell derart gut gepolsterte, eher auftrumpfende und prunkende als feinjustierte und konzentrierte Ausstellung (der RWE-Konzern tritt als Sponsor an) wartet selbstverständlich mit vielen Berühmtheiten, etlichen Schauwerten und strahlender Schönheit auf. Etwas name dropping, beinahe schon lexikalisch: Munch, Matisse, Van Gogh, Gauguin, Cézanne, Derain, Signac, de Vlaminck, Braque, Kandinsky, Jawlensky. Dazu deutsche Künstler wie Kirchner, Pechstein, Heckel, Schmidt-Rottluff, Marc, Nolde, Münter. Wenn das nichts ist…

Ernst Ludwig Kirchner: "Mädchen unter Japanschirm", um 1909 (Kunstsammlung NRW, Düsseldorf / © Foto: Walter Klein, Düsseldorf)

Ernst Ludwig Kirchner: "Mädchen unter Japanschirm", um 1909 (Kunstsammlung NRW, Düsseldorf / © Foto: Walter Klein, Düsseldorf)

Allein was hier an Aktbildern, Badenden, Damen mit Hut oder auch an Fluss- und Bootsbildern zusammengetragen wurde, nötigt Bewunderung ab. Die Schar der hochmögenden Leihgeber reicht bis Canberra (Australien), auch gibt es noch nie öffentlich gezeigte Raritäten aus Privatbesitz zu sehen, so etwa Kirchners „Torhaus“ (1910).

Die Hängung folgt mal chronologischen, mal thematischen oder auch biographischen Ansätzen. In verschiedenen Grautönen gehaltene Säle, teils schwelgend und nicht allzu trennscharf benannt („Aufbruch zur Farbe“, „Orgie der reinen Farbtöne“, „Die Suche nach dem Beständigen“, „Streben nach künstlerischer Synthese“), bündeln, gliedern oder verstreuen die Werke. Da wird unterwegs zwischen erlebtem und ersehntem Arkadien unterschieden, als ergäbe das auf dem Felde der Kunst einen Sinn. In einem finalen Bereich werden kurzerhand Stillleben und Figurenporträts miteinander präsentiert, als hätten sie sonst nirgendwo mehr Platz gefunden.

Erich Heckel: "Badende am Waldteich", 1910 (Museum Folkwang, Essen, Dauerleihgabe aus Privatbesitz, seit 2005 (© Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / © Foto: Museum Folkwang)

Erich Heckel: "Badende am Waldteich", 1910 (Museum Folkwang, Essen, Dauerleihgabe aus Privatbesitz, seit 2005 (© Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / © Foto: Museum Folkwang)

Natürlich haben sich Größen wie Matisse, Munch und andere damals weithin ausgewirkt. Wer sie überhaupt nicht rezipiert hätte, wäre ein Ignorant gewesen. Übrigens können die „jungen Wilden“ des deutschen Expressionismus im internationalen Vergleich recht gut bestehen, sie haben das Spektrum des Kontinents bereichert, wenn auch nicht so grundlegend wie die Franzosen.

Beim Rundgang wird man auch finden, wie sehr sich nördliches vom südlichen Licht abhebt und die Bilder der Deutschen mitbestimmt. Ein banaler, jedoch oft unabweislicher Befund. Hin und wieder wird man gar versucht sein, die in Deutschland vorherrschende Malweise „kantiger“ und weniger fließend zu finden, womit man bei Uralt-Klischees angelangt wäre. Vorsicht also mit vorschnellen Schlüssen. Lieber den prächtigen Parcours noch einmal absolvieren, den Katalog studieren und jeden Künstler, jedes Bild auch für sich selbst gelten lassen. Um das Einzigartige zu bewahren, was beim Vergleichen zu entgleiten droht.

Max Pechstein: "Flusslandschaft", um 1907 (Museum Folkwang, Essen / © 2012 Pechstein, Hamburg/Tökendorf / © Foto: Museum Folkwang)

Max Pechstein: "Flusslandschaft", um 1907 (Museum Folkwang, Essen / © 2012 Pechstein, Hamburg/Tökendorf / © Foto: Museum Folkwang)

„Im Farbenrausch“ Munch, Matisse und die Expressionisten. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. Bis 13. Januar 2013. Geöffnet Di-So 10-20, Fr 10-22.30 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 (ermäßigt 7) Euro, Katalog 35 Euro.

Internet:
http://www.museum-folkwang.de
http://www.folkwang-im-farbenrausch.de

P. S.: Wer der klassischen Moderne noch mehr auf den Grund gehen will, reist weiter nach Köln und besucht im Wallraf-Richartz-Museum die Ausstellung „Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes“ (bis 30. Dezember 2012), Katalog 39,90 Euro.




Düstere Szenen und klare Linie – Plakate, Fotos und Grafiken im Museum Folkwang

Karl Jacob Hirschs Plakat "Was will Spartakus?" (1919). Foto: Museum Folkwang

Kaum etwas scheint langweiliger zu betrachten, nichtssagender in der Wirkung als Wahlplakate. Eine bunte, zumeist familienkompatible Szenerie oder ein plumpes Symbol, garniert mit so flotten wie hohlen Sprüchen – fertig. Doch vielleicht ist dies nur Ausweis eines routinierten, ja ritualisierten Politikbetriebes, trotz aller Krisen und Probleme.

Dieser Eindruck von gesitteter Normalität verfestigt sich, blickt man nur ein wenig zurück. Vor 90 Jahren, also in den „wilden“ 20ern, war Wahlkampf nicht weniger als Glaubenskrieg, schufen die Plakatmaler drastische und krasse Szenarien, in denen die werbende Partei als Engel, der Gegner indes als Killer der Menschheit dargestellt werden. Diese grob expressionistische Bildsprache ist nun in Essens Folkwang-Museum (kopfschüttelnd) zu bestaunen, im Rahmen einer Ausstellung, die sich mit Plakaten, Fotos und Grafiken zumeist der 20er Jahre auseinandersetzt. „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist der fast neutral wirkende Titel der großen Schau.

Die Formen waren, mit Blick auf die illustrierte politische Propaganda, ziemlich wuchtig. Der bildmächtige Expressionismus hielt sich nicht mit Filigranem auf. Hinzu kommt eine klare Farbsymbolik bei zumeist düsterer Grundierung. Ein Plakat mit dem Titel „Der rote Hammer der Vereinigten Sozialdemokratie zerschlägt den faschistischen Drachen“, Max Schwimmer schuf es 1927, bedarf im Grunde keiner näheren Beschreibung. Die Gegner, also die Rechten, waren in der Wahl ihrer Mittel nicht weniger zimperlich: Bei ihnen stellt sich der Bolschewismus als Zwergenfratze dar, mit wirrem Haar und gezücktem Dolch. Nur gut, dass ein engelsgleiches Wesen das Volk vor diesem Schurken beschützt.

All dies war gewissermaßen Symbol eines brodelnden Vulkans namens Nachkriegsdeutschland oder Weimarer Republik, wo die politische Debatte regelmäßig in Straßenkämpfen endete. Doch ungeachtet dessen wurde getanzt, gelebt, gelacht – zumindest von denen, die es sich leisten konnten. Und so zeigt die Essener Schau eben auch das dekorative Plakat jener Zeit. Präsentiert mit Walter Schnackenbergs „Deutsches Theater – Vornehmstes Variété Münchens“ symbolträchtig den Hang zum Vergnügen. Ein Paar bestaunt aus der Loge heraus eine Tänzerin – geschwungene Linien, freundlicher Blick, das Leben scheint schön.

Andere Exponate verweisen auf den Aufstieg des Kinos. B. Namirs Plakat zu „Quick“, mit Lilian Harvey und Hans Albers, wirkt fast fotorealistisch. Später entwirft Jan Tschichold, im Sinne von Bauhaus und Neuer Sachlichkeit hellgrundierte Blätter mit grafischen Elementen und viel leerer Fläche. Hier offenbart sich die neue Form, die der Ausstellungstitel vorgibt.

Anneliese Kretschmer: Der Arbeiterdichter Karl Höller (1931).

Von expressiver Kraft zur klaren Linie: Die Essener Ausstellung zeigt auch in der Sparte Fotografie wirkmächtige Beispiele. Auffällig ist, dass die Porträtaufnahmen, als messerscharfe Studien einfacher Leute, überwiegen. Helmar Lerskis „Köpfe des Alltags“ (1928-1931) sind markantes Beispiel. Leere, abgewandte oder trotzig aufbegehrende Blicke, die Gesichter motivfüllend, einzelne Partien durch wunderbares Licht-Schatten-Spiel hervorgehoben: Lerski illustriert das Leiden (an) der Zeit. Oder nehmen wir nur das Bild der Dortmunder Fotografin Annelise Kretschmer, die 1931 den Arbeiterdichter Karl Höller ablichtete. Gesicht und Kleidung verschmutzt, alles wirkt düster wie mancher Holzschnitt von Kirchner. Daneben aber hatte Kretschmer auch den Blick fürs Glamouröse, wie das Bild „Modisches Porträt“ (etwa 1931 entstanden) zeigt. Die fotografierte Dame, vornehm gekleidet mit Kappe, Handschuhen, Gürtel und Rüschenbluse senkt fast schüchtern den Blick – eine Aufnahme der stillen Art.

Das Neue, Sachliche in der Fotografie ist hier vor allem Produkt der zunehmenden Industrialisierung. Die Meister der Kamera entdeckten Strukturen wie etwa Germaine Krull die Verstrebungen des Eiffelturms oder Lotte Goldstern-Fuchs die Kölner Eisenbahnbrücke. Anton Bruehl wiederum bannte eine Anordnung von Garnrollen aufs Fotopapier, gesehen aus der Froschperspektive und aus nächster Nähe. Dieser Blick und das elegante Spiel mit Schatten gibt den Gebrauchsgegenständen eine bedrohliche Größe, als handele es sich um Fabrikschornsteine. Hier also überlagert sich grafische Anordnung mit expressivem Gehalt.

Schließlich Zeichnungen und Druckgrafik: Die Schau blickt etwa auf die Landschaften Alexander Kanolds, die mit ihren geometrisch angehäuften Gebäuden eher bedrohlich denn einladend wirken. Düster-expressionistisches (Kirchner) steht in schärfstem Kontrast zum Konstruktivismus eines László Moholy-Nagy oder El Lissitzky. Es ist eine imposante Schau im Folkwang-Museum, die die Kunst einer aufregenden Zeit ins Blickfeld rückt.

Die Ausstellung „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist im Essener Museum Folkwang bis zum 5. August zu sehen.




Wenn Kunst sich zum Event wandelt – Caspar rockt: Die C. D. Friedrich-Schau in Essen steuert auf 250 000 Besucher zu

Von Bernd Berke

Essen. Davon kann man in Dortmund einstweilen nur träumen: Eine Kunstausstellung, die jetzt stracks auf 250 000 Besucher zusteuert – und freitägliche Öffnungszeiten bis 24 Uhr (heute ist es wieder so weit). Die Schau „Caspar David Friedrich. Die Erfindung der Romantik“ im Essener Museum Folkwang dürfte in diesem Jahr regionale Rekorde aufstellen. Woran mag’s liegen?

Besagter Freitag mit der Möglichkeit zum Besuch bis Mitternacht. Zwar gibt es gerade keine Warteschlangen bis zur Straße hinaus, doch das Haus ist in diesen Stunden durchaus sehr belebt. Erstaunlich genug: Auch zahlreiche jüngere Leute sind am späten Abend hier, die man um diese Zeit eher auf diversen anderen „Szenen“ erwarten würde. Das Folkwang-Museum hat es offen bar verstanden, die Friedrich-Werke als „Event“ zu inszenieren, das man erlebt haben muss. Respektlos gesagt: Caspar rockt! Es ist ja auch wahr: Derart viele Werke des Romantikers an einem Platze, das wird es so bald nicht wieder geben.

Noch dazu handelt es sich um ein ausgesprochen interessiertes Publikum. Die allermeisten haben Führungen gebucht oder sich zumindest einen Audio-Guide besorgt, der die wichtigsten Arbeiten näher erläutert. An diesen Stellen der Schau muss man sich eben ein wenig in Geduld fassen, bevor man etwa berühmte Gemälde wie „Wanderer über dem Nebelmeer“ (um 1818) oder „Das Eismeer“ (um 1823/24) näher betrachten kann. Ganz für sich allein hat man sie nie.

Dieser seidige Glanz in den Augen

Wer einen gruftigen Hang zum Morbiden (Ruinen, Gräber, Eulen usw.) haben sollte, wird hier vielfach fündig. Was man aber vor allem zu „sehen bekommt, sind Sehnsuchtsbilder, die ins Unendliche weisen, zumeist hoffnungsvoll in ein besseres Jenseits. Womöglich gibt es in diesen unruhigen Zeiten einen speziellen Bedarf. Das Innehalten und die Kontemplation, wie sie Caspar David Friedrich unfehlbar anregt, scheinen vielen Leuten höchst willkommene Gemütszustände zu sein.

Bei genauerem Hinsehen und mit etwas Phantasie lässt sich sagen: Vor solchen Bildern bekommen die meisten Menschen unversehens einen anderen Blick, sozusagen einen seidigen Glanz in den Augen. Beispielsweise: Schöne Frauen, die ein Friedrich-Bild betrachten, werden auf diese Weise noch ein bisschen schöner. Ehrlich.

Zurück zur Prosa. Ohne einen potenten Sponsor wie e.on Ruhrgas wäre ein solches Ereignis kaum möglich. Der Konzern hat landauf landab nicht nur für massive Werbung gesorgt, sondern durch beste Kontakte nach Russland wohl auch bewirkt, dass etliche Friedrich-Schätze aus der Eremitage von St. Petersburg etwas reibungsloser nach Essen gelangt sind.

Nach dem Ferienende könnte der bis zum 3. September verlängerten Ausstellung noch einmal ein gehöriger Besucherschub bevorstehen. Außerdem gibt es erfahrungsgemäß eine Art „Torschlusspanik“, bevor eine derartige Schau endet. Kleiner Trost: Wer die Bilder in Essen partout verpasst, kann die Ausstellung zur Not noch in Hamburg sehen.

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INFORMATIONEN

Nächste Station: Hamburg

  • „Caspar David Friedrich. Die Erfindung der Romantik“. Noch bis zum 3. September im Museum Folkwang, Essen (Goethestraße). Ôffnungszeiten: Di-So 10-18,Fr 10-24 Uhr. Eintritt 5 Euro. Besucherbüro: 0201/88 45 301.
  • Anschließend wandert die Ausstellung weiter in die Hamburger Kunsthalle. Dort wird sie vom 7. Oktober 2006 bis zum 28. Januar 2007 zu sehen sein.
  • Als Bewohner Westfalens sollte man die Schau möglichst noch in Essen sehen. Abgesehen von der weiteren Anfahrt gen Norden: Der Eintritt kostet in Hamburg glatt das Doppelte: 10 Euro. Auch gibt es in Hamburg keinen spätabendlichen Besuch.



Krämpfe der Wirklichkeit – Fotografien von Diane Arbus im Essener Museum Folkwang

Von Bernd Berke

Essen. Von Erotik keine Spur: Einsam hockt die Stripperin zwischen zwei Auftritten im schäbigen Hinterzimmer. Von Glorie kein Schimmer: Ein namenloser US-Patriot hat sich mit Flagge und Anstecker („l’m proud“) gerüstet. Doch der „stolze“ Mann sieht erbärmlich aus; ganz so, als hätte er in dieser Leistungsgesellschaft nie eine Chance gehabt. Man glaubt ohne weiteres, dass er zum seelischen Ausgleich glühender Patriot werden musste.

Wenn man die Fotografien der US-Künstlerin Diane Arbus (1923-1971) anschaut, rieseln einem häufig Schauer über den Rücken. Hier begegnet man meist Menschen von den Rändern der Gesellschaft – ungemein frontal und unausweichlich. Jedes Bild scheint einem zuzurufen: Stelle dich der Wirklichkeit!

Oberflächlich betrachtet, summieren sich die rund 180 Schwarzweiß-Aufnahmen im Essener Folkwang-Museum zum Panoptikum wie auf längst vergangenen Jahrmärkten. Ist es Voyeurismus? Man sieht Transvestiten, Dominas mit devot winselnden Kunden, Nudisten, dicke Kinder, Kleinwüchsige, Behinderte, schräge Leute aus der High Society.

Viele der erfassten Momente sind sirrend, manche auch brüllend bizarr. Hier waltet ein Wille zur ungeschönten Wahrheit. „Diane Arbus – Revelations“ heißt die Schau. Enthüllungen also. Im Wörterbuch steht auch: Offenbarungen.

Die in New York geborene Diane Arbus war eine „höhere Tochter“ und schuf anfangs elegante Modefotografte. Dann aber suchte sie andere Welten auf. Wohl in einer Mischung aus Angst und Faszination hat sie sich auf die Schatten- und Nachtseiten der Gesellschaft begeben. In den 50er und frühen 60er Jahren war dies ein Tabubruch. Die Abweichungen, die Arbus gezeigt hat, erweisen sich als eine Art Vorschuss auf spätere, schrille Zeiten. Heute wimmelt jede Nachmittags-Talkshow von Freaks.

Das Bizarre wird allmählich „normal“

Bei Diane Arbus kann jedoch von Banalisierung noch keine Rede sein. Mit geradezu heiligem Ernst verwandelt sie all diese Randfiguren in Ikonen. Dies geschieht mit solcher Beharrungskraft, dass das Bizarre irgendwann beinahe alltäglich wird. Wenn Arbus sich hingegen dem Alltag der „schweigenden Mehrheit“ zuwendet, so entdeckt sie darin wiederum bestürzend krampfhafte Momente. Ein kleiner Junge auf der Straße schreit da unvermittelt existenzielle Not heraus. Und ein ganz junges Paar wirkt so desolat, als wäre es längst in ehelicher Ödnis erstarrt.

Mögliche Folgerung: All diese Menschen sind, in welcher Ausprägung auch immer, aus einem Holz geschnitzt. Ein humaner Ansatz, der auch abseitige Existenzen gleichsam eingemeindet. Dahinter lauert die Grundsatzfrage: Was ist überhaupt „normal“? Doch heute nimmt man diese Gesellschaftskritik in erster Linie als Kunst wahr. Ethik verschwindet hinter Ästhetik. Die Ausstellung war auf US-Toumee und hat nun ihre Europa-Premiere in Essen, es folgen London und Barcelona.

Die von RWE gesponserte Folkwang-Schau bietet mehr als nur die bloße Präsentation der (auf dem Kunstmarkt sehr hoch gehandelten) Fotografien. In drei atmosphärisch dicht gespickten Kabinetten blickt man in die Werkstatt der Künstlerin. Tagebücher, Notizen, Briefe, Lektüre, Handwerkszeug und dergleichen sind hier versammelt. Auch sieht man Kontaktabzüge ganzer Serien, so dass man nachvollziehen kann, welche Motive und Ausschnitte die Fotografin verworfen hat.

Diane Arbus hat den Freitod gewählt. Mit 48 Jahren schnitt sie sich die Pulsadern auf. Vielleicht hat sie die Trennung von ihrem Mann nicht verwunden. Medikamente, die sie gegen Hepatitis nehmen musste, haben vermutlich zusätzliche Depressionen ausgelöst. Oder hatte die Verzweiflung auch etwas mit den Motiven ihrer Fotografien zu tun? Wir werden es nie wissen, wir können nur schauen und ahnen.

„Diane Arbus – Revelations“. Museum Folkwang. Essen, Goethestraße 41. Bis 18. September. Geöffnet Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 49.80 €.




Gedrängtes, bedrängtes Dasein – Folkwang-Museum in Essen zeigt Arbeiten auf Papier von Max Beckmann

Von Bernd Berke

Dem Lebendigen ist alles lebendig, sogar Anzeichen der Langeweile kommen ihm aufregend vor. Selbst wenn Max Beckmann (1884-1950) eine Gruppe von Gähnenden zeichnete, geriet ihm dies zur halbwegs dramatischen Szenerie. Jede Figur gähnt anders, eine offenbar lauter als die Andere, als sei’s ein Wettstreit. Und alle zusammen wirken sie wie ein kakophones Gähn-Orchester. Oder gar wie Bestien, die einander mit weit offenen Mündern fressen könnten.

„Spektakel des Lebens“ heißt die neue Ausstellung im Graphischen Kabinett des Essener Folkwang-Museums. Sie versammelt 64 Beckmann-Arbeiten auf Papier; Zeichnungen und Aquarelle also. Diese eher intimen Genres dienten Beckmann als Proben auf die eigene Wirksamkeit. Die Blätter waren nicht zur Publikation gedacht, er behielt sie für sich. Erst viel später gerieten sie auf den Kunstmarkt. Irgendwann gehörten sie dann zur prachtvollen Privatsammlung Volhard, aus deren Fundus die Schau bestritten wird.

Die spontane Lust am Augenblick

Spontane Lust am Augenblick leuchtet da auf, doch auch ein nervös-fahriger Gestus wird sichtbar, der den wechselvollen Dingen des Lebens seismographisch nachzittert. Kein modulierend fließendes Licht besänftigt diese Beckmann-Darstellungen, die Umrisse treten meist hart und fest hervor. Es ist der direkte Weg zum Bild. Ohne Umschweife. Ohne symbolische Umwege.

Die Themen schöpfte Beckmann mitten aus dem prallen Menschenzirkus. Karnevaleskes Chaos steht neben schwülen Bordell-Szenen. „Die Schauspieler“ (1940) versprechen dem Künstler ebenso vitale Erregung wie das hektische „Redaktionszimmer“ (1924). Kriegslüsternheit („Die Letzten“, 1919) bricht sich so unvermittelt Bahn wie sexuelle Phantasien („Traum“, 1927) oder würgende Alpträume („Frauenkämpfe 1947). Düster drohende „Indianer in der Stadt“ (um 1949) erobern die Straße. Sogar gleich nach einer Beerdigung geht’s schrecklich heiter weiter: Lüstern winken die Trauergäste der am Straßenrand liegenden Hure zu. Spaßgesellschaft anno 1946, gleich nach dem Kriege…

Frontstellung zwischen den Geschlechtern

Ein Grundthema Beckmanns ist die manchmal gewaltsam ausartende Frontstellung zwischen Mann und Frau, die aus verschiedenen, einander feindlich begehrenden Weiten zu stammen scheinen. Umarmungen wirken verzweifelt und allemal unerfüllt, nicht etwa zärtlich. Auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet, bleiben sich die Geschlechter fremd.

Wahrscheinlich rührt die ganze Misere aus biblisch-unvordenklichen Zeiten her. Eine geradezu in wilder Wut hingeworfene Zeichnung zeigt die aus dem Bauche Adams hervor schießende Eva, die sich bereits eitel gebärdet. Mit Schmerzen hat es also schon begonnen, könnte man folgern. Vielleicht war’s ja der Zorn des abgewiesenen Liebhabers Beckmann, der hier künstlerisch verrauchte. Doch Schluss mit der Küchenpsychologie.

Und hin zum Seh-Erlebnis: So dicht miteinander verzahnt und voneinander durchdrungen äußert sich hier das Leben, so ineinander gepresst, dass es zuweilen den Atem raubt. Gedrängtes, bedrängtes Dasein.

Max Beckmann: „Spektakel des Lebens“. Arbeiten auf Papier. Folkwang-Museum, Essen. Bis 7. April. Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 24,50 €.




Robert Frank: Bilder aus den Randzonen des Sichtbaren – Arbeiten des Filmemachers und Fotografen in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Beim Umgang mit den vielen Bildern, die täglich auf einen einstürmen, befindet man sich zwangsläufig im Zwiespalt. Auch einem Manne wie dem Fotografen und Filmemacher Robert Frank (76) ergeht es nicht anders.

Er kennt den Impuls, aus dem Rauschen der unendlichen Bilder-Flut gültige, dauerhafte Momente festzuhalten. Doch vom Film her weiß er, dass es d a s eine Bild, welches für sich genommen alles aussagt, gar nicht geben kann. Denn alles ist im Fluss.

Das Museum Folkwang widmet Robert Frank jetzt eine anregende Ausstellung, die künstlerische Wegstrecken zwischen Überfülle und Zerfall der Bilder ausmisst. Zu sehen sind vor allem Fotografien und experimentelle Filme. Titel des Ganzen: „Hold still – keep going“, also etwa: Bleib da – geh‘ weiter. Da haben wir ihn wieder, diesen Zwiespalt.

Robert Frank, 1924 in Zürich geboren, wanderte 1947 in die USA aus. Anfangs verdiente er dort sein Geld u. a. mit Modefotos für „Harper’s Bazaar“, mit journalistischen Aufgaben und Werbung. 1958 machte in den Staaten sein Bildband „The Americans“ Furore. Er enthielt spontan und radikal subjektiv wirkende, freilich hinterrücks treffende, im Kopf flirrend nachwirkende Beobachtungen des dortigen „way of life“ und seiner Idole. Die Haltung oszilliert zwischen Sentiment und ironisch-kritischer Distanz. Daraus erwuchs eine Ästhetik, die mindestens in die 60er Jahre voraus deutete.

Erst aus der Sequenz erwächst so etwas wie „Wahrheit“

Frank misstraute längst den „dokumentarischen“ und erzählerischen Ansprüchen des Metiers. Nicht das Einzelbild verhieß ihm eine Annäherung an die „Wahrheit“, sondern –dem filmischen Beispiel folgend – ganze Sequenzen, oft scheinbar chaotisch collagiert, mit Schriftzügen unterlegt oder von ihnen durchkreuzt.

Nicht um vermeintliche objektive Anschauung geht es hier, sondern um Intuition, Gespür für den Moment und Sinn für den Zufall, für die Randzonen des Sichtbaren. Da darf ein Bildmotiv ruhig unscharf sein, es darf in die Schräge kippen, Gesichter dürfen mittendrin angeschnitten werden oder verwackelt aussehen. gekoppelt. Es wirkt bei Robert Frank umso authentischer, wie im frischesten Moment beim Schopfe gepackt und noch nicht von Reflexion überlagert. Wie Filmstreifen sind manche dieser Bilderfolgen gekoppelt. Das Auge des Betrachters irrt hin und her zwischen den fragmentierten Sekunden. Eine ungerichtete, zuweilen ratlos schwankende Wahrnehmung, wie sie ja eigentlich auch den Alltag prägt.

Karge Inventuren bis zum gähnenden Nichts

Karge Inventuren: hier eine bloße Hand, dort einfache Gerätschaften, nahezu leere Zimmer. Aufmerksamkeit im Wartestand, bereit zum Sprung. Manche Bilder sind Umkreisungen der Trostlosigkeit und des gähnenden Nichts. Doch sie künden auch von der Suche nach dem Einfachen, an das man sich halten kann.

Seltsam der Sog der Filme, wenn man sich auf die Fährnisse der Handkamera einlässt: Man sieht scheinbar banale Szenen wie die vom Farbigen, der fiebrig zwischen Autos umherläuft und an der roten Ampel für ein paar Cents Scheiben reinigen will. Immer wieder. Oder man leidet mit an der Einsamkeit jenes Mannes. der in der U-Bahn schwadroniert, während alle anderen betreten schweigen. Partikel von Sozialdramen, mit dem Seziermesser herausgelöst.

Robert Frank, der auch mit dem verrufenen Beat-Poeten Jack Kerouac unterwegs war, treibt es mitunter weit mit seinen Zumutungen: Über die „Rolling Stones“, für die er das Plattencover zu „Exile on Main Street“ entwarf, hat er 1972 Film „Cocksucker Blues‘ gedreht. Er war den Stones „zu hart“. Mick Jagger & Co. verboten die Aufführung. Die Jungs haben trotz aller Exzesse immer aufs Image geachtet.

Bis 11. Februar 2001 im Folkwang Museum, Essen (Goethestraße). Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 40 DM.

 

 




Die nüchterne Schönheit – Essener Ausstellung erkundet Einflüsse des Bauhauses in Nordamerika

Von Bernd Berke

Essen. Als neue Vereinigung der spezialisierten Künste verstand sich das ruhmreiche „Bauhaus“ in Weimar und später in Dessau. Alle Kunstformen sollten, auf der Basis soliden Handwerks, in der Architektur wieder zusammenfinden – fast wie in einer mittelalterlichen „Bauhütte“, doch den Ansprüchen des technischen Zeitalters gemäß.

Das Essener Folkwang-Museum führt nun vor, dass die Entwicklung inhaltlich und geographisch weite Kreise gezogen hat. Am liebsten hätten die Bauhaus-Meister (Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Josef Albers, Laszlo Moholy-Nagy, Paul Klee, Wassily Kandinsky und etliche andere) mit ihren Künsten wohl das gesamte Leben erfasst. Es sollte keine Schnörkel mehr geben, alle Formen sollten sich an die Funktion schmiegen, und zwar in sämtlichen Sparten: Baukunst, Technik, Werbung, Mode, Theater, Fotografie, industrielle Formgebung…

Schon in der Weimarer Republik war das politisch-soziale Klima fürs Bauhaus widrig, es ließe sich da eine wahrhaft dämonische Geschichte von Plüsch-Verlogenheit und Präfaschismus erzählen. Die Nazis vertrieben das Bauhaus 1933 endgültig aus Deutschland. An diesem Wendepunkt setzt die Essener Schau mit über 350 Exponaten an. Sie erkundet den nachhaltigen Einfluss jener Bauhaus-Künstler, die in die Vereinigten Staaten emigrierten.

Beruhigend zweckmäßig oder kühl abweisend

Am Beginn des Rundgangs finden sich einige Objekte und Dokumente aus der Dessauer Zeit, z. B. die berühmten Stahlrohrmöbel von Marcel Breuer, Klee-Gemälde oder ein Textil-Musterbuch – und schon geht es flugs über den großen Teich. Der US-Schwerpunkt der Ausstellung lässt ahnen, wie tiefgreifend die Bauhaus-Lehre in Chicago und New York gewirkt hat. Die gelegentlich Furcht erregenden Fluchtlinien amerikanischer Wolkenkratzer-Architektur lassen sich durchaus beziehen auf Gebäude, die die deutschen Emigranten dort errichteten. Die nüchterne Reduzierung aufs Wesentliche, oft so wohltuend schmucklos und beruhigend zweckmäßig, zeigt hier mitunter ihr anderes, kühl abweisendes Gesicht.

Zahlreiche Arbeiten amerikanischer Bauhaus-Schüler, die etwa im Geiste Mies van der Rohes stadtplanerische Visionen entwarfen, bezeugen direkte Einflüsse. Die Schau hält hier auch Überraschungen bereit: Wer hätte etwa gedacht, dass ein Josef Albers dem späteren Pop-Art-Heroen Robert Rauschenberg erste Wege gewiesen hat? Bekannter ist schon dieses familiäre Gespann: Andreas Feininger, Sohn des Bauhaus-Malers Lyonel, prägte als Bildredakteur e der Illustrierten „Life“ und als Fotograf die ästhetischen Vorgaben auf diesem Felde mit.

Der Essener Baukonzern Hochtief finanziert die Schau und begeht damit sein 125-jähriges Bestehen. Es durfte also einiges kosten, musste aber huschhusch gehen, weil die Idee erst vor einem Jahr aufkam, als Hochtief das Klee-Haus in Dessau restaurierte. So ließen sich Honorare für eine Kölner Designfabrik abzweigen, die die Schau eilends durchgestylt hat. Edel hat man rahmenlose Bilder und Fotos in die Stellwände eingesenkt, die überall umlaufenden Schriftzüge künden von Eleganz. Ob sich die Exponate dadurch besser erschließen, steht aber auf einem anderen Blatt.

„Bauhaus: Dessau – Chicago – New York“. Museum Folkwang. Essen, Goethestraße. 12. August bis 12. November, Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 15 DM, ermäßigt 10 DM, Familie 30 DM. Katalog 50 DM.

 

 




Die Besinnung nach den wilden Zeiten – Ernst Ludwig Kirchners erstaunliches Spätwerk in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Als der Künstler Ernst Ludwig Kirchner 1923 nach Davos kam, war er völlig entkräftet, teilweise gelähmt und drogensüchtig. Die vitalen und manchmal wilden Jahre des Expressionismus in Dresden und Berlin lagen hinter ihm. Nun begab er sich in dauerhafte ärztliche Obhut, suchte in der stilleren Schweiz Ruhe und Besinnung, übte als einzigen Sport das eher meditative Bogenschießen aus.

Derlei Lebens-Wandel musste sich auch aufs bildnerische Schaffen auswirken. Wenn jetzt das Essener Folkwang-Museum Kirchners Schweizer Spätwerk (bis zum Freitod des von den Nazis als „entartet“ Verfemten im Juni 1938) ins Zentrum rückt, so können wir einen anderen Kirchner entdecken, als er uns aus Zeiten der Künstlergruppe „Die Brücke“ vertraut ist.

Der Abgesang auf den Expressionismus hatte sich verbal um 1919 angekündigt. Der endgültige Abschied hatte dann zunächst praktische Gründe: Kirchner ließ sich aus Berlin etliche Bilder nach Davos schicken. Die Leinwände wurden für den Versand gerollt und datbei vielfach beschädigt. Also galt es, sie eigenhändig zu restaurieren. Der selbstkritische Kirchner nahm gleich eine Revision vor.

Beispiel: Das 1910 angefertigte Bild „Eisenbahnüberführung in Dresden-Löbtau“ übermalte Kirchner 1926 derart gründlich, dass es seinen Charakter änderte. Er tilgte den nervös-expressionistischen Gestus und setzte ruhige Flächen, wo vorher fahrige Striche gewesen waren. Das ganze Bild wirkte nun weit weniger spontan, dafür umso klarer und monumentaler. In ähnlicher Weise, glättend und besänftigend, verfuhr er mit weiteren Werken.

Unterwegs zur symbolischen Darstellung

Daraus entwickelte sich auch bei Neuschöpfungen jener Stil, welcher (nach einem prägnanten Wort Kirchners) nicht mehr schauend sondern bauend vorging, sprich: Das unmittelbar Gesehene trat zurück hinter sorgsam arrangierte Form-Additionen, die sich zusehends symbolisch verdichteten.

Tänzerinnen (ein Hauptmotiv in dieser Phase) sind nun nicht mehr so sehr lebendige Wesen, sic verkörpern stattdessen ein allgemeineres Prinzip bunt umrankter Freude. Schweizer Bergbauern stehen fürs entbehrungsreiche, in Traditionen verwurzelte Leben schlechthin.

Häufig breitet sich nun rund um die Figuren eine Aura von Farbfeldern aus. Dies hat nicht nur esoterischen Beigeschmack, sondern erweist sich auch als Mittel zur psychologischen Durchdringung.

Auf solch abstrahierende, aber doch „lesbare“ Art vermag Kirchner zwei Seiten einerPersönlichkeit zugleich darzustellen. Einen Mäzen zeigt er halb im Schatten – die helle Seite bezeichnet das öffentliche Wirken, die dunkle die Homosexualität, die der Mann verbarg. Fast eine triviale Fügung. Ähnlicher Fall: Mutter und Sohn, einander fast feindlich gegenüber gestellt, sind in doppeltem Umriss sichtbar. Bittere Realität und Wunsch nach besserem Einvernehmen sind als simultane Überblendung gegenwärtig.

Die Schau lässt durch punktuelle Vergleiche mit anderen Künstlern (Picasso, Max Ernst, Le Corbusier) Verwandtschaften erkennen. Zuweilen befindet sich Kirchner ihn ihrem Kielwasser, dann wieder schreitet er voran. Manchmal herrscht in ein und demselben Bild derart unbekümmerter Stil-Pluralismus, als habe Kirchner bereits die Heraufkunft yon Pop-Art und Postmoderne beschleunigen.

Ernst Ludwig Kirchner: „Farben sind die Freude des Lebens. Essen, Folkwang-Museum (Goethestraße). 9. April bis 18. Juni. Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 8 DM, Katalog 42 DM.




Was ist echt, was ist falsch? – Vom Unbekannten mit Schlapphut und der Essener „Jawlensky-Ausstellung“

Von Bernd Berke

Essen. Ein richtiger kleiner Kunst-Krimi verbirgt sich hinter der neuen Ausstellung im Essener Folkwang-Museum. Man stelle sich vor: Da tauchte vor Jahren ein anonymer Herr mit tief ins Gesicht gezogenem Schlapphut auf und führte dem deutschen Markt Hunderte von Aquarellen des modernen Klassikers Alexej von Jawlensky (1864-1941) zu. Von der Existenz einer solchen Werkgruppe hatte bis dato auch die Fachwelt nichts gewußt oder auch nur geahnt.

Spurlos ist der „große Unbekannte“ mit dem Schlapphut dann wieder verschwunden – und er hat ein bisher ungelöstes Rätsel hinterlassen: Sind die angeblich zwischen 1906 und 1920 entstandenen Aquarelle echt, oder handelt es sich um raffinierte Fälschungen?

Die Frage konnte nicht einmal naturwissenschaftlich geklärt werden. Stichprobenartige Materialuntersuchungen (Papier- und Farbsorten usw.) ergaben zwar keine Hinweise auf Fälschungen, doch die Herkunft des Riesenkonvoluts von 600 Aquarellen (waren sie in Revolutions- und Kriegswirren versteckt worden?) ist nun einmal höchst dubios. Einige Experten haben die Echtheit heftig bestritten.

Ein Wagnis fürs renommierte Museum

Es bedeutet also ein gewisses Wagnis, wenn jetzt das renommierte Folkwang-Museum diese Dinge ausstellt. Das Unterfangen könnte den guten Ruf ankratzen. Andere Häuser mochten dergleichen nicht riskieren, die Ausstellung hat keine weitere Station.

Museumsdirektor Georg-W. Költzsch sah sich denn auch zu Klarstellungen genötigt: Keinesfalls werde die Schau von Privat-Galerien mitfinanziert, die an einer Aufwertung der Aquarelle interessiert sein könnten. Man wolle selbst an der Klärung mitwirken und sei für alle Thesen empfänglich. Eine hochkarätig besetzte Fachtagung könne womöglich erste Aufschlüsse geben. Im Falle eines Nachweises werde man auch Fälschungen zugestehen. Költzsch: „Wir stellen uns dem Härtetest.“

„Wir wollen es wissen!“ sagt auch Prof. Michael Bockemühl (Kunsthistoriker an der Privatuni Witten/Herdecke), der die Ausstellung maßgeblich mitbetrieben hat und die Bilder für echt hält. Bockemühl: „Bisher gibt es kein stichhaltiges Argument dagegen.“ Man habe einen Briefwechsel zwischen Alexej von Jawlensky und seinem Bruder aufgefunden, in dem von einer Vielzahl von Aquarellen die Rede sei.

Ratlose Parole: „Das Auge ist der Richter“

Die Ausstellung führt eine Auswahl von 37 Ölgemälden (darunter Leihgaben aus dem Hagener Osthaus- und dem Dortmunder Ostwall-Museum), welche unstreitig von Jawlensky stammen, mit 150 der zweifelhaften Aquarelle zusammen. Motto der Auswahl: „Das Auge ist der Richter“. In aller Ratlosigkeit stellt man die Frage nach Original und Fälschung jetzt auch subjektiver Betrachtung anheim.

Es befinden sich ersichtlich einige dermaßen unausgereifte Aquarelle in der Ausstellung, daß sie wohl schwerlich von Jawlensky stammen können. Zugleich sind solche minderen Stücke aber auch ein Argument gegen die Fälschungs-Hypothese. Welcher Nachahmer würde solche Werke in die Welt setzen, wenn er doch den Eindruck erwecken will, sie stammten von einem großen Künstler? Und welcher Kopist würde überhaupt 600 Aquarelle produzieren und damit die Preise per Überangebot wieder nach unten drücken?

Etliche Aquarelle zeugen aber von meisterlichem Duktus, der auf Jawlensky hindeutet. Hier und da weist die Strichführung auf den sicher zugeschriebenen Ölbildern und den motivisch vergleichbaren Aquarellen (Porträts, Mittelmeer-Landschaften usw.) frappierende Ähnlichkeiten auf. Nur: Auch dies könnte auf einen geschickten Fälscher schließen lassen…

Museum Folkwang, Essen (Goethestraße / Tel.: 0201 / 884 53 14). Bis 22. März. Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr. Katalog 45 DM.

 




Bilder wie lockende Früchte – Essener Retrospektive zum Werk von Félix Vallotton

Von Bernd Berke

Essen. Mit Superlativen sollte man vorsichtig sein. Trotzdem: In Essen ist jetzt die weit und breit wohl schönste Kunstausstellung des Jahres zu sehen. Zumindest im Ruhrgebiet hat es heuer nichts gegeben, was der Essener Retrospektive über Félix Vallotton gleichgekommen wäre.

Vallotton wurde 1865 in Lausanne geboren. Zwar kam er schon 1882 nach Paris, doch dort malte er anfangs noch nach Schweizer Art: Alpen-Motive, gelegentlich auch mit weidenden Kühen. Mag sein, daß die Franzosen dies ein bißchen rückständig gefunden haben. Alsbald jedenfalls verlegte sich Vallotton auf Porträts, mit denen man im wohlhabenden Paris mehr Geld verdienen konnte. Daraus erwuchs ein erster Gipfel in Vallottons Schaffen: Intérieurs, also Bildnisse, deren Gefühlswerte mit atemberaubender Genauigkeit von Zimmern und deren Einrichtung bestimmt werden. Es ist, als atmeten diese Bilder ihre Stimmungen leise aus.

Vielsagender Hut auf dem Stuhl

Wie konnte dieser Mann die Stofflichkeit erfassen und betörend sinnlich wiedergeben! Im „Bildnis der Eltern“ (1886) glaubt man den samtenen Sesselbezug mit Händen greifen zu können, so haarfein ist er gemalt. Wunderliche Versteckspiele, die eigentlich Enthüllungen waren: Auf dem Gemälde „Der Besuch“ (1887) ist kein lebendes Wesen zu sehen. Nur ein Hut liegt auf dem Stuhl. Und doch ist der ganze, unterschwellig erotische Charakter der Visite im Requisit atmosphärisch eingefangen.

In der Graphik, die gleichfalls mit herausragenden Beispielen vertreten ist, erprobte Vallotton die Wirkung flächiger Darstellung. Von der Figürlichkeit ließ er sich durch derlei Experimente nicht abbringen. Nach und nach schmolzen freilich alle überflüssigen Details weg, und Vallotton gelangte zu einer prägnanten Formensprache, in der die gezeigten Menschen und Dinge nur noch sie selbst zu sein scheinen – ganz ungestört und doppelt wirklich. Wie Früchte, die unmittelbar vor einem liegen und in die man sogleich hineinbeißen kann.

So rinnt denn der Sand wie ein Urbild jeden Sandes, und das Gebirgsmassiv wird zur reinen Struktur, zum allzeit gültigen Zeichen. Die prallen Akte scheinen majestätisch aus den Rahmungen steigen zu wollen. Für Momente vergißt man, daß diese Bilder aus Ölfarbe und Leinwand bestehen.

Ausflüge bis ins Traumreich

In Vallottons Universum haben etliche Stilrichtungen Platz. Manche Landschaften sind symbolistisch behaucht, späte Aktbilder haben die Neue Sachlichkeit angeregt, wieder andere Werke deuten voraus auf surrealistische Traumwelten oder gar auf die abgründige Leere in den Entfremdungs-Szenen eines Edward Hopper. Drei badende Frauen scheinen in einer Art Teersuppe zu versinken, ein Rückenakt im giftgrünen Wasser und vor schwarzblauem Himmel wirkt wie ein monumentales Phantom der Körperlichkeit. Solch visionäre Kunst stößt Pforten der Wahrnehmung auf. Weiche Drogen fürs Auge.

Museum Folkwang, Essen (Goethestraße). 26. November bis 18. Februar 96. Di.-So. 10-18 Uhr, Do. 10-21 Uhr. Mo. geschlossen. Eintritt 10 DM, Katalog 39 DM.




Die Vermessung des Menschen – Oskar Schlemmers „Folkwang-Zyklus“ und Artverwandtes in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Also sprach der Künstler anno 1930 im Hörfunk: „Wenn erst einmal der Fernseher da sein wird, eröffnen sich auch uns Perspektiven, die gar nicht abzusehen sind… Dann können auch wir uns an die Masse des Volkes wenden.“

Der grandiose Optimist war Oskar Schlemmer (1888-1943). Anlaß seines denkwürdigen Funkauftritts war just jener Werkzyklus, der jetzt im Essener Museum Folkwang gezeigt wird.

Schlemmers „Folkwang-Zyklus“ war Ergebnis eines Ende 1927 gestarteten Wettbewerbs zur Ausgestaltung des Museums mit Wandbildern. Für den damaligen Folkwang-Direktor Ernst Gosebruch stand freilich der Sieger von Anfang an fest: Oskar Schlemmer. Dabei waren die Mitbewerber, Erich Heckel und Willi Baumeister, kaum weniger hochkarätig. In Essen kann man einige ihrer Entwürfe mit denen Schlemmers vergleichen.

„Die jungmännliche Bewegung“

Schlemmer war seinerzeit in Geldnöten. Und so stürzte er sich geradezu in die Essener Arbeit. Er gab sich ungeheure Mühe, um den Wandfries in der zentralen Museums-Rotunde zu gestalten, in deren Zentrum George Minnes Brunnen mit Knabenfiguren (1898) installiert war. Das vorgegebene Thema für die Wandbilder lautete, für heutige Ohren reichlich altfränkisch klingend: „Die jungmännliche Bewegung“. Man könnte das etwa mit Gymnastik oder Sport gleichsetzen.

Doch Schlemmer faßte das Thema viel weiter. Ihm ging es um das Verhältnis zwischen menschlicher Figur und Raum überhaupt. In Essen kann man nun anhand von 180 Arbeiten die Entstehungs-Phasen nachvollziehen. Erst nach vielen Vorstudien und drei Fassungen des Zyklus‘ rang sich Schlemmer zur gültigen Formulierung durch. Das Projekt glich anfangs einer grundlegenden Vermessung des menschlichen Körpers und seiner Bewegungen – in der Tradition eines Dürer oder Leonardo.

Typisierte Figurinen

Resultat sind keine Menschen mit individuellen Zügen, sondern typisierte, abgerundete Figurinen. Diese Jünglinge werden so paßgenau in geometrisch gefaßte Räume gespannt, daß sie mit ihrer Umgebung verschmelzen. Und der Bildraum steht dabei für den ganzen Kosmos.

Zum Vergleich werden in Essen Schlemmer-Gemälde aus der gleichen Zeit gezeigt. Bemerkenswert auch hier, wie präzise er seine Figuren gruppiert und – oft an Treppengeländern entlang – hintereinander staffelt, so daß man meint: Anders kann es gar nicht sein, es darf sich um keinen Millimeter verschieben. Gelegentlich stellt Schlemmer die Figuren in eine quasi surrealistische Schachbrettwelt hinein („Frauenschule“), die bereits an de Chirico gemahnt.

Werke in alle Winde zerstreut

Die historisch aufschlußreichste Abteilung folgt am Ende des Rundgangs. Schlemmer hatte schon 1933 seine Folkwang-Arbeiten wieder abgehängt. Der neue FolkwangChef Klaus Graf von Baudissin paßte sich dem braunen Zeitgeist an und schrieb 1934 eilfertig einen neuen Wettbewerb aus, an dem sich 240 Künstler beteiligten. Unter ihnen auch der Westfale Fritz Winter, der erstaunlich abstrakte Arbeiten einreichte und sogar in die Endausscheidung vordrang.

Es war damals eben noch nicht so recht ausgemacht, ob sich die NS-Machthaber der Avantgarde bedienen oder ob sie sie verfemen würden. Doch das Blatt wendete sich dann rasch, wie man weiß: Werke Schlemmers wurden beschlagnahmt, in alle Winde zerstreut und zum Teil im Bombenhagel des Krieges zerstört…

Oskar Schlemmer: Folkwang-Zyklus / Malerei um 1930. Museum Folkwang, Essen. 12. Dez. 1993 bis 13. Feb. 1994. Tägl. außer Mo. 10-18 Uhr, Do. 10-21 Uhr. Eintritt 5 DM. Zweibändiger Katalog 42 DM.




Van Gogh: Übermächtiges Vorbild – Große Ausstellung in Essen verfolgt seine Einflüsse auf andere Künstler

Von Bernd Berke

Essen. Manchmal ist es nur eine ganz bestimmte Farbnuance oder eine ganz gewisse Art des Pinselstrichs, der an „ihn“ erinnert; dann wieder werden ganze Motiv-Komplexe von „ihm“ übernommen oder zum Beispiel auch die – charakteristisch schräg von oben verlaufende – Blickrichtung auf Flüsse und Boote.

„Er“, das ist Vincent van Gogh. Die anderen, das sind jene Künstler, die zwischen 1890 und 1914 seinem übermächtigen Einfluß entweder erlagen oder ihn produktiv verarbeiteten und dabei mitunter selbst zu Vorbildern der nächsten Generation wurden. Mit der Ausstellung „Vincent van Gogh und die Moderne“ zieht das Essener Folkwang-Museum den Vergleich zwischen van Gogh und seinen mehr oder minder eigenständigen Nachfolgern.

Auch wenn es Einwände gibt, ist dies doch die wichtigste und vor allem aufwendigste Kunstausstellung des Jahres im Revier. Ohne den Sponsor „Ruhrgas AG“, der auch für Risiken geradesteht, hätte man nie und nimmer diese Werkfülle von Leihgebern aus aller Welt bekommen: 54 Bilder von van Gogh (darunter so berühmte wie eine „Sonnenblumen“-Version oder das Kornfeld mit Krähen) und 153 weitere, darunter einige von Picasso, Matisse, Munch sowie zahlreichen Expressionisten. Klaus Liesen, Ruhrgas-Vorstandsvorsitzender, schweigt beharrlich über die Kosten: „Das verrate ich nicht einmal unserem Aufsichtsrat“.

Glanzpunkt der Ausstellung ist sicherlich einer der wenigen direkten Vergleiche zwischen drei Boots-Motiven von van Gogh, André Derain und Max Pechstein, die unmittelbar nebeneinander hängen. Ansonsten ist man bei der Hängung leider vielfach einem chronologischen bzw. gar einem nach Ländern trennenden Prinzip gefolgt. Das macht die Sache unnötig kompliziert, es widerspricht auch dem Konzept. Mag sein, daß es nebenbei mit den strengen Sicherheitsanforderungen zu tun hat. Für den Besucher, der viel Zeit mitbringen sollte, sieht die Angelegenheit dann freilich so aus: Irgendwann zu Beginn des Rundgangs hatte man doch ein Bauernmotiv von van Gogh gesehen? Das entprechende Vergleichsbild taucht jedoch erst „einen halben Kilometer später“ auf.

Weiterhin: Nicht in jedem Falle scheint Vergleichbarkeit überhaupt gegeben bzw. sinnvoll zu sein. Unter großzügigern Blickwinkel ist da nämlich letztlich jeder Künstler der Moderne mit jedem anderen „verwandt“, was wiederum auch mit gesellschaftlichen Ursachen zu tun hat. So zeigt sich etwa im verzweifelt-leeren Blick auf vielen Selbstporträts auch ein Reflex auf die Isolation moderner Künstler, die die gesamte Avantgarde betraf. Auch der allgemeine Zug zum Eigenwert von Form und Farbe ist nicht aus der direkten Beeinflussung durch van Gogh erklärbar.

Jedenfalls zeigt sich deutlich, daß van Gogh in den meisten Vergleichsfällen triumphaler „Sieger“ bleibt. Was bei ihm klar, entschieden und kraftvoll wirkt, verschwimmt manch einem seiner minder genialen Nachahmer (die hier auch zahlreich vertreten sind) zum bloßen Accessoire oder beiläufigen Ornament, zur bloßen Manier.

Andererseits erlebt man auch Überraschungen. Wer hätte gewußt, daß der spätere Beherrscher von Quadrat und Rechteck, Piet Mondrian, anfangs im Stile von van Gogh gemalt hat? Mondrian gehört zu jenen Künstlern, die sich aus dem Schatten des Vorbilds gelöst haben. Bei manch anderem ahnt man, wie erdrückend das Vorbild auf dem Zutrauen zum eigenen Können gelastet haben muß.

„Vincent van Gogh und die Moderne 1890-1914″. Museum Folkwang, Essen, Goethestraße. 11. August bis 4. November (anschließend in Amsterdam). Do, Mi, Do, Sa + So 10-20 Uhr, freltags 10 bis 24 (!) Uhr, montags geschlossen. Eintritt: 15 DM. Katalog 50 DM.

Prosaischer Tip: Es wird mit rund 300 000 Besuchern gerechnet. Einen günstigen Parkplatz wird man also am Folkwang-Museum schwerlich finden. Daher: Fußweg von der Gruga in Kauf nehmen oder öfffentliche Verkehrsmittel bei nutzen.




Wanderer zwischen den Malstilen – Bilder von Hans Platschek in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Vom vielbeschworenen „Zeitgeist“ hat sich der Maler Hans Platschek zwar anregen, nie aber vereinnahmen lassen. In Kunsttheorie (und funkelnder Kunstpolemik) viel zu beschlagen, um neuesten Stimmungen leichtfertig nachzugeben, hat er seit Beginn der 50er Jahre eine vordergründig schlüssige Werk-Entwicklung gleichsam „verweigert“ und sich in vielerlei Stilen umgetan.

Wie jetzt eine Ausstellung des Essener Folkwang-Museums belegt, gab es immer einen „roten Faden“ in Platscheks Werk: Stets spielte Figürlichkeit eine Rolle, sogar in der produktivsten Phase ab der Mitte der 50er Jahre, in der Platschek (damals documenta- und Biennale-Teilnehmer) mit dem – bei anderen Kütistlern völlig gegenstandsabstinenten – Informel experimentierte. Selbst diese scheinbar „wilden“ und spontanen Bilder sind bei Platschek keine chaotischen Mal-Orgien; der Anfangs-Impuls wird eingefaßt in strengere Formen, er sprengt nie den Bildrahmen und bleibt auch bei den traditionellen Materialien: Öl auf Leinwand.

Erste Anregungen empfing Platschek, dessen Familie vor den Nazis nach Südamerika flüchtete, aus der dortigen, in ganz anderen Farben blühenden (Kunst)-Landschaft. Auch sind Einflüsse von Klee und Miró erkennbar.

Interessantester Teil der Folkwang-Ausstellung sind die Beispiele für den Übergang vom Informel zur „Neuen Figuration“ gegen Ende der 50er Jahre. Schlüsselbilder: ein Porträt des Künstlers Emilio Vedova (1959), auf dem schemenhaft, aber doch untergründig-kraftvoll, ein Gesicht aus dem Farbgewoge auftaucht. Der entscheidende Schritt zur Figürlichkeit wird dann mit dem Porträt „Franz Roh“ (1960) vollzogen. Hier drängt die Gestalt mit aller Macht hervor.

In der Folgezeit entwickelt sich Platschek zum kritischen Realisten. Wichtiges Bild in dieser Phase: „Die Sprache der Kategorien“ (1967/68) mit drastischer Kombinatorik. Im Hintergrund eine Kopie des Mittelstücks von Grünewalds Isenheimer Altar, vorn, auf den Betrachter zukriechend, eine nackte Frau, die Platschek aus einem Pornoheft abmalte und der er noch einen Greisinnenkopf aufsetzte.

Vergreisung und Verfall auch auf anderen Bildern dieser Zeit. Ein Baby blickt wie ein Achtzigjähriger aus dem Kinderwagen; ein totes Pferd liegt – beinahe grinsend – in seiner Blutlache, bürgerliche Festivitäten erscheinen allemal als tödlich trostlos.

Neuerdings entfernt sich Hans Platschek wieder von solch sarkastischen Realismen. Jüngste Arbeiten lassen wieder stärker die flächig-malerischen Formqualitäten der Gegenstände hervortreten, so etwa das fast wie ein surrealistisches Zufallsbild aufgebaute „Stilleben mit Hummer und Ibis“ (1988).

(Bis 26. 2.; di-so 10-18, do 10-21 Uhr; Katalog 29 DM)




Gemeinsame Ausstellung der Kunstmuseen im Revier rückt offenbar näher – Wegweisende Idee des Hagener Osthaus-Chefs Michael Fehr

Von Bernd Berke

Hagen. Die Idee des neuen Chefs im Hagener Osthaus-Museum, Dr. Michael Fehr, die Kulturkräfte der Region mit einer gleichzeitigen Eigenbesitz-Ausstellung aller 17 Kunstmuseen des Ruhrgebietes zu bündeln, nimmt konkrete Gestalt an. Die SPD-Fraktionsvorsitzenden der Revierstädte haben sich bei einer Zusammenkunft in Duisburg für ein solches Vorhaben ausgesprochen. Interesse signalisierten auch die Regierungspräsidenten und das NRW-Kultusministerium.

Damit ist der Plan, in den auch der Kommunalverband Ruhrgebiet einbezogen werden soll, auf bestem Wege zur Realisierung. Wunschtermin: Ende nächsten Jahres.

Wie Michael Fehr gestern im Gespräch mit der WR erläuterte, könne die „Kunstsammlung Ruhrgebiet“ (Arbeitstitel des 17er-Projekts) zugleich eine große Revision der Bestände und langfristig ein Umdenken in der Sammlungspolitik einleiten. Man müsse endlich über die jeweiligen Kirchtürme hinausblicken und nicht mehr in jeder Stadt – zwangsläufig mehr schlecht als recht – alle Nachkriegs-Kunstrichtungen sammein, sondern sich spezialisieren (und somit besser profilieren). Beispiel: „Dortmund und Hagen verfügen über die meisten Werke von Expressionisten. Es wäre sinnvoll, wenn andere Museen Einzelbilder dieser Stilrichtung hierher geben“. Umgekehrt könnten sich das Dortmunder und das Hagener Muséum von Stücken trennen, die nicht zu ihren Sammlungschwerpunkten passen.

Daß derlei Tauschaktionen eine ungeheuer schwierige Sache sind, weiß Fehr. Doch immerhin hätten Dortmunder Museumsleute schon Neigung zu solchen Transaktionen erkennen lassen. Komplizierter sei es schon mit dem Lehmbruck-Museum in Duisburg und dem Folkwang-Museum in Essen, die sich ihrer bundesweiten Bedeutung höchst bewußt seien und daher das Augenmerk weniger auf die Region richteten. Fehr glaubt aber, daß mit dem Generationswechsel an der Spitze einiger Reviermuseen (neue Chefs in Dortmund, in Hagen, demächst auch in Essen) einiges in Bewegung kommt. Fehr bezieht in seine Überlegungen übrigens beide großen Dortmunder Museen mit ein, also das Museum am Ostwall und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße.

Vorerst bleiben Tauschgeschäfte der skizzierten Art Utopie. Doch der vorübergehende Wechsel von Exponaten für die Dauer der Ausstellung „Kunstsammlung Ruhrgebiet“ könnte die verhärteten Strukturen bereits lockern.

Fehr, der in Hagen mit einem Minimal-Ausstellungsbudget von 50 000 Mark im Jahr wirtschaften muß, schätzt die Kosten für das revierweite Mammut-Unternehmen auf rund 750 000 Mark und rechnet fest mit Landeszuschüssen. Er verweist dabei auf die Düsseldorfer „Kunstsammlung NRW“, die mit Millionen aus dem Landesetat aufgebaut worden sei. Ersehnter Nebeneffekt des Ausstellungs-Projekts: ein 17bändiger Bestandskatalog, also ein umfangreicher Führer durch die Kunstmuseen des Reviers.

In Sachen Katalogisierung liegt derzeit einiges brach. Fast alle Ruhrgebietsmuseen, so Fehr, sind mit ihrer Inventarisierung Mitte der 70er Jahre stehengeblieben. Die Finanzmisere ließ eine Fortschreibung bisher nicht zu. Unterdessen träumt Fehr auch schon von einem Katalog, der alle im Revier lebenden Künstler vorstellt. Der Hagener Museumsmann: „Was Köln kann, sollten wir auch können“.




Das Unbewußte wird erschreckend sichtbar – 75 Gemälde von Edvard Munch im Museum Folkwang

Von Bernd Berke

Essen. „Die Angst“, „Der Schrei“, „Die Verzweiflung“. Noch nie waren diese drei Bilder des Norwegers Edvard Munch (1863-1944), allesamt Schlüsselwerke moderner Zerrissenheit, außerhalb des Ursprungslandes so beieinander zu sehen, wie jetzt im Essener Museum  Folkwang.

Die drei Werke sind nur einer von vielen Höhepunkten der umfangreichsten deutschen Munch-Präsentation seit rund 15 Jahren. Museumsleiter Prof. Paul Vogt: „Eine solche Ausstellung habe ich mir schon seit 20 Jahren gewünscht.“ Vogt rechnet vorsichtig mit einer Besucherzahl um 80 000.

Es dürfte in der Tat die bedeutendste Ausstellung dieses Jahres einem Revier-Museum sein. Der Anlaß ist prosaisch: Vior genau 10 Jahren wurde erstmals norwegisches Erdgas (vom Ölfeld Ekofisk) in die Bundesrepublik geliefert. Zu diesem Jubiläum zeigte sich die Ruhrgas AG spendabel, sie ist der Mäzen der Ausstellung. Ereignisse dieser Güte „gehen“,  angesichts der Schrumpf-tats der meisten Museen, eben kaum noch ohne Geld aus der Industrie.

25 Leihgeber zwischen Köln und Toronto, vornehmlich aber aus Norwegen selbst, entsandten 75 Munch-Gemälde nach Essen. Frage keiner nach der Versicherungssumme, die Veranstalter nennen sie natürlich nicht. Rare Stücke sind dabei, die sonst praktisch nie verliehen werden. Jedenfalls erlaubt die Zusammenstellung einen Gesamtüberblick über das malerische Schaffen des berühmten Norwegers – von realistischen und impressionistisch-pointillistischen Arbeiten der frühen Jahre bis hin zu melancholischen Selbstbildnissen der Spätzeit.

Die drei eingangs erwähnten Bilder gehören, so sieht man in der (in sinnvollen „Sequenzen“ gehängten) Schau, so und nicht anders zueinander. Auf allen drei Bildern sieht man jenes schräg auf den Betrachter zulaufende Geländer, jene blutroten Himmelsschlieren.

Auch die Geburt solcher Motive und Formen, die Genese einer Chiffrensprache, die das Unbewußte mit malerischen Mitteln geradezu erschreckend sichtbar macht, ist in Essen beispielhaft zu verfolgen. Da ist etwa die unscheinbare Sonnenspiegelung im Gewässer, die in späteren Bildern zum Zeichen gerinnt und nun auch in ganz anderen Zusammenhängen stehen kann. Die Sprache der Dinge ist in die Sprache der Seele übersetzt.

Ein oft geäußertes Vorurteil über Malerei aus Europas Norden wird gründlich widerlegt, nämlich jenes, daß „dort oben“ vorwiegend Denk-Bilder mit bestenfalls duchschnittlichen malerischen Qualitäten entstanden seien. In Munchs visionärem Werk bleibt kein Kompositionsdetail dem Zufall überlassen, die Gestaltungskraft ist von seltener Souveränität. Eindrucksvolle Beispiele geben etwa die Bildnisse (u. a. August Strindberg, Walter Rathenau), die durch Körperhaltung, ja schon durch bloße Farbgebung oder Strichführung die gemalte Person sinnfâllig charakterisieren. Und welche Lichteffekte Munch mit seinen Schneelandschaften erzielt, ist einfach phänomenal.

Die Ausstellung wird in Essen heute um 11 Uhr vom norwegischen Kronprinzenpaar (Harald und Sonja) eröffnet. Ab 18. November ist sie in nochmals erweiterter Form in Zürich zu sehen.

Edvard Munch. Museum Folkwang, Essen, Goethestraße. 18.9. bis 8.11. – Di.-So. 10-18, Do. bis 21 Uhr. Katalog 40 DM. Eintritt (Erwachsene): 5 DM.