Märchenwelten: Das Musiktheater im Revier vereint Kurzopern von Tschaikowsky und Strawinsky zum reizvollen Doppel

Ein Garten wie eine Insel: Jolanthe (Heejin Kim) ist blind und lebt abgeschieden von der Welt. Doch Ritter Vaudémont naht (Khanyiso Gwenxhane. Foto: Pedro Malinowski)

Die Liebe lehrt sie sehen: Jolanthe, blinde Titelheldin von Tschaikowskys letzter Oper, gleicht einer Dornröschenfigur, die erwacht – und dadurch erwachsen wird. Von ihrem Vater streng behütet, erfährt sie erst durch einen fremden Ritter, dass es jenseits ihres abgeschiedenen Gartens eine sichtbare Welt voller Farben und Formen gibt.

Märchenhafte Züge trägt auch Igor Strawinskys Oper „Le rossignol“ (Die Nachtigall), ein Auftragswerk nach einer Vorlage von Hans Christian Andersen. Weil beide Werke nicht abendfüllend sind, erlebt man sie selten auf der Bühne. Das Gelsenkirchener Musiktheater (MiR) bindet sie jetzt zu einem reizvollen Doppel zusammen.

Das ist eine hübsche Alternative für alle, die dem engen Repertoire von Spielplänen entkommen möchten, die allseits bekannte Evergreens immer wieder neu auflegen. „Carmen“, „Die Zauberflöte“ und „Rigoletto“ bringen eben gute Publikumszahlen, und wer oder was würde heutzutage nicht an der Quote gemessen? Dabei gäbe es so viel gute Musik zu entdecken. Der neue Doppelabend in Gelsenkirchen ist dafür ein schöner Beweis.

Jolanthe (Heejin Kim) wird von ihren Dienerinnen eingekleidet (Foto: Pedro Malinowski)

Weil beide Kurzopern eine fantasievolle, optisch ästhetische Umsetzung erfahren, verzeiht sich manche Unbeholfenheit der Regie. Zu deren Verteidigung muss auch gesagt werden, dass Tschaikowskys „Jolanthe“ nach stimmungsvollem Beginn ins Sentimentale abrutscht. Das versucht Tanyel Sahika Bakir zu verhindern, indem sie das „Erwachen“ der Titelheldin nicht in allgemeines Gotteslob münden lässt, sondern Jolanthe von ihrer Insel der Seligen holt. Ihr Gartenrondell schwimmt wie eine Seerose in einem tristen Bühnenhalbrund, in dem schwer bewaffnete Männer die Herrschaft ihres Vaters durchsetzen (Bühne: Julia Schnittger).

Ihn, den König René, erkennt sie erst nach der Heilung durch den Arzt Ibn-Hakia als Despoten. Aber das erschließt sich erst nach der Lektüre des Programmhefts. Um zu diesem Ende hinzuführen genügt es nicht, eine gesichtslose Soldateska ausgiebig mit Gewehren herumfuchteln zu lassen. Eine Duell-Konstellation zwischen dem Ritter Vaudémont, der Jolanthe liebt, und König René, der die Tochter weiter unter Kontrolle halten will, wird nicht deutlich. Stattdessen scheint plötzlich jeder auf jeden zu zielen. Das hinterlässt Fragezeichen.

Mit Waffengewalt wird Jolanthes Welt beschützt (Foto: Pedro Malinowski)

Alles Weitere fügt sich in der Produktion so ineinander, dass dieser Jolanthe ein angemessener Liebreiz zuwächst: eben nicht süßlich, sondern lyrisch und licht. Dafür sorgen an erster Stelle das Gesangsensemble und die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Rasmus Baumann, die Tschaikowskys Partitur mehr und mehr in Fluss bringen.

Aus dem kammermusikalischen Beginn – nur Holzbläser und Hörner gestalten das Vorspiel – entwickelt sich ein grandioses Melos, das in die Seele der Hauptfiguren hineinleuchtet. Dazu gibt es lautmalerische Effekte, wenn die Ankunft des Königs mit Hörner- und Trompetenschall zelebriert wird, wenn Bratschen und Celli das Getrappel der Pferde nachahmen oder wenn der Arzt Ibn-Hakia sein Therapiekonzept mit orientalischen Melismen ausschmückt.

Heejin Kim versteht sich darauf, ihren Sopran aus innigem, beinahe schüchternem Piano aufblühen zu lassen. Auch wenn die große Entdeckung, die Jolanthe durch den Ritter Vaudémont macht, immer höhere Wogen schlägt, behält die Sängerin diesen hellen Schimmer bei, nimmt sie uns mit auf einen Wellenritt der Emotionen. Für ekstatische Höhepunkte hat sie genug Durchschlagskraft, setzt diese aber mit eleganter Zurückhaltung ein. Khanyiso Gwenxhane zeigt sich als Ritter Vaudémont auch stimmlich glänzend gerüstet: Sein Tenor vereint Geschmeidigkeit mit hellen Farben. Dem setzt Philipp Kranjc (König René) als sein Gegenspieler einen markigen Bass entgegen. Benedict Nelson mischt als Arzt Ibn-Hakia zweifelnde Töne in seinen warmen, empathisch klingenden Bariton.

Unterstützt werden die musikalischen Leistungen durch die Kostüme von Hedi Mohr, die unaufdringlich ein Aufeinandertreffen von Islam und Christentum andeuten, und die Beleuchtung von Patrick Fuchs, die das künstliche Rondell aus dem Dunkel herausschneidet, als sei es das verlorene Paradies.

Ja wo ist sie denn? Der Hofstaat sucht nach der Nachtigall, denn sie wird vom Kaiser von China erwartet. (Foto: Pedro Malinowski)

Deutlich bunter, ja beinahe comichaft geht es in Strawinskys „Le rossignol“ zu, in der sich die Regie von Kristina Franz sehr wirkungsvoll mit dem Puppentheater ergänzt. Das Märchen von der chinesischen Nachtigall, die in der kaiserlichen Gefangenschaft zunehmend versagt und leichtfertig durch einen Automaten ersetzt wird, deutet die Regie als Kampf zwischen Natur und Künstlichkeit, letztlich auch zwischen Leben und Tod. Auch dies erschließt sich eher im Programmheft als auf der Bühne, aber die szenische Umsetzung ist so hübsch anzusehen und Strawinskys Musik so originell, dass sich darüber hinwegsehen lässt.

Im Wesentlichen ist „Le Rossignol“ ein stimmlicher, mit Koloraturen und Spitzentönen gespickter Hochseilakt. Den meistert die belgische Sopranistin Lisa Mostin bewundernswert schwindelfrei; die Spezialisierung auf dieses Fach ist ihr anzuhören. Frei bewegt sie sich aber nicht nur stimmlich: Sie stellt auch in ihren Bewegungen ein Naturwesen dar, in einem unscheinbaren braunen Kleid, das sich von der farbenfroh gewandeten Hofgesellschaft absetzt (Kostüme: Hedi Mohr).

Eine Schachfigur erwacht zum Leben: Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Maximilian Teschemacher führen eine Puppe von Jonathan Gentilhomme (Foto: Pedro Malinowski)

Der zweite große Clou dieser Inszenierung sind die Puppen von Jonathan Gentilhomme, der einer kleinen weißen Schachfigur zunächst einen kleinen Kobold entsteigen lässt, der allmählich zum Riesen wächst (und laut Programmheft den Tod darstellen soll). Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Maximilian Teschemacher bewegen diese Figuren so kunstvoll, dass sie ein staunenswertes Leben gewinnen.

Vokaler Höhenflug: die belgische Sopranistin Lisa Mostin als Nachtigall (Foto: Pedro Malinowski)

Im Orchestergraben gelingt es Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen, der Musik über den Bruch hinweg zu helfen, der sich durch die zwischenzeitliche Uraufführung von „Le Sacre du Printemps“ im Kompositionsprozess ergab. Klingt im ersten Akt noch Impressionistisches à la Claude Debussy durch, wird es im weiteren Verlauf deutlich moderner, ragt das Werk hörbar ins 20. Jahrhundert hinein. Dass „Le Rossignol“ sich auf der Opernbühne nie so recht durchsetzen konnte, ist nicht allein der Musik wegen schade. Kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs entstanden, besitzt die Fabel einen zeitlos aktuellen Kern: Mensch, Natur und Seele stehen auf der einen Seite, der kalte Mechanismus der Maschine auf der anderen.

(Karten und Termine: www.musiktheater-im-revier.de)




Fall ohne Fallhöhe in Gelsenkirchen: Gabriele Rech verpasst „Madama Butterfly“ ein neues Ende

Hochzeits-Show für den Fremden im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ in Gelsenkirchen. (Foto: Björn Hickmann)

Irgendwann musste es so kommen: Am Ende von Giacomo Puccinis „japanischer Tragödie“ richtet Madama Butterfly den Dolch nicht gegen sich selbst, sondern sticht den hereinstürzenden Pinkerton ab. Damit macht Regisseurin Gabriele Rech das Opfer zur Täterin, nimmt ihr die Fallhöhe.

Tatsächlich ein „Schritt in Richtung Unabhängigkeit“, wie das Programmheft der neuesten Produktion des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier meint? Eher eine jener aufgesetzten Ideen, deren hervorstechender Wert die Neuheit ist.

Der Reihe nach. Dirk Beckers Bühne signalisiert von Anfang an: Hier wird „Japan“ für Touristen mit speziellen Interessen inszeniert. Papierwände und Kirschblüten als Deko, ein Podium, mit silbernem Glitter verhängt. Grotesk auf eine Wand vergrößert, gehört auch Katsushika Hokusais zum Kitsch verkommene „Große Welle von Kanagawa“ zum Inventar. Japanerinnen in bunten Folklore-Kostümen (Renée Listerdahl) trippeln herein. Ein paar Damen hängen an einer reichlich mit Flaschen ausgestatteten Bar ab. Der passend geschmeidig singende Goro (Tobias Glagau) vermittelt nicht nur Quartier, wird mit dem vergnügungswilligen B.F. Pinkerton schnell handelseinig. Immer wieder wechselt Geld die Hände.

Die Kolleginnen verfolgen interessiert die Show der Madama Butterfly. Die „Verwandten“ der arrangierten Hochzeit können ihr Kichern kaum verbergen. Und Michael Heine wirft sich als wütender Onkel Bonze mächtig ins Zeug. Wer für einen kurzen Moment glaubt, jetzt werde es ernst und die Galerie über der Szene repräsentiere eine Art inneres Gewissen der Cio-Cio-San, verliert diese Illusion schnell. Die „Bekehrung“ Butterflys zur Religion des Amerikaners gehört ebenso zum Spektakel wie das mit Gelächter verkündete Lebensalter von 15 Jahren. Zum Höhepunkt: Liebesduett mit falschen Papierampeln und Thomas Ratzingers Stimmungslicht.

Die tiefe Liebe an der Bar? In Puccinis „Madama Butterfly“ am Musiktheater im Revier bleiben Fragen offen. Ilia Papandreou (Cio-Cio-San) und Carlos Cardoso (Pinkerton). (Foto: Björn Hickmann)

Als die Show im zweiten Akt zu Ende ist, das Papier zerfetzt, die Bar geleert, stellt sich die Frage: Warum hängt „Madama Butterfly“ noch in diesem Ambiente herum, angetan mit der abgeschabten Uniformjacke ihres in die USA entschwundenen „Gatten“? Wie ist es möglich, dass ein professionelles Showgirl sich mit Haut und Haaren an einen Kunden verliert und seit fast drei Jahren auf die Rückkehr des Marineleutnants wartet? Woher ein solches fundamentales Missverständnis?

Calixto Bieito hat einst an der Komischen Oper – die Musik Puccinis bewusst missverstehend – Butterflys Strategie von Anfang bis Ende ausinszeniert: Ziel war es, mit einer Green Card rauszukommen aus ihren Milieu. Was Gabriele Rechs „Butterfly“ bewegt, aus Sehnsucht an der Flasche zu hängen, erschließt sich nicht. Und wenn sich im Duett „Bimba, dagli occhi pieni di malia“ der psychologische Schalter in Richtung schwärmerisch-radikaler Liebe umgelegt haben sollte, bleibt die Inszenierung diesen Moment schuldig.

Puccinis Oper über eine existenzielle Tragödie ließe sich wohl auch als soziales Drama erzählen, wäre da nicht die Perspektive des Komponisten, der alle Figuren auf Cio-Cio-San als Zentrum ausgerichtet hat. Rech entwertet die innere Katastrophe der Butterfly. Pinkertons Handeln erscheint in diesem Kontext durchaus verständlich und konsequent pragmatisch, wenn er mit der eingekauften Braut von früher nichts mehr zu tun haben will und bei seiner Rückkehr ein paar große Scheine als Kompensation hinterlässt. Er ist Geschäftspartner in einem Sex-Deal, nicht der gedankenlose Chauvi, der ein gewaltiges Missverständnis auslöst. Dass Butterfly am Ende zusticht, statt den Ehrenkodex ihrer alten Kultur im Suizid zu realisieren, ließe sich in der Tat als Chiffre für eine Befreiungstat lesen. Aber dazu müssten die Signale in der Inszenierung anders gesetzt werden.

Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen unterstützt im ersten Akt die Atmosphäre der Vorspiegelung, indem er Puccinis Musik so unemotional wie möglich ablaufen lässt: kantig, bisweilen laut, mit wenig Raffinesse in Artikulation und Phrasierung, aber mit Sinn für Details, die das Orchester klarsichtig ausmusiziert. Später findet Betta das organische Pulsieren von Puccinis Metrum; die Lautstärke könnte jedoch subtiler geregelt werden. Den Solisten und dem trefflich agierenden Chor von Alexander Eberle wäre damit geholfen.

Ilia Papandreou hat als Cio-Cio-San den ironischen Tonfall des ersten Auftritts ebenso verinnerlicht wie die weiten Kantilenen ihrer sehrenden Sehnsucht. Wenn die Töne auf dem Atem ruhen, erschafft sie magische Momente intensiven Gesangs. Carlos Cardoso als Gast vom Aalto-Theater Essen bringt für den Pinkerton keinen warm strömenden, sondern einen wie Kristall strahlenden Tenor mit, besingt „America forever“ mit einiger Anstrengung und gestaltet „Addio fiorito asil“ eher kühl als – je nach Lesart – wehmütig oder larmoyant gefärbt. Butterflys Dienerin Suzuki bleibt in dieser Inszenierung eine Randfigur, mit ehrwürdigen Reifespuren gesungen von Noriko Ogawa-Yatake, die vor mehr als 20 Jahren, ebenfalls in einer Inszenierung von Gabriele Rech am Musiktheater im Revier, die Titelpartie verkörpert hatte. Zur Blässe verurteilt bleibt auch der Sharpless von Petro Ostapenko.

Könnte doch sein, dass  die unbändige kreative Energie künftiger Butterfly-Regieführenden zu noch originelleren Lösungen führt: Vielleicht ersticht Suzuki demnächst die abtrünnige Butterfly, oder gleich Pinkerton mit dazu? Könnte nicht Sharpless die beiden Frauen erschießen und über ihren Leichen die Hände Pinkertons schütteln? Oder werten wir mal die Randfigur der Kate Pinkerton auf (Scarlett Pulwey hätte sicher nichts dagegen gehabt) und lassen sie ihren unmöglichen Ehemann abknallen? Auf, auf ins Terroir der Deutungen, die gute alte Oper ist noch lange nicht am Ende!

Weitere Vorstellungen: 20., 22., 28. Mai, 18. Juni 2022. Info und Karten: Tel.: 0209/4097-200, www.musiktheater-im-revier.de




Gelächter statt Respekt: In Gelsenkirchen wird Rossinis „Otello“ zum Drama des Verfalls europäischer Ideale

Draußen vor der Tür: Otello (Khanyiso Gwenxane) hat keine Chance, zur Gesellschaft zu gehören. (Foto: Björn Hickmann)

Kinder können grausam sein: Sie tänzeln mit Baströckchen vor dem schwarzen Mann, zeigen mit Fingern auf ihn, strecken ihm eine Banane entgegen. Wir kennen solche rassistischen Beleidigungen unter anderem von Fußballplätzen.

Doch Empörung ist unter Umständen vorschnell und billig: Denn nicht nur raubeinige Sporthooligans, denen niemand die Segnungen der Intelligenz zusprechen möchte, sind unverblümte Rassisten. Die Abwertung von Menschen ist in „feinen“ Kreisen vielleicht nicht so drastisch spürbar, dafür aber umso subtiler. Manuel Schmitt, Regisseur der Gelsenkirchener Neuinszenierung des „Otello“, zeigt mit der umtriebigen Schar auf der Bühne auch keine Kinder, sondern eher kleine Gespenster: Was die Gesellschaft hinter einer Fassade von gutem Benehmen verbirgt, lassen die grauen Wesen in seiner ganzen Gemeinheit in die Realität einbrechen.

Ein gespenstischer Alptraum vor der „Festung Europa“. (Foto: Björn Hickmann)

Dabei sieht zunächst alles nach eitel Wonne aus: In einer eleganten Nachkriegsarchitektur wird ein Bankett vorbereitet, ein hierarchiefreier runder Tisch gedeckt. Einer der blütenweiß livrierten Bediensteten zertritt angewidert etwas am Boden – offenbar ein lästiges Insekt. Aber all diese harmlosen Schilderungen haben einen doppelten Boden: „In varietate concordia“ lässt Bühnenbildner Julius Theodor Semmelmann über dem Bauwerk prangen. Es ist das Motto der Europäischen Union. „In Vielfalt geeint“, ein hehres Ideal, zu schön, um bloß zynisch dekonstruiert zu werden. Aber wie weit es in der Realität trägt, will der Regisseur am Beispiel des „Mohren von Venedig“ im Lauf des Opernabends demonstrieren. Und er spendet, das sei jetzt schon gesagt, wenig Hoffnung.

Draußen vor der Tür

Gelsenkirchen hat Manuel Schmitt nach seinem erstklassigen Regiedebüt mit Georges Bizets „Die Perlenfischer“ 2018 erneut ein Werk aus dem Randbereich des Repertoires anvertraut: „Otello“ ist nicht die bekannte Oper Giuseppe Verdis, sondern ein Hauptwerk von Gioachino Rossini, 1816 uraufgeführt und im ganzen 19. Jahrhundert oft gespielt, bis es durch den Wandel des Zeitgeschmacks und das Fehlen koloraturerprobter Gesangssolisten – man braucht sechs Tenöre mit hoher Tessitura – von den Bühnen verschwand. Die Welle der Wiederentdeckung der ernsten Opern Rossinis hat auch dem „Otello“ eine Renaissance beschert, wenn diese auch an deutschen Theatern eher verhalten ausfällt.

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Werner Häußner

Der Regisseur Manuel Schmitt. (Foto: Werner Häußner)

Das zertretene Ungeziefer ist nur ein Hinweis, dass es mit der heilen Fassade nicht weit her ist. Als Otello auftritt, im eleganten Outfit von Carolas Volles an die noble Gesellschaft angepasst, wird die Kluft schnell deutlich: Er bleibt draußen vor der Tür, während drin eine privilegien- und machtbewusste Jeunesse dorée feiert. Jago gehört dazu, Rodrigo ebenso. Otello sagt es deutlich: „Ein Fremder bin ich“. Allzu bemüht erkennt die Gesellschaft seine Verdienste an, aber als es um „Respekt für den Helden“ geht, flammt Gelächter auf.

Schmitts Inszenierung hält in vielen bezeichnenden Details fest, wie sich auf der toleranten Fassade die Sprünge zeigen und der rassistische Kern durchscheint. Und welchen Stellenwert Desdemona, der Braut Otellos, zugeschrieben wird, zeigt er ebenso drastisch: Sie wird präsentiert als die Frau im Bett, observiert von einer Emilia, die wie eine alte englische Gouvernante wirkt. Dass hinter den kultivierten Konventionen Gewalt und Roheit lauern, wird am Ende des ersten Akts überdeutlich. Es stellt sich aber die Frage, ob sich ein Kriegsheld wirklich die körperlichen Übergriffe einer Bande entfesselter Luxusknaben gefallen lassen würde.

Europäische Werte – nur noch museal

Der Bau auf der Bühne mutiert zum Museum. Ein antiker Torso mag an die humanistische Tradition Europas erinnern, ein Gemälde wie Théodore Géricaults „Floß der Medusa“ aus dem gleichen Jahr wie der „Otello“ (1816) kann als Verweis auf die Bootsflüchtlinge von heute gelesen werden. Auch das Blau von Yves Klein – die riesigen Flächen im Foyer sind der Stolz des Musiktheaters im Revier – taucht auf. Aber die Kunst degeneriert zur Staffage und zum Objekt des Marktes. Otello tritt sie wütend und desillusioniert mit Füßen, während der schicke Bau von Stacheldrahtrollen umgeben wird: ein beklemmendes Bild für die „Festung Europa“.

Der südafrikanische Tenor Khanyiso Gwenxane als Otello und Rina Hirayama, bisher Mitglied des jungen Ensembles am MiR, als Desdemona. (Foto: Björn Hickmann)

Bei den Personen auf der Bühne meidet Schmitt eine allzu eindeutige moralische Kategorisierung und lässt damit Tragik und Fallhöhe zu: Rodrigo erweist sich als ein zwar berechnender, aber wirklich Liebender, Iago als der falsche Strippenzieher, dem Otello in seiner Verzweiflung vertraut. Über das Ende entscheiden die Zuschauer in einem scheinbar demokratischen Verfahren, das eine bloße Abstimmungs-Farce ist. Ohne zu wissen, wohin ihr Votum führt, wählen sie das tragische Ende mit dem Tod Desdemonas oder ein von Rossini für die römische Karnevalssaison 1820 nachkomponiertes, absurdes Happy End.

Herausfordernde stimmtechnische Hürden

Wie herausfordernd die Partien sind, die Rossini damals für die Sängerelite seiner Zeit schrieb, kann in Gelsenkirchen nicht verleugnet werden. Die drei Tenor-Hauptrollen sind respektabel besetzt, stellen sich mutig den technischen Hürden, bleiben aber bei der Galoppade der Koloraturen, Verzierungen, Höhensprünge, unangenehmen Registerwechsel und bei der kräftezehrenden Dramatik in schwindelnder Höhe immer wieder an den Sprungbalken hängen.

Khanyiso Gwenxane ist ein in seinem Auftritt zurückhaltender Otello, kultivierter als diejenigen, die ihn von oben herab betrachten. Sein Abstieg macht ihn ratlos, hilflos, zuletzt verzweifelt. Gwenxane legt die Emotionen in seine Stimme, die ihre Position erst finden muss und die mit ausgeprägtem Vibrato das Legato zerhackt. Das wird im Duett mit dem Rodrigo Benjamin Lees zum Problem, wenn die Stimmen nicht harmonieren. Lee singt eine beeindruckend gefasste Arie, aber seine Höhen sind abenteuerlich gebildet und neigen dazu, unsauber zu werden. Immer wieder drückt er auf die Leichtigkeit des Tons.

Adam Temple-Smith ist ein harter Iago mit scharf geschliffener Stimme ohne vokale Eleganz und ebenmäßige Tongebung. Dieser Iago ist nicht die Inkarnation des nihilistischen Bösen wie bei Arrigo Boito und Giuseppe Verdi – eine solche Figur hatte Rossini bereits ein Jahr vorher in seiner „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ geschaffen. Der aus Hass kalkulierende Intrigant, der Otello mit scheinbarer Freundschaft eine Falle stellt, ist dennoch als Charakter verkommen genug, um das Trio der Gegner Otellos zu komplettieren. Dazu gehört auch eine bei Verdi nicht vorkommende Figur: Elmiro, Vater Desdemonas. Er schmiedet einen hinterhältigen Plan, um die Heirat seiner Tochter mit Rodrigo zu erzwingen. Man hat dem verdienten Sänger Urban Malmberg keinen Gefallen getan, ihn mit dieser Rolle zu betrauen, denn er ist alles andere als ein Schönsänger. Mit Mühe stellt er sich den Noten Rossinis, gleitet auf öligem Vibrato von Ton zu Ton und liefert eine Karikatur von Belcanto.

Romantisch-expressive Tonsprache

Rina Hirayama hat als Desdemona ihre berührendsten Momente im dritten Akt, für den Rossini eine neue, romantisch-expressive Tonsprache entwickelt, die direkt von Giovanni Simone Mayr zu dessen Schüler Gaetano Donizetti führt. Hirayama singt das Gebet der Desdemona und „Assisa a pie‘ d’un salice“ – das „Lied von der Weide“ – schlicht und intensiv, wie den Gesang einer tragischen Heroine. Ihre Stärken zeigt sie jedoch ebenso im Gestalten der Rezitative, die Rossini mit viel Bedacht und genauer Anpassung an die dramatische Situation komponiert hat. Der Tenor Tobias Glagau gefällt im melancholischen Lied eines Gondoliere; Lina Hofmann (Emilia) und Camilo Delgado Díaz (Lucio) sind in den kurzen Momenten ihrer Nebenrollen präsent und konzentriert. Der Chor, einstudiert von Alexander Eberle, hat zu Beginn Mühe mit dem Tempo, in den großräumig gestalteten Finali packende vokale Prägnanz.

Die Neue Philharmonie Westfalen kann in den reich bedachten Bläsern – stellvertretend seien die geschmeidige Oboe in der Ouvertüre und das Solo-Horn im ersten Akt genannt – viel Sinn für Rossinis vielgestaltige Klang- und Rhythmus-Dramaturgie beweisen. Giuliano Betta am Pult fordert zugespitzte Tempi und eine nicht immer eingelöste federnd-impulsive Artikulation; Momente der Kontemplation bleiben aber hin und wieder zu zäh. Wechselhaft auch der Eindruck der Rezitative – mal feurig gelungen, mal zu flott-beiläufig formuliert. Dennoch: Rossinis Musik trägt den Sieg davon, trotz der vokalen Schwächen. In Verbindung mit der starken Regie Manuel Schmitts zeigt der Abend in Gelsenkirchen, wie wenig auf die alten Vorurteile Verlass ist: Dieser „Otello“ ist packendes, berührendes Musiktheater. Der „ernste“ Rossini ist es wert, endlich in seiner Vielfalt auf der Bühne zu erscheinen.

Vorstellungen am 05. und 26. Dezember 2021, am 9. und 16. Januar 2022. Info: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/otello




Kollektiv ohne Erbarmen: Der MiR Dance Company gelingt in Gelsenkirchen ein eindrucksvoller Einstand

Die MiR Dance Company tanzt „Le Sacre du Printemps“ in der Fassung von Uri Ivgi und Johan Greben. Die Choreographen interessieren sich dabei vor allem für gruppendynamische Prozesse in einer scheinbar ausweglosen Situation (Foto: Bettina Stöß)

Von einer archaischen, vor-zivilisatorischen Gesellschaft ist zumeist die Rede, wenn es um Igor Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ geht. Dieses Frühlingsopfer ist ein Fest heidnischer russischer Stämme: ein barbarisches Ritual, das ein Menschenleben fordert, um die Natur gnädig zu stimmen.

Nach Vaslav Nijinsky, Choreograph der im Tumult endenden Uraufführung 1913 in Paris, inspirierte Strawinskys explosiv rhythmische Musik viele Künstler zu immer neuen, teils Maßstäbe setzenden Fassungen: Mary Wigman (1957), Maurice Béjart (1959) und Pina Bausch (1975) sind nur einige von ihnen. In der Gegenwart versuchten sich Sasha Waltz (2013) und Mario Schröder (2018) an dem nur halbstündigen, aber schwergewichtigen Ballett-Dinosaurier.

Im Gelsenkirchener Musiktheater ist das „Sacre“ jetzt im postzivilisatorischen Gewand zu sehen. Das israelisch-niederländische Choreographenduo Uri Ivgi und Johan Greben sperrt die Natur aus, die Tänzer dafür aber in einen düsteren Bunker ein. Vergitterte Luken in Bodennähe verweisen auf unterirdische Kerker. In der Rückwand klafft ein großer Riss, als habe das Gebäude unter Beschuss gestanden. Dahinter zeigt sich keine Welt, sondern nichts als ein paar lose Kabel, Rauch und Dunkelheit (Bühne: Karol Dutczak). Claude Debussys spöttisches Bonmot vom „Massacre du Printemps“ bekommt hier eine neue Bedeutung.

Die Tänzerinnen und Tänzer der MiR Dance Company demonstrieren im Sacre ekstatische Hingabe. (Foto: Bettina Stöß)

Das liegt auch an der MiR Dance Company, der mit diesem Strawinsky-Abend ein höchst eindrucksvoller Einstand gelingt. Gelsenkirchens neuer Ballettchef Giuseppe Spota hat eine Gruppe von Tänzern formiert, die starke individuelle Qualitäten haben, aber auch im Kollektiv fantastisch funktionieren. Im „Sacre“ verschmelzen sie zu einer Masse Mensch, die das Fürchten lehrt. Sie rollen zu Haufen übereinander, branden in verzweifelten Fluchtversuchen die Wände hoch wie das Meer an den Klippen.

Endzeitstimmung macht sich breit. Die Gruppe sucht Sicherheit im Ritual, ist in Wahrheit aber orientierungslos und panisch. Immer wieder sieht sich der Einzelne plötzlich einem feindseligen Kollektiv gegenüber. Da werden Schultern und Ellbogen ausgefahren, da werden Menschen am Hals gepackt, da wird dem Individuum kein Platz gegönnt.

Das Opfer ist bei Ivgi/Greben keine Frau, sondern ein Mann. Zu Tode tanzt sich in dieser Fassung niemand. Gleichwohl kommt es zu einem erbarmungslosen Showdown. Unterstützt von der Neuen Philharmonie Westfalen, die sich unter der Leitung von Giuliano Betta sehr ehrbar durch diesen Hexenkessel komplexer Rhythmen schlägt, begeistert die MiR Dance Company durch ekstatische Hingabe und eine nachgerade gewaltbereit wirkende Körpersprache, die der absichtsvollen Rohheit der Partitur in nichts nachsteht.

Streng ritualisiert sind die Hochzeitsrituale in Strawinskys „Les Noces“. Die MiR Dance Company tanzt eine Choreographie von Mario Bigonzetti. (Foto: Bettina Stöß)

Im ersten Stück des Abends hingegen halten die Rituale der Enthemmung noch Stand. Strawinsky beschreibt in „Les Noces“ abstrakte Hochzeitszeremonien, untermalt von vier Klavieren, vier Gesangssolisten, einem Chor und viel Schlagwerk. Mario Bigonzetti zeichnet in seiner Choreographie eindringlich scharfe Bilder von der Beziehung der Geschlechter. Ein langer Tisch oder Laufsteg trennt die Sphäre der Männer von der der Frauen. Metallgestelle, die wie niedrige Hocker mit hoher Rückenlehne aussehen, engen die Körper ein (Bühne: Fabrizio Montecchi). Die MiR Dance Company zeigt einerseits formelhafte Erstarrung und Unterdrückung, andererseits Verlangen und feurige Leidenschaft.

(Informationen und Termine: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2019-20/les-noces-sacre/)




Berliner Luft auf dem Mond: Paul Linckes „Frau Luna“ landet am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier

Paul Linckes „Frau Luna“ hat im Theaterkosmos Nordrhein-Westfalens fast alle Sektoren durchkreuzt: Krefeld-Mönchengladbach startete den „Mondballon“, in Dortmund und Hagen sind Pannecke und Pusebach gleichfalls gelandet, und auch in Münster haben der Mechanikus Fritz Steppke und seine kleine Marie schlussendlich ein „kleines bisschen Liebe“ gefunden.

„Bin Göttin des Mondes, Frau Luna genannt“: Anke Sieloff in der Titelrolle von Paul Linckes Operette am Musiktheater im Revier. Foto: Björn Hickmann

Jetzt setzt Gelsenkirchen noch einmal nach mit der gründerzeitlichen Reise zum Mond – so als gäbe es nicht Dutzende anderer aufführungswürdiger Operetten. Aber die Repertoirebreite von einst ist längst vergessen. Ob angehende Dramaturgen im Studium je etwas von der Operette hören, ist fraglich (auch wenn es inzwischen eine erstaunlich breite Forschung zu der lange verschmähten Gattung gibt), und ob sie sich in der Praxis mit Volker Klotz‘ Handbuch gerüstet gegen die Praxis durchsetzen können, dürfte zweifelhaft sein, schaut man sich die Spielpläne an.

Neubearbeitung im Stil der Zwanziger Jahre

Generalintendant Michael Schulz wollte diese lunare Erscheinungsform der Operette an seinem Haus haben, und so geschah es eben. Sein Joker: Er lässt eine Neufassung von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn spielen. Das ist jenes Duo, das für den WDR und für Barrie Koskys Komische Oper in Berlin die funkelnden Strasssteine Paul Abrahams aufpoliert hat. Das Ergebnis katapultiert das Publikum regelmäßig in höhere Sphären der Unterhaltungskunst, so in den letzten Spielzeiten etwa in Dortmund mit „Blume von Hawaii“ und „Roxy und ihr Wunderteam“ – und demnächst in Berlin mit der in Deutschland noch nie gespielten Abraham-Operette „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“.

Die Bearbeitung kommt mit vierzehn Instrumenten aus und nähert Linckes gemütliche Marsch- und Walzerrhythmen der flotten Berliner Operette der zwanziger Jahre an. Da schmachtet das Saxophon, swingt das Banjo und pfeffert das Schlagzeug dazwischen. Die Geigen dagegen können nicht mehr forsch aufspielen oder süßes Sentiment vergießen; sie huschen abgemagert durch die Partitur und lassen den Kolleginnen und Kollegen von der Luft-Fraktion den Vortritt. Naja, Berliner Luft eben …

Berliner Luft und bisschen Liebe

Ejejej, die verflixten Erdlinge bringen Theophil (Joachim G. Maaß) und Prinz Sternschnuppe (Martin Homrich) ganz schön in die Bredouille. Foto: Björn Hickmann

Ejejej, die verflixten Erdlinge bringen Theophil (Joachim G. Maaß) und Prinz Sternschnuppe (Martin Homrich) ganz schön in die Bredouille. Foto: Björn Hickmann

Dieser Schlager zum Mitklatschen muss natürlich sein, aber das Gelsenkirchener Publikum traut sich erst am Schluss. Dazwischen gibt Dirigent Bernhard Stengel dem „bisschen Liebe“ eine Prise Süßstoff mit, lässt das Glühwürmchen-Idyll, von Lina Hoffmann mit stahlschimmerndem Samt gesungen, glimmern und flimmern, nährt die Klage der Frau Pusebach um ihre entschwundene Liebe Theophil mit treuherziger Ironie.

Doch man spürt, dass Paul Linckes Musik in einer anderen Welt zu Hause ist als in Shimmy und Foxtrott. Und wenn das Tempo nicht zündet, Töne zu brav und zu breit geformt sind und die Phrasierung keinen Schmiss hat, sehnt man sich nach dem preußischen Geschmetter zurück, für das der zackige Möchtegern-Militärkapellmeister Lincke berühmt geworden ist.

Ein eins zu null für Gelsenkirchen gibt es, weil die Darsteller auf der Bühne des Kleinen Hauses zwar gesanglich zwischen Ausfall und Glamour pendeln, aber etwas können, was für die Pointen der Operette unerlässlich ist: sprechen. Wenn sie dann noch deutlich artikulieren, wird’s lustig, weil Regisseur Thomas Weber-Schallauer den Text erfrischend agil bearbeitet hat. Er hat den abgekühlten Sprachwitz Heinz Bolten-Baeckers‘ nicht durch neue lauwarme Sprüchlein ersetzt, sondern die Geschichte konsequent zwischen Berliner Schnodder und elaboriertem Science-Fiction-Slang gefasst. Da gibt es beim Durchbrechen „emotio-fraktaler Schutzschilder“ schon man einen „hetero-aktiven Systemabsturz“. Und Dongmin Lee spricht als Stella mit sphärischem Hall wie eine Roboterstimme aus einem frühen Kino-Weltraumabenteuer. Weber-Schallauer findet genau die richtige Dosis in seinem Neusprech und ironisiert damit gekonnt das Gequatsche aus diversen Gamer-, Netz- und Technik-Blasen.

Und üppig flimmert der Weltraum. "Frau Luna" in Gelsenkirchen lässt die Galaxien rotieren. Foto: Björn Hickmann

Und üppig flimmert der Weltraum. „Frau Luna“ in Gelsenkirchen lässt die Galaxien rotieren. Foto: Björn Hickmann

Seine Inszenierung stützt sich auf die üppigen Weltraum-Bilder, die Christiane Rolland über die breite Bühne projiziert – und man denkt sich aus, welchen Effekt das wohl im Großen Haus gemacht hätte! Da dreht sich der blaue Planet weg wie in der „Odyssee im Weltraum“. Da strahlen Galaxien wie auf den Titelbildern von Perry-Rhodan-Heften. Aber die Auflösung ist so schlecht, dass die Sternhaufen aussehen, als hätte eine Berliner Göre beim Heimweg vom Milchladen die ganze Chose verdröppelt. Naja, Milchstraße eben…

Weber-Schallauer lässt die drei Kumpels Steppke, Pannecke und Lämmermeier unter den offenen Dachsparren des Pusebach’schen Hauses auftreten. Der dosengefüllte Kühlschrank neben dem Sofa und die 3-D-Brillen über den Augen signalisieren einen chilligen Tag. Die so resolute wie liebeshungrige Logierwirtin (in grell-komischem Berliner Diseusenton: Christa Platzer) stört den Ausflug in virtuelle Sphären, kann ihn aber nicht verhindern und gerät unfreiwillig in die Welt auf dem Monde: Dort meint sie unter den silbrigen Gestalten in grotesken Krinolinen (Kostüm-Einfälle von Yvonne Forster) ihre verflossene Affäre Theophil zu entdecken – und liegt richtig: Der Herr Haushofmeister Frau Lunas hatte einst eine Mondfinsternis genutzt, um auf Erden seinen Gelüsten nachzugehen.

Die Verwicklungen, die sich daraus ergeben, stürzen die ganze Mondgesellschaft inklusive diverser Gast-Planeten (Mars: Vivien Lacomme, Venus: Alfia Kamalova) in gewisse Bredouillen. Doch der gewiefte Theophil, eine Paraderolle für Joachim G. Maaß, findet durch einen irdischen Damen-Import (Ava Gesell als in jeder Hinsicht entzückend agierende Marie) eine Lösung selbst für die amouröse Verwicklung, die seine Chefin (Anke Sieloff als gereifte Göttin) an den biederen Mechanikus Steppke (dünn an Gestalt und Stimme: Sebastian Schiller) statt an den heldentenoral überziehenden Prinz Sternschnuppe (Martin Homrich) fesselt.

Der Rücksturz ins heimatliche Berlin klappt nicht so ganz: Es gibt eine gewaltige Explosion, und in der wiedergewonnenen „Berliner Luft“ tanzt das Mondpersonal fröhlich mit. Naja, die virtuelle Welt lässt uns eben nicht mehr los.

Weitere Vorstellungen: 19., 25., 31. Oktober; 21., 31. Dezember 2019; 9. April, 16. Mai, 10. und 13. Juni 2020. Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2019-20/frau-luna/




Abenteuer eines Wundermusikers: Jaromír Weinbergers Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ in Gelsenkirchen

Die Untertanen der Eiskönigin sind von Schwandas Spiel entzückt (Foto: Monika Forster)

Diese Oper ist ein Kuriosum. Ihr Titelheld, Schwanda, ist ein spielfreudiger Dudelsackpfeifer aus einem südböhmischen Dorf. Aber aus seinem Instrument klingt bis zum Schluss nicht ein einziger Ton. Vielmehr zieht das Orchester alle Register, wenn der sagenumwobene tschechische Wundermusiker auf der Bühne die Backen aufbläst. Statt brummender Borduntöne und durchdringender Pfeifen dringt Symphonisches ans Ohr: folkloristische Melodien und feurige Tanzrhythmen, dicht verwoben in die üppige, teilweise expressiv aufgeraute Sprache der Spätromantik.

Der Räuber Babinsky (Uwe Stickert, Mitte) drängt sich zwischen Schwanda (Piotr Prochera, l.) und dessen junge Frau Dorota (Ilia Papandreou. Foto: Monika Forster)

Mit „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ gelang dem jüdisch-tschechischen Komponisten Jaromír Weinberger 1927 ein Welterfolg. In 17 Sprachen wurde das Werk des Schülers von Max Reger übersetzt. Mehr als 2000 Aufführungen im In- und Ausland erlebte der Zweiakter bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Weinbergers Karriere beendete. Versuche, diese märchenhafte Volksoper wiederzubeleben, gab es in Augsburg (2007), Dresden (2012) und Gießen (2018).

Im Gelsenkirchener Musiktheater erhielt die einst höchst populäre Oper jetzt heftigen Premierenbeifall. Dieser wurde freilich auch durch ein Finale forciert, das den im Ruhrgebiet gerne kultivierten Lokalpatriotismus knüppeldick auftrug – ob mit ironischer Absicht oder nicht, blieb ärgerlich unentschieden.

Babinsky (Uwe Stickert, r.) überredet Schwanda, seine Frau Dorota (Ilia Papandreou) zu verlassen und als Künstler Karriere zu machen. (Foto: Monika Forster)

Doch bis es so weit kommt, findet der niederländische Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema spektakuläre optische Entsprechungen für Weinbergers farbige und lebenspralle Musik. In diese Partitur hat der 31-Jährige Komponist solche Mengen verschiedener musikalischer Stile gegossen, dass sie schier aus allen Nähten platzt. Dijkema setzt sie in Bilder um, die dem Publikum manch erstauntes Raunen, ja sogar spontanen Szenenapplaus entlocken. Der Räuber Babinsky überredet Schwanda zu einer abenteuerlichen Reise, die ihn vom bäuerlichen Zuhause ins Reich der Eiskönigin und schließlich in die Hölle führt. In Gelsenkirchen entwickelt sie sich zu einem Farb- und Kostümrausch sondergleichen.

Mit seiner an phantastischen Stoffen geübten Hand entwirft der Niederländer märchenhafte, großartige Tableaus. Er lässt den Chor, als Untertanen der Eiskönigin in leuchtend blaue Kostüme gekleidet, so lange in erstarrter Pose verharren, bis Schwandas Dudelsackspiel das Menschenmeer in Bewegung bringt. Zur zauberischen Atmosphäre trägt auch die Beleuchtung von Thomas Ratzinger bei, der die aufwendig und mit größter Liebe zum Detail gestalteten Röcke, Mäntel, Häubchen und Zylinder auf schneebedecktem Grund zum Strahlen bringt (Kostüme: Jula Reindell).

Platzmangel in der Hölle: Schwanda (Piotr Prochera, vorne rechts) wird für eine freche Lüge bestraft (Foto: Monika Forster)

Über die meterhohe Pyramide aus dicht gedrängten Teufeln und über die große Höllenfuge, bei der Satan persönlich versucht, dem Dudelsack ein paar brauchbare Töne zu entlocken, sei hier nicht allzu viel verraten. Für Auge und Ohr gibt es reichlich zu tun, bis Schwanda mit Hilfe des Räubers Babinsky den Weg zurück zu seiner geliebten Frau Dorota findet. Wo sich das Stück an Motive aus Faust, Orpheus und Robin Hood anlehnt, mag ein jeder für sich herausfinden.

In der nahezu hypertrophen, mehr als zehnminütigen Ouvertüre zeigt die Neue Philharmonie Westfalen zunächst einige Anlaufschwierigkeiten. Aus dem dichten Geflecht der Mittelstimmen klingt manches zunächst behäbig, ja unbeholfen. Aber unter der Leitung von Dirigent Giuliano Betta entwickeln die Musiker zunehmend Schwung und Kolorit. Mit immer größerem Nachdruck machen sie sich zu Anwälten der Partitur, die über alle Wagner-, Puccini- und Janacek-Anklänge hinaus Eigenständiges zu bieten hat und immer wieder mit Überraschungen aufwartet. Mit Beginn der Höllenszene ist dann eine Expressivität erreicht, die durchaus spüren lässt, dass diese Oper zwei Jahre nach der Uraufführung von Alban Bergs „Wozzeck“ entstand. Das akustische Pandämonium, das Weinberger hier auf das Publikum loslässt, wird zu einem teuflischen Hörvergnügen.

Der Teufel (Joachim G. Maaß) versucht, Schwandas Dudelsack ein paar brauchbare Töne zu entlocken (Foto. Monika Forster)

Die Partie des Räubers Babinsky, der mehr als nur ein wohlgefälliges Auge auf Schwandas junge Frau Dorota wirft, ist mit Uwe Stickert überragend gut besetzt. Es ist ein Genuss, wie lyrisch und doch kraftvoll sein Tenor über das Orchester hinweg strahlt – bei größter Natürlichkeit des Ausdrucks. Ebenfalls als Gast ist die Griechin Ilia Papandreou zu erleben, die Dorota einen wendigen, temperamentvollen Sopran verleiht. Diesen kann sie bei Ausbrüchen des Zorns wirkungsvoll erkalten lassen, in der Trauer um den vermeintlich verlorenen Gatten aber auch in Klänge von Schmerz und Sehnsucht tauchen.

Der polnische Bariton Piotr Prochera als Schwanda (Foto: Monika Forster)

Der Bariton Piotr Prochera erweist sich einmal mehr als tragende Säule des MiR-Ensembles. Er gibt einen Schwanda, der sich mit viel Selbstvertrauen in die Brust wirft, im weitgehend fröhlichen Forte aber auch ein wenig eindimensional bleibt. Ob der Titelheld nicht auch andere Facetten abwerfen könnte, bleibt am Premierenabend offen. Petra Schmidt setzt sich als auftrumpfende Eiskönigin wirkungsvoll in Szene, und als Teufel lässt Joachim G. Maaß seiner Lust am Komödiantischen vollen Lauf.

Der von Alexander Eberle glänzend vorbereitete Chor, der viel zum Erfolg des Abends beiträgt, demonstriert Geschlossenheit und Spielfreude. Überlaut klingt seine Stimmgewalt erst in der „Daheim-Apotheose“. Mit ihr pfropft der Regisseur eine Schluss-Szene auf, in welcher der Chor in Alltagskleidung an die Rampe stürmt, während bekannte Gelsenkirchener Stadtansichten auf einen Vorhang projiziert werden. Worauf das Publikum in vorhersehbarer Verzückung tobt. Ja ja, zu Hause ist es doch am schönsten.

(Informationen und Termine: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2018-19/schwanda-der-dudelsackpfeifer/)




Endstation Walhall: Michael Schulz setzt „Das Rheingold“ von Richard Wagner in Gelsenkirchen neu in Szene

Die Rheintöchter treiben ihr Spiel mit Alberich (Urban Malmberg). (Foto: Karl Forster)

Das Wasser wogt und leuchtet. Licht fällt in die blaue Flut, diese Wiege des Lebens, deren kristallene Klarheit den Blick bezaubert. Im Speisewagen sitzen nur wenige Herren, aber auch sie schauen nachgerade andächtig aus den Zugfenstern, gebannt von der Majestät des Rheins. Nach und nach erkennen wir sie: An den Tischen sitzen Alberich und Wotan. Der zwielichtige Feuergott Loge drückt sich in die Ecke, ein Beobachter des Geschehens. Dann tauchen die Rheintöchter hinter der Bordbar auf.

Willkommen im Rheingold-Express, dem historischen Luxuszug mit seinem gläsern überdachten Aussichtswagen, der einst die Nordsee mit den Alpen verband und die Niederlande mit der Schweiz. Michael Schulz, Generalintendant des Gelsenkirchener Musiktheaters, und Bühnenbildnerin Heike Scheele schicken uns mit Richard Wagners Oper auf eine Reise, die vom Raubbau an der Natur erzählt, von der Gier nach Reichtum und Macht und den zerstörerischen Konsequenzen. Diese werden bereits am Ende der ersten Szene augenfällig. Wenn Alberich der Liebe abschwört und den Nixen ihren Schatz entreißt, wird das Spiel des Lichts auf dem Wasser fahl. Und auf der Oberfläche treibt Plastikmüll.

Der Götter Schar: Donner (Piotr Prochera), Fricka (Almuth Herbst), Wotan (Bastiaan Everink), Froh (Khanyiso Gwenxane) und Freia (Petra Schmidt). (Foto: Karl Forster)

Der Vorabend zum „Ring“-Zyklus wird in Gelsenkirchen als Solitär gegeben, als Auftakt ohne Fortsetzung. Mag mancher Wagner-Fan dies auch bedauern, so führt mit Michael Schulz doch einer Regie, der – um die Nornen zu zitieren – „weiß, wie das wird“; der die weiteren Ereignisse bis zum Ende der Götterdämmerung erkennbar mitdenkt, auch wenn sie nicht aufgeführt werden. Statt den ersten Teil seines in Weimar realisierten Rings ins Revier zu transferieren, hat er sich die Mühe gemacht, die Geschichte noch einmal neu zu erzählen.

Ein Spiel der Interessen

Das Spiel der Götter, Riesen und Zwerge ist bei ihm vor allem eines der Interessen. Die Regie durchleuchtet das wilde Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten, zeigt bis in die Körperbewegungen hinein, wer aus welchen Motiven heraus handelt. Die Geldnot treibt nicht nur Wotan voran: Sie bringt ein Schicksalsrad in Schwung, das sich nicht mehr aufhalten lässt, auch nicht von dem glücklosen Gott. Das pompöse Walhall, das er auf Pump errichten ließ, bleibt in dieser Inszenierung unsichtbar. Ein Luftschloss, fürwahr.

In den wirkungsvollen Bühnenbildern von Heike Scheele, die uns vom eleganten Zugabteil über eine Kühlturmkulisse in einen düsteren Endlos-Stollen namens Nibelheim geleiten, stellt Schulz die Weichen Richtung Untergang. Weshalb dieser heraufdämmert, zeigt er über weite Strecken überaus punktgenau: einerseits hängen die Welten von Riesen, Zwergen und Göttern zusammen, andererseits kann keiner der Charaktere aus seiner Haut. Beim finalen Einzug in die Burg, durch eine Videoprojektion dargestellt wie die Einfahrt in einen virtuellen Bahnhof, sind alle Beteiligten wie in einem Netz gefangen. Walhall bringt keinen Anfang. Es ist eine Endstation.

Erda (Almuth Herbst) warnt Wotan vor der verhängnisvollen Macht des Rings. (Foto: Karl Forster)

Unheimliche Machtgelüste

Vieles ist bestechend genau gezeichnet, so der zauberische Nährwert von Freias Äpfeln und die unheimlichen Machtgelüste des Underdogs Mime, der sich nach Alberichs Entführung mit irrem Lachen in den Chefsessel wirft. Die Verwandlung Frickas in Erda, beide gespielt und gesungen von Almuth Herbst, gelingt auf offener Bühne so einfach wie wirkungsvoll.

Daneben steht manche szenische Verlegenheitslösung. Fragezeichen hinterlässt das unbestimmte und öde Zwischenreich, in dem Alberich seines Ringes beraubt wird. Über dieses triste Setting helfen auch amateurhafte Schattenspiele nicht hinweg. Wo der Mythos das Märchenhafte streift, scheut Schulz sich nicht vor kindlichen Elementen. In der Industrie- und Bergbaukulisse taucht der Riesenwurm als Alu-Abluftrohr auf. Ob sich hinter der winkenden Kindergruppe mit ihrem gemalten Regenbogenbild eine Kritik am Umweltaktivismus à la Greta Thunberg verbirgt oder nicht, ist vermutlich keine entscheidende Frage.

Wenn das Orchester die Muskeln ballt

Von vokaler Krafthuberei, die bei den Riesendramen Richard Wagners leicht in grob deklamierten Sprechgesang umschlägt, ist aus Gelsenkirchen nichts zu berichten. Unter der umsichtigen Leitung von Kapellmeister Giuliano Betta wird erfreulich viel gesungen, auch wenn nicht alle Stimmen die Anforderungen ihrer Partie vollends erfüllen können. Betta hält sich hörbar an das Diktum des Komponisten, dass der Gesangswohlklang der italienischen Schule für Wagners Opern nicht aufgegeben werden dürfe. Die Neue Philharmonie Westfalen spielt unter seiner Leitung einen transparenten, zuweilen beinahe leichtgewichtigen Wagner, der sich dynamisch weitgehend zurückhält. Beim Schrei der von Alberich geknechteten Nibelungen ballt das Orchester eindrucksvoll die Muskeln, aber die kantige Härte der rhythmisch hämmernden Ambosse greift es nicht auf.

Wotan (Bastiaan Everink, l.) und Loge (Cornel Frey, r.) besuchen Alberich (Urban Malmberg) in Nibelheim. (Foto: Karl Forster)

Die nahezu gänzlich aus dem Ensemble heraus besetzte Produktion punktet mit einem starken Wotan: Bastiaan Everink lässt stimmlich kaum Zweifel an seiner Autorität als Hüter der Verträge aufkommen. Cornel Frey gibt einen charakterstarken Loge, der mit einer Mischung aus Eleganz und Spott gekonnt auf der Grenze zum Zynismus balanciert. Dank Almuth Herbst darf Fricka eine von Sorge getriebene Ehefrau sein statt keifende Xanthippe. Dass sie stimmlich obendrein noch in die Tiefen der allwissenden Erda hinab zu steigen vermag, muss man der Künstlerin hoch anrechnen.

Alberich (Urban Malmberg) als Gefangener, im Hintergrund triumphiert Mime (Tobias Glagau). (Foto: Karl Forster)

„Ihr hattet die Wahl“

Urban Malmberg gibt dem finsteren Alberich gallige Töne der Erbitterung. Unterdrückte Wut, herrisches Kommando und eine Portion Verschlagenheit liegen so nahe beieinander, wie es sich für den fiesen Chef-Nibelungen gehört. Wenn es dann aber endlich zum Ring-Fluch kommt, kann Malmberg kaum noch Reserven aktivieren. Stimmlich blass bleibt der Mime von Tobias Glagau, der unter Alberichs Knute zwar jammert und stöhnt, als Charakter indessen nur darstellerisch greifbar wird.

Das Schlusswort gebührt den Rheintöchtern, in Gelsenkirchen gesungen von Bele Kumberger (Woglinde), Lina Hoffmann (Wellgunde) und Boshana Milkov (Flosshilde). Deren Übermut wogt uns in strahlendem Dur entgegen, klingt am Premierenabend aber in manchen Spitzentönen hart. Der Umschlag von jubelnder Lebensfreude in klagenden Wehlaut gelingt gleichwohl gut. Später, während eines Zwischenspiels, entfalten die sehnsüchtigen Undinen ein Stoffbanner mit einer Aufschrift. Unentrinnbar dem Untergang geweiht, konfrontieren sie uns, für die es womöglich ebenfalls zu spät ist, mit einer bitteren Wahrheit: „Ihr hattet die Wahl“.

Termine und Informationen: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2018-19/das-rheingold/#date_2019-05-11_1930




Fern gerücktes Märchen mit Brisanz für die Gegenwart: Bizets „Perlenfischer“ gelingen am Musiktheater im Revier

Sie könnte so romantisch sein, die melodramatische Geschichte der Priesterin Leila zwischen dem schwärmerischen Jüngling Nadir und dem düsteren Zurga. Die Liebe könnte siegen am weißen Strand von Maratonga, wo die schlanken braunen Leiber der Perlenfischer in die Fluten tauchen, um die schimmernden Kostbarkeiten aus der Tiefe des Meeres zu bergen.

Brennende Gegenwart: Bizets "Perlenfischer" befragen in Gelsenkirchen die tödlichen Folgen der neuen Sklaverei in globalisierten Wirtschaftsstrukturen. Foto: Karl und Monika Forster

Brennende Gegenwart: Bizets „Perlenfischer“ befragen in Gelsenkirchen die tödlichen Folgen der neuen Sklaverei in globalisierten Wirtschaftsstrukturen. Foto: Karl und Monika Forster

Aber auf der Gelsenkirchener Bühne treibt Bernhard Siegl exotische Pseudo-Romantik von Anfang an gründlich aus: Eine bleigraue Folie verhängt das gesamte Portal. Dahinter sinkt, nur in Umrissen wahrnehmbar, ein Mensch von oben in die Tiefe: ein Taucher (Michael Bittinger). Und wenn das Vorspiel zu Georges Bizets „Die Perlenfischer“ verklungen ist, fällt der Blick auf schmutzige Menschen, die in einer primitiven Konstruktion aus Metallstangen, Holz und Wellblech schuften.

Es könnte eine Fischfabrik sein in einem Schwellenland. Frauen formieren sich zu einer Demonstration („I don’t die for your pearls“ heißt es auf einem Transparent) und werden von schwer gerüsteten Sicherheitskräften brutal auseinandergetrieben. Das Tränengas wabert, die Menschen werden bekämpft wie lästiges Ungeziefer. Das sind starke, erschütternde Bilder, wie sie selten gelingen.

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Werner Häußner

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Werner Häußner

Der 30jährige Regisseur Manuel Schmitt, geboren in Oberhausen, aufgewachsen in Mülheim an der Ruhr, studiert in München, lässt in seiner ersten Regiearbeit in seiner Heimatregion keinen märchenhaften Anflug zu. Er stellt in Kontrast zu Bizets Musik ein unverblümt hartes Drama auf die Bühne.

Gefährdet wie einst die Kumpel im Schacht

Die Perlenfischer sind zu einem gefährlichen Job gezwungen, in dem sie zusammenstehen müssen wie einst die Kumpel im Schacht, und der immer wieder Taucher das Leben kostet. Die Toten werden beim Initiationsritual Leilas hereingetragen, in jene Meeres-Plastik-Folie gewickelt, die sich als eine dominierende Metapher der Inszenierung herausstellt.

Schmitt schärft das Thema noch, indem er es durch zwei in Pausen projizierte Interviews dokumentarisch zuspitzt: Saeeda Khatoon, eine Mutter aus Pakistan, erzählt, wie sie – wie viele andere Frauen – ihren 18jährigen Sohn 2012 beim Brand einer Textilfabrik nach einem Terroranschlag der Schutzgeldmafia in Karatschi verloren hat. Der Prozess gegen den Textilhersteller Kik auf Schadenersatz vor dem Landgericht Dortmund hatte im November überregionales Presseecho ausgelöst; das Gericht wird im Januar 2019 seine Entscheidung bekanntgeben. Khatoon gehört zu den vier Klägerinnen.

Lyrische Melodien – aggressive Chöre

Als verlogen entlarvt wird die Kolonialromantik, die das Libretto von Michel Carré und Eugène Cormon unter Kitschverdacht gestellt hat und damit der Rezeption des Werks bis heute im Wege steht. Bizet ist nicht das Hula Hawaiian Quartett und Nadirs berühmte Arie „Je crois entendre encore“ kein Tenorvehikel, sondern eine berührende Insel sehnsuchtsvoller Innerlichkeit in einer gänzlich desillusionierenden Wirklichkeit. Der Kontrast der weitgespannten Lyrismen Bizets zum Geschehen auf der Bühne erweist sich so als scheinbar: Bizet kennt in aggressiven Chören oder im gleichnishaften Sturm des zweiten Akts durchaus zupackende Dramatik. Wenn sich seine Figuren in ihren Arien nach innen wenden, thematisieren sie den Bruch mit ihrer Realität, die es ihnen unmöglich macht, ein persönliches Glück zu verfolgen.

Momente des Traums und der Sehnsucht: Stefan Cifolelli als Nadir. Foto: Karl und Monika Forster

Momente des Traums und der Sehnsucht: Stefan Cifolelli als Nadir. Foto: Karl und Monika Forster

Schmitt hat jedoch auch einen Blick für die Ambivalenz in Bizets Drama. Denn die drei Protagonisten verfehlen je auf ihre Weise ihre Verantwortung für die Perlenfischer: Bizet hebt sie schon im Titel seiner Oper hervor, die eben nicht den Namen einer individuellen Hauptfigur trägt. Leila ist als Priesterin eine metaphysisch verankerte Garantin für den Schutz und das Überleben der Fischer – und daher ist der Bruch ihres Keuschheitsschwurs für die Gemeinschaft existenziell bedeutsam.

Nadir als „sanfter“ Rucksack-Tourist

Zurga als gewählter Anführer ist die eigentlich tragische Figur des Dramas; er wird zwischen seinen persönlichen Gefühlen und seiner politischen Pflicht zerrieben. Die Inszenierung arbeitet den brennenden Schmerz der inneren Konflikte sensibel heraus, und Piotr Prochera verkörpert als Darsteller packend unmittelbar den Zwiespalt zwischen Liebe und Freundschaft, Eifersucht und Rachedurst, Willen zur Gewalt und Streben nach dem hohen Ethos des Verzeihens. Schade, dass seine Stimme am Premierenabend in der Folge einer schweren Erkrankung nicht so recht mitspielen wollte – eine Ansage wäre sinnvoll gewesen.

Nadir ist ein Außenseiter, der von den Gefahren des Meeres wenig weiß. In Gelsenkirchen stößt er als Backpacker auf die Gemeinschaft, zückt sogleich sein Handy und macht seine Kamera bereit, als es mit der Einführung Leilas ein „exotisches“ Ritual zu fotografieren gibt. Er folgt ohne Rücksicht seinem Begehren, bricht das Tabu, verbringt eine ekstatische Nacht mit Leila, wird entdeckt – und versucht sich zu entziehen: Er zeigt seinen Pass und man darf vermuten, dass er versucht, mit seinem Handy die Botschaft seines Landes zu erreichen. Ein Reflex auf den alternativen Tourismus, der sich „sanft“ gibt, aber gerade durch seine Nähe und sein vermeintliches Verständnis tief in die andere Kultur eingreift.

Persönliche Tragödien werden nicht marginalisiert

So gelingt es der Regie, Bizets vermeintlich so fernen Tribut an den Exotismus seiner Zeit ganz nahe an die Gegenwart zu rücken, bei aller Relevanz des Politischen aber die persönlichen Tragödien nicht zu marginalisieren: Wenn Zurga am Ende der Oper vor dem graublauen Wogen zusammensinkt, nehmen wir Anteil am Schicksal eines Menschen, der nur in einem Moment der klassische Eifersüchtige in einer Dreiecks-Konstellation der Liebe ist – ansonsten aber unter der Last seiner Verantwortung zusammenbricht und dennoch noch zu einer selbstlosen Tat fähig ist. Wie Schmitt das Finale inszeniert, gewinnt Bizets Oper eine humane Tiefendimension, die ihr gemeinhin nicht zugetraut wird.

Dogmin Lee (Leila) und Piotr Prochera (Zurga). Foto: Karl und Monika Forster

Dongmin Lee (Leila) und Piotr Prochera (Zurga). Foto: Karl und Monika Forster

Bei Giuliano Betta ist die (original nicht erhaltene und daher nachinstrumentierte) Musik Bizets unter den meisten Aspekten in guten Händen: Mit dramatischem Instinkt erfasst sind die Kontraste zwischen den lyrisch-duftigen, vielfältig schattierten Piani und den scharf auffahrenden, aggressiven Tuttischlägen und Chornummern, die der Gelsenkirchener Opernchor mit allem Glanz, aber manchmal auch überanstrengt aussingt.

Die entrückten Arien Leilas und Nadirs, in denen südliche Nächte und Natur mitklingen, sind melodieaffin ausgesungen und atmen leicht und weit. Aber das Vorspiel lässt Betta zu zögerlich phrasieren und vergisst über den sinnlichen Melodien die untergründige, drohende Bassfigur; auch im Lauf des Abends fällt auf, dass er Details unter Bizets hinreißender Melodik schwach belichtet. Und bei aller berechtigten Liebe zum Piano: Manch ein Tremolo könnte fiebriger flirren, manche Hymne des Blechs mit mehr Hingabe klingen.

Mehrere Gründe für den Erfolg

Als Nadir hat das Musiktheater im Revier Stefan Cifolelli verpflichtet, der sonst viel an der Komischen Oper Berlin singt. Sein Tenor zeigt sich, als er sich frei gesungen hat, eher italienisch als französisch, überzeugend in dramatischen Momenten, in der berüchtigten Arie in der Höhe vorsichtig angesetzt und – aus dem ehrbaren Streben, jeden Druck zu vermeiden – nicht ganz lupenrein in der Tongebung. Kein prinzipielles Problem offenbar – das Decrescendo in der Höhe zeigt, dass Cifolelli seine Technik im Griff hat.

Symbolisch geladene Kostüme verraten viel über die Figuren: Leila (Dongmin Lee) wird von den Perlenfischern zur Ikone stilisiert. Foto: Karl und Monika Forster

Symbolisch geladene Kostüme verraten viel über die Figuren: Leila (Dongmin Lee) wird von den Perlenfischern zur Ikone stilisiert. Foto: Karl und Monika Forster

Die Leila von Dongmin Lee ist nicht nur das ätherisch-passive Wesen, sondern eine junge Frau, die sich auch gegen die versuchten Übergriffe des Dorfältesten Nourabad (bass-balsamisch: Michael Heine) wehrt und am Ende zu ihren Gefühlen für Nadir steht. Die symbolisch geladenen Kostüme Sophie Rebles machen gerade ihre Entwicklung äußerlich deutlich: Sie wird förmlich zur Ikone aufgeladen und flieht zuletzt im mit (giftigem) Blau beschmierten einfachen Kleid der Perlenfischer.

Erneut hat Gelsenkirchen also mit einem Werk, das am Rand des gängigen Repertoires steht, einen großen Erfolg eingefahren: Der Beifall war stark, ein einsamer Buh-Rufer für die Regie ändert daran nichts. Erfolgreich auch, weil mit Manuel Schmitt eine Regietalent-Entdeckung gelungen ist; er wird auch 2019/20 wieder am Musiktheater im Revier inszenieren. Und erfolgreich, weil es gelungen ist, Bizets so fern gerücktes exotisches Märchen in ein brisantes Stück der Gegenwart zu verwandeln.

Weitere Vorstellungen: 27., 30. Dezember; 4., 19., 27. Januar; 17. Februar; 10., 24. März; 27. April 2019.
Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2018-19/die-perlenfischer/




Gelsenkirchen zeigt Leonard Bernsteins „Mass“ und bestätigt die Stellung als spannendstes Opernhaus der Region

Bernsteins "Mass": Das Tanzensemble des Musiktheaters im Revier. Foto: Radu

Leonard Bernsteins „Mass“: das Tanzensemble des Musiktheaters im Revier. (Foto: Radu)

Gelsenkirchen ist derzeit das spannendste im Dutzend der Opernhäuser des Rhein-Ruhr-Gebiets. Seit zehn Jahren ist Generalintendant Michael Schulz im Amt und bereichert das Musiktheater mit wichtigen, aber selten gezeigten Werken. Ein Signal dafür – über die Hommage zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag hinaus – ist die szenischen Aufführung von Bernsteins „Theaterstück für Sänger, Tänzer und Schauspieler“ mit dem Titel „Mass“, mit dem das Musiktheater im Revier die Serie der Neuinszenierungen der Spielzeit 2018/19 eröffnete.

Ein Riesenprojekt mit 180 Beteiligten und einem ungewöhnlichen Thema: Bernstein, obwohl kein Christ, holt die römisch-katholische Messliturgie aus dem Raum der Kirche heraus und stellt sie in einen säkularen, universellen Zusammenhang. „Mass“ ist geschrieben zur Eröffnung des John F. Kennedy Centers of the Performing Arts in Washington im Jahr 1971.

Neugieriger Blick auf die Möglichkeiten des Musiktheaters

Steampunk am Musiktheater im Revier: Klein Zaches, genannt Zinnober, nach E.T.A. Hoffmann, mit Rüdiger Frank (Klein Zaches) und der Band Coppelius. Foto aus der Premierenserie 2015: Pedro Malinowski

Steampunk am Musiktheater im Revier: Klein Zaches, genannt Zinnober, nach E.T.A. Hoffmann, mit Rüdiger Frank (Klein Zaches) und der Band Coppelius. (Foto aus der Premierenserie 2015: Pedro Malinowski)

Mit der szenischen Aufführung setzt das MiR die Reihe von Musiktheater-Produktionen fort, die sich mit Fragen der Transzendenz befassen. Dazu gehörten etwa Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ oder Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“, aber auch – in einem weiteren Sinne – die fulminante Entdeckung eines neuen Genres: „Klein Zaches, genannt Zinnober“ ist die Umsetzung der gleichnamigen Erzählung E.T.A. Hoffmanns auf die Bühne in Form einer Steampunk-Oper mit der Gruppe „Coppelius“. Die Aufsehen erregende Inszenierung, die Steampunk-Fans aus ganz Deutschland nach Gelsenkirchen lockte, ist in dieser Spielzeit noch zwei Mal zu erleben: Ein szenisch faszinierendes Spektakel, das die Frage stellt, was denn an der wohlgeordneten bürgerlichen Welt überhaupt noch wirklich ist, oder nicht längst von einer geheimnisvoll-gespenstischen Sphäre zu Wahnbild, Imagination oder Täuschung verzerrt wurde.

Schulz hat einen offenen und neugierigen Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten des Musiktheaters, der Mainstream wie „Das Rheingold“ oder „Nabucco“ kombiniert mit ausgefallenen Zugriffen auf altbekannte Werke wie in der letzten Spielzeit „Der Vetter aus Dingsda“ oder demnächst „Eugen Onegin“. Statt auf „Befragung“ sattsam bekannter Titel in bemühten Regiekonzepten setzt Schulz auf Werke, deren Namen zwar irgendwie bekannt sind, die auf der Bühne aber allzu selten auftauchen – in dieser Spielzeit etwa „Königskinder“ von Engelbert Humperdinck (Premiere am 24. November), „Die Perlenfischer“ von Georges Bizet und „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ von Jaromir Weinberger.

Verspricht 2018/19 wieder spannende Projekte:Das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Verspricht 2018/19 wieder spannende Projekte: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Georg Lange)

180 Mitwirkende

Bernsteins „Mass“ stellt das gesamte Gelsenkirchener Ensemble auf die Bühne, dazu noch einen Projektchor und den Knabenchor der Chorakademie Dortmund. Richard Siegal hat sich von Stefan Mayer eine Konstruktion bauen lassen, die mit ihren hölzernen Lamellenflächen eine Halle, aber auch einen Kirchenraum bilden könnte. Er überwindet auch die „vierte Wand“ und bezieht Parkett und Ränge des Zuschauerraums mit ein. Mehr noch: Das Publikum wird aufgefordert, in einer Hymne („Almighty Father“) mitzusingen, was die Theaterbesucher dann doch spürbar überfordert. Gemeinsames Singen gehört nicht mehr zu den Gepflogenheiten unserer Gesellschaft. Aber der Versuch ist da, eine „Gemeinde“ über die Grenze von Bühne und Graben zu schaffen.

Fröhlicher „Gottesdienst“ auf der Bühne

Ganz amerikanisch, mit fröhlichen Begrüßungen und Umarmungen beginnt der „Gottesdienst“ auf der Bühne: rhythmisches Klatschen, Trommeln, Fanfaren wie von einer marching band, das alte Stufengebet („Ad Deum qui laetificat …“), das die katholischen Messdiener älterer Jahrgänge noch einpauken mussten. Das zwölftönige „Kyrie“ hebt sich aus der fröhlich feiernden Menge heraus; das „Hallelujah“ klingt jazzig und mit einem Anklang an das „scat-singing“ vor allem schwarz geprägter Gemeinden. Das Gebet an den Allmächtigen Vater, er möge gnädig das Ohr den Bitten neigen, wird dagegen intoniert wie eine der melodiösen Hymnen, wie wir sie etwa auch aus der anglikanischen Liturgie kennen: getragene, emotionale Musik zum Mitsingen.

Mit dem gemeinsamen Sündenbekenntnis („Confiteor“) beginnt der Zweifel, der sich zu einer fundamentalen, die Gemeinschaft sprengenden Krise auswachsen wird. Der Zelebrant – Henrik Wager, ein fulminanter und gleichzeitig sorgsam sensibler Darsteller, als Sänger allerdings weniger einprägsam – ist mit ersten Einwürfen eines Straßenchores konfrontiert. Es ist bezeichnend, dass Bernstein, der die kommentierenden Zwischentexte gemeinsam mit Stephen Schwartz verfasst hat, gerade beim Thema der Schuld, der Sünde und der Reue ansetzt.

Henrik Wager und das Ensemble. Foto: Karl Forster

Henrik Wager und das Ensemble. (Foto: Karl Forster)

Gerade noch hatte das Ballett dieses Ritual mit scharfem Rhythmus getanzt, da erhebt sich die Sinnfrage: „Was ich sage, fühle ich nicht; was ich fühle, weiß ich nicht … Was ist wirklich? Ich weiß es nicht.“ Genügt ein bisschen „Mea culpa“-Theater, seine Schuld loszuwerden? Bernstein richtet den Blick auf eine der Grundfragen heutiger Spiritualität und hat genau erkannt, wie wenig die katholische Beichtpraxis der sechziger Jahre der Erfahrung des Menschen in der Moderne und der komplexen Frage nach existenzieller Schuld gerecht wurde.

Bernstein war ein bewusster Eklektiker und hat jedweden musikalischen Stil souverän eingesetzt, ob Choral oder jüdische Musik, Avantgarde und Tradition europäischer Kunstmusik, Jazz, Broadway-Schlager oder die Songs der alten music halls. So findet er für jeden Teil der Messe und für die sich zuspitzenden Konflikte um grundsätzliche Fragen eine faszinierende Vielfalt musikalischer Ausdrucksmittel.

„Ich glaube an Gott, aber glaubt Gott auch an mich?“

Die Gelsenkirchener Chöre, das Solistenensemble, die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann und eine Jazz-Combo auf der Bühne zeigen sich flexibel der Stilvielfalt gewachsen. Die Einwürfe der Sänger aus der Menge spiegeln die großen Fragen, die unverrückbaren Zweifel: Wie ist das mit der Güte Gottes, mit der Gerechtigkeit, wenn jeder ohne gefragt zu sein in sein Leben und dessen Umstände geworfen wird? Kann ein Gott, der über unendlichen Welten thront, sich überhaupt um diesen einen Planeten und jedes einzelne Lebewesen darauf kümmern? Der Chor auf den alten Klagepsalm „De profundis“ fasst die geistlich-existenzielle Not zusammen, während der „street choir“ provokant fragt: „Ich glaube an Gott, aber glaubt Gott auch an mich?“

Die Zweifel quälen auch den „Celebrant“, der in einem großen Solo unter der Last zusammenbricht. Zuvor hat das „Agnus Dei“ mit seiner Friedensbitte die zunehmend aggressive Stimmung zur Explosion gebracht: Frieden jetzt!, wird gefordert – sicher damals auch eine Anspielung auf den Vietnam-Krieg – und der Chor verliert die Geduld: Können wir die Welt nicht bekommen, die wir ersehnen, werden wir diese in Brand setzen. Der Vorsteher des Gottesdienstes wird selbst zum Opfer. In gelungenen Massen-Choreografien und in der detaillierten Durcharbeitung einzelner individueller Rollen findet Regisseur und Choreograf Richard Siegal für solche dynamische Szenen starke Bilder.

Am Schluss ein Zeichen großer Hoffnung

Das Ende überrascht: Eine einzelne Knabenstimme intoniert über dem Chaos ein einfaches Lied, ein „Lauda Deum“, in das nach und nach die Stimmen des Chores eintreten. Das gemeinsame Lob Gottes gibt den Menschen Leben und Gemeinschaft wieder. Eine billig-fromme Lösung? Ein Teil des „kitsch“, den der Kritiker Harold Schonberg bei der Uraufführung der „Mass“ gallig attestierte? Wohl kaum. Sondern eher ein Zeichen großer Hoffnung, ein Bekenntnis des großen Denkers und Künstlers Leonard Bernstein zur letztgültigen Verwiesenheit des Menschen auf Gott – welcher Religion oder Konfession auch immer er angehört. In Zeiten der Gottvergessenheit und fundamentalen Religionskritik ein unbequemes Resümee.

Weitere Vorstellungen von Leonard Bernsteins „Mass“ in Gelsenkirchen am 9. Dezember 2018, 13. und 20. Januar 2019 (jeweils 18 Uhr) sowie am 16. Februar 2019, 19.30 Uhr. Info: www.musiktheater-im-revier.de

Bernsteins aufwändiges Werk wird konzertant auch in Düsseldorf in der Tonhalle gespielt: Aufführungen am 7., 9. und 10. Dezember. Info: https://www.tonhalle.de/reihen/reihe/Sternzeichen1/Bernstein-Mass/

 




Leise Lieder von Abschied und Vergehen – Marthalers „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ bei der Ruhrtriennale

Ein leerer Raum mit schrägen Oberlichtern, im Hintergrund ein Personenaufzug und eine hohe Flügeltür: Das könnte ein Museum sein oder eine leergezogene Fabrikhalle, auf jeden Fall ein uneingeschränkt funktionaler Ort. Hier wirkt der Mann im grauen Hausmeisterkittel, schiebt Rollwagen herein mit undefinierbarer folienverhüllter Fracht.

Was wird das werden? Mit der Antwort kann es dauern, wie stets in den Stücken Christoph Marthalers, denen viel Gemächlichkeit eigen ist. Dieses heißt „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ und war jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) als funkelndes kleines Programmglanzlicht der Ruhrtriennale zu sehen.

Letzte Arbeit für die Berliner Volksbühne

„Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ war Marthalers letzte Arbeit an der Berliner Volksbühne. Mit dem Ausscheiden des Intendanten Frank Castorf endete auch die lange währende Kooperation, die 1993 mit „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ ihren seinerzeit stark beachteten Anfang hatte. „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ ist deshalb ein Stück der Rückschau geworden, die einen natürlich schwermütig stimmen kann, auf der Bühne wie im Zuschauerraum.

Doch sie leben noch

Doch die gut verpackten Figuren leben noch, wenn man sie nur lässt! Und nichts anderes tut der Mann im grauen Kittel, als sie in des Wortes wörtlichem Sinn aus Folie und Holzkiste auszupacken und auf die Bühne zu stellen.

Dann bewegen sie sich, dann singen sie, dann spielen sie gar auf Klavier und Cembalo. Und unerwartet sportlich sind einige von ihnen, Damen zumal, und keineswegs ohne erotischen Reiz. Wenn das ganze kulminiert, formieren sich die Weggepackten gar zu einer Art erotisch-lüsterner Laokoon-Gruppe auf dem Rollwägelchen, und jeder möchte dabei sein. Dem Kittelmann wird das zu viel, er packt ein, rollt hinaus, die Erinnerungen kommen zurück ins Magazin. Doch die Personen kehren wieder.

Alles schon einmal gebraucht

Für Bühne und Kostüme griff Marthalers großartige Ausstatterin Anna Viebrock auf den Fundus zurück, verwendete also nur Dinge, die in seinen früheren Produktionen schon einmal eingesetzt waren. Und vielleicht sind auch alle Lieder dort schon einmal gesungen worden, die im weiteren Verlauf des Abends zu hören sind, wer will das so genau wissen? Händel, Satie, Mahler und Schubert nennt der blaue Programmzettel, der in Orange noch ungleich mehr, mit Bach beginnend und mit Wagner endend.

Eher gehaucht als gesungen

Musik – und da vor allem Gesang – findet in Marthalers Theater aber nicht als schmetternde Nummernrevue statt, sondern ist fein und leise in den Gang des scheinbar Bedeutungslosen hineingesetzt, das „Handlung“ zu nennen einem manchmal widerstrebt.

Leise, sehr leise erklingen viele Lieder, und viele werden auch nie lauter. Der feine Ton macht sie nur noch eindrücklicher, und manchmal erzählt er geradezu Geschichte – etwa, wenn „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ kaum wahrnehmbar, eher gehaucht als gesungen, erklingt. Ja, die donnernde Revolution ist ausgeblieben, an der Volksbühne und anderswo, und vielleicht ist es sogar gut so.

Wenn dieser vorwiegend a cappella vorgetragene Gesang in der zweiten Stückhälfte nicht so schön wäre, so filigran und sanft, dann könnte man schon trübsinnig werden ob der Inhalte, mitleiden etwa mit dem jungen Mann, dessen Freundin „In einem kühlen Grunde“ (Text von Eichendorff) die Beziehung beendet hat und der nun am liebsten tot wäre. Oder, im Kirchenlied, verzweifeln an der Aussichtslosigkeit der eigenen gottlosen Existenz.

Düsternis und Heiterkeit

Die Musikauswahl, man kann es nicht anders sagen, kreist sehr um Trennung, Verlust, Abschied, Niedergang, was nach einem Vierteljahrhundert kreativer Arbeit an der Berliner Volksbühne nicht verwundern kann. Auch das Schlussbild ist kein Trost. Alle, die auf der Bühne sind, müssen ihre Schuhe abgeben, Symbole für Leben, Beweglichkeit, Erdung, ein düsterer finaler Akt.

Heiterkeit wiederum erregten manche Personenzeichnungen – alte Männer im clownesken Altmänner-Outfit mit Hosenträgern und Pantoffeln, füllige Damen in neckischer Pose; Marthaler weiß souverän mit der Spannung zwischen ernst und lustig zu spielen, um das Bühnengeschehen dramatisch zu überhöhen. Bei ihm ist gemächlich nicht das Gegenteil von kurzweilig, eher im Gegenteil.

In der großen Halle

Wenige Tage zuvor konnten Triennale-Besucher in der Bochumer Jahrhunderthalle, ebenfalls von Marthaler inszeniert, das symphonische Fragment „Universe, Incomplete“ von Charles Ives erleben, eine theatralische Materialschlacht (siehe dazu auch Martin Schrahns ausführliche Rezension in den Revierpassagen). Der Schweizer Theatermacher kann beides, große Halle wie kleine Theaterbühne. Aber dem typischen Schaffen dieses feinnervigen Musikerzählers begegnet man sicherlich eher in Produktionen wie, eben, „Bekannte Gefühle…“.

Was wird aus der Intendantin?

Wo werden wir zukünftig dieses in seiner Art einmalige Gesangstheater erleben können? Der Stuhl von Stefanie Carp, die seit vielen Jahren Marthalers kongeniale Dramaturgin und außerdem derzeit Triennale-Intendantin ist, wackelt. Sollte sie gehen, geht Marthaler – vermutlich – auch. „Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt, man hat die Mittel“, zitiert ein Mitspieler in einer der heitereren Passagen des Stücks Wilhelm Busch. Angesichts der politischen Entwicklung ist das ein geradezu seherischer Aphorismus.

Keine weiteren Vorstellungen in Gelsenkirchen

www.ruhrtriennale.de




Lagerfron und „Soma“-Trip: Dominique Horwitz inszeniert Schostakowitsch-Operette in Gelsenkirchen

Die Arbeitsanzüge schweben von der Decke: Eröffnungsszene aus der Schostakowitsch-Operette „Moskau, Tscherjomuschki“ am MiR Gelsenkirchen (Foto: Bettina Stöß)

26 Jahre lang mochte Dmitri Schostakowitsch keine Oper mehr schreiben, nachdem Josef Stalin seine „Lady Macbeth von Mzensk“ öffentlich ächtete und der Komponist lange, schlaflose Nächte in Todesangst verbrachte. Erst in der Tauwetterperiode der Chruschtschow-Ära wandte er sich wieder dem Musiktheater zu.

Zum allgemeinen Erstaunen schrieb er 1958 eine Operette, die sogleich große Beliebtheit errang: „Moskau, Tscherjomuschki“ erzählt von Wohnungsnot und Korruption und vom Glücksstreben einfacher Leute, die sich in der gleichnamigen Trabantenstadt ein besseres Leben erhoffen.

Selten und eher als kleine Produktion auf Werkstattbühnen findet sich die musikalische Komödie heute auf den Spielplänen. Das Gelsenkirchener Musiktheater gönnt dem Dreiakter jetzt sein Haupthaus, vertraut die Inszenierung aber einem Regie-Novizen an, dem prominenten Sänger und Schauspieler Dominique Horwitz. Eine Fehlentscheidung, wie sich leider bald heraus stellt.

Horwitz glaubt nicht daran, dass die Geschichte vom Kampf dreier Paare um das kleine Glück und um den heiß begehrten Wohnungsberechtigungsschein heute noch trägt. Das Werk dient ihm lediglich als Folie, um Systemkritik nach Ost wie West zu üben.

Der Opernchor des MiR in Reih und Glied (Foto: Bettina Stöß)

Bühnenbild und Kostüme von Pascal Seibicke zeigen uns eine Lager-Tristesse, als seien wir versehentlich doch in die „Lady Macbeth“ geraten. Das Aufsichtspersonal trägt Komsomolzen-Grau, die Arbeiter tragen Anzüge in Guantanamo-Orange. Die Ausgabe von Glückspillen hat Horwitz dem dystopischen Roman „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley entlehnt. Dort heißt der Stoff „Soma“ und macht die ach so wundervolle Moderne erst so richtig schön. Das organisierte Fähnchenschwenken zielt auf den Sozialismus, die Beschwörung der Arbeit als allein seligmachender Lebensinhalt auf den Kapitalismus, die rhythmische Sportgymnastik im Rudel auf den Faschismus.

Die Frau als Opfer bleigrau gekleideter Komsomolzen (Foto: Bettina Stöß)

Dergestalt rührt Horwitz allerhand zusammen, ohne dass eine Inszenierung daraus entstünde. Im kollektiven Aktionismus auf der Bühne, der das ausgiebige Rampensingen nicht zu kaschieren vermag, gewinnt keine einzige Figur an Kontur. Welcher Sänger welche Rolle verkörpert, ist in dieser als Paradies besungenen Hölle auch egal. Wiederholt enden Szenen so spannungslos, dass wir uns beklommen fragen, wie es denn nun weitergehen soll. Die Regie weiß darauf sichtlich auch keine Antwort, denn sie lässt in solchen Momenten den Vorhang fallen.

Die eigentliche Handlung wird als Hörspiel aus dem Off angedeutet und ist für Nicht-Eingeweihte kaum zu verstehen. Aus der Fron in der Spielzeug-Fabrik entlassen, streifen sich die Arbeiter Ritter- und Feenkostüme über, fechten Holzschwert-Kämpfe aus und kreischen vor Vergnügen. Wir geraten vom Lagerkoller und einer – übrigens gänzlich unmotivierten – Vergewaltigungsszene geradewegs in einen Kindergeburtstag. Ratlosigkeit macht sich breit.

Ritterspiele: Wenn die Akkordarbeit beendet ist, bricht Kindergeburtstagsstimmung aus (Foto: Bettina Stöß)

So wird die Chance vertan, Schostakowitschs ebenso ungewöhnliches wie unterhaltsames Bühnenwerk einmal so recht ins Rampenlicht zu rücken. Unter dem Dirigat von Stefan Malzew gibt sich die Neue Philharmonie Westfalen durchaus mit Erfolg Mühe, den schmachtend-sentimentalen Walzern und feurigen Galopps russisches Temperament einzuhauchen.

Auch die Tänzer des MiR-Balletts, der Opernchor und das Gesangsensemble sind engagiert und klangvoll dabei, aber eine zündende Party kann es in diesem Tscherjomuschki-Albtraum nicht geben. Sängerinnen und Sänger wie Almuth Herbst, Piotr Prochera, Bele Kumberger, Petra Schmidt und Anke Sieloff können wesentlich mehr, als sie hier zeigen dürfen.

„Und täglich grüßt das Murmeltier“ will Horwitz uns vermutlich sagen, wenn er die Eingangsszene zum Abschluss wiederholen lässt. Zu diesem Zeitpunkt ist es beinahe wie im Film: Es ist doch erleichternd, wenn der Spuk vorbei ist.

Termine und Infos:
https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2017-18/moskau-tscherjomuschki/

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Existenzielle Angst und Sicherheit im Glauben: Gelsenkirchen überzeugt mit Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“

Der übermächtige Schatten des Todes: Norigo Ogawa-Yatake als sterbende Priorin in "Dialogues des Carmélites" in Gelsenkirchen. Foto: Karl und Monika Foster

Der übermächtige Schatten des Todes: Norigo Ogawa-Yatake als sterbende Priorin in „Dialogues des Carmélites“ in Gelsenkirchen. Foto: Karl und Monika Foster

Blanche de la Force hat Angst, tief sitzende Angst. Die junge Frau trägt im Namen das Wort Stärke, flieht aber die Welt. Das Kloster sieht sie als Ort der Sicherheit. Aber die alte Priorin, die sie an der Pforte empfängt, lässt keine Illusionen zu. Man könnte Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ leicht für eine katholische Erbauungsoper halten, geprägt von der tiefen Gläubigkeit der Vorlage von Georges Bernanos (nach Gertrud von Le Forts Novelle „Die letzte am Schafott“), aber das würde zu kurz greifen.

Blanche hat nicht einfach Angst vor Schreckgespenstern wie ein Kind, ihre Angst erschöpft sich auch nicht in einem psychologischen Phänomen. Sie steckt tiefer, wie ein „Frost im Herzen eines Baumes“. Eine existenzielle Angst, die Blanche zur Vertreterin des Menschen schlechthin macht. Denn wer hat es nie erlebt, das namenlose Erschrecken vor dem Nichts, vor dem Fall in einen Abgrund, in dem nur noch bewusstloses Dunkel herrscht, in dem sich jeder Sinn und jeder Verstand auflöst?

Dass die Postulantin beim Eintritt in der Karmel den Namen „Schwester Blanche von der Todesangst Christi“ wählt, hat von daher seinen Sinn: Wir denken an die Nacht am Ölberg, als die Angst Jesus blutigen Schweiß auf die Stirne getrieben hat. An den Verlassens-Schrei am Kreuz. Das Kloster ist für Blanche der Raum des Glaubens, der einzigen Kraft, die dem Menschen Sicherheit geben kann. Dass diese Gewissheit nicht absolut ist, macht der Tod der alten Priorin klar: Jahrzehnte lebte sie eine Existenz in Gebet und Gottsuche. Und nun spürt sie die entsetzliche Einsamkeit des Todes. Alle Zuversicht des Glaubens ist zerstoben.

Ben Baur setzt auf konzentrierte, beziehungsreiche Szenen wie die Fußwaschung, die Mère Marie (Almuth Herbst) an der alten Priorin (Norigo Ogawa-Yatake) vollzieht. Foto: Karl und Monika Foster.

Ben Baur setzt auf konzentrierte, beziehungsreiche Szenen wie die Fußwaschung, die Mère Marie (Almuth Herbst) an der alten Priorin (Norigo Ogawa-Yatake) vollzieht. Foto: Karl und Monika Foster.

Diese Szene hat Regisseur Ben Baur in seiner Inszenierung der „Dialogues des Carmélites“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen sehr konzentriert, wie einen Spot im Raum, mit äußerster Sparsamkeit der Gesten und Bewegungen, aber mit beklemmender Wirkung gestaltet. Norigo Ogawa-Yatake drückt in diesem letzten Lebensschritt der Priorin Madame de Croissy, der mit einer Fußwaschung beginnt, den dunklen Aufruhr, den schneidenden Schmerz und den Protest gegen die hinfällige Verfasstheit des Menschen mit ihrer Stimme in bewegenden Facetten aus.

In solchen Momenten sind die Personen der Oper ganz bei sich, die „Außenwelt“ ist nur in Schatten wahrnehmbar. Das Volk, die Nonnen, der Diener Thierry (Zhive Kremshovski), der im ersten Bild Blanche erschreckt – sie sind nur riesige Schemen an der Wand. Baurs Bühne ist ein geschlossener Raum. Kalkbleich graue Wände, verblichenes Rokoko, eine – geplünderte? – Bibliothek, deren leere Regale nahelegen, dass die Weisheit der Bücher längst an ihr Ende gelangt ist. In diesem Raum entzündet Blanche beziehungsvoll eine Kerze.

Der Raum bleibt auch für das Kloster unverändert. Baur setzt nur wenige szenische Signale ein – Kerzen und eine Andeutung von Altar, ein Kruzifix, Stühle. Die Gespräche unter den Ordensfrauen, vor allem zwischen Blanche und der frohgemuten Constance, hält Baur frei von aller raumgreifenden Bewegung oder Gestik, reduziert auf wenige, wesentliche Signale. Dongmin Lee gibt der Sœur Constance, als deren Vorbild die heilige Therese von Lisieux gilt, einen Zug kindlichen Wissens, heiterer Beständigkeit und sanfter Selbstgewissheit.

Auf der Suche nach existenzieller Sicherheit

Bele Kumberger als Blanche liefert das fesselnde Porträt einer jungen Frau, die nach einem Ort sucht, der ihrer Existenz Sicherheit und Bedeutung gibt. Ihre lyrisch grundierte, zu müheloser Expansion fähige Stimme kann sie in der verhaltenen Kantilene so sicher führen wie im erregten Staccato, wenn sie sich mit Constances fröhlicher Unbeschwertheit auseinandersetzt. Die Worte sind meist deutlich modelliert, das Timbre kontrolliert geformt. Leuchtende Gewissheit und verschattete Ratlosigkeit gelingen im vokalen Ausdruck. Eine so klug wie intensiv durchgestaltete Figur in einer Rolle, die sich alles andere als von selbst erklärt oder gar spielt.

Auch die anderen Schwestern sind charakterstark dargestellt: Petra Schmidt singt eine Madame Lidoine mit heftigen Akzenten, Almuth Herbst hat als Mère Marie stimmschöne und expressive Momente; Silvia Oelschläger (Mère Jeanne) und Lina Hoffmann (Sœur Mathilde) geben ihren weniger prominenten Rollen dennoch Konturen.

"Ave Maria" im drohenden Schatten des aufziehenden Revolutionsmobs. Foto: Karl und Monika Foster

„Ave Maria“ im drohenden Schatten des aufziehenden Revolutionsmobs. Foto: Karl und Monika Foster

Den Raum bricht erst die Revolution auf. Die Wände sind nun offen, bieten keinen Schutz mehr. Die Außenwelt nimmt konkrete Gestalt an: Nach dem warnenden Gespräch mit Blanche wird ihr Bruder (Ibrahim Yesilay) draußen erschlagen und die Leiche weggezerrt. Das Todesurteil für die Schwestern verkündet ein blutüberströmter Scharfrichter. Für das szenisch herausfordernde Ende, den Tod der sechzehn Nonnen auf dem Schafott, findet Baur eine unspektakuläre, gleichwohl eindringliche Lösung, bei der die Kerzen als Lebenslichter eine entscheidende Rolle spielen. Baur verzichtet auch hier auf Naturalismus: Auf der schwarz verhängten Bühne leuchtet nur der Schriftzug Paris 17 juillet 1794 – das historische Datum, an dem die Nonnen des Karmels von Compiègne hingerichtet wurden.

Großer Tag für Chor und Orchester

Auch für Chor und Orchester des Musiktheaters im Revier war die Premiere ein großer Tag: Chordirektor Alexander Eberle hat die Szenen im Kloster, aber auch das bedrohliche Anrollen der revolutionären Massen mit fabelhaftem Gespür für die Raumwirkung einstudiert.

Rasmus Baumann leitet die Neue Philharmonie Westfalen in einer so packenden wie detailgenauen Wiedergabe der farbigen, tonale Grenzbereiche streifenden, zwischen zärtlicher Intimität und wuchtigem Aufschrei pendelnden Musik Poulencs, deren Qualität umso deutlicher wird, je öfter die Oper in den Spielplänen auftaucht. Das ist in den letzten Jahren erfreulich oft der Fall; in dieser Spielzeit stehen die „Dialogues des Carmélites“ noch in Aachen, Hannover – dort inszeniert Dietrich Hilsdorf und dirigiert der ehemalige Gelsenkirchener Kapellmeister Valtteri Rauhalammi – und Nordhausen im Spielplan, auch in Bologna, Caen und Paris wird die tragische Geschichte der Ordensfrauen von Compiègne gezeigt. Und das Musiktheater im Revier hat sich nach Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ erneut der Frage nach der Rolle des Glaubens im gesellschaftlichen Kontext gewidmet und damit auf ganzer Linie überzeugt.




Die Kunst in Zeiten des Konflikts: Das Musiktheater in Gelsenkirchen zeigt „Mathis, der Maler“ von Paul Hindemith

Zwei Frauen und ein Maler: Yamina Maamar als Ursula, Bele Kumberger als Regina und Urban Malmberg als Mathis (von links). (Foto: Karl + Monika Forster)

Bücherverbrennung. Verfolgung. Willkür und Gewalt. Mittendrin der genial begabte Renaissance-Maler Matthias Grünewald, der sich gezwungen sieht, im Strudel der Ereignisse Position zu beziehen. In seiner Oper „Mathis, der Maler“ nutzte der von den Nationalsozialisten verfemte Komponist Paul Hindemith die historische Folie lutherischer Glaubenskriege, um seine eigene Situation zu spiegeln.

Die Frage nach der Verantwortung des Künstlers in Zeiten politischer Umbrüche steht in Zentrum dieser Oper, mit der Hindemith auf seine eigene Gegenwart verweist. Im Gelsenkirchener Musiktheater versucht Hausherr Michael Schulz nun, eine ähnliche Position zu beziehen, indem er auf die politischen Konflikte unserer Tage deutet.

Gespaltene Gesellschaft: Kardinal Albrecht kehrt nach Mainz zurück (Foto: Karl + Monika Forster)

Mit bissiger Schärfe zeichnet er eine Gesellschaft, die über jeden vernünftigen Diskurs hinaus zerstritten scheint. Warum es unter „Wir sind das Volk“-Transparenten zu einer kleinen Tortenschlacht kommt, muss der Besucher freilich im Programmheft nachlesen: Es handelt sich um eine Anspielung auf die Eat-Art des Schweizer Künstlers Daniel Spoerri.

Gleichwohl ist der Produktion anzumerken, mit wie viel Herzblut Michael Schulz und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann sich für das Stück einsetzen, das trotz seiner Vollendung im Jahr 1934 in Deutschland erst 1946 aufgeführt werden konnte. Zwischen den verschiebbaren Steinwänden einer Kapelle (Bühne: Heike Scheele) werfen Intendant und Dirigent eindrucksvolle Schlaglichter auf die Zweifel und Konflikte, die nicht nur Mathis zusetzen.

Der Tenor Martin Homrich als Kardinal Albrecht (Foto: Pedro Malinowski)

Da ist der Kardinal Albrecht, getrieben von Geldsorgen und widerstreitenden politischen Interessen. Da ist Ursula, die eigentlich Mathis liebt, aber gezwungen wird, sich für Luthers Sache zu opfern. Da ist der Bauernführer Hans Schwalb, dessen Kampf für mehr Gerechtigkeit Raub und Mord nach sich zieht.

Die Kostüme von Renée Listerdal setzen moderne Eleganz und angedeutete Renaissance-Pracht gegen die armselige Kleidung der kämpfenden Bauern. Was Bürgerkrieg bedeutet, spitzt Schulz in einer Szene zu, in der die junge Regina von den Schergen des Regimes gezwungen wird, den eigenen Vater zu erschießen.

Ist die Handlung bis hierhin stringent erzählt, löst sich ab dem sechsten Bild alles in einer religiös geprägten Bilderflut auf. Die Vision des Mathis formiert sich zum Altar: oben die Engel, eine Pietà-Formation, in der Mitte eine Gerichtsszene und zuunterst ein Höllen-Chor, der Mathis in den Wahnsinn zu treiben droht. Alles gleitet ins Allegorische, bis ein Schlagbaum die Hauptfiguren endgültig voneinander trennt. Was dahinter liegt, wohin sie gehen, bleibt schmerzlich dunkel.

Was aus dem Orchestergraben klingt, ist das eigentliche Ereignis dieses Premierenabends. Es ist keine Überraschung, dass Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen den größten Beifall ernten. Zwischen silberfeiner Transparenz und erratischen Ausbrüchen erschließen sich die Reichtümer dieser Partitur aufs Schönste: der heilige Ernst der Choral-Anklänge, der rasselnde Militarismus, die barocke Polyphonie und Hindemiths eigenwüchsige, sehr gestische Tonsprache.

Auf der Flucht: Bauernführer Hans Schwalb (Tobias Haaks) und seine Tochter Regina (Bele Kumberger. Foto: Karl + Monika Forster)

Die Sängerleistungen können die ehrgeizigen Ambitionen nicht ganz erfüllen. Urban Malmberg legt die Titelpartie zwischen warmherzigem Humanismus und grüblerischer Selbstanklage an, neigt zuweilen aber zu verformten Vokalen und monochromer Galligkeit. Als Albrecht von Brandenburg zeigt Martin Homrichs Tenor im ersten Teil ein unstetes Flackern, das sich erst nach der Pause zugunsten einer weit präziseren Tonfokussierung legt.

Yamina Maamar beweist als Ursula erneut die Durchschlagskraft ihres hochdramatischen Soprans, dessen Vibrato zumeist weit ausgreift. Eindruck machen Tobias Haaks als Bauernführer Hans Schwalb, stimmlich fürwahr „ein’ feste Burg“, und Bele Kumberger, die als seine Tochter Regina von mädchenhaft heller Unschuld in einen Ton intensiver Verstörung kippt.

Auch Hindemiths Libretto hat das Zeug dazu, lange nachzuklingen. Es gibt darin Sätze, die wie mit Fingern auf uns zeigen. Mancher Appell von damals hat bis heute nichts von seiner Dringlichkeit verloren.

Weitere Informationen und Aufführungstermine: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2017-18/mathis-der-maler/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Komponist Paul Hindemith als Zeichner: Ausstellung zur Premiere von „Mathis der Maler“ in Gelsenkirchen

Paul Hindemith, Trio, o. J., Tinte/Buntstifte auf Papier, 18,5 x 14,0 cm, © Fondation Hindemith, Blonay (CH)

Paul Hindemith, Trio, o. J., Tinte/Buntstifte auf Papier, 18,5 x 14,0 cm, © Fondation Hindemith, Blonay (CH)

In Gelsenkirchen hat am Samstag, 28. Oktober am Musiktheater im Revier Paul Hindemiths Oper „Mathis der Maler“ Premiere. Hindemith schrieb selbst das Libretto und thematisiert an der Hauptfigur, dem Maler Matthias Grünewald, die Verantwortung des Künstlers in Zeiten politischer Umbrüche.

Der Komponist arbeitete unter dem unmittelbaren Eindruck der Machtergreifung der Nationalsozialisten an dem Entwurf. Die fertiggestellte Oper durfte nicht mehr uraufgeführt werden und kam erstmals in Deutschland erst 1946 in Stuttgart auf die Bühne. Die Uraufführung fand 1938 in Zürich statt, nachdem Hindemith sich dem Druck des NS-Regimes durch Emigration entzogen hatte.

Dass Paul Hindemith auch ein talentierter Zeichner war, zeigt anlässlich der Premiere das Kunstmuseum Gelsenkirchen in einer Ausstellung. Im Kunstraum des Museums sind über 50 der überwiegend kleinformatigen Zeichnungen des 1963 gestorbenen Komponisten zu sehen.

Paul Hindemith, Milk, o. J., Tinte/Buntstifte auf Papier, 9,7 x 9,7 cm, © Fondation Hindemith, Blonay (CH)

Paul Hindemith, Milk, o. J., Tinte/Buntstifte auf Papier, 9,7 x 9,7 cm, © Fondation Hindemith, (CH)

Manches davon wirkt naiv, vieles spontan hingeworfen. Andere Bilder sind humorvoll, satirisch, sogar grotesk. Hindemith hielt seine Eindrücke und Ideen oft auf zufällig vorhandenen Materialien fest, etwa auf Papierschnipseln oder linierten, karierten oder mit Notenlinien bedruckten Blättern.

Hindemith plante nie, die Zeichnungen zu veröffentlichen. Er und seine Frau sammelten über 400 davon in Alben für den privaten Gebrauch. Sie zeigen aber, so Katharina König vom Kunstmuseum Gelsenkirchen, dass Hindemith ein talentierter Zeichner und sensibler Beobachter war.

Die Ausstellung Die gezeigten Werke entstammen sämtlich dem Nachlass der Sammlung des Hindemith Instituts in Frankfurt/Main. Realisiert wurde die Schau in Kooperation mit dem Musiktheater im Revier (MiR). Ein 1995 erschienener Katalog „Der Komponist als Zeichner“, herausgegeben von Susanne Schaal-Gotthardt und Angelika Storm-Rusche, ist im Museum zum Sonderpreis von 26 Euro erhältlich.

„Paul Hindemith – Einblick in das zeichnerische Werk“. Bis 3. Dezember 2017 im Kunstmuseum Gelsenkirchen. Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr.

Am 1. November findet vor der Vorstellung von „Mathis der Maler“ im MiR (18 Uhr) um 15 Uhr im Museum eine Führung statt. Anmeldung erbeten unter Tel.: (0209) 169 4130.

Weitere Aufführungen von „Mathis der Maler“ in Gelsenkirchen sind am 9., 12. (15 Uhr), 26. (18 Uhr) November sowie am 10. (18 Uhr) und 30. Dezember. Info: www.musiktheater-im-revier.de




In den Abgründen romantischer Existenz: Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ gelingt in Gelsenkirchen großartig

Gelb und Blau, die Farben Werthers, in den Kostümen Jula Reindells für „Hoffmanns Erzählungen“ in Gelsenkirchen. Über verschmähte Liebe und Existenzangst hinaus lassen sich wohl noch andere Berührungspunkte in der Psyche der literarischen Figuren finden. Joachim Bäckström (Hoffmann) im leuchtenden Gelb des Außenseiters inmitten des Chores. Foto: Pedro Malinkowski

Gelb und Blau, die Farben Werthers, in den Kostümen Jula Reindells für „Hoffmanns Erzählungen“ in Gelsenkirchen. Über verschmähte Liebe und Existenzangst hinaus lassen sich wohl noch andere Berührungspunkte in der Psyche der literarischen Figuren finden. Joachim Bäckström (Hoffmann) im leuchtenden Gelb des Außenseiters inmitten des Chores. Foto: Pedro Malinkowski

Das Lied von Kleinzack ist eines jener spöttisch-frivolen Studentenlieder, wie sie heute noch in Verbindungen gesungen werden: einfacher strophischer Aufbau, ein Chor, der den Vorsänger wiederholt. Aber in der dritten Strophe entgleitet dem Sänger die Form. Ein Stichwort genügt und er verliert sich in einer schwärmerischen lyrischen Vision, aus der er nur mit Mühe in die Realität von Lutters Wein- und Bierschänke zurückfindet.

Mit dieser relativ einfachen, aber höchst wirkungsvollen Operation exponiert Jacques Offenbach im ersten Akt von „Les Contes d’Hoffmann“ musikalisch, mit welchem Begriff von Romantik er in seiner ehrgeizigen Oper zu arbeiten gedenkt.

Offenbach erweist sich, je weiter die Forschung zu den Fragmenten des unvollendeten Werks fortschreitet, desto mehr als feinsinniger Kenner romantischer Ideen: Welt- und Selbstverlust des Individuums, gleichzeitig Eindringen in verborgene Schichten der menschlichen Existenz, die Ambivalenz romantischer „Geisterreiche“ im Sinne E.T.A. Hoffmanns zwischen Entsetzen und Erleuchtung, das Bewusstsein von rational nicht steuerbaren Kräften zwischen dem Wunderbaren und dem Dämonischen, die Grenzbereiche von Psychologie und religiösem Glauben, aber auch die Abscheu vor der geistlosen Ordnung eines bürgerlichen Daseins mit seinem materialistischen Pragmatismus und seinem perspektivlosen Aktionismus.

„Hoffmann“-Inszenierungen sind wegen des komplexen gedanklich-geistesgeschichtlichen Überbaus, wegen der stets offenen Frage einer aktuellen Deutung des „Romantischen“, aber auch wegen der unabgeschlossenen Werkgestalt stets heikel und vom Scheitern bedroht. In Wuppertal etwa betonte zu Beginn der Spielzeit ein Experiment den disparaten Charakter des Werks: Die Inszenierung war drei Regisseur(inn)en anvertraut, die ihren Blick unabhängig voneinander auf je einen Akt richteten. Das unterstrich, wie zerrissen diese romantische Welt ist, machte es aber schwer, einen Zusammenhang zu konstruieren. In Essen zeigte – in dieser Spielzeit als Wiederaufnahme – die Inszenierung von Dietrich Hilsdorf, wie man sich „Hoffmanns Erzählungen“ als Drama eines Künstlers, der mit gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen nicht kompatibel ist, vorstellen muss.

E.T.A. Hoffmanns Romantik nahegekommen

Nun hat Michiel Dijkema in Gelsenkirchen als Regisseur und Ausstatter eine Lösung gefunden, die dem Romantik-Begriff Hoffmanns am nächsten kommt. Die Bühne ist zunächst weiß verschlossen, dann zeigt sich der Vorhang als Projektionsfläche. In Schwarz und Weiß erscheinen Szenen, die man wähnt, auf der Bühne gesehen zu haben, oder die geheimnisvoll vorausweisen auf das Kommende. Nüchtern exponiert Dijkema den Schauplatz, der für alle Bilder die Basis ist: Schlichte Tische und Stühle auf einer runden Scheibe, eingeschlossen von einer nach hinten spitz zulaufenden Wand.

Der hoffmanneske Riesenzylinder - hier das Denkmal für den Dichter und Komponisten in Bamberg - kehr auch in den Kostümen von Jula Reindell wieder. Foto: Werner Häußner

Der hoffmanneske Riesenzylinder – hier das Denkmal für den Dichter und Komponisten in Bamberg – kehrt auch in den Kostümen von Jula Reindell wieder. Foto: Werner Häußner

Die Schänke wird nicht verlassen; die Schauplätze der drei Akte sind innere Bilder Hoffmanns. Darauf deuten auch die Studenten hin, die zuerst als schwarze Menge mit riesigen Zylindern à la E.T.A. Hoffmann in den Raum strömen und sich dann als einmal leblos stumme, ein andermal als lebhaft applaudierende oder kommentierende Zuschauer auf oder um die Scheibe gruppieren. Teils Puppen, teils Statisten, sind sie Teil einer uneindeutigen Welt, weder wirklich noch imaginiert, changierend zwischen scheinbar prallem Realismus und sich real gebärdender Phantastik.

Kennzeichen der drei Akte sind Bühnen-Chiffren, die in ihrer surrealen Machart an die Gelsenkirchener Steampunk-Oper „Klein Zaches, genannt Zinnober“ nach E.T.A. Hoffmann erinnern: Zwei riesige Augäpfel mit mechanisch schlagenden Wimpern für Olympia, ein abgebrochener Geigenhals für Antonia, eine (später brennende) schwebende Gondel für Giulietta. Dijkema bricht in diesen Bildern den Realismus immer wieder, ohne den Erzählstrang zu verlassen, bedient sich – wie in den wunderbaren Kostümen von Jula Reindell – einiger Bildsignale aus dem frühen 19. Jahrhundert, so in den Frisuren der Damen im Olympia-Akt.

Widersacher aus unheimlicher Sphäre

Wie Hoffmann literarisch, so führt Dijkema szenisch das Verstörende, das die Fugen der Alltagsrealität sprengt, immer wieder allmählich schleichend ein, manchmal aber auch mit theatralischem Getöse, etwa, wenn sich die Muse aus zischendem Bühnendampf schält – in grünem Tanzröckchen und roter Perücke wie eine Elfe. Lindorf und seine drei Verkörperungen tragen imposante Roben, die den unheimlichen Charakter betonen. Ob Mann, ob Weib, ist bei dem kahlköpfigen Dämon in gewaltigem glitzerndem Schwarz im Vorspiel, in klinischem Weiß im Antonia-Akt und in opulentem Purpur im Venedig-Bild, nicht definierbar. Ein Widersacher aus einer anderen Sphäre, die sich jenseits menschlicher Zuordnungen manifestiert.

Durch die Magie des Singens stirbt Antonia der geordneten bürgerlichen Welt ihres Vaters Crespel (Dong-Won Seo). Der Doktor Miracle (Urban Malmberg) fördert den exaltierten Ausbruch Antonias (Solen Mainguené) in die tödlichen Abgründe romantischer Existenz. Foto: Pedro Malinkowski

Durch die Magie des Singens stirbt Antonia der geordneten bürgerlichen Welt ihres Vaters Crespel (Dong-Won Seo). Der Doktor Miracle (Urban Malmberg) fördert den exaltierten Ausbruch Antonias (Solen Mainguené) in die tödlichen Abgründe romantischer Existenz. Foto: Pedro Malinkowski

Hoffmann selbst erinnert im langen Mantel und später in gelbem Frack – seit dem Mittelalter die Farbe der Außenseiter – an den Dichter. Antonia erduldet die Qualen des Singverbots und die Bedrängnis durch den zwielichtigen Doktor Mirakel als bleiches, hohläugiges Wesen in weißem Gewand wie eine Lucia di Lammermoor am Rande des Wahnsinns – die Ikone von Kunst und Krankheit des 19. Jahrhunderts schlechthin.

Dass Dijkema in diesen Akt ein Spiel mit Cello und Kontrabass einführt – man hat in Gelsenkirchen sogar eine Cello spielende Sopranistin –, hat einen distanzierenden, aber auch symbolischen Sinn: Das Cello erinnert an den Frauenkörper, sein Klang liegt der menschlichen Stimme nahe. Und Giulietta verkörpert mit prallen, gleichwohl künstlichen Brüsten den Heilswahn sexueller Leidenschaft, für den Hoffmann sein Spiegelbild opfert: Schatten, Gesang, Augen – diese Seelensymbole spielen in Dijkemas Inszenierung eine entscheidende Rolle und erschaffen eine Bildwelt, in der folgerichtig wie selten die Ambivalenz der Romantik erschlossen und verdeutlicht wird.

Reaktionsschnell und hochmusikalisch

Die musikalische Seite der Aufführung bleibt hinter dem ambitionierten Rang des Szenischen nicht zurück – vor allem ein Verdienst des leider in Richtung Staatsoper Hannover scheidenden Kapellmeisters Valtteri Rauhalammi. Der Finne hat sich in seinen Dirigaten der letzten Zeit als sensibler Gestalter ohne Allüren erwiesen und findet zu Offenbachs musikalischer Sprache einen sinnigen Zugang. Das ist alles andere als selbstverständlich, denn Offenbach setzt sein Ausdrucksrepertoire beinahe schon polystilistisch ein. Die leichten Schraffuren und rhythmischen Petitessen seiner Buffo-Öperchen sind kombiniert mit der klanglich-melodischen Intensität Gounod’scher Lyrik, dunkel-untergründige Bläserakkorde korrespondieren mit der banalen Hymnik etwa des Choraufzugs des Olympia-Akts, melodisches Schwärmen und mechanische Rhythmik kontrastieren miteinander.

Rauhalammi arbeitet diese Gegensätze heraus, ohne sie zu hart gegeneinander zu setzen, hat Gespür für die weltvergessen sich fortspinnende Melodik des „Kleinzack“-Einschubs oder der glühenden Antonia-Kantilenen, kann die Puppe Olympia wie eine Spieluhr tanzen lassen und hält die Barcarole kitschfrei. Die reaktionsschnelle Neue Philharmonie Westfalen schaltet von einem Moment zum anderen um, strichelt hier leicht dahin und lässt dort ahnungsvolle Bläserakkorde weich und dunkel schimmern. Ein idiomatisch selten gut getroffener Offenbach, gerade weil er sich der Mode des durchgeschlagenen Maschinen-Rhythmus‘ und dem Missverständnis einer ausschließlich „leichten“ Tongebung entzieht.

Tenor-Entdeckung aus Skandinavien

Hoffmann (Joachim Bäckström) in den verführerischen Armen von Giulietta (Petra Schmidt). Foto: Pedro Malinkowski

Hoffmann (Joachim Bäckström) in den verführerischen Armen von Giulietta (Petra Schmidt). Foto: Pedro Malinkowski

Mit Joachim Bäckström hat sich Gelsenkirchen aus Schweden einen wunderbar hellstimmigen, höhensicheren Hoffmann geholt. Der Tenor hat bisher vor allem im skandinavischen Raum gesungen – Malmö, Göteborg, Kopenhagen. Sein Deutschland-Debüt macht mit einer solide fundierten, gut fokussierten, manchmal noch dynamisch etwas unflexiblen, aber leuchtkräftigen und schlank-beweglichen Stimme bekannt. Bäckström dürfte, so mal jemand in die „Provinz“ hineinhört, bald von größeren Bühnen umworben werden.

Dem Gegenspieler Lindorf und seinen Erscheinungsformen haucht Urban Malmberg mit faszinierender Präsenz Bühnenleben ein. Malmberg hatte im Vorfeld der Produktion mit Krankheit zu kämpfen, singt aber fast unbeeinträchtigt sogar seine – nicht von Offenbach geschriebene, aber Musik von ihm verwendende – „Diamanten-Arie“. Dennoch ist zu fragen, ob Malmberg eine vokal passende Besetzung ist: Statt des dramatisch-italienisch orientierten Heldenbaritons wäre eine agile, leichter timbrierte französische Stimme adäquater. Unter den zahlreichen kleineren Partien verdienen die Mitglieder des Jungen Ensembles hervorgehoben zu werden: Marvin Zobel singt als Nathanaël locker, sicher und mit freiem Timbre; auch Tobias Glagau zeigt in den paar Einwürfen des Wilhelm einen schön entwickelten Ton.

Faszination und Dämonie künstlicher Welten: Dongmin Lee als Automat Olympia. Foto: Pedro Malinkowski

Faszination und Dämonie künstlicher Welten: Dongmin Lee als Automat Olympia. Foto: Pedro Malinkowski

Unter den Damen hat es Dongmin Lee am leichtesten, als Olympia mit ihren Acuti und Koloraturen „abzuräumen“ – was ihr mit Charme und darstellerischem Geschick auch gelingt. Am schwersten tut sich Giulietta, aber Petra Schmidt schlägt sich mit der ähnlich wie Mozarts Donna Elvira alles fordernden Partie, ohne sich eine Blöße zu geben. Solen Mainguené geht die Antonia eher hart und grell als weich und schmiegsam an: Das Timbre passt zur Rollenauffassung einer gespenstisch enthobenen, in tödliche Regionen der Existenz abdriftenden Frau. Almuth Herbst ist eine wendig singende, verschmitzte Muse. Chor und Extrachor des Musiktheaters im Revier hat Alexander Eberle – auch im melancholischen a cappella Chor des fünften Akts – auf Präzision und Klangbalance eingeschworen.

„Les Contes d’Hoffmann“ in Gelsenkirchen ist bildmächtiges, beziehungsreiches, tiefsinniges Musiktheater, wie man es sich schlüssiger, schöner kaum wünschen kann. Damit positioniert sich das Musiktheater im Revier erneut mit einem starken Akzent in der Theaterlandschaft Nordrhein-Westfalens, der über die Landesgrenzen hinaus Beachtung verdient.

Vorstellungen am 18., 22., 24., 30. Juni, 9. Juli. Wiederaufnahme am 3. September. Karten: Tel. (0209) 4097 200, www.musiktheater-im-revier.de




Was der Mensch so alles glauben kann: Die neue Spielzeit im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. (Foto: Georg Lange)

Von einem mutigen Spielplan sprach Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski bei der Vorstellung der Saison 2017/18 am Musiktheater im Revier. In der Tat: Zwei Schlüsselwerke der Oper des 20. Jahrhunderts in einer Spielzeit zu inszenieren und dazu eine bissig-heitere Farce von Dmitri Schostakowitsch zu platzieren, dazu gehört Vertrauen in die eigenen Kräfte und auf ein gewogenes Publikum. Generalintendant Michael Schulz kann sich auf beides verlassen – das hat die weit über das Ruhrgebiet hinaus beachtete Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ in der laufenden Spielzeit gezeigt.

OB Frank Baranowski (links) und Generalintendant Michael Schulz bei der Vorstellung des Spielplans 2017/18. Foto: Werner Häußner

OB Frank Baranowski (links) und Generalintendant Michael Schulz bei der Vorstellung des Spielplans 2017/18. (Foto: Werner Häußner)

An solche Erfolgsgeschichten knüpft das Team des Musiktheaters im Revier an: Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ und Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ sind die prominenten Opern-Titel der neuen Spielzeit. Beide stehen für programmatische Schwerpunkte: Einmal will das MiR in den vielfältigen Chor derer einstimmen, die in diesem Jahr der Reformation gedenken – als einem der wichtigen Impulse auf dem Weg in das Denken der Neuzeit.

Zum anderen geht es dem Musiktheater im Revier um das – in letzter Zeit an verschiedenen Theatern aufgegriffene – Thema Religion und Glaube. Dazu sieht die Spielzeit auch Andrew Lloyd Webbers populäre Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ vor (Premiere am 22. Dezember). Und „Nabucco“ thematisiert das Scheitern eines Herrschers, der sich selbst zum Gott hochstilisiert. Giuseppe Verdis Oper hat sich in den letzten 30 Jahren einen Platz im Repertoire zurückerobert – nicht zuletzt wohl wegen des melodisch inbrünstigen „Gefangenenchors“. Sonja Trebes, die in dieser Spielzeit Nino Rotas „Florentiner Hut“ inszeniert hat, setzt sich mit Verdis erstem internationalem Erfolg auseinander (Premiere am 16. Juni 2018).

Ben Bauer inszeniert die „Gespräche der Karmeliterinnen“

Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ erzählt am Beispiel des bis heute geheimnisumwitterten Schöpfers des Isenheimer Altars ein Künstlerdrama über die Verantwortung des Individuums in der Gesellschaft. Ein Thema, das auch den Komponisten in seinem Leben einholte: Die geplante Uraufführung des „Mathis“ an der Berliner Krolloper wurde von den Nazis untersagt, Hindemith mit einem Aufführungsverbot belegt. „Mathis der Maler“ konnte erst 1938 in Zürich uraufgeführt werden. In Gelsenkirchen inszeniert Schulz selbst in einem Bühnenbild von Heike Scheele, die Premiere ist am 28.Oktober.

Ballettchefin Bridget Breiner und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann. Foto: Werner Häußner

Ballettchefin Bridget Breiner und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann. (Foto: Werner Häußner)

Auch „Gespräche der Karmeliterinnen“, 1957 uraufgeführt, ist in den letzten Jahren erfolgreich auf die Bühne zurückgekehrt, unter anderem in Essen, Düsseldorf, Köln, Münster. Am MiR stellt sich der Bühnenbildner Ben Bauer, einer der „rising stars“ der Regie-Szene, nach dem aktuellen „Don Giovanni“ der komplexen Thematik von Poulencs Oper nach Vorlagen von Georges Bernanos und Gertrud von Le Fort: Es geht um die Lebensangst einer jungen Frau, um den Terror der Französischen Revolution, um die Bereitschaft zum Martyrium und um die Frage, wohin ein standhafter Glaube führt, wenn eine Entscheidung gefordert ist. Ab 27. Januar 2018 ist Ben Bauers Ergebnis – und Poulencs farbig-vielfältige Musik – auf der Gelsenkirchener Bühne zu erleben.

Wenn man so will, geht es auch in anderen Stücken der kommenden Spielzeit um Glauben, freilich nicht im religiösen Sinn: In Gaetano Donizettis „L’Elisir d’amore“ glaubt ein junger Mann an die magische Wirkung eines Liebestranks – natürlich mit entzückendem Ergebnis. Die Koproduktion mit der Dresdner Semperoper hat am 5. Mai 2018 Premiere. In Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“ glaubt eine verliebte junge Frau an die beständige Liebe, die selbst den Abstand ins ferne Batavia überbrücken kann – ebenfalls mit wundervoll überraschendem Ergebnis. Thomas Rimes gibt dem Operettenklassiker für das Kleine Haus ein neues, am jazzigen Klang des Originals orientiertes Klanggewand (9. Februar 2018).

Nach der Koch-Oper gibt’s echte Suppe

Die Satire Dmitri Schostakowitschs mit dem Titel „Moskau, Tscherjomuschki“ thematisiert den nachhaltig erschütterten Glauben an die Bürokratie und andere höchst irdische Einrichtungen. Dominique Horwitz wird das Stück von 1959 auf den Irrsinn heutiger Tage beziehen (31. März 2018). Horwitz ist auch der Schöpfer einer Revue, die ab 5. November unter dem Titel „Reformhaus Lutter“ nicht nur mit gesunder Ernährung, sondern wohl auch mit kränkelnden Erscheinungen des Glaubens, Unglaubens und Irrglaubens zu tun haben wird. Dazu passt, was Moritz Eggert ab 19. November in „Teufels Küche“ anrichten wird: Die Kinderoper kocht nämlich nicht nur alle möglichen musikalische Zutaten zu einer kulinarischen Sinfonie. Es soll am Ende auch eine richtige, essbare Suppe auf dem Tisch stehen!

Szene aus dem Ballett „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ am Musiktheater im Revier. Foto: Costin Radu

Szene aus dem Ballett „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ am Musiktheater im Revier. (Foto: Costin Radu)

Bridget Breiner kündigt einen (zu) viel gespielten Klassiker an: Mit „Romeo und Julia“ zur Musik Sergej Prokofjews setzt die Gelsenkirchener Ballettchefin ihre Beschäftigung mit Shakespeare-Stoffen fort (Premiere am 17. Februar 2018). Eröffnet wird die Serie der Novitäten im Ballett am 25. November mit „Old, New, Borrowed, Blue“ – drei Arbeiten von Meistern des zeitgenössischen Tanzes, ergänzt durch Breiners „In Honour of“, entstanden 2014 für Riga. David Dawson („A sweet spell of oblivion“, 2016 schon zu sehen), Jiři Kylián (“Indigo Rose”) und Uwe Scholz (“Jeunehomme-Klavierkonzert, 2. Satz“) sind die Choreografen, von Breiner ausgewählt, weil sie von allen dreien in ihrer eigenen Arbeit inspiriert worden ist. Die dritte Premiere am 28. April 2018 ist das Debut des belgischen Choreografen Jeroen Verbruggen, der das Kleine Haus mit seiner Performance mit einem neuen Raumkonzept (Bühne: Ines Alda) in eine Lounge verwandeln wird.

Wieder aufnehmen will die Ballettcompagnie „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ anlässlich des 100. Geburtstags der 1943 in Auschwitz ermordeten Künstlerin. Der 2015 mit dem Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnete Ballettabend wird ab 29 September noch vier Mal gezeigt. Ab 5. September ist im Zeiss-Planetarium Bochum eine multimedial aufbereitete Ausstellung zur Inszenierung zu sehen: Filmähnlich montierte Serienbilder, sogenannte Sequentials, des Fotokünstlers Heinrich Brinkmöller-Becker werden auf die Kuppel des Planetariums projiziert. Passend zum Shakespeare-Projekt Breiners kehrt am 15. Oktober Cathy Marstons „Hamlet“-Ballett auf die Bühne des Musiktheaters im Revier zurück.

Info: www.musiktheater-im-revier.de, Karten-Telefon: (0209) 4097 200




Wilde Träume des bürgerlichen Unterbewusstseins: Ben Baur inszeniert Mozarts Oper „Don Giovanni“ in Gelsenkirchen

Zerlina (Bele Kumberger) wird schwach angesichts der Avancen von Don Giovanni (Piotr Prochera). (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Was hat Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ mit der Oper „Don Giovanni“ von Wolfgang Amadeus Mozart zu tun? Im Gelsenkirchener Musiktheater derzeit eine ganze Menge. Der aus dem südhessischen Reinheim stammende Bühnen- und Kostümbildner Ben Baur, der sich zunehmend dem Regiefach zuwendet, deutet den nimmersatten Frauenhelden jetzt als finsteres Alter Ego seines Dieners Leporello, als morbide nächtliche Fantasie eines bürgerlichen Unterbewusstseins.

Viele Rezitative zwischen Don Giovanni und Leporello fallen dieser Sichtweise zum Opfer. Einige Arien schneidet Ben Baur heraus, um sie an anderer Stelle zu positionieren. Das ist durchaus machbar, ohne das Stück zu zerstören: Als Ausgangs- und Knotenpunkte der Handlung funktionieren die Arien dieser Oper eigentlich immer. Zudem hat sich Mozarts ebenso geniales wie mehrdeutiges „Dramma giocoso“ von Beginn an wenig um Opernkonventionen und Gattungsgrenzen geschert.

Das Geschehen auf der Bühne zu verstehen, dürfte freilich erhebliche Probleme bereiten, wenn im Vorfeld die Lektüre des Programmhefts unterbleibt. Schon während der Ouvertüre findet auf der Szene ein so munteres „Bäumchen wechsel Dich“-Spiel statt, dass man bald nicht mehr begreift, wer da alles wem und warum um den Hals fällt. Die komische Seite des Spiels bleibt wenig belichtet. Selbst Zerlina und Masetto, das naiv-burleske Bauernpaar, ringt um ein vertrauensvolles Leben zu zweit.

Don Giovanni (Piotr Prochera, li.) mit Zerlina (Bele Kumberger) und Masetto (Michael Dahmen). (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Die mit Totenmasken ausgestattete Statisterie soll vermitteln, dass diese Nacht mit dem Totentanz des Titelhelden endet, bevor es endlich Tag wird und der Spuk ein Ende hat. Warum aber muss Don Giovanni vor seinem Ende in das Brautkleid der Donna Elvira steigen? Ein seltsames Totenhemd für einen Super-Macho.

Baurs Lesart, wiewohl weit hergeholt, entfaltet gleichwohl Reize für den, der sich auf sie einlässt. Als magische Traumgestalt oder Ausgeburt einer überhitzten Fantasie lässt sich die mythische Titelgestalt, an deren rätselhafter Anziehungskraft sich Dichter, Denker und Philosophen abgearbeitet haben, vielleicht noch am ehesten begreifen. Elegant sind die Bühnenbilder, für die ebenfalls Ben Baur verantwortlich zeichnet.

Alles beginnt in einem mit Stuckaturen verzierten Salon mit eingezogenem Theatervorhang. Wenn diese Kulisse schließlich komplett Richtung Schnürboden gezogen wird, bleibt ein feierliches, von Kerzenleuchtern und Blumengestecken geschmücktes Spielfeld der Liebe und des Todes.

Das quirlige Ensemble des Musiktheaters (MiR) eilt dem Orchester zuweilen bedenklich davon, aber die teils erheblichen Unstimmigkeiten zwischen Graben und Bühne mögen auch dem Premierenfieber geschuldet sein. Piotr Prochera, von Statur und Stimmvolumen nicht der Größte, meistert die Titelpartie auf intelligente Weise. Er gibt „seinem“ Don Giovanni strizzihaften Charme und samtige Eleganz, die er bei passender Gelegenheit ins Forcierte und Brutale umschlagen lässt. Stimmlich überzeugend zeichnet er das Porträt eines Edelmanns mit sadistischen Zügen.

Der schwedische Bariton Urban Malmberg muss als Leporello eine Bass-Partie bewältigen, weshalb er sich im tiefen Register dementsprechend müht. Gleichwohl findet er passend gallige Töne für einen Diener, der seinen Herrn satt hat bis zum Überdruss.

Nacht und Kerzenschein: In Ben Baurs Lesart von „Don Giovanni“ ringen die Figuren um das Leben zu zweit. (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

 

Wunderbar besetzt sind die beiden Sopran-Partien: Alfia Kamalova bringt als Donna Anna lyrischen Schmelz und edle Dramatik zum leuchten, und Bele Kumberger ist eine Zerlina, die herrlich zwischen mädchenhafter Scheu und gewitzter Koketterie schwankt. Petra Schmidt gibt der Donna Elvira gehörigen Rache-Furor, in den sich zuweilen auch spitze oder verhärmte Töne mischen.

Die Partie des Masetto scheint Michael Dahmen perfekt zu liegen: Bei ihm verschmelzen stimmliche und schauspielerische Darstellung zu genau der Einheit, die Mozarts Figuren so ungeheuer lebendig macht. Dong-Won Seo gibt dem Komtur nachtschwarz drohende Wucht. Ibrahim Yesilay entwickelt als Don Ottavio tenoralen Schmelz, hat bei der Premiere aber das Pech, einmal fast komplett den Anschluss zum Orchester zu verlieren.

Die metaphysische Wucht des d-Moll, die im „Don Giovanni“ den Einbruch einer rächenden Instanz aus dem Jenseits markiert, will sich im Orchestergraben zunächst nicht recht einstellen. Die Neue Philharmonie Westfalen braucht eine ganze Weile Anlauf, bis sie sich in den rechten Esprit für Mozarts ebenso transparente wie anspruchsvolle Partitur hinein spielt. Nach der „Zauberflöte“ im Jahr 2009 hatte sich Chefdirigent Rasmus Baumann eben eher auf Riesenrösser des Repertoires konzentrierte – man denke nur an „Lady Macbeth von Mzensk“, „Die Frau ohne Schatten“ oder „Tristan und Isolde“. Der Offenbarungseid, dem Mozarts Werke für Sänger und Musiker gleich kommen, fällt in Gelsenkirchen vielleicht nicht immer brillant, aber doch vielversprechend aus.

(Folgetermine im Mai, Juni und Juli 2017. Informationen: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2016-17/don-giovanni/)




Vergnügliche Kunst im musikalischen Zirkus: Artistische Rhythmus-Experimente in Gelsenkirchen

Das Artistische in der klassischen Musik ist erst in den überaus ernsten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Verruf geraten – und das auch vornehmlich in den Revieren kompositorischer Grübler und Grantler. Weder ein „Teufelsgeiger“ wie Niccolò Paganini noch eine Koloraturnachtigall wie Erna Sack scherten sich um „Material“. Sie führten einfach lustvoll vor, wie perfekt sie ihre mühelos scheinende Technik beherrschten.

Nerses Ohanyan. Foto: Neue Philharmonie Westfalen

Nerses Ohanyan. (Foto: Neue Philharmonie Westfalen)

Heute ist der Ingrimm der Kategorien zum Vergnügen des Publikums verblasst – und davon profitieren Musiker wie der 28-jährige Flötist Nerses Ohanyan. Im Musiktheater im Revier versetzte er die – leider viel zu wenigen – Zuhörer im Kleinen Haus in Staunen: Beatboxing heißt die Kunst, mit der er sein Flötenspiel aufpeppt. Eine eigentlich uralte Kunst, die vor allem im Hip Hop wiederbelebt wurde und sich in den letzten zwanzig Jahren weit verbreitet hat.

Die Musiker beziehen sich dabei weniger auf die amerikanischen und afrikanischen Ursprünge. Sie imitieren vielmehr die Geräusch-Percussion früherer Rhythmusmaschinen. Diese drum machines kamen seit den sechziger Jahren in der elektronischen und der Pop-Musik zum Einsatz.

Percussion mit Mund, Zunge, Rachen und Körper

Musiker wie Ohanyan entwickeln eine phänomenale Virtuosität und Präzision beim Nachahmen der rhythmischen Geräusche. Der aus dem armenischen Jerewan stammende Ex-Student der Essener Folkwang Universität der Künste spielt gleichzeitig Flöte dazu. Eine perfekte Kombination, findet Ohanyan: Seine Luft reicht für die Flöte und die Percussion, die er mit Mund, Zunge, Rachen und Körper erzeugt. Wie, das verrät der Künstler natürlich nicht.

So wird die Flöte zum rhythmusgestützten Melodie-Instrument, kann aber auch selbst perkussiv eingesetzt werden wie in der Zugabe, einer Bearbeitung von Mozarts berüchtigtem „Rondo alla turca“. Wie ein Virtuosenkonzert alten Zuschnitts kommt „Native Tongues“ daher, ein Konzert für Beatbox-Flöte und Streichorchester, geschrieben von dem Amerikaner Randall Woolfe – einem experimentierfreudigen Komponisten, der weder vor dem Populären noch vor der musikalischen Zirkusnummer zurückschreckt. 2010 uraufgeführt, zeigt sich das Stück beeinflusst von Hip Hop wie Minimal Music und vermittelt vor allem das Staunen über die phänomenale Konzentration, Präzision und Schnelligkeit, mit der Nerses Ohanyan seinen Part zum Besten gibt.

Mit Lust und Laune bei der Sache

Mit dem Rhythmus als Kategorie des Komponierens spielt auch das Eingangsstück des Konzerts, „Zoom and Zip“ von Elena Kats-Chernin. Die in ihrer Wahlheimat Australien gefeierte, vielseitige Komponistin lässt Celli und Kontrabass einen stampfenden, maschinellen Offbeat spielen, der im Zeitmaß vergrößert irgendwann zur Melodie wird, während die sich herausbildende Melodie der Violinen sich zu einem Rhythmus verdichtet. In der Mitte des Stücks lässt eine weit schweifende Elegie die Dynamik der Bewegung vorübergehend zur Ruhe kommen. Eine hübsche Studie, die an Kultorten der Neuen Musik wie Donaueschingen vermutlich für einen Eklat gesorgt hätte.

Enrico Calesso. Foto: Falk von Traubenberg/Mainfranken Theater Würzburg

Enrico Calesso. (Foto: Falk von Traubenberg/Mainfranken Theater Würzburg)

Die Streicher der Neuen Philharmonie Westfalen lassen sich auf diese unterhaltsamen und überraschenden Spielereien mit Lust und Laune ein. Gastdirigent Enrico Calesso, Generalmusikdirektor in Würzburg, zeigt bei seinem Debüt in Gelsenkirchen Humor und Temperament, fordert Präzision, aber auch animierten Schwung.

Haydn als Vorläufer

Den gibt der berührungsangstfreie Italiener auch einem „Vorläufer“-Werk der rhythmisch bestimmten Entdeckungen im Programm dieses Konzerts mit: Joseph Haydns D-Dur-Sinfonie mit der Nummer 86, eine der „Pariser“ Sinfonien, setzt rhythmische Figuren als kennzeichnendes und sogar strukturbildendes Element ein.

Der erste Satz beginnt mit einer harmlos wirkenden Auftakt-Figur aus drei Achteln, die sich dann als scharfes Dreier-Staccato durch den ganzen Satz ziehen und das „Allegro spiritoso“ energisch vorwärts drängen. Haydn spielt mit den Achtelfiguren auch in der Motivik und zeigt sich überdies in der Themen- und Tonarten-Entwicklung zu reizvollen Überraschungen aufgelegt. Mit Tonrepetitionen schafft auch das Menuett eine Beziehung zu seinen Nachbarsätzen; Violine und Fagott ergeben im Trio eine aparte Klang-Kombination.

Der letzte Satz ist mit einer einen Ton fünf Mal wiederholenden Figur rhythmisch befeuert und bekräftigt noch einmal Haydns Absicht, in dieser Sinfonie für das verwöhnte, aber auch wohl seine Hörgewohnheiten liebende Pariser Publikum eine qualitätsvolle, von Überraschungen und subtilem Humor geprägte Probe seines Könnens zu liefern.

Calesso signalisiert den Musikern eine scharfe, den rhythmischen Esprit betonende Artikulation und ein flottes Tempo, dem die Neue Philharmonie Westfalen geschmeidig folgt. Die kurzen, betonten Noten kommen auf dem Punkt – das Hör-Vergnügen lässt nicht auf sich warten.

 




Große Bekenntnismusik – das Quatuor Danel interpretiert Streichquartette von Weinberg und Schostakowitsch

Das belgische Quatuor Danel besticht durch äußerst subtiles Spiel. (Foto: Ant Clausen)

Im vergangenen Jahr feierte das belgische Quatuor Danel sein 25jähriges Bestehen. Längst ist es auf vielen Podien der Welt zu Gast, doch noch immer gilt dieses Streichquartett als Geheimtipp, zumindest in unseren Breiten. Das sollte sich dringend ändern: Marc Danel und Gilles Millet (1./2. Violine), Vlad Bogdanas (Bratsche) und Yovan Markovitch (Cello) sind in ihrem subtilen, expressiven und hoch konzentrierten Spiel ein fabelhaftes Ensemble. Das hat jetzt ihr Auftritt im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier (MiR), mit Werken von Mieczyslaw Weinberg und Dmitrij Schostakowitsch, aufs Eindrucksvollste bewiesen.

Der Abend gehört zum attraktiven, sehr umfangreichen Begleitprogramm, das sich um die Aufführung von Weinbergs Oper „Die Passagierin“ rankt. Das musikalische Drama um eine ehemalige KZ-Aufseherin, die auf einer Schiffsreise nach Südamerika einem ihrer ehemaligen Opfer begegnet, wurde im Januar von Gabriele Rech bewegend in Szene gesetzt.

Doch der Pole Weinberg, dessen Familie im Holocaust umkam, und der selbst schon 1939 in die Sowjetunion emigrierte, hat unendlich viel mehr komponiert als diese Oper, darunter allein 17 Streichquartette. Das Bestreben des MiR, dieses Œuvre zumindest ein wenig aufzufächern, ist dem Haus hoch anzurechnen.

Mit dem Quatuor Danel hat man vier Experten eingeladen, die sowohl alle Streichquartette von Schostakowitsch als auch von Weinberg eingespielt haben. Beide Komponisten verband eine innige Freundschaft, das Werk des jüngeren Polen verweist im übrigen nicht selten auf die Musik des Russen.

Doch von bloßer Apologetik kann keine Rede sein, das zeigt die Programmauswahl des Abends: Weinbergs 5. und 16. Quartett umrahmen das 10. von Schostakowitsch. Ähnlichkeiten sind natürlich unüberhörbar, aber jeder pflegt doch seine eigene „Sprache“. En détail kitzelt das Quatuor Danel die jeweilige Idiomatik so präzis wie lustvoll heraus.

Weinberg schrieb sein 5. Quartett 1945. Das fünfsätzige Werk kommt oft in karger Faktur daher, der Beginn etwa (Melodia) oder die „Improvisation“ wird überwiegend von der 1. Violine intoniert. Es ist eine ganz eigene, etwas verhangene lyrische Intimität, die so entsteht, ein bittersüßer Tonfall, der ohnehin wesentliches Merkmal von Weinbergs Musik ist. Marc Danel gestaltet diese Solostellen betörend schön und intensiv, seine Mitstreiter, vor allem Cellist Yovan Markovitch, steuern wunderbare Klangflächen oder delikate Gegenstimmen bei.

Andererseits können diese vier Streicher durchaus zupacken, das Scherzo des 5. Quartetts wird so an Schostakowitschs Sarkasmus herangerückt. Gleichwohl bleibt die Distanz: Bei Weinberg regiert eher der subtile Spott. Und die Interpretation des Quatuor Danel lässt mehr an die robusten Attacken Beethovens denken. Die vier Musiker legen dabei bisweilen einen geradezu stoischen Zugriff an den Tag – sehr wirkmächtig ist das, gar nicht mechanisch.

Noch intensiver gerät die Deutung von Weinbergs Streichquartett Nr. 16, komponiert 1981, zum Andenken seiner im KZ ermordeten Schwester. Fahle Klänge wechseln mit wild herausfahrenden, dissonanten Passagen, die mitunter wie ein Aufbäumen wirken. Die Elegie des 3. Satzes atmet Trauer und Schmerz, das Finale gleicht einem zärtlich ummantelten Totentanz. Neben dem jüdischen Idiom, das dieses Werk durchzieht, fällt zudem die Nähe zu Bartók auf.

Beide Weinberg-Stücke umschließen Schostakowitsch 10. Quartett, das der Russe seinem jüngeren Freund gewidmet hat. Es beginnt eher verhalten, das Staccato-Thema erfährt einige Varianten ohne wirkliche Entwicklung, und nur die gespenstisch enervierenden Repetitionen lassen Unruhe ahnen. Die bricht im Allegretto furios, energisch, mit schroffen Akzenten heraus, im scharfen Kontrast zur Klage des 3. Satzes mit seinen fahlen, wie weltverlorenen Klangmischungen. Das Finale greift auf vorherige Motive zurück, verliert zunehmend an Dichte, und wo eben noch Rausch, herrscht letztlich das karge Verlöschen.

So zelebriert das Quatuor Danel einen Abend mit facettenreicher Bekenntnismusik. Das ist so spannend wie herzergreifend, in keinem Falle aber sentimental. Ein außerordentliches Konzert.

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Nächstes Ereignis des Weinberg-Programms am MiR ist ein Gesprächskonzert mit dem Geiger Linus Roth und dem Pianisten José Gallardo am 26. März 2017 im Kleinen Haus (18 Uhr). Es erklingen wiederum Werke von Weinberg und Schostakowitsch. Info unter www.musiktheater-im-revier.de




Kein Recht auf Vergessen: Gelsenkirchen überzeugt mit Mieczysław Weinbergs erschütternder Oper „Die Passagierin“

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs "Pasazerka" - zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. Foto: Forster

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs „Pasazerka“ – zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. (Foto: Forster)

Namen. Die Menschen haben Namen. Sie heißen Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz. Und sie erzählen Geschichten, Lebens-, Sehnsuchts-, Erinnerungsgeschichten. Ganz im Gegensatz zu ihren Peinigern. Bei denen sind sie Nummern. Die Menschen, die ihre Fäuste, Schlagstöcke und Pistolen gegen ihre Mitmenschen richten, erzählen nichts. Sie räsonieren nur über ihre Ideologie. Und als die Geschichte in das Leben einer der Uniformierten einbricht (durch eine stumme Begegnung, nur einen Blick), offenbart sich die ganze Erbärmlichkeit ihrer Existenz.

Ja, man könnte Mieczysław Weinbergs „Pasażerka“ („Die Passagierin“) auf eine „KZ-Oper“ eingrenzen. Ein tief berührendes Zeugnis dafür, dass Kunst sich selbst diesem furchtbarsten aller Schreckensorte des Bösen nähern kann. Wie erschütternd die Konfrontation wirkt, war nach der Premiere im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen spürbar: Betroffenheit und Beklemmung lasteten geradezu greifbar im Raum.

Beim Beifall stand auf der Bühne, mitten unter den Künstlerinnen und Künstlern, eine zierliche Frau: die 93-jährige Zofia Posmysz. Sie hat Auschwitz überlebt und in einer durch ein persönliches Erlebnis angeregte Novelle die fiktive Begegnung einer Täterin mit einem ihrer Opfer beschrieben. Die Erzählung bildet die Grundlage für Weinbergs Oper.

Aber das bis 2010 in der westlichen Welt unbekannte Werk des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten will nicht zuerst die Vernichtungsmaschinerie der Nazis dokumentieren. Als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“, bezeichnet Weinbergs enger Freund und Förderer Dmitri Schostakowitsch die Oper.

Das Libretto von Alexander Medwedew fügt in die Erzählung Zofia Posmysz‘ Frauen ein, die aus Polen, Frankreich, Russland kommen, die ihre Leiden und Hoffnungen ins Lager mitgebracht haben, die dulden, beten, weinen, sich empören und lieben. Und die auf diese Weise Menschlichkeit im Verborgenen weiterleben lassen, kleine Inseln der Humanität schaffen. Die aber auch die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes stellen, nach seiner Anwesenheit in der Hölle von Auschwitz. Vielleicht, so eine der Frauen, sei Gott in Auschwitz noch einmal Mensch geworden und hier gestorben.

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin" am Musiktheater im Revier. Foto: Forster

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ am Musiktheater im Revier. (Foto: Forster)

Die kalten Zahlen, die in einer Projektion die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn es die Denunziantin, den weiblichen „Kapo“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock gibt. „Abstrakter Humanismus“ wurde Weinberg vorgeworfen, die Oper daher erst 2006, zehn Jahre nach seinem Tod, konzertant in Moskau erstmals aufgeführt. Was für ein abstruser Vorwurf, aber er enthüllt in seiner perversen Form eine Wahrheit: Worauf Weinberg besteht, ist das Überleben der Menschlichkeit selbst dort, wo nur noch Tod und Teufel zu regieren scheinen. Eine Botschaft, die über die Bedingungen der historischen Konkretion in Auschwitz hinaus beansprucht, gültig zu sein.

Weinberg lässt die „Passagierin“ mit einem Appell für die Erinnerung enden. „Wenn das Echo eurer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde“, zitiert er einen Paul Eluard zugeschriebenen Satz. In ihrem sanften, lyrischen Schlussgesang nennt die überlebende Marta noch einmal die Namen ihrer Mitgefangenen im Lager.

Es geht nicht um ein abstraktes, formalisiertes Gedenken. Es geht um Menschen. Keiner der Ermordeten geht in der Opferrolle auf. Jeder hat Charakter, Geschichte, Beziehungen, Herkunft und Ziel. Der Namen hält das Leben fest. Nicht umsonst sind in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel die Namen der Holocaust-Opfer in Stein graviert, können auch im Internet recherchiert werden. Und daher noch einmal: Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz, Katja, Krystina, Vlasta …

„Die Passagierin“ wurde erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführt und seither in Europa und Amerika mehrfach, in Deutschland in Karlsruhe und Frankfurt wieder inszeniert. Gelsenkirchen nimmt die Herausforderung an, dieses wichtige und schwierige Werk erneut zur Debatte zu stellen. Die Premiere – einen Tag nach dem Internationalen Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus  – ist begleitet von einem umfangreichen Rahmenprogramm, das am 1. Juli mit einem Gastspiel des Theaters Hof mit George Taboris „Mein Kampf“ endet.

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Regisseurin Gabriele Rech legt Wert auf sorgfältige Menschenstudien, von der eilfertig prügelnden Aufseherin (Patricia Pallmer), die sich durch Anbiederung zu retten hofft, über die resignierten, aber nicht gebrochenen Frauen, die wie Yvette (Bele Kumberger) sogar noch zu träumen wagen, bis hin zu dem Musiker Tadeusz (Piotr Prochera), der bis zur Hingabe des eigenen Lebens entschlossen ist, sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen: Als der Lagerkommandant, ein „Musikkenner“, von ihm einen trivialen Walzer fordert, spielt er ein Beispiel universaler Musik, Johann Sebastian Bachs Chaconne.

Das Einheitsbühnenbild von Dirk Becker macht es der Regisseurin nicht leicht, die filmähnlichen Rückblenden zu inszenieren. Der Raum, durch dunkel vertäfelte Holzportale gegliedert, mit einem Podium im Hintergrund und einer Bar an der Seite, ist anfangs der moderne Salon eines Schiffes, auf dem der Diplomat Walter und seine Frau Lisa nach Brasilien reisen. Im eleganten Cocktailkleid der ausgehenden fünfziger Jahre – die historisch verorteten Kostüme sind von Renée Listerdal – versuchen die beiden, ihr Recht auf Vergessen zu behaupten, aber die „schwarze Todeswand“ von Auschwitz widerspricht: Der Chor singt aus dem Rang und vergegenwärtigt, was verdrängt werden soll.

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin". Foto: Forster

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. (Foto: Forster)

Als Lisa – die KZ-Aufseherin Anna-Lisa Franz war das Vorbild – in einer Passagierin die ehemalige Auschwitz-Gefangene Marta zu erkennen glaubt, schiebt sich die Vergangenheit in die elegante Wirtschaftswunder-Kulisse. Aus dem Salon wird der Schauplatz des Totentanzes, Uniformierte marschieren auf. Dass der Raum genauso gut als SS-Kasino durchgehen könnte, weist subtil darauf hin, dass es zwischen der Nazizeit und der jungen Bundesrepublik mehr Kontinuitäten gegeben hat als fassbar waren: Die Letzten, die als Täter in Frage kommen, stehen erst heute vor Gericht.

Rech lässt das blonde Lieschen zur „arischen“ Frau in Uniform mutieren, die nicht prügelt oder tötet, sondern mit ihren Opfern ein subtiles Spiel einfädelt: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Dass sie damit an der charakterlichen Festigkeit von Marta und Tadeusz scheitert, irritiert sie zutiefst: In sinisterer Verwunderung beklagt Lisa den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Hanna Dóra Sturludóttir zeigt, wie diese Frau den Halt verliert, der ihr das Verdrängen und ihre konstruierten Rechtfertigungen gegeben haben – und wie die Beziehung zu dem karrierebewussten Walter (Kor-Jan Dusseljee) zerbricht. Ihre letzten Klagen hört der Mann überhaupt nicht mehr; er blättert teilnahmslos am Tresen in der Zeitung. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer und einem träumerischen Lied Martas. Ilia Papandreou singt es mit anrührender Einfachheit, nachdem sie drei intensive Stunden lang die schweigende, allein durch ihre Präsenz wirkende Passagierin und die auch angesichts des sadistischen Hohns der „Aufseherin Franz“ starke, mutige Frau im Lager verkörpert hat.

Auch wenn die Frankfurter Inszenierung Anselm Webers vor zwei Jahren nicht zuletzt wegen der überzeugenden Bühne von Katja Haß für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine noch prägnantere Bild-Lösung gefunden hat: Gelsenkirchen kann sich neben den bisherigen Produktionen der „Pasażerka“ anstandslos behaupten und punktet mit einem alles in allem großartigen Ensemble, zu dem die zahlreichen, in mehreren Sprachen singenden Darsteller ebenso beitragen wie der von Alexander Eberle sattelfest einstudierte Chor und die Statisterie des Hauses.

Valtteri Rauhalammi festigt den Eindruck, ein präsenter, genauer, sensibler Orchesterleiter zu sein; die Neue Philharmonie Westfalen bestätigt den Aufwärtstrend der vergangenen Jahre erneut eindrucksvoll in den vielen genau ausgehörten kammermusikalischen Abschnitten der Musik Weinbergs, aber auch in den an Schostakowitsch erinnernden schrägen Zitaten von Unterhaltungsmusik, den unheimlich präzisen Schlägen und den harmonisch verdichteten Stellen, an denen der Klang des ganzen Orchesters gefordert ist.

Mit solchen ambitionierten Produktionen lässt Intendant Michael Schulz das Musiktheater im Revier in einer Liga spielen, in der es die im Mainstream erstarrende Deutsche Oper am Rhein Christoph Meyers deklassiert und das Aalto-Theater in Essen ernsthaft herausfordert. Und auch in Dortmund wird sich der Nachfolger Jens-Daniel Herzogs ab 2018 einiges einfallen lassen müssen, um gleichzuziehen.

Vorstellungen am 5., 18. Februar; 2., 17. März; 2., 23. April 2017.
Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2016-17/die-passagierin/

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Das Rahmenprogramm des Musiktheaters im Revier in Kooperation mit Partnern aus Stadt und Land Nordrhein-Westfalen läuft bis zum Ende der Spielzeit mit Konzerten, Ausstellungen, Lesungen, Vorträgen und Zeitzeugen-Begegnungen. Seit 29. Januar zeigt das Kunstmuseum Gelsenkirchen eine Ausstellung mit Arbeiten von Michel Kichka, die das Holocaust-Trauma seiner Familie verarbeiten. Am 7. Februar erzählen Zeitzeugen aus Gelsenkirchen in der Neuen Synagoge ihre Geschichten vom Überleben und der Rückkehr in die Heimatstadt.

Bei einem Liederabend mit Almuth Herbst am 12. Februar im Kleinen Haus der Musiktheaters erklingen unter anderem die in Theresienstadt entstandenen von Victor Ullmann. Am 12. März spielt das Danel-Quartett im Kleinen Haus Werke von Mieczysław Weinberg und Dmitri Schostakowitsch. Und am 26. März kommt der Geiger Linus Roth, der unter anderem Weinbergs Violinkonzert auf CD eingespielt hat, zu einem Gesprächskonzert ins Musiktheater und stellt Kompositionen Weinbergs für Violine und Klavier vor. Das Rahmenprogramm gibt es als Download unter https://musiktheater-im-revier.de/assets/files/068cb1d4-e1ba-395b-9357-0fa76433c69f.pdf

Weitere Informationen zu Mieczysław Weinberg gibt es auf der Webseite der Internationalen Mieczysław Weinberg Society: http://www.weinbergsociety.com/index.php?article_id=16&clang=0




Operetten-Passagen (2): Franz Lehárs „Die lustige Witwe“ am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier

Düstere Noblesse: "Die lustige Witwe" von Franz Lehár in Gelsenkirchen. Foto: Pedro Malinowski

Düstere Noblesse: „Die lustige Witwe“ von Franz Lehár in Gelsenkirchen. (Foto: Pedro Malinowski)

Nein, lustig ist diese Witwe nicht. Eher melancholisch, desillusioniert, in Sachen Liebe entzaubernd realistisch. Kein Wunder: Als Mädchen durfte sie ihren Geliebten nicht heiraten, weil es nicht standesgemäß war. Der schwerreiche Bankier, der sie bekam, starb unverzüglich. Und danach war immer die Frage, wer anziehender ist: die Frau oder das Vermögen.

Franz Lehár hat in seiner Erfolgsoperette „Die lustige Witwe“ zwar – wie sollte es auch anders sein – die Wirrungen zweier Herzen und ihr Zusammenfinden zum roten Faden der Handlung versponnen, aber drum herum jede Menge Zeittypisches und Zeitloses verwoben: Lebemänner und Bankrotteure, wie sie zur saturierten Gesellschaft vor dem ersten Weltkrieg gehörten, Halbwelt-Erscheinungen, alte eifersüchtige Habitués oder noch ältere, für Eifersucht emotional zu blind gewordene Trottel.

Hinzu kommen die klassische Komikerrolle und eine bunte Schar offenbar für alles bereiter Damen: „Ja wir sind die Grisetten von Pariser Cabaretten …“ Und dazu einen bankrotten Zwergstaat namens Pontevedro – der Anklang an Montenegro, erst seit 1878 ein unabhängiges Fürstentum, dürfte nicht zufällig sein.

Merkwürdig verblendete Figuren

In ihrer Inszenierung am Musiktheater im Revier hat Sandra Wissmann wohltuend Abstand gehalten vom Versuch, Operette als „lustiges“ Genre zu begreifen und mit Klamauk aufzupäppeln. Heiterkeit und Komik resultieren nicht aus der unterhaltsamen Pointe oder dem Zündfunken für spontanes Gelächter (zumindest nicht bei Lehár),  sondern aus der merkwürdigen Verblendung der Figuren.

Baron Mirko Zeta (mit würdigem Nachdruck: Joachim Gabriel Maaß), pontevedrinischer Spitzendiplomat in Paris, kapiert nicht, welche amourösen Kriechströme das Herz seiner Gattin Valencienne (facettenreich weiblich: Bele Kumberger) elektrisieren, wenn sie „diplomatisch“ mit dem Schwerenöter Camille de Rossillon (mit allen Wassern erotisiert und toll bei Stimme: Ibrahim Yesilay) verkehrt. Dass die drei Herren Bogdanovich (Thomas Möwes), Kromow (Lars-Oliver Rühl) und Pritschitsch (Tobias Glagau) mit ihren drei Angetrauten (Katharina Borsch, Judith Urban und Gudrun Schade) jeweils spezifische (außer-)eheliche Probleme bewältigen müssen, versteht sich.

Das sind die Grisetten von Pariser Cabaretten - allerdings in Gelsenkirchen am Musiktheater im Revier, gemeinsam mit Valencienne (Bele Kumberger). Foto: Pedro Malinowski

Das sind die Grisetten von Pariser Cabaretten – allerdings in Gelsenkirchen am Musiktheater im Revier, gemeinsam mit Valencienne (Bele Kumberger). (Foto: Pedro Malinowski)

Auf dem Markt erotischer Möglichkeiten

Die Wahrheit sagt hier niemand. Und Gefühle sind Show oder Kapital auf dem Markt erotischer Möglichkeiten. So ist es nur konsequent, dass sich ein innerlich müder, gefühlsstumpf gewordener Mann wie Graf Danilo gleich zu Clo-Clo, Frou Frou und Margot abseilt, wo er „intim“ sein kann, ohne sich seelisch zu verausgaben. Michael Dahmen singt und spielt mit resignierter Melancholie und manchmal bitterem Witz.

Die Lippen schweigen, dafür flüstern die Geigen "Hab mich lieb". Anke Sieloff (Hanna Glawari) und Michael Dahmen (Graf Danilo Danilowitsch). Foto: Pedro Malinowski

Die Lippen schweigen, dafür flüstern die Geigen „Hab mich lieb“. Anke Sieloff (Hanna Glawari) und Michael Dahmen (Graf Danilo Danilowitsch). Foto: Pedro Malinowski

Die Wunden sitzen tief, auch bei Hanna Glawari, der reichen, aber im Herzen so verarmten Frau. Anke Sieloff, stimmlich nicht auf der Höhe, zeigt sich als souveräne Gestalterin. Die beiden umkreisen sich in unstillbarer Sehnsucht nach der einstigen, ursprünglichen Liebe, können nur noch in Metaphern zueinander sprechen und müssen selbst in dem Moment, in dem die Geigen das Innere ihrer Herzen aussingen, die „Lippen schweigen“ lassen. Erst im allerletzten Moment, wenn der Fluch des Geldes genommen wird, bricht sich das Bekenntnis Bahn: Ein wunderbar illusorischer, operettenhafter und deswegen so wahrhaftiger Coup.

Psychologische Wahrhaftigkeit

Sandra Wissmann, gebürtig aus Wattenscheid und bis 2014 Regieassistentin in Gelsenkirchen, lässt diesen Operetten-Menschen ihre Würde und ihren Ernst. Die Dialoge, zumal zwischen Hanna und Danilo, entfalten psychologische Facetten; selbst die Standardsituationen der Operettenkomik haben den Mehrwert, genau beobachtet zu sein. Wissmanns Ansatz korrespondiert mit der Bühne von Britta Tönne, auf der sich in der Einleitung ein kühl-düsterer Art-déco-Raum aus Architektur-Einzelelementen zusammenfügt. Die Ausleuchtung (Andreas Gutzmer) wirkt wie Gaslicht hinter einem Schleier von Absinth. Auch die Kostüme von Andreas Meyer bleiben in Farbe und Schnitt zurückhaltend elegant.

Aufgewertet und nicht lediglich als Lieferant für running gags eingesetzt hat die Regie die Figur des Njegus: Der Kanzlist der Botschaft mit einem unerschöpflichen Vorrat an schrägen Anreden für seinen Chef darf sogar singen und steppen: Dirk Weiler macht beides sehr gekonnt in einem Couplet, das Lehár für eine Londoner Aufführung nachkomponiert hat: „Wär‘ ich ein Operettenstar“ hat deutlich mehr Swing als das chansoneske Grisetten-Lied oder das marschartige „Studium der Weiber“.

Wunder an Diskretion und Leichtigkeit

Bernhard Stengel als Dirigent des Abends formt die forschen Stückchen ohne banalen „Schmiss“, hüllt die walzerseligen Melodien Lehárs in ein Wunder an Diskretion, Leichtigkeit und luftiger Noblesse. Und die Neue Philharmonie Westfalen lässt sich auf diesen Ton ein und schwelgt im weiten Land der Piani und des sanften Mezzoforte.

Der Chor Alexander Eberles belebt im Verein mit den Statisten die Szene und lässt auch vokal nichts fehlen. Der Abend, obwohl schon mitten in der Serie der Vorstellungen und gut vier Wochen nach der Premiere, zeigt keine Spur von Routine: Gelsenkirchen pflegt sein – zugegeben längst nicht mehr so breit wie früher – aufgestelltes Repertoire sorgsam; so lässt sich der Besuch der Operette vorbehaltlos empfehlen.

Vorstellungen: 3., 10., 19., 26. Februar; 9. und 16. April; 21. Mai; 5. Juni 2017.

Karten Tel.: (0209) 4097 200. Info: www.musiktheater-im-revier.de




Opfer des Systems: Amilcare Ponchiellis „La Gioconda“ in Gelsenkirchen in neuem Licht

Derek Taylor als Enzo und Petra Schmidt als La Gioconda in der Inszenierung der Oper von Amilcare Ponchielli in Gelsenkirchen. Foto: Thilo Beu

Derek Taylor als Enzo und Petra Schmidt als La Gioconda in der Inszenierung der Oper von Amilcare Ponchielli in Gelsenkirchen. Foto: Thilo Beu

Für diese Menschen gibt es keinen Platz in der Mitte der Gesellschaft. Sie hausen am Rand – auch auf der Bühne in der Inszenierung von „La Gioconda“ in Gelsenkirchen: ein gammeliger Sessel, ein alter Herd, ein Schminktisch, der bessere Zeiten gesehen hat. In der Mitte, da feiert sich das Militär, werden rote Fahnen choreographiert und im Takt gestampft. Da sind die Reichen und Mächtigen zu Hause – aber auch sie entkommen dem Druck des Systems und seinen Zwängen nicht.

Das Regieteam Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka hat Amilcare Ponchiellis einzigen dauerhaften Erfolg von seinem Dutzend Opern am Musiktheater im Revier gründlich vom Ruch des Opernschinkens befreit. Wo etwa an der Deutschen Oper in Berlin in einer rekonstruierten Ausstattung aus der Uraufführungszeit (1876) von Filippo Sanjust üppige Kulinarik aufgetischt wird, herrscht in Gelsenkirchen karge Strenge: ein Würfel auf der Drehbühne, der mal holzgetäfelte Diktaturen-Tristesse, mal das Gerüst-Konstrukt seiner Rückseite zeigt. Eine Tribüne kann das sein, auf der Potentat Alvise die Military Show begutachtet. Oder ein Saal, in dem zu Gericht gesessen wird. Oder eine Wand mit Aktenkästen in Reih und Glied – Schlitze in den Schubladen laden ein zum Einwerfen von belastendem Schriftgut.

Damit ist der „Geist“ des Schauplatzes Venedig besser erfasst als im üblichen „Gioconda“-Postkartenkitsch. Denn die „Serenissima“ war über lange Phasen ihrer Geschichte alles andere als heiter. Von außen ständig bedroht durch Feinde und Neider, baute sie nach innen ein nahezu perfektes Spitzelsystem auf, das dem „Rat der Zehn“ ein unheimliches Überwachungssystem an die Hand gab – Grundlage der Macht und der Kontrolle von Bewohnern und Besuchern der Lagune. Dieses System arbeitete geräuschlos, schnell und effizient; sein Arm reichte in alle Welt. Verräter, Verbrecher oder solche, die dafür gehalten wurden, hatten – so heißt es – keine Chance, der tödlichen Rache der Republik zu entgehen.

Das Spitzelsystem der "Serenissima" ins Bild gebracht: Szene aus "La Gioconda" am Musiktheater im Revier. Foto: Pedro Malinowski

Das Spitzelsystem der „Serenissima“ ins Bild gebracht: Szene aus „La Gioconda“ am Musiktheater im Revier. Foto: Pedro Malinowski

Ein Antriebsrad in diesem Getriebe ist Barnaba, ein Spitzel. Er hat alle in der Hand: Die einen, weil sie seine Denunziation fürchten müssen, die anderen, weil ihre Macht auf seiner Loyalität beruht. Piotr Prochera gestaltet ihn mit allzu rauem, zu vibratoreichem, sich immer wieder heiser verfestigendem Bariton als fühllosen Bürokraten. Nach außen ein Durchschnittstyp, zeigen sich seine Abgründe, wenn er in einem wohlkalkulierten Plan seine obsessive Besitzgier befriedigen will: Deren Objekt, die „Gioconda“ genannte „Straßensängerin“, durchkreuzt seinen Plan letztlich, weil sie sich aus ihrem religiösen Rückhalt heraus unmittelbare Menschlichkeit bewahrt hat. Sie ist bereit, Opfer zu bringen.

Die Regie löst dieses Motiv aus der stereotypen Idealisierung in der Oper des 19. Jahrhunderts und beglaubigt es als Ausdruck einer starken Frau, die Herrin über ihre Emotionen ist, selbst wenn sie am Rand des „Suicidio“, des Selbstmords, balanciert. Die Arie zu Beginn des vierten Aktes ist ein Paradestück für dramatische italienische Soprane; Maria Callas verhalf ihr zu unsterblichem Plattenruhm. Petra Schmidt hat nicht den Furor romanischer Diven, nicht den lodernden Rache- und Verzweiflungston, nicht die markig-brustige Tiefe. Ihre Gioconda ist keine Heroine, sondern eine empfindsame Frau, die in ihrem niederdrückenden Alltag den Impuls zu menschlichem Handeln nicht verloren hat. Entsprechend singt Schmidt weicher, schmiegsam in den Kantilenen, manchmal geradezu filigran im Piano, aber mit stetigem, klanglich erfülltem, leuchtendem Ton.

Ein Erbe der französischen Grand Opéra: Politik und Privatleben sind in "La Gioconda" untrennbar miteinander verbunden und wirken aufeinander ein. Foto: Thilo Beu

Ein Erbe der französischen Grand Opéra: Politik und Privatleben sind in „La Gioconda“ untrennbar miteinander verbunden und wirken aufeinander ein. Foto: Thilo Beu

Weil Szemerédy und Parditka in ihrem Konzept den systemisch-politischen Hintergrund akzentuieren, mildern sie die charakterlichen Klischees der „Melodramma“- Figuren im Libretto Arrigo Boitos ab: So ist Alvise Badoero, einer der Chefs der staatlichen Inquisition, auch ein Teil des Systems und hat seine Rolle zu erfüllen. Der Fluchtversuch seiner Frau Laura aus der erzwungenen Ehe gemeinsam mit ihrer Jugendliebe Enzo gewinnt über das private Drama eine politische Dimension – in der Inszenierung betont, indem die Konfrontation der Eheleute in den Gerichtssaal verlegt wird: Alvise fällt das tödliche Urteil über seine Frau auch in seiner Rolle als Staatsdiener. Das hebt die Konflikte über den privaten Raum hinaus und gibt ihnen mehr Brisanz. Dong Won Seo führt die dramatischen Auseinandersetzungen mit seiner Frau kraftvoll, artikuliert auch den zynischen Nihilismus des Machtmenschen („Der Tod ist ein Nichts und der Himmel ein alter Blödsinn“). Im Klang fehlt dem Bass allerdings die Kontrolle über Vibrato und Tonemission.

"La Gioconda" von Amilcare Ponchielli am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen: Petra Schmidt als Gioconda und Almuth Herbst als La Cieca. Foto: Pedro Malinowski

„La Gioconda“ von Amilcare Ponchielli am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen: Petra Schmidt als Gioconda und Almuth Herbst als La Cieca. Foto: Pedro Malinowski

Auch Nadine Weissmann als seine Frau Laura kann nicht überzeugen. „Stella del marinar“ im zweiten Akt singt sie unausgeglichen, zwingt sich unschön über den Registerwechsel, reiht in der Höhe verfärbte Töne aneinander und führt weder Bögen noch Legato auf dem Atem. Als blinde Mutter der Gioconda („La Cieca“) zeigt Almuth Herbst, wie sich aus gut geformten Tönen expressives Singen ergibt. Mit Derek Taylor hat Gelsenkirchen einen standfesten Tenor, der seine Arie „Cielo e mar“ im zweiten Akt ausgeglichen und entspannt im Klang interpretiert, wo er an anderer Stelle einen wenig flexiblen und hin und wieder mit Gewalt in die Höhe gezwungenen Ton offenbart. Chor und Extrachor des Musiktheaters im Revier (Einstudierung: Christian Jeub) sind rhythmisch nicht immer auf dem Punkt, klanglich aber ohne Tadel.

Rasmus Baumann bestätigt die positive Entwicklung der Neuen Philharmonie Westfalen zur ernsthaften Konkurrenz für andere Opernorchester der Region und erweist sich als seriöser Sachwalter der oft unterschätzten Musik. Nichts wirkt knallig und vordergründig; Ponchiellis manchmal pauschaler Satz klingt kompakt, aber nicht dick. Effekte werden nicht ausgestellt, Momente ausgeformt, in denen die Musik in der Kantilene oder in lyrischer Behutsamkeit die Personen der Bühne von innen heraus leuchten lässt.

Auch der „Tanz der Stunden“, das berühmte Ballett der Oper, wird nicht als Schaustück vorgeführt – unterstützt durch die Regie: Die Einlage auf dem Fest Alvise Badoéros im dritten Akt wird zum gleichnishaften Tanz von Masken (Choreografie: Martin Chaix), deren Fäden der Spion Barnaba führt, und zugleich zum danse macabre: Die Bühne dreht sich und zeigt sie Laura im erbarmungswürdigen Todeskampf, verursacht durch ein Gift, von dem sie nicht weiß, dass es sie nur in einen Todesschlaf versetzen wird.

Das Musiktheater im Revier hat mit dieser Inszenierung gezeigt, dass „La Gioconda“ jenseits des Opernmuseums und des Zugstücks für Melomanen eine Chance hat, ernsthaft im Heute anzukommen. Damit führt Generalintendant Michael Schulz die Reihe außergewöhnlicher Produktionen der letzten Spielzeiten erfolgreich fort, deren letzte Ergebnisse eine musikalisch vortreffliche „Norma“ in einer konsequent durchgestalteten Regie Elisabeth Stöpplers oder die höchst erfolgreiche Uraufführung der „Steampunk“-Oper „Klein Zaches, genannt Zinnober“ nach E.T.A. Hoffmann waren.

Die Spielzeit 2016/17 eröffnet eine weitere Oper Benjamin Brittens, „The Turn of the Screw“, gefolgt von einer Rarität, Nino Rotas „Der Florentinerhut“, gemeinsam mit der deutschen Erstaufführung der Mini-Oper Rotas „Die Fahrschule“. Gabriele Rech bringt am 29. Januar 2017 mit Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ eine der bedeutendsten Opern-Entdeckungen der letzten Jahre ins Ruhrgebiet. Und in einer Inszenierung von Michael Schulz werden Catherine Foster und Torsten Kerl Richard Wagners „Tristan und Isolde“ singen, bevor mit „Hoffmanns Erzählungen“ ein neuer Ausflug in die phantastischen Traum- und Parallelwelten des romantischen Dichters möglich wird.




Vom Florentiner Hut bis zum Tristan: Das MiR Gelsenkirchen stellt sein Programm vor

Das Musiktheater im Revier (Foto: Pedro Malinowski)

Das Musiktheater im Revier gehört zu den bedeutendsten Theaterbauten der Nachkriegszeit. Am 15. Dezember 1959 wurde der neugebaute Komplex nach den Entwürfen des federführenden Architekten Prof. Werner Ruhnau eröffnet. (Foto: Pedro Malinowski)

Es ist eigentlich ein ganz einfacher Satz. Aber welchem anderen Stadtoberhaupt in der Region käme er jemals über die Lippen? Frank Baranowski, amtierender Oberbürgermeister von Gelsenkirchen, eröffnet die Pressekonferenz im Opernhaus der Stadt mit einem klaren Bekenntnis zum Theater.

Kurz zählt er die Fördermittel auf, 13 Millionen Euro für das Musiktheater, 4 Millionen für die Neue Philharmonie Westfalen. Gelder, um die es in Gelsenkirchen zum Glück keine Konkurrenz gebe, wie der OB sagt. Dann fügt er mit großer Selbstverständlichkeit hinzu „Ich bin davon überzeugt, dass dieses Geld gut angelegt ist.“

Der OB bekannt sich zum Theater

Glückliches Gelsenkirchen! Von solcher Rückendeckung durch die Stadtspitze können Kulturschaffende andernorts nicht einmal mehr träumen. Indes weiß Baranwoski als regelmäßiger Theatergänger sehr genau, wovon er spricht. Er lobt die Bandbreite des Angebots, das Intendant Michael Schulz im Folgenden genauer vorstellt. Die Spielzeit wird im Kleinen Haus mit „The Turn of the Screw“ beginnen (10. September 2016), einem psychologisch raffinierten Geister- und Gruselstück, mit dem das Theater seinen Britten-Zyklus fortsetzt. Das Große Haus, vom 1. Juni bis 3. Oktober wegen Baumaßnahmen geschlossen, erwacht am 16. Oktober 2016 mit der Wiederaufnahme des Musicals „Anatevka“ zu neuem Leben.

Szenenfoto aus dem Musical "Anatevka" (Foto: Pedro Malinowski)

Szenenfoto aus dem Musical „Anatevka“ (Foto: Pedro Malinowski)

Es sind vor allem zwei Raritäten, die den neuen Opernspielplan würzen. Zu nennen ist zunächst „Der Florentiner Hut“ des Italieners Nino Rota, berühmt vor allem durch seine Filmmusiken zu „La Strada“, „La Dolce Vita“ und „Der Pate I & II“. Der Stoff, eine Hochzeitskomödie mit vielen heiteren Verwicklungen um einen Strohhut, wurde in Deutschland durch den gleichnamigen Film mit Heinz Rühmann bekannt.

Oper über eine Auschwitz-Überlebende

Einen überaus ernsten Kontrapunkt bildet „Die Passagierin“, Hauptwerk des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg, der vor den Nazis nach Moskau floh. In zwei Akten erzählt die Oper von einer Auschwitz-Überlebenden, die nach dem Krieg auf einem Ozeandampfer einer ehemaligen KZ-Aufseherin wieder begegnet. Nach der szenischen Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen im Jahr 2010 wird das MiR das vierte Haus sein, das „Die Passagierin“ aufführt. Um das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und zu vertiefen, bietet das Haus ein Rahmenprogramm mit Lesungen, Kammermusik, Chansons und Schauspiel.

Die großen Opernproduktionen seien natürlich nicht verschwiegen: Es sind Richard Wagners „Tristan und Isolde“ (4. März 2017, Regie: Michael Schulz), Mozarts „Don Giovanni“ (29. April 2017, Regie: Ben Baur) und „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach (10. Juni 2017, Regie: Michiel Dijkema). Hinzu kommen Franz Lehárs Operette „Die lustige Witwe“ (16. Dezember 2016) und das Kult-Musical „Linie 1“ (11. März 2017) von Birger Heymann und Volker Ludwig. Experimentell wird es ab September 2016 mit der Fortsetzung von Daniel Kötters Musiktheaterprojekt „ingolf #2 – 6“, an dessen Entwicklung sich das Publikum und Gelsenkirchener Bürger beteiligen können.

Alina Köppen und Junior Demitre in der Produktion "Ruß", die mit dem Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde (Foto: Pedro Malinowski)

Alina Köppen und Junior Demitre in der Produktion „Ruß“, die mit dem Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde (Foto: Costin Radu)

Gleich neun Tanz-Produktionen

Kaum zu bremsen ist die Compagnie von Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner, die sich mit insgesamt neun Produktionen präsentiert. Der Jahresjubilar William Shakespeare hinterlässt dabei deutliche Spuren im Programm. Der Wiederaufnahme des Aschenputtel-Stücks „Ruß“ (23. September 2016) folgt das Ballett „Prosperos Insel“ (8. Oktober 2016), das Breiner in diesen Tagen nach Shakespeares „Der Sturm“ entwickelt.

Für Kinder und Jugendliche tanzt die Compagnie „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Kevin O’Day (26. November 2016). Weiter geht es mit „Hamlet“ (11. Februar 2017), einem Ballett der britischen Choreographin Cathy Marston, die in Gelsenkirchen bereits mit ihren ungewöhnlichen Perspektiven auf Strawinskys „Oprheus“ und Anton Tschechows „Drei Schwestern“ überraschte. Die Orgelsymphonie von Camille Saint-Saens inspirierte Bridget Breiner zu einem zweiteiligen Ballettabend mit dem Titel „The Vital Unrest“ (25. März 2017). Choreographien von Marguerite Donlon und Renato Paroni de Castro sind an einem mehrteiligen Abend mit dem Titel „Der Rest ist Tanz“ zu sehen (20. Mai 2017). Die 4. Internationale Ballettgala (17. Juni 2017), eine experimentelle Jam Session im Frühjahr 2017 sowie das Schüler-Tanzprojekt „Move!“ (28. Juni 2017) runden das Programm ab.

Mahlers „Sinfonie der Tausend“

Die Broschüren zur Spielzeit 2016/17 im Musiktheater im Revier (Foto: Christoph Nager/MiR)

Die Broschüren zur Spielzeit 2016/17 im Musiktheater im Revier (Foto: Christoph Nager/MiR)

Die Neue Philharmonie Westfalen, die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert, eröffnet die Spielzeit am 11. September 2016 im Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen mit der „Sinfonie der Tausend“ von Gustav Mahler.  Lange musste dafür nach einem Spielort gesucht werden, was  angesichts der für dieses Werk erforderlichen Vielzahl von Musikern, Choristen und Gesangssolisten nicht verwundert.

Mit „Ein Deutsches Requiem“ von Johannes Brahms und der 7. Sinfonie von Anton Bruckner finden sich weitere Monumentalwerke in den Sinfoniekonzerten, die neben bekanntem Repertoire aber auch Raum für Entdeckungen lassen: zum Beispiel für das Konzert für Saxophon und Orchester von Henri Tomasi (Solistin: Asya Fateyeva), das Trompetenkonzert „Nobody knows de trouble I see“ von Bernd Alois Zimmermann (Solist: Reinhold Friedrich) oder auch das Konzert für Koloratursopran und Orchester von Reinhold Glière (Sopran: Nicole Chevalier).

Breite Publikumsschichten anzusprechen, ohne die Kenner zu langweilen: Zu dieser Gratwanderung gesellt sich in Gelsenkirchen eine weitere, weil sich das Theater möglichst geschickt zwischen den großen Häusern in Essen und Dortmund positionieren muss. 90.000 Besucher in der noch laufenden Spielzeit (Stand: 31. März 2016) sprechen derzeit für einen guten Zulauf. Man darf gespannt sein, wie es weiter geht.

(Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/)




Zwischen den Stühlen: Gelsenkirchen zeigt Vincenzo Bellinis Oper „Norma“

Dive mit Dornenkrone: Die Regisseurin Elisabeth Stöppler zeichnet "Norma" als Heilige und Schmerzensgestalt (Foto: Monika Forster/MiR)

Diva mit Dornenkrone: Die Regisseurin Elisabeth Stöppler zeichnet „Norma“ als Heilige und Schmerzensgestalt (Foto: Monika Forster/MiR)

Viele Regisseure neigen bei Vincenzo Bellinis „Norma“ zur großen Ausstattungsoper. Dabei eignet sich die Tragödie um die gallische Seherin auch hervorragend für eine abstrakt-psychologisierende Deutung. Diesen Weg hat Elisabeth Stöppler jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater eingeschlagen, das die Oper erstmals in Deutschland in der kritischen Neuausgabe in Szene setzt.

Anhand der Originalpartitur belebten der Komponist Maurizio Biondi und der Geiger und Dirigent Riccardo Minasi viele Details, die im Laufe der Aufführungstradition verloren gingen. Wie ursprünglich von Bellini vorgesehen, wird die Rolle der Adalgisa in Gelsenkirchen von einem Sopran gesungen statt von einem Mezzo. Das erweist sich als starkes Argument für den Besuch dieser Produktion: Nicht allein, weil die Rivalität zwischen den Protagonistinnen so noch schärfer hervor tritt, sondern weil Gelsenkirchen mit Hrachuhi Bassénz (Norma) und Alfia Kamalova (Adalgisa) zwei Sängerinnen aufbieten kann, deren Gesangskunst den derzeit acht weiteren Norma-Produktionen an deutschen Bühnen scharfe Konkurrenz machen dürfte.

Die in Gelsenkirchen bekannte Elisabeth Stöppler, inzwischen Hausregisseurin am Staatstheater Mainz, zeigt „Norma“ als ein Stück über die siegreiche Kraft der Liebe. Dabei mag sie sich weder auf eine Zeit noch auf einen Ort festlegen, sondern entfaltet das Drama zwischen Tischen und Stühlen in gesichtsloskalten Räumen. Dieser Ansatz bleibt schmerzlich vage, zumal hochhackige gelbe Damenschuhe ein doch recht schwaches Symbol für die Welt der weiblichen, Frieden spendenden Mondgöttin Luna sind.

Die Druidin ruft zum Kampf: Norma (Hrachuhi Bassénz, Mitte) stachelt ihre gallischen Landsleute auf (Foto: Monika Forster/MiR)

Die Druidin ruft zum Kampf: Norma (Hrachuhi Bassénz, Mitte) stachelt ihre gallischen Landsleute auf (Foto: Monika Forster/MiR)

Aber die Regisseurin beweist zugleich eine spannungsvolle Personenführung, die innere und äußere Konflikte so scharf nachzeichnet, dass Emotionen aufreißen wie Erdspalten. Normas Seelendrama wird durch ihre heimlich mit Pollione gezeugten Kinder deutlich, die in Gelsenkirchen beinahe ständig um sie sind: unschuldige Beweise ihrer Schuld (Lili und Mona Lenz agieren an der Seite der Großen bemerkenswert professionell). Lars-Oliver Rühl (Flavio) spricht Texte von Pier Paolo Pasolini, die von Krieg und Frieden handeln. Ob es dieser bedurft hätte, um Normas Drama zu erzählen, bleibt wiederum fraglich.

Ein starkes Frauenduo: Adalgisa (Alfia Kamalova) und Norma (Hrachuhi Bassénz. Foto: Monika Forster,/MiR)

Ein starkes Frauenduo: Adalgisa (Alfia Kamalova, links) und Norma (Hrachuhi Bassénz. Foto: Monika Forster,/MiR)

Allen Freunden des Belcanto sei diese „Norma“ unbedingt ans Herz gelegt. Es ist außerordentlich, wie Hrachuhi Bassénz sich in die Titelpartie hinein schraubt, wie sie ihren beweglichen, leicht dunkel umflorten Sopran zu einem Gefäß für glühende Leidenschaft, wilde Rachegefühle, tiefe Reue und nicht geweinte Tränen macht. Als Norma wächst diese Sängerin zur großen Schmerzensgestalt: Diva, Heroine, liebende Frau und sorgende Mutter in einem. Die Adalgisa von Alfia Kamalova ist ihr hart auf den Fersen. Umwerfend ihre zarten Piani, ihre vehemente Attacke, ihre leuchtend klare und scheinbar mühelose Formung von Bellinis endlosen Melodiebögen. Geschickt legt Hongjae Lim den Pollione so lyrisch an, dass er nicht forcieren muss.

Am Dirigentenpult ist es der Finne Valtteri Rauhalammi, der diesen lyrischen Schleier weiter webt. Nie klingt marschartiges Gerumse aus dem Orchestergraben, ja nicht einmal die furchterregenden Kriegschöre wirken krachend. Rauhalammi zelebriert durchweg einen feinen, federnden Klang, der die Sänger unterstützt und viele Szenen unterschwellig mit nervöser Spannung auflädt. Des Dirigenten vollmundige Ankündigung, Gesang zelebrieren zu wollen, wird auch Dank der Neuen Philharmonie Westfalen wahr, die dem Dirigenten aufmerksam und geschmeidig durch alle Temposchwankungen folgt.

Termine und Informationen: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Norma/ Karten: 0209/ 40 97 200).

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).




Feueralarm in der „Tosca“-Pause – Gelsenkirchener Musiktheater geräumt

Am Abend vor der "Tosca": das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Am Abend vor der „Tosca“: das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Giacomo Puccinis „Tosca“ im Musiktheater im Revier hätte am gestrigen 14. Januar eigentlich aus künstlerischen Gründen im Gedächtnis bleiben sollen: Thomas Berau, Gast aus Mannheim, sang seinen ersten Scarpia; Erster Kapellmeister Valtteri Rauhalammi dirigierte seine erste „Tosca“.

Doch es sollte anders kommen: Das Pils stand schon bereit, die Currywurst auf dem Tisch, da tönte mitten in der ersten Pause der Evakuierungsruf durch die Foyers: Aufgrund einer „technischen Betriebsstörung“ sollten alle zügig das Haus verlassen.

Gut fünf Minuten später – es waren längst nicht alle Besucher draußen, die Räumung verlief ohne große Aufregung – kam die Entwarnung: Fehlalarm. Einen solchen Alarm während einer Vorstellung habe er in 28 Jahren noch nicht erlebt, sagte Joachim G. Maaß, Darsteller des Mesners, nachher auf der Bühne. Maaß ist seit 1988 in Gelsenkirchen engagiert.

„Wir sind Ihnen dankbar, dass alles so wunderbar geklappt hat und Sie das Haus so schnell verlassen haben“, bedankte sich die Dame des Direktionsdienstes nach der – verlängerten – Pause. Nach ersten Informationen soll ein gestörter Rauchmelder oder ein Defekt an der Steueruhr der Meldeanlage die Ursache für den Alarm gewesen sein.

Tosca blieb am Leben in Tobias Heyders eher hilflos nach neuen Sichtweisen gierenden Inszenierung. Das ist vielleicht auch ein Aspekt, der über das seltene Erlebnis eines Theateralarms hinaus in Erinnerung bleiben wird.




Ein Wrack namens Scarpia – Gelsenkirchen zeigt „Tosca“ in ungewöhnlicher Lesart

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das "Te Deum" ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das „Te Deum“ ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Der Mann ist am Ende. Ein Wrack, wie er dasteht, etwas gebeugt, mit strähnigen Haaren, von Dämonen besessen, von einer Obsession getrieben. Sein erster Auftritt ist so, als hätte ihn die nahe Menschenmasse ausgespien. Und dieser müde Außenseiter soll der gefürchtete Baron Scarpia sein? Der Polizeichef Roms als fieser Strolch? Das ist mal eine Umdeutung in Giacomo Puccinis Oper „Tosca“, die wir so noch nicht gesehen haben.

Regisseur Tobias Heyder zeichnet am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (MiR) für diese Lesart verantwortlich, und so wie Scarpia ganz artfremd als schmieriger, gebeutelter Strippenzieher dasteht, sind auch die anderen Hauptfiguren dieses Dreiecksdramas mit politisch-historischem Hintergrund relativ frei ausgestaltet. Tosca zeigt kaum Spuren innerer Verletzbarkeit, ihre Eifersucht ergeht sich bisweilen in seltsam maskulinen Posen, ihre Rache (Scarpias Ermordung) speist sich nur aus milder Verzweiflung und gebremstem Furor. Ihr Geliebter, der Maler Cavaradossi schließlich, ist ein eher ungelenker, fast nüchterner Antiheld, ein Freigeist der naiven Art, der seinem politisch verfolgten Freund Angelotti nahezu geschäftsmäßig hilft.

Jeder leidet für sich allein, scheint das Fazit der Regie, zumal die Interaktion der Beteiligten mehr nebeneinander her läuft, mit geringen Blickkontakten und einer nahezu aseptischen körperlichen Nähe. Tosca in Scarpias Armen, die Erfüllung seiner Obsession, wirkt wie pure Hilflosigkeit, nicht wie die pralle Gier. Und wenn die Frau ihrem vermeintlichen Bezwinger das Messer in die Rippen stößt, fehlt der Szene die Eiseskälte der Täterin ebenso wie die Schockstarre des Opfers.

Toscas Paralyse hingegen setzt erst ganz zum Schluss ein. Wenn sie feststellen muss, dass ihr Geliebter nicht zum Schein, sondern tatsächlich erschossen wurde. Dann zieht und zerrt sie an ihm herum, die Menge, die bereit ist, sie zu lynchen, nicht mehr beachtend. Der Sprung der Tosca von der Engelsburg fällt aus.

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Darüber mag mancher im Publikum die Nase rümpfen wie auch über Scarpias Deformation, die bisweilen in tranceartige Zustände mündet. Verbunden damit sind indes starke, teils verstörende Bilder. Nicht nur in dem Sinne, dass der Maler Cavaradossi riesige Gemälde mit nackten Frauen produziert – Ausstatter Tilo Steffens hat ein entsprechend großformatiges Exponat auf die Bühne gewuchtet, das „Nudes“ im Stile Helmut Newtons zeigt. Sondern auch dergestalt, dass das berühmte „Te Deum“ zum Finale des 1. Aktes zum Höllenspektakel wird, als hätte Hieronymus Bosch seine Gespenstergestalten losgelassen. Scarpia, so ist wohl die Botschaft, hat sich dunklen Mächten hingegeben. Die Symbolkraft des Katholizismus ist für ihn einzige Pein.

Dazu passt, dass im 2. Akt, in seinem Palast, die Gemälde alter Meister abgehängt sind. Der Gott anrufende Chorgesang, der zwischenzeitlich erklingt, dröhnt dem Finsterling in den Ohren. Mag er auch Trost suchen in den Armen einer Nonne (eines Engels?) und dabei der „Erbarme Dich…“-Arie aus Bachs „Matthäuspassion“ lauschen, Frieden findet dieser Mensch im Diesseits wohl nicht mehr. Und sein Tod wird einhergehen mit dem Ende der Despotie in Rom, eingeleitet durch Napoleons Sieg. Die Exekution Cavaradossis, das Übermalen seiner Nackten, ist nur ein letztes Aufzucken des alten Regimes.

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Insofern hat diese Produktion durchaus politischen Charakter. Wenn dieser auch durch die Personenführung nicht explizit beglaubigt wird. Andererseits versagt sich Regisseur Tobias Heyder die konsequente Psychologisierung.

Neben Scarpia wirken seine Gegenspieler blass. Sollte also Puccinis Oper hier lieber „Scarpia“ heißen? Ganz falsch wäre das nicht. Denn ein musikalisches Gerüst dieser Verismo-Oper sind gewiss die wuchtigen Akkordschläge, die den Bösewicht kennzeichnen. Andererseits hat der Komponist sein Werk mit sanfter Liebeslyrik ausklingen lassen – ein Zeichen der Hoffnung gegen die brutale Despotie.

Wuchtige Dramatik und sensible, leidenschaftliche Schwingungen: Das klingende Spektrum ist bei Dirigent Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen in allerbesten Händen. Hier spielen sich aller Hass, alles Aufbegehren und innige Liebe ab. Entäußerungen, die der Regisseur den Figuren teils versagt, haben ihren Platz in der musikalischen Umsetzung. Der tönende Bruitismus ist von unglaublicher Schärfe. Die Mordszene (Tosca-Scarpia) gewinnt nur im Orchester wirklich erschreckende Kontur. Im Graben wüten die emotionalen Wechselbäder.

Mithalten kann da nur Aris Argiris als Scarpia. Die baritonale Mittellage verfügt über schneidende Kraft. Doch fehlt der Stimme einerseits dämonische Tiefe, zum anderen das schmierige Parlando eines Gauners. Derek Taylor singt den Maler höhensicher, wirkt gleichwohl angestrengt. Große, frei gestaltete Legatobögen sind seine Sache nicht. Da hat Petra Schmidt in der Titelpartie durchweg mehr zu bieten. Leuchtende Glut, ein Mezzoton zum Fürchten, schöne Stimmführung. Schade nur, dass ihre große Arie „Vissi d’arte“ so gleichförmig und introvertiert klingt. Aber das passt ja wohl zum Ansatz der Regie.

Der große, in sich gerundete Wurf ist die Gelsenkirchener „Tosca“ also nicht. Eher der, durchaus diskussionswürdige, Versuch einer unkonventionellen Annäherung. Gleichwohl gilt: Unbedingt hingehen, allein schon wegen des famosen Orchesters.

Nächste Aufführungen: 27. Dezember 2015 (15 Uhr), 2. Januar, 14. Januar, 16. Januar und 5. Februar 2016 (jeweils 19.30 Uhr). Infos: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Tosca/




Dem weißen Kaninchen folgen: Gelsenkirchens Ballett zeigt „Alice in Wonderland“

Zu dritt und doch jeder für sich: Alice und ihre Eltern am Esstisch (v.l. Junior Demitre, Francesca Berruto, Ayako Kikuchi. Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Alice und ihre Eltern am Esstisch (v.l. Junior Demitre, Francesca Berruto, Ayako Kikuchi. Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Irgendwann einmal müssen sie sich geliebt haben. Jetzt aber sitzen sie am Esstisch und streiten. Zwischen den Eheleuten tobt ein stummer Machtkampf, der sich in drohenden Gebärden und verletzenden Gesten äußert. Aus Partnern sind Kontrahenten geworden, die vor lauter Anspannung vergessen, dass da noch ein Kind mit ihnen am Tisch sitzt, ein junges Mädchen namens Alice.

Mit dieser Szene schickt sich der brasilianische Choreograph Luiz Fernando Bongiovanni an, Lewis Carrolls Kinderbuchklassiker „Alice in Wonderland“ in ein Ballett umzusetzen. Er zeigt uns Alice als unsicheren Teenager, hilflos angesichts des häuslichen Unfriedens, von den Erwachsenen beiseite geschoben und sich selbst überlassen. Wer weiß, ob nicht ein kleines buntes Ecstasy-Pillchen im Spiel ist, als Alice in der Disco dem weißen Kaninchen begegnet. Hinter dem Langohr taucht eine Wand voller Türen und Schubladen auf, hinter denen sich die erstaunlichsten Welten verbergen (Bühne: Britta Tönne).

Weite Teile dieses Ballettabends gleichen einer temporeichen Tanzrevue. Was Bongiovanni zu Musik von Eduardo Contrera, Alfred Schnittke und anderen choreographiert, ist unterhaltsam, driftet zuweilen aber auch in die Gefahrenzone des allzu Hübschen, ja Gefälligen. Die Phantasiegeschöpfe des menschenscheuen Mathematik-Dozenten Lewis Carroll wirbeln aus den Kulissen herein und heraus, dass einem schier schwindelig wird. Das wirkt zumeist eher vergnüglich als surreal oder gar bedrohlich.

Die verrückte Tee-Gesellschaft (Foto: Costin Radu, Musiktheater im Revier)

Die verrückte Tee-Gesellschaft (Foto: Costin Radu, Musiktheater im Revier)

Wir sehen ein Kaleidoskop von Tanzstilen und Kostümen. Ein wenig mit den Figuren des Buchs vertraut zu sein, ist übrigens hilfreich für das Wiedererkennen. Die blaue Raupe gleicht in Gelsenkirchen einem Reggae-Star in blauen Samthosen, und die Grinsekatze gibt sich mehr durch ihr Bewegungsvokabular zu erkennen als durch ihr Kostüm.

Wie Alice in dieser verwirrenden Traumwelt allmählich eine eigene Identität entwickelt, zeigt die aus Turin stammende Tänzerin Francesca Berruto in der Titelpartie. Obgleich sie als Alice zunächst oft nicht mehr sein darf als eine erstaunte Beobachterin, gelingt es ihr durch Tanzkunst und durch eine ausgesprochen lebhafte Mimik, den Reifeprozess glaubhaft zu machen, der Alice schließlich innere Stärke geben wird.

Valentin Juteau ist ihr als weißes Kaninchen ein verlässlicher Begleiter und starker Tanzpartner. Bridget Breiners Compagnie zeigt sich vielseitig und wandelbar, und wenn bei der verrückten Tea-Party die Tassen und Teller nur so durch die Luft fliegen, wird der fast anarchische Spaß spürbar, mit dem diese Tänzer sich auf der Bühne verausgaben.

Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner als blutbefleckte Herzkönigin (Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner als grausame Herzkönigin (Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Als blutbefleckte Zombie-Herzkönigin hat Gelsenkirchens Ballettchefin bei der Premiere am Halloween-Abend ihren großen Auftritt. Umgeben von einem Quartett „böser Blumen“ tanzt sie ein Menuett, das harmlos-höfisch beginnt, aber durch Deformationen und Disharmonien allmählich monströse Züge entwickelt (Musik: Alfred Schnittke, „(K)ein Sommernachtstraum“). Der Spitzentanz gebiert einen Albtraum, aus dem man nach Möglichkeit rasch wieder erwachen möchte. Es ist vor allem dieser Abschnitt, der den Abend dann doch über einen reinen Unterhaltungswert hinaus hebt.

(Termine und weitere Informationen unter http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Ballett/AliceInWonderland/)




Viel Stoff fürs Phantastische: Benjamin Brittens „Midsummer Night’s Dream“ in Gelsenkirchen

Puck (Klaus Brantzen, l.) bestreut Lysander (Cornel Frey) mit dem Pollen der Zauberblume. Hermia (Anke Sieloff) ahnt nichts Böses. (Foto: Monika Forster/MiR)

Puck (Klaus Brantzen, l.) bestreut Lysander (Cornel Frey) mit dem Pollen der Zauberblume. Hermia (Anke Sieloff) ahnt nichts Böses. (Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

484 Quadratmeter. Zweiundzwanzig mal zweiundzwanzig Meter. So groß ist das weiße Laken, das sich, einem überdimensionierten Betttuch gleich, aus dem Schnürboden des Gelsenkirchener Musiktheaters hinabsenkt auf die Bühne. Von den Elfen und Menschen aus Benjamin Brittens Oper „A Midsummer Night’s Dream“ wird es dort bereits erwartet. Sie recken die Hände nach dem Stoff, aus dem die Träume sind, und spielen anmutig mit ihm, ohne ihn je ganz in den Griff zu bekommen.

Denn in den folgenden drei Stunden entwickelt das Riesentuch ein erstaunliches Eigenleben. An neun Seilen aufgehängt, türmt es sich zu Bergen, bildet Wellen und Hügel oder auch eine gewaltige Wolke: je nachdem, wie die in 23 Metern Höhe unsichtbar agierenden Techniker des Hauses von oben an ihm ziehen. Es macht die spukhaften Verwandlungen mit, von denen der „Sommernachtstraum“ erzählt, und bildet zugleich die Folie für das ebenso phantastische wie verwirrende Spiel um Lust und Liebe.

Die Irrungen und Wirkungen der Liebe führen zum Duell. Oder ist auch dies nur ein Traum? (Foto: Monika Forster/MiR)

Die Irrungen und Wirrungen der Liebe führen zum Duell. Oder ist auch dies nur ein Traum? (Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

Gelsenkirchens Opernintendant Michael Schulz, der Brittens „Sommernachtstraum“ vor zehn Jahren am Essener Aalto-Theater inszenierte, unterwirft sich diesmal beinahe einem Primat der Ausstattung. Mit der Bühne von Kathrin-Susann Brose und den phantasievollen Kostümen der Schwedin Renée Listerdal, die liebevoll bunt sind, ohne grell zu werden, sind wesentliche Züge dieser Neuproduktion bereits beschrieben.

Die Regie lässt uns (absichtsvoll?) im Unklaren darüber, ob sie an eine Trennung von Tag- und Nachtsphäre, von Realität und Traum glaubt oder nicht. Lysander und Hermia sind mit iPad und Selfie Stick fürs Handy zwar zeitgemäß ausgestattet, aber wenn Demetrius und Helena plötzlich so martialisch daherkommen wie Figuren aus einem Computer-Actionspiel, zerfließen die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit.

Der letzte Akt, in dem die Paare eigentlich erwachen sollen, zeigt uns das Quartett im Pyjama. Verwirrt und offenbar auch ein wenig bedrückt schleichen sie davon, wobei sich jeweils wechselnde Partner an der Hand fassen. Ein gelungener „Così fan tutte“-Moment ist dies: Haben wirklich die richtigen Partner zueinander gefunden? Oder könnte die Konstellation auch eine ganz andere sein?

Ist das Quartett wirklich erwacht? Hermia (Anke Sieloff), Demetrius (Michael Damen), Lysander (Cornel Frey) und Helena (Alfia Kamalova) wissen nicht recht, wo ihnen der Kopf steht (Foto: Monika Forster/MiR)

Hermia (Anke Sieloff), Demetrius (Michael Dahmen), Lysander (Cornel Frey) und Helena (Alfia Kamalova, v.l.) wissen nicht recht, wo ihnen der Kopf steht (Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

Ein Coup ist dem Musiktheater mit der Verpflichtung der englischen Dirigentin Julia Jones gelungen, die bereits in Dresden mit Michael Schulz zusammen gearbeitet hat. Das viel beschworene Feingefühl ihres Dirigats bestätigt sich an diesem Premierenabend aufs Schönste. Jones agiert mit größter Achtsamkeit, breitet Brittens vielfarbige Partitur vor uns aus wie ein feines Netz voll geistvoller Querverbindungen.

Bei den Musikern der Neuen Philharmonie Westfalen trifft sie offenbar den innersten Nerv, denn trotz jüngster Monumentalprojekte wie zum Beispiel der „Frau ohne Schatten“ entzückt das Orchester durch die schillernden Zauberklänge von Harfen, Celesta, Vibraphon und Glockenspiel sowie durch eine nahezu gläserne Transparenz. Mit vernehmbarer Lust setzen sie die naturhaft raunenden Laute der Elfenwelt und die Rüpelsphäre der Handwerker voneinander ab. Die Opernzitate im letzten Akt, absichtsvoll ins Groteske verzerrt, sind ein herrlicher Hörspaß.

Oberon (Matthias Rexroth, r.) berät sich mit Puck (Klaus Brantzen. Foto: Monika Forster/MiR)

Oberon (Matthias Rexroth, r.) berät sich mit Puck (Klaus Brantzen. Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

Sänger, Chöre und Statisterie werfen sich ebenfalls mit Engagement in das Traumspiel, angeführt vom Elfenkönig Oberon, dessen Part der Countertenor Matthias Rexroth mit zunehmender Strahlkraft singt. Als Elfenkönigin Tytania gibt die Sopranistin Bele Kumberger ihren Einstand am Hause: größtenteils sicher, aber nicht immer ohne Anstrengung durch die Höhen der Partie steuernd.

Spielfreudig und mit ausgewogenen Gesangsleistungen umrahmt das MiR-Ensemble das phantastische Herrscherpaar. Der Schauspieler Klaus Brantzen streut den Menschen als abgelebter, schäbig gekleideter Puck den Blütenstaub einer Zauberblume in die Augen. Die Kombination aus schlampiger Nachlässigkeit und mephistophelischem Hintersinn, die Brantzen dabei zur Schau trägt, macht diesen Geist zu einem ebenso unrasierten wie undurchsichtigen Schöpfer des Chaos.

Derweil mäandert der Strom von Brittens Musik gemächlich dahin. Wer Brittens Tonsprache liebt, kann sich von seinen Zauberklängen ins Land der unentdeckten Gefühle und freigesetzten Triebe hinabziehen lassen.

Folgetermine noch bis Mai 2016. Informationen: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Sommernachtstraum/#events




Rudelrennen in Babylon: Händels Oratorium „Belsazar“ im Gelsenkirchener Musiktheater

Gewogen und für zu leicht befunden: Die Tage der Herrschaft von König Belsazar (Attilio Glaser) sind gezählt (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Gewogen und für zu leicht befunden: Die Tage der Herrschaft von König Belsazar (Attilio Glaser) sind gezählt (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

„Jehova, dir künd’ ich auf ewig Hohn! Ich bin der König von Babylon!“ So ruft Belsazar in der gleichnamigen Ballade von Heinrich Heine, den Gott der Juden frech herausfordernd. Das biblische Gleichnis von der menschlichen Vermessenheit, dem Buch des Propheten Daniel entnommen, inspirierte im Jahr 1744 auch den Komponisten Georg Friedrich Händel. Er schuf mit „Belsazar“ eines seiner großen englischsprachigen Oratorien, jener zu Unterhaltungszwecken komponierten „Sacred Dramas“, die er in seinen Londoner Jahren schrieb.

Verschiedentlich hat die opernhafte Form und Dramatik von „Belsazar“ zu szenischen Umsetzungen geführt. Den jüngsten Versuch einer solchen hat jetzt die Regisseurin Sonja Trebes unternommen, die Gelsenkirchens Musiktheater damit die erste größere Barock-Produktion seit gut einem Dutzend Jahren bringt. An der Hanns Eisler Hochschule in Berlin ausgebildet und dem Staatstheater Kassel verbunden, schickt Trebes sich bei ihrem Gelsenkirchener Debüt an, „Belsazar“ als Parabel über die Vergänglichkeit von Macht zu deuten.

Doch obgleich sich der düstere Turm zu Babel beständig dreht, den Bühnenbildnerin Hyun Chu auf die Bühne gewuchtet hat, fällt es der Regie nicht leicht, ein lebendiges Spiel aus der starren Form des Oratoriums zu entwickeln. Ihr Bemühen führt zu manchem Rudelrennen der Chöre, zu manch kollektiver Tanzeinlage und diversen Aktionismen, aus denen sich jedoch kein wahrer Schwung gewinnen lässt. Bis Belsazar über seine Selbstherrlichkeit fällt und der Perserkönig Cyrus die Herrschaft übernimmt, bleibt der Abend eine recht zähe Angelegenheit.

Die aufwändigen Kostüme von Reneé Listerdal lassen trotz Fantasy-Anmutung die Konflikte unserer Tage anklingen. Die Babylonier tragen Munitionsgürtel um die Brust, Belsazar baumeln Handgranaten am Gürtel. Die roten Stirnlampen am Helm der in Goldrüstungen steckenden Perser wecken freilich auch andere Assoziationen: Biegt gleich womöglich die alte Dampflok „Rusty“ aus dem Bochumer Starlight-Express um die Ecke? Oder stimmt doch noch jemand das Steigerlied an? Wenn die Perser ihre Stirnlampen im Dunkeln für Morsezeichen nutzen, möchte mancher sich vielleicht auch ganz gerne vor den Kopf schlagen.

Königin Nitocris (Alfia Kamalova, l.) und der Perserkönig Cyrus (Anke Sieloff. Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Königin Nitocris (Alfia Kamalova, l.) und der Perserkönig Cyrus (Anke Sieloff. Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Von den Unbeholfenheiten der Szene unberührt, sind die musikalischen Leistungen achtbar. Unter der Leitung des kundigen Spezialisten Christoph Spering entfaltet Händels Musik ihre eleganten Phrasierungen und schimmernden Spinett-Klänge. Die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen folgen seinem Dirigat willig, halten sich zugunsten der Sänger zurück, erreichen in den finalen Chorszenen aber auch imperialen Glanz samt Pauken und Trompeten.

Unter den Solisten ragt vor allem Alfia Kamalova heraus, die Belsazars Mutter Nitocris einen leuchtenden, biegsamen Sopran verleiht. Als Gast gibt Attilio Glaser der Titelfigur einen hellen Tenor mit störrischen Untertönen. Anke Sieloff (Cyrus), die bald  ihr 20-jähriges Bühnenjubliäum feiert, und Almuth Herbst (Daniel) sind den beiden verlässliche Partner.

Den größten Beifall ernten jedoch Opern- und Extrachor des Theaters (Einstudierung: Christian Jeub), die das Volk der Juden, Perser und Babylonier verkörpern müssen. Das bedeutet viele rasche Kostümwechsel, durch die sich die Sängerinnen und Sänger freilich nicht aus der Spur bringen lassen. Sie sind die tragende Säule der Produktion, die erst beim finalen Machtwechsel schmerzlich klar macht, wie willkürlich es um alle Macht bestellt ist. Ob König oder Gott: Welchem „Herrn“ das Volk huldigt, hängt am Ende allein von der Frage ab, wer gerade das Sagen hat.

Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Belsazar/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Vom Grauen des Krieges: Gelsenkirchen zeigt „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss

Gudrun Pelker (Amme) und die Kaiserin (Yamina Maamar (Foto: Karl Forster/MiR)

Gudrun Pelker (Amme,l.) und die Kaiserin (Yamina Maamar (Foto: Karl Forster/MiR)

Diese Oper ist eine in Töne gegossene Überforderung. „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss verlangt ein mit rund 100 Musikern besetztes Orchester samt Orgel, Glasharmonika, chinesischen Gongs, TamTams, Wind- und Donnermaschine, einem Bläserseptett hinter der Szene und zwölf Blechfanfaren.

Hinzu kommen fünf stimmgewaltige Solisten für die Hauptpartien, Chöre und Kinderchöre sowie zahlreiche Statisten. Maßlos auch in ihren musikalischen Anforderungen, wurde die Märchenoper zu Strauss’ Lebzeiten öfter abgesagt als aufgeführt. Jetzt hat Gelsenkirchens Musiktheater das Renommierstück auf seinen Spielplan gehoben. Mit einer zuvor bereits in Kassel gezeigten Inszenierung seines Intendanten Michael Schulz startet das Haus höchst ambitioniert in die neue Spielzeit.

In der Region war „Die Frau ohne Schatten“ zuletzt am Essener Aalto-Theater zu sehen. Fred Berndt ließ sie dort auf einer zeitlosen Drehscheibe im Zeichen des Yin und Yang spielen. Bei Michael Schulz wird der monumentale Dreiakter zum düsteren Kriegsstück, überschattet von seiner Entstehungszeit zwischen 1913 und 1917. Der Kaiser ist ein ganz realer Herrscher: Zu Stein wird er nicht so sehr deshalb, weil die Kaiserin keinen Schatten wirft – also keine Kinder bekommen kann – sondern durch die fortschreitende Brutalität, mit der er seinen Machtanspruch behauptet. Der Färber Barak und seine Frau mühen sich mit einem Berg von Militärmänteln ab. Der Hurra-Patriotismus des Volkes, das im ersten Akt noch fleißig Fahnen schwenkt, wird alsbald von deprimierender Not gedämpft.

Die Färberin (Sabine Hogrefe) träumt von einem besseren Leben (Foto: Karl Forster/MiR)

Die Färberin (Sabine Hogrefe) träumt von einem besseren Leben (Foto: Karl Forster/MiR)

Wer diesen Regie-Ansatz als Trittbrettfahrerei im aktuellen Gedenkjahr abtun möchte, hat indes Unrecht, denn die faszinierend enigmatische Parabel von der Menschwerdung gewinnt aus dieser Perspektive neue Bedeutung. Sie berührt Fragen, die aktuell geblieben sind: Wie sehr und aus welchen Gründen werden Kinder eigentlich gewünscht? In welcher Welt werden künftige Generationen groß? Die pazifistische Botschaft des Stücks wirkt durch diesen Ansatz nicht wie sonst wolkig und lebensfern, sondern quälend und dringlich.

Das lähmende Grauen, das von dem unsichtbaren Geisterfürsten Keikobad ausgeht, entspricht den Monstrositäten eines Krieges, der dem Verstand ähnlich unbegreiflich bleibt. Mag die Inszenierung auch ein paar Schwachstellen haben, wenn allzu ausgiebig an Wunden gelitten wird oder ein eher sinnfreies Stühlerücken anhebt, entlockt sie der Partitur Bilder, die mal tief berühren, mal mächtig an den Nerven rütteln. Ohne sich in der rätselhaften Symbolik des Werks zu verstricken, zeichnet sie den Weg zweier Paare nach, die wie in der „Zauberflöte“ harte Prüfungen bestehen müssen, um (wieder) zueinander zu finden.

Mit Bezug auf Mozart zitiert die Bühne von Dirk Becker zunächst den berühmten Schinkel-Sternenhimmel, der von einem zeltartigen Vorhang freilich recht lieblos verunstaltet wirkt. Dafür wird das zweite Bild zum großen Wurf: eine Halle aus Glas und Metall, in der Arbeit und Elend nahe beieinander liegen. Düster und transparent zugleich, birgt sie Türen, Treppen und eine Brücke. Geister- und Menschenwelt treffen hier aufeinander, und es fragt sich nicht selten, welche von beiden gruseliger ist.

Im Orchestergraben, es ist kaum zu glauben, schafft die Neue Philharmonie Westfalen tatsächlich die große Synthese, die Strauss in „Die Frau ohne Schatten“ anstrebte. Die unbarmherzige Wucht der Elektra, das schillernde Farbenspiel der Salome, die kammermusikalische Feinheit der Ariadne und sogar der melodische Reichtum des Rosenkavaliers entfalten sich unter dem verblüffend ruhigen, gestisch eher sparsamen Dirigat von Rasmus Baumann, der seiner Lieblingsoper selbst in den wuchtigsten Klangeruptionen eine Aura der Transparenz lässt. Die klangliche Überfrachtung der Partitur wird so zum vielschichtigen, aufregenden Erlebnis.

Die zunehmende Brutalität des Kaisers (Martin Homrich) führt schließlich zu seiner Versteinerung (Foto: Karl Forster/MiR)

Die zunehmende Brutalität des Kaisers (Martin Homrich) führt schließlich zu seiner Versteinerung (Foto: Karl Forster/MiR)

Von den fünf kapitalen Hauptpartien sind die männlichen etwas schwächer besetzt als die weiblichen. Martin Homrich gibt dem Kaiser einen hellen, häufig unfokussiert flackernden Tenor mit einigen Intonationsproblemen. Urban Malmberg lässt seinen Bariton in der Rolle des Färbers Barak durchaus balsamisch strömen, kann im finalen Jubel aber keine Reserven mehr aktivieren. Das sieht bei den Sängerinnen anders aus: So keifend Sabine Hogrefe als Färberin auch ihrer Frustration Luft macht, so besitzt sie am Ende noch genug Kraft für den Wandel zu glühender Reue. Gudrun Pelker lässt die Stimme der Amme zwischen diabolischen Tiefen und schneidendem Kommandoton flackern, dass es manche Gänsehaut garantiert.

Und dann ist da noch Yamina Maamar: eine würdige Kaiserin, die von den erdenfernen Höhen des ersten Aktes an zu Tönen einer wachsenden Empathie für alles Menschliche findet. Da setzt sich eine Wärme durch, ein mitfühlendes Wissen, aus dem heraus die Kaiserin lieber auf ihr persönliches Streben nach Glück verzichtet, als zwei ohnehin geschundenen Menschen die letzte Chance darauf zu nehmen. Unerwartet, wahrscheinlich für sie selbst überraschend, schüttet diese große Frau das vermeintlich rettende Wasser des Lebens weg. „Ich will nicht“: Diese drei leisen Worte des Verzichts führen letztlich zur Erlösung.

Es gibt noch fünf Folgetermine: 5. und 19. Oktober, 2. und 14. November, 13. Dezember. Informationen: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/FrauOhneSchatten/




Neuer Chefdirigent, viel Elan: Rasmus Baumann leitet die Neue Philharmonie Westfalen

Guter Einstand: Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen. Foto: Pedro Malinowski/NPW

Guter Einstand: Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen. Foto: Pedro Malinowski/NPW

Die Neue Philharmonie Westfalen (NPW) ist ein außergewöhnliches Orchester. Das manifestiert sich schon in seiner Stärke: Mehr als 120 Köpfe zählt der Klangkörper, eine derart große Besetzung findet sich sonst kaum in der Republik. Doch wer nun glaubt, dies sei Ergebnis einer üppigen Finanzausstattung, befindet sich auf der falschen Fährte.

Die NPW ist vielmehr aus einer Fusion erwachsen, aus der Zusammenlegung des Westfälischen Sinfonieorchesters Recklinghausen und des Philharmonischen Orchesters Gelsenkirchen. Ursache war schon damals, 1996, dass beide Städte Probleme mit der Finanzierung hatten.

Mit der Fusion bekam die NPW, mit Sitz in Recklinghausen, zugleich einen neuen Status, den eines Landesorchesters. Damit wuchsen die Aufgaben, zugleich aber wurde die Finanzierung auf mehrere Schultern verteilt. Geld kommt vom Land NRW, vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe, von den Städten Recklinghausen und Gelsenkirchen, zudem vom Kreis Unna. Dafür müssen die Musiker in Städten der Region auftreten, die kein eigenes Orchester haben, garantieren den Opernbetrieb im Musiktheater im Revier (MiR), geben dort, in Gelsenkirchen, neun Symphoniekonzerte, die auch in Recklinghausen und Kamen zu hören sind. Spezielle Programme für Kinder und Jugendliche kommen hinzu.

Ein Berg von Verpflichtungen also, der nur bewältigt wird, weil sich das Orchester, kraft seiner Stärke, aufteilen kann, um vor Ort präsent zu sein und gleichzeitig in einer anderen Stadt zu gastieren. Doch so schön das alles klingt, so groß ist nun wieder die Not. Vier Jahre haben die Musiker auf Gehaltserhöhungen verzichtet. Jetzt aber steht für 2014 eine tarifliche Anpassung in Höhe von 1,5 Millionen Euro an. Und alle Träger tun sich schwer, die Summe aufzubringen. Krisengespräche sind angesagt, ein bereits vielbeschworener „Runder Tisch“ soll bald Realität werden.

Partituren sind für Rasmus Baumann sein "wichtigster Reichtum". Foto: NPW

Partituren sind für Rasmus Baumann „mein wichtigster Reichtum“. Foto: NPW

Doch trotz aller Probleme wurden neue Zeichen gesetzt. Und im Zentrum steht Rasmus Baumann, vor kurzem als Chef der NPW benannt, ausgestattet mit einem Fünf-Jahres-Vertrag, in Nachfolge des zuletzt eher glücklosen Heiko Mathias Förster. Der neue Mann am Pult ist für das Orchester kein Unbekannter: Am MiR hat Baumann als Generalmusikdirektor die Qualität des Klangkörpers erheblich steigern können. Manche Opernpremiere wurde zur musikalischen Sternstunde.

Dennoch ist es etwas anderes, im Orchestergraben zu dirigieren, als vor 120 Musikern auf dem Podium zu stehen. Denn die NPW in ihrer Gesamtheit hatte zumindest unter Förster nicht gerade Glanzvolles zu bieten. Technische Unzulänglichkeiten bestimmten das Hörbild, ein wenig transparenter Klang. Und manchem war eine gewisse Spielunlust durchaus anzusehen. Hier gegenzusteuern wird die große Aufgabe Baumanns sein. Der neue Chef ist gefragt als Motivator, als akribisch probender, zugleich charismatischer Leiter. Denn klar dürfte sein: Nur ein Qualitätsschub, verbunden mit einem attraktiven Programm, lockt mehr Besucher, bringt also mehr Einnahmen. Je mehr sich also das Orchester in der Region verwurzelt, desto weniger können sich die Träger aus ihrer Verantwortung stehlen.

Den Auftakt dazu haben die Neue Philharmonie Westfalen und Rasmus Baumann nun mit dem 1. Sinfoniekonzert intoniert. Wie es sich für einen ordentlichen Beginn gehört, mit der „Festlichen Ouvertüre“ von Schostakowitsch, gefolgt von einem „Schlager“ des Virtuosenrepertoires (Tzimon Barto spielt Tschaikowskys b-moll-Klavierkonzert), schließlich Rachmaninows so mitreißende wie ergreifende 2. Sinfonie. Und am Ende ist klar: Es darf wieder genau hingehört werden, wenn sich die NPW der Musik hingibt.

Das ist einem Dirigenten geschuldet, der in höchster Konzentration am Pult wirkt, der zudem sehr körperlich agiert. Dann scheint er jede musikalische Phrase zu durchleben, sein Schwung überträgt sich aufs Orchester. Entsprechend klingt Schostakowitschs Ouvertüre als hellblitzendes Jubelstück, klar geformt, nur in seiner treibenden Rhythmik noch ein wenig hakelig. Ein klangsattes Entrée, das Lust auf mehr macht.

Berühmter Solist des 1. Simfoniekonzerts: der Pianist Tzimon Barto. Foto: Malcolm Yawn

Berühmter Solist des 1. Simfoniekonzerts: der Pianist Tzimon Barto. Foto: Malcolm Yawn

Wenn indes Tzimon Barto anhebt, die ersten Tschaikowsky-Akkorde ins Klavier zu stanzen, dann aber plötzlich ins wachsweiche Samtpföteln übergeht, wenn er binnen Sekunden Ausdruck, Dynamik und Tempi wechselt, ist für das Orchester vor allem eines angesagt: Kampf. Dieses Stück muss offenkundig, mit diesem überaus eigenwilligen Solisten am Flügel, geradezu neu erarbeitet werden. Was nicht ohne Folgen bleibt. Hörner und Holzbläser können bei der Tongebung manche Unsicherheit nicht verbergen, im feurigen Finalsatz, wenn Barto das Tempo nach Gutdünken anzieht, hechelt der Rest irgendwie hinterher.

Andererseits erstaunt die Homogenität, Sensibilität und Glut der Streicher, sowie deren Fähigkeit, Spannung aufzubauen. Dass indes manche Steigerung in Richtung großorchestrale Wucht im Beliebigen versandet, ist ein Makel. Barto indes zelebriert und sinniert unbekümmert vor sich hin, um im nächsten Moment pianistisch aus der Haut zu fahren. Er macht das technisch souverän, allein der Sinn, er will sich nicht erschließen.

Wie schön, dass dann die Interpretation der Rachmaninow-Sinfonie viel mehr von dem Potential zu erkennen gibt, das in diesem Orchester schlummert. Plötzlich werden Höhepunkte organisch angestrebt, scheuen die Streicher nicht den satten Breitwandsound, geschickt dem Kitschverdacht ausweichend. Im 2. Satz kommen die Musiker rhythmisch deutlich besser auf den Punkt. Der Eindruck festigt sich, dass Aufbruchstimmung herrscht, zudem größere Aufmerksamkeit. Die Hörner gewinnen an gestalterischer Kraft, das Klarinettensolo im Adagio ist von langem Atem geprägt und klingt wunderbar sehnsüchtig.

Dieses Konzert ist ein Versprechen für eine spannende Saison, für Einsatz und Spielfreude. Zugleich mag es als flammendes Plädoyer gesehen werden, die Neue Philharmonie Westfalen nicht hängen zu lassen.




Ein Maikönig baut Mist: Brittens Oper „Albert Herring“ im Musiktheater Gelsenkirchen

Maikönig wider Willen: Albert Herring (Hongjae Lim) macht neben Lady Billows (Karen Fergurson) keine glückliche Figur. (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Maikönig wider Willen: Albert Herring (Hongjae Lim) macht neben der gestrengen Lady Billows (Karen Fergurson) keine glückliche Figur. (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Muttis Liebling soll Maikönig werden. Albert Herring, devoter Kaufmannssohn, keusch mangels Mut und Gelegenheit, wird im englischen Provinznest Loxford wider Willen zur Ikone der Moral erhoben. Das geht natürlich nicht lange gut: auch nicht im Musiktheater Gelsenkirchen, wo sich Benjamin Brittens Anti-Held alsbald mit Lust vom Sockel fallen lässt.

Der komische Dreiakter geriet nachträglich auf den Spielplan, weil die serbische Komponistin Isidora Žebeljan um eine Verschiebung der für den 26. April geplanten Uraufführung ihres Auftragswerks „Simon das Findelkind“ bat. Nicht als beißende Buffa, sondern als milde Parodie auf die puritanischen Sitten im viktorianischen England kehrt „Albert Herring“ nach nunmehr 24 Jahren auf Gelsenkirchens Opernbühne zurück.

Spitzendeckchenmuff zu vermeiden war das erklärte Ziel des österreichischen Schauspielers Thomas Weber-Schallauer, der Brittens Oper hier neu inszeniert. Er setzt auf eine dezente Ironie, die als amüsanter Grundton mitschwingt. Diesen begleiten die lichten und zeitlosen Bühnenbilder (Britta Tönne) und die trefflich charakterisierenden Kostüme (Martina Feldmann) durch kleine, aber feine Akzente. Die Empfangshalle der sittenstrengen Lady Billows gleicht einem Sakralraum. Der Pfarrgarten präsentiert sich als bizarr geschmücktes Wunderland mit grünen Pilzen und Monstergirlanden à la Lochness. In dieser Umgebung führen sich die pompösen Maifeier-Reden und der aufgeplusterte Nationalstolz von allein ad absurdum.

Zuweilen droht das Bühnengeschehen etwas zu nett und harmlos dahin zu plätschern. Aber die Neue Philharmonie Westfalen lässt unter der Leitung des Finnen Valtteri Rauhalammi dann doch keine Langeweile aufkommen. Im Orchestergraben wechselt Brittens Musik so fix und gewandt die Masken, als sei sie der eigentliche Hauptdarsteller. Die Musiker spielen schmiegsam und mit Freude an der Groteske, erfüllen die feinnervige Musik mit erlesenem Spott und filmmusikalischer Plastizität.

Brittens parodistische Anspielungen und Zitate leuchten so schillernd wie janusköpfig auf: Siegfrieds Hornruf, Tristans Vergessenstrunk, Händels königlicher Pomp und Kurt Weills Dreigroschen-Sound dürften manchem Musikfreund das Grinsen ins Gesicht treiben.

Der Tugendbold hat sich betrunken: Albert Herring (Hongjae Lim) hat die Fremdbestimmung satt (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Der Tugendbold hat sich betrunken: Albert Herring (Hongjae Lim) hat die Fremdbestimmung satt (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Dazu passt eine geschlossene Ensemble-Leistung, die uns die Parade verschrobener Spießbürger stimmlich punktgenau vorführt. Der Tenor Hongjae Lim verleiht Alberts Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben lyrisch-feinen Ausdruck, der immer schwärmerischer aufblüht. Hinzu treten die selbstherrliche Lady Billows (Karen Fergurson mit hysterisch angehauchten Koloraturen), ihre Kammerzofe Florence Pike (Almuth Herbst mit eilfertig-bekräftigenden Wiederholungen), die Lehrerin Miss Wordsworth (Alfia Kamalova mit leuchtenden Höhen), Alberts Mutter (Noriko Ogawa-Yatake mit absichtsvoll stupiden Tonleitern), der Dorfpolizist (Dong-Won Seo mit sturen Bassrepetitionen) und weitere Nebenfiguren. Sie alle wirken wie mit feinem Bleistift gezeichnet. Von der „widerlichen Tutti-Wirkung“, die Britten abstieß, ist dieses heitere Kammerspiel meilenweit entfernt.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen und Aufführungstermine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/AlbertHerring/)




Vernarbte Seelen: Leoš Janáčeks „Jenufa“ am Musiktheater im Revier

Das Mutterglück währt nur schrecklich kurz: Jenufa (Petra Schmidt) wiegt ihr unehelich geborenes Kind (Foto: Pedro Malinowski)

Das Mutterglück währt nur schrecklich kurz: Jenufa (Petra Schmidt) wiegt ihr unehelich geborenes Kind (Foto: Pedro Malinowski)

Eine Mühle ist weit und breit nicht in Sicht. Das Korn aber türmt sich zu Bergen, rieselt in alle Ritzen, seine Leben spendende Energie unter einer harten Schale verbergend. Aus ihm entspringt in Gelsenkirchens Musiktheater eine wilde Menschentragödie: „Jenufa“, die erste große Oper des Tschechen Leoš Janáček, von Intendant Michael Schulz jetzt neu in Szene gesetzt.

Auf die tragischen Ereignisse um die verbitterte Küsterin, die das uneheliche Kind ihrer Stieftochter Jenufa tötet, wirft Schulz mehr als nur einen nachdenklichen Blick. Analytisch und klar arbeitet er die Rahmenbedingungen heraus, die das Verbrechen begünstigen, aber auch die zwiespältige Natur der Menschen, in denen Gutes und Böses miteinander kämpft. Die Bühne (Kathrin-Susann Brose) ist dabei von stählernen Gerüsten eingefasst, die mit der unbarmherzigen Rigidität der Dorfgemeinschaft korrespondieren. Die enge Wohnküche der Küsterin, in der Jenufa heimlich ihr Kind zur Welt bringt, gleicht einer Kiste ohne schützendes Dach. Jenufa muss sich in einem Verschlag unter dem Küchenboden verstecken.

Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten im ersten Akt lässt Schulz uns im zweiten haarklein miterleben, wie es zur schrecklichen Kurzschlusshandlung der Küsterin kommt. Dabei gelingt ihm eine großartige, beklemmende Verdichtung. Diese abstoßend kalte Frau, die nach dem Kindsmord scheinbar seelenruhig eine Zigarette raucht und dann eine Gans ausnimmt, ist zugleich eine Mutter, die für ihre Ziehtochter eigentlich nur das Beste will. Jenufa, die das Verbrechen ahnt und der Küsterin noch hinterher stürzen will, rüttelt in voller Panik an der verschlossenen Haustür, bevor die Nachricht vom Tod des Kindes sie buchstäblich zu Boden schmettert. Es ist unsagbar jammervoll, ihr beim Zerbrechen zuzusehen.

Die Küsterin (Gudrun Pelker) wird die schlimmen Erinnerungen an ihre eigene Ehehölle nicht los  (Foto: Pedro Malinkowski)

Die Küsterin (Gudrun Pelker) wird die schlimmen Erinnerungen an ihre eigene Ehehölle nicht los (Foto: Pedro Malinkowski)

Wovon die Worte schweigen müssen, davon spricht Janáčeks Musik. Petra Schmidt ist eine wunderbare Jenufa, die darstellerisch große Wucht entwickelt. Ihre Stimme besitzt Wärme, Glut und Zärtlichkeit. Biegsame Koketterie und hochfahrende Spitzen weichen allmählich verschatteten Tönen, aus denen zuletzt nur mehr resignierte Wehmut leuchtet. Die Neue Philharmonie Westfalen, die unter der Leitung von Rasmus Baumann abermals zur Bestform aufläuft, breitet Janáčeks expressive Partitur mit vielen feinen Farben aus, steigert sich aber auch zu ruppiger Wucht.

Vokale Defizite im Ensemble können nicht verschwiegen werden. Lars-Oliver Rühl (Stewa) kämpft immer wieder mit Höhenproblemen, der Charaktertenor von William Saetre (Laca) klingt vom Forte aufwärts dünn und unflexibel. Gudrun Pelker, die sich mit großer Intensität in die Rolle der Küsterin wirft, hat Mühe, dem schneidenden und verhärmten Duktus dieser Frau auch einmal wärmere Farben beizumischen. Sie alle spielen aber mit einem Feuer, das viele Probleme ausglüht. Diese Hingabe bringt uns Menschen nahe, die qualvoll in ihrer Haut gefangen sind: vernarbte Seelen, die kaum mehr an die Liebe glauben, nach der sie sich sehnen. Keiner ist ohne Schuld, aber in allen schlummert der Keim zu einem freieren, besseren Leben.

Es ist Jenufa, in der diese Saat endlich aufgeht. Indem sie vergibt, wächst sie über sich selbst hinaus. An ihrer Seite ringt sich auch Laca zu einer anderen Zukunft durch: „Ich habe das Böse von mir abgetan, weil du mit mir bist.“ Die erschütternde Tragödie endet mit einem Hoffnungsschimmer.

Informationen zum Stück und zu den Terminen unter: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Jenufa/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Starke Gemeinschaftsleistung: Leonard Bernsteins „On the Town“ in Gelsenkirchen

Die forsche Taxifahrerin Hildy (Judith Jakob) kutschiert Chip (Michael Dahmen) durch New York (Foto: Thilo Beu/MiR)

Die forsche Taxifahrerin Hildy (Judith Jakob) kutschiert Chip (Michael Dahmen) durch New York (Foto: Thilo Beu/MiR)

Den Erfolg seines Musicals „West Side Story“ hat Leonard Bernstein in späteren Jahren oft erdrückend gefunden. Er, der gerne als Komponist ernsthafter Werke anerkannt werden wollte, der neben drei Sinfonien noch die „Chichester Psalms“, Lieder, Klavier- und Kammermusik schuf, fühlte sich immer wieder auf seine drei populärsten Werke reduziert.

Zu ihnen zählt neben der „West Side Story“ und „Candide“ sein bereits 1944 uraufgeführter Musical-Erstling „On the Town“: ein vor Optimismus sprühender Geniestreich eines 26-Jährigen, der in der Verfilmung mit Gene Kelly, Frank Sinatra und Jules Munshin weltberühmt wurde. Drei Matrosen auf Landgang in New York haben in dieser turbulenten Seemannskomödie nur 24 Stunden Zeit, um die Stadt und die große Liebe zu erobern.

Einem lang gehegten Wunsch seines Chefdirigenten Rasmus Baumann folgend, hat das Musiktheater im Revier jetzt alle Kräfte gebündelt, um „On the Town“ zu einem lebensprallen Streifzug durch das New York der 40er Jahre zu gestalten. Gelsenkirchens Hausregisseur Carsten Kirchmeier, neben Kinderopern hier schon für drei Musicalproduktionen verantwortlich, arbeitete dabei Seite an Seite mit Ballettchefin Bridget Breiner, deren Compagnie den Schwung von Bernsteins Musik lustvoll aufgreift und umsetzt.

Die Jagd nach dem Glück spielt sich zwischen monumentalen Überseekoffern ab, die eng gruppiert die Straßenschluchten von Manhattan heraufbeschwören, zuweilen aber auch überraschende Inhalte freigeben. Auf diese sicherlich kostengünstige, aber wirkungsvolle Bühne von Jürgen Kirner zaubert die Kostümabteilung US-amerikanischen Charme, der Nostalgie und Glamour zitiert, das Grelle aber wohltuend meidet (Renée Listerdal). So kommt eine unterhaltsame Typenparade zustande, die das facettenreiche Bild einer vibrierenden Metropole zeichnet.

Umschwärmt: Die "Miss U-Bahn Ivy Smith (Julia Schukowski. Foto: Thilo Beu/MiR)

Umschwärmt: Die „Miss U-Bahn“ Ivy Smith (Julia Schukowski. Foto: Thilo Beu/MiR)“

Die Premiere gerät vor allem deshalb zum Erfolg, weil Statisten, Chöre, Sänger, Tänzer und Musiker überzeugend an einem Strang ziehen. Dies hilft der Produktion vor der Pause über manch zähflüssigen Dialog hinweg.

Für die starke Gemeinschaftsleistung seien ein paar Namen exemplarisch herausgehoben: Die Matrosen Gabey (Piotr Prochera), Chip (Michael Dahmen) und Ozzie (E. Mark Murphy), die vor jugendlicher Unternehmungslust schier aus ihren Uniformen platzen, die blonde Ivy Smith (Julia Schukowski), die für ihre Gesangsübungen sogar in den Kopfstand geht, die skurrile Anthropologin Claire (Dorin Rahardja mit sicheren Spitzentönen) und die forsche Taxifahrerin Hildy, von Judith Jakob mit quirligem Temperament und auftrumpfender Stimme verkörpert. Die staunenswerte Athletik des Tänzers Joseph Bunn, manch stimmungsvoller Pas de deux und viele liebevoll gezeichnete Nebenfiguren füllen das Porträt der Großstadt mit Farben.

Abermals spielt sich im Orchestergraben unter der Leitung von Rasmus Baumann ein kleines Wunder ab. Vom Beat des Schlagzeugs unterstützt, zelebriert die Neue Philharmonie Westfalen einen Big Band Sound, der sich bis zur Zarathustra-Apotheose steigern kann und doch nie knallig klingt. Noch in den vertracktesten Rhythmuswechseln geht das Orchester geschmeidig mit.

Wirklich aufhorchen lassen die vielen feinen Nuancen, die unter dem Pomp an die Oberfläche steigen. Da gibt es jüdische Anklänge, Orientalismen, Blues-Eintrübungen und feurige Latin-Rhythmen, dass man sich die Ohren reiben möchte. Die Neue Philharmonie Westfalen zeigt uns Leonard Bernstein als musikalisches Chamäleon, das viele Stile adaptieren kann, ohne seinen spezifischen Sound zu verlieren. Inwieweit eine strikte Unterteilung in U- und E-Musik da noch sinnvoll wäre, müssen sich selbst hart gesottene Klassikfreunde fragen.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/OnTheTown/)




Ihre Karriere begann in Gelsenkirchen: Die Sängerin Marilyn Horne wird 80

„Die größte Sängerin der Welt“: Was wie eine maßlose Übertreibung klingt, hat der Gesangsexperte Jürgen Kesting in seinem Standardwerk über große Sänger als Überschrift für das Kapitel über Marilyn Horne gewählt. Stimmkenner sind sich einig: Die Amerikanerin, die am 16. Januar 2014 achtzig Jahre alt wird, bleibt auf dem Feld des Belcanto ungeschlagen. Begonnen hat die Karriere der warmherzigen Frau mit den strahlend blauen Augen vor 57 Jahren in Gelsenkirchen.

Im Juli 1957 reiste die 23-jährige, in Bradford, Pennsylvania, geborenen Marilyn Horne von Wien aus ins Ruhrgebiet. In eine Stadt, die geprägt war von Bergbau und Schwerindustrie, noch versehrt von Wunden des Krieges, doch schon beflügelt vom Wiederaufbau: Das neue Theater war in Planung. Noch spielte man in der Schauburg in Buer, im Hans-Sachs-Haus, an zahlreichen Abstecherorten.

Generalintendant Gustav Deharde hat die junge Unbekannte, die Igor Strawinsky nach Wien geholt hatte, als „Zwischenfachsängerin“ engagiert. Ihre erste Rolle war die Giulietta in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“. Ende 1957 alternierte sie mit der damaligen Primadonna in Gelsenkirchen, Maria Helm, als Amelia in Verdis „Simon Boccanegra“.

Im gleichen Jahr noch realisierte Deharde ein ehrgeiziges Projekt: In Bühnenbildern des später weltberühmten Günther Schneider-Siemssen inszenierte er Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“, mit Marilyn Horne in der Hauptrolle der Minnie. Von der späteren Karriere als Koloratur-Mezzosopran war noch nichts zu ahnen. Mit Rossinis „Italienerin in Algier“, in jenen Jahren auf dem Spielplan in Gelsenkirchen, wurde die Amerikanerin nicht betraut. Horne selbst, ihren enormen Stimmumfang bis zum hohen C nutzend, verstand sich als Sopran.

In der folgenden Saison wurde die überregionale Kritik auf die Sängern aufmerksam: Zum Händel-Jahr 1959 gab es in Gelsenkirchen eine Ausgrabung, „Ezio“, mit Horne in der Rolle der Fulvia. Auch wenn sie, wie die „Westfälische Rundschau“ maliziös vermerkte, „figürlich nicht immer ganz die zarte Römerin geben konnte“, wurde ihre Darstellung durchweg gelobt: ein „Sopran von erstaunlichem Volumen und bestechendem Timbre“, eine „warm strömende und dramatisch aufleuchtende“ Stimme, die den figurierten Stil überzeugend traf.

Ähnlich lauteten die Kritiken auch, als Marilyn Horne Tatjana in Tschaikowskys „Eugen Onegin“ übernahm und 1960, schon in neuen Haus, die Mimí in Puccinis „La Bohème“ gestaltete. Der Kritiker der WAZ bescheinigte ihr eine großartige Leistung. „Sie besitzt edles Stimmmaterial, das sie souverän einzusetzen weiß. In den großen Arien erblüht ihre Stimme zu vollem Glanz.“

Ihre „Galeerenjahre“ in Gelsenkirchen schloss Horne mit einer Aufsehen erregenden Partie ab: Sie sang die Marie in Alban Bergs „Wozzeck“. Ihre Vitalität überraschte, ihre Stimme hielt auch dem schmetternden Orchester stand, kommentierte die „Buersche Zeitung“. Die WAZ bewunderte ihr Temperament und ihre traumwandlerische Sicherheit. Ein Kritiker dieser Zeitung, Günter Engler, bewunderte ihr Temperament: „Ein Weibsbild … prallvoll von Leben. Da springt wirklich der Funke über.“ Und die „Rheinische Post“ wies damals schon darauf hin, dass man sich die Sängerin merken müsse.

Fünf Jahre später regierte Marilyn Horne gemeinsam mit der Sopranistin Joan Sutherland den Olymp des Belcanto. Danach sah es zunächst nicht aus: In San Francisco und Chicago begann sie ihre US-Karriere mit der Marie in „Wozzeck“. Ihre australische Koloratursopran-Partnerin lernte sie 1961 bei einer Aufführung von „Beatrice di Tenda“ von Vincenzo Bellini kennen. In den folgenden Jahren eroberte sich Horne das weitgehend vergessene Fach des Koloratur-Mezzosoprans. Mühelos brillierte sie mit anspruchsvollen, oft vergessenen Partien von Bellini, Rossini, Meyerbeer. Mit Montserrat Caballé, die 1965 für Horne in Donizettis „Lucrezia Borgia“ in der Carnegie Hall eingesprungen war, verband sie eine langjährige künstlerische Partnerschaft. Die Auftritte der beiden Belcanto-Sängerinnen gehörten zu den Höhepunkten zeitgenössischer Gesangskunst; die Duette aus Rossinis „Semiramide“, die Virtuosenstücke aus „Tancredi“ oder Meyerbeers „Le Prophète“ versetzten die Zuhörer in Taumel. Hornes Händel-Interpretationen ließen Tränen fließen.

Im Jahr 2000, immer noch makellos bei Stimme, beendete Marilyn Horne ihre Opernkarriere. Einige Jahre gab sie noch Liederabende mit Folksongs und populären Melodien amerikanischer Komponisten wie Irving Berlin oder Stephen Foster. Mit ihrer Stiftung, der „Marilyn Horne Foundation“, ermöglichte sie bisher in 300 Projekten über 30.000 Studenten, sich in Opern- und Liedgesang zu vervollkommnen. Sie gibt Kurse und Meisterklassen an mehreren Universitäten in den Staaten. An der „Music Academy of the West“ in Santa Barbara, Kalifornien, verantwortet sie nicht nur Meisterklassen in Gesang, sondern auch szenische Opernaufführungen. Ihre Ehrungen und Auszeichnungen füllen eine seitenlange Liste. Bewahrt hat sie sich ihre unkomplizierte, warmherzige Persönlichkeit – und ihre strahlenden Augen. Immer wieder, so wird erzählt, sei sie auf der Durchreise in Gelsenkirchen aufgetaucht und habe alte Kollegen besucht: Ihr warmes, freundliches Herz wollte sie keiner Karriere der Welt opfern.

An ihrem 80. Geburtstag am 16. Januar präsentiert die Carnegie Hall New York eine Lied-Gala mit einer Reihe weltbekannter, mit Marilyn Horne verbundener Künstler, darunter Piotr Beczala, Renée Fleming, Samuel Ramey, Federica von Stade und ihr langjähriger Liedbegleiter Martin Katz. Gleichzeitig findet die jährliche Meisterklasse der Sängerin statt – diesmal mit Christa Ludwig als Gast. Im Sommer wird die Music Academy of the West in Santa Barbara zu Hornes Ehren Bizets „Carmen“ in Szene setzen. Die Sängerin hatte 1954 in dem Film „Carmen Jones“ ihre Stimme der Schauspielerin Dorothy Dandridge „geliehen“ – Hornes erstes größeres professionelles Engagement.

 




Der Traum zum Tode: Jules Massenets „Don Quichotte“ in Gelsenkirchen

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets "Don Quichotte" am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets „Don Quichotte“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Jules Massenets „Don Quichotte“ ist kein häufiger Gast auf den Musiktheaterbühnen. Dass er – nach einer Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – in zwei Spielzeiten gleich drei Mal in Nordrhein-Westfalen zu sehen ist, darf wohl dem Zufall zugeschrieben werden.

Wuppertal zeigte im Frühjahr eine auf ein subtiles Traumspiel konzentrierte Inszenierung von Jakob Peters-Messer, im Mai 2014 folgt das Theater Hagen, wo Gregor Horres Massenets Alterswerk auf die Bühne bringt. Und jetzt hatte der groteske Ritter, der seit Cervantes‘ Roman nicht mehr aus der Weltliteratur wegzudenken ist, seinen Auftritt in Gelsenkirchen – hier verantwortet von Elisabeth Stöppler.

Die Regisseurin hat sich unter anderem am Musiktheater im Revier die Basis einer Karriere erarbeitet, die sie inzwischen an große Häuser wie die Dresdner Semperoper geführt hat. Nicht zuletzt ihre Arbeit mit Benjamin Britten – zu erinnern ist an die szenische Version des „War Requiem“ 2011 – hat dazu beigetragen. Der „Don Quichotte“ ist ein weiteres Beispiel, wie Stöppler zum Kern eines Werkes vordringt und ihn in ausdrucksstarken Bildern freilegt.

Bei Massenet ist der alternde Adlige nicht der Träger einer idealistischen Erhabenheit und eines weltzersetzenden Humors wie bei Cervantes. Er ist auch nicht der Protagonist einer Komödie, die sich aus verstiegen-bizarrer Fantasie speist. Massenet stellt auf der Basis einer Fin-de-siècle-Tragikomödie von Jacques de Lorraine die Frage nach dem Anteil von Traum und Imagination an der Liebe. Für eine Zeit, die in Rausch und Traum aufregende Welten „hinter“ der physikalisch determinierten Realität entdeckt hat, ein hochaktuelles Thema. Dale Wasserman und Mitch Leigh haben in ihrem tiefsinnigen Musical vom „Mann von La Mancha“ das Thema weitergesponnen und reflektiert, ob nicht das, was gemeinhin als die reale Welt gilt, nicht erst durch den Begriff von der Welt konstituiert wird.

Reales, Imaginäres und Erträumtes verweben sich untrennbar

Elisabeth Stöppler rückt Massenets „Don Quichotte“ in genau diese Richtung: Bei ihr ist Don Quichotte weniger ein „Träumer“ als ein Mensch, in dessen Weltbegriff Reales, Imaginiertes und Erträumtes sich untrennbar verweben. Dazu lässt sie sich von Bühnenbildner Piero Vinciguerra eine hyperrealistische Villa bauen: Küche, Sanitärräume, Wohn- und Schlafzimmer, detailliert eingerichtet. Noch bevor ein Wort fällt, baut Stöppler die szenische Spannung zwischen den Protagonisten auf: Eine Hausangestellte – Dulcinée – reinigt Bad und Toilette, während im Obergeschoss ein alter Herr in seiner Bibliothek versonnen sein Cello streicht. Das Instrument, das ja oft als Symbol des weiblichen Torsos gilt, behält die Funktion als erotische Chiffre in der Inszenierung – ein Zeichen für die Klugheit, mit der Stöppler in ihrer Bildfindung ans Werk geht.

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Don Quichotte hat sich ein wenig in seine Zugehfrau verguckt. An dieser eher banalen Ausgangslage entzündet sich eine romantische Vorstellung. Sie gibt der Welt eine Bedeutungsebene, die am Ende nicht einlösbar ist: Das Gespinst aus Idee und Imagination wird schlagartig zerrissen, als Dulcinée den Heiratsantrag Quichottes brüsk ablehnt: In diesem Moment scheitert nicht nur die Konstellation, aus der die Komödie besteht – die Liebe eines versponnenen alten Mannes zu einer jungen Frau. Sondern, viel tiefer gründend, bedeutet er auch die Vernichtung des Weltbegriffs Don Quichottes. Ein Zusammenbruch, den Stöppler und Vinciguerra mit einer radikalen Reduktion der Bühne bildlich erfassen: Es bleibt nur das Sterbebett im Dunkel. Eine Szene, die über die Gestalt Don Quichottes hinaus in eine allgemeingültige Dimension wächst: Wo die Begriffe ihre gestaltende Kraft verlieren, bleiben nur noch Leerstellen: Der Mensch verliert sein Leben.

Der Weg dahin wird von Figuren flankiert, die zunächst aus der unmittelbaren Lebenswelt des Ritters kommen – seine Familie –, sich dann aber zu einer Galerie von Lebensentwürfen erweitern. Die vorzüglich agierenden Gelsenkirchener Choristen verwandeln sich in Gestalten aus Historie und Fiktion: Superman, Mutter Teresa, Fidel Castro, Fred Astaire, Elvis Presley; den Meister der dämonischen politischen Fantastik Adolf Hitler und den Schöpfer surrealer Welten Salvador Dalí. Stöppler zeigt damit, wie sich die Grenzen von Don Quichottes Weltentwurf immer weiter ins Imaginäre verschieben, aber auch, wie die Fiktion auf die Realität einwirkt – am Beispiel von Menschen, die auf welche Weise auch immer durch ihre Visionen ihre Welt geformt haben. Diese Menagerie der Geschichte ist die große Stunde des Kostümbildners Frank Lichtenberg: der fantastische Realismus seiner Entwürfe balanciert genau auf der Nahtstelle zwischen Tatsächlichkeit und Vorstellung.

Wo endet die Realität - wo beginnt die Imagination? Szene aus "Don Quichotte" mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wo endet die Realität – wo beginnt die Imagination? Szene aus „Don Quichotte“ mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wieder einmal bestätigt das Gelsenkirchener Orchester, die Neue Philharmonie Westfalen, dass es mit einem bemerkenswerten Fortschritt in seiner Klangkultur in der Oberliga in Nordrhein-Westfalen mitspielen kann. Dirigent Valtteri Rauhalammi betont nicht so sehr die veristischen Einflüsse in der eklektischen Partitur Massenets, sondern arbeitet die impressionistischen Momente heraus: Klangschattierungen und dynamische Finessen, die eher an Debussy als an Mascagni erinnern. Und er beleuchtet den „Wagnerisme“ Massenets: Momente in der Musik, die an Wagner erinnern, ohne ihn zu imitieren. Der Rang dieses Spätwerks wird hörbar.

Die Solisten auf der Bühne, darstellerisch ebenso gefordert wie musikalisch, bleiben Massenet nichts schuldig. An Stelle des in der Premiere gefeierten Krzysztof Borysiewicz sang Jongmin Lim die Titelpartie nobel zurückhaltend, auf subtile Valeurs mehr achtend als auf den Glanz der großen Töne. Den Mann, der in Don Quichottes Dasein das unlösbare Band mit der banalen Welt des Alltags verkörpert, war Dong-Won Seo: Sein Sancho Pansa, manchmal zu guttural eingefärbt, ließ nachvollziehen, wie sich jemand, der sich zunächst mit dem Vorgegebenen arrangiert, die Schönheit und Kraft einer Vision zu entdecken beginnt.

Almuth Herbst setzte einen vollen, saftigen Mezzo ein, um die Facetten Dulcinées auszudrücken: zuerst arglose Putzfrau, dann Klischeebild der verführerischen Spanierin, schließlich ungewollt verderbliche femme fatale. Berechtigte Begeisterung: Mit diesem „Don Quichotte“ knüpft das Musiktheater im Revier an seine große Tradition wegweisender Inszenierungen an und setzt einen markanten Akzent in der Rhein-Ruhr-Theaterlandschaft.

Massenets „Don Quichotte“ gibt es im Gelsenkirchen noch an sechs Abenden zwischen 28. Dezember und 15. Februar 2014.




Vom Flug der Seele: „Schwanensee“ als brillantes Kammerspiel in Gelsenkirchen

Fragiles Wesen, ins Herz getroffen: Kusha Alexi als Schwanenprinzessin Odette (Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Fragiles Wesen, ins Herz getroffen: Kusha Alexi als Odette (Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Der schöne Hals ist grausam verdreht. Der Kopf zuckt krampfhaft, wie in Agonie. Sie ist ein trauriger Anblick, diese hilflose Kreatur, die Odette heißt und zu Beginn des Abends noch ein stolzer weißer Schwan war. Die Zaubermacht, über die sie einst verfügte, die erlösende Kraft der Liebe, hat sich auf tragische Weise gegen sie gekehrt. Da liegt sie nun, zerschmettert, vernichtet.

Es ist fürwahr ein Paukenschlag, mit dem Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner in ihre zweite Spielzeit startet. Hatte sie doch den Mut, sich mit ihrer nur 14-köpfigen Compagnie an „Schwanensee“ zu wagen, den Ballettklassiker schlechthin, märchenhaft, romantisch, opulent. Aus der Not, sprich aus dem Fehlen eines großen Corps de ballet eine Tugend zu machen, fiel Breiner dabei erst gar nicht ein. Lieber nahm sie den bekannten Stoff zum Anlass, Neues zu schaffen: ein dichtes psychologisches Kammerspiel über zwei Unglückliche, die die Liebe befreit, perfekt zugeschnitten auf ihre Compagnie und auf eine starke Primaballerina, die erfahrene Tänzerin Kusha Alexi.

Alexi ist anderer Art als die feenhaft-ätherischen Wesen im Tutu, die für gewöhnlich als Odette über die Bühne schweben. Ihre Schultern sind knabenhaft eckig; jeder einzelne ihrer stählern durchtrainierten Muskeln tritt deutlich hervor. Betont schlicht kostümiert, verkörpert sie ein wundersames Naturwesen, kraftvoll und doch bestürzend fragil. Ihrem Element unglücklich verhaftet – und darin der Nixe Undine nicht unähnlich – ist sie ständig von drei Schatten umgeben, die sie halten und heben, aber auch fesseln (kraftvoll: Joseph Bunn, Junior Demitre, Petar Djorcevski).

Das ändert sich, als Odette dem Prinzen begegnet (Ordep Rodriguez Chacon). Aus ihrem ersten Pas de deux formt Bridget Breiner ein kleines Wunder der Ballettkunst. Nicht genug damit, dass sie uns sämtliche Stadien der Annäherung zeigt, von anfänglicher Furcht und wachsender Zuneigung zur jubelnden Ekstase des Glücks. Hier, auf der Gelsenkirchener Bühne, befreien sich zwei Wesen aus deprimierender Existenz. Unverhofft finden sie ineinander die Erlösung, nach der sie bislang vergebens suchten.

Der Prinz (Orden Rodriguez Chacon) und die Schwanenprinzessin (Kusha Alexi. Foto. Sebastien Gallier/MiR)

Der Prinz (Ordep Rodriguez Chacon) und die Schwanenprinzessin (Kusha Alexi. Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Kusha Alexi und Ordep Rodriguez Chacon tanzen das mit begeisternder, kompromissloser Hingabe. Die starre Formensprache des klassischen Balletts schmilzt dahin, je mehr Feuer die beiden entwickeln. Die Bewegungen werden immer freier und fließender, die Schrittfolgen immer leichter und schneller. Die Hände streben zum Himmel, die Füße enteilen der Erdenschwere, die ausgebreiteten Arme sind endlich bereit, die Welt zu umarmen. Die Zartheit, mit der dieses Paar einander führt und berührt, sprengt jede Fessel.

Es ist kein schwarzer Schwan, sondern die Verlobte des Prinzen, die das Glück des Paars zerstört. Aidan Gibson verkörpert den denkbar größten Gegensatz zur Schwanenprinzessin: Sie ist eine perfekte Blonde, puppenhaft kühl, und natürlich beherrscht sie die den höfischen Formenkanon vollendet. Gibson führt diese Ästhetik mit großer Eleganz vor. Brillant und vergnüglich wird der Abend, wenn Bridget Breiner spöttische Seitenhiebe auf Schwanensee-Klischees einbringt. Dann macht sich die Hofgesellschaft mit albern flatternden Armbewegungen über den Prinzen lustig, und die Hofdamen exerzieren den Pas de quatre der Schwäne mit genussvoller Häme.

Die kleinen, aber quirligen Ensembles bereiten Freude, zumal Breiner eine hübsche Charakterrolle in Gestalt eines frechen Gassenjungen eingebaut hat, der sich später als Mädchen entpuppt (Maiko Arai). Und natürlich kann sie sich auf ihre Compagnie verlassen, die ihre Sicht auf Schwanensee mit allem Herzblut unterstützt. Erstaunlich organisch fügen sich drei Tschaikowsky-Lieder in den Abend ein, die Breiner für intime Seelenstudien nutzt. Die neue Philharmonie Westfalen haucht Tschaikowskys Musik unter der Leitung von Heiko Mathias Förster nach sprödem Beginn durchaus Kraft und Glanz ein. Auch intime lyrische Momente und virtuose Violinsoli lassen aufhorchen.

Der Freund des Prinzen (Valentin Juteau) und eine Hofdame (Francesca Berruto. Foto: Sebastien Gallier/MiR)

Der Freund des Prinzen (Valentin Juteau) und eine Hofdame (Francesca Berruto. Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Unterdessen muss Odette mit ansehen, wie ihr Prinz sich von der perfekten Grazie seiner Verlobten blenden lässt. Umhergestoßen und verhöhnt, wird sie Augenzeugin seines Verrats. Von diesem Augenblick an werden die Schatten zur unüberwindlichen Barriere. Vergebens, dass es Odette und dem Prinzen noch einmal gelingt, sie zu überwinden: Dieser zweite Pas de deux, er ist auch schon ihr letzter. Beide kleben am Boden, der Zauber wirkt nicht mehr, alle Leichtigkeit ist dahin. Odette liegt da wie eine Gekreuzigte, das Gesicht nach unten. Die Flügel zucken noch, aber sie sind gebrochen. Der Traum vom Fliegen ist aus.

(Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Ballett/Schwanensee/)




Flügellahmer Firlefanz: Rossinis „Italienerin“ landet in Gelsenkirchen im Regenwald

Ab nach Hause: Die Italiener haben die Nase voll vom Dschungel (Foto: Pedro Malinowski)

Ab nach Hause: Die Italiener haben die Nase voll vom Dschungel (Foto: Pedro Malinowski)

Die Stärken von Gioacchino Rossinis komischen Opern verkehren sich im heutigen Theaterbetrieb leicht in ihr Gegenteil. Wo der erfindungsreiche Bonvivant aus Pesaro einst mühelos unterhielt, wo er mit geschliffener Ironie und funkelnder Spottlust zu Felde zog, holpern und stolpern Neuproduktionen oft mühsam zwischen lahmen Gags, derben Schenkelklopfern und platten Aktualisierungsversuchen. Dann wird aus turbulenter Komik eine bunte Klamotte, aus geistreichem Vergnügen eine alberne Farce.

So ist es jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater geschehen, das für die temporeiche Komödie „Die Italienerin in Algier“ eines der aufwändigsten Bühnenbilder hat aufbauen lassen, die es je an diesem Hause gab. Der zerborstene Flugzeugrumpf, dessen Teile in einem dichten Regenwald liegen, wanderte nach seiner Premiere im französischen Nancy in vielen Einzelteilen ins Ruhrgebiet. Seit dem Sommer wurde er hier zusammengesetzt und mit diversen Konstrukten aus Bambus umbaut. Denn Isabella und ihr Lindoro versuchen nicht aus Algier zu fliehen, sondern von einer fiktiven Südseeinsel, deren einfältiger Regent namens Mustafà sich häuslich in dem aufgerissenen Flieger eingerichtet hat.

Ein spektakulärer Anblick ist dies, verwirklicht durch den MiR-Bühnenbildner Rifail Ajdarpasic. Und doch hat er der Regie einen Bärendienst erwiesen, denn das tonnenschwere Wrack erdrückt die gesamte Produktion. Regisseur David Hermann, der Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Deutschen Oper Berlin eindrucksvoll in Szene setzte, bleibt in Gelsenkirchen kein Raum für Feingeistiges – und schon gar nicht für Eleganz. Ohne sie schmeckt aber selbst ein jugendlicher Geniestreich wie die „Italienerin“ eher nach Hausmannskost als nach Trüffelleber.

Quintett im Flugsessel: Carola Guber, Hongjae Lim, Alfia Kamalova, Krzysztof Borysiewicz und Piotr Prochera (v.l., Foto: Pedro Malinowski)

Quintett im Flugsessel: Carola Guber, Hongjae Lim, Alfia Kamalova, Krzysztof Borysiewicz und Piotr Prochera (v.l., Foto: Pedro Malinowski)

Beim Zusammenprall der Kulturen geht es absehbar derb zu: Die einen haben dem Kannibalismus noch nicht ganz abgeschworen, die anderen saufen die Bordbar leer, bevor sie zu Rossinis vorwärts treibenden Crescendo-Walzen das Tanzbein schwingen. Die Kostümabteilung zieht alles aus dem Fundus, was nicht niet- und nagelfest ist: Südseemasken, Federfummel, Seiden-Saris, Uniformen, Muschelketten, Goldschmuck, Orden, Sonnenbrillen, Macheten und vieles mehr. Um Mustafà zu betören und schließlich zu übertölpeln, muss Carola Guber (Isabella) fortwährend Schultern und Hüften schwingen, obgleich ihre Statur mehr einer Brünnhilde zuneigt als einer Salomé. Immerhin bietet das Finale des ersten Aktes einen Moment köstlich überdrehten Unsinns. Da reicht ein Statist Kühlelemente von Bord, damit die Köpfe des völlig verwirrten Sextetts nicht gänzlich überhitzen.

Gesungen wird ansprechend, wenngleich nicht brillant. Isabella Guber ist koloratursicher und behält die Fäden sicher in der Hand. Piotr Prochera vereint als Taddeo sonore Stimmqualitäten mit südländischer Quirligkeit. Alfia Kamalova (Elvira) und Anke Sieloff (Zulma) sind verlässliche Partner. Als Lindoro überrascht Hongjae Lim immer wieder mit Bögen voller Belcanto-Schmelz und Strahlkraft. Einzig der Bass von Krzysztof Borysiewicz zeigt bei der Premiere wenig Kern: Sein Mustafà bleibt ein blasser Tölpel, der sein Macho-Gehabe stimmlich nicht untermauern kann. Der Finne Valtteri Rauhalammi, seit August 2012 erster Kapellmeister des Hauses, dirigiert einen heiteren Rossini, der zuweilen recht brav und kultiviert klingt. Mancher mag da anarchischen Witz vermissen; andererseits verzichtet Rauhalammi auf krachende Effekte.

Für ihre Flucht bekommen die Italiener den flügellahmen Vogel am Ende angeblich wieder flott. Schade, dass wir davon nicht ein bisschen mehr bemerkt haben.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Geschundenes Teufelsweib: Schostakowitschs „Lady Macbeth“ in Gelsenkirchen

Katerina Ismailowa (Yamina Maamar) wird von ihrem tyrannischen Schwiegervater unterdrückt (Tomas Möwes, Foto: Karl Forster)

Katerina Ismailowa (Yamina Maamar) wird von ihrem tyrannischen Schwiegervater unterdrückt (Tomas Möwes, Foto: Karl Forster)

26 Jahre alt war Dmitri Schostakowitsch, als er es wagte, Stalins Sowjetunion erneut den Spiegel vorzuhalten. Mit den Mitteln der Groteske wirft seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ grelle Schlaglichter auf brutale Herrschaftsstrukturen und den viehisch verrohten Menschenschlag, den sie hervor bringen. Das Gelsenkirchener Musiktheater zeigt das tollkühne Meisterwerk jetzt in der Fassung, die Hausherr Michael Schulz vor anderthalb Jahren für die Bühne des Staatstheaters Kassel erarbeitete.

Die Schwärze der menschlichen Abgründe, in die Schostakowitsch uns blicken lässt, hebt sich trefflich von Dirk Beckers weißer Bühne ab, in der ein paar junge Birken Natur andeuten. Im Schlussbild senkt sich die Decke herab: Ihre kreisrunde Öffnung zum Himmel verwandelt sich dann zur Mauer eines Konzentrationslagers. Weshalb die Titelheldin Katerina Ismailova und ihr Geliebter Sergej letztlich dort enden, erzählt Michael Schulz mit klarem Blick auf die desolaten Verhältnisse und sicherem Gespür für die Psychologie der Figuren.

Katerina, dieses lebenshungrige Teufelsweib, lauert wie ein Tier hinter dem Gazevorhang, vor dem ihr tyrannischer Schwiegervater patrouilliert wie ein drohender Schatten. Sie muss morden, wenn sie leben will, findet ihrer Verbrechen wegen aber keinen Frieden. Ihren Weg vom Opfer zur Täterin, die abermals benutzt und gebrochen wird, arbeitet Schulz mit reduzierten Mitteln gekonnt heraus. Er holt die Blechbläser auf die Bühne, auf dass ihre wüsten Fanfaren uns die ganze Geilheit und Falschheit dieser Welt in die Ohren trompeten.

Schwach wird die schlüssige Inszenierung nur dann, wenn sie der Satire zusätzliche Lustigkeit aufpfropfen will. Dann spielt eine Turnsportgruppe mit einer Stalin-Büste Fangen, und die Komsomolzen-Parade im dritten Akt schwenkt statt roter Fahnen plötzlich Luftballons. Solche Clownerien fordern ein glucksendes Lachen heraus, das angesichts der Millionen Opfer von Stalins blutigem Zirkus besser im Halse stecken bliebe.

Schier Unglaubliches klingt dafür aus dem Orchestergraben. Von dort hämmern uns orgiastische Ausbrüche und wüst rammelnde Rhythmen entgegen. Vulgarität und Rohheit spritzen aus der Partitur, verzerrte Operetten-Zitate träufeln ätzende Ironie hinein. Die Musik höhnt und stöhnt, aber die Neue Philharmonie Westfalen flankiert die erschreckenden Exzesse mit zärtlichsten Rusalka- und Tristan-Klängen, wenn Katerina ihr kurzes Liebesglück genießen darf. Der bereits viel gerühmte Aufschwung, den das Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann genommen hat, ist nach dieser Premiere endgültig als Sensation einzustufen.

Große Klanggewalt entfalten auch Opern- und Extrachor des Theaters. In der Titelpartie zeigt der Sopran von Yamina Maamar neben glutvollem Trotz und fordernder Leidenschaft zuweilen Schärfen, berührt aber in den leisen Momenten, in denen Katerina die Ausweglosigkeit ihrer Lage begreift. Lars-Oliver Rühl klingt als Sergej häufig statisch, gleicht Defizite aber durch schauspielerische Vehemenz aus. Als völlig verhärteter Gutsbesitzer, der gleichwohl Sorgen kennt, überzeugt Tomas Möwes mit charakterstarkem Bariton.

Wenn Katerina diesen grausamen Schwiegervater vergiftet, ahnt sie ihr eigenes Ende noch nicht. Denn so tief kann der Mensch offenbar nicht sinken, dass er keinen noch Elenderen fände, um ihn zu treten und zu schinden.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Nähere Informationen zum Stück/Karten: www.musiktheater-im-revier.de)




Schwungvoller Start: Gelsenkirchens neue Ballettchefin im „Ersten Gang“

Wenn Drei um Eine buhlen: Szenenfoto aus Bridget Breiners Choreographie „Sirs“ (Copyright: Costin Radu)

33 Jahre lang stand der Name von Bernd Schindowski für den Tanz in Gelsenkirchen. Nun ist der Wechsel da: Die gebürtige US-Amerikanerin Bridget Breiner wirkt fortan als Ballettdirektorin am Musiktheater im Revier (MiR). Sie arbeitet mit einer zwölfköpfigen Compagnie und mit Gästen, die als Residenzkünstler an das Haus gebunden sind.

Von vielen neuen Gesichtern ist daher zu berichten, von frischem Schwung und von einem vielversprechenden Anfang. Der erste Tanzabend, mit dem Breiner und ihre Compagnie sich jetzt vorstellen, bietet unter dem Titel „Der erste Gang!“ nicht weniger als zehn verschiedene Choreographien. Ein „bunter Strauss“, wie von Intendant Michael Schulz angekündigt, wurde zum Glück nicht daraus. Vielmehr reihen sich kleine Piècen von namhaften Choreographen zu einem kurzweiligen Abend, der den künstlerischen Anspruch der neuen Ballettchefin gleichwohl deutlich formuliert. Die in Ohio geborene Künstlerin errang Solisten-Positionen am Bayerischen Staatsballett, am Ballett der Dresdner Semperoper und am Stuttgarter Ballett, bevor ihr Weg ins Ruhrgebiet führte. Tief im klassischen Repertoire verwurzelt, vermag sie Spitzentanz und modernes Bewegungsvokabular mit glücklicher Hand zu verbinden.

Wie leicht ihr das gelingt, zeigt ihre Choreographie „La Grande Parade du Funk“ gleich zu Beginn. Aidan Gibson und der ungemein athletische Joseph Bunn wirbeln in einem Pas de Deux über die Bühne, der glamouröse Eigendarstellung durch selbstironische Coolness unterläuft. Es ist dieser intelligente, zuweilen durchaus freche Humor, der den Abend auch im weiteren Verlauf immer wieder einen Zentimeter vom Boden abheben lässt. Wenn drei Tänzer in „Sirs“ um eine kokette Dame buhlen (Maiko Arai), kommt das ritualisierte Cowboy-Gehabe fließend, synchron und herrlich lässig über die Bühnenrampe.

Aber Breiners Compagnie fächert viele weitere Facetten auf. Aufregend kraftvoll tanzt der Brasilianer Junior Demitre das Solo „Cultural Cannibalism“ von Luiz Fernando Bongiovanni. Seine raumgreifenden, von starker Rhythmik geprägten Bewegungen wirken wie ein Manifest des Machismo: hochfahrend und selbstsicher, lässig und provokant. Mächtig legen auch Kusha Alexi und Iván Gil Ortega los, die „In the Middle, somewhat elevated“ von William Forsythe mit Energie aufladen, bis es wie gefahrvoller Wechselstrom zwischen ihnen fließt.

Die ruhigen Stücke des Abends hinterlassen keinen geringeren Eindruck. Mit abgezirkelten, bis in die Fingerspitzen kalkulierten Bewegungen durchmisst Bojana Nenadovic die „Architektur der Stille“ von Edward Clug. Gemeinsam mit Wieslaw Dudek weitet sie Renato Zanellos Pas de Deux zum berühmten „Adagietto“ von Gustav Mahler zu einer berührenden Studie über Aufbruch und Ermattung, Sehnsucht und Resignation. Bridget Breiner selbst stellt sich mit dem Solo „Tué“ von Marco Goecke vor.

Zu hektischen, quasi hyperventilierend gesungenen Chansons von „Barbara“ tanzt sie mit flatterhaften, frenetischen Bewegungen, die dieser Musik bis ins Detail entsprechen. In ihrer neuen Choreographie „Blau Blue Bleu“ zum „Amerikanischen Quartett“ von Antonin Dvořák, inspiriert von Yves Kleins Gemälden im Foyer des Musiktheaters, versetzt Breiner den Traditionen des Klassischen Balletts freche Seitenhiebe. Die eindrucksvolle, ungemein ästhetisch beleuchtete Bühne von Jürgen Kirner lässt dazu Kunstnebel in einem Glaskasten zirkulieren.

„Der Erste Gang!“ war für Bridget Breiner und ihre Compagnie ein voller Erfolg. Wir sind gespannt auf Weiteres.