„Rambo“ statt Rezensionen

Meine Rezensions-Faulheit hat sich auch über den Jahreswechsel hinaus gehalten. Daher wird gnadenlos weiter gefaselt.

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Rezensionen gehen ja heute sowieso anders. Zunächst einmal: Man gurkt nicht mehr umständlich mit Fachbegriffen herum, überhaupt kann man sich nähere Kenntnisse sparen. Denn dann könnte man ja den Kontakt zu den einfacheren Leuten verlieren. Und das wiederum spielt nur den Populisten in die Karten. Stimmt’s oder hab‘ ich recht?

Auch gibt man sich nicht empfindsam oder einlässlich. Jeder Feinsinn ist verpönt. Viel lieber sollte man seine Kulturkritik mit jeder Menge Anspielungen auf mehrheitsfähige populäre Mythen garnieren und das Ganze kräftig „anpunken“.

Der eine oder andere * Ausruf nach dem Muster „Verfickte Scheiße!“ ist sozusagen ein Muss, will man seine street credibility auch nur ansatzweise wahren. Wer will denn schon elitär sein oder als „Intellektueller“ wahrgenommen werden?

Ich, ich!

Ich will euch was sagen. Zwei Nachbarn, die eigentlich schwer in Ordnung sind, haben mich dieserhalb auf dem Kieker. Sie verdächtigen mich, am liebsten Filme von Bergman, Rohmer, Truffaut, Tarkowskij und Angelopoulos zu sehen (was haargenau stimmt).

Drum wollen sie unbedingt erreichen, dass ich mir mit ihnen gemeinsam den allerersten „Rambo“-Film anschaue, dessen Kenntnisnahme ich bis heute – über Jahrzehnte hinweg – standhaft verweigert habe. Denkt euch nur: Zu diesem Zweck haben sie mir das Machwerk als DVD geschenkt. Einem geschenkten Gaul…

Sie locken mich mit der Behauptung, das alles sei als Ausbund kritischer Ironie höheren Grades zu verstehen. Der eine ruft schon, wenn er mich sieht, quer über die Straße „Hey, Rambo!“ Peinlich, peinlich. Was sollen die Leute von mir denken? Der andere (und ich ahne, dass er dies früher oder später lesen wird – Haaallo, winke, winke, zwinker, zwinker – Ich möchte auch meine Omas in Ludwigshafen und Greetsiel grüßen) will gar einen Beamer mitbringen, auf dass die größte freie Wandfläche im Wohnzimmer vollkommen ramboisiert werde. Dazu dürfte es dann wohl alkoholhaltige Getränke geben.

Nun frage ich in die imaginäre Runde: Soll ich mich darauf einlassen?

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* Heute sagt und schreibt man übrigens „Der ein oder andere“, weil Grammatik ja eh scheißegal ist. Fuck, fuck, fuck!




Alle paar Tage ein „Album des Jahres“ – über das entgrenzte Rühmen in den Feuilletons

Vielfach wurde und wird dieser Tage Leonard Cohens neues Album „You Want it Darker“ besprochen, und zwar zu allermeist feierlich, ja hymnisch, als wäre es ein quasi-religiöses, jedenfalls transzendentes Ereignis.

Tatsächlich hat der in Würde gealterte große Meister mit letzten verbliebenen Kräften eine verehrungswürdige, berührende Platte geschaffen. Insofern ist all das Rühmen in diesem Falle sicherlich angebracht. Manche halten ja auch Leonard Cohen – und nicht so sehr Bob Dylan – für den wahren Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Gerade bei ihm mögen also euphorische Höhenflüge am Platze sein. Ihm gebühren größere Worte als anderen.

Aus der Reihe "Unsinnige Vergleiche": Was ist finsterer - das Telefon, der Kugelschreiber oder der Holzkorpus des Radios? (Foto: BB)

Aus der Reihe „Unsinnige Vergleiche“: Was ist finsterer – das Telefon, der Kugelschreiber oder der Holzkorpus des Radios? (Foto: BB)

Doch die Neigung zu Hurra und Hallelujah, zu Superlativ und Überschreitung ist viel weiter verbreitet; auch dort, wo sie mutmaßlich nicht hingehört.

Um noch einmal bei der neuesten Cohen-Rezeption anzuknüpfen: Es werden unsinnige Konkurrenzen inszeniert. Da hieß es etwa jüngst in der FAZ, Cohens Düsternis übertreffe mit seiner neuen Produktion das gesamte Spätwerk von Johnny Cash (welch ein sinnloser Vergleich!) und lasse auch David Bowies verstörende Abschiedsplatte weit hinter sich. Ach, wenn doch die Werke öfter für sich gewürdigt werden könnten und nicht ständig solchem Wettstreit unterworfen wären! Wir ahnen doch auch so, dass der Rezensent rundum alle möglichen und unmöglichen Vergleichbarkeiten parat hat. Davon sollte er vielsagend schweigen.

Zuständig für vorschnelle Steigerungen ist sonst gerne auch die Süddeutsche Zeitung. Da kann es beispielsweise geschehen, dass schon etwa Mitte Januar eilfertig das „Album des Jahres“ ausgerufen und mit großem Tremolo gepriesen wird. Im Dezember sind dann schätzungsweise 37 Alben des Jahres und 143 Alben (respektive Romane, Inszenierungen, Ausstellungen, Kinofilme) „der Stunde“ beisammen. Bei den vorweihnachtlichen Geschenketipps kommen dann noch ein paar Fuder hinzu. Ich übertreibe nur unwesentlich. Wenn überhaupt.

Habt ihr’s nicht manchmal eine Nummer kleiner?

Der Drang zur zwanghaften, haltlosen, entgrenzten Lobhudelei gilt – unter etwas anderen Vorzeichen – auch für regionale Medien, bei denen der Kulturteil (intern wie extern) täglich um ein bisschen Anerkennung ringen muss, sofern er denn überhaupt noch nennenswert vorhanden ist. Da regiert die Furcht, sich mit den Feuilleton-Häppchen womöglich gar kein Gehör mehr zu verschaffen. Also muss man den Mund ziemlich voll nehmen und darf seine Gegenstände nicht durch „Verrisse“ zerfetzen, sondern muss sie noch und noch aufwerten. Motto: Was ich hier bespreche, ist ungemein wichtig und richtig. So erhöht man vor allem sich selbst. Andererseits: Nichts schreibt sich so süffig wie ein herzhafter Verriss.

Vielleicht hat ja auch die nur bedingt kulturaffine Chefredaktion mal wieder süffisant durchblicken lassen, dass kritische Äußerungen im Blatt längst nicht so willkommen sind wie nachdrückliche Empfehlungen. Dann wird’s wieder höchste Zeit für ein bisschen „Service“, beispielsweise fürs nächste PR-Interview mit (gar nicht mehr so) furchtbar angesagten Popstars, die uns vor ihrem Auftritt das unvergleichlich Blaue (oder Düstere) vom Himmel versprechen.

Beispiele gefällig? Gern. In einem bekannteren Ruhrgebiets-Blatt waren das jüngst Phil Collins, der gelobte, im Konzert „110 Prozent“ zu geben, und Robbie Williams, der laut Schlagzeile „Hungrig wie nie zuvor“ ist. Wenn das keine substanziellen Aussagen sind, dann weiß ich auch nicht.

P.S.: Viele Künstler und solche, die sich dafür halten, sehen das alles natürlich ganz anders. Sie reklamieren Lob und Preis fraglos für sich und sehen im angeblich ewig nörgelnden Kritiker den altbösen Feind, der stets hohnlachend auf Kulturvernichtung aus ist.




Ein Kulturblog? Aber ja!

Herzlich willkommen bei www.revierpassagen.de

Wer gehört zum Autorenteam der „Revierpassagen“? Es sind weit überwiegend Journalistinnen und Journalisten mit langjähriger Erfahrung im Kulturbetrieb und speziellen Sparten-Kenntnissen. Die allermeisten leben im Ruhrgebiet oder haben hier längere Zeit gewohnt. So ergeben sich gewisse Schwerpunkte wie von selbst.

Die „Revierpassagen“ handeln also vom Ruhrgebiet („Revier“) und von Kultur, aber längst nicht nur davon.

Mit „Revier“ ist denn auch generell ein Gelände gemeint, durch das man Streifzüge unternehmen oder flanieren kann.

Im Wort „Passagen“ schwingt das Vorübergehen mit, letztlich auch das Vergängliche. Passagen von hier nach da, mal mit, mal ohne konkretes Ziel, doch mit möglichst offenen Sinnen. Text-Passagen können ebenfalls gemeint sein. Und wenn man ganz weit nach oben schaut, gibt es da als leuchtendes Gestirn das „Passagen-Werk“ von Walter Benjamin.

Außerdem kann man per Suchmaschine herausfinden, dass „Revierpassagen“ offenbar ein anderer Ausdruck für Flusskreuzfahrten sind. Warum nicht? Alles ist im Fluss…

Wir erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Termin-Journalismus kommt vor, muss aber nicht sein. Ähnlich verhält es sich mit kulturellem Nachrichtenstoff. Auch der wird gern gebracht, aber wir gieren nicht danach.

Themen und Texte ergeben sich nicht zuletzt durch Vorlieben der Autorinnen und Autoren. Die Mehrstimmigkeit kann, muss aber keine Harmonie erzeugen. Klassische Rezensionen zu diversen Kultursparten haben hier ebenso ihren Platz wie die frei schwebende oder gar ausschweifende Phantasie und die kleine Randbeobachtung aus alltäglichen Gefilden.

Genug gefaselt. Die Wahrheit ist konkret: Auf zu den Beiträgen!

Bernd Berke




Für den Olymp kommt keiner in Frage – Marcel Reich-Ranicki über berühmte deutschsprachige Kritiker

Von Bernd Berke

Unser Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki hat ein Buch über seine berühmten Vorläufer seit Lessing geschrieben. Ja, gab es denn vor ihm überhaupt nennenswerte Kritiker?

Offenbar ja, denn der Band „Die Anwälte der Literatur“ (nein, nicht „Staatsanwälte“) umfaßt immerhin 23 Porträt-Essays. Und doch auch wieder nicht, denn die allermeisten finden vor Reich-Ranicki wenig Gnade.

Nehmen wir Gotthold Ephraim Lessing selbst, den vermeintlichen „Vater“ der deutschen Kritik. Der hatte zwar laut Reich-Ranicki einen aufrechten Charakter, verkannte oder unterschätzte aber viele literarische Talente seiner Zeit, schrieb etliche Rezensionen nur aus Gefälligkeit und hatte weder eine Antenne für Wieland noch für Goethe. Apropos: Goethe selbst sei der absolute Anti-Kritiker gewesen, denn er habe nur gefügige Leser gewollt.

Alfred Kerr war töricht, Walter Benjamin abseitig 

Und der berühmte Alfred Kerr? Nun gut, der lag oft intuitiv richtig. War aber ein unruhiger Geist, eitel bis dorthinaus, übersah Brechts Genie, urteilte töricht über Thomas Mann. Und Überhaupt: Er hat der Kunst kaum gedient. Schnell weggetreten, Kerr!

Das wohl krasseste Verdikt erlaubt sich Reich-Ranicki über Walter Benjamin. Dieser Egozentriker habe sich nur abseitige Themen ausgesucht, ansonsten aber alles verschlafen. Auch er kommt also keineswegs für den Rezensenten-Olymp in Frage. Wer aber dann? Friedrich Sieburg? War eher an kulturellen Seilschaften interessiert. Alfred Polgar? Ja, der vielleicht. War aber leider zu bescheiden. Es ist schon ein Kreuz. Der eine ist zu eitel, dem anderen fehlt’s an Arroganz. Und so passieren sie alle Revue: Heine, Börne, Tucholsky usw. Jeder hat gewisse Stärken, doch jedem läßt sich auch kräftig am Zeug flicken.

Am Ende einer großen Ahnenreihe

Besser ergeht’s dem nüchternen „Praktiker“ Theodor Fontane und Friedrich Luft, der auch „für den Gemüsehändler“ verständlich geschrieben habe. Unter den Heutigen nimmt Reich-Ranicki seine Jury-Freunde Walter Jens und Joachim Kaiser ins Visier. Sie kommen ungeschoren davon. Wie war das noch mit den Gefälligkeits-Kritiken?

Wer solch ein Buch verfaßt, stellt sich unausgesprochen selbst an den gloriosen Schluß der großen Ahnenreihe. Und wer seine Kollegen dermaßen durchschaut, wird doch wohl alle bei ihnen erkannten Fehler tunlichst vermeiden? Hier wollen wir höflich schweigen. Immerhin wird Reich-Ranicki an einer Stelle ungewohnt bescheiden: „Im Grunde müßte man wie Polgar schreiben können, um zu zeigen, wie er schreiben konnte.“

Nur wenige Worte über die jüngsten Vorwürfe (Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst) an Reich-Ranickis Adresse. Da scheint es mehr um Entmachtung eines vielfach Ungeliebten als um Erkenntnis zu gehen. Hellmuth Karasek, Reich-Ranickis Mitstreiter beim „Literarischen Quartett“ im ZDF, hat im „Spiegel“ dieser Woche wenn schon nicht den Inhalt, so doch die Schwere der Vorhaltungen entkräftet, indem er den Zeitbezug wachrief. Auch das eine Gefälligkeit, aber eine notwendige.

Vorbildliche Kritiken von Reinhard Baumgart

Zurück zum Buch. Die besten Passagen sind jene, in den Reich-Ranicki die anderen Kri~ tiker ausgiebig zitiert. Die markantesten Stellen ergeben Ansätze zu einer Geschichte des Rezensionswesens. Die allerdings müßte noch – aus neutraler Position – geschrieben werden.

Eines der klügsten Porträts ü b e r Reich-Ranicki hat bereits 1964 Reinhard Baumgart verfaßt. Baumgarts gesammelte Kritiken sind jetzt in einem sehr lesenswerten Sammelband erschienen. Dieser Rezensent geht wohltuend behutsam und doch meinungsfreudig zu Werke. Er weckt zwar keine lautstarken Kontroversen wie Reich-Ranicki, ist aber ein leuchtendes Vorbild in Sachen angemessener Wahrnehmung von Literatur.

Marcel Reich-Ranicki: „Die Anwälte der Literatur“. Deutsche Verlagsanstalt (DVA). 360 Seiten. 39,80 DM.

Reinhard Baumgart: „Deutsche Literatur der Gegenwart“. Kritiken – Essays – Kommentare. Hanser Verlag, 600 Seiten, 68 DM.