Kindheit im Ruhrgebiet – Erinnerung an versunkene Zeiten

Diese Fotografie aus dem Jahr 1958 ist zugleich ein Plakatmotiv der Schau: „Zwei Milchholer in Buer“ (Gelsenkirchen). (© Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Herbert Konopka)

Oh ja, so war es. Wirklich und wahrhaftig: Genau solche kurzen Lederhosen haben wir Jungs („My Generation“) damals Tag für Tag getragen. Robuster ging’s nimmer. Und ja: Das Tischfußballspiel aus Blech kennt man so auch noch. Ebenso grüßen die viele Jahrzehnte alte Spielesammlung und die Märklin-Eisenbahn aus versunkenen Zeiten herüber. Oder jene zerbeulten Kannen, mit denen man ins Milchgeschäft ging. Und, und, und.

Diese Ausstellung weckt Erinnerungen noch und noch, für und für. Überdies macht die Schau „Kindheit im Ruhrgebiet“ im Essener Ruhr Museum deutlich, wie sich auch hier die frühen Lebensjahre verändert haben. Nach dem Krieg herrschte vielfach noch Not. Die breite Mehrheit lebte in sehr schlichten Verhältnissen. Trotzdem erinnern sich die Menschen heute vor allem an Glücksmomente ihrer Kindheit.

Nach und nach drang dann die zuweilen grelle Konsumwelt – wie überall im Lande – mit wachsender Macht in die Kinderzimmer vor. Da gab’s dann in den späten 70er und frühen 80er Jahren die ersten, anfangs freilich noch sehr bescheidenen Spielkonsolen (mit dem Plop-Plop-Klassiker „Pong“ für den TV-Bildschirm) oder gar schon das erste eigene Fernsehgerät im farbstarken Stil der Zeit. Derweil verschwand allmählich die ehedem typische Ruhrgebiets-Kindheit vor rußigen Zechen- und Halden-Kulissen. Auch an Ruhr und Emscher zogen sich die meisten Kinder von draußen in die Häuser und Wohnungen zurück. Traurig genug: Je sauberer die Luft im Revier wurde, umso öfter blieben die Kinder drinnen.

Sichtlich oft und gern benutztes Spielzeug: drei Teddybären – mit dem Buch „Drei Bären“ von Leo Tolstoi, 1950er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Ausstellung, binnen zwei Jahren nicht zuletzt auf Anregung des Kinderschutzbundes (Ortsverband Essen e. V.) entstanden, reicht mit 66 Vitrinen-Exponaten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1989. Spätere Signaturen der Kindheit gelten (noch) nicht als aufbewahrenswert. Es fehlt noch die zeitliche Distanz. Wahrscheinlich tauchen diese Dinge ja eines Tages auf Dachböden oder in Kellern auf und werden wieder wertgeschätzt. Abwarten.

All die jetzt präsentierten Erinnerungsstücke kamen aufgrund zweier öffentlicher Aufrufe zusammen. 2018 meldeten sich zwar etliche Bürger, aber noch kaum mit nostalgischen Kleinoden aus den 80ern. So wurde im Sommer 2019 noch einmal nachgelegt. Michaela Krause-Patuto und ihr Kuratoren(innen)-Team hatten nunmehr eine reichere Auswahl. Sie führten zu jedem ausgesuchten Stück Gespräche mit den privaten Leihgebern, um jeweils einen Erzähl-Zusammenhang herzustellen. Aus diesen Geschichten wiederum ergab sich erlebte Geschichte. Wer das ausgiebig nachschmecken möchte, sollte sich den Katalog besorgen. Das wird jedes Exponat im persönlichen und zeitgeschichtlichen Kontext vorgestellt.

Zunächst galt es, für die Ausstellung den Zeitrahmen der Kindheit zu setzen: Er reicht vom 4. bis zum 14. Lebensjahr – von den ersten bewussten Erinnerungen bis zur Pubertät. So schieden beispielsweise niedliche Babymützen aus dem Angebot aus. Überhaupt wollte man das Ganze eben nicht putzig aufziehen, sondern durchaus ernsthaft und mit historischen Hintergründen angereichert. Darauf legt auch der Museumschef Prof. Heinrich Theodor Grütter großen Wert.

Zeittypische Sammlung: Glanzbilder in Zigarrenkiste, 1960er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Leihgaben verweisen vor allem auf die üblichen Phänomene und Stationen des Aufwachsens: Kindergarten, Schule, Spiele, Familie, Geburtstage, Weihnachten und sonstige Feste.

Die chronologisch angeordnete Galerieausstellung auf der 21-Meter-Ebene des Ruhr Museums wirkt sehr konzentriert. Jedes Exponat wird in einer eigenen Vitrine gezeigt. Das verleiht noch den unscheinbarsten Ausstellungsstücken eine ungeahnte Dignität. Selbst die Knicker-Kügelchen oder die Glanzbilder fürs Poesiealbum haben hier ihren veritablen Auftritt, sie wirken nicht wie Bestandteile eines Sammelsuriums, sondern wie Besonderheiten, die allerdings auch für ein Allgemeines stehen. Bekannter Effekt: Sieht man etwa Klassenfotos bestimmter Jahrgänge, so scheinen sie jeweils innig miteinander „verwandt“ zu sein. Doch natürlich ist jede Kindheit auch individuell verschieden.

Geradezu die Ikone einer ehemaligen Kindheit im Revier: „Henkelmann-Brücke“, Oberhausen, um 1960. (@ Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Rudolf Holtappel)

Und so lässt sich hier eine kleine Zeitreise in diverse Kindheiten der Region antreten. Sie führt vom Schulranzen, den der Bergmanns-Opa für seine Enkelin selbst angefertigt hat, und dem vom Vater gleichfalls selbst gebauten Puppenhaus (das der Elektriker mit winzigen Lichtleitungen versehen hat), übers liebevoll zusammengestellte Fußball-Autogrammalbum bis hin zur rasanten Carrera-Bahn, mit der man in der Ausstellung spielen darf. Überhaupt schließt der inspirierende Rundgang mit einigen „Spielinseln“, auf denen auch Erwachsene mal wieder ein wenig Kind sein dürfen.

Eines der größten Exponate ist eine „Seifenkiste“, die in keine Vitrine passte. Das vielleicht erstaunlichste Stück ist indessen das Holzfenster, das aus einem reviertypischen alten Kiosk (Büdchen) stammt. Als es bei einem Einbruch zerstört wurde, sicherte sich die Enkelin der Inhaberin das Fenster – zur bleibenden Erinnerung.

Nicht nur dreidimensionale Objekte sind zu sehen, sondern auch rund 120 Fotos zum Thema, die aus der ungeheuren Bild-Kollektion des Ruhr Museums stammen, welche rund 4 Millionen (!) Lichtbilder umfasst. Auch die Fotografien bringen, wie die Gegenstände, so manches wortlos auf den Begriff.

Einige Fotos zeigen beispielsweise auch die Kinder türkischer Familien oder anderer Migranten im Ruhrgebiet. Dazu muss man wissen, dass dieser Teil der Bevölkerung sich von den erwähnten Aufrufen überhaupt nicht angesprochen fühlte. Lediglich ganz vereinzelte haben Leute mit spanischen oder italienischen Wurzeln reagiert. Das gibt zu denken, weit über diese Ausstellung hinaus.

Zaghafte Anfänge einer neueren Zeit: Spielekonsole „tele-ball“, 1970er Jahre (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

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P.S.: Anno 2001 gab es mit „Maikäfer, flieg…“ eine entfernt vergleichbare Kindheits-Ausstellung im damaligen Essener Ruhrlandmuseum (Vorläufer des Ruhr Museums), die ich damals ebenfalls besucht habe. Die Besprechung findet sich hier.

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„Kindheit im Ruhrgebiet“. Ruhr Museum, Essen (Gelände der Zeche Zollverein, in der Kohlenwäsche, Galerie auf der 21-Meter-Ebene. Gelsenkirchener Straße 181 / Navi: Fritz-Schupp-Allee). Vom 7. September 2020 bis zum 25. Mai 2021, geöffnet täglich (auch Mo) 10 bis 18 Uhr. 24., 25. und 31. Dezember geschlossen.

Eintritt 3 €, ermäßigt 2 €, Kinder und Jugendliche unter 18 frei (Führungen gibt es schon für Kinder ab 5). Besucherdienst: Mo-Fr 9-16 Uhr, Tel. 0201 / 24681 444. Katalog 24,95 Euro.

Online Tickets buchen: https://ruhrmuseum.ticketfritz.de

Beim Besuch gilt die Corona-Schutzverordnung des Landes NRW. Aktuelle Details: www.ruhrmuseum.de/de/informationen-zum-besuch/ hygiene-und-vorsorgemassnahmen/

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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