Ungeahnte Leuchtkraft der Farben – Heinz Mack (92) stellt in Hagen aus

Der Künstler Heinz Mack (92) und Hagens Osthaus-Museumsdirektor Tayfun Belgin (li.) vor einem Bild von Mack. (Foto: Bernd Berke)

„Ich bin ein stolzer Maler!“ Das sagt der heute 92-jährige Künstler Heinz Mack im Hagener Osthaus-Museum. Dort zeigt er rund 70 neuere Arbeiten, die von ungebrochener Vitalität zeugen.

Seine künstlerischen Anfänge reichen weit zurück. 1957 gründete er mit Otto Piene die Avantgarde-Gruppe ZERO, der sich bald darauf auch der „Nagelkünstler“ Günther Uecker anschloss. Heinz Mack hat sich schon 1963 von der Tafelmalerei verabschiedet und sich vollends auf Skulptur und Kinetik verlegt. Damals sah nicht nur er die Malerei „am Ende“. Doch um 1991 hat er wieder zu malen begonnen und ist bis heute dabei geblieben.

Mack betrachtet sein Oeuvre nicht chronologisch. In Japan habe er die asiatische Sichtweise kennengelernt. „Dort denkt man nicht linear, sondern in Zyklen.“ Auch sein Werk zeichne sich durch kreisende Wiederkehr aus, nicht durch fortschreitende Entwicklung. Von einer Wiederholung des Immergleichen kann jedoch nicht die Rede sein. Mack selbst spricht von der „Kraft des Wachsens“.

Heinz Mack in seinem spanischen Atelier neben einer 2022 entstandenen „Chromatischen Konstellation“. (Foto: © Courtesy Archiv Atelier Mack)

Seit Picasso, so Mack weiter, gehe es in der Kunst nicht mehr um Komposition, sondern um Strukturen. Dieser Entwicklung habe auch er sich nicht entziehen können. Deutlich wird dies in seriellen Mustern seiner Reliefs oder in subtilen Farbstufungen seiner meist titellosen Bilder. Vor allem die Übergänge zwischen verschiedenen Farben erprobt er bis in alle Nuancen.

Eigentlich inspiriere ihn alles, sagt der Künstler. Er gehe „mit offenen Augen durch die Welt“ und orientiere sich an der Natur, auch im mikroskopischen Bereich. Gerade da zeigten sich die wunderbarsten Strukturen. Es sind Anregungen sondergleichen.

Ein Raum der Osthaus-Schau verblüfft mit großformatigen Bildern in Schattierungen von Schwarz, Weiß und Grau. Selbst diese Tönungen beginnen auf ihre Art zu leuchten. Erst recht erstrahlen die farbstarken Arbeiten. Heinz Macks Bekenntnis: „Licht i s t eine Farbe“. Ergo: Farbe zeichne sich vor allem durch Leuchtkraft aus.

Glücklicher Moment: Heinz Mack umarmt seine Tochter Valeria in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Heinz Mack lebt auf einem Anwesen bei Mönchengladbach (und auf Ibiza): „Ich bin da von lauter Frauen umgeben, die mir bei der Arbeit helfen.“ Allen voran seine Ehefrau Ute und seine Tochter Valeria, die Kunstgeschichte studiert hat, zur Vorbesichtigung nach Hagen kam und vom Vater beim Pressetermin ganz spontan herzlich umarmt wurde. Ein anrührender Moment.

Neben der täglichen Malerei beschäftigen ihn vor allem archivarische Katalogisierungen seiner Werke, die sich auf fünf größere Lagerstätten verteilen. Hinzu kommen viele, viele seiner Bilder und Objekte in über 140 öffentlichen Sammlungen. Der Mann hat mehr als 400 Einzel- und zahllose Gruppenausstellungen absolviert. Wie soll da jemand den Überblick behalten? Sogar der Künstler selbst tut sich da manchmal schwer. Der Schöpfer ist eben höchstens in zweiter Linie Archivar.

Heinz Mack – „Das Licht in mir“. Bis zum 3. September 2023 im Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navi-Info: Hochstraße 73). Geöffnet Di-So 12-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 7 Euro, diverse Ermäßigungen. Telefon 02331 / 207 3138.

www.osthausmuseum.de




Der nächste Promi im Osthaus Museum: Dieter Nuhr als Fotograf

Vom Hagener Museumsdirektor aufgenommen: Dieter Nuhr mit digitaler Fotografie in seinem Atelier. (Foto: © Tayfun Belgin)

Die Zielrichtung ist unverkennbar: Schon wieder setzt das Hagener Osthaus Museum mit Aplomb auf den Promi-Faktor.

Wir erinnern uns, mehr oder weniger flüchtig: Zuerst hat der weltberühmte Hollywood-Star Sylvester Stallone („Rambo“, „Rocky“) hier seine Gemälde präsentiert, dann kam der Popmusiker Bryan Adams mit seinen Fotografien an die Reihe. Und jetzt? Stellt wieder jemand aus, den man aus anderen Bereichen kennt, allerdings eher im deutschen Sprachraum.

„Von Fernen umgeben“

Man weiß ja nicht einmal so recht, wie man seine Berufssparte bezeichnen soll. Ist er Comedian? Kabarettist? Satiriker? Naja, vielleicht irgend etwas in dieser groben Richtung. Es ist jedenfalls Dieter Nuhr, der – weit abseits seiner sonstigen Tätigkeit – „in fast 100 Ländern“ auf den Auslöser gedrückt hat und jetzt (vom 8. Mai bis zum 26. Juni) einige Resultate seiner digitalen Fotografie im Museum vorzeigt. Poetisierender Titel der Schau: „Von Fernen umgeben“. Man ist ja dankbar, dass die Chose nicht etwa „Nuhr belichtet“ oder so ähnlich heißt. Tatsächlich ist es technisch mehr als das. Laut Vorankündigung des Museums malt Nuhr, der auch einmal Kunst studiert hat, mit dem „digitalen Pinsel“, erzeugt also Bilder aus fotografischen Daten.

„Linke“ werden kaum begeistert sein

Wie auch immer: Etwas weiter „links“ angesiedelte Leute werden sich bei der bloßen Namensnennung mit Grausen abwenden und vielleicht alpträumen, dass der bei ihnen ebenso verpönte Harald Martenstein womöglich einen Katalogtext verfasst hat (was nicht der Fall ist). Oder sie bleiben gelassen und sagen sich feixend: Hauptsache, Dieter Nuhr steht nicht auf der Bühne. Mit Fotos kann er ja wohl nicht so viel anrichten. O, wie hinterhältig wäre das. Aber immer noch besser als „Cancel Culture“, oder?

Altbau des Hagener Osthaus Museums, bei Regen durch die Frontscheibe des Autos aufgenommen. Und nein: Das Bild soll nicht „trübe Aussichten“ bedeuten. (Foto: Bernd Berke)

„Demnächst“ eine Ausstellung in Russland?

Osthaus-Direktor Tayfun Belgin ist sozusagen in die Schlusskurve seiner aktiven Museumslaufbahn eingebogen. Offenbar hat er sich für die letzte Strecke vor dem Zieleinlauf vorgenommen, nicht mehr nur der hehren Kunst zu frönen, sondern auch noch einmal ordentlich „Betrieb“ zu machen und mit gesteigerten Besuchszahlen zu glänzen. Man darf schon jetzt gespannt sein, wer mit welchem Konzept seine Nachfolge antreten wird. Und wie es überhaupt weitergeht.

Ach so, übrigens: „Demnächst“, so heißt es auf der Museums-Homepage ganz nebenbei, werde Nuhr seine Fotografien auch im Puschkin-Museum zu St. Petersburg ausstellen. In Russland. Stimmt das wirklich? Immer noch?




Abermals Promi-Faktor im Osthaus Museum: Nach Sylvester Stallone ist Bryan Adams an der Reihe – als vielseitiger Fotograf

Schwer kriegsversehrt und mit Auszeichnungen dekoriert: Sergeant Rick Clement. (© Bryan Adams)

In Hagen gibt sich die internationale Prominenz aus vermeintlich museumsfremden Bereichen die Klinke in die Hand.

Noch für dieses Wochenende (bis 20. Februar) sind Gemälde des weltbekannten Hollywood-Stars Sylvester Stallone im Osthaus Museum zu sehen. Und sogleich beginnt am Sonntag eine neue Schau der Rock- und Pop-Größe Bryan Adams. Der wiederum verdingt sich seit längerer Zeit auch als beachtlicher Fotograf.

Es sieht fast so aus, als sei dieser Ansatz das neue Konzept des Museumsleiters Tayfun Belgin. Darüber ließe sich trefflich diskutieren. Jedenfalls versichert Belgin, der Name Stallone habe spürbar die Besuchszahlen gesteigert. Genaueres möchte er aber noch nicht verraten. Schließlich käme ja noch dieses Wochenende hinzu…

Blick in die Hagener Ausstellung – hier mit Bryan Adams‘ Porträts von Mick Jagger und Amy Winehouse. (© Bryan Adams / Ausstellungs-Foto: Bernd Berke)

Weltstars, Obdachlose und Verwundete

Bryan Adams hatte – wie man sich denken kann – relativ leichten Zugang zu seinesgleichen, sprich: zu zahlreichen anderen A-Promis wie zu Beispiel Mick Jagger, Amy Winehouse, Linda Evangelista, Kate Moss, Ben Kingsley oder auch Wim Wenders, Helmut Berger und den Mannen von Rammstein. Dabei sind Fotografien entstanden, die mitunter durchaus Ikonen-Qualitäten haben. Selbst der Queen hat Adams anno 2008 im Buckingham Palace ein besonderes Lächeln abgewonnen. Sie sitzt ganz entspannt auf einem Stuhl, neben ihr stehen zwei Paar Gummistiefel, als wollte sie sich gleich nach der Fotositzung rustikal auf den Weg machen.

Adams‘ großformatig ausgestellte Motive für den berühmt-berüchtigten Pirelli-Kalender 2022 (längst nicht mehr so lasziv wie ehedem) kommen hinzu. Erstmals darf ein Museum solche Bilder zeigen.

Noch ungleich eindrucksvoller ist freilich die ganz andere Seite des Fotografen Bryan Adams, der uns schmerzlich frontal mit Bildnissen von Obdachlosen (Serie „Homeless“) oder fürchterlich Kriegsversehrten (Serie „Wounded: The Legacy of War“) konfrontiert, die in Afghanistan und im Irak gekämpft haben. Das sind Ansichten, die man erst einmal aushalten muss.

Selbstporträt Bryan Adams. (© Bryan Adams)

Bryan Adams: „Exposed“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1. Vom 20. Februar bis zum 24. April. Di-So 12-18 Uhr. Tel.: 02331/207 3138.

www.osthausmuseum.de

Mitte März will sich Bryan Adams seine Hagener Ausstellung persönlich anschauen.

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Nachtrag am 24. Februar: Die Bilder der Kriegsversehrten bekommen noch einmal akutere Bedeutung, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat.




Wie ich einmal Sylvester Stallone verpasst habe (obwohl er seine Gemälde in Hagen zeigt)

Offenbar gut gelaunt: Sylvester Stallone beim morgendlichen „Medienevent“ im Hagener Osthaus Museum – vor einem seiner Gemälde. (© sabinebrauerphotos)

Um die Überschrift gleich klarzustellen: Natürlich sehe ich den weltbekannten Sylvester Stallone auch sonst nicht, habe ihn überhaupt noch nie leibhaftig gesehen. Doch heute hätte es eine Gelegenheit gegeben, und zwar – man höre und staune – in Hagen.

Im dortigen Osthaus Museum werden jetzt einige seiner Gemälde gezeigt. Der Mann malt, wenn seine Zeit es erlaubt, seit Jahrzehnten leidenschaftlich. Der Hagener Termin wurde denn auch nicht als schnöde Pressekonferenz oder kreuzgewöhnliche Ausstellungs-Vorbesichtigung angekündigt, sondern als „Medienevent“ mit Pressecounter, Check-In, 2G-Regel und sonstigem Zipp und Zapp. Wow!

Als Jungredakteur wäre ich sogleich elektrisiert gewesen. Doch als nunmehr etwas älterer Knabe bin ich, obgleich akkreditiert (dafür Dank) und füglich dreifach geimpft, dann doch nicht hingefahren. Als ich die Wetterprognose (Nullgrade, Glatteisgefahr) hörte und auch noch vernahm, dass Hagen vor Innenstadt-Baustellen derzeit nur so strotze, dachte ich bei mir: Selbst für Stallone möchte ich mir das nicht antun und mir erst recht nicht die Gräten brechen. Sorry.

Das ist ja das Schöne, wenn einem kein Chef-Darsteller mehr etwas vorzuschreiben hat: Man kann manche Dinge auch einfach mal bleiben lassen. Ein solches Versäumnis schmälert das Leben nur ganz unwesentlich; wenn überhaupt.

Sylvester Stallones Gemälde „Hercules O’Clock“. (© Courtesy Galerie Gmurzynska)

Kleiner Rückblick nach dem Motto „Was bisher geschah“: Vor ein paar Jahren hat mich ein wilder Haufen männlicher Nachbarn gedrängt, allen etwaigen Feinsinn fahren zu lassen und endlich einmal ein Video von „Rambo“ anzuschauen. Widerstrebend habe ich mich darauf eingelassen, hab’s tapfer durchlitten und mich beim gemeinsamen Videoabend mit Jacques Tati („Mon Oncle“) als zweitem Programmpunkt revanchiert – ein nahezu größtmöglicher Kontrast zum vorherigen Action-Geballer. Was ich damit sagen will? Ich bin „vorgeschädigt“, was Sylvester Stallone angeht, der bekanntlich „Rambo“ verkörpert hat.

Was habe ich heute wohl versäumt? Mit Sicherheit ein ziemliches Medien-Gerangel, ein Blitzlichtgewitter, wie es Hagen höchstens alle paar Jahre erlebt. Dazu Kameras und Mikrofone sonder Zahl. Es dürfte auf diesem Planeten nur wenige geben, die es an globaler Bekanntheit mit Sylvester Stallone aufnehmen können, der ja u. a. auch den legendären Boxer „Rocky“ Balboa gespielt hat. Nach ersten Vorberichten („Stallone kommt nach Hagen“) haben sich denn auch etliche Menschen aus der Region angelegentlich erkundigt, wie und wo sie Sylvester Stallone in Hagen live erleben können. Das vorherrschende Lokalblatt (Westfalenpost) gelobte daraufhin maximale Zurückhaltung in seiner diesbezüglichen Informationspolitik.

Selbige Zeitung begleitete heute Syvester Stallones Erscheinen ganz aufgekratzt. Rund 100 Fans des Filmstars hätten sich denn doch am Osthaus Museum eingefunden (von wem hatten sie wohl die Tipps?). Stallone sei einer schwarzen Limousine entstiegen, von Bodyguards abgeschirmt worden und habe dennoch ein paar Autogramme geschrieben. Nett von ihm. Die Vermutung steht im Raum und ist kaum von der Hand zu weisen: Die meisten Menschen wollen vielleicht gar nicht so sehr Stallones Bilder sehen, sondern den Filmstar himself.

Stolz auf den Coup: Hagens Museumsdirektor Tayfun Belgin mit Sylvester Stallone vor dessen Gemälde „Finding Rocky“. (© sabinebrauerphotos)

Den vorab versandten Presseunterlagen habe ich staunend entnommen, dass die rund 50 Bilder umfassende Stallone-„Retrospektive“ aus Anlass seines 75. Geburtstages (Geburtsdatum 6. Juli 1946) gezeigt werde. Die Gemälde seien „action-geladen“ wie seine Filme, doch auch „feinnervig und vielschichtig“. Zitiert wird Sylvester Stallones Auffassung von der Malerei als der unmittelbarsten aller Künste, die das Seelenleben unverfälschter ausdrücke als etwa die Literatur. Vom Film ganz zu schweigen. Darüber könnte man lange reden. Oder auch nicht.

Demnach hat Sylvester Stallone schon in den später 1960er Jahren mit dem Malen begonnen, als er noch längst nicht der große Kinostar gewesen ist. Schon vor dem Filmscript habe er zuerst auf der Leinwand die berühmte Figur entworfen – auf dem Bild „Finding Rocky“ (1975).

Bisher wurden seine Werke in St. Petersburg (2013) und Nizza (2015) gezeigt. Keine ganz gewöhnliche Abfolge. Jetzt also Hagen. Über die künstlerische Qualität der Bilder erlaube ich mir – aus der Distanz – selbstverständlich keinerlei Urteil. Osthaus-Direktor Tayfun Belgin wird sicherlich nichts dagegen haben, dass sein Institut einmal so richtig starke Publicity-Effekte außer- und oberhalb des sonst Üblichen erzielt. Er hat denn auch ein passendes russisches Sprichwort gefunden, um Stallones Mehrfach-Begabung zu unterstreichen: „Ein talentierter Mensch ist in jeder Hinsicht talentiert.“ In seinem Text „Der Zauber des Seins“ preist Belgin die expressiven Qualitäten dieser Malerei, dieser Zeit- und Gedankenbilder, wie er sie nennt.

Mh. Na gut. Eventuell gehe ich doch noch einmal hin. In aller Ruhe. Wenn der Medienrummel abgeklungen ist.

Sylvester Stallone. Retrospektive zum 75. Geburtstag. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1. Vom 4. Dezember 2021 bis 20. Februar 2022. Di-So 12-18 Uhr. Tel.: 02331 / 207 2138. Derzeit 2G-Regel (geimpft oder genesen) mit Ausweispflicht.

www.osthausmuseum.de




Manchmal dieser Hang zu Legenden – Streiflichter zur Hagener Stadtgeschichte im Osthaus-Museum

Popstars aus Hagen: die Gruppe „Grobschnitt“ im Jahr 1978. (© Fotografie: Ennow Strelow)

Wie bitte? Die Stadt Hagen ist erst jetzt 275 Jahre alt geworden? Stimmt. Ganz hochoffiziell: Am 3. September 1746 erhielt der westfälische Ort durch einen Verwaltungsakt im Namen des Preußenkönigs Friedrich II. die Stadtrechte. Zum Vergleich: Hagens Nachbarstadt Dortmund hat bereits 1982 das 1100-jährige Bestehen gefeiert.

Das Fehlen einer mittelalterlichen Geschichte hat die Hagener oftmals gewurmt. Darum haben sie manchmal eigene Legenden gestrickt. Auch davon zeugt nun die Jubiläumsausstellung im Osthaus-Museum; ein Gemeinschaftswerk mit dem Stadtmuseum, das künftig einen umgerüsteten Altbau gleich neben dem Osthaus-Museum und dem Emil-Schumacher-Museum beziehen wird – zusammen ergibt das ein kulturelles Quartier von überregionaler Bedeutung.

Doch zurück zur historischen Perspektive. Die im Osthaus-Museum gezeigten Bestände stammen hauptsächlich aus dem Stadtmuseum. Es beginnt mit einer Ahnengalerie, prall gefüllt mit Porträts prägender Persönlichkeiten der Stadtgeschichte – allen voran der frühindustrielle Unternehmer Friedrich Wilhelm Harkort (*1793 nah beim späteren Hagener Ortsteil Haspe), einer der Vorväter des Ruhrgebiets. Auf kulturellem Felde ebenso bedeutsam: der Kunstmäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus (*1874 in Hagen). 1902 begründete er hier das Museum Folkwang, weltweit das erste Museum für zeitgenössische Kunst.

Ergänzt wird die Fülle der Honoratioren durch Fotografien „ganz normaler“ Hagener Bürger von heute. Der Blick richtet sich also nicht nur rückwärts. Überhaupt vergisst das Ausstellungsteam die Gegenwart nicht. Die Übersicht reicht bis hin zu Bildern und Berichten vom Hagener Hochwasser Mitte Juli.

Aus dem Fundus des Stadtmuseums ins Osthaus-Museum: die Schreibmaschine des Hagener Dichters Ernst Meister (1911-1979). (Foto: Bernd Berke)

Ein großer Ausstellungssaal, scherzhaft „Hagener Wohnzimmer“ genannt, versammelt Stücke aus der Stadthistorie, darunter die Schreibmaschine, auf der der Hagener Dichter Ernst Meister einen Großteil seines weithin hochgeschätzten Werks verfasst hat. Als Pendant aus der bildenden Kunst findet sich eine von Farbspritzern übersäte Original-Staffelei des gleichfalls ruhmreichen Hagener Malers Emil Schumacher. Zu Ernst Meister gibt es weitere Exponate. Der Lyriker war auch ein begabter Künstler. Zu sehen sind rund 60 seiner Bilder, die das Osthaus-Museum jüngst als Schenkung erhalten hat. Außerdem hat sich der Hagener Maler Horst Becking mit 13 Gedichten Ernst Meisters auseinandergesetzt. Hier greift eins ins andere.

Original-Staffelei des Hagener Malers Emil Schumacher (1912-1999). (Foto: Bernd Berke)

Im „Wohnzimmer“ wecken auch Objekte wie z. B. ein alter Kinderwagen, ein Stadtplan von 1930, Relikte aus Hagener Firmengeschichten (Varta, Brandt, Villosa, Sinn) oder eine Ansammlung örtlicher Kulturplakate die Aufmerksamkeit. Sollte bei dieser Auswahl etwa auch ein Zufallsprinzip gewaltet haben?

Gar erschröcklich wirkt jene bizarr erstarrte, vollkommen verkohlte „Schwarze Hand“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die erstmals das Schloss im 1975 zu Hagen eingemeindeten Hohenlimburg verlassen hat. Eine Legende besagt, dass die Hand einem Knaben gehörte, der sie gewaltsam gegen seine Mutter erhoben hatte. Sie sei daraufhin scharfrichterlich abgeschlagen und zur ewigen Mahnung verwahrt worden. Tatsächlich handelt es sich um das durch Blitzschlag versengte Beweisstück in einem Mordfall.

Hagener haben eben einen Hang zu Legenden, vor allem, wenn sich damit heimische Traditionslinien verlängern lassen. So hat man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Stadtwappen erkoren – mit stilisiertem Eichenlaub statt der damals verpönten französischen Lilie. 1897 verfügte Kaiser Wilhelm II. den Wechsel. Die Hagener glaubten Belege für die örtliche Verwendung des Eichenblatts im 14. Jahrhundert gefunden zu haben, aber das war ein Trugschluss. Das Dokument bezog sich auf eine andere Gemeinde namens Hagen. Und noch so eine Inszenierung, nicht irrtümlich, sondern vollends willkürlich: Ein Hagener Maler, der den NS-Machthabern zu Diensten war, produzierte reihenweise romantisierende Stadtansichten, die es in Wahrheit so nie gegeben hat.

In solche Ausstellungen werden gern die Bürger einbezogen, so auch diesmal. Nach entsprechenden Aufrufen reichten sie etliche Objekte mit Hagener „Stallgeruch“ ein – von lokal gestalteten Schneekugeln bis zum Brettspiel mit Ortsbezug. Da schlägt das lokalptriotische Herz höher.

Humorig-historische Postkarte: „In Hagen angekommen“. (© Stadtarchiv Hagen)

Da war doch noch was mit Hagen? Richtig, wir erinnern uns an die oft und gern zitierte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“, die am 3. Januar 1982 im „Spiegel“ erschienen ist. Die Überschrift entstand im Zuge der Neuen Deutschen Welle, die in Hagen sozusagen ihren Scheitelpunkt hatte. Nicht nur wurden Nena und die Sängerin Inga Humpe hier geboren, in Hagen gründeten sich auch einflussreiche Bands wie „Extrabreit“ (1978) und zuvor „Grobschnitt“ (1971). Letztere besteht – in wechselnden Formationen – nunmehr seit 50 Jahren. Deshalb ist ihrer Story im Untergeschoss eine üppige Extra-Abteilung gewidmet. Mit Dokumenten, Fotos und Objekten (darunter ein kompletter Bühnenaufbau) geht es so sehr ins Detail, dass wohl selbst Spezialisten noch Neues erfahren.

Etwas für eingefleischte Hagener sind auch die Schwarzweiß-Fotografien von Ennow Strelow, der in den 70er und 80er Jahren einige kernige Typen der Hagener Szene porträtiert hat. Ältere Bewohner kennen vielleicht noch den einen oder die andere, Auswärtige werden zumindest die fotografische Qualität zu schätzen wissen. Doch je mehr biographische Verbindungen jemand zu Hagen hat, umso mehr Genuss verspricht diese Schau.

„Hagen – Die Stadt. Geschichte – Kultur – Musik“. Noch bis zum 21. November 2021. Hagen, Osthaus-Museum, Museumsplatz. www.osthausmuseum.de

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Der Text ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de

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Weiterer Beitrag zur Ausstellung, mit einem Schwerpunkt auf Rockmusik:

Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit




Wie einer den anderen zur Geltung bringt: Hagen zeigt Gemeinschaftsbilder von Jiří Georg Dokoupil und Julian Schnabel

Jiří „Georg“ Dokoupil (li.) und Julian Schnabel vor einem ihrer großformatigen Gemeinschaftsbilder („untitled#14″) im Hagener Osthaus Museum. (Foto: Bernd Berke)

So verschieden sind die Menschen, auch und gerade, wenn es sich um weltbekannte Künstler handelt: Es könnte einem phasenweise fast entgehen, dass Jiří Georg Dokoupil beim Pressetermin zugegen ist, so zurückhaltend gibt sich der 1954 in der Tschechoslowakei geborene, heute in Berlin und Prag lebende Künstler und einstige Protagonist der „Jungen Wilden“ der 1980er Jahre.

Nun aber Julian Schnabel! Einem Malerfürsten gleich, entert der soeben aus New York eingeflogene US-Amerikaner (Jahrgang 1951) die Ausstellungsräume des Hagener Osthaus Museums und beginnt sogleich, das Gestühl für die Pressekonferenz eigenhändig umzustellen. Um freie Sicht auf die Kunst ist es ihm zu tun. Gleichzeitig setzt er sich selbst in Szene. Der Mann fällt unmittelbar auf. Mit seiner Präsenz füllt er jeden Raum. Ist es eine erdrückende Gegenwart? Jedenfalls nicht im produktiven Zusammenspiel mit Doukoupil, das wundersam ausbalanciert erscheint.

Auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Verschiedenheit ist es phänomenal, was die beiden Künstler gemeinsam zuwege gebracht haben. Hagen zeigt jetzt 13 großformatige „Collaboration Paintings“, also gemeinschaftlich bewerkstelligte Gemälde, die 2015 bei einem Besuch Schnabels in Dokoupils Berliner Atelier entstanden sind. Dokoupil kann keinesfalls nur „heftig“ wie ehedem, sondern geradezu duftig und hauchzart wie in seinen Seifenblasen-Bildern, die den hier gezeigten Arbeiten zugrunde liegen und wirklich aus gefärbter Seifenlauge hervorgewachsen sind. Er hat ja auch schon mit Ruß, Muttermilch und Reifenabdrücken gearbeitet. Warum also nicht mit Seifenlauge?

Dokoupil und Schnabel 2015 bei der Arbeit in Berlin. (Foto: Deyan Manolov)

Im ständigen tätigen Dialog mit Julian Schnabel sind diese Bilder durch einen Prozess der Metamorphosen gegangen – bis die beiden Künstler unisono festgestellt haben, dass ihre Schöpfung gelungen war. Folgt man Schnabel, der aber keineswegs die Bilder deuten oder interpretieren mag, so haben sich auf den Bildern nach und nach Landschaften oder syntaktische Muster ergeben. Doch nicht um bewusste Kompositionen handelt es sich, sondern eben um das Resultat eines gemeinsamen Arbeitsprozesses, in dessen Verlauf vorwiegend Acrylfarben, Sprühdosen, Plastikfolie auf Linoleumböden (oder Leinwand) und eben Seifenlauge zum intensiven Einsatz kamen.

Gewiss: Man könnte im Nachhinein dieses oder jenes Bildelement einem der beiden Künstler zuordnen, doch darauf kommt es letztlich gar nicht an. Diese Bilder künden wahrhaftig von einem Zusammenwachsen zweier malerischer Temperamente, sie wirken allerdings auch nicht so, als stammten sie von einem einzigen Urheber. Keine falsche Harmonie. Sie enthalten noch die Spannung zweier verschiedener Arten des Zugriffs.

Doch so sehr und so entschieden Schnabel den zartsinnigen Spuren der Seifenblasen zuweilen peitschenförmig zugesetzt haben mag, so ist es doch an keiner Stelle gewaltsam, sondern emotional bewegte Reaktion aufs Vorhandene, die wiederum Dokoupil zu eigenen Interventionen veranlasst hat. Ein Geben und Nehmen. Oder wie Osthaus-Direktor Tayfun Belgin es ausdrückt: „Auf den Pinselschlag des einen folgte die Antwort des anderen, auf Linie folgte Farbe, auf geschlossene Form eine offene.“ Und so fort.

Es ist, als betonten beide Positionen einander, als brächten sie sich gegenseitig zum gesteigerten Ausdruck. Einer lässt den anderen nicht nur gelten, sondern bringt ihn erst vollends zur Geltung. Ein Fall von echter Freundschaft, von bildgewordenem Vertrauen und Vertrautsein. Überdies müssen sie beide sich und erst recht uns nichts mehr beweisen, drum waltet nicht nur Spannung, sondern schließlich auch etwas souverän Entspanntes in diesen Bildern.

Immer für einen Gag gut: Unter Schnabels Jacke verbarg sich ein Shirt mit der Aufschrift „Second Best“ (Zweitbester)… Im Hintergrund ein weiteres Gemeinschaftsbild – „untitled#10″ (Foto: Bernd Berke)

Schon um 1980 haben sie einander als Künstler wahrgenommen und zunehmend respektiert, seit über 30 Jahren kennen sie sich persönlich. All die Jahre, all die wechselnden Zeitläufte haben wohl mit hineingespielt in dieses gemeinsame Arbeiten. Und doch war es vor allem spontane Aktion. Man habe während des Malens nicht über die Existenz philosophiert, lässt Schnabel mit einem Anflug von Ironie wissen. Bloß nicht zu viel theoretischer Kram. Überhaupt habe man gar nicht so viel gesprochen. Man hat getan, was getan werden musste. Und ja, „lots of joy“ habe man dabei empfunden.

Es muss dem Museumsleiter Tayfun Belgin ein Herzensanliegen gewesen sein, just diese Bilder zeigen zu können. Schon als Student habe er Dokoupil und andere „Junge Wilde“ 1982 in der legendären Berliner „Zeitgeist“-Ausstellung bewundert. Jetzt hat eine Kooperation mit der Düsseldorfer Galerie Geuer & Geuer die von Reiner Opoku kuratierte Ausstellung ermöglicht. Die Künstlernamen schmücken Hagen ungemein.

Witzig entspannt übrigens auch der Titel des ganzen Unterfangens: „Two Czechoslovakians walk into a bar“ (Zwei Tschechoslowaken gehen in eine Bar). Schnabels Vorfahren stammten, wie Dokoupil, aus dem ostmitteleuropäischen Lande. Und auch der zweite Teil hat einen Anschein von Wahrheit. Wie sich Schnabel erinnert, wurde beim gemeinsamen Malen durchaus das eine oder andere Glas Whisky geleert. Sollte etwa dieser goldbraune Fleck auf jenem Bild…?

Jiří Georg Dokoupil und Julian Schnabel: „Two Czechoslovakians walk into a bar“. Collaboration Paintings. 27. Juni bis 15. August, Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Hochstraße). Geöffnet Di-So 12-18 Uhr.

www.osthausmuseum.de

Ergänzend zu den Großformaten sind in der Unteren Galerie Grafiken von Julian Schnabel (seit den später 70er Jahren bis 2021) zu sehen.

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P. S.: Apropos Künstlerfreundschaft. Den muss ich jetzt aber noch loswerden: Der verehrte Max Goldt schrieb einst, alle Kulturwelt rede immer voller Emphase von „Künstler-Freundschaften“. Aber habe man je von einer „Elektriker-Freundschaft“ gehört?




Heimkehr in schwieriger Zeit: Hagener Osthaus-Museum kann seine Expressionisten endlich wieder zeigen

Ungewöhnliche Ansicht während des Ausstellungs-Aufbaus Mitte Januar: drei Gemälde von Christian Rohlfs auf einem Transportwagen. Von links: „Der Trinker“ (um 1915), „Zwei Mädchen“ (um 1917) und „Pierrette“ (um 1911). (Foto: Bernd Berke)

Es scheint schon Jahre her zu sein: Bereits am 17. Januar 2020 hatte ich Gelegenheit, diese Ausstellung des Hagener Osthaus-Museums zu sehen – noch bevor sie richtig aufgebaut war. Schon bald nach der Eröffnung folgte die Schließung „wegen Corona“. Jetzt (ab 19. Mai) kann das Museum – unter den mittlerweile üblichen Auflagen – wieder öffnen und die nach Jahren heimgekehrten expressionistischen Schätze aus seinem Eigenbesitz wieder zeigen. Ein Text mit Verspätung, dennoch zeitlich passend:

Es ist wie die Heimkehr von guten alten Bekannten. Seit Oktober 2015 waren rund 110 Werke aus der Sammlung des Hagener Osthaus-Museums auf weitläufiger Tournee unterwegs. Jetzt sind sie allesamt zurückgekehrt und werden wieder in Hagen gezeigt; beinahe wie Neuerwerbungen und fast so, als kämen sie geradewegs aus einer Verjüngungskur. Tatsächlich kann man sie nun anders und vielleicht genauer wahrnehmen.

Die Rundreise der Bilder führte von Wien und Klagenfurt über Sardinien und das französische Evian am Genfer See bis in die Region Stockholm. Neun Stationen in sechs Ländern, insgesamt 241.779 zahlende Besucher. Jetzt weiß man vielerorts, wo Hagen liegt und dass dort etliche Spitzenstücke aus dem Kreis und Umkreis des Expressionismus daheim sind.

Ein gewisser Lokalstolz

Osthaus-Chef Dr. Tayfun Belgin mag denn auch nicht ganz verleugnen, dass er einen gewissen kulturellen Lokalstolz verspürt. Es sind beileibe nicht viele Museen, die ein solches Konvolut von Expressionisten aufweisen können: beispielsweise famose Schöpfungen von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein und Christian Rohlfs; beispielsweise auch imposante Arbeiten von Franz Marc, August Macke, Emil Nolde, Lyonel Feininger und Max Beckmann. Dem berühmten Mäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus (1874-1921) gebührt bleibender Dank für die Grundlegung der reichen Kollektion.

Im zentralen Schauraum sind nun gleich wieder einige Highlights beisammen, darunter die eindrucksvollen Porträtbilder, die Kirchner (1910) und Heckel (1917) voneinander angefertigt haben; so auch Kirchners „Badende (Fehmarn)“ von 1912. Im weiteren Verlauf verzweigt sich der Rundgang auch zu allerlei graphischen Meisterwerken. Weitere grandiose Ölbilder von Christian Rohlfs („Pierrette“, um 1911 – „Der Trinker“, um 1915), der über Jahrzehnte in Hagen gelebt hat, kommen ebenso hinzu wie etwa Alexej von Jawlenskys „Barbarenfürstin“ (um 1912) – ein unwiderstehliches Farbereignis, das als Leitmotiv auf Plakaten zum besonders erfolgreichen Gastspiel in Wien gelockt hat. Nicht chronologisch oder einer These folgend hat man die Bilder in Hagen gehängt, sondern so, dass sie möglichst ansprechend und „kulinarisch“ zur Geltung kommen.

Wie ein gänzlich neuer Auftritt

Vor der Tournee waren rund 30 dieser Bilder im Hagener Altbau zu sehen, sie wurden seinerzeit nur nebenher beachtet und zumeist nicht ihrem wahren Wert entsprechend geschätzt. Dauerhaftes Inventar eben. Jetzt aber haben sie im neuen Anbau ihren großen gemeinsamen Auftritt. Die 110 Reisebilder wurden durch weiteren passenden Eigenbesitz ergänzt, so dass nun 120 Werke zu sehen sind. In diesem Gebäudeteil werden sonst Wechselausstellungen gezeigt. Das Ganze wirkt denn auch wie eine Wechselschau mit Leihgaben aus mehreren Häusern. Doch alles gehört dem Osthaus-Museum. Kurz gesagt: Hagen leuchtet. Zumindest in diesen Räumen.

Da sage noch jemand, Ausstellungen von Eigenbesitz könnten nicht allzu aufregend sein, weil man die Exponate ja zu kennen glaubt. Hier und jetzt verhält es sich anders. Und das Wiedersehen nach so langer Zeit bereitet doppelt Freude. Tayfun Belgin wählt einen etwas kuriosen, aber sinnfälligen Vergleich: „Wenn ich über vier Jahre keine Banane mehr gegessen habe, will ich schließlich unbedingt Bananen haben!“

Zwiespältiger Emil Nolde

Waren die neun „Auswärtsspiele“ nicht auch mit Risiken behaftet? Nun, Belgin hat sich an jeder einzelnen Station vom tadellosen Zustand der Bilder überzeugen können, Restauratoren haben das gesamte Reiseprojekt eingehend begleitet und fortlaufend protokolliert. Es gibt keinerlei Schäden. Alles findet sich wohlbehalten in Hagen wieder. Überdies haben die Schätze auch noch Leihgebühren eingebracht. Aus Hagen in die Welt – für gutes Geld.

Eines darf man nicht unerwähnt lassen: Zur umfangreichen Schau zählen auch Arbeiten von Emil Nolde, der just in den letzten Jahren als williger Kollaborateur der Nazis in Verruf geraten ist (und dessen Werke trotzdem von den NS-Machthabern als „entartete“ Kunst verfemt wurden). Ein ausgewogener Begleittext stellt die betrübliche Sachlage nüchtern dar. Dennoch sind manche Nolde-Bilder nach wie vor betörend. Künstlerische Qualität und menschlicher Anstand sind (leider) zweierlei. Ein eigentlich bekannter Umstand, der aber immer wieder zu irritieren vermag.                                                      

Expressionisten. Aus der Sammlung. Verlängert bis zum 2. August 2020. Osthaus-Museum Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Di-So 12-18 Uhr. www.osthausmuseum.de

Das Hagener „Kunstquartier“ ist wieder komplett: Auch das unmittelbar benachbarte Emil Schumacher Museum öffnet ab 19. Mai. Die aktuelle Ausstellung über Emil Schumacher („Der Reiz des Materials“) wird verlängert und ist daher bis 29. November 2020 zu sehen. Weitere Infos: www.esmh.de

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Die ursprüngliche Fassung des Beitrags stand im Kulturmagazin Westfalenspiegel, das in Münster erscheint. (www.westfalenspiegel.de)




Der Zeit voraus in allen Wissenschaften – Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci

Von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv" (um 1490). (Galleria dell'Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Auch so ein berühmtes Bild, von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv“ (um 1490). (Galleria dell’Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Eigentlich muss man das nicht klarstellen, doch sei’s drum: Tayfun Belgin, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, hält also spaßeshalber fest, dass in seinem Haus weder die „Mona Lisa“ noch die „Anna selbdritt“ oder „Das Abendmahl“ zu sehen sind, obwohl die neue Ausstellung doch von Leonardo da Vinci handelt.

Na, sicher: Solche weltberühmten Bilder könnte man nimmermehr ausleihen, auch wenn man weder Mühen noch Kosten scheut. Außerdem ist die Malerei gar nicht Leonardos Hauptbeschäftigung gewesen, heute werden ihm lediglich rund 20 Gemälde zugeschrieben. Den Großteil seiner Zeit auf Erden (1452-1519) hat er mit teilweise visionären Erkundungen und Erfindungen zugebracht, die ihrer Zeit sehr weit voraus waren. Genau damit befasst sich die Schau – anhand von 119 handkolorierten Faksimile-Skizzen und von 25 Modellnachbauten, die recht exakt Leonardos Entwürfen folgen.

Das Ausstellung-Konvolut stammt vom Tübinger „Institut für Kulturaustausch“ (Leitung: Maximilian Letze). Anlass des Hagener Gastspiels der Wanderschau ist der 500. Todestag Leonardos. Der Aufbau der Ausstellung wirkt nur auf den ersten Blick womöglich etwas dröge. Sobald man sich aufs Thema einlässt, entsteht ein Sog.

Nach einer Leonardo-Skizze von 1495 gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Nach einer Leonardo-Skizze gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Der 1485 skizzierte Fallschirm funktioniert tatsächlich

Und siehe da: Die allermeisten Ideen des Universalgenies funktionieren tatsächlich, sie sind staunenswert ausführbar; so etwa auch ein Fallschirm, der einen sicher zu Erde bringt. Der Fallschirmspringer Adrian Nicholas hat es anno 2000 am eigenen Leibe ausprobiert, die Ideenskizze stammt von 1485!

Leonardo hat sich seinerzeit auch Gedanken über einen Hubschrauber-Vorläufer und eine Art Flugdrachen gemacht. Wahrlich, das waren Gedankenflüge sondergleichen, wenn auch die beiden zuletzt genannten Apparaturen sich zu Leonardos Zeit noch nicht dauerhaft in die Lüfte erhoben haben. Immerhin wandelte das Genie auch hierbei auf den richtigen Wegen. Unter anderem hatte Leonardo dafür intensive Studien zum Vogelflug absolviert. Pendant im anderen Element: Bevor er sich mit Schiffen befasste, widmete er sich genauesten Untersuchungen zur Wasserströmung.

Hin und her zwischen vielen Projekten

Die Ausstellung ist zwar thematisch recht säuberlich gegliedert, doch das täuscht über die wohl ziemlich chaotische, demiurgische Arbeitsweise Leonardos hinweg, der stets an einigen Projekten zugleich arbeitete, gar vieles ergriff und zwischendurch manches beiseite legte. Es ist ja überhaupt kaum zu glauben, über welche verschiedenen Gegenstände Leonardo da Vinci fundiert nachgedacht und dabei immer wieder geistiges und technisches Neuland entdeckt hat. In der Anatomie machte er ebenso bahnbrechende Fortschritte wie im Schiffs-, Brücken- und Kanalbau. Eine weit geschwungene Brücke, die im heutigen Istanbul von Europa nach Asien führen sollte, ist freilich nie gebaut worden, sie erschien dem Sultan gar zu visionär und wohl auch zu kostspielig. Sie war übrigens so konstruiert, dass sie Erdbeben überstanden hätte.

Leonardo zeichnete sich zudem als ebenso ebenso kühner wie umsichtiger Stadtplaner aus, u. a. für Mailand, wo er ein Kanalsystem ersonnen hat, das die gar zu eng gebaute Metropole hätte entlasten sollen. Auch Müllabfuhr und Gesundheitsvorsorge gehörten zum weitsichtigen Planungsumfang. Doch er kam mit seinen vielfältigen Ideen nicht zum Zuge.

Auch die Arterien-Verkalkung entdeckt

Müßig zu erwähnen, dass Leonardo auch als Architekt und Ingenieur Maßstäbe setzte. Die damals noch nicht so exakte Zeitmessung (mit Sonnen- und Sanduhren) reizte Leonardo zur Konstruktion ausgefeilter Uhrmechanik. Sein geradezu besessener, offenbar nie ermüdender Wissensdurst trieb ihn auch zu anatomischen Studien, die etwa zur ersten Entdeckung der Arterien-Verkalkung führten, also auch die Medizin voranbrachten. Seine Zeichnungen vom menschlichen Körper und dessen Innenleben sind von bis dahin unerreichter Präzision. Gruselige Kehrseite: Er sezierte dafür gelegentlich auch die Leichen vormaliger Strafgefangener.

Modellnachbau eines „Automobils" mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Modellnachbau eines „Automobils“ mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Für Leonardo bestand kein grundlegender Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, eins geht ersichtlich ins andere über. Erfindungen werden nicht zuletzt in ästhetischer Weise erwogen, geglückte Funktion erfüllt sich sozusagen auch im Anblick. Wenn er etwas Vorgefundenes aus der Natur zergliederte, diente dies auch der Verbesserung im Malerischen.

Ebenfalls keinen prinzipiellen Unterschied sah Leonardo zwischen Mensch und Maschine. Aufs „Funktionieren“ kam es beiderseits an. Wer weiß: Mit solchen Gedanken stünde er heute vielleicht an der Spitze einer Bewegung, die mit Nachdruck Künstliche Intelligenz erforscht und Mensch-Maschinen-Konstrukte in allerlei Abstufungen für denkbar oder gar für wünschenswert hält.

Eine Frühlingsgöttin auf dem „Automobil“

Die Modelle aus Holz und Metall, die auf der Basis von Leonardos Skizzen entstanden sind, kann man zum Teil selbst erproben, beispielsweise auch den Nachbau eines frühen „Automobils“, dessen Original sich per Federspannung (gespeicherte Kraft) immerhin rund 30 Meter weit selbsttätig fortbewegen konnte. Mit großem Pomp hatte das von den Medici in Auftrag gegebene Fahrzeug seine öffentliche Premiere, spektakulär beladen mit einer „Frühlingsgöttin“. Jammerschade, dass es davon keine Filmaufzeichnung gibt. Die entsprechende Erfindung (oder wenigstens Vorarbeiten dazu) hätte man Leonardo beinahe auch noch zutrauen dürfen. Nun gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Generell nahmen übrigens die Zeitgenossen manche seiner Erfindungen nicht ernst, weil sie die Tragweite nicht erkannt haben.

Je elf Läufe in drei Lagen: Modell eines Orgelgeschützes nach einer Skizze (1482) Leonardo da Vincis. (Foto: Bernd Berke)

Ein zwiespältiges Kapitel sind Leonardos Forschungen für militärische Zwecke. Obwohl im Herzen wohl eher Pazifist, erfand er beispielsweise martialische Belagerungsmaschinen oder einen fürchterlichen Sichelwagen, der durch die Reihen feindlicher Kämpfer rasen und sie massenhaft niedermähen sollte wie Gras oder Getreide. Allerdings hätten sich auch die Zugpferde schwer verletzt.

Furchtbar raffinierte Militärtechnik

Ein schon neuzeitlich anmutendes Orgelgeschütz konnte aus vielen Rohren zugleich feuern, die Geschützbatterien sollten sich durch Drehung rasch auswechseln lassen. Sogar ein trutziger Panzer, ebenfalls rundum mit Geschützen ausgestattet, zählte zu Leonardos Ideen-Arsenal. Derlei Kriegsgerätschaften beeindruckten so manchen italienischen Fürsten, der in jenen unruhigen Zeiten im Hader mit anderen lag. Auf lukrative fürstliche Aufträge war Leonardo angewiesen.

Die Skizzen sind oftmals dermaßen kleinteilig ausgeführt, dass man als Laie zumindest sehr lange hinschauen muss, um daraus halbwegs schlau zu werden – von der winzigen Beschriftung ganz zu schweigen. Verständnishilfe gibt’s an sechs Multimedia-Stationen, wo man mit mehr als 8000 Bildern etliche Einzelheiten über Leonardo und seine Zeit aufrufen kann. Mit einem allzu kurzen Aufenthalt im Museum sollte es also nicht getan sein. Erst recht nicht, wenn man am Schluss noch ein paar heutige Patente aus Hagen und Südwestfalen in Augenschein nehmen will. Erfindergeist regt sich noch, wenn auch nicht mehr im Sinne von Originalgenies.

Im Verlauf des Rundgang fragt man sich, woran ein Leonardo wohl heute arbeiten würde. Ob er sich mit Klimafragen beschäftigen würde? Oder mit etwas ganz anderem, was uns Heutigen noch gar nicht in den Horizont gerückt ist? Genügend Nahrung für Phantasie.

Leonardo da Vinci – Erfinder und Wissenschaftler. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 15. September 2019 bis 12. Januar 2020, geöffnet Di-So 12-18 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Katalogbuch erhältlich. Tel.: 02331 / 207 3138. www.osthausmuseum.de

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Direkt nebenan, im selben Kunstquartier, zeigt das Emil Schumacher Museum vom 15. September 2019 bis zum 9. Februar 2020 eine Sonderausstellung mit abstrakten Bildern von K. R. H. Sonderborg. Darauf werden wir in den nächsten Tagen zurückkommen. Infos: www.esmh.de

 

 

 




Was von den Orgien übrig blieb: Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch im Hagener Osthaus Museum

Quasi-sakraler Raum in Hagen: vorwiegend blutrote und pechschwarze Großformate mit rituellem Tragegestell als „Altar" in der Mitte. (Foto: Bernd Berke)

Quasi-sakraler Raum in Hagen: vorwiegend blutrote und pechschwarze Großformate mit rituellem Tragegestell als „Altar“ in der Mitte. (Foto: Bernd Berke)

Der Mann hat längst seinen Ruf weg. Den weniger aufgeschlossenen Zeitgenossen galt und gilt er als blutrünstiger Berserker der Kunst, seit er 1962 seine erste Aktion vollzog.

Der Österreicher Hermann Nitsch wurde berühmt-berüchtigt mit den Riten seines oft tagelang ausufernden „Orgien-Mysterien-Theaters“, bei dem vorzugsweise Unmengen von Tierblut über nackte Menschenkörper flossen, etliche Helfer*innen in animalischen Innereien wühlten, intensiv sudelten oder Kreuzigungen simulierten. Im Hagener Osthaus Museum kann man nun einige Relikte dieses Tuns betrachten und Nitschs selbst komponierte Musik dazu hören. Auch Gerüche fehlen nicht beim angestrebten Gesamtkunstwerk.

Sprengwirkung im reaktionären Österreich

Ein äußerer Anlass ist der heuer (natürlich mit einer Aktion) begangene 80. Geburtstag des Zeremonienmeisters, der stets zahlreiche Jüngerinnen und Jünger um sich versammelte, die zu manchem Treiben staunenswert bereit waren. Drei Filme in der Hagener Ausstellung zeugen ausgiebig davon. Man mag da an einen Guru mitsamt seiner Sekte denken und wird wohl nicht vollkommen falsch liegen. Überdies könnte man sich fragen, ob Besucher nicht wenigstens ein gewisses Alter erreicht haben sollten, um derlei Filme zu sehen. Man nenne mich konservativ, aber: So richtig kinderfrei scheint mir diese Ausstellung nicht in all ihren Teilen zu sein.

Der zuweilen überaus tolerante Kunstbetrieb freilich findet dergleichen heute – nicht zuletzt angesichts realer Brutalität – nahezu harmlos und feiert den Klassiker des „Wiener Aktionismus“ als einen Bahnbrecher, der seinerzeit im vielfach reaktionären Österreich befreiende Sprengkraft entfaltet habe.

Fotowände dokumentieren Momente aus Nitsch-Aktionen. (© Originalbilder: Atelier Hermann Nitsch, Fotos von Archiv Cibulka-Frey, Fondazione Morra/Ernesto Mastrascusa, Martin Kitzler - Foto der Bilderwand: Bernd Berke)

Fotowände dokumentieren Momente aus Nitsch-Aktionen. (© Originalbilder: Atelier Hermann Nitsch, Fotos von Archiv Cibulka-Frey, Fondazione Morra/Ernesto Mastrascusa, Martin Kitzler – Foto der Bilderwand: Bernd Berke)

Sein Nachname ist jedenfalls zum Markenzeichen geronnen. Es genügt, einfach nur „Nitsch“ zu sagen. So lakonisch prangt es ja auch auf den ebenfalls präsentierten Weinetiketten aus den Gütern seines eigenen Schloss-Anwesens zu Prinzendorf in Niederösterreich. Befragt, ob er nebst Blut auch Rotwein für seine Bilder verwende, deutet er auf seinen Mund: „Nein, der kommt eher hier hinein.“ Wein ergebe ja auch keine kraftvolle Färbung auf Leinwänden. Er muss es wissen.

Fußspuren auf blutroten Leinwänden

Was aber bleibt? Was ist zu sehen? Ein imposanter Raum in Hagen versammelt, dicht an dicht gehängt und schier auf Überwältigung angelegt, vorwiegend blutrote Großformate noch und noch. Nicht alles ist veritables getrocknetes Blut, dies und das aber eben doch – ganz ohne Koketterie, wie es denn ohnehin reichlich ernst und feierlich zugeht. Prosaischer mutet dies an: Auf einigen Leinwänden finden sich noch Fußspuren, die im Laufe von Aktionen entstanden sind.

Hermann NItsch und Ko-Kuratorin Julia Möbus in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hermann Nitsch und Ko-Kuratorin Julia Möbus in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Inmitten dieser drangvoll gewaltigen Bilder-Ansammlung erhebt sich ein Gestell, das sich als Trage für rituelle Zeremonien erweist. Man denkt allerdings unwillkürlich an eine Richtstätte, auf der Ungeheuerliches geschehen könnte. Eine Art Messgewand (häufiges Motiv in Nitschs Oeuvre) verweist auf mögliche Opfergaben, ferner auf die Passionsgeschichte, auf die mysteriöse Wandlung von Brot und Wein in der christlichen Liturgie, die denn überhaupt eine kaum je versiegende Hauptquelle der Inspiration ist, sich jedoch auch ins „Heidnische“ oder gar zu Schwarzen Messen hinwenden kann.

Erste Konzepte zu dermaßen entgrenzter Performance und Body Art hat Nitsch bereits um 1957/58 ersonnen, als er 19 Jahre alt war und noch im Bann des Informel gestanden hat. Es scheint so, als habe sich sein Werk hernach nicht allmählich entwickelt, sondern als sei es zu Eruptionen gekommen. Mit den Formen von Fluxus und Happening wurde die Zeit zunehmend reif für seine Aktionen, die auf Basis von ausgeklügelten „Partituren“ ins Werk gesetzt wurden.

Das einzelne Bild zählt nur als Teil des Ganzen

Kein Bild in dieser Schau trägt einen Titel. Nitsch hält dafür, dass man seine Bilder nicht einzeln würdigen solle, sondern gleichsam als Gesamtereignis. Es steht zu vermuten, dass ein solch genereller Zugang sie eventuell auch der „kleinlichen“ Kritik entheben kann. Tatsächlich finden sich bemerkenswerte ästhetische Valeurs in so manchen Bildern. Sind sie quasi nebenher „unterlaufen“ oder sind es gesetzte Zeichen? Kann man, um weiterhin ketzerisch zu fragen, die gleich nebenan (just im benachbarten Emil Schumacher Museum) befindlichen Schöpfungen des Informel-Meisters auch nur irgend mit Nitschs Hevorbringungen vergleichen? Oder waltet da eine ganz andere Kraft?

Detail aus einem „Blut-Bild" von Hermann Nitsch. (Foto: Bernd Berke)

Detail aus einem „Blut-Bild“ von Hermann Nitsch. (Foto: Bernd Berke)

Vitrinen mit alten Zeitungsausschnitten belegen, wie sehr Nitsch (ebenso wie artverwandte Aktionisten, etwa Otto Mühl oder Rudolf Schwarzkogler) ehedem für seine Kunstorgien angefeindet worden ist – beispielsweise auch vom Musiker Yehudi Menuhin (Vorwurf gegen Nitsch: „Gewalt um der Gewalt willen“) oder von der notorischen Tierschützerin Brigitte Bardot, zuvörderst aber von der populistischen österreichischen Presse à la „Kronenzeitung“.

Fast nur tote Tiere verwendet

In Hagen beteuert Nitsch abermals, „99 Prozent“ der in seinen Aktionen verwendeten Tiere seien vorher schon tot gewesen. Nur ganz selten habe man auf der Bühne Tiere geschlachtet, die jedoch ohnehin dafür vorgesehen gewesen seien. Er selbst, so Nitsch weiter, sei ein ausgesprochener Tierfreund, er halte u. a. einige Pfauen, eine Ziege, ein Maultier und fünf Katzen.

Auch solche frühen Fingerübungen von Hermann Nitsch werden gezeigt. (Foto: Bernd Berke)

Auch frühe Fingerübungen von Hermann Nitsch werden gezeigt. (Foto: Bernd Berke)

Die Ausstellung besteht nicht nur aus gigantischen „Blut“-Bildern (oder auch ungemein pastosen Variationen in Schwarz, Gelb oder Blau) und Videos bzw. Fotos der Aktionen sowie einer Art „Apotheke“ mit verwendeten Flüssigkeiten, sondern auch aus ebenso windungsreichen wie peniblen Skizzen und Planzeichnungen.

Dabei entwirft die Phantasie (unterirdische) Labyrinthe und vielleicht gar Verliese als Theateranlagen, sie fabuliert zudem von der Zu- und Abrichtung, der Umwandlung, Auflösung und womöglich Erlösung des menschlichen Leibes und somit der Seele. Manche Arbeit mutet an wie eine geradezu ingenieurhafte Vorschau auf kommende Aktionen. Auch Orgien wollen ordentlich organisiert sein, jedenfalls in deutschsprachigen Landen. Doch nicht nur dort. Man weiß ja, wie einst der Marquis de Sade alle noch so wüsten Körperverrenkungen der sexuellen Qualen geradezu systematisch durchkonjugiert hat.

„Ja, ja und ja“ sagen zur Schöpfung

Nitsch bekennt sich derweil als Freund und Verehrer der Schöpfung, er wolle „Ja, ja und ja sagen“ zum Sein. Er sieht sich in der Tradition von Friedrich Nietzsche und der von ihm postulierten „Ewigen Wiederkunft des Gleichen“. Gerade deshalb habe er immer wieder in Abgründe blicken und selbige darstellen müssen, Leid und Tod gehörten eben zum Leben. Er habe ein metaphysisches Anliegen, seine Kunst sei eine immerwährende „Auferstehungsfeier“. In kleinerer Münze zahlt Nitsch eben nicht.

Und wie kommt gerade Hagen zu dieser Retrospektive? Osthaus-Chef Tayfun Belgin war von 2003 bis 2007 Leiter der Kunsthalle Krems in Niederösterreich, da hat sich der Kontakt zu Nitsch fast wie von selbst ergeben. Die damals schon vorhandenen Pläne zu einer Ausstellung konnten seither noch reifen. Ko-Koratorin ist nun die junge Julia Möbus, die über Nitsch promoviert und auch schon als Akteurin für ihn tätig war, so dass man in ihrem Falle beileibe nicht von grauer Theorie reden kann.

Hermann Nitsch. Eine Werkschau in Hagen. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Eröffnung am Samstag, 1. Dezember (16 Uhr), Dauer vom 2. Dezember 2018 bis zum 3. Februar 2019. Geöffnet Di-So und Feiertage 12-18 Uhr. 24.12., 25.12 und 31.12. geschlossen. Kein Katalog. Eintritt 7 Euro (Kinder bis 6 kostenlos, ab 6 Jahre 3,50 Euro).  Tel. 02331 / 204-2740. Weitere Infos: www.osthausmuseum.de




Kunst als ewiger Kreislauf: Bilder von Friedensreich Hundertwasser in Hagen

Man ist beileibe kein Prophet, wenn man dieser Ausstellung ganz profan einen zählbaren Erfolg vorhersagt. Hundertwasser „zieht“ immer. Sicherlich auch in Hagen.

Tayfun Belgin, Leiter des Hagener Osthaus Museums, wo jetzt rund 130 Arbeiten aller Schaffensphasen des Friedensreich Hundertwasser (1928-2000) zu sehen sind, hofft auf rund 60000 Besucher – plus X. Dann wäre man mit der kostspieligen Schau auch finanziell „im grünen Bereich“.

Friedensreich Hundertwasser: Blackmister Sky (1975), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz)

Friedensreich Hundertwasser: Blackmister Sky (1975), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz)

Hagen genießt übrigens nicht zuletzt deshalb den Vorzug, die Ausstellung im Verein mit der Hundertwasser Stiftung und „Die Galerie“ (Frankfurt) auszurichten, weil im Osthaus Museum schon 1964 ein wichtige Hundertwasser-Wanderschau zu sehen war, die seinerzeit auch in Hannover, Amsterdam, Bern, Stockholm und Wien gastierte und den endgültigen Durchbruch für diesen Künstler bedeutete. Damals erwarb das Osthaus Museum das Hundertwasser-Bild „Der Traum des toten Indianers“.

Doch jetzt mal abgesehen vom Zahlenwerk und historischen Reminiszenzen. Was fruchtet eine Werkschau dieses Künstlers heute? Wirkt er noch weiter? Erfährt man etwas, was man noch nicht geahnt hat?

Nun, immerhin wird einem abermals die außerordentliche Leuchtkraft seiner Bilder vor Augen geführt. Sie kommen einem buchstäblich entgegen, sitzen sie doch nicht direkt auf den Wänden, sondern rund zehn bis zwölf Zentimeter davor. Zudem sind diese Wände in dezenten Farben gehalten (Blau, Violett, Anthrazit, Grün), so dass all die mäandernden Linien der bildnerischen Traumwelten umso mehr hervortreten. Im Katalog (24,90 Euro) sieht man die Farbenspiele vor pechschwarzem Hintergrund, was einen ähnlichen Kontrast-Effekt zeitigt.

Wenige Beispiele aus dem Frühwerk zeigen, dass auch Hundertwasser einmal ganz konventionell begonnen hat. Doch wurde er gerade kein Akadamiekünstler, sondern schritt auf autodidaktischen Pfaden in seinen ganz eigenen Kosmos, in dem es allzeit wächst und wuchert, spiralförmig sprießend, schier endlos in sich selbst versponnen, geradezu kindlich bunt fabulierend.

Friedensreich Hundertwasser: "Der Traum des toten Indianers" (1964), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz / Fotografie: Achim Kukulies)

Friedensreich Hundertwasser: „Der Traum des toten Indianers“ (1964), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz / Fotografie: Achim Kukulies)

Irgendwann hat der gebürtige Wiener mit bürgerlichem Namen Friedrich Stowasser sich beherzt entschieden, die fortwährende Hetzjagd nach Neuem nicht mehr mitzumachen, die die westliche Avantgarde über viele Jahrzehnte prägte. Die als Lehrmeisterin verehrte Natur ist nicht pfeilförmig in die Zukunft gerichtet, sondern ein Kreislauf. Wachstum ist deshalb nicht mit Beschleunigung und Entgrenzung verbunden, sondern mit einem ewigen Wechselspiel aus Blüte und Vergehen. Schon im Diesseits soll der Paradiesgarten gedeihen.

Um das Jahr 1953 hatte Hundertwasser seine unverwechselbare, heute weltweit bekannte Formensprache entwickelt, die zuweilen manisch oder gar in milder Weise wahnhaft wirkt. Und schon in den 1960er Jahren ist Hundertwasser zum Vordenker und „Vorfühler“ ökologischer Bewegungen geworden. Also wollte er mit seinem Schaffen, das alsbald auch in architektonischen Visionen (in der Ausstellung mit staunenswerten Modellen präsent) Gestalt annahm, ins Leben hinein wirken – mit womöglich heilsamer Schönheit. Hagen zeigt auch Beispiele für angewandte Kunst. Eine Installation zur Wasserreinigung und eine zur erweiterten Nutzung von „Scheiße“ treiben die Kunst-Ökologie auf fast schon bizarre Art weiter.

Ein markantes Zitat prangt in Hagen auf einer Wand: „Die optische Umweltverschmutzung ist die gefährlichste, weil sie die Seele des Menschen tötet.“ Meiner Treu, da ist etwas dran, wenn auch der Satz beileibe nicht allerklärend ist und eine Spur zu idealistisch klingt.

Wer will, mag sich – gleichsam meditativ – in diese Bilder versenken oder auch speziellen Hinweisen nachgehen, die sich etwa auf die zahlreichen Zwiebeltürme in Hundertwassers Werk beziehen. Scheinen hier Anregungen aus dem orthodoxen Christentum zu walten, so finden sich anderwärts auch Bauformen, die an Moscheen erinnern. Müßig ist’s, aus heutiger Sicht etwas hineinzudeuten.

Tatsächlich ersehnte Hundertwasser eine friedliche Koexistenz der Weltreligionen, was auch eine von ihm gestaltete Fahne mit grünem Halbmond und blauem Davidsstern belegt. Allerdings regiert in diesem Werk vielfach auch wohlfeile Harmonie, bei der kaum noch etwas wie erkämpft und errungen wirkt.

Mit etwas bösem Willen könnte man weite Teile von Hundertwassers Oeuvre als quirlig farbstarkes Einerlei bezeichnen. Er schreitet den einmal gefundenen Formenkanon mit endlosen Variationen bis zur Erschöpfung aus.

Mit der Zeit wirkt das übersättigend oder auch bloß noch kraftlos dekorativ. Dann ist man zuweilen geneigt, Hundertwasser allenfalls für einen liebenswerten Spinner zu halten. Doch man sollte ihn nicht vorschnell gänzlich abtun. Dieser asketische Weltverbesserer musste seine schöpferische Energie wohl just so und nicht anders in solche Lebenslinien strömen lassen. Damit wir ein für allemal ein Beispiel haben.

Hundertwasser. Lebenslinien. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 1. Februar bis 10. Mai 2015. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 3 Euro), Kinder unter 6 Jahren gratis. Weitere Infos: www.osthausmuseum.de




Krasser „Sanierungs“-Vorschlag: Kunst aus dem Hagener Osthaus-Museum verkaufen…

Im Sommer stach mir beim Einkauf ein Plakat ins tränende Auge, worauf die famose Gruppierung namens „Hagen aktiv“ die Forderung aufstellte, man möge sich doch durch Verkauf des Schumacher-Museums und der mit ihm verbundenen Kosten einiger Gelsorgen entledigen.

Ziemlich überflüssiger Gedanke, weil ohnehin nicht bis an sein finanzielles Ende durchdacht, dachte ich damals und schrieb es auch. Und, was ich noch dachte: Sie sind zwar aktiv, attestieren sie sich selbst, aber wie so häufig ist bloße Aktivität noch weit entfernt davon, vernünftige Gedanken zu entwickeln.

Nun dachte ich, das wär’s gewesen und nach Jörg Dehm, der mal Ferdinand Hodlers „Der Auserwählte“ über Christie’s vom Hohenhof auf den internationalen Kunstmarkt werfen wollte (10 Millionen Bruttoerlös taxierte man damals) und den „aktiven“ Hagenern käme niemand mehr auf Schnapsideen wie den Verkauf von Hagener Kunstwerken. Weit gefehlt: Nun muckt doch tatsächlich ein hoch erfahrener Politiker wie Dietmar Thieser (SPD) auf und merkt an, man könne ja den Verkauf von Magazin-Beständen des Osthaus-Museums ins Auge fassen, von Werken, die weder ein Hagener kennt noch so schnell zu Gesicht bekäme.

Ehrwürdig: der Altbau des Hagener Osthaus-Museums. (Foto: Bernd Berke)

Ehrwürdig: der Altbau des Hagener Osthaus-Museums. (Foto: Bernd Berke)

„Um den maroden städtischen Haushalt zu sanieren, hat Dietmar Thieser, heute Bezirksbürgermeister von Hagen-Haspe (und früherer Oberbürgermeister der Stadt), einen Verkauf von Kunstwerken aus dem Karl-Ernst-Osthaus-Museum ins Spiel gebracht. Darüber müsse man angesichts des Spardrucks und der von den Sportvereinen geforderten Hallennutzungsgebühr diskutieren: ,Es darf keine Tabus geben.’“ So heißt es im WAZ-Portal www.derwesten.de.

Flugs hat Thieser eine populäre Vokabel zur Hand, weil er mit dem energischen Schritt „Transparenz“ in den Magazin-Kellern herstellen wolle, flugs auch noch einen griffigen Vergleich, nicht weniger populär: Nur 7,8 Millionen Euro stecke die Stadt derzeit in die Sportförderung, 28,7 Millionen in Wissenschaft und Kulturförderung. Und nun wolle man die Sportler auch noch mit Nutzungsgebühren für ihre Sportstätten belasten. Wenn das nicht kracht.

Ich schrieb unlängst an anderer Stelle, dass es glatter Blödsinn sei, sich mit der Einführung von erfahrungsgemäß ziemlich erlösschwachen Sportstättennutzungsgebühren eine unselige öffentliche Diskussion an den Hals zu laden. Da isse! Klar, es verbietet sich, Ausgaben für Schule, Sport oder Kultur gegeneinander aufzurechnen. Wer so was beginnt, der wird mit der gestaltenden Politik alsbald aufgeben müssen, weil dann nämlich jede Gruppe mit subjektiv für unverzichtbar gehaltenen Einzelinteressen mit demselben Unsinn begänne.

„Es darf keine Tabus geben“, mahnt Dietmar Thieser via Medien. Natürlich nicht, aber dann gilt diese Aussage auch umgekehrt. Es darf dann auch keine Tabus bei der Sportförderung geben, es darf keine bei öffentlichem Nahverkehr geben, es darf keine bei den Grünflächen geben… usw. Wo hören wir denn da auf? Beim Hasper Kirmeszug? Ja, unbedingt, denn der ist meiner Ansicht nach ein unverzichtbares Stück Hagener Lebens. (Das meine ich ernst!)

Aber, Kunst, Kultur, innovative Sprünge in einer städtischen Lebensqualität, auch sie gehörten stets zu Hagen. Karl Ernst Osthaus, dessen Museumsmagazin Dietmar Thieser versilbern will, war ein Mann, der mit dem Geld seiner Bankiersfamilie viel Seliges für Hagen anstellte. Er begründete die Folkwang-Bewegung, schuf eine unvergleichliche Sammlung, ließ den Hohenhof entstehen, bescherte dem Bahnhof eine noch heute unschätzbare Glasmalerei von Jan Thorn Prikker. Renoir, Matisse, van Gogh, Czézanne, Christian Rohlfs gehörten zu seinem Bekannten- und Freundeskreis. Ohne ihn und die Muttererde Hagens gäbe es in Essen kein Folkwang-Museum.

Nein, wir dürfen keine Tabus setzen. Wir dürfen vor allem keine Angst davor haben, den götzenanbetenden Schwarzzahlenverehrern in Berlin zu sagen, dass sie es sind, die Städte und Gemeinden (namentlich in NRW) wortbrechend veröden lassen, dass sie es sind, die ihnen Lasten auferlegen, die der Bund zu tragen hätte, dass sie es sind, die versuchen, den eigenen finanziellen Sumpf trockenzulegen und gleichzeitig den Kommunen das Wasser bis zum Halse stauen.

Täte der Bund zeitnah das, was er den Städten und Gemeinden nach der zurückliegenden Wahl versprach, müsste in Städten wie Hagen niemand auf so blöde Ideen kommen, Sportstättengeühren als Zwietracht säendes Folterinstrument zu erheben, müsste andererseits auch kein Sportsfreund sich auf die unfaire Vergleichsdiskussion einlassen, wieviel Geld für was und wen ausgegeben wird in einer einstigen Kulturstadt von europäischem Rang.

Langer Rede kurzer Sinn: Macht lieber Vollfront gegen den Unsinn im Bund als darüber nachzudenken, was man alles versilbern könnte, das dann aber unwiederbringlich weg sein wird.

(Der Text ist zuerst in Rudi Bernhardts Blog http://dasprojektunna.de erscheinen)




Magie der monumentalen Baukörper: Bilder von Walter Eisler im Hagener Osthaus-Museum

Der Maler Walter Eisler stellt ins Zentrum seiner Bilder meist riesenhafte Gebäude, die er aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gelöst hat – von der Brauerei bis zum biblischen „Turm zu Babel“. Sind die Bauten von Landschaft umgeben, so bleibt die Natur bloße Kulisse, lediglich ein Kontrast zu den gefügten Steinen.

Doch nichts und niemand trumpft hier auf. Diese Bilder sind gleichsam defensiv, sie wirken wie nach innen gerichtet, in sich selbst versunken. Gerade deshalb üben sie allerdings eine stille, durchaus rätselhafte Anziehungskraft aus.

Walter Eislers Fabrikbild "Krasnaja Snamija", 2009, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Walter Eislers Fabrikbild „Krasnaja Snamija“, 2009, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

„Krasnaja Snamija“ heißt die kleine Schau, die das Hagener Osthaus-Museum Eisler jetzt in der oberen Galerie ausrichtet. Die russischen Worte bedeuten „Rotes Banner“ und beziehen sich auf eine Textilfabrik in St. Petersburg (seinerzeit Leningrad), die 1926 vom berühmten Architekten Erich Mendelsohn geplant wurde und die Eisler 2009 ins Bild gesetzt hat. Die am Bug charakteristisch gerundete, schräg zum Betrachter gestellte Elektrozentrale dieser Fabrik sieht aus wie ein gigantisches Dampfschiff. Auf einem anderen Bild schwimmt „Die Brauerei“ sogar vollends auf dem Wasser. Fremde, in Bewegung geratene Dingwelt.

In einer ähnlich diagonalen Ausrichtung stellt Eisler auch das – ebenfalls von Mendelsohn entworfene – Stuttgarter Kaufhaus Schocken (das 1960 in einem barbarischen Akt abgerissen wurde) keilförmig vor uns hin. Auch hier schiebt sich der grandios gerundete Gebäudeteil in den Vordergrund und eröffnet, als wär’s eine Entscheidung, die man vor dem Bild zu treffen hätte, zwei Wege – links und rechts am Baukörper vorbei. Rechts vor dem Scheideweg findet sich eine unscheinbare Absperrung mit Bausteinen, die freilich den ganzen Bildaufbau durchbricht. Ein seltsam irritierendes und somit bannendes Detail.

Gebäude in Potsdam: "Einsteinturm", 2005, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Gebäude in Potsdam: „Einsteinturm“, 2005, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Ein weiteres Gemälde, das sinnbildlich aufgeladen ist, greift eine Entscheidung, vor die der Betrachter gestellt sein könnte, auch noch im Titel auf: „Die Schaltwarte“ (2002) lässt eine verwirrende, nahezu labyrinthische Raumfolge ahnen, in der man sich schwerlich zurechtfinden kann.

Den monumentalen, im realistischen Duktus eines späten Nachfahren der Neuen Sachlichkeit gemalten Bauten wohnt also eine sonderbare Magie inne. Sie weisen offenkundig weit über ihre Architektur hinaus – aber wohin? Zwar liegt auf den ersten Blick die Gestaltung recht offen zutage, sie scheint sich aber bei näherem Hinsehen vor dem Betrachter zu verschließen, sich jeder raschen Deutung zu verweigern und hermetisch abzuriegeln. Es ist zuweilen, als habe der maskierte „Zauberer“ (2008) seine Hände in solch einem Spiel der Verwandlung.

Hat es mit der Herkunft des Malers zu tun? Walter Eisler wurde 1954 in Leipzig geboren. Er ein einer von zwei Söhnen des DDR-Malergranden Bernhard Heisig (1925-2011) und hat den Nachnamen der Mutter angenommen – wohl auch, um nicht namentlich im Schatten seines Vaters zu stehen, von dessen Stil er sich mittlerweile auch deutlich emanzipiert hat. Schon zu DDR-Zeiten dürfte freilich auch Eisler (und sein Bruder Johannes, gleichfalls Künstler) gelernt haben, Kunstwerke vieldeutig anzulegen und zu verrätseln. Diese Strategie, zu der es im SED-Staat kaum gangbare Alternativen gab, scheint bis heute Walter Eislers Bildsprache mitzuprägen.

Geheimnisvoller Hintergrund: "Infantin", 2010, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Geheimnisvoller Hintergrund: „Infantin“, 2010, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Die rund 35 Bilder umfassende Werkgruppe, die jetzt in Hagen zu sehen ist, stammt jedoch aus den letzten zehn Jahren und ist noch von keinem Museum gezeigt worden. Insofern kann man von Entdeckungen sprechen. Einzig ein noch ganz anders geartetes Selbstporträt von 1986 markiert einen früheren Punkt auf der Strecke, die Eisler seither durchmessen hat.

Angesichts weniger menschlicher Figuren, die das neuere Oeuvre denn auch nur spärlich bevölkern, meint man die Präferenz für gemalte Architektur nachvollziehen zu können. Ein wenig unsicher, manchmal geradezu etwas ungelenk stellt Eisler leibliche Formen dar, vor allem Hände („Die Infantin“, 2010) wirken – sofern ausgeführt – bisweilen wie starre Fremdkörper oder werden gleich nur schemenhaft dargestellt.

Doch kleine Schwachstellen tun den subtilen Stimmungswerten, die in diesen Bildern aufgehoben sind, keinen Abbruch. Gewiss: Mal mag man sich an Giorgo de Chirico, mal an Edward Hopper erinnert fühlen – oder just an die Neue Sachlichkeit. Aber es ist denn doch etwas sehr Eigenes um Eislers Schaffen. In manch einem Bild kann man sich lang verlieren, um die Fährtensuche zu beginnen.

Walter Eisler: „Krasnaja Snamija“. Osthaus-Museum, Hagen (Museumsplatz 1 – Navigation: Hochstraße 73). 26. Juli bis 1. September. Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17 Uhr, Do 13-20 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 2 Euro. Kein Katalog.




Zwischen Weltgeltung, Utopie und herben Verlusten: Das Hagener Osthaus-Museum spürt seiner Geschichte nach

Hagens Osthaus-Museum nimmt jetzt die eigene Geschichte in den Blick – von den Uranfängen anno 1902 bis heute. Doch man geht dabei nicht streng geordnet vor, sondern gleichsam essayistisch, kursorisch, nach Art von Flanierenden.

Damit macht man aus der Not eine Tugend. Denn weite Teile der ursprünglichen Bestände sind ja nicht mehr zur Hand, so dass in einer bloßen Chronologie arge Lücken klaffen müssten. Bekanntlich sind die hochbedeutenden Kernbestände der Sammlung im Jahr 1922, nach dem Tod des Hagener Mäzens und Museumsgründers Karl Ernst Osthaus (1874-1921), nach Essen gelangt. Sie bildeten dort den reichen Fundus des heutigen Folkwang-Museums. In Essen frohlockten sie über den immensen Zuwachs, denn Osthaus hatte mit den Bilderschätzen (u. a. Renoir, Van Gogh, Cézanne) in Hagen ab 1902 das weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst begründet, und zwar gegen den herrschenden Ungeist der Zeit, in der Kaiser Wilhelm II. die Werke der Franzosen als „Rinnsteinkunst“ bezeichnete.

Die wirtschaftsmächtigen Essener konnten Osthaus’ Erben einfach mehr Geld bieten, als Hagen es vermochte. Auch Gerichtsprozesse ums Kunsterbe fruchteten nichts. Es war ein gigantischer Verlust, im Grunde bis heute nicht völlig zu verschmerzen. Hagen verfiel damals für Jahre in eine Art Schockstarre. Erst 1930 wurde mit dem Rohlfs-Museum wieder nennenswertes Neuland betreten. Doch diesen Künstler wiederum verfemten die Nazis bald darauf als „entartet“. Den Hagenern gingen in der Folgezeit rund 400 Werke von Christian Rohlfs verloren – nicht zuletzt durch Plünderung. Eine Sammlungsgeschichte mit Verlusten und Verwundungen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Den zentralen Platz im Entrée der Ausstellung „Der Folkwang Impuls. Das Museum von 1902 bis heute“ nimmt nun Ferdinand Hodlers grandioses Gemälde „Der Auserwählte“ (1903) ein, das gottlob noch zum Hagener Besitz zählt. In diesem Kontext wird noch einmal überdeutlich: Das Werk sollte nie und nimmer verkauft werden dürfen, so sehr steht es für den lebensreformerischen Impuls der Anfangszeit. Zwischenzeitlich hatte es ja Gerüchte gegeben, dass Lokalpolitiker der überschuldeten Stadt Hagen auf einen namhaften Millionenerlös bei britischen Versteigerern spekulierten.

Karl Ernst Osthaus hat keineswegs nur Impressionisten und später Expressionisten gesammelt. Das Hagener Folkwang-Museum hat er sich ungleich vielfältiger vorgestellt. Er war offen auch für außereuropäische Schöpfungen. Von ausgedehnten Reisen, insbesondere in den Orient, hat er zahlreiche Kunstgegenstände mitgebracht, die jetzt großzügig präsentiert werden.

Gebrauchskunst in Handel und Gewerbe sowie Architektur gehörten gleichfalls zu seinen Vorlieben. Überdies hegte der Mann, der durch eine Erbschaft (nach heutigem Wert ca. 30 Millionen Euro, bei relativ moderaten Preisen auf dem Kunstmarkt) unabhängig geworden war, naturwissenschaftliche Interessen. Er besaß eine heute verschollene Kollektion mit Abertausenden von Schmetterlingen und Käfern. Besonders die Farbenpracht der Schmetterlinge hat Osthaus fasziniert. Mit all dem verfolgte er – im Zeichen eines gehörig erweiterten Kunstbegriffs – durchaus pädagogische Absichten. Kunst sollte das ganze Leben ergreifen und die Menschen durch Schönheit veredeln. Welch ein Impuls, welch eine Vision, welch eine Utopie!

Osthaus’ Lebensstationen und seine staunenswert vielfältigen Interessen werden nicht nur mit Kunstwerken, sondern auch anhand von zahlreichen Archivalien (Briefe, Dokumente, Fotos, Plakate etc.) belegt, denn immerhin zählt seit 1963 das Osthaus-Archiv zum Hagener Bestand. Wohl noch nie wurde es für eine Ausstellung derart gründlich ausgewertet wie jetzt durch den emsigen Kurator Christoph Dorsz.

Mit der auf 2300 Quadratmetern in Alt- und Neubau weit ausgreifenden Schau würdigt man zwar zwangsläufig auch die großen Gründungsjahre von 1902 bis 1922, als hier ein veritables Weltmuseum entstand, doch weitet man die Perspektive. Schließlich ist auch in den „restlichen“ 90 Jahren seither weiter gesammelt worden; nicht immer, aber doch wesentlich den frühen Folkwang-Impulsen folgend. Die bringen vor allem die Verpflichtung mit sich, ein waches Augenmerk auf die jeweilige Gegenwartskunst zu haben und dabei auch die örtliche und regionale Szene nicht zu vernachlässigen.

Nach 1945 hat die damalige Osthaus-Chefin Herta Hesse-Frielinghaus die verbliebenen Bestände durch Neuerwerbungen nach Kräften verdichtet. Nun wurden beispielsweise auch Arbeiten der Informel-Künstler, darunter natürlich der Hagener Emil Schumacher, gesammelt. Schritt für Schritt kann man an ausgesuchten Beispielen die Genese des heutigen Eigenbesitzes verfolgen.

Hier kommt einiges am passenden Platze zusammen. Es wird etwas vom Geist des Gründervaters spürbar, je mehr man in die Dokumente eintaucht. Auch Facetten des allgemeinen Zeitgeistes lassen sich erahnen. Und schließlich waltet der Geist des Ortes, vor allem im imposanten Brunnensaal des Museums, dessen historische Zusammenhänge hier gleichfalls beleuchtet werden.

Die Ausstellung ist somit auch eine Selbstvergewisserung des jetzigen Teams um Museumsleiter Tayfun Belgin. Dem Bezug zur lokalen Szene etwa kommt man nach, indem auf Bilder der weltkriegszerstörten Stadt Hagen die Schwarzweiß-Fotos des jungen Hagener Fotokünstlers Andy Spyra folgen. Er hat den Folgen des irakischen Bürgerkriegs für die verbliebenen Christen nachgespürt. Was als thematischer Bruch erscheinen könnte, gehört in Wahrheit hierher. Auch die Dialoge mit den Rändern des Kontinents und mit nicht-europäischer Kunst will man bewusst weiterführen. 2010 war die Türkei an der Reihe, 2013 wird Korea folgen.

Mit dieser Ausstellung begibt sich das Museum auf Spurensuche nach seiner Identität. In Essen (das einige Leihgaben zu den 300 Exponaten beisteuert) hätten sie das wohl nicht in diesem Maße nötig. Aber gerade solche schweifenden Suchbewegungen können ja neue Wege im Gefolge der Traditionen weisen.

„Der Folkwang Impuls. Das Museum 1902 bis heute“. 21. Oktober 2012 bis 13. Januar 2013. Osthaus Museum Hagen. Museumsplatz 3 (Navigation: Hochstraße 73). Geöffnet Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog 19, 90 Euro. Eine Reproduktion der 1912 – also vor 100 Jahren – erschienenen ersten Hagener Folkwang-Katalogbroschüre kostet 4 Euro.
Internet: www.osthausmuseum.de




Das Beste vom Osten – Kunst vor der „Wende“ aus vielen Ländern in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Was bleibt von Osteuropas Kunst aus kommunistischen Zeiten? Diese Frage erwägt jetzt ein vielfältiges Ausstellungs-Projekt im Hagener Osthaus-Museum.

Es geht dabei keineswegs um den grauslichen Sozialistischen Realismus, der die „Errungenschaften der Arbeiterklasse“ in heroisch-kitschigen Bildern pries. In den Blick rücken vielmehr allerlei Arten der widerständigen oder zumindest inoffiziellen und auf Autonomie beharrenden Kunst, die zwischen 1945 und 1985 im Osten entstanden ist.

Die letzte Hagener Schau des scheidenden Museumsdirektors Michael Fehr hat eine windungsreiche Vorgeschichte. Vor wenigen Jahren entstand eine „Fast Art Map“, also eine Landkarte osteuropäischer Kunst aus 22 ehedem sozialistischen Ländern einschließlich der DDR. Datenbasis waren die Vorlieben von just 22 Kunstkritikern, die jeweils ihre heimischen Favoriten benannten – insgesamt 226 Werke.

Aus der Befragung hat sich folglich eine Art Kanon oder Bestenliste ergeben. All das soll auf eine Museumsgründung in Berlin hinauslaufen. Auch Tourneen durch den früheren Ostblock sind geplant. Jetzt aber sind ausgewählte Arbeiten erst einmal in Hagen zu sehen. Eine bemerkenswerte Vorreiterschaft.

„Fahndung“ nach den Exponaten

Die Beschaffung der Exponate war nicht leicht: Diverse Gruppierungen, allen voran die slowenische Formation „Irwin“, beteiligten sich an der Fahndung. Gar manches war in den Wirren der politischen Wende oder durch Emigration der Künstler verloren gegangen. Zudem lautet eine vorsichtige These der Schau, dass „der“ Osten vor allem konzeptionelle Kunst hervorgebracht habe, sprich: Arbeiten, die auf ausgiebiger Denkarbeit beruhten und oft gar nicht so sehr auf materielle Dauer angelegt waren.

Zu den Urhebern der rund 50 Hagener Ausstellungsstücke zählt auch internationale Prominenz, so etwa Christo & Jeanne-Claude (signierte Plakate), Marina Abramovic (Fotografie von einer lebengefährlichen Feuer-Performance), Ilya Kabakov oder Komar & Melamid. Doch darauf kommt es nicht in erster Linie an. In der Gesamtansicht wird jedenfalls deutlich, dass wenigstens diese Künstler Osteuropas dem Westen nicht nachstanden. Schon in den frühen 1960er Jahren wurde auch dort mit ausgesprochen avancierten (Aktions)-Formen experimentiert.

Formen des Widerspruchs

Ein Künstler etwa plakatierte in Zagreb (Ex-Jugoslawien) überlebensgroße Fotoporträts zufälliger Passanten – listiger Protest gegen die ansonsten übermächtige Partei-Propaganda. Auf noch stillere Weise meldete Valery Charkasow Einspruch an: Ein Tisch und Besteck. Sonst nichts. Doch die Lage der Messer und Gabeln ergibt (in kyrillischer Schrift und russischer Sprache) den schlichtweg ergreifenden Satz: „Ich will essen.“

Die Hagener Schau fasert noch weiter ins Grundsätzliche aus. Bonner Student(inn)en der Kunstgeschichte haben spielkartenkleine Reproduktionen des gesamten Kanons (mithin 226 Werke) wie in Puzzles neu sortiert – nach Nationen, Themen und Genres. Lerneffekt: Eine solche Ausstellung könnte auch ganz anders aussehen. Oder: Die jetzige ist nur ein Vorschlag.

„East Art Museum“. Hagen, Osthaus-Museum (Hochstr. 73). 11. Sept bis 13. Nov. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 3 €. Kein Katalog.

Internet: www.keom.de (Museum) und www.eastartmap.org (Gesamtprojekt – Homepage mit Debattier-Möglichkeit).




Satelliten über dem Kuhstall – Hagen: NS-Kunst mit bäuerlicher Wirklichkeit konfrontiert

Von Bernd Berke

Hagen. Osthaus-Museumsleiter Dr. Michael Fehr ist kein Freund des Augenschmauses ohne Hintersinn. Lieber zeigt er Bilder-Folgen, die Gedankenspiele anregen. Darauf zielt auch die Schau „Landschaft und bäuerliches Leben in Südwestfalen“ ab.

Ausgangspunkt sind jene Bilder, die zwischen 1938 und 1944 in den Hagener Museums-Fundus eingingen und seit Kriegsende aus gutem Grund im Depot blieben. Quelle der Ankäufe waren seinerzeit die „Großen Sauerländischen Frühjahrsausstellungen“. Dort gab es Kunst, die den NS-Machthabern genehm war: Bruchlos wurde der Mythos vom treudeutschen Landmann bedient. Das war verlogen, denn gerade in jener Zeit wurde die Rationalisierung bäuerlicher Betriebe vorangetrieben.

Das Schlagwort „Nazi-Kunst“ trifft nur bedingt. Nicht alle diese Werke, die vielfach tradierte Formen aufgreifen, sind gleich schlecht. Ja, es ergeben sich gelegentlich gar ästhetische Anklänge an Arbeiten etwa einer Käthe Kollwitz, die als Kontrast gezeigt werden. Doch bei Kollwitz ist bäuerliche Arbeit kein heroischer Akt für Blut und Boden, sondern irdische Mühsal. Und wenn ein Ewald Mataré ein Rind zur Skulptur formt, so. kommt die behutsame Abstraktion dem Wesen des Tieres ungleich näher als jene muskulösen Wunder-Viecher der meisten NS-Maler.

Der beherrschende Blick von oben

Minder begabte Künstler hielten sich oft an die Überlieferung eines von oben herab beherrschenden Blicks auf die Landschaft. Gespenstisch, wie diese Sicht heute technisch auf den Begriff gebracht wird: Man sieht einen Lehrfilm zur Satelliten-Navigation, mit der aus dem All sämtliche Anbaugebiete der EU metergenau kontrolliert werden. Eine Museumswand ist mit Formularen tapeziert, die ein Bauer heute ausfüllen muss. Sein Hauptarbeitsplatz ist nicht der (automatisierte) Kuhstall, sondern der Computer. Der- Dortmunder Landwirt Erhard Freudenberger, der die Schau mitgestaltet hat, bestätigt es seufzend.

Nicht nur die ausgestellten Schulbücher und Schautafeln lassen es ahnen: Trotz aller Technik wird unsere Vorstellung immer noch vom Rösslein geprägt, das der Bauer im Märzen anspanne. Mit solch grotesken Bewusstseins-Verspätungen geht man am besten ironisch um. Der Künstler Bernd Gutzeit (vormals Karikaturist der WR) hat es getan. Seine raumgreifende Installation mit ausgestopften Tieren und allerlei altem bäuerlichem Gerät lässt uns schmunzeln, aber auch wehmütig spüren, dass diese Welt längst im Meer der Zeit versunken ist.

Osthaus-Museum. Hochstraße 73. Vom 19. Sept. bis 31. Okt.




Ein Halt in der Bilderflut – Selbstbefragungs-Schau „Museum der Museen“ in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Museumschef Michael Fehr erkennt die Zeichen der Zeit: Gegen heftige Medien-Konkurrenz muß sich jede Kunstsammlung behaupten. Sie muß sich als Halt in der Bilderflut erweisen; als Ort, an dem man Bilder noch wirklich wahrnimmt und nicht nur flüchtig hinschaut.

Die neue Schau im Hagener Osthaus-Museum befaßt sich hintersinnig mit dem Wesen der Institution. Archiv, Sammelpunkt, Laboratorium, Wunderkammer, Stätte der Utopie – all das und etliches mehr kann ein Museum sein. Seit jeher haben Künstler diese Funktionen kundig und kritisch überprüft. So auch hier. Das „Museum der Museen“ (Titel) ist auf viele Räume verteilt und gesellt sich so zu den hauseigenen Beständen. Das stiftet zunächst etwas Verwirrung, aber auch viele subtile Querbezüge.

Michael Badura hat ein imaginäres „Museum der Klumpen“ fotografisch dokumentiert – Anspielung auf Sammlerfleiß, der auf „komplette“ Kollektionen aus ist und nie ans Ziel kommt. Just als Sammler gehen Martin Schack (Dortmund) und sein Augsburger Kunstpartner Schreiner zu Werke: Sie nehmen alle möglichen Fundstücke aus Telefonzellen mit, kleben sie auf, katalogisieren sie – von der zertretenen Zigarettenkippe bis zur achtlos zerknüllten Notiz. Hübsche Geschichten ließen sich dazu ausdenken. Schnell hatten die Künstler ein „Museum“ des Liegenlassens beisammen. Bei Fundsache No. 1000 soll Schluß sein.

Sammeln und Fetischismus

Ungleich ernster: Von verlorenen Gegenständen gelangen wir zu vermißten Menschen. Aus Verlust-Meldungen des DRK-Suchdienstes haben die Leute vom Berliner „Bilderdienst“ eine Diaschau erstellt: Gesichter wie aus einer Welt, in der es nur noch Verschollene gibt. Wolfgang Stiller (Berlin) hat ein Zimmer gebaut, in dem sich bizarr wuchernde Gebilde aus streng riechendem Latex häufen. Schöpfen und Sammeln hat wohl auch mit Fetischismus zu tun.

Der New Yorker „Salon de Fleurus“ führt uns in ein fiktives Land, aus dem ein Zeichner allerlei Ansichten zu Kunst, Natur und Technik mitgebracht habe. Als vollends virtuell erweist sich Hans-Peter Porzners Münchner „Museum für Moderne Kunst“, das nicht nur mit trügerischen Einladungskarten für sich wirbt. Es sind schon Leute von weither an die Isar gereist, um die erfundene Sammlung zu sehen. Sie haben (echten) Ärger gemacht.

Aus dem „Museum of Jurassic Technology“ (Los Angeles) kommt der üppigste Beitrag: eine Wunderkammer, gespeist aus dem barocken Geiste eines Universal-Gelehrten, des in Geisa (Thüringen) geborenen Jesuiten Athanasius Kircher (1602-1680). Der hat u. a. die Laterna Magica ersonnen. Magisch erscheint denn auch die Ansammlung kurioser Arrangements, Apparaturen und 3D-Animationen, die hier zu bestaunen sind. Das Wundersame, heraufbeschworen mit modernsten Mitteln – auch dies könnte eine Aufgabe fürs Museum der Zukunft sein.

Osthaus-Museum, Hagen, Hochstraße 73. Vom 24. April bis 20. Juni. Di-So 11-18 Uhr.




Die Erinnerung an das Unrecht ist eine unendliche Aufgabe – Sigrid Sigurdssons Kunstprojekt „Deutschland – ein Denkmal – ein Forschungsauftrag“ in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Wie können Künstler dem Unfaßbaren Gestalt geben, wie können sie die NS-Zeit und zumal den Holocaust in Erinnerung rufen?

Manche wagen die große Gebärde, wie etwa der Amerikaner Peter Eisenman mit seinem umstrittenen Entwurf für das Berliner Holocaust-Mahnmal. Einen völlig anderen Zugang zum schwierigsten aller Themen sucht Sigrid Sigurdsson. Ihre Ausstellung „Deutschland – ein Denkmal – ein Forschungsauftrag“ ist im Hagener Osthaus-Museum zu sehen.

Die aus Norwegen stammende Künstlerin, deren Vater an den Folgen einer KZ-Haft starb, befaßt sich seit drei Jahrzehnten mit den furchtbaren Fakten der NS-Zeit, besonders mit dem System der Lager. Betritt man die Hagener Ausstellungsräume, so spürt man sofort den Ernst und die Würde der Auseinandersetzung.

Freilich ist die spröde, zurückhaltende Form der Darbietung auch sperrig. Zwei bis drei Stunden wird man aufbringen müssen, um Schneisen zu finden, um sich all den Dingen an den Schnittstellen zwischen Kunst und historischer Forschung zu nähern.

Viele, viele Wahlzettel mit Kreuzen für Hitler

Eingangs sieht man, karg aufgereiht, Dutzende von Titelseiten des „Hamburger Fremdenblatts“ aus den Weltkriegsjahren 1939-1945. Das nüchterne Arrangement läßt an eine ewige Wiederkehr des Immergleichen denken. Höllisehe Gleichförmigkeit. Ähnliches gilt für die Schaukästen mit vielen, vielen Original-Wahlzetteln, auf denen Deutsche 1933 ihr Bleistift-Kreuz für Hitler gemacht hatten.

Der zweite Raum vermittelt eine Aura zwischen Gedenkstätte und Archiv. Tatsächlich kann man hier (anhand von Landkarten, Akten, Forschungsberichten und Büchern) Informationen zum NS-Lagersystem sammeln. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland: Die Karte der Schreckensorte (vom KZ bis zum Arbeitslager) ist mit schwarzen Markierungen übersät – bis in alle Winkel der Regionen hinein. Diese Informationen sind auch im Internet zugänglich (www.keom.de) und können per e-mail (elektronische Post) kommentiert oder um Ergänzungsvorschläge bereichert werden. Die Kunst-Installation wird somit zur Keimzelle eines umfassenden „Forschungsauftrags“, an dessen Verwirklichung sich nach Sigrid Sigurdssons Vorstellung möglichst viele Menschen beteiligen sollen.

Keine Meinung vorgeben, nichts zensieren

Auf Arbeitstischen liegen gebündelte Papiere, es sind vor allem Lebensläufe aus jener Zeit. In Hagen ist schon einiges hinzugekommen. Denn jeder, ob Täter, Opfer, Zeitzeuge oder Nachfahre, kann hier biographische Fragmente oder Konvolute hinterlassen. Eine Zensur findet nicht statt. Überhaupt will sich die Künstlerin „keine Meinung anmaßen“. Jede Belehrung, auch jeden Zwang zum Erinnern möchte sie vermeiden. So lagern sich gleichsam immer mer mehr Sedimente der Erinnerung in ihrer Arbeit ab. Oder soll man sagen: sie wuchern?

Denn auch Beliebiges oder Schlimmeres könnte sich einfinden. Doch selbst wenn alle Zulieferungen der Sache dienlich wären und eine feste Bleibe fänden: Wer wollte noch sichten und ordnen, wenn die Sache eines Tages ins Uferlose gewachsen ist?

Man könnte Sigurdssons Installation der Konzept-Kunst zurechnen. Es zählt also in erster Linie die Idee, die einen Prozeß in Gang setzen soll, der hier im prinzipiell unendlichen „Forschungsauftrag“ besteht. Wichtiger Impuls: Erinnerung ist eine Aufgabe für alle Zeiten, die niemals aufhören darf. Während Eisenmans Holocaust-Mahnmal seine Ausmaße monumental vorweisen würde, wirkt Sigurdssons Arbeit bescheiden, obwohl auch sie gedanklich ins große Ganze ausgreift.

Umfassendes, wenn auch begrenztes Anwachsen prägt eine weitere Abteilung. Hier hat Sigrid Sigurdsson (unter dem Titel „Die Architektur der Erinnerung“) Hunderte ihrer Zeichnungen zu Themen-Folianten gebündelt. Hundert mal hundert (also 10000) Blätter sollen es einst werden, fertiggestellt sind 25 Hunderter-Mappen, aus dreien sind jene rätselvollen Bilder der Gewaltsamkeit entnommen, die an den Wänden hängen.

Ging es bis hierhin um Fakten, so nun um die oft alptraumhaften Emotionen. Denn natürlich hinterläßt eine solch einläßliche Beschäftigung mit der NS-Zeit tiefste Spuren in der Seele.

„Deutschland – ein Denkmal – ein Forschungsauftrag“. Osthaus-Museum, Hagen“ (Hochstraße). Bis 4. April. Di-So 11-18, do 11-20Uhr.




Alle Dinge neu erfinden – Hagener Osthaus-Museum präsentiert Allan Wexler und Milly Steger

Von Bernd Berke

Hagen. Im KarI-Ernst-Osthaus-Museum ist jetzt ziemlich viel im Eimer. Nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne. Denn dem US-Künstler Allan Wexler hat es nun einmal dieser vermeintlich simple Alltagsgegenstand angetan. Er spielt nahezu alle Gedankenbilder durch, die vom Wasserbehälter angeregt werden können.

Es ist, als wollte Wexler (geboren 1949) die Dinge der Welt von Grund auf noch einmal neu überdenken und behutsam umbauen. Da fängt man am besten mit den einfachsten Objekten an. Wexlers schier unerschöpfliche, mit Sanftmut umgesetzte Vorstellungskraft läßt also den Eimer viele, viele Zustände durchlaufen, gleichsam auf Probe. Ganz so, als folge er mit ironischem Sinn dem berühmten Brecht-Satz „Er hat Vorschläge gemacht…“

Es gibt hier Eimer mit und ohne Ausgußtülle, es gibt welche aus Holz, aus Gips, manchmal von herkömmlicher Statur, dann wieder umgeformt: zum Trichter, zur Tröte, zur Wanne. Überhaupt sind es die meisten dieser Eimer leid, gewöhnliche Exemplare zu sein. Diesen kann man zu viert tragen wie eine Sänfte, jener mutiert zum überdimensionalen Meßbecher, ein dritter verbirgt sich im Rucksack, ein vierter unter dem Hut. Und so weiter.

Wexler, von Haus aus Architekt, durchstreift die verwaisten Felder zwischen angewandter und freier Kunst. Seine Modelle könnte man nachbauen, beispielsweise jenes theoretisch riesenhafte Aquädukt, das die gesammelten Wassermassen in einen einzigen – nun ja – Eimer leiten soll.

Liebenswert umständlich

Überhaupt wirken viele Gedanken und Formfindungen Wexlers liebenswert umständlich bis abwegig. Der schnurgerade Weg wäre eben nicht der Königsweg der Phantasie. Und die Schrullen von heute sind oft die Ideen von morgen. Auch Schirme und allerlei Flaschen kommen bei Wexler zum Einsatz, um das offenbar kostbare Nass aufzufangen, zu sammeln und zu bewahren. Sein „Gemeinschaftsbrunnen“ sieht ganz so aus, als sollte er nicht nur ein Grundbedürfnis befriedigen, sondern auch ungeahnte Gemeinschaft zwischen den Menschen stiften; wie denn überhaupt derlei herzliches Bemühen um Wassergewinnung auch politisch-soziale Hintergedanken wecken kann.

In der ersten Etage wechselt Wexler die Gegenstände, im Prinzip aber nicht die überaus experimentierfreudige Produktionsweise. Nun widmet er sich mit nicht nachlassender Detailfreude den Stühlen und Tischen. Auch ihre formalen (Un)-Möglichkeiten werden durchgespielt. Wie ißt man auf einem ganz und gar schrägen Tisch? Man legt passende Keile unter die Teller, dann stehen wenigstens die gerade. So tummelt sich Wexler in den Winkeln der Welt und erfindet sie neu.

Die Frau mit der Kraft eines Büffels

Einen denkbar starken Kontrast zu solchen Versuchen setzt die zweite neue Osthaus-Ausstellung. Sie umfaßt rund 50 plastische Arbeiten von Milly Steger (1881-1948), die lange Zeit in Hagen gelebt und dieser Stadt anno 1911 auch einen handfesten Kunststreit beschert hat, als sie vier überdimensionale nackte Frauenfiguren aufs Theater setzte.

„Die Grenzen des Frauseins aufheben“ heißt, ein wenig pathetisch, diese Schau. Gemeint ist, daß man weiblichen Wesen zu Beginn Beginn des Jahrhunderts weder das räumliche Denken noch die physische Kraft zutraute, um Skulpturen zu schaffen. Milly Steger aber setzte sich in der Männerdomäne derart durch, daß Else Lasker-Schüler sie lyrisch als „Büffelin an Wurfkraft“ pries. Die Skulpturen-Auswahl vermittelt ein uneinheitliches Bild. Mal kommt Milly Steger Zeitgenossen wie Barlach oder Lehmbruck an Ausdruckskraft nah, dann wieder verschwimmen die Züge ihrer Figuren ins gar zu Gefällige.

Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen (Hochstraße 73 / 02331 / 207 31 38). Ausstellungen Allan Wexler (Katalog 32 DM) und Milly Steger (Katalog 30 DM), jeweils ab heute bis zum 1. November. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr.




Glück des Gleichgewichts und „geistbewegende Pflanzen“ – Jan Meyer-Rogge und Pablo Amaringo im Osthaus-Museum

Von Bernd Berke

Hagen. Der Künstler Jan Meyer-Rogge will „Sicherheit und Unsicherheit zugleich wecken“. Wie macht er denn das?

Mit empfindlichen Balancen, mit Spielen des Gleichgewichts möchte er die Wirkung erzielen. Sogar Informatiker der Uni Dortmund sahen sich kürzlich nicht in der Lage, die physikalischen Grundlagen dieser Kunst ohne weiteres zu kalkulieren. „Erfahrung, nicht Berechnung“ liegt denn auch jenen Arbeiten zugrunde, die Jan Meyer-Rogge (Jahrgang 1935) jetzt im Hagener Osthaus-Museum zeigt.

Ganz gleich, ob es sich um Ringe, Scheiben, Zylinder oder Vielecke handelt – es würde zumeist ein kleiner Stips genügen, um sie stürzen zu lassen. Auf den Punkt genau sind die labilen Objekte ausgelotet. Es sind Kippfiguren, stets dicht davor, umzuschlagen in etwas anderes, vielleicht Chaotisches. Festgehalten wird der schmale Augenblick des Gelingens. Meyer-Rogge selbst hält angesichts solcher Equilibristik zuweilen den Atem an, „als wenn ich einen Bogen spanne“. Ihn fasziniert der meditative Moment des endlich erreichten und doch schon wieder bedrohten Gleichgewichts, eben jener Moment zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Sehr gefährdet erscheint solche Art von Kunst.

Visionen aus dem Regenwald

Gänzlich anders das zweite Projekt, mit dem das Hagener Museum zugleich aufwartet. Geboren ist es nicht aus dem europäischen Geiste der Physik, sondern aus Schamanentum. Der Peruaner Pablo Amaringo hat seine Visionen aus dem bekanntlich gefährdeten Amazonas-Regenwald in Bilder einfließen lassen. Um seine Wahrnehmung in Einklang mit der Natur zu bringen, hat er sich des Saftes einer Lianenpflanze namens Ayahuasca bedient, aus dem man eine Art Droge gewinnen kann – im Umkreis der dortigen Kultur eine völlig andere, mit Tradition und Ritualen unterfütterte Sache, nicht vergleichbar etwa mit Haschisch-Konsum in unseren Breiten. Im Hagener Museum hört man das Wort „Droge“ folglich gar nicht gern, man spricht lieber von „geistbewegenden Pflanzen“.

„Die Pflanze als Lehrer“ heißt die Amaringo-Ausstellung. Sie ruft Vorstellungen von gegenseitiger Beeinflussung von Menschen und Gewächsen wach, in die sich ein Mitteleuropäer wohl nur schwer einfühlen kann.

Nun ist das alles gewiß ethnologisch und kulturgeschichtlich interessant. Zudem ist der Schamanismus durch Joseph Beuys auch in unserer Kunst etwas heimischer geworden. Und schließlich gibt es eben mehr Rätseldinge zwischen Himmel und Erde, als trockene Schulweisheit sich träumen läßt. Doch das künstlerische Ergebnis ist im Falle Pablo Amaringos nicht überwältigend. Die überaus bunten Bilder ähneln letztlich doch jenen naiv in Farbverschlingungen vibrierenden „psychedelischen“ Postern vom Ende der 60er Jahre. Es strömen und fließen die diffusen Energiefelder. Derlei Berauschung ist noch keine große Kunst.

Jan Meyer-Rogge/Pablo Amaringo. Osthaus-Museum, Hagen. Beide Ausstellungen bis 31. Juli. Tägl. außer Mo 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog Meyer-Rogge 30 DM. Katalog Amaringo 130 DM.




Aids macht auch Künstler hilflos – Hagen: Bilder und Objekte zum Thema Immunschwäche

Von Bernd Berke

Hagen. In einer Ecke des Museums erhebt sich ein Hügel aus lauter Bonbons. Die Info-Tafel verkündet: Jene leckeren Kleinigkeiten wiegen zusammen so viel wie ein abgemagerter Aids-Kranker. Symbolisch dürfen die Besucher den Mann gleichsam weiter schrumpfen lassen, indem sie je ein Bonbon wegnehmen. Welch ein Kurzschluß zwischen Tod und Genuß!

Ist das nun eine eindringliche Mahnung oder schlicht eine Geschmacklosigkeit? Diese Frage kann man sich in der Hagener Ausstellung „Thema: Aids“ ständig stellen.

Hagen ist einzige deutsche Station der Schau, die aus Oslo kommt und praktisch nur Aids-Kunst aus den USA versammelt. Dort ist die Diskussion weiter fortgeschritten und hat ganz offenbar Künstler animiert, sich weniger um ästhetische Werte als um die korrekte Behandlung sozialer Fragen zu kümmern. Wie prekär und zuweilen peinlich derlei beflissene Trauerarbeit sein kann, hat kürzlich Fritz J. Raddatz in der „Zeit“ für die Literatur dargelegt. Manche seiner Bedenken können wohl auf bildnerisches Schaffen übertragen werden.

Symbol, laß nach!

Man schaue sich an. wie etwa Barton Benes das Thema unter sich begräbt: Erst zeigt er Fixernadeln als Molotow-Cocktails, dann setzt er eine Dornenkrone daneben. Symbol, laß nach! Fast untrügliches Zeichen für ästhetische Hilflosigkeit: Einige Künstler brauchen enorm viele Schriftzeichen und Worte, um ihr Anliegen zu verdeutlichen. Schier endlose Listen mit Namen von Aids-Toten sind ein weiteres Mittel, das sich längst abgenutzt hat. Da hilft es auch nichts, wenn die Kolumnen in goldenen Lettern präsentiert werden, als solle das Ableben durch Aids veredelt werden.

Hilflosigkeit liegt dem Thema natürlich nahe. Sie trägt denn auch humane Züge. Davon zeugen etwa die vielen Foto-Sequenzen über körperlichen Verfall. Nur muß man dies nicht unbedingt Kunst nennen, sondern engagierte Dokumentation. Andere nehmen das Thema unter Lupe und Mikroskop: womöglich infektiöses Ejakulat in verfremdender Großaufnahme, desgleichen Blut, Zellen, Viren.

Bundeszentrale als Förderer

Man ist dankbar für verzweifelt-sarkastische Schlenker. so etwa bei jenen zunächst verdeckten GIücksspiel-Karten, die hernach die Konterfeis von Aids-Toten vorweisen. Fast jede Karte ein Verlust, nur ein paar Joker haben gewonnen. Ein Blatt zeigt den Kopf von Keith Haring, der vor einigen Jahren an Aids starb. Sein titelloser Beitrag von 1988, eine Art Virus-Labyrinth als schwarzweißes Riesenformat, zählt zu den besseren Arbeiten.

Im Seitenkabinett sieht man Aids-Aufklärungsplakate aus aller Welt, im Vorraum ebenso gut gemeinte Beiträge der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die das Projekt fördert und als „positive Strategie“ preist. Kann Kunst strategisch wertvoll sein?

Thema: Aids“. Osthaus-Museum, Hagen. Ab sofort bis 9. Januar 1994. Tägl. außer Mo 11-18, Do 11-20, So 11-18 Uhr.




Baukasten des Alltags – Allan Wexler in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Hier steht ein Plastikbecher, dort liegen hunderte von Zahnstochern. Und nun kommt einer auf diese Idee: Wie bastele ich aus den Hölzchen Halterungen für das unscheinbare Trinkgefäß?

Abenteuerlich komplizierte und komische Konstruktionen kommen dabei heraus, wenn sich der Amerikaner Allan Wexler der Aufgabe annimmt – bis hin zum abstrusen Türmchen, in dessen Zinnen majestätisch der Becher ruht.

Die Sache hat ihren Witz, aber beileibe nicht nur das. Wexler, ein Grenzgänger zwischen Architektur, Design und freier Kunst, macht mit seinen Phantasie-Bauten Alltagsdinge fremd und damit auf kuriose Art bewußt. Seine Hagener Ausstellung ist eine bemerkenswerte Deutschland-Premiere.

Zwar hat der Mann Architektur studiert, aber praktisch nie ein Haus entworfen, das dann auch gebaut wurde. Ein Hauptgrund, so sagt er, war die Protest-Stimmung zur Zeit des Vietnamkrieges. Ihm und seinen Freunden sei es damals eben nicht um Auf bau gegangen, sondern um neue Denk-Konzepte, mithin um „Abriß“ des Herkömmlichen.

Also nimmt er, bis heute, die Dinge lieber mit Lust auseinander. Beispielsweise eine Kaffeemaschine, die er säuberlich in alle Einzelteile zerlegt hat und in einer Art Baukasten präsentiert – mitsamt der fotografischen Anleitung, wie man den Apparat in 51 Arbeitsschritten wieder zusammenfügen kann. Seine kleinen hölzernen Modelle von Häusern oder Badezimmern wären auch in Baugröße schwerlich bewohnbar, sie gehören ins Reich der Freiheit. Da ist mal das Innere nach außen gestülpt, da wuchern winzig witzige Details, da finden sich an allen Ecken und Enden kleine Überraschungen. Das weckt Entdeckerfreude beim Betrachter, und auch der Künstler scheint seinen Spaß gehabt zu haben.

Ersparen wir uns das Schwerdenkertum über Dekonstruktion und Postmoderne – Richtungen, mit denen Wexler spielerisch umgeht – und schauen wir uns lieber noch seinen Eßtisch an. Der steht auf einer schiefen Ebene, alle Tassen und Teller würden rutschen oder umkippen, hätte nicht Wexler mit lauter untergeschobenen Keilen und mit Hilfe von Wasserwaagen das Ganze wieder notdürftig ins Lot gebracht. Welch eine brüchige, fragile „Normalität“!

Allan Wexler. Osthaus-Museum, Hagen (Hochstraße 73). 2. Okt. bis 21. Nov. Di, Mi, Fr und Sa/So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 30 DM.




Frischer Wind beim Westdeutschen Künstlerbund

Von Bernd Berke

Hagen. Von „Vereinsmeierei“ will man beim Westdeutschen Künstlerbund nichts mehr wissen. Wie der Vorsitzende des in Hagen ansässigen Verbandes, Horst Linn, gestern sagte, seien, die Jahresausstellungen keine gesicherten Felder mehr für altgediente Mitglieder. Im Gegenteil: Der Altersdurchschnitt der beteiligten Künstler sinke. Junge Künstler hätten oft gar keine anderen Ausstellungsmöglichkeiten als beim Künstlerbund.

Für die Ausstellung, die jetzt im Hagener Osthaus-Museum zu sehen ist, hatte man eigentlich ein Leitthema vorgegeben: „Geschichtsbilder“. Doch sei es, daß derzeit einfach zu viel reale Geschichte sich ereignet, sei es, daß die Künstler sich nicht unmittelbar darauf einlassen wollten – es kamen jedenfalls zu wenig Bilder zusammen, die dem Thema entsprachen. Also taufte man die Schau „querbeet“. Das paßt, denn thematisch und stilistisch ist die Auswahl vielfältig.

Über 110 Arbeiten von rund hundert in NRW geborenen oder hier lebenden Künstlern sind zu sehen. Gut, daß es eine offenbar strenge Jurys-Auswahl gab (was für zahlreiche Austritte aus dem Verband sorgte) und daß zudem Gäste eingeladen wurden, die dem Verband nicht angehören, denn dadurch liegt die Ausstellung qualitativ spürbar über dem, was man von anderen Künstlerbund-Schauen kennt.

Die allermeisten Arbeiten sind erkennbar zeitgenössisch; mit bloßem Kunsthandwerk und starrsinnigem Festhalten an längst verblühten Stilen hält sich da niemand mehr auf. Freilich gibt es auch kaum Arbeiten, vor denen man wie gebannt stehenbleibt — und manchmal wird es auch recht oberflächlich, so etwa bei Silke Rehberg, die drei mehr oder weniger edlen Mineralwassermarken vermeintlich passende Türklinken zuordnet — wer das Modewässerchen „XY“ trinkt, hat auch eine moderne Klinke. Wer hätte das gedacht?

Ziemlich simpel auch Bernhard P. Woscheks Arbeit „3 Deutschländer“ — Landkarten-Reliefs aus verschiedenen Materialien. Im dritten Deutschland kann sich der Betrachter spiegeln. Na und?

Doch dann gibt es auch einige formal gelungene und gedanklich durchdrungene Exponate. Stellvertretend für andere seien die Arbeiten von Robert Imhof und Helfried Hagenberg genannt.

Ein Eindruck, den die gesamte Ausstellung nahelegt, ist der einer beschleunigten Beeinflussung: Trends der großen überregionalen Ausstellungen kommen offenbar sehr viel schneller bei einer breiten Menge von Künstlern an als ehedem — wenn auch zuweilen etwas ausgedünnt.

„Querbeet“ (24. Jahresausstellung des WestdeutschenKünstlerbundes). Osthaus-Museum, Hagen. 9. September bis 6. Oktober. Katalog 15 DM.




Eine Welt voller Fälschungen – Hagener Ausstellung über Imitationen

Von Bernd Berke

Hagen. Die „Betenden Hände“ sind im Osthaus-Museum zu sehen, aber sie stammen nicht von Dürer. Auch die „Démoiselles d’Avignon“, Ur-Bild der Moderne, sind hier nicht von Picasso. Und ein gleichfalls berühmtes Pissoir-Becken ist nicht jenes Objekt, das Marcel Duchamp seinerzeit zur Kunst erklärte (wobei der ja selbt schon den Originalitäts-Begriff ad absurdum führte).

Bei der Ausstellung „Imitationen“ dreht sich eben alles – verwirrend vielfaltig, vertrackt vielschichtig – um Fälschungen, Nachahmungen, Duplikate, Simulationen, Kopien, Parodien und dergleichen mehr.

Die Ausstellung kommt aus Zürich. Sie war dort in einer großen Halle des Museums für Gestaltung zu sehen, wo man sich hauptsächlich mit Design befaßt. In Hagen hat man einiges verändert. Die Schau schlängelt sich hier durch weite Teile des Museums, sie greift auch – beinahe dschungelhaft – auf den Altbau über. Aber man hat hier durch das Design-Dickicht „Kunst-Schneisen“ geschlagen, wie es einem Kunstmuseum zu Gesicht steht.

Auf die falsche Toilette gelockt

Auf dem Geländer sitzt ein Junge, er droht in die Tiefe zu stürzen. Wenn man schon „Vorsicht!“ rufen will, merkt man: es ist eine Plastik. Fälschungen überall. Selbst der Feuerlöscher an der Wand stammt von einem Künstler. Ja, die Besucher werden sogar auf eine falsche Toilette gelockt, Fotos von Prominenten erweisen sich als Doppelgänger-Porträts. Und die Exponate aus der Warenweit sind allemal verdächtig. Nicht jedes Hemd mit Krokodil stammt bekanntlich von Lacoste.

Auch der Mensch wird „umgefälscht“. Mal besteht der Körper zum Teil aus Prothesen, mal steckt er, als vermeintlich unverletzbarer „Soldat der Zukunft“, in einer roboterhaften Kampfmaschine. die bei diversen Armeen tatsächlich geplant wird.

Und weiter geht’s: eine vor Jahren in Iserlohn gefunde Bombe – schnöde Attrappe; Stücke aus der Berliner Mauer – trotz eines hingehudelten „Zertifikats“ anrüchig.

Am Ende ist man rundum mißtrauisch

Mitunter bekommt man auch einen Einblick in die Werkstätten der Augentäuschung. So hat der Dortmunder Geigenbauer Volker Bley in einem Kasten alle Utensilien gesammelt, mit denen man nagelneue Instrumente auf „Stradivari“ ummodeln kann, Staubschicht der Jahrhunderte inclusive. Man erhält Verwunderungs-Anstöße en masse. Nur eine vom Bochmer Stadtarchiv zusammengestellte Geschichtscollage aus Fundstücken fügt sich nicht ganz glücklich ein.

Am Ende des Rundgangs ist man jedenfalls dermaßen mißtrauisch, daß man selbst die echten Exponate aus der ständigen Sammlung scheel anguckt. Doch die sind genau so echt wie die Besucher, die man gestern zur Eröffnung einer strengen Ausweiskontiolle, vorgenommen durch einen Schauspieler, unterzog.

„Imitationen“. Osthaus-Museum, Hagen. Bis 15. April. Begleitbuch 35 DM, Ausstellungsführer ca. 18 DM.




Ahnungen vom Wesen und Wirken der Pflanzen – Herman de Vries will unser Natur-Bewußtsein erweitern

Von Bernd Berke

Hagen. Museen zeigen oft das, was es s o nicht mehr gibt, aber vielleicht (wieder) geben sollte. Das Hagener Osthaus-Museum zeigt Pflanzen. Vorbotschaft drohender Zeiten, in denen wir die Natur nur noch in sorgsam behüteten Relikten, mithin nur als Vergangenes besichtigen können?

Nicht ganz. Der holländische Künstler Herman de Vries (58) sammelt seit Jahren Pflanzen auf Reisen und an seinem Wohnort im fränkischen Steigerwald, wo er noch eine erstaunliche Vielfalt vorfindet. Aus Marokko, dem Senegal und Indien hat er rund 2000 Beispiele (vornehmlich mit heilenden Wirkstoffen) mitgebracht und jetzt erstmals in solcher Fülle arrangiert: Die Ausstellung „Natural relations“ (Natürliche Beziehungen) hat in Hagen Premiere, geht dann weiter nach Holland und Dänemark.

De Vries erhebt keine Anklagen in Sachen Umwelt, er will uns ein sinnliches Naturerlebnis vermitteln, das man auch mit der Nase nachvollziehen soll. Im Museum verströmen nun botanische Boten fremder Länder betörend-exotische Würzdüfte, während das Steigerwald-Grün schon geruchsweise „deutsche“ Herbheit ahnen läßt.

Rauschmittel im „verschlossenen Paradies“

De Vries will keineswegs die wissenschaftliche Botanik außer Kraft setzen, wohl aber sie versöhnen mit verschüttetem, nicht-rationalem Wissen von Wesen und Wirkung der Pflanzen. Dies bedeutet zugleich den Versuch, die Grenzen zwisehen Wissenschaft, Kunst und Leben zu sprengen und schließt auch „geistbewegende“ (de Vries) Effekte ein, deren pflanzliche Urheber in einem ständig bewachten Gewächshaus gezeigt werden. „Das verschlossene Paradies“ (Werktitel) enthält – vom Tabak über Mohn, Stechapfel und „Traumwurzel“ bis zum Mescalin-Kaktus – Gewächse, die zur Erzeugung von Genuß- und Rauschmitteln taugen. Selbst eine vermeintlich harmlose Zierde wie die Buntnessel zählt übrigens dazu. Aufzucht in Hagens Stadtgärtnerei und Aufstellung im Museum mußten eigens vom Bundesgesundheitsamt genehmigt werden.

Der Künstler proklamiert nicht etwa den Gebrauch solcher Mittel. Im Gegenteil: Er glaubt, daß wir uns so weit von den „Ursprüngen“ entfernt haben, daß wir mit solchen Substanzen gar nicht mehr umgehen können. Gleichwohl hat de Vries einiges am eigenen Leibe erprobt und darüber Buch geführt: Es nennt alle Pflanzen(produkte), die er zu sich genommen hat – von Senf und Blumenkohl bis hin zu Drogen. Der Mensch – letztlich ein Produkt und Abkömmling der Pflanzenwelt?

Blüten, Blätter, Stauden, Samenkörner usw. hat de Vries auf langen Tuch-Bahnen ausgelegt, und zwar auf dem Fußboden, denn: Wachstum habe eben mit Boden zu tun; zudem hätten jene Pflanzen, die er auf Märkten erwarb, zu ebener Erde im Angebot gelegen.

Es gibt keine sprachlichen Hilfen, keine Bezeichnungen – und somit auch keine hinderlichen Wort-Barrieren. Die Funde sind lediglich numeriert. Informationen können später im Katalog (800 Seiten!) nachgeschlagen werden. In der Ausstellung selbst muß man die Sinne bemühen, schauen und schnuppern.

Die Pflanzenreihen sind nicht nach künstlich-ästhetischen Mustern sortiert. Mögliche „Aussage“: Natur, allein und für sich betrachtet, ist schön genug, ihr Formen- und Farben-Reichtum ist immens. Auch rückt die bloße Präsentation in einem Museum diese Exponate bereits in einen ästhetischen Zusammenhang. Doch nicht immer verzichtet de Vries auf nach- und ausdrückliche Kunst-Anstrengung: 108 Pfund Rosenblüten wandelten sich unter seiner Hand zum magischen Kreis namens „rosa damascena“.

Osthaus-Museum. Hagen, Hochstraße 73. Bis 24.9., di-sa 11-18 Uhr, do 11-22 Ubr, so 11- 16 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 4 DM, Katalog 50 DM.




„Sammlung Berg“: Osthaus-Museum zeigt seine kostbare Erbschaft

Von Bernd Berke

Wenn die in Hagen ansässige Industrie- und Handelskammer (IHK) Südwestfalen ihre Jahreshauptversammlung zwischen lauter Kunstwerken abhält, muß das eine besondere Bewandtnis haben. So wie letzten Donnerstag im Hagener Osthaus-Museum.

Die Wirtschafts-Experten der Region, sonst vorrangig mit nüchternen Bilanzen befaßt, gerieten ins Schwärmen über ein bemerkenswertes Kunst-Erbe der Stadt: Die „Sammlung Berg“, mit kostbaren Bildern aus Impressionismus und Expressionismus, hebt, so freut sich auch Osthaus-Chef Dr. Michael Fehr, „das Niveau des Museums noch einmal spürbar an“. Arbeiten so berühmter Künstler wie u. a. Lyonel Feininger, Erich Heckel, Alexej Jawlensky, Ernst Ludwig Kirchner, Emild Nolde, Max Pechstein und Auguste Renoir rechtfertigen diesen Stolz.

Die neue Kollektion paßt so „angegossen“ zum bisherigen Sammlungsbestand, als hätte man sie gezielt auf dem Markt erworben, was wegen horrender Preise heutzutage praktisch unmöglich ist. Nur genaue Kenner des Museums an der Hochstraße werden denn auch auf Anhieb alle neuen Bilder herausfinden können. Kleiner „Geheimtip“: Jene, die (noch) von Goldrahmen eingefaßt sind, gehören zur „Sammlung Berg“.

Bilder fügen sich bestens zum bisherigen Eigenbesitz

Die Hagener Erbschaft stammt von Fritz Berg (1901-1979), einem mittelständischen Industriellen (Drahtverarbeitung) aus Altena. Berg war von 1946 bis 1971 Präsident der IHK Südwestfalen und langjähriger Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Seine im Dezember 1988 verstorbene Witwe Hildegard Berg vermachte die Kunstsammlung, zu der auch Ostasiatika wie chinesiches Porzellan und historische Möbel gehören, völlig überraschend dem Osthaus-Museum. Ursprünglich hatte sich ein anderes Kunstinstitut Chancen ausgerechnet. Bedingung: Hagen muß 21 Gemälde in der ständigen Ausstellung präsentieren und darf sie nicht weiterverkaufen. Da sich die „Sammlung Berg“ so glückhaft in den angestammten Osthaus-Besitz einfügt, fällt beides leicht.

Mit der Übergabe des Nachlasses verheilt zum Teil eine alte Hagener „Wunde“. 1922, nach dem Tod von Karl Ernst Osthaus, wanderte dessen Kunstsammlung nach Essen, wo sie das Folkwang-Museum bis heute zur „feinen Adresse“ macht. Beispiel Lyond Feininger: Bisher besaß das Osthaus-Museum zwei seiner Arbeiten, ein Aquarell und das Ölbild „Gaberndorf I“ (1921), eine für diesen Künstler typische Überlagerung prismatischer Architektur-Formen.

Sinnvolle Ergänzungen bei Feininger und Heckel

Jetzt kann man mit „Am Quai“ (1908) auch die frühe Phase dokumentieren, in der sich Feininger gerade erst als freischaffender Künstler zu etablieren begann. Bis dahin hatte er vor allem als humoristischer Zeichner und Karikaturist gearbeitet. Das Hafengemälde zeigt nun den Übergang zum Tafelbild: Die Figuren sind karikaturhaft überzeichnet, und gleichzeitig deutet die Ausführung auf Feiningers späteren Stil voraus – besonders der Umstand, daß praktisch jedes Ding und jede Figur unter einer eigenen Perspektive dargestellt wird. Bei genauerem Hinsehen merkt man sogar, daß auf verschiedenen Bildteilen der Wind aus verschiedenen Richtungen weht. Der Hafen als Ort einer verwirrenden Gleichzeitigkeit, von vielerlei Abschied, Ankunft, Sehnsucht und Einsamkeit. Auch für eine spätere Feininger-Phase gibt es jetzt einen Beleg in Osthaus-Besitz: „Frau mit rotem Haar“ (1927) markiert den Übergang zu einer neuen Beschäftigung mit dem menschlichen Bildnis.

Genau so sinnvoll ist die Ergänzung bei Erich Heckel. Vom Maler der expressionistisehen Künstlergruppe „Brücke“ konnte man bisher „Frühling in Flandern“ (1915/16) zeigen – verzweifelter Seelenzustand in Form einer Landschaft, Bild der „verbrannten Erde“. Nun ist, als Kontrast, „Gehölz am Meer“ hinzugekommen, ein Vorkriegsidyll von 1913. Dieses Bild hat einen gar nicht idyllischen Irrweg hinter sich. Anfangs hing es in der Kunsthalle Bremen. Dann, von den Nazis als „entartet“ gebrandmarkt und vermutlich 1937 in Zürich für Devisen versteigert, befand es sich in den USA, bevor es in den 50er Jahren in einer Münchner Galerie auftauchte und von Fritz Berg erworben wurde.

Ein besonderes Stück ist auch Auguste Renoirs „Blick von Haute-Cagnes aufs Meer“ (nach 1903); es gibt nur ganz wenige „Renoirs“ in unserer Region, bislang mußte man mindestens nach Essen fahren, um einen zu sehen. Den materiellen Wert kann man nur schätzen, vergleichbare Bilder dieses Malers haben jedenfalls auf Versteigerungen – vorsichtig formuliert – höchst namhafte Preise erzielt.

Dies und die anderen Bilder der „Sammlung Berg“ bedeuten auch ein gehöriges „Pfund“, mit dem das Osthaus-Museum künftig bei seinen Wechselausstellungen „wuchern“ kann. Denn die Ausleihpraxis zwischen Museen funktioniert nun einmal nach dem Motto: Nur wer attraktive Leihstücke anbieten kann, bekommt auch welche.

Die „Sammlung Berg“ ist ab Sonntag im Zusammenhang mit bisherigen Beständen als Dauerausstellung zu sehen (Katalog 12 DM). Öffnungszeiten des Osthaus-Museums, Hagen, Hochstraße 73 (Tel.: 02331/207 576): So 11-16 Uhr, Di/Mi/Fr/Sa 11-18 Uhr. Do 11-22 Uhr, montags geschlossen.

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(erschienen in der Wochenend-Beilage der Westfälischen Rundschau)




Was Künstler aus Würfeln machen können – Hagener Ausstellung mit spielerischen Akzenten

Von Bernd Berke

Hagen. Der eine Würfel kann aufgeklappt werden, bis sich nur noch eine hölzerne Linie über den Fußboden erstreckt, ein zweiter blockiert bedrohlich einen Treppenaufgang, ein dritter hat fensterartige Öffnungen und wird so zum Würfelhaus, im vierten leuchtet ein Gedicht-Text als geisterhaftes Hologramm.

Der Würfel ist, das erfährt man jetzt in einer sehenswerten Ausstellung des Hagener Osthaus-Museums, kein simples und einförmiges Ding. Rund 60 Arbeiten von 37 Künstlern (darunter so hoch gehandelte wie Sol Lewitt und Tony Smith) belegen die Wandelbarkeit des scheinbar profanen Urthemas.

Für die Schau „Aus dem Würfelmuseum“ wurden ausschließlich Künstler geholt, die sich ausführlich mit Kubus-Themen befaßt haben. Daß sie über diese Formen lange nachgedacht haben, merkt man vielen Arbeiten auf den ersten Blick an, so etwa Diethelm Kochs besagtem Klappwürfel oder seinen aus Recht- und Dreiecken gebildeten, fast mathematisch ausgetüftelten Würfelfaltungen. Derlei Konstruktionen wiederum ironisiert Alfonso Hüppi mit seinen „Ent-Würfelungen“. Dekonstruktion also, eine Art „Abbau“, betreibt auch Ewerdt Hilgemann, der einem hohlen Stahlwürfel die Luft entzog, worauf das gute Stuck zum Knautschgebïlde schrumpfte. David Nashs „Crashing Boxes“ geraten gleichfalls aus der angestammten Form. Nash baute sie aus verschiedenen HolzSorten (Eiche, Esche), die auch unterschiedlich trocknen, so daß sich die Linien verziehen.

Überhaupt ist das spielerisch-ironische Moment in der Ausstellung stets gegenwärtig. Der Holländer Herman de Vries, vielleicht ein Anhänger des Würfelspiels, macht sich den puren Zufall zunutze und kippt einige Dutzend Würfel aus einer Kiste in die Museumsecke. Wie’s dann liegt, ist’s halt recht. Oft spielt auch nicht nur das faßbare Material eine Rolle, sondern auch Schattenlinien, so bei Hans Florey, der aus lauter kleinen Farbwürfeln eine wiederum würfelförmige Netzstruktur bildet, die einem biochemischen Anschauungsmodell gleicht. Hier und bei anderen Werken macht geschickte Beleuchtung den Verlauf von Schattenlinien zu Bestandteilen der Kunstwerke.

Ein durch und durch systematischer Beitrag stammt von Dieter Hacker, der zeichnerisehe „Reihenuntersuchungen“ an Würfelformen vorgenommen hat. Ausgerechnet dieser Künstler hat sich übrigens inzwischen am weitesten vom kühlen Konstruktivismus entfernt, er ist zur expressiven Kunst „abgewandert“.

Ähnlich wie in Lüdenscheid, wo Bürger dem Museum Knopfkunst liefern können, kann man sich auch an der Hagener Würfel-Schau beteiligen. Wer möglichst pfiffige, würfelförmige Gegenstände hat – vom Suppenwürfel bis zum abstrakten Objekt – kann sie dem Museum für die Dauer der Ausstellung überlassen. Auch einschlägige Ideen sind hochwillkommen, denn zur Ausstellung erscheint zwar kein Katalog, wohl aber nachher ein Buch, das sich dem Würfelthema eingehend widmet. Osthaus-Chef Dr. Michael Fehr: „Mit der Ausstellung hört das Thema nicht auf, es beginnt erst.“

Osthaus-Museum, Hagen, Hochstraße 73. Bis 27. März (Di.-Sa. 11-18 Uhr, Do. bis 22 Uhr, So.11-16Uhr), Führungen donnerstags ab 18.30 Uhr. Katalogbuch (25 DM) erscheint erst nach der Ausstellung.




Hagen: Design und Anti-Design – Leistungsschau des Nachwuchses

Von Bernd Berke

Hagen. Um Ausstellungs-Ideen ist Michael Fehr, Leiter des Hagener Osthaus-Museums, nie verlegen. Kürzlich holte er die Jux-„Sammlung von der Lippe“ ins Haus (WR berichtete). Jetzt macht Fehr wieder Ernst: Das Museum an der Hagener Hochstraße soll zu einem Mekka für junge Designer werden. Erstmals können hier alle neun Design(hoch) schulen von NRW ihre besten Abschlußarbeiten vorzeigen (bis 4. Dezember).

Künftig soll diese Leistungsschau des Designnachwuchses zur Regel und schon ab 1989 von Hagen aus möglichst bundesweit organisiert werden. Dafür würde man Geld vom Land brauchen. Willkommene Ansprechpartnerin: NRW-Wissenschaftsministerin Anke Brunn, die sich für gestern abend zur Eröffnung angesagt hatte.

Was gibt’s zu sehen? Rund 50 Arbeiten von jungen Designern, ausgewählt von den Dekanen der jeweiligen Schulen; deren unterschiedliche Ausbildungsschwerpunkte schlagen sich auch in dieser Design-Schau nieder. Der Querschnitt reicht vom (nur schwach vertretenen) Industrie-Design über Graphik-, Foto- und Textil-Design bis hin zu Formexperimenten im Grenzbereich zwischen angewandter und freier Kunst.

Gesamteindruck: Nicht nur Produktveredelung ist angesagt, sondern vielfach eine in die Arbeiten einfließende Nachdenklichkeit über das eigene Tun. Das führt mitunter zu einer Art „Anti-Design“: Wenn etwa Hermine Oberück von der Fachhochschule Bielefeld Fotos von Geistesschwachen aus einer Landesklinik (Titel: „Die Unvernünftigen“) behutsam arrangiert, hat das nichts mehr mit dem Gefällig-Machen der Welt zu tun. Krasses Gegenbeispiel – und dem Spruch „Design ist Schein“ viel näher – sind etwa Verpackungs- und Werbeentwürfe für eine fiktive Parfümserie oder auch die aerodynamische „Skibrille der Zukunft“.

Bemerkenswert: Mehrere Designer befassen sich mit Gestaltungen im kirchlichen Bereich: Entwürfe für Prozessionsfahnen, Stylibg für Texte aus dem Evangelium und ein mobiler Klapp-Altar gehören dazu. Auffällig auch ein Hang zur freien Kunst. Zu nennen wären da die Dortmunderin Sybille Hassinger (Fachhochschule Dortmund) mit bemalten Wandobjekten oder die Bochumerin Angelika Pietsch (auch FH Dortmund) mit Holz-Installationen, die sich meilenweit vom gängigen Design-Begriff entfernen. Angelika Pietsch gehört zu den drei von einer Fachjury gekürten Preisträger(inne)n der Schau. Je 3000 DM stiftete dafür die IHK Südwestfalen.




Gemeinsame Ausstellung der Kunstmuseen im Revier rückt offenbar näher – Wegweisende Idee des Hagener Osthaus-Chefs Michael Fehr

Von Bernd Berke

Hagen. Die Idee des neuen Chefs im Hagener Osthaus-Museum, Dr. Michael Fehr, die Kulturkräfte der Region mit einer gleichzeitigen Eigenbesitz-Ausstellung aller 17 Kunstmuseen des Ruhrgebietes zu bündeln, nimmt konkrete Gestalt an. Die SPD-Fraktionsvorsitzenden der Revierstädte haben sich bei einer Zusammenkunft in Duisburg für ein solches Vorhaben ausgesprochen. Interesse signalisierten auch die Regierungspräsidenten und das NRW-Kultusministerium.

Damit ist der Plan, in den auch der Kommunalverband Ruhrgebiet einbezogen werden soll, auf bestem Wege zur Realisierung. Wunschtermin: Ende nächsten Jahres.

Wie Michael Fehr gestern im Gespräch mit der WR erläuterte, könne die „Kunstsammlung Ruhrgebiet“ (Arbeitstitel des 17er-Projekts) zugleich eine große Revision der Bestände und langfristig ein Umdenken in der Sammlungspolitik einleiten. Man müsse endlich über die jeweiligen Kirchtürme hinausblicken und nicht mehr in jeder Stadt – zwangsläufig mehr schlecht als recht – alle Nachkriegs-Kunstrichtungen sammein, sondern sich spezialisieren (und somit besser profilieren). Beispiel: „Dortmund und Hagen verfügen über die meisten Werke von Expressionisten. Es wäre sinnvoll, wenn andere Museen Einzelbilder dieser Stilrichtung hierher geben“. Umgekehrt könnten sich das Dortmunder und das Hagener Muséum von Stücken trennen, die nicht zu ihren Sammlungschwerpunkten passen.

Daß derlei Tauschaktionen eine ungeheuer schwierige Sache sind, weiß Fehr. Doch immerhin hätten Dortmunder Museumsleute schon Neigung zu solchen Transaktionen erkennen lassen. Komplizierter sei es schon mit dem Lehmbruck-Museum in Duisburg und dem Folkwang-Museum in Essen, die sich ihrer bundesweiten Bedeutung höchst bewußt seien und daher das Augenmerk weniger auf die Region richteten. Fehr glaubt aber, daß mit dem Generationswechsel an der Spitze einiger Reviermuseen (neue Chefs in Dortmund, in Hagen, demächst auch in Essen) einiges in Bewegung kommt. Fehr bezieht in seine Überlegungen übrigens beide großen Dortmunder Museen mit ein, also das Museum am Ostwall und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße.

Vorerst bleiben Tauschgeschäfte der skizzierten Art Utopie. Doch der vorübergehende Wechsel von Exponaten für die Dauer der Ausstellung „Kunstsammlung Ruhrgebiet“ könnte die verhärteten Strukturen bereits lockern.

Fehr, der in Hagen mit einem Minimal-Ausstellungsbudget von 50 000 Mark im Jahr wirtschaften muß, schätzt die Kosten für das revierweite Mammut-Unternehmen auf rund 750 000 Mark und rechnet fest mit Landeszuschüssen. Er verweist dabei auf die Düsseldorfer „Kunstsammlung NRW“, die mit Millionen aus dem Landesetat aufgebaut worden sei. Ersehnter Nebeneffekt des Ausstellungs-Projekts: ein 17bändiger Bestandskatalog, also ein umfangreicher Führer durch die Kunstmuseen des Reviers.

In Sachen Katalogisierung liegt derzeit einiges brach. Fast alle Ruhrgebietsmuseen, so Fehr, sind mit ihrer Inventarisierung Mitte der 70er Jahre stehengeblieben. Die Finanzmisere ließ eine Fortschreibung bisher nicht zu. Unterdessen träumt Fehr auch schon von einem Katalog, der alle im Revier lebenden Künstler vorstellt. Der Hagener Museumsmann: „Was Köln kann, sollten wir auch können“.