Wer hat die Nase vorn? „Parsifal“ in Düsseldorf und Hannover

Szene aus dem dritten Aufzug des „Parsifal“ in Düsseldorf mit Daniel Frank (Parsifal) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Sandra Then)

In Düsseldorf steht er mit leeren Händen im gleißenden Licht, der neue Gralskönig Parsifal. In Hannover bleibt von den Wirrnissen der Ritter- und der Klingsor-Welt ein Kind übrig. Erlösung wird der Welt in beiden Inszenierungen nicht zuteil. Die Sicht auf Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ ist pessimistisch, bei allen Unterschieden. Und die sind markant, in der szenischen wie in der musikalischen Gestaltung.

Die Premiere in Düsseldorf bringt den viel gelobten „Parsifal“ aus Genf an den Rhein, in einer minimalistischen Regie von Michael Thalheimer, der in der letzten Spielzeit einen faszinierenden Verdi-„Macbeth“ an der Deutschen Oper herausgebracht hat. Auf der Drehbühne (Henrik Ahr) ein Podest, abgeschlossen nach hinten durch eine mittig vertikal geteilte, schmutzigweiße Wand, horizontal gegliedert durch einen Querbalken. So ergibt sich ein Kreuz, einziger Hinweis auf die christlichen Konnotationen von Wagners Weltabschiedswerk.

Der künftige Erlöser schreitet strahlend weiß aus diesem Spalt auf eine Fläche, auf der Gurnemanz, ein stattlicher, gebrochener Mann, allzu hörbar schlurfend seine Runden dreht. Bis zu den Hüften muss er einmal im Blut gestanden haben – so wirkt jedenfalls sein schwerer Mantel. Das Blut holt alle ein: Die Gewänder von Michaela Barth, in denen die Gralsritter geistern, sind rot verschmiert; Kundry malt im dritten Aufzug unentwegt den Kernsatz des Werks wie eine Beschwörungsformel an die Wand: „Durch Mitleid wissend der reine Tor. Parsifal“. Die Sphäre Klingsors ist schwarz und vertikal gebrochen – die Rückseite der Welt der Gralsgesellschaft.

Woher das Blut, woher die Schuld? Thalheimer verweigert die Antwort, so wie er seinen „Parsifal“ überhaupt strikt von Deutung frei hält und damit bisweilen Bedeutung gefährdet. Mit den Mitteln minutiöser Personenführung und der peniblen Planung von Gesten und Gängen schafft Thalheimer ein zugespitztes Kammerspiel, das die Gefahr öder Langeweile bannt, weil die Figuren auch durch die szenische Konzentration der Darsteller selbst in langen Passagen gesungener Texte spannend und lebendig bleiben. Dieser „Parsifal“ hat viel mit der Magie des Spielens zu tun und ist deshalb auch ein Stück faszinierendes Schauspieler-Theater.

Vollgepackte Bühne in Hannover

Der Kontrast zu Hannover könnte nicht größer sein: Dort inszeniert einer der neuen Mode-Regisseure, der Isländer Thorleifur Örn Arnarsson, designiert für „Tristan und Isolde“ in Bayreuth 2024. Er schafft es, auf der vollgepackten Bühne von Wolfgang Menardi trotz ausgiebigen Einsatzes von Licht, Nebel und Personal langatmige Ödnis zu verbreiten. Auch bei Arnarsson gibt es verlangsamte Bewegung, wankende Choraufmärsche wie weiland bei Wolfgang Wagner, aber auch Schreiten und Stolpern, Holpern und Rennen, dazu einen nervigen Umbau bei offener Bühne, ein auf- und abfahrendes Gerüstpaneel mit Neonröhren über einem rätselhaften Becken, und verkohlte Baumstämme, die uns die wie auch immer geartete Katastrophe signalisieren und am Ende des ersten Aufzugs erwartungsgemäß nach oben entschweben.

Irgendwie Katastrophe: Die Bühne von Wolfgang Menardi für den „Parsifal“ in Hannover, hier mit Marco Jentzsch (Parsifal) und Shavleg Armasi (Gurnemanz). (Foto: Sandra Then)

Im Klingsor-Akt umschließt ein weißer Kasten eine steril-museale Landschaft, bevölkert von lethargischen Frauen mit aufgemalten primären Geschlechtsmerkmalen auf halbtransparenten Verschleierungen (Kostüme: Karen Briem). Das Gespräch zwischen Parsifal und der unruhig auf und ab tigernden Kundry wird zum finalen Durchhänger eines mit geschäftigen Leerläufen gesegneten Abends. Der im Interview im Programm zitierte C.G. Jung mag erklären, warum Arnarsson Amfortas und Klingsor vom selben Sänger – dem energisch, rotzig und gewalttätig, aber auch erbarmenswert schmerzvoll singenden Michael Kupfer-Radecky – verkörpern lässt. Aber die zentrale Idee der Regie wirkt trotz Psychologie als bloße Bedeutungs-Behauptung: Parsifal erscheint als Kind, junger Erwachsener und reifer Mann, um seine Entwicklung erfahrbar zu machen. Doch die Doppelungen und Mehrfachauftritte von Sänger Marco Jentzsch mit den Kindern Maximilian Blossfeld und Leandro Klyszcz vermitteln keine konzentrierte Erzähllinie.

Steril und ohne Blumenzauber: Klingsors Welt in Hannover. Im Zentrum Michael Kupfer-Radecky. (Foto: Sandra Then)

Was am Ende des Assoziationstrubels bleibt, als die blendende Weißlichtfläche, die wohl den „Gral“ symbolisieren soll, endgültig zur Hölle gefahren ist und die Gralsritter ihre Hörnerhüte – eine Assoziation an Hägar-der-Schreckliche-Helme und Frickas Widder – abgelegt haben, bleibt unklar. Die Sinnlosigkeit jeder Entwicklung? Das Kind – der Anfang der immergleichen Geschichte? Das Panorama vergeblicher menschlicher Versuche, der Akzeptanz des immerwährenden Leids der Welt zu entkommen? Das Gefühl der Erlösung jedenfalls wird nur in der erleichterten Erkenntnis spürbar, dass der Abend endlich zu Ende geht.

Spannungsreiches Klangbild

Musikalisch allerdings hätte er noch länger dauern dürfen, denn der Hannoveraner GMD Stephan Zilias spornt das vorzüglich auf Wagner eingestellte Niedersächsische Staatsorchester zu einem lebendigen und spannungsreichen Klangbild an. Man mag über das eine oder andere langsame Tempo an der Grenze zum Zähen streiten, man mag manche Steigerung für zu überbordend halten – am fabelhaften Eindruck des Abends ändert das nichts.

Zilias zeigt, dass „Parsifal“ sich nicht im Rausch der Linien erschöpft, dass die psychedelische Verführungsabsicht Wagners keineswegs das bestimmende Element der Musik sein muss, wie offenbar ein hartnäckiger, Protest im Publikum hervorrufender Buh-Rufer annimmt. Deutlich wird vielmehr, dass die Musik aus Konturen lebt, dass der Klang ausdifferenziert werden will, dass Einsätze, Farb- und Haltungswechsel nicht nur unmerklich ineinander übergehen, sondern akzentuierenden Zugriff brauchen. Auch der Chor von Lorenzo da Rio verliert sich nicht im Säuseln, lässt im marcato auch die aggressive Note dieser Gesellschaft erkennen. In den Fernchören gibt es schmerzhafte Wackler, das ist aber auch in Düsseldorf nicht anders, wo Gerhard Michalski seine Herren auf satte Sonorität und entschieden drängenden Gleichklang getrimmt hat.

Axel Kober in Düsseldorf, mit der Erfahrung des Bayreuther „Abgrunds“ im Sinn, liest die „Parsifal“-Partitur mischklangverliebter, aber auch mit Lust an langsamem, im ersten Aufzug zerfließend lahmendem Zeitmaß. Die Düsseldorfer Symphoniker zeigen in den Violinen wenig Kontur, bleiben im Finale zu sehr im Hintergrund und ohne Magie. Für die sensualistischen Provokationen der Klingsor-Welt produziert das Orchester nur gedeckte Farben und schalen erotischen Kitzel.

Sänger-Triumphe an beiden Häusern

Düsseldorf: Hans-Peter König (Gurnemanz) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Andreas Etter)

Gesungen wird an beiden Häusern sehr achtbar, teilweise auf einem Niveau, das man sich für Bayreuth wünschen würde. Der Trumpf in Düsseldorf heißt Hans-Peter König: ein beispielhafter Wagner-Sänger, klangvoll im Timbre, ausgeglichen in der Tonproduktion, wortverständlich und mit musikalischen Nuancen gestaltend. Ein großartig erzählender Gurnemanz. Aber auch Luke Stoker als präsenter Titurel überzeugt auf ganzer Linie. Michael Nagy erscheint im Zentrum der sich kreuzenden Linien der Bühne als blutige Christus-Assoziation und singt entspannt und expressiv – ein markanter Kontrast zum Klingsor von Joachim Goltz, der mit bewusst gehärteten, schneidenden Tönen und konzentriert fokussierend aus dem verstoßenen einstigen Gralsritter die grimmige Enttäuschung und den Willen zur Vergeltung herausstößt.

Daniel Frank, der Düsseldorfer Parsifal, wirkt zunächst recht dünnstimmig und grell, fängt sich im zweiten Aufzug und kann im dritten beweisen, dass er mit Kern und gesichertem Klang aussingen kann. Sarah Ferede wird in die Partie der Kundry noch hineinwachsen: Ihr Auftritt im Reiche Klingsors beginnt imposant, ihren Schmeicheltönen fehlt es nicht an Schmelz. Die letzte Rundung, die Souveränität über die Momente des Extremen, das Vermeiden von Schärfe in der Kraft fordernden Höhe sind noch nicht ausgereift. Auch Irene Roberts, die Kundry in Hannover, ist noch nicht so weit: Lautstärke ist keine Garantie für die Intensität des Ausdrucks, eine Stimme am Limit wirkt eher gefährdet als gefährlich und das Vibrato darf kontrollierter sein.

Der Star in Hannover heißt Michael Kupfer-Radecky – in Bayreuth war er Wotan in der „Walküre“ und Gunther in der „Götterdämmerung“. In der Doppelrolle Amfortas/Klingsor versteht er es, das Gemeinsame der ähnlichen existenziellen Verletzung, aber auch die Spannung zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren herauszuarbeiten. Sein Bariton ist kraftvoll, aber nicht übermächtig, der Klang konzentriert, ohne verfestigt zu wirken. Kupfer-Radecky legt die Seele der Worte frei, und allenfalls in der einen oder anderen Verzerrung eines Vokals macht sich bemerkbar, wie viel Einsatz und Mühe hinter einer solchen Gesangsleistung steckt.

Daniel Eggert rückt als Titurel nicht in den Vordergrund; er singt klangschön zurückhaltend, Shavleg Armasi ist ein beredter Gurnemanz, der dieser Figur eine sympathische menschliche Note mitgibt – kein Grund, Missfallen zu äußern, wie es am Ende vom Rang herabschallte. Marco Jentzsch entkleidet den Parsifal in Hannover jeder heldischen Attitüde, hat aber nicht die Reserven, um die plötzliche Einsicht nach dem Kuss Kundrys und die daraus folgende Entschlossenheit zu beglaubigen. Zumal der Tenor auch im Lyrischen dünn wirkt, Piani nicht gestützt sind und die ausgemergelte Schärfe des Tons in dramatischen Momenten nur lautes und explosives Stemmen erlaubt. Dennoch bleibt es dabei: Musikalisch hat Hannover wegen der Klasse des Orchesters und einem spannungsvolleren Dirigat die Nase vorn, szenisch muss sich Düsseldorf vor dem Aufwand auf der niedersächsischen Bühne in keinem Augenblick verstecken.

Vorstellungen in Düsseldorf: 1., 15., 21.10.2023; 29.03., 07.04.2024. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/kalender/parsifal/1285/?a=termine

Vorstellungen in Hannover: 3., 8., 15., 22., 31.10. Info: https://staatstheater-hannover.de/de_DE/programm-staatsoper/parsifal.1343152

 




„Wenn man einmal in Bayreuth war, ist man süchtig danach“: Altistin Karolin Zeinert aus Düsseldorf singt im Chor der Festspiele

Karolin Zeinert vor dem Bayreuther Festspielhaus. (Foto: Werner Häußner)

Die Düsseldorfer Altistin Karolin Zeinert singt mittlerweile in ihrer 11. Spielzeit im Chor der Bayreuther Festspiele. Im Interview erzählt sie, wie sie in Bayreuth ihre professionelle Laufbahn begonnen hat und warum es so faszinierend ist, im Chor der Festspiele mitzuwirken.

Wie hat’s bei Ihnen begonnen mit Bayreuth?

Ich habe immer gerne im Chor gesungen. Mit fünf habe ich damit angefangen, bin dann in meiner Heimatstadt Gera auf ein chororientiertes Gymnasium gegangen und wollte immer Choristin werden. Ich habe dann das Studium begonnen, war nach vier Semestern beim RIAS Kammerchor als Praktikantin und habe festgestellt: Chorsingen ist wirklich meins. Dann habe ich an verschiedenen Theatern Produktionen mitgemacht. Nach dem Abschluss meines Studiums habe ich mich initiativ in Bayreuth beworben. Wagners Musik mochte ich immer, ich habe ja auch am gleichen Tag wie er Geburtstag. Ich habe vorgesungen und ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass es klappt, aber ich wurde genommen und bin nun seit 2012 jedes Jahr bei den Festspielen in Bayreuth. Als ich 2014 an der Deutschen Oper am Rhein ins Festengagement ging, habe ich mir das Okay geholt, dass ich im Sommer nach Bayreuth gehen kann. Mein Chef ist da extrem kulant und die Kollegen haben Verständnis für mich. Das klappt also ganz gut.

Sie sind also bei den Bayreuther Festspielen in Ihre professionelle Laufbahn eingestiegen?

Karolin Zeinert. (Foto: privat)

Ja, tatsächlich. Vorher war ich mal eine Spielzeit in Leipzig, hatte aber sonst immer nur Gastverträge. Ich habe so mein Studium finanziert und Erfahrungen gesammelt. Und nicht zuletzt für mich geklärt, ob ich diesen Job mein Leben lang machen möchte und auch kann. Denn das Singen im Chor ist schon ein spezieller Beruf. Man ist viel unterwegs, soziale Kontakte zu Menschen außerhalb des Theaterbetriebs sind schwierig, und immer, wenn andere frei haben, arbeiten wir. Aber Bayreuth war schon das Highlight für mich. Als ich hier anfing, war ich 26, und lange war ich die jüngste unter den zweiten Altistinnen im Festspielchor.

War Bayreuth neu für Sie? Waren Sie vorher einmal hier?

Weder als Gast noch als Stipendiatin. Die Festspiele waren für mich totales Neuland. Ich kannte auch die Stadt nicht, fühlte mich aber sehr schnell zu Hause. Auch weil ich in Weimar studiert hatte, eine Stadt von ähnlicher Größe und Struktur.

Und wie sind sie mit der Arbeit am Grünen Hügel umgegangen? Hat Sie ein besonderes Bayreuth-Gefühl erfasst?

Die Damen des Bayreuther Festspielchores in Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ mit Nadine Weissmann als Mary (links) und Elisabeth Teige als Senta. (Foto: Enrico Nawrath)

Ich erinnere mich, dass ich an einem der ersten Tage einmal an der Hinterbühne vorbeigegangen bin. Die großen Tore waren offen, so dass man von dort in den Zuschauerraum blicken konnte. Ich hatte noch nie in einem Haus mit so vielen Plätzen gesungen und noch nie ein Theater mit so einer tiefen Bühne gesehen. Das war ehrfurchtgebietend, aber ich habe es damals nicht als furchteinflößend erlebt. Erst später, wenn ich jungen Kollegen davon erzählt habe, wurde mir bewusst, was man für Produktionen erlebt hat und mit welchen Sängern man zusammen auf der Bühne gestanden hat. Da habe ich so ein bisschen „das Fürchten gelernt“. Der Premierentag in Bayreuth macht mich immer noch etwas nervös und auch die Vorstellungen sind etwas Besonderes, wenn ich zum Beispiel die kleine Rolle eines Edelknaben im „Tannhäuser“ singe. Da herrscht eine andere Anspannung, weil man es besonders gut machen möchte.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Wagners Musik entwickelt?

Ich hatte eine Lehrerin in Weimar, die schon recht früh gesagt hat, meine Stimme passe gut ins deutsche Fach und zu Wagner. Daher habe ich mich bald dran versucht und im Studium Erda oder die Wesendonck-Lieder gesungen. Das lag mir gut und passte zu meiner Stimme, weil es viel um die Ausgestaltung von Text geht. So habe ich mich in Wagner reinverliebt. Meine erste Produktion, da war ich Anfang Zwanzig, habe ich in Gera mitgemacht, das war „Tannhäuser“ mit einem Vierzig-Personen-Chor. Das habe ich sehr genossen, und so habe ich mich nach und nach mit den anderen Opern befasst.

Welche ist Ihre Wagner-Lieblingsoper?

Karolin Zeinert im Kostüm – hier für Wagners „Tannhäuser“. Rainer Sellmaier hat die Kostüme für Tobias Kratzers Inszenierung entworfen. (Foto: privat)

Das ist eine fiese Frage, schwierig zu beantworten und von den Umständen abhängig. Beim Bayreuther „Ratten-Lohengrin“ von Hans Neuenfels dachte ich, ja, das ist „meine“ Wagner-Oper. Dann kam der nächste „Lohengrin“, der szenisch anders war und bei dem ich die Längen des Stücks spürte. Ich bin auch eine große Freundin von „Parsifal“, der kann aber auch ewig dauern. Wenn ich mich entscheiden müsste, dann zwischen „Tannhäuser“ und „Parsifal“. Das Elegische im „Parsifal“ finde ich ganz wunderbar, und das zaubert Pablo Heras-Casado in diesem Jahr wirklich toll. Er lässt das Orchester so leise spielen, dass wir in der Höhe stehen und uns manchmal fragen, ob das Orchester überhaupt noch spielt. Für jemanden, der in Bayreuth debütiert hat und die akustischen Finessen des Hauses noch nicht kennt, hat er die Musik großartig umgesetzt. Er hat auch eine Chorsaalprobe mit uns gemacht und ganz fein gearbeitet. An einem normalen Haus ist gar keine Zeit, so intensiv an Details zu arbeiten. Hier ist es möglich, auszuprobieren, wie weit man ein piano dimmen kann, damit es noch trägt und hörbar bleibt. Das hat großen Spaß gemacht.

Wenn Sie die Arbeit hier mit Düsseldorf oder anderen Theatern vergleichen: Was ist das Spezielle in Bayreuth? Gibt es das?

Ja, das gibt es auf jeden Fall, und zwar unter einigen Aspekten. Zum einen ist der Chor mit 134 Personen hier groß genug. Wir haben zum Beispiel in Düsseldorf auch einen „Fliegenden Holländer“, und da ist es nicht üblich, dass am Abend die Matrosen und der Geisterchor beide live gesungen werden. Die Geister kommen in aller Regel vom Band. Und dabei sind wir in Düsseldorf mit 65 Sängern ein relativ großer Chor – aber hier ist es eben das Doppelte. Hier kommt alles live. Zum anderen konzentriert man sich hier nur auf Wagner. In Düsseldorf haben wir innerhalb einer Spielzeit ein breites Repertoire. Da ist für eine solche Konzentration einfach kein Raum. Es gibt auch nicht so viele musikalische Proben und nicht so viel Zeit, an kleinsten Nuancen zu feilen.

Hier machen wir zehn Wochen lang nichts anderes als Wagner. Wir treffen uns bei „Parsifal“ vor jeder Vorstellung, sogar vor jedem Akt, und singen uns ein. Das heißt, man singt sich zusammen, geht nahe ans Dirigat, lotet noch einmal die Dynamik aus. Man ist hier sehr darauf angewiesen, auf die Chordirigenten zu achten, weil auf der Bühne eine andere Akustik herrscht als im Saal. Wir sind extrem davon abhängig, dass unsere Chordirigenten gut hören und uns perfekt führen. Wir leben hier in der „Glocke Bayreuth“, das ist keine Alltagssituation.

Was nehmen Sie mit aus Bayreuth für Ihre Arbeit an Ihrem Stammhaus? Auch wenn das Niveau der Dirigate unterschiedlich beurteilt wird, arbeiten Sie hier mit verschiedenen musikalischen Charakteren mit unterschiedlichen Auffassungen.

Man nimmt in jedem Fall die unterschiedlichen Weisen des Herangehens an die Musik mit. Wir haben dieses Jahr mit Nathalie Stutzmann im „Tannhäuser“ eine Sängerin als Dirigentin, und es ist interessant, wie ganz anders sie mit der Musik umgeht als Axel Kober, der ja mein Chef in Düsseldorf ist und mit dem wir hier in den letzten Jahren viel Freude hatten. Frau Stutzmann macht viel vor, dirigiert sehr gesanglich, mit viel Bogen und Fläche. Für das Orchester mag das schwierig sein, weil sie wohl weniger akzentuiert. Aber für uns im Chor ist das etwas ganz anderes. Manchmal ist es auch ein bisschen schwierig, wenn ich zurückkomme und von Bayreuth eine genaue Vorstellung mitbringe, wie bestimmte Stellen zu klingen haben.

Aufschlussreich ist auch zu beobachten, wie unterschiedlich Dirigenten im Umgang mit dem Orchester, dem Ensemble und auch mit Regisseuren sind – und welche Entwicklung sie im Lauf der Zeit machen. Ich erinnere mich an meine ersten Begegnungen mit Christian Thielemann, bei denen ich dachte: Oh, das ist hier aber ein harscher Ton. Einige Jahre später habe ich ihn viel gelöster erlebt. Da wirkte er, als wäre er „angekommen“. Was ich an Bayreuth schätze, ist das Verschwimmen der Distanz zu den „großen“ Sänger-Solisten. Man sitzt in der Kantine, und dann setzt sich ein Georg Zeppenfeld einfach mit an den Tisch. Wenn solche Solisten an einem Haus als Gast kommen und gehen, kommt dieses Miteinander nicht auf.

Wie erleben Sie die Arbeit mit den Regisseuren?

In den letzten elf Jahren habe ich hier – wie auch anderswo – festgestellt: Arbeit und Name gehen nicht immer konform. Es gibt Leute mit großem Ruf, bei denen ich bei der Arbeit die Hände über dem Kopf zusammenschlage und denke, die Ergebnisse sind nur ihrem Team zu verdanken. Und dann gibt es welche, die vielleicht nicht den prominentesten Namen haben, aber genau wissen, was sie wollen und eine tolle Arbeit machen, bei der man sich als Choristin auch mitgenommen fühlt. Die große Herausforderung speziell in Bayreuth ist, dass man den großen Chor auf der Bühne abholt und mitnimmt. Wenn von 134 Leuten jeder am Abend wissen soll, was er zu tun hat, wie seine Rolle und Funktion ist, dann ist das nochmal eine andere Hausnummer als beispielsweise den Chor in Düsseldorf zu führen, der halb so groß ist. Manche Regisseure sind von dieser Menschenmasse einfach eingeschüchtert und vielleicht auch überfordert.

In welchen Inszenierungen haben Sie sich besonders wohl gefühlt?

Die beste Produktion, die ich in den letzten Jahren mitgemacht habe, ist sicherlich der „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer. Er kam zur ersten Probe und konnte jeden mit Namen ansprechen! Jeder hat von ihm eine Intention, eine Rolle bekommen, hat genau erfahren, was er wann und wo zu tun hat. Da ist eine solche Truppe dann natürlich voll dabei. Genauso Barrie Kosky. Bei ihm würde ich gerne noch einmal eine Regierarbeit mitmachen, weil mich seine Perfektion beeindruckt hat. Das ist natürlich anstrengend. Im letzten Akt seiner „Meistersinger“ gab es einige „freeze“-Situationen, in denen alle Bewegungen auf Stichwort „einfrieren“ müssen. Das hat er so lange geprobt, bis es 134 Leute plus Statisterie auf den Punkt gemacht haben. Das beeindruckt, nimmt den Chor mit und macht Spaß. Bei Regisseuren, die den Chor eher als Masse oder als Kollektiv betrachten, fühlen sich nicht alle angesprochen. Das ist ein normales Gruppenproblem.

Hat der Bayreuther Festspielchor im Vergleich zu anderen Chören eine eigene Gruppendynamik?

Von den 134 Menschen, die wir in diesem Jahr glücklicherweise wieder sind, sind nicht alle in festen Engagements. Viele arbeiten frei, treffen sich im Sommer hier und haben Bayreuth als Schwerpunkt in ihrem Arbeitsplan. Wer nach Bayreuth kommt, um hier seinen Sommerurlaub zu verbringen, bringt ein spezielles Arbeitsethos mit. Das zeigt sich, wenn der Chor nach einem Jahr wieder zusammenkommt zur ersten Probe. Wir haben die Stücke im Jahr zuvor so minutiös geprobt, dass man das Ergebnis unter den Umständen eines anderen Opernhauses ohne weiteres auf die Bühne stellen könnte. Aber an diesem Punkt beginnt die Arbeit in Bayreuth erst. Da wird an der Intonation gefeilt, da werden Einzelstimmen herausgekitzelt. Das ist anstrengend, aber die Chorsänger, die hier sind, wollen genau das. In einem normalen Opernhaus würde man das zeitlich überhaupt nicht schaffen. Außerdem ist das Klangerlebnis ein ganz anderes. In Düsseldorf haben wir sechs Stellen im zweiten Alt, hier sind es zwölf. Das ist ein ganz anderes Gefühl in der Gruppe. Wenn man da die Augen zumacht, ist der Klang traumschön.

Kann es dieses Erlebnis nicht doch auch anderswo geben?

Ich glaube, das kann man an keinem anderen Haus erreichen. Der Chor ist auch sehr multikulturell, die Sänger kommen von überall her, man trifft so viele Leute, was total schön ist und ein ganz eigenes Gefühl erzeugt. Dann bilden sich Freundschaftsgruppen, die auch Bayreuth überdauern. Man hat eine gemeinsame Leidenschaft, gemeinsame Erinnerungen. Das sind Gründe, warum sich so viele Leute den Sommer um die Ohren schlagen und lange dabei bleiben. Wir feiern regelmäßig 30jährige Jubiläen. Viele sagen: Wenn man einmal in Bayreuth war, dann ist man süchtig danach.




Bayreuther Festspiele beginnen mit „Tristan“ – Ein Gespräch mit dem Regisseur Roland Schwab

Vielleicht ist es genau das richtige Stück zur rechten Zeit am rechten Ort: Vor dem Hintergrund des barbarischen Krieges mitten in Europa und im von unappetitlichen Übergriffen und Skandälchen gebeutelten Bayreuth geht heute Abend, am 25. Juli, Richard Wagners „Tristan und Isolde“ über die Bühne.

Regisseur Roland Schwab. Foto: Matthias Jung

Für Regisseur Roland Schwab ein Gegenentwurf zu den Düsternissen unserer Zeit, ein „Bekenntnis zur Schönheit“, zugleich eine Flucht ins Universum der Liebe, eine Welt der Poesie, des Rauschs und der Verzauberung.

Schwab hat am Aalto-Theater Essen drei herausragende Arbeiten geschaffen, zuletzt Giacomo Puccinis „Il Trittico“. Mit der Eröffnung der Festspiele 2022 durch seine Inszenierung von „Tristan und Isolde“ erfüllt sich für den 52jährigen ein Lebenstraum. Werner Häußner sprach mit Schwab über die Berufung nach Bayreuth und über sein Verhältnis zu Wagner.

Frage: Waren Sie überrascht, als Sie die Anfrage der Bayreuther Festspiele erhielten?

Das Festspielhaus in Bayreuth. Archivbild: Werner Häußner

Schwab: Im letzten Jahr im Dezember kam unerwartet das Angebot, „Tristan und Isolde“ zur Eröffnung der Festspiele 2022 zu inszenieren. Das war Corona geschuldet und dadurch extrem kurzfristig; Bayreuth suchte einen Regisseur, der die Aufgabe jetzt und gleich übernehmen konnte. Für mich erfüllt sich damit ein Lebenstraum. Ich habe in meiner Heimatstadt München die „goldenen“ Wagner-Zeiten unter Wolfgang Sawallisch erlebt und bin als 16jähriger Wagner buchstäblich verfallen: Nach den ersten Takten des Vorspiels der „Walküre“ war es um mich geschehen. Die Begeisterung für Wagner und die tiefe Liebe zu ihm ist letztlich auch der Grund, warum ich Opernregisseur geworden bin.

Sie haben noch kaum Wagner inszeniert …

Schwab: Wagner ist der wichtigste Komponist für mich. Was mir heilig ist, verschenke ich nicht. Deshalb habe ich die Arbeit mit ihm bewusst hintangestellt. Ich wollte Wagner an würdigen Spielstätten inszenieren. Bisher habe ich nur 2019 den „Lohengrin“ in der Felsenreitschule in Salzburg gemacht. Und jetzt kommt der „Tristan“ im Wagner-Olymp.

Was fasziniert Sie so an Wagner?

Schwab: Ich verdanke ihm ein Schlüsselerlebnis. In meiner häuslichen Musikerziehung habe ich Musik immer nur als „Tafelmusik“ wahrgenommen – nebenher gespielt und erklungen. Wagner war anders, und dafür war ich als Jugendlicher unglaublich dankbar: Er durchbricht alle Grenzen, reißt alle Türen auf. Wagner ist mehr als ein Komponist, er ist ein Kosmos. Der Ambivalenz, der Dialektik, der Widersprüchlichkeit. Ewig modern und von abgründiger Tiefe.

Wie sah die Vorbereitung auf die Inszenierung aus?

Schwab: Es musste sehr stramm gehen. Parallel zum Essener „Trittico“ war es eine zusätzliche reizvolle Aufgabe, das Raumkonzept für Bayreuth zu erstellen. Nach anstrengenden Proben habe ich mit meinem Team – Piero Vinciguerra (Bühne) und Gabriele Rupprecht (Kostüme) – spätabends noch am „Tristan“ gewerkelt. Da war es ein Glück, dass wir alle in Essen für den Puccini-Dreiteiler zusammen waren. Innerhalb eines Monats musste das Bühnenbild soweit fertig konzipiert sein, dass die Bayreuther Werkstätten mit der Arbeit beginnen konnten. Aber ich liebe solche sportiven Herausforderungen …

Hatten Sie schon vor dem Bayreuther Auftrag ein Konzept im Kopf, wie Sie einen „Tristan“ inszenieren würden?

Schwab: Nein, ich habe nie vorher Konzepte im Kopf, aber ich entwickle über die Jahre ein Sensorium für die Stücke. „Tristan“ begleitet mich seit langer Zeit. Er ist eine Welt, die man in sich herumträgt, eine faszinierend abgründige. Konzepte werden oft überbewertet; bei „Tristan und Isolde“ muss die Musik das Konzept sein. Ich möchte als Regisseur der Musik den Raum zur Entfaltung gewähren. Mich interessiert, wie man die Musik auf der Bühne transzendiert. So haben wir einen Raum geschaffen, der dieses Transzendieren zulässt, der auch die Dialektik im Stück bedient. Als Regisseur interessieren mich Milieus herzlich wenig. Ich halte sie oft für unnötige Konkretionen, die man nicht umdeuten kann. Ich inszeniere Seelenräume, möchte Transformation erleben lassen. Im „Tristan“ geht es darum, Bilder und Bewegungsmuster zu schaffen für die Kunst des Übergangs, für die Transzendierung der Liebe, die dem hypnotischen Sog der Musik gerecht werden. Darin sehe ich meine Aufgabe.

Das hat Auswirkungen auf Ihre Sicht auf den „Liebestod“ …

Schwab: Zu Wagner bin ich wegen des Rauschs und der Überwältigung gekommen. Genau das möchte ich als Regisseur generell erreichen: Überwältigung und maximale Stimulierung der Sinne. Ich lese den Liebestod partout nicht im Sinne Arthur Schopenhauers und seiner völligen Negation. Wir wissen ja auch von Wagner, dass er diese Sicht abgelehnt hat. Der Liebestod ist für mich musikalisch die Bejahung des Lebens und der Liebe, die fortlebt in der Metamorphose. Er ist kein Desaster, sondern ein Ausblick in die Unendlichkeit. Anders als viele aktuelle Regiekonzepte von einer desillusionierten Liebe, einem „Mahnmal“ für die Liebe, greife ich den ursprünglichen Gedanken Wagners auf: Er wollte der Liebe ein Denkmal schaffen. Schopenhauers alles verneinendem Liebestod setze ich Sehnsucht und Utopie entgegen. Mein „Tristan“ wird ein Bekenntnis zur Schönheit, und darin fühle mich eins mit Wagners Musik.

Wie geht es für Sie in Essen weiter?

Schwab: Ich liebe das Essener Haus, es ist eines der schönsten in der Republik. Die neue Intendantin des Aalto-Theater, Merle Fahrholz, hat mich zu meiner Arbeit mit Puccinis „Il Trittico“ sehr beglückwünscht. Die drei Inszenierungen in Essen – 2019 Verdis „Otello“, 2021 Leoncavallos „Pagliacci“ und jetzt „Il Trittico“ – waren für mich ganz wichtige Stationen. Hier in Essen, aber auch mit dem an die Oper Köln gewechselten Intendanten Hein Mulders wird es weitergehen.

Und gibt es weitere Wagner-Pläne am Horizont?

Schwab: Noch nicht. Ich arbeite seit fast 20 Jahren als freier Regisseur und habe mir Wagner bis 2019 aufgespart – ein absoluter Verzögerungsgenießer! Mit Bayreuth gerät jetzt mein Lieblingskomponist in den Fokus. Ich bin also sehr gespannt auf die kommende Zeit.

Info: https://www.bayreuther-festspiele.de/programm/auffuehrungen/tristan-und-isolde/




Der Traum von Bayreuth: Festspiel-Inspirationen für Aalto-Chorsänger Wolfgang Kleffmann

Keine Ruhepause für Wolfgang Kleffmann nach der Rückkehr von den Bayreuther Festspielen: Einen Tag nach der letzten Vorstellung von Wagners „Meistersingern“ war er bereits morgens auf dem Weg zur Probe im Aalto-Theater.

Wolfgang Kleffmann singt seit 2003 im Essener Aalto-Chor und seit 2005 im Bayreuther Festspielchor. (Foto: Werner Häußner)

Nach Wagner steht nun Verdi an: Der Chor des Essener Opernhauses bereitet sich auf die Wiederaufnahme von „Rigoletto“ am 12. September vor, in einer „semikonzertanten“, von Sascha Krohn eingerichteten Form. Tianyi Lu, aus Shanghai stammend und in Neuseeland groß geworden, steht als Gastdirigentin am Pult. Sie ist die Gewinnerin des internationalen Sir Georg Solti Dirigentenwettbewerbs 2020. Die Titelrolle singt der isländische Bariton Ólafur Sigurdarson, als Rigolettos Tochter Gilda ist Tamara Banješević in ihrem Rollendebüt zu erleben. Im Chor der Höflinge, die willig jede Bosheit ihres Herrn, des Herzogs von Mantua (Carlos Cardoso), mitmachen, singt Wolfgang Kleffmann im Tenor.

Szene aus Verdis „Rigoletto“ am Aalto-Theater Essen, mit Tamara Banješević und Carlos Cardoso. (Foto: Saad Hamza)

Für die Festspiele hat der Sänger gerne auf Urlaub verzichtet: Bayreuth hat ihn gepackt, seit 2005 singt er dort im Chor. „Wagner erschüttert, wenn man dafür empfänglich ist“, bekennt er. Auch wenn es pathetisch klingt: Wagner hat das Leben von Wolfgang Kleffmann verändert. Ein Besuch der „Walküre“ entfachte die Wagner-Begeisterung. Nach zehn Jahren Praxis als Zahnarzt in Eschweiler begann er mit 33 Jahren noch ein Gesangsstudium, das er in Maastricht abschloss. Sein Ziel von vornherein: Singen im Chor. Der Wunsch erfüllte sich 2003, als er seine erste Stelle im Chor des Aalto bekam. Da blieb es nicht bei der Liebe nur zu Wagner. Die Opern Giacomo Puccinis oder ein Werk wie Giuseppe Verdis „Don Carlos“ sprechen den Sänger ebenso an.

Singen in Gemeinschaft

Das Singen in Gemeinschaft hat ihn schon als Jugendlicher interessiert. Kleffmann erinnert sich an ein prägendes Erlebnis, das wieder mit Wagner zu tun hat: „Ich hörte eine alte Platte meines Vaters, so eine Sammlung berühmter Chöre. Beim Pilgerchor aus dem ‚Tannhäuser‘ musste ich weinen.“ Was lag also näher als der Versuch, als professioneller Sänger beim Bayreuther Festspielchor zu landen? „Beim Vorsingen habe ich gedacht, ich hätte alles in den Sand gesetzt“, erinnert er sich. „Ich bin mit Tränen in den Augen nach Hause gefahren“. Aber zu seiner Überraschung kam die Zusage: 2005 durfte er anfangen. Der Traum hat sich erfüllt.

Seither ist er mit nur einer Unterbrechung jedes Jahr dabei. Schmerzlich war der Ausfall im letzten Jahr, durch Corona bedingt. Kleffmann ärgert sich: „Weder Chor noch Orchester haben eine Ausgleichszahlung erhalten, weil unsere Verträge, die seit März fertig ausgehandelt waren, noch nicht unterzeichnet waren.“ Er findet das für die Ensembles als „Rückgrat der Festspiele“ schlichtweg beleidigend. „Viele Kollegen sind durch den Ausfall ihrer Einkünfte unglaublich unter Druck geraten“.

Als der Chor geteilt werden musste

Bei den Festspielen 2021 stand der Chor vor einer nie dagewesenen Situation: Die knapp 140 Sängerinnen und Sänger wurden geteilt: Die Hälfte sang im Chorsaal, die andere Hälfte spielte stumm auf der Bühne. „Wir sitzen in einer Art Telefonzelle aus durchsichtigem Material und singen. Der Ton wird direkt ins Festspielhaus übertragen. Das funktioniert hervorragend, und ich bin gar nicht unglücklich. Denn es tut gut, sich einmal ausschließlich auf die musikalische Arbeit zu konzentrieren.“

Im Rückblick auf 16 Jahre Bayreuth erinnert sich Kleffmann an manche unvergessliche Zeit, so die Arbeit mit Christoph Schlingensief, ein „unheimlich sympathischer Typ“. An den „Parsifal“ Stefan Herheims, einen Höhepunkt seines Sängerlebens. Oder an den „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer: „Ein Regisseur, bei dem alles durchdacht ist.“ Musikalisch ist für ihn die Zusammenarbeit mit Christian Thielemann ein Erlebnis, aber er schätzt auch Semyon Bychkov: „Er führt mit den Händen, hochmusikalisch.“

Inspirierend ist für Kleffmann auch, an der Seite berühmter Sängerkollegen wie Georg Zeppenfeld zu stehen: „Ein so bescheidener Mensch und ein Sänger, bei dem alles stimmt.“ Oder Tenöre wie Piotr Beczała und Klaus Florian Vogt als „Lohengrin“ zu erleben. So nimmt Wolfgang Kleffmann, der bald wieder seine Fußball-Jugendmannschaft in Bredeney trainiert, aus Bayreuth willkommene Impulse für die tägliche Arbeit am Aalto-Theater mit. Und hofft, im nächsten Jahr wieder dabei zu sein, wenn sich der Vorhang für die neue „Ring“-Inszenierung von Valentin Schwarz hebt.




Coup zur Saison-Eröffnung: Bayreuther Festspielorchester in der Philharmonie Essen

Christine Goerke, Klaus Florian Vogt und – im Hintergrund – Andris Nelsons in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz)

Dieser Aufbruch hat es in sich: Vierfach geteilte Violinen in ätherischem Pianissimo, vier einzelne Geigen, ein ständig gefordertes An- und Abschwellen des Tones in kleinräumiger Dynamik. Ein auf Richard Wagner spezialisiertes Orchester wie dasjenige der Bayreuther Festspiele sollte mit der fragilen Faktur des „Lohengrin“-Vorspiels versiert umgehen. Sollte.

Tatsächlich tritt die silbrige Klangfläche nicht wie von Ungefähr in den Bereich hörbaren Klangs, sondern beginnt, wie oft in der Wagner-„Provinz“, zu laut, zu körperlich – und auch zu brüchig. Andris Nelsons am Pult mag sich in der Essener Philharmonie noch so sehr bemühen: Der Zug der Dynamik hatte Fahrt aufgenommen und war nicht mehr zu bremsen. Der Einsatz der Bläser: kein Gänsehaut-Moment. Das Hinzutreten der Hörner: ein fast unmerkliches Ausbreiten feinsten Samts. Die Blechbläser: kein Ereignis, es sei denn, man zählt die zögerlich gehaltenen Töne der Posaunen als solches.

Kein Ruhmesblatt für ein Orchester, das sich in Bayreuth ausschließlich der Musik des „Meisters“ widmet. Aber auch des Dirigenten Anteil war nicht eben auf dem Niveau des publizistisch befeuerten Ruhmes: Nelsons Tempo flackert zunächst, die von Angaben zur Dynamik und von teils riesigen Bögen gegliederte Phrasierung wirkt nicht zielgerichtet, ohne innere Spannung. Man hört, was man bei Wagner auf keinen Fall wahrnehmen sollte: wie die Musik „gemacht“ ist. Zauber? Geheimnis, gar Ergriffenheit? Ach wo. Aber dafür einen gellenden Beckenschlag, von einer viel zu massiven Klangwalze nicht vorbereitet. Und am Ende Sentiment in bröselnd langsamer Phrasierung nebst präzis platziertem Huster aus der Galerie mitten hinein ins milde Pianissimo-Licht: Holla, wir sind wieder da!

Magische Momente, sensible Abmischung

Dieses Einstiegs ungeachtet ist das Orchester aus Bayreuth ein hochklassiger Klangkörper und hat Andris Nelsons ein charismatisches Geheimnis, das ihn zu den führenden Dirigenten seiner Generation macht. Und daher konnte es nicht so weitergehen: In den folgenden Highlight-Auszügen aus „Lohengrin“ finden sich die Musiker zusammen; in Vorspiel und Karfreitagszauber aus dem „Parsifal“ gelingen magische Momente, weit aufgespannte Bögen, sensible Abmischung des Klangs. Nelsons bevorzugt ein „modernes“ Wagner-Bild, also keine raunend ungefähr einsetzende Klänge, sondern klare Schnitte; kaum organisch pulsierende Tempi, sondern eher den Kontrast von extrem langsamem Auskosten und verzögerungslosem Fortschreiten. Seltsam aber, dass er aus der Auffächerung des Klangs keinen Zauber gewinnt, dass er beim einen oder anderen Bläser (Trompete!) keinen markanteren Ton einfordert. Dennoch: Diese „Parsifal“-Auszüge waren der Höhepunkt des knapp dreistündigen Konzerts.

Andris Nelsons. (Foto: Sven Lorenz)

Ob es eine gute Idee war, den zweiten Teil mit dem „Walkürenritt“ einzuleiten, mag man bezweifeln. Mit mechanischen Rhythmusfloskeln unterlegt, donnern die Wellen der reitenden Walküren einher, das Blech schlägt mit frohem Grimm Fortissimo-Schneisen in die Phalanx der Streicher, deren stürzend chromatische Skalen im dröhnenden Messing ertrinken. Eine Dramaturgie der Dynamik ist nicht erkennbar: Wo es schon beim ersten Höhepunkt kaum lauter geht, nützt beim zweiten auch die Tuba nichts mehr. Dass Lärm wiederum Lärm erzeugt, ist ein altes Mittel, Beifall zu entfesseln: Die Philharmonie schreit auf, der Applaus brandet, Begeisterung bricht sich Bahn. Nach Subtilitäten wird da nicht mehr gefragt.

Leider ging der Balsam, der in „Siegfrieds Rheinfahrt“ zunächst die Ohren zu heilen schien, rasch zur Neige. Nelsons kostet das Motivgeflecht bis zur Neige in seliger – und bisweilen verschleppt phrasierter – Langsamkeit aus, auf Disziplin in der Dynamik achtet er dabei weniger. Die Posaunen kennen bis zum Schlussgesang der Brünnhilde offenbar nur eine Lautstärke; der Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“ wälzt sich breit, mit ausladend süffigem Klang dahin, aber ohne die ergreifende Schärfe, die ihm ein Dirigent wie Michael Gielen zu geben verstand. Das ist, wie leider so manches Mal bei Nelsons, üppig-luxuriöses Volumen, adrett hergerichtet, aber ohne tiefere Berührung verströmend.

Entspanntes Singen, leuchtender Klang

Unter solchen Bedingungen hat Christine Goerke kaum eine Chance. Sie versucht, die letzten Worte der Brünnhilde aus der „Götterdämmerung“ entspannt zu singen, sauber zu artikulieren, nicht mit dramatisch überschrieenem Aplomb aufzuladen. Das gelingt ihr, soweit ihr das Orchester eine Chance lässt. Was sie kann, wird sie 2023 im nächsten Bayreuther „Ring“ beweisen; einstweilen bleibt der Eindruck, einen Sopran gehört zu haben, der sich weder durch angestrengt flackerndes Vibrato noch durch gestaute und druckvolle Töne Geltung verschaffen muss.

Zum Star des Abends avanciert Klaus Florian Vogt mit den – im Programm seltsamerweise als „Arien“ betitelten – Auszügen aus „Lohengrin“ und „Parsifal“. Er hat, was die Italiener „squillo“ nennen, die Fähigkeit, den Ton konzentriert und voluminös, aber ohne Kraftmeierei in den Raum zu projizieren. Sein Timbre, das nicht dem geschmäcklerischen Streben nach baritonaler Grundierung entspricht, passt zur transzendentalen Erscheinung des Gralsritters, entspricht auch der Naivität Parsifals. Dabei setzt er in „Höchstes Vertrau’n“ kraftvoll leuchtenden Klang ein, „Glanz und Wonne“ von Lohengrins Herkunft spiegelt er in abgesicherter, strahlender Höhe. Nahe am Wort gestaltet er die Gralserzählung: Das sorgsam gestaltete Piano-Leuchten der Stimme für die himmlische Taube überzeugt ebenso wie die veränderte Farbe des Wortes „Glaube“. Mit „Mein lieber Schwan“ gelingt Vogt ein Musterbeispiel verhalten-wehmutsvollen Singens; der Einsatz der Mezzavoce ist ohne jede Verkünstelung locker und unverfärbt.

Jubel in der Philharmonie. Schon die Begrüßung des Orchesters zu Beginn ist mehr als ein herzliches Willkommen, mehr als die Antwort auf den Ruf der Truppe aus dem „mystischen Abgrund“. Mehr auch als der Dank des nun – trotz Schachbrett-Besetzung – gut gefüllten Hauses, nach eineinhalb Jahren ausgedünnter Reihen, wieder ein Publikums-Feeling zu genießen. Und mehr als eine Anerkennung für den Coup von Intendant Hein Mulders, zur Eröffnung seiner letzten Spielzeit das Bayreuther Orchester – zwischen Köln. Paris und Riga – an die Ruhr geholt zu haben. Man meint, die Erleichterung zu spüren. Und die Freude: Die Strahlen des Klanges vertreiben die Nacht, zernichten der Viren erschlichene Macht.




Mammutprojekt zum Abschluss der Ära von Steven Sloane: Richard Wagners „Ring“ konzertant in Bochum

Nachdem Richard Wagners Tetralogie an der Deutschen Oper am Rhein in der Regie von Dietrich Hilsdorf seine ersten kompletten Zyklen überstanden hat und sich in Dortmund Peter Konwitschny erneut an den „Ring“ machen wird, will auch Bochum nicht hintanstehen.

Sie stellten das Bochumer „Ring“-Projekt bei einer Pressekonferenz vor: Steven Sloane und Norman Faber. Foto: Werner Häußner

In der letzten Spielzeit, in der GMD Steven Sloane die Bochumer Symphoniker leitet, will er die 27-jährige Zusammenarbeit u.a. mit einem konzertanten Nibelungen-Ring krönen. Vorgesehen sind die vier Vorstellungen zwischen 25. September 2020 („Das Rheingold“) und 22. Mai 2021 („Götterdämmerung“). Für eine „Visualisierung“ im Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum wurde der Opernregisseur Keith Warner gewonnen. Unterstützt wird das Projekt von der Familie Norman Faber und die Faber Lotto-Service GmbH. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Projekts war von einer „bedeutsamen sechsstelligen Summe“ die Rede.

Es soll „ganz, ganz anders klingen als sonst“

Steven Sloane nennt die geplante Umsetzung des „Rings“ mit seinem Orchester in Bochum „die Erfüllung eines Traums“. Er sieht in der Konzentration auf die musikalische Umsetzung der Tetralogie eine große Chance, viele Facetten herauszuarbeiten. Wagner wird nach Sloanes Worten in dem erst 2016 eingeweihten Bochumer Konzertsaal mit einer inzwischen oft gerühmten Akustik „ganz, ganz anders klingen als sonst“. Die Zuhörer hätten die Chance, Wagner als zentrale Figur des Musiktheaters nicht in der Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum, sondern „mittendrin“ in Kontakt mit dem Orchester auf dem Podium zu erleben. Auch Mäzen Norman Faber erhofft sich das Erlebnis eines „einzigartigen Klangs“.

Ergänzt wird der „Ring des Nibelungen“ durch einen „Kleinen Bochumer Ring“ für Menschen ab 10 Jahren. Dabei kooperieren die Bochumer Symphoniker mit Bochumer Schulen und Akteuren aus der freien Kulturszene. Von jeder „Ring“-Oper gibt es vier jeweils einstündige Vorstellungen, beginnend am 31. Oktober mit „Das gestohlene Rheingold“ und endend am 9. Mai 2021 mit „Die mächtige Götterdämmerung“.

Die Besetzung des Bochumer „Rings“ wird erst später bekanntgegeben; genannt wurden jedoch bereits Eva-Maria Westbroek (Sieglinde), Emily Magee (Brünnhilde), Claudia Mahnke (Fricka), Michael Weinius (Siegfried) und Simon Neal (Wotan).

Für den „Ring“ sind Abonnements erhältlich, die ab 3. Juni im Vorverkauf sind. Einzelkarten gibt es ab dem 17. Juni. Info: www.bochumer-symphoniker.de, Tel.: (0234) 910 86 66.




Erlösung ist möglich: Tobias Kratzer lässt in seinem erfrischenden Bayreuther „Tannhäuser“ Raum für die Hoffnung

Dieses Foto von Enrico Nawrath prägt sich ins Gedächtnis ein und könnte einmal repräsentativ für Tobias Kratzers Bayreuther Neuinszenierung des "Tannhäuser" stehen: Stephen Gould als Tannhäuser und Elena Zhidkova als Venus. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Dieses Foto von Enrico Nawrath prägt sich ins Gedächtnis ein und könnte einmal repräsentativ für Tobias Kratzers Bayreuther Neuinszenierung des „Tannhäuser“ stehen: Stephen Gould als Tannhäuser und Elena Zhidkova als Venus. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Muss Erlösung scheitern? In Richard Wagners „Tannhäuser“ in der erfrischend neuen und schlüssigen Inszenierung von Tobias Kratzer in Bayreuth bleibt die Frage weniger offen als andernorts.

Während Tannhäuser und Wolfram von Eschenbach die blutbefleckte Leiche Elisabeths in ihren Armen bergen, öffnet sich auf einer zweiten Ebene ein neuer Horizont. Zu den Erlösungsgesängen des Fernchores ist ein Video zu sehen, das in seiner Ambivalenz zwischen Kitsch und Pathos eine Alternative, eine Utopie oder zumindest eine Hoffnung zulässt. Happy End ist möglich, „Erlösung ward der Welt zuteil“ nicht ausgeschlossen.

Regisseur Tobias Kratzer. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Regisseur Tobias Kratzer. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Damit unterscheidet sich Tobias Kratzers so sinnlich einnehmende wie gedanklich durchdrungene Arbeit von vielen Inszenierungen, deren Regisseure mit Wagners Erlösungsthema wenig anzufangen wissen. Kratzer sieht das Reich der Venus auch nicht wie üblich als Totalentgrenzung des Sexuellen. Das Thema hält er zu Recht für abgearbeitet. Sondern er definiert es viel entschiedener gesellschaftlich: Tannhäuser ist mit einer Gruppe von Außenseitern unterwegs, die körperlich, sexuell, in ihrer Lebensform und im künstlerischen Selbstausdruck „anders“ sind: Ein Kleinwüchsiger und eine schwarze Drag Queen gehören dazu.

Verbunden durch Lebenslust und Lebensgier scheitern die modernen Nomaden schon in der Ouvertüre, als es einen Toten gibt: Bei Benzinklau und Zechprellerei erwischt, überfährt Venus mit ihrem alten Citroën-Kastenwagen – eine Anspielung auf die Performance-Künstlerin Marina Abramović – einen Polizisten.

Das traurige Gesicht des Clowns

Das ist für Tannhäuser „zu viel, zu viel“. Der Sänger im Narrengewand wendet sich von der Truppe ab: Die Tränen im traurigen Gesicht des Clowns, in Großaufnahme auf die Projektionswand der Bühne geworfen, ist unvergesslich – der erste von vielen ergreifenden Momenten. Hinter ihm erscheint eine Ikone der Kunst, die „Venus“ von Sandro Botticelli: die Göttin – ein bloß projiziertes Ideal. Mit einer ähnlichen Bildmetapher brechen Kratzer und sein Bühnengestalter Rainer Sellmaier auch die Begriffe von Romantik und Erlösung auf: Das Zitat von Caspar David Friedrichs „Das Kreuz im Gebirge“ rechnet mit dem Ideal der Romantik ab, rückt christliche Erlösungshoffnung gleichzeitig nahe und in weite Ferne.

In der Premiere ausgebuht, später gefeiert: Le Gateau Chocolat. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

In der Premiere ausgebuht, später gefeiert: Le Gateau Chocolat. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Das bis dahin so humorvolle, leichtgängige, schwerelose Roadmovie endet auf einem Parkplatz mit Märchenland-Plunder: Ein niedliches Wetterhäuschen, aus dem Frau Holle ihr Bett ausschüttelt und vor dem der Kleinwüchsige, der das Aussehen der Protestfigur Oskar Matzerath aus Günter Grass‘ „Blechtrommel“ angenommen hat, mit der kitschigen Herabwürdigung durch Gartenzwerge konfrontiert wird. Der Versuch, Tannhäuser zurückzuhalten, scheitert trotz eines märchenhaft glitzernden Lichtgespinstes, mit dem Le Gateau Chocolat – der schwarze Travestiekünstler ist in dieser Inszenierung er/sie selbst – beeindrucken will. Die mythische Fahrt endet vor dem Festspielhaus, zu dem vornehm gekleidete Besucher hetzen; eine Weihestätte der Kunstreligion.

Wagner als Mythenstifter und Revolutionär

Kratzer positioniert den Autor des „Tannhäuser“ mit solchen Bildern als Mythenstifter und als Revolutionär: Das Programmheft zitiert Texte aus der Zeit, in der Wagner in Dresden mit Bakunin sympathisierte und ethisch beflügelte Worte voll zerstörerischer Wut gegen die herrschenden Verhältnisse schleuderte. Ein Zitat daraus bringt Venus am zentralen Balkon des Festspielhauses an; es wird vorher schon von ihrer reisenden Truppe als Plakat im Märchenland geklebt: „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“, lautet der Wagner-Spruch von 1849, und er wirkt wie ein Motto: Venus beileibe nicht als blonde Göttin der Liebe, sondern in ihrem schillernd grüngeschuppten Kostüm eine Kreuzung aus anarchischer Schlange, subversiver Artistin und lockendem Weibchen.

Die Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses in der ersten Pause des "Tannhäuser". Was wie ein Gag daherkommt, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn. Foto: Werner Häußner

Die Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses in der ersten Pause des „Tannhäuser“. Was wie ein Gag daherkommt, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn. Foto: Werner Häußner

Der Drang zum Anderssein lebt sich zunächst in der ersten Pause in einer Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses aus. Le Gateau Chocolat singt mit rauchig-schrägem Bass „Dich teure Halle grüß‘ ich wieder“, während Manni Laudenbach mit Wagner-Barrett in einem Boot rudert und aus vollem Halse revolutionäre Sprüche des späteren „Meisters“ kräht. Venus umschleicht das Setting, malt ihr Plakat und erkundet das hohe Haus mit dem Feldstecher, während die schräge schwarze Performancerin in einer rosa Wolke und mit einem Kitsch-Kostüm á la „Arielle die Meerjungfrau“ tanzt und plärrt.

Was wie ein grotesker Gag serviert wird, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn: Erst im Video im zweiten Akt, in dem in herrlich witziger Weise die „Eroberung“ der Wartburghalle – sprich, des Festspielhauses – geschildert wird, wird klar, dass Venus ihren Überfall vorbereitet und ihre Vasallen die bevorstehende Kunst-Religions-Feier mit ihrem lustvollen Gegenprogramm konfrontieren. Noch feiert sich das „Anderssein“ in vollen Zügen. Im dritten Akt wird es damit vorbei sein: Der Citroën, mit ausgeschlachteter Motorhaube seiner Bewegungsfähigkeit beraubt, ist nur noch eine Ruine; der Zwerg reißt verächtlich von einem der so optimistisch bedruckten Plakate Papierstreifen ab und verschwindet in eindeutiger Absicht hinter dem Fahrzeug. Die Rom-Pilger sind eine Herde aufgescheuchter Menschen, und Tannhäuser kehrt langhaarig, abgewetzt und mit ein paar Plastiktüten zurück – ob aus Rom oder wer weiß woher, wird nicht mehr klar.

Hinreißende und präzise Bilder

Was in der Bayreuther Neuproduktion des Jahres 2019 also scheitert, sind Konzepte, die sich im Aussteigen wie im Beharren manifestieren. Kratzer, Sellmaier und der Videokünstler Manuel Braun zeigen das in hinreißenden, beziehungsvollen, auch ironischen Bildern, die gleichwohl nicht im Vergnügen am bloß assoziativen Zitieren, in der sinnlichen Überwältigung oder in der Visualisierung von Privatmythologien aufgehen, wie das in Frank Castorfs und Aleksandar Denićs „Ring“ die Gefahr war.

Von der ironisch getönten Dekonstruktion bleiben auch die „teure Halle“ und die wackeren Sänger nicht verschont. Sellmaier baut einen düsteren, stilisierten Wartburg-Festsaal nach, hoch an der Wand wieder ein Verweis auf das Ideal des Sängers in Form einer halb an Naumburger Stifterfiguren, halb an nazarenische Altarskulptur erinnernden Sängerplastik. Auch die Kostüme zitieren historische Vorbilder: In dieser Gesellschaft soll alles so bleiben, wie es ist; umso nachhaltiger wird sie vom Einbruch des Sinnlichkeit preisenden Tannhäusers und der Venustruppe erschüttert.

Die "teure Halle" im zweiten Akt des Bayreuther "Tannhäuser", ein vermeintlicher Hort der Beständigkeit und unveränderlicher Traditionen. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Die „teure Halle“ im zweiten Akt des Bayreuther „Tannhäuser“, ein vermeintlicher Hort der Beständigkeit und unveränderlicher Traditionen. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Gerade in solchen Momenten, in denen es aufs Detail so sehr wie auf die übergreifende Konzeption ankommt, zeigt sich die handwerkliche Stärke des 1980 geborenen Regisseurs, wie sie in anderen seiner Inszenierungen (Nürnberg: Meyerbeers „Les Huguenots“; Karlsruhe: Meyerbeers „Le Prophète“ und Wagners „Meistersinger“; Frankfurt: Meyerbeers „L’Africaine“; Berlin: Zemlinskys „Der Zwerg“) zu außerordentlichen Ergebnissen geführt hat. Das unterscheidet die diesjährige Neuinszenierung am Grünen Hügel vom „Lohengrin“ Yuval Sharons im letzten Jahr. Trifft eine versierte Regiehandschrift auf eine tragende, so komplex wie eingängig das Stück durchziehende Idee, ist das Ergebnis, wie es in Bayreuth 2019 zu bewundern ist: festspielwürdig.

Ein Fest des Vibrato

Jetzt wäre es befriedigend, die musikalische Seite in ähnlichen Worten bewundern zu können. Sicher: Das „Handwerk“ war weitgehend perfekt, das Orchester wie stets ohne Fehl und Tadel, der Chor Eberhard Friedrichs nur in zwei, drei Millisekunden nicht so traumsicher wie sonst, auch klanglich im dritten Akt nicht so geschlossen, wie es bei einer sängerfreundlicheren Aufstellung möglich wäre. Die Solisten boten weithin ein Fest des Vibrato. Elena Zhidkova als körperlich geschmeidige, umwerfend komische wie verstörende Darstellerin hielt die Amplitude ihrer Töne immer weniger unter Kontrolle, konnte im dritten Akt kaum mehr verständlich artikulieren und ersetzte durch undifferenzierte Lautstärke, was für Venus an vokaler Biegsamkeit und Färbung nötig wäre.

Stephen Gould, der in diesem Jahr am Hügel auch seine Paraderolle, den Tristan singt, lässt das Vibrato allzu breit schwingen, hat Probleme mit einer konzentrierten Fokussierung von Legato, wirkt auch in der Phrasierung und dem fiebrigen Brio von Tannhäusers Bekenntnis-Strophen im zweiten Akt holprig. Dafür bewältigt er die gefürchteten „Erbarm dich mein!“-Rufe mehr als achtbar und hat seinen gestalterischen Höhepunkt in der wortbewussten Rom-Erzählung im dritten Akt, in der er die ganze Resignation, Gebrochenheit und grelle Verzweiflung des unversühnten Erdenpilgers herausbrechen lässt.

Glänzt in der kurzen Rolle des Hirten: Katharina Konradi. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Glänzt in der kurzen Rolle des Hirten: Katharina Konradi. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Markus Eiche kann als Wolfram von Eschenbach für sich einnehmen. Er ist nicht der salbungsvoll entsagende Anbeter des Liebesbronnens: Die beobachtende Videokamera verfolgt seine verzweifelten Ausbrüche hinter den Kulissen, als die alte Liebe zwischen Tannhäuser und Elisabeth im Duett des zweiten Akts wieder aufkeimt. Im dritten Akt verlässt er – berechnend oder überzeugt – die gesellschaftliche Konvention der Wartburg, zieht das Narrengewand und die Perücke Tannhäusers über und erringt so, wenn vielleicht auch nicht die Seele, so wenigstens den Körper Elisabeths. Eiche singt passend zur Inszenierung seinen Wolfram nicht lyrisch verschattet, sondern präsent und viril, mit klarem Timbre und präziser Diktion. Stephen Milling prunkt als Landgraf mit einem stets abgesicherten Bass. Sehr überzeugend war Katharina Konradi in der kleinen Rolle des Hirten.

Fragen zur Jahrhundertstimme

Schon jetzt als Jahrhundertstimme gehandelt wird die Elisabeth Lise Davidsen. Rechtzeitig zum Debüt am Hügel erschien ihr erstes Doppelalbum mit Wagner- und Strauss-Aufnahmen. Die Elisabeth hatte die junge Norwegerin bereits 2019 in Zürich ausprobiert. Ein gut kalkuliertes Debüt also. In der Tat sind ihr sattfarbiges Timbre, ihre Flexibilität im Piano, ihre gewinnende Innigkeit in der zweiten und ihre strahlende Präsenz in der Hallen-Arie bemerkenswert. Aber auch sie kommt nicht ohne erhebliches Vibrato aus; außerdem scheint es, als verliere sie beim Übergang vom Piano ins Forte die Souveränität über den Atem – es klingt, als müsse sie auf die Stimme Druck ausüben. Bei aller Bewunderung für dieses Debüt sei vor allzu schnellem Hochstilisieren gewarnt.

Die Verpflichtung des internationalen Jet-Set-Dirigenten Valery Gergiev lässt sich nur als Fehlgriff qualifizieren: Selten noch spielte das Festspiel-Orchester eine so marginalisierte Rolle, selten noch brachte ein Dirigent so wenig persönliche Note ein. Sicher gab es bezaubernde lyrische Momente, öfter aber irritierend flaue Konturen. Es fehlt Tiefenschärfe, Entschiedenheit im Zugriff und spannungsvolle Steigerungen. Gergiev hat – so ist bei seinem Terminkalender zu vermuten – die Proben weitgehend seinen Assistenten überlassen. Keine Rede von der früheren „Werkstatt“ Bayreuth, in der auch ein Dirigent „seine“ Produktion von Anfang bis Ende betreute und über die erste Spielzeit hinaus am Ausdruck feilte.

Nächstes Jahr bereits wird der Düsseldorfer GMD Axel Kober den „Tannhäuser“ übernehmen; Gergiev hat das Festspielhaus in der Liste seiner berühmten Auftrittsorte abgehakt – Schluss. Dies zu beklagen, ist keine Nostalgie; bei Wolfgang Wagner hätte es das nicht gegeben. Auch deshalb mag es gut sein, dass mit dem „Ring“ 2020 ein unverbrauchter und vielleicht engagiert für und in Bayreuth arbeitender junger Dirigent, Pietari Inkinen, betraut wird. In der Premiere gab es verständliche Buhs für Gergiev und weniger verständliche für Le Gateau Chocolat; in der zweiten Vorstellung beklatschte ein enthusiastisches Publikum alle Künstler gleich begeistert.




Endstation Walhall: Michael Schulz setzt „Das Rheingold“ von Richard Wagner in Gelsenkirchen neu in Szene

Die Rheintöchter treiben ihr Spiel mit Alberich (Urban Malmberg). (Foto: Karl Forster)

Das Wasser wogt und leuchtet. Licht fällt in die blaue Flut, diese Wiege des Lebens, deren kristallene Klarheit den Blick bezaubert. Im Speisewagen sitzen nur wenige Herren, aber auch sie schauen nachgerade andächtig aus den Zugfenstern, gebannt von der Majestät des Rheins. Nach und nach erkennen wir sie: An den Tischen sitzen Alberich und Wotan. Der zwielichtige Feuergott Loge drückt sich in die Ecke, ein Beobachter des Geschehens. Dann tauchen die Rheintöchter hinter der Bordbar auf.

Willkommen im Rheingold-Express, dem historischen Luxuszug mit seinem gläsern überdachten Aussichtswagen, der einst die Nordsee mit den Alpen verband und die Niederlande mit der Schweiz. Michael Schulz, Generalintendant des Gelsenkirchener Musiktheaters, und Bühnenbildnerin Heike Scheele schicken uns mit Richard Wagners Oper auf eine Reise, die vom Raubbau an der Natur erzählt, von der Gier nach Reichtum und Macht und den zerstörerischen Konsequenzen. Diese werden bereits am Ende der ersten Szene augenfällig. Wenn Alberich der Liebe abschwört und den Nixen ihren Schatz entreißt, wird das Spiel des Lichts auf dem Wasser fahl. Und auf der Oberfläche treibt Plastikmüll.

Der Götter Schar: Donner (Piotr Prochera), Fricka (Almuth Herbst), Wotan (Bastiaan Everink), Froh (Khanyiso Gwenxane) und Freia (Petra Schmidt). (Foto: Karl Forster)

Der Vorabend zum „Ring“-Zyklus wird in Gelsenkirchen als Solitär gegeben, als Auftakt ohne Fortsetzung. Mag mancher Wagner-Fan dies auch bedauern, so führt mit Michael Schulz doch einer Regie, der – um die Nornen zu zitieren – „weiß, wie das wird“; der die weiteren Ereignisse bis zum Ende der Götterdämmerung erkennbar mitdenkt, auch wenn sie nicht aufgeführt werden. Statt den ersten Teil seines in Weimar realisierten Rings ins Revier zu transferieren, hat er sich die Mühe gemacht, die Geschichte noch einmal neu zu erzählen.

Ein Spiel der Interessen

Das Spiel der Götter, Riesen und Zwerge ist bei ihm vor allem eines der Interessen. Die Regie durchleuchtet das wilde Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten, zeigt bis in die Körperbewegungen hinein, wer aus welchen Motiven heraus handelt. Die Geldnot treibt nicht nur Wotan voran: Sie bringt ein Schicksalsrad in Schwung, das sich nicht mehr aufhalten lässt, auch nicht von dem glücklosen Gott. Das pompöse Walhall, das er auf Pump errichten ließ, bleibt in dieser Inszenierung unsichtbar. Ein Luftschloss, fürwahr.

In den wirkungsvollen Bühnenbildern von Heike Scheele, die uns vom eleganten Zugabteil über eine Kühlturmkulisse in einen düsteren Endlos-Stollen namens Nibelheim geleiten, stellt Schulz die Weichen Richtung Untergang. Weshalb dieser heraufdämmert, zeigt er über weite Strecken überaus punktgenau: einerseits hängen die Welten von Riesen, Zwergen und Göttern zusammen, andererseits kann keiner der Charaktere aus seiner Haut. Beim finalen Einzug in die Burg, durch eine Videoprojektion dargestellt wie die Einfahrt in einen virtuellen Bahnhof, sind alle Beteiligten wie in einem Netz gefangen. Walhall bringt keinen Anfang. Es ist eine Endstation.

Erda (Almuth Herbst) warnt Wotan vor der verhängnisvollen Macht des Rings. (Foto: Karl Forster)

Unheimliche Machtgelüste

Vieles ist bestechend genau gezeichnet, so der zauberische Nährwert von Freias Äpfeln und die unheimlichen Machtgelüste des Underdogs Mime, der sich nach Alberichs Entführung mit irrem Lachen in den Chefsessel wirft. Die Verwandlung Frickas in Erda, beide gespielt und gesungen von Almuth Herbst, gelingt auf offener Bühne so einfach wie wirkungsvoll.

Daneben steht manche szenische Verlegenheitslösung. Fragezeichen hinterlässt das unbestimmte und öde Zwischenreich, in dem Alberich seines Ringes beraubt wird. Über dieses triste Setting helfen auch amateurhafte Schattenspiele nicht hinweg. Wo der Mythos das Märchenhafte streift, scheut Schulz sich nicht vor kindlichen Elementen. In der Industrie- und Bergbaukulisse taucht der Riesenwurm als Alu-Abluftrohr auf. Ob sich hinter der winkenden Kindergruppe mit ihrem gemalten Regenbogenbild eine Kritik am Umweltaktivismus à la Greta Thunberg verbirgt oder nicht, ist vermutlich keine entscheidende Frage.

Wenn das Orchester die Muskeln ballt

Von vokaler Krafthuberei, die bei den Riesendramen Richard Wagners leicht in grob deklamierten Sprechgesang umschlägt, ist aus Gelsenkirchen nichts zu berichten. Unter der umsichtigen Leitung von Kapellmeister Giuliano Betta wird erfreulich viel gesungen, auch wenn nicht alle Stimmen die Anforderungen ihrer Partie vollends erfüllen können. Betta hält sich hörbar an das Diktum des Komponisten, dass der Gesangswohlklang der italienischen Schule für Wagners Opern nicht aufgegeben werden dürfe. Die Neue Philharmonie Westfalen spielt unter seiner Leitung einen transparenten, zuweilen beinahe leichtgewichtigen Wagner, der sich dynamisch weitgehend zurückhält. Beim Schrei der von Alberich geknechteten Nibelungen ballt das Orchester eindrucksvoll die Muskeln, aber die kantige Härte der rhythmisch hämmernden Ambosse greift es nicht auf.

Wotan (Bastiaan Everink, l.) und Loge (Cornel Frey, r.) besuchen Alberich (Urban Malmberg) in Nibelheim. (Foto: Karl Forster)

Die nahezu gänzlich aus dem Ensemble heraus besetzte Produktion punktet mit einem starken Wotan: Bastiaan Everink lässt stimmlich kaum Zweifel an seiner Autorität als Hüter der Verträge aufkommen. Cornel Frey gibt einen charakterstarken Loge, der mit einer Mischung aus Eleganz und Spott gekonnt auf der Grenze zum Zynismus balanciert. Dank Almuth Herbst darf Fricka eine von Sorge getriebene Ehefrau sein statt keifende Xanthippe. Dass sie stimmlich obendrein noch in die Tiefen der allwissenden Erda hinab zu steigen vermag, muss man der Künstlerin hoch anrechnen.

Alberich (Urban Malmberg) als Gefangener, im Hintergrund triumphiert Mime (Tobias Glagau). (Foto: Karl Forster)

„Ihr hattet die Wahl“

Urban Malmberg gibt dem finsteren Alberich gallige Töne der Erbitterung. Unterdrückte Wut, herrisches Kommando und eine Portion Verschlagenheit liegen so nahe beieinander, wie es sich für den fiesen Chef-Nibelungen gehört. Wenn es dann aber endlich zum Ring-Fluch kommt, kann Malmberg kaum noch Reserven aktivieren. Stimmlich blass bleibt der Mime von Tobias Glagau, der unter Alberichs Knute zwar jammert und stöhnt, als Charakter indessen nur darstellerisch greifbar wird.

Das Schlusswort gebührt den Rheintöchtern, in Gelsenkirchen gesungen von Bele Kumberger (Woglinde), Lina Hoffmann (Wellgunde) und Boshana Milkov (Flosshilde). Deren Übermut wogt uns in strahlendem Dur entgegen, klingt am Premierenabend aber in manchen Spitzentönen hart. Der Umschlag von jubelnder Lebensfreude in klagenden Wehlaut gelingt gleichwohl gut. Später, während eines Zwischenspiels, entfalten die sehnsüchtigen Undinen ein Stoffbanner mit einer Aufschrift. Unentrinnbar dem Untergang geweiht, konfrontieren sie uns, für die es womöglich ebenfalls zu spät ist, mit einer bitteren Wahrheit: „Ihr hattet die Wahl“.

Termine und Informationen: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2018-19/das-rheingold/#date_2019-05-11_1930




Die Bewältigung einer Überwältigung – Wagner und Mahler an einem Abend mit dem Mariinsky Orchester und Valery Gergiev

Dirigent Valery Gergiev inmitten seines Orchesters. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Der Mann ist wahnsinnig. Setzt zwei Stücke für einen Konzertabend an, die für sich allein schon wie gewaltige Monolithe im Raum stehen. Platziert den ersten Aufzug aus Richard Wagners „Die Walküre“ neben Gustav Mahlers sechste Sinfonie.

Beide Male geht es um Leben und Tod, insgesamt bald zweieinhalb Stunden lang, geht es also wieder einmal ums Ganze. Das scheint dem Manne am Pult, dem Dirigenten Valery Gergiev, gerade das rechte Maß. Mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg ist er nach Essen gekommen, in die Philharmonie. Es wird ein Abend, der insgesamt beeindruckt, im Einzelnen aber manche Schwäche offenbart. Kein Wunder.

Gergiev wirkt als Dirigent immer ein wenig archaisch. Wie er dasteht mit seinem Zahnstochertaktstock, wenig Körperlichkeit zeigt, nur ab und an einen Einsatz aus den Armen rüttelnd. Manchmal raunt er in sich hinein, zischt oder bläst hörbar die Luft durch die Backen. Von ihm geht eine gewisse Zuchtmeister-Aura aus, die letzthin auch bedeutet, dass seine Disziplin die des Orchesters sein muss. Musizierende „Indianer“ zeigen eben keine Schwächen, sei ein Konzert auch noch so lang. Doch Heldentum ist das eine, die physische Belastbarkeit eines Instrumentalisten die andere Seite der Medaille. Und dann kann schon Mal etwas aus dem Ruder laufen.

So wie im „Walküre“-Aufzug. Der ruppige Streicherbeginn, die Sturm- und Gewittermusik, von höchster Not kündend, wirkt ein wenig holprig und nicht wirklich tief schwarz. Überhaupt scheint Gergiev in erster Linie in Strukturen zu denken, was die zunehmende musikalische Raserei bisweilen ausbremst. Andererseits gönnt sich der Dirigent die feine psychologische Ausdeutung des personellen Beziehungsgeflechts und agiert betont sängerfreundlich. Die wiederum danken es mit klarster Diktion und einem unaufdringlichen Spiel, das die Spannung allein durch Blickkontakte hält.

Anja Kampe (Sieglinde) und Mikhail Vekua (Siegmund), einander noch fremd, im 1. Aufzug von Wagners „Walküre“. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Denn dieser Teil aus Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ handelt nicht zuletzt vom Wiedererkennen. Siegmund flieht vor Feinden und Wetter in Sieglindes Heim. Beide ahnen zunächst, erlangen zunehmend Gewissheit, dass sie einst als Zwillingspaar auseinandergerissen wurden. Die Freude über das Wiedersehen steigert sich zur inzestuösen Liebesbeziehung. Wenn da nur nicht der widerliche Hunding wäre, Sieglindes Gatte durch Zwangsheirat und Siegmunds Todfeind.

Dies alles untermalt Wagner mit rauschhafter Glut und  sehrendem Melos, das sich förmlich beißt mit der archaischen, dunklen Akkordik des Hunding-Motivs. Lyrische Episoden, die von Liebe künden, stehen neben exzessiver Leidenschaft, neben Parlando- und Belcanto-Elementen. Ja, ausdrucksstark und schön darf hier gesungen werden, oder, im Falle Hundings, arg bedrohlich. Das löst Mikhail Petrenko in großer Finsternis ein, wie andererseits die wunderbare Anja Kampe eine Sieglinde gibt, die jugendliche Unbekümmertheit ausstrahlen kann wie auch  die weit gefächerte Emphase. Ihr Sopran ist gut fundiert, blüht herrlich auf, schillert in verführerischen Farben. Nur schade, dass Mikhail Vekua (Siegmund) sich vor allem mit den deutschen Vokalen arg müht. Der Tenor verfügt über jede Menge Metall und Kraft, sucht aber oft sein Heil in der gekünstelten Exaltation, im Affekt.

Sei’s drum: Nach einer guten Stunde dieses emotionalen Aufbegehrens hat das Publikum – und das Orchester – eine Pause redlich verdient. Einige wollen sich das Schwelgen in Wagners Leitmotiven auch nicht zerstören lassen und verzichten auf Mahlers 6. Das ist durchaus nachvollziehbar. Denn es folgen weitere 75 Minuten wild hämmernde Rhythmik, Destruktion und Endzeitstimmung, nur kurz unterbrochen von einer vermeintlichen Idylle, die alsbald schon ins Dramatische abgleitet. Ja, Mahler wollte mit seiner Musik eine Welt zimmern, doch vom puren Paradies war dabei nie die Rede. Schon Schönberg erkannte in der 3. Sinfonie die nackte Seele eines Menschen, „wie eine geheimnisvolle, wilde Landschaft“, mit „grauenerregenden Untiefen“ und „idyllischen Ruheplätzen“.

Am Ende großer Applaus. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Und so ist auch die Nr. 6 ein in musikalische Tableaus gegossener Daseinskampf, der indes in der Katastrophe endet. Zwei wuchtige Hammerschläge im Finale besiegeln das Desaster eines imaginären Helden, zugleich stehen sie für den Zerfall tönender Struktur. Es ist ein Schlagen und ein Toben, Aufjaulen und Zerbröseln im Orchester, dass wir den Wagner vom Beginn des Konzerts nur noch einer fernen Vergangenheit zuordnen wollen.

Fast stoisch allerdings steht Valery Gergiev das alles durch, legt auch hier Strukturen frei, nimmt dem Ganzen jedoch die letzte Entäußerung. Das Orchester gerät konditionell und in puncto Genauigkeit ohnehin an seine Grenzen. Mahlers Raumklangeffekte wollen sich nicht einstellen. Und den wenigen, von Herdenglocken durchtränkten Idyllen, fehlt die Nähe zur Transzendenz, zur Erhabenheit.

Am Ende (natürlich) jede Menge Applaus, doch ein wenig darf sich das Publikum auch selbst feiern. Für die Bewältigung einer Überwältigung.

 

 

 




Neuproduktion ohne Ecken und Kanten: Neo Rauch und Rosa Loy tauchen „Lohengrin“ in Bayreuth in vieldeutiges Blau

Blau ist die bestimmende Farbe der Bühne von Neo Rauch und Rosa Loy. Foto: Enrico Nawrath

Blau ist die bestimmende Farbe der Bühne von Neo Rauch und Rosa Loy. Foto: Enrico Nawrath

Blau – die Farbe des Himmels, die Farbe Gottes und der Harmonie. Blau – eine kalte Farbe und nach Leonardo da Vinci die metaphysische Mischung des Sonnenlichts mit der Schwärze der Weltfinsternis. Blau – die Farbe der Nacht, der Ruhe, der romantischen Sehnsucht. Blau aber auch die Farbe, die niederländische Künstler für ihre Keramikkacheln verwendeten, die sich ab dem 16. Jahrhundert in ganz Europa verbreiteten.

Von diesem Delfter Blau hat Neo Rauch – so macht er selbst glauben – seine Inspiration für den neuen Bayreuther „Lohengrin“ empfangen. Diese Farbe bleibt so deutungsoffen wie die Bühne, die Rauch gemeinsam mit seiner Frau Rosa Loy für die diesjährige Premiere der Festspiele entwickelt hat. Ein traditioneller Rundhorizont mit schweren Wolken und durchbrechenden Lichtstrahlen, im Zentrum ein merkwürdiges Gebäude, eine Mischung aus Transformatorenhaus und Erinnerung an einen romanischen Architekturblock mit Rundbogenfries und Rosette, mit Isolatoren auf dem Dach und Leitungen zu einem angejahrten Strommast. Davor wimmelt die Menge des brabantischen Volkes in der Tracht, wie sie uns niederländische Maler auf ihren Genrebildern vertraut gemacht haben: Wämser, Häubchen, Schürzen, Schnürmieder. Es ist kein Land vor dem Hunnensturm, sondern das Land der Reformation, des Zeitalters der Glaubenszweifel.

Zwischen Whales‘ „Frankenstein“ und Böcklins „Toteninsel“

Zu dem anachronistischen Prozess, der da vor den König kommt, wird eine an zwei Seilen gefesselte Frau geführt. Elsa, in Blau, mit viel zu kleinen Flügelchen wie eine putzige Engelsfigur aus einer Kitschporzellansammlung, an einen Isolator gefesselt, erträumt ihren Retter. Lohengrin erscheint unter blitzenden Entladungen. Die Lichtbögen erinnern an James Whales „Frankenstein“-Film: Lohengrin als der „neue Prometheus“, der Lichtbringer für die Menschen? Seine graublaue Montur eröffnet breite Deutungsmöglichkeiten zwischen Luftschiffer, Elektriker oder dem einst die Sowjetunion „elektrifizierenden“ Lenin. Jubel vor dem Trafo und zwischen den Schatten hoher Zypressen, die wie aus Arnold Böcklins „Toteninsel“ drohen. Im Kampf verliert Telramund einen seiner Insektenflügel und kriecht nur noch am Boden: Motten lösen die Neuenfels’schen Ratten ab. Schon ein bekannter deutscher Satiriker wusste: Tiere auf der Bühne machen sich immer gut.

Lohengrin, zweiter Akt: Die Harmonie zwischen Lohengrin (Mitte: Piotr Beczala) und Elsa (rechts: Anja Harteros) scheint gefestigt, aber mit Ortrud (Hintergrund: Waltraud Meier) droht der Zweifel. Foto: Enrico Nawrath

Lohengrin, zweiter Akt: Die Harmonie zwischen Lohengrin (Mitte: Piotr Beczala) und Elsa (rechts: Anja Harteros) scheint gefestigt, aber mit Ortrud (Hintergrund: Waltraud Meier) droht der Zweifel. Foto: Enrico Nawrath

Neo Rauch behindert auch im zweiten und dritten Akt den Freiflug des assoziativen Bild-Symbol-Denkens nicht: Eine hohe Wolkenszenerie, auf den Tüllvorhang projiziert, versetzt die Szene zwischen Ortrud und Elsa in eine unwirkliche Landschaft. Die Figuren bewegen sich in einer dunklen Zone wie in einem Schilfgürtel, herausgeschält nur durch die Lichtspots Reinhard Traubs. Bleiben wir im Brabant der Reformation, sind Ortrud und Telramund durch ihre Kostüme als Vertreter einer älteren Ordnung gekennzeichnet: Er im gegen neue Waffen wirkungslos gewordenen Harnisch alter Rittersleut‘, sie im voluminösen Medici-Kragen und einem Rock, der an steife spanische Hofmode erinnert. Nun ja: Die beiden stehen für Radbods alten Fürstenstamm.

Schon im zweiten Akt tritt eine neue Farbe hinzu, die durch Rot ins Orange gebrochene Komplementärfarbe zu Blau: Gelb, die schwefelfarbige mittelalterliche Chiffre für den Außenseiter und das Böse. Der Turm, in dem Elsa und Lohengrin ihre Hochzeitsnacht feiern sollte, ist intensiv orange ausgeleuchtet; Elsa selbst schon – im Futter ihrer Robe – von blassem Orange infiziert. Die Farbe des Zweifels?

„Hervorstülpungen“ des Inneren

Wie eigentlich stets bei Neo Rauch, sind diese „Hervorstülpungen“ seines Inneren, entwickelt in sechs Jahren stetiger Umrahmung seiner Atelierarbeit durch Wagners Musik (so Rauch in einem Interview) ambivalent, auch nicht auf ein tradiertes Repertoire von Symbol-Bedeutungen oder Bild-Chiffren festzulegen. Aber, wie das sonst recht regietheaterverliebte deutsche Feuilleton in seltsamem Erstaunen mehrfach notiert hat: Sie sind einfach schön, und in ihrer geheimnisvollen Gegenständlichkeit reizvoll rätselhaft zu betrachten.

Sie kehrt nach 18 Jahren noch einmal auf den Hügel zurück, um ein letztes Mal Ortrud zu singen: Waltraud Meier (Mitte) mit Tomasz Konieczny als Telramund. Foto: Enrico Nawrath

Sie kehrt nach 18 Jahren noch einmal auf den Hügel zurück, um ein letztes Mal Ortrud zu singen: Waltraud Meier (Mitte) mit Tomasz Konieczny als Telramund. Foto: Enrico Nawrath

Nun ist Form ohne Inhalt, Schönheit ohne Begriff eine hohle und schnell ermüdende Angelegenheit. Der Erfolg der Leipziger Schule, soll er nicht bloß Schall und Rauch sein, sollte sich nicht auf puren Ästhetizismus, auf von ach so viel Abstraktion und Gedankenkunst ermüdete Augen stützen. Im Falle des Theaters sitzen wir nicht in einer riesigen Gemäldegalerie, sondern einem Raum, der durch Aktion, Darstellung und im Fall der Oper durch Musik mehrdimensional gedacht ist.

Bewegte Körper sind „willkommen“

Hier kommt nun die Inszenierung ins Spiel. Eigentlich, so Neo Rauch in einem Interview mit der „Zeit“, brauchen seiner Bilder die Bewegung des Körpers im Raum, die Kostüme und die Musik, gar nicht. Man könne auch aus der reinen Betrachtung des statischen Materials Genuss ziehen, bewegte Körper seien aber „willkommen“. Dafür zeichnet in Bayreuth Yuval Sharon verantwortlich, der in seiner Heimat, den USA, mit experimentellen Opern-Projekten auf sich aufmerksam gemacht hat und 2014 mit John Adams‘ problematischem Musiktheater „Doctor Atomic“ quasi aus dem Nichts heraus in Karlsruhe in der deutschen Regielandschaft eingeschlagen hat. Im Dezember 2016 hat Sharon eine „Walküre“ in Karlsruhe inszeniert und kurz darauf anstelle des von der offenen deutschen Flüchtlingspolitik vergrätzten lettischen Regisseurs Alvis Hermanis den Bayreuther „Lohengrin“ übernommen. Eine von Anfang an harmonische Zusammenarbeit, wie Rauch, Loy und Dirigent Christian Thielemann übereinstimmend bestätigen.

Trotzdem: Viel eingefallen ist Sharon zum Thema „Lohengrin“ in den eineinhalb Jahren nicht. Weder vertieft er die Figuren psychologisch, noch macht er deutlich, was an Wagners Konzept aktuell sein könnte. Die Ansätze sind da: Lohengrin als Prometheus, Lohengrin als präfaschistische Führerfigur ohne Geschichte und ohne politischen Rechtfertigungsdruck. Oder Lohengrin als „Berührung einer übersinnlichen Erscheinung mit der menschlichen Natur“, wie Wagner schrieb – die Oper also als Transzendenzproblem. Dergleichen ist höchstens in Ansätzen zu beobachten, wenn etwa, als Lohengrin zum „Gral“ zurückkehrt, die kraftvoll gemalten Lichtstrahlen von oben intensiv aufleuchten. Im Zusammenhang einer betulichen Personenregie, die in der Kirchenszene des zweiten Aktes wie aus einem früheren Reclam-Libretto wirkt, gewinnen solche Details kein Gewicht.

Christian Thielemanns intensive Steigerungskurven

Sowohl das Emanzipationsthema (Elsa, die starke Frau) als auch die Umwertung Ortruds, die den letztlich notwendigen Zweifel sät, sind schon szenisch überzeugender erzählt worden. Stattdessen wiegen sich die Köpfe der brav aufgestellten Chöre wacker hin und her, wenn im dritten Akt Elsa in knalligem Orange trotzig die Erklärung des Gralsritters entgegennehmen muss. Mag sein, dass die Reminiszenzen an alte Wolfgang-Wagner-Arrangements akustisch günstig sind. Genutzt haben sie wenig; der Chor Eberhard Friedrichs lag – „Steh ab vom Kampf!“ – mehr als einmal in ungewohntem Clinch mit der Präzision und erntete am Ende ein paar böse Buhs.

An Christian Thielemann konnte das nicht liegen: Der Festspiel-Musikdirektor dirigierte mit „Lohengrin“ die letzte der zehn Opern aus dem an sich unsinnigen Kanon der festspielwürdigen Wagner-Werke. Und da waren sie wieder, die Momente, in denen Thielemann den Streicherklang magisch samtig ausbreitet. Die Stellen, in denen Bläser und Streicher in luftig strahlender Transparenz ineinander verwoben zu schweben scheinen. Die intensiven Steigerungskurven im Finale des zweiten Aktes, die Thielemann ganz typisch mit einem kaum merklichen Rubato noch verstärkt. Aber da war auch der fehlende Biss im Vorspiel zum dritten Akt, das Fehlen einer belebenden rhythmischen Kantigkeit. Und im schimmernden Vorspiel wurden die Bläserstimmen keineswegs aus dem Nichts in das Flirren der geteilten Violinen hineingeboren, sondern setzten beinahe analytisch deutlich ein.

Gefeierte Waltraud Meier

Mit Piotr Beczała setzte Bayreuth endlich wieder einmal Lohengrin-Maßstäbe. Der polnische Tenor sang anstelle von Roberto Alagna, der vor ein paar Wochen plötzlich bemerkte, dass er keine Zeit zum Lernen der Rolle habe, mit viel Fortüne. Die italienische Fülle des Klangs stützte eine ausgezeichnete Artikulation, aber die nicht anstrengungsfreie Höhe zeigte auch, dass der „Lohengrin“ für Beczała eine Grenzpartie ist. Eine solche Grenze gilt auch für Anja Harteros als Elsa: So flexibel und innig ist „Einsam in trüben Tagen“ nicht eben häufig zu hören; in den dramatischen Momenten der Auseinandersetzung mit Ortrud hat die Stimme glanzvolles Volumen und entschiedene Attacke; im Duett des dritten Akts zeigt das zunehmend flackernde Vibrato, dass ihr die Ausdauer fehlt, die Phrasen konsequent durchzustützen.

Gefeiert wurde Waltraud Meier. Nach 18 Jahren kam die Sängerin, die in so vielen Partien Maßstäbe gesetzt hat, für ihre letzte Ortrud noch einmal nach Bayreuth zurück. Man spürt ihre Erfahrung in jeder stimmlichen Geste, aber auch in jedem Moment ihrer Bühnen-Aktion. Ihre Ortrud ist keine grelle Hexe, keine sich wild gebärende Furie, sondern eine lauernd-verhalten singende, überlegende und überlegene Regisseurin eines Masterplans, der ihr am Ende dann doch aus den Händen gleitet. Waltraud Meier kann durch Erfahrung gestalten, wo sich junge Stimmen mit Frische und Energie ihren Weg bahnen; ihre „Entweihten Götter“ strahlen immer noch eine gleißende Gefährlichkeit aus, die heute noch subtiler gefärbt wirkt als im Ungestüm früherer Jahre.

Nach der Ära des Regietheaters

Bei Georg Zeppenfeld gibt es das Problem, dass er stets so souverän gestaltet, so zuverlässig rund und makellos den Ton formt, dass die Gewöhnung das Außerordentliche einer solchen Leistung beinahe als selbstverständlich sehen will – was es keinesfalls ist, wie Tomasz Konieczny als Telramund mit teils forciert verfärbten Vokalen, teils gewaltsamer Tonbildung und Emission demonstriert. Egils Silins ergänzt die Solistenriege als zuverlässig standfester Heerrufer, den die Regie weitgehend unauffällig zur Nebenfigur verurteilt. Der Beifall war gewaltig, bei Konieczny und dem Chor mit einigen markigen Buhs durchsetzt. In die Inszenierungsgeschichte des „Lohengrin“ am Grünen Hügel könnte der Abend als musikalisch glücklich gelungenes Beispiel eines aneckungsfreien Nach-Regietheater-Ära eingehen.




Glücksmomente: „Lohengrin“ zurück im Aalto-Theater

Für drei Vorstellungen kehrt Richard Wagners „Lohengrin“ ins Aalto-Theater zurück. Und auch aus dem Abstand von über einem Jahr und vor dem kritischen Blick auf die Wiederaufnahme kann diese Produktion als eine der besten im Essener Repertoire bestehen.

Szene aus dem Essener "Lohengrin": Heiko Trinsinger (Telramund, Mitte oben), Jessica Muirhead (Elsa, Mitte unten), Chor und Statisterie. Foto: Forster.

Szene aus dem Essener „Lohengrin“: Heiko Trinsinger (Telramund, Mitte oben), Jessica Muirhead (Elsa, Mitte unten), Chor und Statisterie. (Foto: Forster)

Das liegt nicht allein an der komplexen Regie von Tatjana Gürbaca, die dem Wunder Raum gibt, ohne es zu banalisieren oder vorschnell zu erklären. Das liegt auch am Einsatz der Essener Philharmoniker und ihrem GMD Tomáš Netopil. Und an einem Ensemble, das nicht mit Luxusglamour aufwarten muss, um musikalisch voll und ganz zu überzeugen.

Im Vergleich zur Premiere (4. Dezember 2016) hat Netopil seine Lesart noch verfeinert: Die Mischungen des Klanges sind noch detaillierter modelliert, die Spannung zwischen schwebender ortloser Piano-Kultur und auftrumpfender, blechglänzender Pracht ist noch kühner ausgereizt.

Was auf der anderen Seite auffällt, ist ein Hang zum Ästhetisieren: Netopil setzt auf leuchtende, erfüllte Klang-Ereignisse, poliert die Konturen und ummantelt das Bedrohliche, Verstörende in der Musik mit schwarzem Samt. Lässt er wie in satten, markant ausmusizierten Momenten der tiefen Holzbläser einen expressiven Ton zu, wird er zum Ereignis. In der Dynamik greift er beherzt zu – aber es darf ruhig einmal sein, dass die Stimme eines Sängers ins Orchester gebettet ist, statt sich darüber zu erheben.

Bei aller Vorsicht gegenüber der eigenen Erinnerung und derartigen Vergleichen: Die Elsa Jessica Muirheads hat, gemessen an der Premiere, Sicherheit und Reife gewonnen. Sie strahlt auch im tiefsten Unglück einen Wesenskern selbstbewusster Würde aus und lässt damit den existenziellen Zusammenbruch am Ende umso tragischer erscheinen. Stimmlich hat sie ihren strahlenden Ton gerundet und in dramatischen Momenten und exponierten Höhen sicher im Körper verankert.

Sergey Skorokhodov, der Lohengrin auch am Mariinskij-Theater in Sankt Petersburg singt, bringt Leichtigkeit und italienischen Schmelz mit in die Partie und wird damit der fragilen Sanftheit lyrischer Bögen ebenso gerecht wie der dramatischen Attacke. In der Gralserzählung trifft er den glanzvollen Quartsprung, der das heilige Gefäß charakterisiert, ebenso wie die schwebende Verzückung für den Schimmer des Wunders.

Auf der Höhe seines Könnens agiert Heiko Trinsinger. Parallel zu einer anderen großen Bariton-Partie, Heinrich Marschners „Hans Heiling“, singt er am Aalto den Telramund und gestaltet Trotz, Schmerz und Wurt dieses mehrfach genarrten, an der Konsistenz seiner Weltsicht verzweifelnden Mannes auf sicherem Fundament, mit präsentem Glanz und modellhafter Artikulation, frei und strömend im Klang. Seiner Partnerin Rebecca Teem als Ortrud fällt es nicht leicht, auf diesem Niveau mitzuhalten: Dazu ist der Ton zu wenig frei gebildet, zu erzwungen emittiert, zu unfreiwillig grell im Timbre. Packende Momente hat sie dennoch immer dann, wenn sie sich vokal nicht exponieren muss, sondern charakterisierend gestalten kann.

Frank van Hove singt einen milden König Heinrich, der sich redlich, aber vergeblich bemüht, zu verstehen, mit welchem Kraftfeld er es in Brabant zu tun bekommt; Karel Martin Ludvik ist ein Heerrufer, der seine Stärke im Zentrum ausspielt. Der Chor von Jens Bingert knüpft an seine überzeugende Leistung in der Premiere an; Carolin Steffen-Maaß hat die auf präzises Timing und deutliche Zeichensprache angewiesene Inszenierung Tatjana Gürbacas für die Wiederaufnahme so einstudiert, dass von entscheidenden Details der Personenregie bis zur Wirkung der Massenszenen nichts als verloren bemerkt werden könnte.

Essen hat einen „Lohengrin“, der sich getrost in die Konkurrenz mit anderen Bühnen werfen kann.

Weitere Vorstellungen am 22. April und 6. Mai.




Düstere Schwermut, strahlender Sieg: Anja Harteros und der Dirigent Gustavo Gimeno in der Philharmonie Essen

Anja Harteros. Foto: Marco Borggreve

Anja Harteros. Foto: Marco Borggreve

Richard Wagner und Claude Debussy in einem Konzert zu kombinieren, ist eine passende Idee. Der Franzose, der vor 100 Jahren starb, war der dominierenden musikalischen Größe aus Deutschland zeitlebens mit merkwürdiger Hassliebe zugetan. Es wäre noch passender gewesen, hätte das Orchestre Philharmonique de Luxembourg zu Beginn seines Konzerts in der Philharmonie Essen Ausschnitte aus „Parsifal“ gespielt: Wagners mystisches Spätwerk hat Debussy über alles geliebt.

So also „Tannhäuser“, in einer Hochglanz-Version des Spaniers Gustavo Gimeno. Ein eleganter, nicht zu dekorativ-gestenreicher Dirigent. Ein edel schimmernder, lyrisch geprägter, fast möchte man sagen nazarenischer Wagner, ohne untergründige Erregung, ohne das prickelnde Fieber des Venusbergs, das am besten mit dem altmodischen Wort „Inbrunst“ beschrieben wäre. Eine gedämpfte Impulswelt also, die erotische Hochspannung von einer gewissen Contenance beruhigt. Das Orchester gefällt, kein raues Geschürfe stört den leuchtenden Glanz.

Zwischen Verschmelzung und eigenständiger Kontur

Das technische Niveau des Orchesters aus Luxemburg lässt keine Zweifel aufkommen, nur die Lautstärke könnte hin und wieder dem Saal angemessener dosiert sein. Aber die kleinteiligen rhythmischen Geflechte in den beiden Orchesterwerken Claude Debussys, „La mer“ und „Ibéria“, der zweiten Suite aus den „Images“, ereignen sich klar artikuliert; die Balance und die Staffelung der Klänge stimmen: Sie finden das richtige Maß zwischen Verschmelzung und eigenständiger Kontur. Dieser Debussy zerfällt nicht in lauter Mikro-Ereignisse, er verschwimmt aber auch nicht zu dem ungreifbaren Geflirr, das wir auf den Gemälden der Impressionisten so zauberhaft finden.

Chefdirigent Gustavo Gimeno malt mit kräftigeren, kantigeren Farben, lässt die Solisten Details ausmodellieren. In „Ibéria“ wehen die „Düfte der Nacht“, vom unwirklichen Ton der Celesta getragen, in verfließenden Formen und schattenhaften Klängen durch den Raum. Das wirkt nicht nur nächtlich-geheimnisvoll, sondern hat in den gedämpften Fragmenten von Melodien, in den fahlen Fetzen ferner Tänze, im Verfließen der Formen etwas Unheimliches an sich. Nicht umsonst beschäftigte sich Debussy mit Edgar Allan Poe – in Frankreich durch Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé bekannt gemacht – und seinem „Fall of the House of Usher“.

Offenbar kein „Mathematiker der Musik“

Diese gestalterischen Finessen, mehr noch aber das Spiel der Farben und Schatten in „La mer“ haben Debussy den Ruf eines „Impressionisten“ eingebracht, gegen den er sich wehrte, indem er sich zum „Mathematiker“ der Musik stilisierte. Doch die subtilen, schillernd-sprühenden Klänge in den drei „symphonische Skizzen“ wollen das Bonmot ständig Lügen strafen. Vom Flageolett-Nebel der Violinen über die bebenden Repetitionen des gedämpften Blechs bis hin zur variativen Koloristik, die Debussy an die Stelle einer Form-Entwicklung setzt, lassen sich die Luxemburger von keiner spieltechnischen Herausforderung schrecken.

Kritiker ätzten damals, das Stück enthalte nur „Geräusch“. Recht hatten sie – in gewisser Weise –, denn Debussy fängt das Unregelmäßige, Spontane, auch das Gewaltige und Gewalttätige der Naturprozesse ein, ohne ein musikalisches Imitat zu gestalten. Er mimt das Meer nicht musikalisch – wie es etwa Arnold Bax meisterhaft geglückt ist –, sondern er stellt uns die Idee des Meeres vor das innere Ohr.

Anja Harteros beglaubigt mit Wagners „Wesendonck-Liedern“ ihren Spitzenplatz unter den Sopranen unserer Tage. Sie setzt nicht bloß auf den leuchtenden Ton, sie braucht nie technischen Tricks, wenn sie die Stimme zurücknimmt und färbt. Vor allem in den weiten Entwicklungen, in den Bögen und im Aufleuchten einer groß gedachten Phrase gefällt ihre Stimme: frei gebildet der Ton, mühelos gesteigert der Klang, wundervoll abgetönt die Farben. Die Instrumentierung Felix Mottls unterstreicht noch die Nähe zu „Tristan und Isolde“. Aber auch Anja Harteros betont Tristan-Schwermut und Sieges-Strahlen: Da verstummt tatsächlich die Lippe in staunendem Schweigen.




Bayreuth-Nachlese: Frank Castorfs „Ring“-Inszenierung wird in die Geschichte eingehen

Die Bayreuther Festspiele 2017 sind Vergangenheit – und mit ihnen Frank Castorfs „Ring des Nibelungen“ aus dem Wagner-Jubiläumsjahr 2013. Aber schon während der drei Vorstellungsserien dieser Festspielzeit war festzustellen: Dieser „Ring“ hat Geschichte geschrieben und wird in die Geschichte eingehen.

Szene aus dem ersten Aufzug von Wagners "Siegfried". Foto: Enrico Nawrath

Szene aus dem ersten Aufzug von Wagners „Siegfried“. Foto: Enrico Nawrath

Selten hat sich der Geist einer Zeit so nachvollziehbar auf der Opernbühne manifestiert. Selten ist die Spannung zwischen den Anspruch eines Werks, dem Prozess, seinen Sinn zu erschließen und der lustvollen Verweigerung jeglicher Hermeneutik so sardonisch schmerzhaft ausgekostet worden.

Vergeblichkeit der Sinnsuche

Bestürzend klar lässt der Berliner Altmeister, der im Juli 2017 seine Weihestätte am Rosa-Luxemburg-Platz und die Schar seiner Gläubigen verlassen musste, vor unser Auge treten, dass er es für vergeblich hält, in dieser Welt einen Sinn erfassen zu wollen. Elementare Lüste und die alte Macht der Triebe leben sich aus. Und wir sind hilflos zurückgeworfen auf die Flut der Bilder, auf die verborgene Macht der ins Leere zielenden Zeichen und Verweise, auf die Klicks, mit denen persönliche Assoziationen und gedankliches Schweifen in einen Text, in eine Musik einrasten, die nur mehr Spiel-Material sind.

Theater der Dekonstruktion und Diskontinuität

Theater der Dekonstruktion und Diskontinuität: Das hatte in den letzten 25 Jahren an der Volkbühne in Berlin seine Entwicklung, die zwischendrin mal niemanden mehr aufregte und die mit einer Mischung aus verbissener Treue, snobistischer Langeweile, theaterästhetischem Beharrungsvermögen und avantgardistischer Lust an der Anarchie ihren Platz ausfüllte. Ganz neu war diese Art Theater für Bayreuth auch nicht mehr, als Castorf 2013 sich mit Wonne dem Spießrutenlaufen nach den „Ring“-Premieren aussetzte.

Der Riecher von Wolfgang Wagner schnüffelte schon in diese Richtung, als er 1993 Heiner Müller den „Tristan“ inszenieren ließ – eine legendär gewordene Arbeit, die Müllers Ex-Assistent Stephan Suschke im September 2018 in drei bereits ausverkauften Vorstellungen am Landestheater Linz wiederbelebt. Auch der zu Recht viel gescholtene „Tannhäuser“-Exzess Sebastian Baumgartners holte mit der bespielten Installation Joep van Lieshouts postdramatisches Theater ins Festspielhaus, wenn auch weit entfernt von der Konsequenz Castorfs.

Jetzt also Inszenierungsgeschichte: Dass dieser „Ring“ ähnlich prominent wie vor 40 Jahren Patrice Chéreaus wegweisende Arbeit in die Bayreuther Annalen eingehen wird, ist kaum zu bezweifeln. Welche Impulse für künftige tetralogische Regie-Bemühungen von ihm ausgehen, ist noch nicht abzusehen. Der nächste Bayreuther Großversuch 2020 soll ja, so wird geraunt, Diskontinuität weiter zementieren, wenn vier Regisseurinnen jeweils einen Teil erarbeiten und damit betont wird, dass die vier Abende auch ohne inneren Zusammenhang szenisch gelesen werden können.

Der „Ring“ ist zu Ende gedeutet – neue Konzepte sind nötig

Das ist kein neuer Gedanke (in Stuttgart und Essen etwa hat es solche Zyklen längst gegeben), möglicherweise dennoch einer mit innovativem Potenzial. Und neue Impulse sind bitter nötig: Wagners „Ring des Nibelungen“ wurde in den letzten Jahren allzu häufig als Objekt ehrgeiziger Regisseure und Dirigenten aus- und überinszeniert. Zu erzählen hatten sie dabei wenig Aufregendes – ob Georg Schmiedleitner in Nürnberg mit Müll und Trash, ob Rosamund Gilmore in Leipzig mit zahnloser Personenführung in Ruinen und Hallen oder Uwe Eric Laufenberg in Wiesbaden mit einem Aufguss seiner Linzer „Ring“-Bemühung.

Dietrich Hilsdorfs Düsseldorfer Zyklus, der in der letzten Spielzeit mit „Das Rheingold“ begonnen hat, weist wieder einmal in die bekannte Gesellschaftskritik, ist aber immerhin handwerklich glänzend erarbeitet und verspricht von daher noch spannende Fortsetzungen. Nicht vergessen sei der Detmolder „Ring“, in dem Kay Metzger (Regie) und Petra Mollerus (Bühne) mit eigenständigen Ideen einen bildmächtigen Bogen vom Absolutismus bis in eine Science-fiction-Zukunft geschlagen haben – große Leistung eines kleinen Hauses.

Castorf hatte eine Menge zu erzählen: Der Gegensatz zu statuarisch-symbolhaften Bildwelten, wie sie Wieland Wagner begründet und zuletzt vielleicht Vera Nemirova in Frankfurt gepflegt hat, könnte nicht stärker sein: Von den gelangweilt herumlümmelnden Rheintöchtern, die dem abgehalfterten Alberich die Peitsche spüren lassen – er braucht sich die Lust nicht mehr listig erzwingen –, über die ungestümen Stalin- und Lenin-Gleichsetzungen im „Siegfried“ bis hin zu den Road-Movie-Typen der „Götterdämmerung“, ihren Halbweltweibern und Voodoo-Schamanen entwickeln Castorfs Darsteller Charaktere, die sich in einer Fülle szenischer Mikro-Episoden lustvoll ausspielen.

Ertränkt und aufgeputscht von der Flut der Bilder

Castorf überschüttet den Zuschauer mit einem Wust aus Zitaten, Klischees, Gags, Bildfetzen aus biographischer oder kollektiver Erinnerung, medialen Chiffren, politischen Zeichen und symbolbehafteten Schauplätzen. Eine Flut, die bewusst überfordert: Wer kann mit Ketchupflaschen und Isolierdecken etwas anfangen, wer erkennt die Hinweise auf unbedeutende Trash-Filme, wer ahnt, worauf Alberichs Plastik-Entchen verweisen könnte, wer deutet sich durch die Anspielungswelt der Kostüme Adriana Braga Peretzkis, die von Marlene Dietrichs mondänen Pelzen über den abgedrehten „glitter man“ und Pianisten Liberace bis hin zu Nicholas Cage in David Lynchs „Wild at Heart“ reichen?

Das Motel an der Route 66 mit derTankstelle im "Rheingold". Foto: Enrico Nawrath

Das Motel an der Route 66 mit der Tankstelle im „Rheingold“. Foto: Enrico Nawrath

Einen wesentlichen Anteil an der ästhetischen Wirkung dieses „Rings“ haben die Bühnenbilder von Aleksandar Denić. Sie spielen mit Orten, die aus anderen medialen Erzählungen bekannt und zu Chiffren moderner (Popular-)Kulturen geworden sind: Das schmierige Motel an der „Route 66“ ruft einen Topos auf, der – über „Highway 66“ hinaus – in zahllosen amerikanischen Filmen zu finden ist, und könnte auch ein Hitchcock-Setting sein.

Die Scheune mit der Anspielung auf die schmutzige Ölförderung, verlegt in ein Land unter dem roten Stern, könnte irgendwo in Amerika stehen, wird aber mittels historischer Propagandafilme mit dem Sowjet-Sozialismus Stalins verknüpft. Der Coup mit dem verhülltem Reichstag und den machtvollen Säulen der New Yorker Börse in der „Götterdämmerung“, die Mount-Rushmore-Karikatur im „Siegfried“ oder die triste DDR-Alltags-Ästhetik des Alexanderplatzes öffnen weitreichende Gedanken-Spielräume und anachronistische Perspektiven, die absichtsvoll gebrochen sind oder ins Leere laufen. Aber diese meisterhaft ausgeleuchteten Bilder (Rainer Casper) haben einen so eindringlichen Wiedererkennungswert, dass sie sich unauslöschlich ins Gedächtnis einbrennen.

Und natürlich wecken sie – bestärkt noch durch die ständigen Video-Projektionen, die Details aus Innenräumen großformatig nach außen bringen und die Protagonisten in den Fokus rücken, wie es auf der Opernbühne niemals möglich wäre – eine fast kindliche Lust am Deuten. Denn entgegen den Anweisungen des Meisters war in diesem Jahr die Lust im Publikum zu spüren, sich die Castorf-Welt zurechtzuerklären: In den Pausen wurde über diese und jene Details debattiert, ahnungsvoll raunend verborgene Zusammenhänge festgestellt.

Die Suche nach dem Sinn kommt durch die Hintertür zurück

Das „Besserwissertheater“, das Castorf in einem seiner Interviews gegeißelt hatte, feiert fröhlich Wiederkehr: Wer kennt die Filme auf den Plakaten im Inneren des Motels? Wer erkennt Bild- oder Szenenzitate und ihre mögliche Bedeutung? Der Mensch erträgt es nicht, seine Welt ungedeutet zu lassen. Er will die Ordnung, den Sinn der Abläufe erkennen. Wenn der Glaube nicht hilft, findet sich eine Ideologie. Wenn die versagt, wird ein subjektivistischer Nihilismus zum Rückzugsort, auf dem sich die Bewegung der Wellen von einem vermeintlich festen Standpunkt aus bestimmen lässt. Das war vielleicht das spannendste Ergebnis der sechzehn Stunden Zeichenflut.

„Ich habe Sehnsucht nach menschlicher Welt“, schreibt Castorf im Programmheft. Was er zeigt, sind nur noch Degenerationen menschlicher Existenz. Der „Ring“ ist in seinen Augen eine Erzählung tiefster Verzweiflung: Liebe ist zu sexueller Lust oder Gewalt degeneriert, Gestaltungskraft zu Machtmissbrauch, Selbstbewusstsein zu Egozentrik, Freiheit zu Anarchie, Furchtlosigkeit zu Brutalität. Eine freie, wilde Welt, mit rastlosem Antrieb nach Macht, die sich am Ende nur noch um Selbsterhaltung ängstigen muss. Wagners Welt des „Rings“? Man wird nicht umhin können, ihre Züge auch unter der Camouflage Castorf’scher Assoziationsketten zu erkennen.

Zwiespältige musikalische Eindrücke

Musikalisch waltet über den drei letzten „Ring“-Zyklen die Hand des 78-jährigen Marek Janowski, der mit der Staatskapelle Dresden eine hoch gelobte Aufnahme der Tetralogie vorgelegt hatte. Das Bayreuther Ergebnis ist zwiespältig: Im „Rheingold“ fehlt zu Beginn die Atmosphäre, am Ende das gewisse Pathos, das der Musik eingeschrieben ist.

Dass Janowski keine Leitmotivhuberei betreibt, ist kein Verlust, dass er wichtige Blechbläsermotive mit den begleitenden Bewegungen der Streicher übertönt, schon eher. Seltsam willkürlich wirkende Modifikationen im Tempo, unmotivierte Betonungen vor allem in den Holzbläsern, dann wieder klangliche Pauschalisierungen lassen das Dirigat inhomogen, manchmal sogar ziellos erscheinen. Im ersten Akt der „Walküre“ ersticken Bedrohliches und Poetisches im neutralen Fluss von Tönen. Der erste Akt des „Siegfried“ dagegen erklingt als ein Stück fortschrittlicher Musik, fast so bittersüß wie Schostakowitsch.

Das Bayreuther „Ring“-Ensemble, in der „Götterdämmerung“ angeführt vom stets untadeligen Chor Eberhard Friedrichs, hat mit Catherine Foster eine der besten Brünnhilden im derzeitigen internationalen Sänger-Markt zu bieten. Foster bildet die Töne frei und unverkrampft, ohne Druck und Verfärbung, mit ermüdungsfreier Schwerelosigkeit. Dazu kommt eine pointierte Bühnenpräsenz, die sie selbst in diesem schauspielerisch auf Höchstleistung verpflichteten Ensemble herausragen lässt.

Die Erda Nadine Weissmanns muss gleich hinter Foster genannt werden: eine opulente Alt-Stimme, artikulationsgenau, klangschön, unbeirrbar. Auch Marina Prudenskaya hat als Waltraute einen tollen, stimmlich einem ausgewogenen italienischen Klangideal zuneigenden Auftritt. Alexandra Steiner, Stephanie Houtzeel und Wiebke Lehmkuhl harmonieren als Rheintöchter dank solide positionierter Stimmen. Tanja Ariane Baumgartner wirkt als Fricka im „Rheingold“ nicht so frei und unbefangen wie in der „Walküre“. Und Caroline Wenborne muss als Freia in Latex ihre Figur ausschließlich sexuell definieren.

Eine Trias erstklassiger Wagner-Bässe

Im „Rheingold“ erweisen sich Günther Groissböck und Karl-Heinz Lehner (Fasolt und Fafner) als erstklassige Wagner-Bässe. Auch Georg Zeppenfeld spielt als Hunding seinen böse-schwarzen Bass mit zynischer Härte aus. Roberto Saccá mag als Loge mit begrenztem, klanglich gedeckeltem Tenor stimmlich nicht recht überzeugen; Iain Paterson hat als Wotan seine besten Momente, wenn er verhalten reflektiert; in den dramatischen Stellen des letzten Akts der „Walküre“ stößt er an seine Grenzen.

Christopher Ventris singt den Siegmund mit klarem, deutlich artikuliertem Ton, hat auch die Farben für das Spektrum der Gefühle zwischen Resignation und siegesgewissem Aufbegehren. Seine Partnerin Camilla Nylund wird im Lauf des klug durchgestalteten ersten Akts härter und vibratoreicher. John Lundgren in der „Walküre“ und Thomas J. Mayer im „Siegfried“ singen Wotan/Wanderer solide, darstellerisch präsent, aber ohne vokales Charisma. Stefan Vinke überwältigt als Siegfried weniger durch Strahlkraft als durch eine untrügliche, abgesicherte Basis seiner Stimme. Ana Durlovsky wirkt überanstrengt; das Timbre passt aber zum Rollenkonzept eines alternden Berliner Showgirls.

Auch Stephen Milling reiht sich in die Riege der überzeugenden Wagner-Bässe ein: Sein Hagen ist ein böser, stimmgewaltiger Ränkeschmied, der es mit Siegfried und mit seinem Halbbruder Gunther – dem sicheren, klangschön singenden Markus Eiche – locker aufnehmen kann. Albert Dohmen flüchtet sich als Alberich zu oft in flaches, unstet gestütztes Deklamieren; der Mime von Andreas Conrad dürfte vor allem im ersten „Siegfried“-Akt in gestalterischer Finesse kaum zu übertreffen sein.

Das Publikum quittiert die unterschiedlichen sängerischen Profile fast durchweg mit unterschiedslosem Jubel und ein paar deplazierten Buhs; der wütende Protest gegen die Regie, wie er 2013 zu erleben war, blieb aus. Wer diesen „Ring“ nicht mag, hat sich längst entschlossen, zu Hause zu bleiben.

Co-Autor: Robert Unger




Ausweglos im Diesseits gefangen: In Katharina Wagners „Tristan und Isolde“ bleibt der Akkord des Daseins unaufgelöst

Trügerische Idylle im Liebesduett des zweiten Aufzugs im Bayreuther "Tristan": Stephen Gould und Petra Lang. Foto: Enrico Nawrath

Trügerische Idylle im Liebesduett des zweiten Aufzugs im Bayreuther „Tristan“: Stephen Gould und Petra Lang. Foto: Enrico Nawrath

Wenn man dem Musiktheater die Fähigkeit zugesteht, den Zeitgeist auszudrücken, dann lässt sich Katharina Wagners Inszenierung von „Tristan und Isolde“ in Bayreuth als ein außergewöhnlich gelungenes Beispiel anführen. In dieser Version von „Tristan und Isolde“ findet kein Sehnen, kein Wähnen Ruhe, der Akkord des Daseins bleibt ewig unaufgelöst.

Auf Frank Philipp Schlößmanns und Matthias Lipperts Bühne mit ihren Treppen, Stegen und Brücken irren zwei Menschen im Blau der Romantik aufeinander zu, lassen ihre Arme einen Kreis bilden, verlieren sich im zweiten Aufzug zwischen der scharfkantigen Helle von Suchscheinwerfern und dem tintigen Schwarz der Schatten zwischen gellendem Licht. Sie suchen Geborgenheit unter eine Plane, stecken künstlich matt leuchtende Sternchen auf, wie zwei Teenies, die in ihr selbst gebasteltes kleines Paradies flüchten.

Der Dunst, in dem unbehauste Männer zu Beginn des Dritten Aufzugs um eine Leiche kauern, ist undurchdringlicher, tödlicher Nebel. Tristans Lösung aus dem Kreis des Todes ist nurmehr eine Vision. In magischen Licht-Dreiecken erscheinen ihm Isolden – bloße Chimären, die bei Berührung zu Staub und Lumpen zerfallen oder ins Dunkel stürzen, Ausgeburten einer Fantasie, die fiebrig nach einem Halt in der Grundlosigkeit der Existenz sucht. Wenn dann Marke im aufdringlich-schmutzigen Gelb erscheint, ist das nicht einmal mehr der Einbruch der Realität in ein Reich des Träumens, des Hoffens und des Sehnens. Sondern nur noch eine böse, banale Bestätigung, dass es da nichts gibt, vielleicht nie etwas gegeben hat, was dem ersehnten Reich der Nacht entspräche. Erschütternd real ist allerdings das Ende: Isolde darf ihren „Liebestod“ verkünden, dann packt sie Marke am Arm und zieht die Widerstrebende nach hinten ins Dunkel.

Illusionsloses Dunkel des Daseins

Katharina Wagner negiert Metaphysisches und Transzendentales, wirft in den Chiffren der Bühne alles, was hinaus weisen möchte, zurück in den unerbittlichen Raum einer Gefangenschaft, die über die Dreiecksmauern eines Marke-Gefängnisses hinaus zu einem universalen Todesraum wird, gegen den es sinnlos ist, verzweifelt anzukämpfen. Was Ernst Bloch in „Geist der Utopie“ schreibt und was im Programmheft zitiert wird: „Zwei Menschen schreiten hier in die Nacht, sie gehen von einer Welt in die andere über, sonst begibt sich nichts …“ – das ist den Protagonisten bei Katharina Wagner nicht vergönnt. Das Begehren nach der Wahrheit universaler Liebe erstickt in der endgültigen Gewissheit vom illusionslosen Dunkel eines Daseins, für das Wagners sehnsuchtsfiebernde Musik nur noch ein verzweifeltes Echo eines längst verwehten Daseins-Sinns darstellt. Wo sich im Zeichen dieser Musik eine Transzendierung ereignen könnte? Die Szene zeigt es uns nicht.

So bleibt es der Musik, die Gegenwelten aufzureißen – ein dualistisches Konzept, das schmerzt. Mag sein, dass die Buh-Rufe auch darauf zurückzuführen sind. Aber „Tristan und Isolde“ ist eben kein Wohlfühl-Theater. Der Schmerz über das, was Menschen erleben in auswegloser Distanz zu dem, was sie ersehnen, ist dem Stück eingeschrieben. Christian Thielemann, der schon 1993 als junger Generalmusikdirektor in Nürnberg einen fantastischen „Tristan“ dirigiert hatte, hält die Musik völlig frei von angespanntem Schwitzen, achtet auf die Farbvaleurs und die Beleuchtungswechsel, hat einen schier unermesslichen Atem, wenn er die tragenden Bögen in die Struktur der Musik einzieht.

Stringente Konzeption ohne Pathos bei Christian Thielemann

Der Klang ist dezent, leicht und ohne die dunkle Glut und die satte Dramatik, wie sie auf früheren Aufnahmen zu erleben ist. Auch das mag nicht jedem einleuchten oder gefallen, aber Thielemann zeigt, dass er ein Konzept hat, das durch den Abend trägt und die Musik erschließt. Ohne ein paar Manierismen geht es freilich nicht ab: Ob einzelne Holzbläserstellen wirklich so auffällig ausgestellt werden müssen? Und der „Liebestod“ – darin mit der Bühne im Einverständnis – bleibt seltsam stumpf, ohne Passion, ohne den sich steigernden Sog und das fiebrige Beben.

Kein Ertrinken im Weltatem, sondern erzwungenes Verharren im Diesseits-Dunkel: Die Schlussszene des "Tristan" in der Sicht Katharina Wagners. Foto: Enrico Nawrath

Kein Ertrinken im Weltatem, sondern erzwungenes Verharren im Diesseits-Dunkel: Die Schlussszene des „Tristan“ in der Sicht Katharina Wagners. Foto: Enrico Nawrath

Hierin gibt es eine Kongruenz mit Petra Lang, die matt und resigniert Isoldes Worte aneinanderreiht. Im ersten Akt singt sie ökonomischer als die schrill sich verausgabende Evelyn Herlitzius in der Premierenserie 2015, setzt damit der illusionslosen Depression des stählernen Gefängnisses eher Resignation als Rebellion entgegen. Auf strömendes, klangerfülltes Singen wartet man im zweiten Aufzug vergeblich: Petra Lang befreit sich nicht aus dem beengten Gefängnis einer Tonbildung, die entspannt und frei sich des Körpers versichern würde.

Dafür steht mit Stephen Gould wohl einer der ausdauerndsten und stimmschönsten Tristan-Sänger der Gegenwart auf der Bayreuther Bühne. Mag auch seiner Stimme hier und da die charakteristische Farbe fehlen, macht er alles wett, wenn er die großen Ausbrüche gestaltet, ohne an seine Grenzen zu stoßen, wenn er die Verzweiflung Tristans mühelos singt, nicht mühevoll deklamiert, wenn er die Ekstase der Begegnung leuchten lässt, wenn er in „So starben wir, um ungetrennt …“ den Klang mit innerer Passion füllt und wenn er in „Wohin nun Tristan scheidet“ ein edles, gestütztes Piano und einen fahlen, fast ätherischen Ton anschlägt.

Auch für den König Marke lässt sich derzeit vielleicht ein ähnlich bewusster, aber kaum stimmschönerer Sänger finden als René Pape. Die in der Regie ausgebaute Ambivalenz der Figur spiegelt er im Singen wieder: als düsterer Boss eines Clans hat er dunkel-harte, als zweifelnder Mensch balsamisch-flexible Klänge. Raimund Nolte als sein Gefolgsmann Melot bleibt rollengerecht bei einem schneidenden Ton; auf Tristans Seite klingt der treue Kurwenal Iain Patersons manches Mal allzu körperlos. Christa Mayer gibt eine Brangäne mit Kraft und Substanz, aber ohne Feinschliff, die in der Inszenierung eine Figur am Rande bleibt.




Hier gilt’s nicht nur der Kunst: In Bayreuth präsentiert Barrie Kosky mit den „Meistersingern“ souveränes Deutungs-Theater

Die Meistersinger in Wahnfried. Szene aus dem ersten Aufzug der Neuinszenierung von Barrie Kosky. Foto: Enrico Nawrath

Die Meistersinger in Wahnfried. Szene aus dem ersten Aufzug der Neuinszenierung von Barrie Kosky. Foto: Enrico Nawrath

Hier gilt’s der Kunst allein: Was Siegfried Wagner nach den nationalbegeisterten Kundgebungen bei der Premiere der „Meistersinger von Nürnberg“ 1924 an die Türen des Bayreuther Festspielhauses schreiben ließ, was Wieland und Wolfgang Wagner 1951 zum Aushang brachten, um in „Neu-Bayreuth“ politische Diskussionen zu unterbinden, das könnte auch über dem letzten Bild von Barrie Koskys Bayreuther Neuinszenierung der „Meistersinger“ stehen.

Soeben hatte noch Hans Sachs – allein und dem Publikum zugewandt – die deutsche, echte, wahre Kunst gepriesen, die auch den politischen Zerfall überstehen würde. Da öffnet sich die Bühne nach hinten, ein Orchester fährt herein und Sachs dirigiert im Samtjackett und Barett Richard Wagners mit ausladenden Bewegungen den emphatischen Schluss.

Gilt’s also nur der Kunst? Ein verzweifelt affirmatives Plädoyer nach sechs Stunden lustvoll ausgespielten Beziehungs-Theaters, in dem es, ja sicher, um die Musik, doch mindestens ebenso um Biografisches, Politisches, Geschichtliches ging? Mag sein, dass die großartige Musik Richard Wagners alles heil macht, Dass sie über 155 Jahre Rezeptionsgeschichte triumphiert, die von frühen (jüdischen) Protesten gegen die Beckmesser-Figur über den Missbrauch als Festoper im Dritten Reich bis hin zur radikalen Zuspitzung zum Diskurs über die Kunst durch Katharina Wagner in Bayreuth 2007 reicht. Kosky lässt den Chor in schwarzem Orchesterdress die Instrumente bearbeiten – und lesen kann man daraus ein Bekenntnis oder eine Parodie.

Von Wahnfried bis zum Nürnberger Prozess

Die frisch renovierte Fassade des Festspielhauses. Foto: Werner Häußner

Die frisch renovierte Fassade des Festspielhauses. Foto: Werner Häußner

Von wegen Kunst allein also. Was schon im zweiten Akt der „Meistersinger“ aus dem Munde Eva Pogners nicht so recht zutrifft, stimmt ebenso wenig 1924 oder 1951 oder 2017. Ähnlich wie Stefan Herheim in seinem genialen Bayreuther „Parsifal“ zieht Kosky das Panorama weit, bezieht die Wirkung mit ein: Die Ouvertüre richtet den Blick in den von Rebecca Ringst detailreich nachempfundenen Salon der Villa Wahnfried, Ort einer der berüchtigten privaten Performances eigener Werke, die Richard Wagner so liebte. Er selbst ist gleich mehrfach anwesend, als Stolzing, Sachs, David. Schwarz und streng schreitet Cosima, migränebewehrt, durch die Reihen, nimmt am Kaffeetisch Platz. Schwiegervater Franz Liszts weiße Haare wehen nicht lange am Flügel: Der zappelig-quirlige Wagner, der zuvor Seidenwäsche und Schuhe ausgepackt hat, schubst ihn weg, greift selbst in die Tasten, demonstriert dem Dirigenten Hermann Levi, wie er seine Musik gespielt haben will. Selbst die Neufundländer Wagners haben ihren Platz: Zu Beginn führt er die schwarzen Hunde Gassi.

Doch die witzige, mit virtuoser Hand inszenierte Geschichte bekommt den ersten schalen Riss, als der deutsche Choral „Da zu dir der Heiland kam“ einsetzt. Hermann Levi, der jüdische Münchner Generalmusikdirektor und Uraufführungs-Dirigent des „Parsifal“, in die Rolle des Beckmesser gedrängt, wird zum Niederknien genötigt: Beginn einer Demontage, für die Kosky im Lauf des Abends bedrängende, irritierende, auch plakative Bilder finden wird.

Zunächst aber bevölkern die Meister in den prächtigen Renaissancekostümen Klaus Bruns‘ den Wahnfried-Salon. Die Merkerei wird aus Portraitbildern des jungen Wagner und Cosimas gebaut, die souverän gestalteten personenreichen Szenen sind komödiantisch überzogen und stets auf dem Punkt – Barrie Koskys operettengeschulte Hand versteht es, Pointen treffsicher zu setzen. Überraschend rückt der Tumult am Ende des ersten Akts in die Ferne: Wahnfried fährt nach hinten, der Raum schließt sich, und Hans Sachs, alias Richard Wagner, steht im Zeugenstand eines Gerichtssaals. Im letzten Licht – Franck Evin ist ein Meister der bedeutungsvollen Beleuchtung – erkennen wir: Es ist der Saal der Nürnberger Prozesse, an der Wand die Fahnen der vier Siegermächte.

Die Vertäfelung rahmt auch im zweiten Aufzug die Spielfläche. Gras sprießt überall – eine sinnreiche Anspielung – und die efeubewachsene Zeugenschranke wird zur Liebeslaube Stolzings und Evas. Die Wagner-Entourage picknickt, die Gewandungen mutieren ins Volkstümliche, Handwerkliche, Altdeutsche. Den Fliedermonolog und das Gespräch mit David setzt Kosky mit sensiblem Blick auf die menschlich berührenden Tiefen in Szene, aber der spannungsvolle Dialog zwischen Hans Sachs und Eva will mit seinen hintergründigen Anspielungen nicht so recht in die Gänge kommen: Koskys Interesse gilt nicht der werkimmanenten Psychologie der Personen.

Beckmesser (Johannes Martin Kränzle) in der Prügelszene am Ende des zweiten Aufzugs. Foto: Enrico Nawrath

Beckmesser (Johannes Martin Kränzle) in der Prügelszene am Ende des zweiten Aufzugs. Foto: Enrico Nawrath

Die Prügelszene rückt er in deutliche Nähe eines Pogroms – nicht naturalistisch durchgestaltet, sondern hochsymbolisch aufgeladen: Beckmesser wird ein gewaltiger Kopf aufgesetzt, der an die verzerrten Juden-Darstellungen antisemitischer Zeichnungen erinnert; parallel dazu bläht sich riesig und geisterhaft eine „Stürmer“-Judenkarikatur bühnenhoch auf. Sie richtet den giftigen Blick ins Publikum, bis sie zu den letzten Versen des Nachtwächters in sich zusammensinkt und nur noch die Kippa mit dem Davidsstern sichtbar bleibt.

Ein plakatives Bild – aber auch ein Hinweis darauf, was aus dem Antisemitismus Wagners erwachsen ist. Koskys Regie stellt jedoch, gegen den ersten Eindruck solcher starker Bühnen-Signale, keine vordergründigen Bezüge her. Er gibt sich auch nicht, wie derzeit der Castorf-Ring in Bayreuth, der frei schweifenden Assoziation hin. Er hat den „Meistersingern“ nichts übergestülpt, sondern entwickelt jeden Zug seiner Deutung aus dem Stück, aus Wagners Gedankenwelt und aus dem ideologischen Umfeld, das vom unkritisch bewundernden Wagnerianismus eben bis hin zur Wagner-Rezeption Hitlers und des Dritten Reiches führt.

Wagners verquere Theorien in der Konkretion einer Bühnenfigur

Inwieweit Beckmesser als Juden-Karikatur aufgefasst werden kann, ist ein bis heute umstrittenes Thema. Wer Wagners Hetzschrift „Das Judenthum in der Musik“ liest, kommt jedoch nicht umhin, in Beckmesser Wagners verquere Theorien in der Konkretion einer Bühnenfigur wiederzuentdecken: „Der Jude“, der „an sich unfähig ist … sich uns künstlerisch kundzugeben“, der in Musik redet, ohne etwas Wirkliches zu sagen, der nur wie Papageien nachplappert „ohne Ausdruck und wirkliche Empfindung“ – ist das nicht Beckmesser, der sich eines Lieds von Hans Sachs bemächtigt, es entstellt und verständnislos vorträgt? Hitler sagt es unverblümt und in offenbar direktem Bezug auf Wagner: „Was (das Judentum) auf dem Gebiete der Kunst leistet, ist entweder Verbalhornisierung oder geistiger Diebstahl.“

Alles, was Wagner diffamiert hat, findet sich bei Beckmesser wieder – und insofern ist Kosky, wenn er den demontierten Merker bis in die karikierend zappelnden Bewegungen des letzten Akts hinein als erniedrigte Person kennzeichnet, jenseits aller philologischen Debatten auf der Spur des authentischen Wagner. Wenn er im dritten Akt das Renaissancevolk über die Bänke des Nürnberger Schwurgerichtssaals fegen und die Fahnen schwingen lässt, hebt er freilich die plakative Eindeutigkeit auf: Er schlägt den Bogen aus dem historischen spätmittelalterlichen Nürnberg, das seine Judengemeinde ausgerottet hat, über das idealisierte Alt-Nürnberg Wagners in die Villa Wahnfried als Chiffre für einen Ort, an dem sich Glanz und Elend des 19. Jahrhunderts verdichten. Und er markiert mit dem szenisch-räumlichen Bezug zu den Nürnberger Prozessen den Horizont, in dem die Geschichte zu lesen ist.

Michael Volle als Hans Sachs im Dritten Akt. Foto: Enrico Nawrath

Michael Volle als Hans Sachs im Dritten Akt. Foto: Enrico Nawrath

Gälte es nur der Kunst, wie es noch Wolfgang Wagner in seinen letzten, unübertrefflich biederen Bayreuther „Meistersingern“ nahegelegt hat, wäre Richard Wagner verharmlost, die Geschichte negiert und die Bedeutung von Musik um einen wesentlichen Aspekt beschnitten. Barrie Kosky hat mit Bewusstsein um die Probleme, mit virtuosem Regie-Handwerk und nicht zuletzt mit einem Seitenblick auf die ursprüngliche Intention der „Meistersinger“ als einer „komischen Oper“ ein Beispiel souverän konzipierten Deutungs-Theaters geschaffen, das allen Brüchen und Fragen zum Trotz in sich konsistent eine sinnlich erfassbare Position zu den „Meistersingern von Nürnberg“ entwickelt, die dem Anspruch des Stücks und dem Anspruch Bayreuths, wie mit Wagners Werk umzugehen sei, Genüge tut.

Kein Blech-Pathos aus dem Orchestergraben

Wenn Oper als Gesamtkunstwerk und als Beitrag zu einem philosophischen Diskurs aufgefasst wird, steht die Musik oft in Gefahr, in der Kritik an die zweite Stelle abzurücken. Dem muss ausdrücklich widersprochen werden – und die Bayreuther Neuproduktion dieses Jahres macht es einem leicht. Mit Philippe Jordan, dessen Berufung zum Musikdirektor der Wiener Staatsoper ab 2020 zur zweiten „Meistersinger“-Vorstellung bekannt gegeben wurde, gab es auch aus dem Orchestergraben einen neuen Ton: Das Blech-Pathos war ausgetrieben, der dicke Saft der Streicher ausgepresst. Die Ouvertüre hat darob nichts an Auftritts-Majestät verloren, aber Jordan entwickelt den Ton mit lichter Leichtigkeit, lässt die Phrasen elegant schweben, achtet vielleicht ein wenig zu unentschieden darauf, die verästelte Kontrapunktik darzustellen, trifft aber die sprühend lebendige Beweglichkeit zumal des ersten Aktes mit Bravour.

Präzise ausgehörte Finali, leise lyrische Nachdenklichkeit in den Monologen des Sachs, ein mit Wehmut in eingedunkelte Farben getauchtes Vorspiel zum dritten Akt sprechen für die Bewusstheit, mit der Jordan sich der großen inneren Linie der Musik widmet, wie wenig er sich von der nötigen und erfolgreichen Detailarbeit ablenken lässt, den großen Entwicklungsbogen und die Kongruenz zum szenischen Geschehen im Blick zu halten. Noch selten hat man einen Chor wie den Festspielchor Eberhard Friedrichs so spielfreudig erlebt und dabei so präzis, so schattierungsreich, so sorgfältig im Wort-Musik-Verhältnis zu hören bekommen. Die Festwiese war, weggerückt vom Schaustück mit Pracht und „Wach‘ auf“-Prunk, ein leicht genommenes, von Witz durchtränktes Kabinettstück. Szenisch den Bezug zum ersten Aufzug nicht verhehlend, vollbrachte der Chor auch eine Meisterleistung differenziert ausgedeuteter Sprache, von unbeschwert jubelnd bis bösartig zischend.

Nicht häufig in den letzten Dekaden war ein so gleichmäßig niveauvolles Ensemble zu erleben: Allen voran Michael Volle als nicht brüchefreier, aber in jedem Moment wort- und klangsouveräner Sachs und Johannes Martin Kränzle als Beckmesser, der zwischen komödiantischer Übertreibung und tiefster Erniedrigung stets szenisch wie stimmlich glaubwürdig bleibt und ein zutiefst bewegendes Menschenportrait gestaltet. Luxuriös besetzt sind der Veit Pogner mit dem in diesem Fach inzwischen führenden Bass Günther Groissböck und der Nachtwächter mit dem herrlich sonoren Karl-Heinz Lehner.

Daniel Behle kehrt mit leuchtendem, nur an wenigen Stellen verunsichertem Tenor die oft peinliche ausgestellte Naivität des Lehrbuben David um in jugendliche Nachdenklichkeit. Mit Klaus Florian Vogt steht in Bayreuth der derzeit wohl beste Stolzing auf der Bühne – auch wenn der zaghafte Umgang mit der Stütze gerade in den schwärmerischen Legati seiner Partie die gleichmäßige Tonbildung beeinträchtigt. Mit dem Tonansatz hat auch Anne Schwanewilms als Eva ihre liebe Not; der dritte Akt gelingt ihr besser als die verengten Dialoge im zweiten. Auf eine jugendlich-frische Eva mit frei strömender Stimme wird man wohl noch warten müssen. Wiebke Lehmkuhl setzt ihren üppigen Mezzo als Magdalena mit viel Lust an spielerischer Nuancierung ein. Bayreuths Festspiel-Premiere bietet allerbestes Theater, geistig durchdrungen und anregend, szenisch wie musikalisch auf einem Niveau, das den Begriff der „Festspiele“ überragend mit Leben füllt.




In Wagners Welt: Marek Janowski dirigiert eine sensationelle „Rheingold“-Aufführung im Konzerthaus Dortmund

Götter unter sich: Loge (Daniel Behle), Donner (Markus Eiche), Froh (Lothar Odinius) und Wotan (Michael Volle, v.l.. Foto: Pascal Amos Rest)

So ist es wohl häufig im Leben: Große Momente pflegen sich nicht lautstark anzukündigen. Längst war bekannt, dass Dirigent Thomas Hengelbrock die Leitung der konzertanten Aufführung von Richard Wagners „Rheingold“ mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester aus Krankheitsgründen abgeben musste.

Im Voraus konnten sich womöglich enttäuschte Hengelbrock-Fans damit trösten, dass statt seiner Marek Janowski am Pult stehen würde, ein Opernmann durch und durch, in Sachen Richard Wagner so erfahren wie gefeiert. Auch hatte der Blick auf die Sängerbesetzung verraten, dass mit Michael Volle als Wotan und mit Johannes Martin Kränzle als Alberich Exzellentes zu erwarten sei.

Was sich dann aber abspielt im Konzerthaus Dortmund, der zweiten Station der bald in Baden-Baden endenden Aufführungsserie, gleicht einem Märchen. Denn in den folgenden zweieinhalb Stunden hören wir nicht einfach Musik. Vielmehr baden wir in goldgrünen Fluten, fliegen hinauf zu den Göttern, rasen in höllischer Fahrt hinab in Unterwelten und werden Teil eines phantastischen Spiels, in dem es um Alles geht, um Untergang oder Fortbestand der Welt. Wir sind nicht dabei, wir sind mittendrin.

Ein Opernmann durch und durch: Marek Janowski übernahm die Aufführungsserie für Thomas Henbelbrock. (Foto: Pascal Amos Rest)

Marek Janowski, das Elbphilharmonie Orchester und ein unglaublich stark besetztes Sänger-Ensemble haben uns komplett im Griff. So bestechend dicht ist diese Aufführung, so über die Maßen plastisch und bildhaft im Klang, dass sie filmische Qualitäten erreicht. Da wogen die Wellen, da lodern die Flammen, und 18 Ambosse auf der Chorempore hämmern uns – live! – den Sound von Nibelheim ins Ohr. Das Orchester klingt unter Janowskis Leitung wie ein Naturereignis: wogend und sausend, flirrend und brausend, gleichwohl niemals lärmend.

Johannes Martin Kränzle sorgt als Alberich für Gänsehaut-Momente. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nicht von dieser Welt scheint auch, was Michael Volle als Wotan und Johannes Martin Kränzle als Alberich vollbringen. Einen Göttervater mit solch überragender stimmlicher Autorität findet man kaum noch einmal. Das Volumen dieses Sängers lehrt das Staunen: Sein Wort, seine Stimme sind Gesetz. Johannes Martin Kränzle scheint als Alberich in die Fußstapfen des legendären Gustav Neidlinger treten zu wollen. So dämonische Züge er dem Schwarzalben einerseits gibt, so zeigt er ihn andererseits auch als bedauernswerten, stets verachteten Tropf. Seine warme, höchst facettenreiche Interpretation ist ein Lehrstück, wie aus Verbitterung allmählich Bosheit wird.

Triumph für ein großartiges Sänger-Ensemble (Foto: Pascal Amos Rest)

Welcher Hörgenuss auch vom Rest des Ensembles! Zum Beispiel von einer Fricka, die lyrisch-dramatisch singt statt hysterisch zu keifen (Katarina Karnéus), von einer Erda, die Wotan mit herrlich warm timbrierter Altstimme warnt (Nadine Weissmann), von zwei wunderbar stimmstarken Riesen (Christof Fischesser und Lars Woldt) und von drei Rheintöchtern, die Jubel und Übermut trefflich in Angstgeschrei und Klage umschlagen lassen (Mirella Hagen, Julia Rutigliano, Simone Schröder). Niemand stemmt, niemand forciert, niemand verfällt ins Deklamieren, auch nicht Donner und Froh, die ihre Kraft stets hell und leuchtend ins Spiel bringen (Markus Eiche und Lothar Odinius). Was macht es da schon, dass Elmar Gilbertsson als Mime ein wenig zur Überzeichnung neigt. Das letzte Wort behält Loge, der unstete Halbgott des Feuers. Daniel Behle gibt ihm wendige Eleganz, herrlich zwielichtigen Charme und die leisen Untertöne eines Zynikers, der sich stets ein Hintertürchen offen hält.

Ein laut jaulender Aufschrei der Begeisterung zerreißt die Stille nach dem Schlussakkord. Eine Männerstimme? Oder eine Frau? Wer weiß. Einen Wimpernschlag später toben auch die anderen los. Marek Janowski, in den Jahren 1975 bis 1979 GMD am Theater Dortmund, kehrt im größtmöglichen Triumph zurück.




Zwischen Abstraktion und „Was wäre wenn“: Gelsenkirchen stemmt „Tristan und Isolde“ mehr als achtbar

Liebeserkenntnis vor Schiffssegel: Szene aus dem 1. Akt „Tristan und Isolde“. (Foto: Karl Forster)

Bei „Tristan und Isolde“ sitzen wir in der ersten Reihe. Das ist mal eine ganz neue Erfahrung. Weil die Dynamik der Musik, sei es in Form des Orchesterklangs oder der sängerischen Gestaltungskraft, sich doch sehr unmittelbar entfaltet. Und weil der Blick für mimische Details, für Facetten der Bühnengestaltung, ein schärferer ist. So entpuppt sich der Platz hier, im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR), als keineswegs schlechtes Zugeständnis. Fast wähnen wir uns inmitten des Geschehens – still beobachtend, vor allem aber gepackt von der Sogkraft des oft ungezähmten wagnerschen Sehnsuchtstons.

Im Vorspiel entwickelt sich das langsam; unaufgelöste Dissonanzen, schwebende Harmonien gehen erst nach und nach in melodischen Fluss über. Schon hier stellt sich die Frage nach der Intensität, und für die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann gilt, dass sie sich etwas gemächlich einschwingt, das Farbspiel der Streicher dabei genussvoll auffächert, um schließlich zu hoher Expressivität zu gelangen.

Später dann, wenn sich dieses Drama der Liebe, des Verrats und der Todessehnsucht verdichtet, wenn die Musik in Ekstase gerät, gibt sich das Orchester diesem Taumel nahezu hemmungslos hin. Im 3. Akt hingegen, wo zunächst die dunkel-schroffen, ja schrundigen Töne herrschen, Ödnis und Leere illustrierend, bleibt die hypnotische Wirkung eher aus, wenn auch die Hirtenklage des Englisch Horns die Szenerie wirkmächtig unterstreicht.

Dennoch: Mitgerissen werden wir allemal. Am stärksten sogar vom Orchesterklang, aber auch von den Solisten. Hier darf das MiR durchaus stolz sein. Mit Torsten Kerl, ein Gelsenkirchener Junge, und der Britin Catherine Foster als Tristan und Isolde wurden international erfolgreiche Solisten verpflichtet, die nicht zuletzt in Bayreuth reüssieren. Beide singen bewegend, überwiegend klar in der Diktion, geschickt haushaltend mit ihren Kräften über die drei Akte hinweg, ohne Scheu, sich zu entäußern, aber auch in lyrisch zartem Ton. Kerl gestaltet mit seinem tief timbrierten Tenor die Mezzopianopartien allerdings ein wenig brüchig, unbestechlich dagegen die leidenschaftlichen Höhen seiner metallglänzenden Stimme. Lust und Schmerz, Eros und Thanatos liegen da ganz eng beieinander, gleißend hell sind bisweilen seine Fiebertöne im 3. Akt.

Selbstbefragung eines liebenden Paares im Spiegel. Torsten Kerl und Catherine Foster im 2. „Tristan“-Akt. (Foto: Karl Forster)

Foster wiederum wirkt insgesamt kontrollierter, in der tiefen Lage muss sie sich erst freisingen, sonst aber leuchtet diese Isolden-Stimme in schönstem Glanz. Nur am Ende, im berühmten Liebestod, bleibt sie uns manches an Transzendenz schuldig. Ja, wir sind geneigt zu sagen „Plötzlich geht alles ganz schnell“. Was wohl daher kommt, dass anderes ungemein statisch wirkt. Dies aber führt uns auf die Spur der Inszenierung, die MiR-Intendant Michael Schulz verantwortet. Sie ist offenbar geprägt von der Idee, dass Wagners Etikett „Handlung mit Musik“ nicht wirklich zutrifft. Weil das Changieren und Reflektieren seelischer Befindlichkeiten den dürren Fortgang des Geschehens bei weitem überstrahlt.

Zum anderen aber scheint sich die Regie der Überlegung „Was wären wenn…“ hinzugeben: Tristan und Isolde als rechtmäßiges Paar. Beide Ansätze haben Konsequenzen für die Bühnengestaltung und Personenführung – letzthin stehen diese Sichtweisen sich im Weg. Und sollen doch im Liebestod verschmelzen – Isolde, im weißen Gewand wie eine würdevolle Priesterin, Isolde aber auch, eine Frau, die verzweifelt und fast appellativ ihr „…wie er lächelt…Freunde…seht ihr es nicht?“ an uns richtet. Diesem Ende wohnt kein Zauber inne.

Wie auch die groß angelegte Liebesnacht-Szene des 2. Aktes ihre Wunderkraft verliert, weil eben hier der Regisseur das „Was wäre wenn…“ optisch ausreizt, indem er Tristan und Isolde in ein Haus schickt, dessen Zimmer sich labyrinthisch verzweigen. Kathrin-Susann Brose hat das Gebäude auf die Drehbühne gestellt – nicht der unendliche Raum einer Liebe bis zum Tod wird vermessen, sondern das Paar begegnet sich selbst als real Liebende. Und nebenan spielen die Kinderlein mit Plüschtieren.

Isolde als Fantasiebild des tödlich verwundeten Tristan. Szene aus dem 3. Akt. (Foto: Karl Forster)

Solcherart Umdeutung ist gewagt und wirkt auch nicht zwingend. Doch Schulz und seine Ausstatterin bevorzugen offenbar das (groß)-bürgerliche Milieu, davon zeugt auch der Raum im Schiffsbau des 1. Aktes mit seinen Kolonialstil-Intarsien, sehr detailverliebt eingerichtet.

Erst am Schluss, wenn der totverwundete Tristan auf einem riesigen, kunstvoll drapierten Stoff dahinsiecht, ist, als krasser Gegensatz, die totale Abstraktion erreicht. Folgerichtig gerinnt der Kampf zwischen Tristans Getreuen und dem Gefolge des betrogenen Königs Marke zu einem stilisierten Schattenspiel. Es ist im Grunde die stärkste Szene dieser Inszenierung.

Nicht zuletzt sei gesagt, dass neben Torsten Kerl und Catherine Foster das hauseigene Ensemble nebst Chor oft zu beeindrucken versteht. Almuth Herbst (Brangäne) als sanft sich sorgende Vertraute der Isolde, die in lyrischer Emphase sehr ausgeglichen singt, ist eine Entdeckung für die Rolle. Urban Malmberg (Kurwenal) aber gestaltet die Partie bisweilen gewollt kraftvoll, nicht ohne raue Untertöne. Und Phillip Ens’ König Marke hat oft Probleme mit der Fokussierung.

„Nehmt alles nur in allem“: Das MiR hat sich einer großen Herausforderung, das sind Wagneropern immer, mehr als achtbar gestellt. Die Karten für diesen „Tristan“ sind äußerst gefragt, für manche Vorstellung gibt’s nur noch freie Plätze unterm Dach.

Das Gelsenkirchener Haus ist in der Stadtgesellschaft und in der Politik wunderbar verankert, nicht zuletzt dank der interessanten Repertoireauswahl des Intendanten Michael Schulz. Wo sonst sitzt der Oberbürgermeister, wie hier Frank Baranowski, in jeder Premiere des Theaters? Es muss auch gar nicht die erste Reihe sein.

Infos: https://musiktheater-im-revier.de/Start/#!/de/




Raum für das Wunder: Wagners „Lohengrin“ fasziniert am Aalto Theater Essen

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Der Zusammenbruch ist vollkommen. Elsa, entleibt im blutigen Hochzeitsgewand, Ortrud, weinend über dem Sarg des toten Telramund. Der Herzog von Brabant, ein blindes Kind, das in einer Uniform über die Bühne torkelt. Der Rückzug Lohengrins ist nicht das Ende eines wundersam romantischen Liebesmärchens, sondern die Katastrophe einer haltlos zurückgelassenen Gesellschaft. Was da bleibt, ist der Krieg: Ein Bischof in vollem Ornat segnet die Soldaten König Heinrichs, lässt sie von Messdienern beweihräuchern. Wo die wahre Transzendenz verbannt ist, macht sich die falsche breit.

Tatjana Gürbaca hat am Aalto Theater Essen Richard Wagners „Lohengrin“ in einer klugen, komplexen Regie an die Gegenwart angenähert, ohne die Deutungswege der letzten Jahre weiter auszutreten, aber auch ohne in die Extreme verstiegenen Überbaus zu flüchten oder das Heil in der Rückkehr zu Opulenz und Konvention zu suchen. Das ist bei einem permanent über-inszenierten Komponisten wie Wagner ein Kunststück. Gürbaca liest also das Märchen vom gescheiterten Schwanenritter nicht als Künstlerdrama – wie es Äußerungen Wagners nahelegen –, sie inszeniert keine bloß politische Parabel, sondern sie versucht, dem „Wunder“ Raum, Sinn und Deutung zu geben.

Ein Vorhaben, das bei einer konsequent säkularisierten Sicht auf Wagners rätselvolle Oper kaum durchzuhalten ist. Der Einbruch einer metaphysischen Sphäre in die Welt der Brabanter ist so fundamental für das Stück, dass weder die tapfere Negation noch die Reduktion auf den – durchaus vorhandenen – Aspekt einer charismatischen Politik tragfähig sind. Wagner selbst beschrieb „Lohengrin“ als Berührung einer übersinnlichen Erscheinung mit der menschlichen Natur. Ohne diesen Aspekt ist etwa der Sinn des Frageverbots nicht erschließbar.

Mit unglaublicher Präzision gespielter Kind-Schwan

Gürbacas Bühnenbildner Marc Weeger baut ein beängstigend enges Gebilde ins Zentrum der Bühne, eine weiß strahlende Treppe, begrenzt von hohen Wänden, viel zu eng für die Massen, die sich auf den Stufen drängen und formieren. Lohengrins Erscheinen vollzieht sich unspektakulär. Er ist ein Mensch wie alle, den Silke Willrett in Mantel und Hut steckt und damit an die unbehausten dämonischen Figuren der romantischen Oper wie Marschners Hans Heiling oder Wagners Holländer erinnert. Ihm wird ein Kind von oben herab zugereicht, das als „Schwan“ erklärt wird. Telramund und Ortrud sind die einzigen, die sich aus dieser begrenzten Sphäre herausbegeben – auch das schon ein signifikantes Detail. Telramund fällt, als der Kleine einen Arm hebt: Die transzendente Macht, die Lohengrin begleitet, bewirkt sein Verderben.

"Lohengrin" in Essen: Jessica Muirhead (Elsa) und Aron Gergely (Der Schwan). Foto: Forster

„Lohengrin“ in Essen: Jessica Muirhead (Elsa) und Aron Gergely (Der Schwan). Foto: Forster

Mit diesem Kind-Schwan, von Aron Gergely mit unglaublicher Präzision gespielt, holt Gürbaca das „Wunderbare“ sinnlich in das Stück, zeigt sein Wirken, die eng mit der Person Lohengrins verbunden ist, aber sich nicht völlig mit ihm identifizieren lässt. Während Elsa und die Menge den Sieg bejubeln, klettert der Kleine nach oben und geht unbeachtet ab.

Den zweiten Aufzug inszeniert Gürbaca als eine subtile Studie über die Psychologie von Macht und Abhängigkeit, beginnend mit dem grellen Licht, das auf Ortrud fällt, während das Orchester in dunkel-fahlen Holzbläserfarben mit Quinte, Tritonus und der Paralleltonart fis-Moll das reine A-Dur der Gralssphäre in Frage stellt. Und gipfelnd in der Aktion Telramunds, der die beengte Bühnenskulptur aufdrückt und den verwundert staunenden Menschen das weite, unergründliche Schwarz des Raums öffnet. Telramund, der nicht versteht, was da in seine rational geordnete, schlüssige Weltsicht eingebrochen ist, packt das Kind, schüttelt es so verzweifelt, als wolle er die Antwort aus dem Körperchen herauszwingen. Aber der Kleine geht zu Lohengrin, der den Zweifel noch einmal besiegen kann.

Im dritten Aufzug wird das nicht mehr möglich sein: Gürbaca macht die Unvereinbarkeit der Welten des Grals und des Herzogtums Brabant, des Göttlichen und des Irdischen, oder – so Wagner – des Wunders und der Liebe sinnlich greifbar. Lohengrin kann die Frage nach „Nam‘ und Art“ nicht zulassen, denn das Metaphysische, das er repräsentiert, wäre mit keiner Sprache jemals umfassend und damit wahr zu beschreiben – es entzieht sich dem definierenden Wort. Elsa aber muss die Frage stellen, will sie die Liebe ernst nehmen, die – auch hier sei Wagner zitiert – nach Erkenntnis strebt und das Wesen des Geliebten ergründen will.

Diese tragische Unvereinbarkeit darzustellen, gelingt Gürbaca eindrucksvoll. Wenn Lohengrin sich Elsa zuwendet – zum ersten Mal allein! –, legt er das Kind am oberen Rand der Stufen des weißen Raumes ab. Aber der „Schwan“ warnt, als sich Elsa und Lohengrin zur ersten Umarmung nahekommen, wälzt sich von Stufe zu Stufe auf Elsa zu.

Die Interaktion des Paares ist ständig auf den Bezugspunkt dieses lebendigen Symbols des Wunderbaren bezogen – und als die verhängnisvolle Frage gestellt ist, streckt der Kleine den Arm aus („Der Schwan, der Schwan!“), nimmt Lohengrin an der Hand – und der Raum dreht sich: eine riesige, schwarze Treppe mit viel zu hohen Stufen, verbaut mit Baumstämmen, als sei ein Scheiterhaufen zu errichten. Ein bezwingendes Bild trostlosen Zusammenbruchs.

Detaillierte und vielschichtige Personenführung

Gürbacas Regie überzeugt nicht nur auf dieser Ebene metaphorischer Darstellung; die Regisseurin löst auch den Anspruch an eine detaillierte, vielschichtige Personenführung ein, der die meisten ihrer bisherigen Arbeiten – auch die nicht so gelungenen – ausgezeichnet hat. Die Ortrud von Katrin Kapplusch etwa ist kein wildes Biest, sondern eine zunächst rational abwägende, sich dann in ihre politische Vision steigernde Frau, die am Ende erkennt, dass der Rückzug Lohengrins die Katastrophe schlechthin ist und einen Moment rührender Solidarität mit Elsa zeigt. Heiko Trinsinger gebärdet sich desto gewalttätiger, je schmerzhafter er seine eigene Ohnmacht erfährt, gespeist aus einem fast schon tragischen Nichtverstehen, das ihm die Sphäre Lohengrins verschließt.

Eindrucksvolle Darsteller: Heiko Trinsinger (Telramund) und Katrin Kapplusch (Ortrud). Foto: Forster

Eindrucksvolle Darsteller: Heiko Trinsinger (Telramund) und Katrin Kapplusch (Ortrud). Foto: Forster

Mit Jessica Muirhead hat das Aalto Ensemble eine Elsa in seinen Reihen, die sich darstellerisch die Rolle nahezu ideal erarbeitet hat: Vom verschüchterten Opfer eines undurchschaubaren Verhängnisses bis zur selbstbewusst fragenden Liebenden und zur hoffnungslos gestrandeten Existenz überzeugt ihr Spiel, ihre Erscheinung, ihre Körpersprache. Ihr kristalliner Sopran betont die mädchenhaften Züge der Figur, zeigt sich klangschön von der besten Seite, wo helles Piano und sanftes Mezzoforte gefragt ist. Die dramatischeren Momente des zweiten und dritten Akts lassen den schlanken Ton bisweilen eng werden. Die Stimme ist an ihre Grenze geführt, wird aber nicht überfordert.

Katrin Kapplusch punktet als Ortrud, wo sie die Klänge des Schmeichlerischen, des Höhnischen, aber auch den Tonfall lapidarer Grausamkeit und intellektueller Schärfe trifft. „Entweihte Götter“ wirkt nicht durch die Wucht einer großen Stimme, sondern durch den aggressiv-gefährlichen Ton, in den Kapplusch diese Paradestelle kleidet. Eine durch und durch fesselnde Gestaltung.

Heiko Trinsinger dagegen hat die vokale Wucht, um Wut und Verzweiflung des Telramund herauszuschleudern. Manchmal geschieht das mit viel Druck, den einzusetzen der Sänger nicht nötig hätte. Sobald die Töne frei gebildet werden, tragen sie die ausgezeichnete Artikulation, die jedem Wort Gewicht und Ausdruck gibt.

Almas Svilpa porträtiert den König Heinrich mit einem untrüglichen Bass-Fundament einen in seinem ehrlichen Bemühen nicht unsympathischen König; Martijn Cornet stößt als Heerrufer an deutliche Grenzen. Daniel Johansson als Lohengrin schafft den Spagat zwischen lyrischer Noblesse und dramatischer Attacke; er singt mit konzentriertem, stets sauber geführtem Ton, auch in der Gralserzählung mit abgesicherten Piani. Vor allem ist er auch ein Darsteller, bei dem stimmliche Expressivität und szenische Aktion korrespondieren.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, überzeugt mit Wagners "Lohengrin". Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, überzeugt mit Wagners „Lohengrin“. Foto: Hamza Saad

Was Tomáš Netopil und die Essener Philharmoniker leisten, könnte man ein unfassbar hehres Wunder nennen – aber die Beschreibung hinkt, weil dieser „Lohengrin“ auf ein Niveau aufsetzt, das sich immer wieder als zuverlässig und stabil erweist.

Das Orchester meistert jede Hürde mit großer Klasse, die Streicher sind in den offenen Stellen ganz bei sich, die Holzbläser haben bezaubernde Momente en masse, das Blech trägt nie dick auf oder drängt sich vor. Netopil zaubert das Vorspiel wie eine Vision reinsten Klangs ohne räumliche Verortung, erfasst aber auch, wie sich der Klang in Rhythmus und Melodie verdichtet, tariert das allmählich wachsenden Crescendo mit Gespür für die Innenspannung aus. Das Vorspiel zum dritten Aufzug hat Energie und Leuchtkraft, ohne zu schmettern.

Netopil trägt auch die Sänger, erstickt sie nie im Klang und kann so die Subtilitäten von Wagners Partitur darstellen, ohne auf der anderen Seite Glanz und Pracht zu verraten. Das war Orchesterglück auf Spitzenniveau – und Essen hat damit klar gemacht, dass sich andere Opernhäuser der Region durchaus strecken müssen, um da mitzuhalten.

Nicht zu vergessen ist der Chor von Jens Bingert, überzeugend nicht nur in Momenten treffsicherer Präzision, sondern auch in einer differenziert ausgehörten Staffelung des Klangs und in der Vielfalt dynamischer Nuancen.

Mit diesem „Lohengrin“ hat Essen nach dem „Parsifal“-Fehlschlag am Ende der Ära Soltesz wieder einen Wagner im Repertoire, der szenisch wie musikalisch keinen Vergleich zu scheuen braucht.

Die nächsten Vorstellungen: 7. und 11. Januar, 26. März, 1.April 2017. Info: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/lohengrin.htm

Das Aalto-Theater hat ein Wagner-Spezial-Abo aufgelegt: Zum Gesamtpreis von 50 Euro können die Vorstellungen am 25. Februar (Tristan und Isolde) und 1. April 2017 (Lohengrin), jeweils um 18 Uhr, besucht werden. Erhältlich ist das Abo unter Tel.: (0201) 81 22 200.

Nächste Premiere einer „Lohengrin“-Inszenierung in der Region: Samstag, 15. April 2017, im Theater Krefeld. http://www.theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/lohengrin/. 




Festspiel-Passagen: „Holländer“ in Bayreuth zeigt, wie Kommerz das Leben banalisiert

Schöne banale Warenwelt: Szene in der "Spinnstube" mit Christa Mayer (Mary). Foto: Enrico Nawrath

Schöne banale Warenwelt: Szene in der „Spinnstube“ mit Christa Mayer (Mary). Foto: Enrico Nawrath

Der „Fliegende Holländer“ in der Inszenierung Jan Philipp Glogers wirkte bei den Bayreuther Festspielen ein wenig wie das Aschenputtel unter den glanzvoll aufpolierten Schwester-Inszenierungen.

Da ist der „Ring“ mit den grandiosen Bühnenbildern Aleksandar Denićs, von Frank Castorf in postmoderner Assoziationslust bevölkert, der „Tristan“ Katharina Wagners mit seiner radikalen Dekonstruktion der transzendierenden Macht der Liebe als bloßer Projektion. Und Uwe Eric Laufenbergs „Parsifal“ als eine zwischen hysterischen Erwartungen und hämischer Geringschätzung zerrissene Neuinszenierung, deren Kern anscheinend über eine ziemlich anfechtbare Gleichung (Religionen begraben = Probleme gelöst) nicht hinauskommt.

Dieser „Holländer“ hat keinen Skandal gemacht, im Premierenjahr 2012 nicht, und in seinem hervorragend durchgearbeiteten Wiederauftauchen in der letzten Donnerstag vergangenen Festspielzeit auch nicht. Vielleicht fehlt es ihr einfach an intellektuellem Mumpitz und postmodernem Mummenschanz, vielleicht ist Gloger nicht prominent genug, um einen Aufreger zu platzieren, vielleicht mangelt diesem „Holländer“ jenes Quäntchen Glamour, das die Originalitätssucht einer kurzatmigen Kritik ebenso anlockt wie es ein auf Sensation geeichtes Publikum befriedigt.

Glogers Inszenierung – und das ist ihre Qualität – ist unaufgeregt, geht in die inhaltliche Tiefe statt in die mediale Breite. Sie ist Zustandsbeschreibung und Vision zugleich – von einer Welt neoliberaler Globalisierung und Vernetzung, in der Menschen zu Cyborgs mutiert sind, in der die Kraft einer befreiten, unbedingten, transzendierenden Liebe auf das Format des Verwertbaren heruntergebrochen wird.

In Christof Hetzers Bühne steckt der Holländer in dem fest, was man „mit Zahlen darstellen“ kann. Digitale Datenströme durchzucken blasse Lichtleiter, auf elektronischen Anzeigern rauschen Zahlen vorüber. Unter den norwegischen Geschäftsleuten um Daland in ihren konventionell graublauen Anzügen ist der Holländer ein Fremdkörper: Kostümbildnerin Karin Jud kleidet ihn, als er mit dem Rollkoffer der von Terminen getriebenen Ahasvers der globalen Verkehrsströme erscheint, in einen Mantel, der im Schnitt an die negativen Helden des 19. Jahrhunderts erinnert, später in einen metallisch schimmernden Business-Dress, am Ende, in der erlösenden Umarmung mit Senta, in eine unauffällige Hemd-Hose-Kombination: Aspekte der Herkunft und Momente der Entwicklung der Figur spiegeln sich im Kostüm wider.

"Wird sie mein Engel sein?" - "Der Fliegende Holländer in Bayreuth mit Ricarda Merbeth (Senta) und Thomas J. Mayer (Holländer). Foto: Enrico Nawrath

„Wird sie mein Engel sein?“ – „Der Fliegende Holländer in Bayreuth mit Ricarda Merbeth (Senta) und Thomas J. Mayer (Holländer). Foto: Enrico Nawrath

Die Welt der Daland-Firma ist auf Produktivität geeicht. Doch gibt es eine Außenseiterin, die sich konsequent dem Zwang der Erschaffung von Banalität – repräsentiert durch die Ventilatoren, die auf harmloses Zimmer-Format reduzierte Elementargewalt des Sturmes – entzieht: Senta bildet sich selbst eine Welt, gibt ihrem Suchen eine Richtung, die sie mit der Sehnsucht des Holländers „nach dem Heil“ verbindet.

Eine Puppe aus Pappe steht auf der Höhe des Hügels aus Schachteln, den sich Senta als Flucht- und Rückzugsort errichtet hat. Genau an dieser Stelle erscheint der Holländer in Dalands Haus, eine Verkörperung dessen, was Senta sich in ihrem Inneren erträumt. Sie legt sich selbst gebastelte Flügel an – nicht die Schwingen eines Engels, sondern die zerzausten Flügel des Todes, denn der Tod ist für das getriebene Gespenst die Pforte der Erlösung und des Heils. Den magischen Moment des ersten Blicks, die intimen Augenblicke der Begegnung, hat Gloger nun überzeugender als vor vier Jahren herausgearbeitet und mit der Idee der Inszenierung verbunden.

Das Ende zieht den nachkomponierten „Erlösungsschluss“ Wagners heran und vermeidet gleichzeitig eine ungebrochen versöhnliche Sicht auf die utopische Aktion der beiden, diese Welt aus Kapital und Material überwindenden Menschen: Der Steuermann fotografiert die Vereinigung von Senta und Holländer im Tode – und zur harfendurchfluteten Verklärungsmusik Wagners verpacken eifrige Arbeiterinnen das neue Produkt: Kitschfiguren des Paares. Der Coup der Inszenierung erfasst sehr genau die ökonomische Banalisierung großen Ideen und geistiger Entwürfe. Die „wahre Liebe“ Wagners, eine transzendentaler Begriff, kommt in solch schlichtem Materialismus nur als herziger Abklatsch vor.

Für die Produktion festgehalten: Der Steuermann (Benjamin Bruns) fotografiert das Paar in der Entrückung des Todes. Foto: Enrico Nawrath

Für die Produktion festgehalten: Der Steuermann (Benjamin Bruns) fotografiert das Paar in der Entrückung des Todes. Foto: Enrico Nawrath

Das Dirigat dieses „Fliegenden Holländers“ hat der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf, Axel Kober, von Christian Thielemann übernommen. Er ästhetisiert nicht, er pauschalisiert eher. Wenn er Details hervorheben lässt, weiß man nicht immer, wozu. Wenn, wie in der Ouvertüre, Linien unterhalb der Melodiestimmen verschwimmen, weiß man auch nicht, warum. Auf der anderen Seite stehen Kobers Sinn für Kontraste und angemessene, unverkünstelte Tempi. Was dem Dirigat an Tiefenschärfe abgeht, gleicht der phänomenale Chor Eberhard Friedrichs auf der Bühne aus. Klangdramaturgie und Präzision wecken pure Begeisterung.

Der Sänger des geisterhaften Kaufmanns aus den Niederlanden ist Thomas J. Mayer, seit einigen Jahren ein gefragter Wotan und Telramund. Er legt die Figur dunkler, geheimnisvoller an als der Premieren-Holländer Samuel Youn, singt aber auch nicht freier und strömender als sein Vorgänger. Die Stimme bleibt rau, angestrengt in der Höhe, ohne Reserve für das Finale. Bei Ricarda Merbeth, der Hügel-Senta seit 2014, vermisst man unangestrengtes Singen, hört einen flackernden Sopran, dessen Vibrato Artikulation und Tongestaltung verschlingt.

Auch der vielgefragte Andreas Schager – der Titelheld in der „Parsifal“-Neuinszenierung – bleibt als Erik hinter den Möglichkeiten der Partie zurück. Als Hausmeister im grauen Kittel versucht er vergeblich, seinen braven, ambitionslosen Liebes-Begriff der zum Höchsten gestimmten Senta zu erklären – freilich nicht frei und mit Schmelz, sondern laut und kantig, als gelte es, gegen das Schicksal anzuschreien. Christa Mayer hat als Mary wenig Gelegenheit, Eindruck zu machen.

Abendlich leuchtet das Festspielhaus mit seiner frisch renovierten Fassade. Foto: Werner Häußner

Abendlich leuchtet das Festspielhaus mit seiner frisch renovierten Fassade. Foto: Werner Häußner

Der sängerische Glanz, wie ihn Bayreuth eigentlich erwarten lassen sollte, geht in diesem „Holländer“ von den Rollen aus, die sonst eher beiseite stehen: Der Daland des Peter Rose ist klug charakterisiert, stimmlich souverän und in der Übereinstimmung von szenischer und vokaler Geste vorbildlich.

Benjamin Bruns, der Steuermann seit der Premiere 2012, brilliert auch in diesem Jahr nicht nur mit entspanntem, differenziertem Singen, sondern hat auch die Nuancen perfektioniert, mit denen er den Helfer Dalands als ungerührten Agenten des Kommerzes charakterisiert. Musikalisch also eher blass, bleibt Wagners – anachronistischerweise immer noch – erste für Bayreuth zugelassene Oper wegen der solide und überzeugend erarbeiteten szenischen Lösung Glogers sehenswert.

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Ausblick:

Bei den Festspielen 2017 steht der „Fliegende Holländer“ nicht auf dem Spielplan. Die Eröffnungsoper des nächsten Jahres sind „Die Meistersinger von Nürnberg“, inszeniert von Barrie Kosky, von dem in Essen in der bald beginnenden Spielzeit wieder „Tristan und Isolde“ ab 25. Februar 2017 zu sehen ist. Weiter im Bayreuther Festivalplan sind Katharina Wagners „Tristan“, Uwe Eric Laufenbergs „Parsifal“ sowie noch einmal drei Zyklen des „Ring des Nibelungen“ in der Inszenierung Frank Castorfs. Der schriftliche Vorverkauf beginnt am 15. Oktober.

Jan Philipp Gloger ist der Regisseur des Essener „Barbiere di Siviglia“. Die Oper von Gioacchino Rossini wird wieder ab 16. September gezeigt und bleibt mit neun Vorstellungen die gesamte Spielzeit über im Repertoire.

Wer die Geschichte des verfluchten Seefahrers in Bayreuth nicht sehen konnte: Die Saison 2016/17 wird ein richtiges „Holländer“-Jahr. Abzusehen bleibt, ob die Neuinszenierungen wirklich viel Substanzielles auf die Bühne bringen, oder ob es nur verquält nach Originalität suchende Wagner-Exerzitien ehrgeiziger Regisseurinnen und Regisseure geben wird.

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Eine Auswahl an bevorstehenden „Holländer“-Premieren und Wiederaufnahmen:

23.09.16: Halle, Regie Florian Lutz, Musikalische Leitung Josep Caballé Domenech

01.10.16: Dessau, Regie Jakob Peters-Messer, Musikalische Leitung Markus L. Frank

20.10.16: Antwerpen, Regie Tatjana Gürbaca, Musikalische Leitung Cornelius Meister

29.10.16: Bremerhaven, Matthias Oldag, Musikalische Leitung Marc Niemann

08.01.17: Stuttgart, Regie Calixto Bieito, Musikalische Leitung Georg Fritzsch (WA)

21.01.17: Magdeburg, Vera Nemirova, Musikalische Leitung Kimbo Ishii

11.02.17: Hannover, Regie Bernd Mottl, Musikalische Leitung Ivan Repušić

06.05.17: Hagen, Regie N.N.

12.05.17: Düsseldorf, Regie Adolf Dresen, Musikalische Leitung Axel Kober (WA)

20.05.17: Frankfurt, Regie David Bösch, Musikalische Leitung Sebastian Weigle (WA)




Die Feen, Das Liebesverbot, Rienzi: Oper Leipzig holt den ganzen Wagner ans Licht

Er predigt Moral gegen die Anarchie des Karnevals, die er selbst nicht einhält: Tuomas Pursio als Friedrich in Wagners "Das Liebesverbot" in Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Er predigt Moral gegen die Anarchie des Karnevals, die er selbst nicht einhält: Tuomas Pursio als Friedrich in Wagners „Das Liebesverbot“ in Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Den Begriff der „Jugendsünde“ hätte sich Richard Wagner besser verkniffen, als er die Partitur des „Liebesverbots“ König Ludwig II. von Bayern gewidmet hat. Denn dieses – in dem Spruch möglicherweise sogar augenzwinkernd gemeinte – Werturteil ist denen willkommen, die in den drei frühen Kompositionen des „Meisters“ keine „vollgültigen“ Werke sehen. Bis heute wird der anachronistische, unhistorische Zustand aufrechterhalten, dass auf der Bayreuther Festspielbühne nicht das Gesamtwerk Wagners gezeigt wird.

Und bis heute reagieren die meisten Wagnerianer mit einer Mischung aus generöser Geringschätzung, mitleidiger Überheblichkeit und Unverständnis auf Versuche, Wagner aus der Aufführung aller seiner Opern umfassender zu verstehen. Entsprechend selten sind Aufführungen von „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“. Der „echte“ Wagner beginnt mit dem „Holländer“ – das scheint festzustehen.

Anarchie der Lust: Der Chor der Oper Leipzig in der Inszenierung von Wagners Frühwerk "Das Liebesverbot" von Aron Stiehl. Foto: Kirsten Nijhof

Anarchie der Lust: Der Chor der Oper Leipzig in der Inszenierung von Wagners Frühwerk „Das Liebesverbot“ von Aron Stiehl. Foto: Kirsten Nijhof

Daran ist ja auch etwas Richtiges – aber die ganze Wagner-Wahrheit ist dieser eingeschränkte Blick eben nicht. Denn der „Holländer“ segelt nicht wie eine plötzliche Erscheinung aus dem nebligen Horizont des Genies, sondern erweist sich als Ergebnis einer Reifung, die mit den „Feen“ beginnt.

So gesehen, ist diese 1833 in Würzburg entstandene, erste erhaltene vollendete Oper Wagners ein Schlüsselwerk für seine spätere Entwicklung: Romantik, Erlösung, Politik, Geschlechterverhältnisse, psychische Zustände bis hinein ins Autobiographische: Alles ist in den „Feen“ bereits grundgelegt. Man muss nicht nach den paar Tönen suchen, die Wagner später im „Tannhäuser“ wieder aufgreift, um diese Linien zu ziehen.

So ist der weltweit einzigartige Fall der Oper Leipzig, die drei frühen Wagner-Opern im Repertoire zu haben und an einem Wagner-Festwochenende rund um den Geburtstag des Leipzigers am 22. Mai an drei aufeinanderfolgenden Abenden zu präsentieren, mehr als ein Tribut an einen „großen Sohn“ der Stadt, mehr auch als ein touristisch wirksames Alleinstellungsmerkmal.

Leipzig überwindet so die Wagner-Mystifizierung und gibt – in gültigen Inszenierungen mit Anspruch – den Weg frei, Wagner aus seinen Wurzeln zu verstehen und seine späten Werke auf ihre Ursprünge hin zu untersuchen. Und da Wagner auch mit zwanzig Jahren schon ein eminent bewusst arbeitender Theatermensch war, ist dieses Bemühen keine akademische Fieselei, sondern ein lohnendes Theatervergnügen.

Zum Beispiel im „Liebesverbot“, das 1836 in Magdeburg ein Desaster gewesen ist. Wer ließe sich von der schäumenden Staccati-Attacke der Ouvertüre nicht mitreißen? Wer genösse nicht die an Donizetti geschulte, ausdrucksstarke Gefängnisszene des Claudio? Wer bewunderte nicht Wagners Talent, in den Karnevals-Szenen Atmosphäre zu kreieren? Oder wer erkännte in der von bebender, mühsam gebändigter Glut erfüllten Szene des Friedrich („So spät, und noch kein Brief von Isabella“) nicht den musikalischen und theatralischen Wurf? Dass die an Auber („La Muette du Portici“) geschulte Rhythmik, die musikalischen Anklänge an die italienische Oper der Zeit in Wagners Œuvre einzigartig sind, macht den Reiz des stürmisch-drängenden Werks aus: Wohin hätte sich Wagner entwickelt, wäre das „Liebesverbot“ ein Erfolg geworden?

Mit dem perlenden Schaum der kurzen Noten hatten es die im Operngraben dienenden Gewandhausmusiker allerdings weniger; leider auch mit dem rhythmischen Pep oder der konzisen kantablen Phrasierung an anderer Stelle. Dirigent Robin Engelen schlug wenig Funken aus dem Klang; statt die Sänger auf der Bühne zu führen, vergrub er sich in der Partitur und riskierte – auch in den Chören – erheblich divergierende Tempi.

Das Orchester konnte an den drei Abenden am ehesten in den „Feen“ zufriedenstellen, bei denen Friedemann Layer zwischen Beethoven-Furor und Mendelssohn-Lyrismen stets den richtigen Ton anschlagen ließ. Im „Rienzi“ wählte Matthias Foremny erst lethargische Tempi und ließ dann vor allem das Blech ungehindert pauschal schmettern. Allerdings hat das Orchester auch eminente Herausforderungen zu schultern: Die „Götterdämmerung“-Premiere liegt nicht lange zurück und mit „Arabella“ am 18. Juni wartet das nächste große Stück.

Romantisch imaginiertes Mittelalter: "Die Feen" an der Oper Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Romantisch imaginiertes Mittelalter: „Die Feen“ an der Oper Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Trotz der im Lauf des Abends abflachenden Bildwelt hat die Inszenierung der „Feen“ von Renaud Doucet und André Barbe nach wie vor ihre inhaltliche Schlüssigkeit bewahrt. Das kanadisch-französische Team schöpft aus dem Geist E.T.A. Hoffmanns, wenn es den Einbruch der Feenwelt in die Gegenwart einer gutbürgerlichen Wohnung thematisiert: Ein Opernliebhaber, der sich allmählich in die Rolle des Arindal hineinträumt, entdeckt die romantische Welt „hinter“ der Normalität und tritt ein in ein imaginiertes Mittelalter, das in seiner farbigen Unmittelbarkeit den Königssaal von Neuschwanstein zitiert.

Endrik Wottrich konnte mit seinem steifen, zu verfärbten Vokalen neigenden Tenor und profilarmem Spiel den Übergang vom Zuhörer einer Opernübertragung im Rundfunk zum depressiven, am Frageverbot des Feenreiches scheiternden König nicht beglaubigen. Christiane Libor hat sich souverän die dramatische Partie der Fee Ada angeeignet, meistert die unangenehmen Sprünge und die mit Glanz und Kraft zu singenden, teils unangenehm liegenden Phrasen mit einer viel gereifteren, gelösteren Stimme als vor drei Jahren. Libor steht vor einem bedeutenden Karrieresprung: Im Juni singt sie bei den Wiener Festwochen Beethovens Leonore; im April 2017 die Isolde in München.

Auch Dara Hobbs bringt als Arindals Schwester Lora einen tragfähigen Sopran mit, um die starke Frau zu beglaubigen, die in ausweglos scheinender politischer Lage nicht resigniert. Sänger wie Sejong Chang – ein unangestrengter Bass mit angenehmem Timbre – oder Nikolay Borchev als Morald runden in Leipzig das „Feen“-Ensemble ab, dessen Sänger nicht hinter den führenden Rollen zurückstehen.

Im Dunst des Untergangs: Stefan Vinke als Rienzi in Richard Wagners gleichnamiger Oper in Leipzig. Foto: Ralf Martin Hentrich

Im Dunst des Untergangs: Stefan Vinke als Rienzi in Richard Wagners gleichnamiger Oper in Leipzig. Foto: Ralf Martin Hentrich

Für das „Liebesverbot“ gilt das nicht: Tuomas Pursio lässt sich auf die zwiespältige Ausdruckswelt des „deutschen“ Moralisten Graf Friedrich ein, der in der Inszenierung Aron Stiehls mit schwarzem Gehrock in den Dschungel der Emotionen und Begierden gesogen wird. Auch sein Bariton ist der Partie – ungeachtet einiger rauer Momente – gewachsen. Doch sein Widerpart, Lydia Easley als kluge Novizin Isabella, kämpft mit dem Legato, aber auch mit expressiven Koloraturen. Dan Karlström (Luzio) hat seine Partie im Lauf des Abends immer sicherer im Griff; Paul McNamara charakterisiert vor allem in seiner großen Szene im Gefängnis den leichtfertig in eine brisante Lage gekommenen Claudio in den Facetten seiner Persönlichkeit.

"Rienzi" an der Oper Leipzig: Vida Mikneviciute als Adriano. Foto: Kirsten Nijhof

„Rienzi“ an der Oper Leipzig: Vida Mikneviciute als Adriano. Foto: Kirsten Nijhof

In Nicolas Joels mit symbolischen Versatzstücken arbeitenden Inszenierung des „Rienzi“ in der Bühne von Andreas Reinhardt gehört der Abend dem Tenor Stefan Vinke. Er verfügt über eine zuverlässige Technik und eine gelassene Art, den Marathon der Titelrolle selbst im Gebet des Fünften Akts zu bewältigen. Vida Mikneviciute als seine Schwester Irene und Kathrin Göring als Adriano zeigen sich dem Anspruch ihrer Partien ebenso gewachsen wie die Widersacher Rienzis, Milcho Borovinov (Colonna) und Jürgen Kurth (Orsini). Sandra Maxheimer als Friedensbote hatte es schwer, den Sitz der Stimme zu verteidigen.

Matthias Foremny ließ die Musik des jungen Wagner knallen und schmettern: Ein ermüdendes Spektakel trotz der erheblichen Kürzungen, die beim „Rienzi“ unvermeidbar sind. Die Aufführung in Leipzig hinterließ den Eindruck, mit diesem dritten Werk Wagner seine problematischste Oper zu erleben – bei Meyerbeer, um der Geschichte Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, findet man solch undifferenziert martialischen Lärm nur einmal: im bewusst als ideologische Aufmarschmusik konzipierten „Krönungsmarsch“ aus „Le Prophète“. Auch das war ein Ergebnis dieser Serie, für die der Oper Leipzig nicht genug zu danken ist.

Alle drei Opern bleiben im Repertoire und werden nach 2017 wieder aufgenommen.




Magierin am Schlagzeug – Evelyn Glennie und die Dortmunder Philharmoniker retten Alberich

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gastierte bei den Dortmunder Philharmoniker. Foto: Jim Callaghan

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gab sich die Ehre bei  den Dortmunder Philharmonikern. Foto: Jim Callaghan

Am Ende von Richard Wagners „Götterdämmerung“, die den vierteiligen „Ring des Nibelungen“ beschließt, ist eben jener Nibelung, Alberich, mit dem alles begann, verschwunden. „Er ist entmachtet – schlimmer: er scheint vergessen“, schreibt der Wagnerexeget Peter Wapnewski. Und in der Tat: Alberichs letzter Auftritt, eine düster somnambule Begegnung mit dem Sohn Hagen inmitten der „Götterdämmerung“, ist zugleich sein gespenstischer Abschied aus dem Zyklus.

Wagners Opernmythos im Allgemeinen, besonders aber das geheimnisvolle Abtauchen des Auslösers dieses Strudels aus Fluch, Verrat und Mord, endend erst im reinigenden Weltenbrand, inspirierte den Amerikaner Christopher Rouse zur Komposition des Stücks „Der gerettete Alberich“.

Es soll offenbar eine Art Ehrenrettung sein. Der Nibelung darf sich noch einmal austoben, in Form eines Konzerts für Schlagzeug und Orchester. Weil Rouse diesen Fiesling als Getriebenen, Ausgegrenzten sieht, dessen üble Taten als Abwehr zu verstehen sind. Der musikalische Fortgang ist indes alles andere als ein Freispruch: Das Wüten fasziniert, verschreckt zugleich und endet nicht in Wohlgefallen. Im Grunde verschwindet Alberich erneut.

Nun haben die Dortmunder Philharmoniker dieses außergewöhnliche Werk in ihr Programm genommen. Und mit der Solistin Evelyn Glennie die Grande Dame des Schlagzeugs gewonnen, eine Könnerin von Gnaden, Magierin des Rhythmus, die gleichermaßen impulsiv wie konzentriert zu Werke geht. Ja, die britische Musikerin ist ein Phänomen, hat sie doch bereits im Kindesalter den Großteil ihres Gehörs verloren.

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Das wilde Spiel des Alberich beginnt ohne ihn – wenn das Orchester unter Leitung von Mario Venzago die letzten Takte eben der „Götterdämmerung“ intoniert, noch einmal das Liebesmotiv aufklingen lässt. Dann erst ergreift Glennie, kniend, als gelte es, eine Beschwörung einzuleiten, das hölzerne, hohle Guiro (ein lateinamerikanisches Schrapinstrument), und erzeugt durch Reibung eine krächzende Geräuschkulisse. Fast klingt es wie das hämische Lachen des Nibelungen.

Das Orchester grummelt einstweilen vor sich hin, dann aber steigt die Erregung, die Solistin hämmert auf Woodblocks und Tom Tom ein, das Tempo zieht massiv an, um sich alsbald zu beruhigen. Das Fluch-Motiv macht sich breit, Glennie nutzt es zu einer Kadenz auf dem Marimbaphon, bis sich schließlich die Musik in einem dissonanten Schrei entlädt. Höhepunkt vor dem Ausklang: das orgiastisch anmutende perkussive Duell zwischen der Solistin und den wunderbaren Schlagzeugern der Philharmoniker.

Trotzdem ist der Komponist Rouse kein Neutöner. Er nimmt Wagners Motive, teils im Original, teils verfremdet oder in Verschränkung, und webt sie ein in seine Musik, die auf die Collagetechnik Charles Ives’ verweist, mitunter auch die „Rock meets classics“-Abteilung streift. Aufregend ist das allemal, zumal die Solistin, die das Stück bereits zur Uraufführung spielte, voller Elan zu Werke geht. Da bleibt kein Auge trocken, vielleicht aber der eine oder andere Wagnerianer ratlos zurück.

Umringt wird dieser „Alberich“ von Richard Strauss’ Tondichtung „Don Juan“ und Beethovens 7. Sinfonie. Alle drei Werke dirigiert Mario Venzago mit nervöser Energie, stets nach vorn gebeugt, wenn auch ohne größere körperliche Mätzchen. Gleichwohl schafft er es kaum, wo nötig, die Musik zu beruhigen. Oft fehlt es an dynamischer Ausgewogenheit. Der berühmte rauschhafte Aufschwung des „Don Juan“ klingt nicht wie aus einem Guss, die unterschwellige, betörende Erotik kann sich selten großzügig verströmen. Die Feinheiten der Strauss’schen Instrumentationskunst gehen im fahrigen Dirigat unter. Dieser Verführer rast wie ein Gespenst an uns vorbei.

In Beethovens großer Sinfonie vom Rhythmus wiederum geht es kontrollierter zu, klingen die Aufschwünge des 1. Satzes aber ziemlich kurzatmig, wird die dynamische Sprengkraft, der eruptive Gestus dieser Musik nicht wirklich ausgereizt. Und wo die Holzbläser es verstehen, schöne, warme Linien zu formen, bleiben andererseits die Hörner ungewöhnlich blass. So pendelt dieser Konzertabend zwischen Spannung und Enttäuschung.




Festspiel-Passagen III: Katharina Wagner beleuchtet „Tristan und Isolde“ im Geist der Zeit

An der Leiche Tristans (Stephen Gould): Isolde (Evelyn Herlitzius) und Brangäne (Christa Mayer). Foto: Enrico Nawrath

An der Leiche Tristans (Stephen Gould): Isolde (Evelyn Herlitzius) und Brangäne (Christa Mayer). Foto: Enrico Nawrath

Von wegen ertrinken und versinken in des Weltatems wehendem All. Katharina Wagner holt „Tristan und Isolde“ ihres Urgroßvaters aus Wellen und Wogen, Düften und Lüften der Metaphysik gnadenlos herunter in das desillusionierende Ergebnis einer Dreiecksgeschichte: König Marke, ein senffarben gekleideter Pate mit Hut und Pelzkragen, zerrt Isolde weg von der Leiche Tristans, stößt sie im Hintergrund aus dem Raum. Aus der Traum.

Die immer noch junge Wagnerin, demnächst wieder „Alleinherrscherin“ am Grünen Hügel, hat sich in ihrer mit Spannung erwarteten Regiearbeit – die erste seit dem Mainzer „Tiefland“ 2011 – konsequent allem verweigert, was die Geschichte in jene ahnungsvoll-kunstreligiösen Sphären driften ließe, die Wagnerianer so innig lieben. Passend zitiert das Programmheft aus Thomas Manns „Leiden und Größe Richard Wagners“: „Es gibt kein Christentum, das doch als historisch-atmosphärisch gegeben wäre. Es gibt überhaupt keine Religion. Es gibt keinen Gott, – niemand nennt ihn, ruft ihn an.“ Genau: Es gibt nur diese entsetzliche, unerbittliche, zehrend-sehrende, allgewaltige Liebe.

Man könnte nun, um die „Religion“ zu retten, mit wagnerischem und mit gut christlichem Hintergrund einwenden, dass eben genau diese unbedingte, anarchische Liebe, die den Anderen und nichts sonst im Blick hat, das Göttliche, Transzendente präsent setze. Ist der Gott Jesu Christi nicht der Gott, der von sich behauptet, die Liebe selbst zu sein? Lässt uns nicht die Liebe für den Moment der ekstatischen Vereinigung all-eins werden, untertauchend, verhauchend im wehenden All? Ist dann der Tod nicht alles andere als eine absolute Lebensgrenze, sondern eine transformierende Macht? Nein. Bei Katharina Wagner sind die Wege zur Liebe Labyrinthe, die nicht umsonst an Giovanni Battista Piranesis monströse „Carceri“ erinnern, ereignet sich die „Nacht der Liebe“ im grellen Punktlicht der Suchscheinwerfer auf Gefängnismauern, gebiert der Sehnsuchtsschrei der Liebe im dritten Aufzug nur Wahn und Trug im undurchdringlich grauschwarzen Nebel von Kareol.

Souverän geleuchtet: Reinhard Traub taucht den ersten Aufzug in ein beklemmendes Zwielicht. Foto: Enrico Nawrath

Souverän geleuchtet: Reinhard Traub taucht den ersten Aufzug in ein beklemmendes Zwielicht. Foto: Enrico Nawrath

Reinhard Traub hat diese hoffnungslosen Bilder souveränn ausgeleuchtet – vom schummrigen Chiaroscuro des ersten bis zum stickigen Dampf des dritten. Wenn das Zwielicht im ersten Aufzug mehr als Konturen freilegt, schweben vier Personen vor einer an M.C. Escher erinnernden Raumkonstruktion – nur ist deren absurde Logik in willkürlich wirkende Konstellationen von Treppen, Brücken, Gängen und Pfeilern aufgelöst. Isolde ist dem „Eigenholde“ wie eine wilde Megäre auf der Spur, aber Stege fahren weg und unterbrechen Gänge; Treppen, die bisher im Nichts endeten, haben plötzlich Anschluss in begehbaren Raum.

Als die beiden endlich zusammenkommen, ist sofort klar: Ein Liebestrank ist nicht vonnöten, hier herrscht die pur brennende Leidenschaft. Kreisförmig verbinden sich die Arme, das Elixier wird in die Tiefe gekippt. Isolde setzt sich den Brautschleier auf, der sie wie eine Zwangsjacke umschließt; wie von Sinnen zerreißen ihn die beiden dann: Tristans bedachtsam-bedrückte Zurückhaltung verwandelt sich, dem Puls der Musik folgend, in enthemmte Raserei.

Blau, die Farbe der Romantik, in den Kostümen Thomas Kaisers für Tristan (Stephen Gould) und Isolde (Evelyn Herlitzius). Der "Liebestrank" wird weggeschüttet. Foto: Enrico Nawrath

Blau, die Farbe der Romantik, in den Kostümen Thomas Kaisers für Tristan (Stephen Gould) und Isolde (Evelyn Herlitzius). Der „Liebestrank“ wird weggeschüttet. Foto: Enrico Nawrath

Für den zweiten Akt konkretisieren die Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann und Matthias Lippert die Dreiecksform: Tiefschwarze Mauern umgrenzen ein Gefängnis, auf ihrer Krone patrouillieren die gelben Gefolgsleute Markes. Sie richten ihre „Zünden“ auf das Paar, das unter eine Zeltplane in einer Ecke die Geborgenheit sucht. Eine „Nacht“, die nur im Wunschdenken existiert: Das Paar schmückt seine Zuflucht mit künstlich leuchtenden Sternchen wie zwei Teenies, die in ihr selbst gebasteltes kleines Paradies flüchten.

Der Ausweg, der sich öffnet, ist ein projizierter: Tristan und Isolde stehen Seit‘ an Seite und blicken auf ferne, schattenhafte Gestalten am Ende eines Tunnels. Die „Nacht der Liebe“ – eine bloße Vorstellung, ein schwarzes Irrlicht in der ausweglosen Gefangenschaft der Welt. Die Liebenden erkennen das: An den Metallgerippen, die sie wie eine stählerne Klammer zu umschließen beginnen, reißen sie sich die Arme blutig.

Aber der Tod kommt nicht – den spendet erst Melot mit einem Springmesser. Der Einbruch Markes ist ein Fanal der Brutalität. Von dem milden König mit der balsamischen Stimme ist nur letztere geblieben: Georg Zeppenfeld – er verbrachte seine ersten Bühnenjahre in Münster und Bonn – ist der stimmschönste Sänger des Abends. Sein Monolog ist eine Wohltat, nicht weil er mit Timbre und Stimmführung ästhetische Erwartungen erfüllt, sondern weil er mit den Mitteln des Gesangs seinen Charakter expressiv ausdeutet. Er lässt hinter dem schönen Ton die Heuchelei, die Abgründigkeit des Willens zur Gewalt erkennen.

Szene aus dem dritten Aufzug. Foto: Enrico Nawrath

Szene aus dem dritten Aufzug. Foto: Enrico Nawrath

Tot, alles tot: Die unbehausten Männer, die da zu Beginn des dritten Teils in undurchdringlichem Nebel um eine Leiche kauern, erinnern an die Gruppe der „fremden“ Holländer-Mannen in Katharina Wagners erster Inszenierung in Würzburg 2002. Sie haben Tristan schon mit roten Grablichtern umstellt; das Warten auf ein Schiff zieht sich quälerisch lange hin, die Englischhorn-Elegien klingen nicht mehr elegisch-bukolisch, sondern depressiv und trauernd.

Tristans Lösung aus dem Kreis des Todes ist nurmehr eine Vision. In magischen Licht-Dreiecken erscheinen ihm Isolden, aber sie sind nicht lebendig: Es sind geisterhafte Gestalten, die bei Berührung zu Staub und Lumpen zerfallen, ins Dunkel stürzen, den Kopf verlieren. Auch Markes Erscheinen trägt irreale Züge: Unvermittelt knallt grelles Licht auf ein gelbes Dreieck, gebildet aus seinen Leuten. Erschütternd real ist nur das Ende: Der „Liebestod“ dürfte für Isolde ein dauerhaftes Sterben in der giftigen Welt Markes werden, der „sein Weib“ an sich gerissen hat.

Katharina Wagner dekonstruiert radikal und konsequent, was Richard sich noch philosophisch zurechtgemacht hatte: die transzendierende Macht der Liebe, die lösende Macht des Todes. Bei ihr bleibt nicht einmal der Glaube einer säkularisierten Kunstreligion. Die Liebesnacht – ein Pubertätstraum; die Liebesverklärung – eine Elendsprojektion. Das ist Moderne in der Endphase: nicht illusions-, sondern visionslos. Aus der bedrückenden Brutalität herrschender Machtverhältnisse gibt es nicht einmal mehr den Tod als Ausweg. Eine glaubenslose Welt verhärtet in der nihilistischen Macht des Faktischen. Der „Holländer“ Harry Kupfers, vor dreißig Jahren an gleichem Ort, lässt grüßen.

Überragend als König Marke: Georg Zeppenfeld. Foto: Enrico Nawrath

Überragend als König Marke: Georg Zeppenfeld. Foto: Enrico Nawrath

Oblag es also Christian Thielemann wenigstens musikalisch an Traditionen anzuknüpfen, die Transzendentalität des „Tristan“ wenigstens musikalisch zu retten? Mitnichten. Zwar liegen Welten zwischen der analytischen Auffassung, die etwa sein zum Antipoden hochstilisierter Kollege Kirill Petrenko vertritt, und Thielemanns sinnlich-gelöst fließender, großbogiger Interpretation. Aber der neue „Musikdirektor“ Bayreuths spielt nicht einfach die Rolle des „deutschen Kapellmeisters“ nach. Die Jahrzehnte, die ihn von Furtwängler und Knappertsbusch trennen, sind vernehmbar: Das Bayreuther Festspielorchester klingt frei, schlank und strömend, selbst die großen Aufschwünge rauschen nicht bassdonnernd über die Sänger hinweg.

Thielemann arbeitet am Detail, sorgt für rhythmische Präzision und für genaue Phrasierungen – etwa bei den Bläsern des Beginns des zweiten Aufzugs. Aber er hat auch eine Tendenz zum Weichzeichnen: Die fiebrige Ekstase des dritten Aufzugs war im letzten Bayreuther „Tristan“ bei Peter Schneider entschiedener, schutzloser zu erleben.

Auch Thielemanns Hang zur schönen Stelle fordert wieder ihren Tribut, wenn er das Tempo verlangsamt, um einen Übergang, einen pastos sinnlichen Augenblick, ein harmonisches Raffinessement auszustellen. Sicher, damit markiert er musikalisch wichtige Momente – aber manchmal bedarf es schon Thielemann’schen Tiefblicks in die Partitur, um den Verdacht der Willkür zu entkräften. Die „Buhs“, die ihm am Premierenabend entgegenschallten, hatten wohl andere Gründe als die der Leistung des Dirigenten Thielemann. Vielleicht mag als Hinweis genügen, dass sein Parkplatz mit dem hübschen Schild „Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann“ und dem berühmten Porsche drauf ein vor der Vorstellung viel fotografiertes Motiv war.

Immer wieder gern fotografiert: Der Parkplatz mit dem Schild "Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann". Foto: Werner Häußner

Immer wieder gern fotografiert: Der Parkplatz mit dem Schild „Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann“. Foto: Werner Häußner

Wagners Oper als eine Herausforderung zu bezeichnen, ist für die Sänger alles andere als ein Gemeinplatz: Vor der Uraufführung in München vor 150 Jahren, galt sie als unsingbar. Der plötzliche Tod des Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, galt lange als Beleg für die „mörderische“ Rolle – der jene der Isolde nicht nachsteht. So ist das Publikum in der Regel gewillt, jede auch noch so unvollkommene Darbietung mit dankbarem Beifall zu bedenken. Anders ist etwa der Jubel für Evelyn Herlitzius wohl kaum zu erklären: Ihre Isolde macht im Temperament der Attacke, in der wuchtigen Entschlossenheit des Spielens, in der mörderischen, gellenden Anstrengung der Töne nur annähernd wett, was ihr an Schliff und Schmelz fehlt. Ihr Vibrato ist das einer dramatischen Stimme in der Endphase, wie schon ihre „Isolde“ am Aalto-Theater in Essen 2013 nahegelegt hatte. Ihre Artikulation lässt weite Teile des Textes in der Sinuskurve kaum fokussierter Töne verschwinden. Das Publikum raste: Was zählt, ist die Exaltation, das unmittelbar theatrale Ereignis, nicht mehr die Kunst des formvollendeten Singens. Der überragende Georg Zeppenfeld erhielt nicht annähernd so viel Beifall.

Christa Mayer hielt sich als Brangäne tapfer und mit großem Ton neben den Eruptionen der Herlitzius. Ihr Profil bleibt im Konzept Katharina Wagners randständig: Ihre gehemmte Zerknirschung im dritten und ihre verzweifelte Sorge im ersten Aufzug sind deutlich ausinszeniert, lassen sie dennoch nicht aus dem Schatten einer Nebenfigur heraustreten.

Stephen Goulds Tristan dürfte momentan schwer zu übertreffen sein. Die Ökonomie des Krafteinsatzes, die gelöst gesungenen Momente des Elegischen und des Innerlichen, die klug disponierten Ausbrüche des dritten Aufzugs sind eine Klasse für sich. Iain Patersons rustikaler Bassbariton passt zu einem Kurwenal, der salutierend sein Bekenntnis zu Tristan hinausruft.

Raimund Nolte als schlangenhaft-eleganter Melot, Tansel Akzeybek – der „Nemorino“ des Jahres 2014 am Aalto – überzeugt als sicherer Hirt und als Steuermann. Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer“ – als handfester Steuermann ergänzt das Ensemble mit markanter Stimme.

Als Hirt und Junger Seemann in Bayreuth: der "Nemorino" des Jahres 2014 am Aalto-Theater Essen, Tansel Akzeybek. Foto: Enrico Nawrath

Als Hirt und Junger Seemann in Bayreuth: der „Nemorino“ des Jahres 2014 am Aalto-Theater Essen, Tansel Akzeybek. Foto: Enrico Nawrath

Was in Bayreuth ausblieb, ist die Sensation. Kein Skandal, keine Empörung, keine revolutionärer Umsturz der Tristan-Rezeptionsgeschichte. Was sich einstellte, ist viel mehr: Katharina Wagner und ihr Team verbinden eine durchdachte, wirkungsvolle Bildsprache mit einem tragfähigen Konzept jenseits genialisch daherkommender Ausflüsse dekonstruktivistischer Ideologien, assoziativ arbeitenden Material-Fetischismus‘ oder privatmythologischer Verstiegenheit. Der „Tristan“ ist eben eine zeitlose Geschichte, die soeben in Bayreuth im Geist der Zeit beleuchtet wird.

Am Freitag, 7. August, wird die Inszenierung Katharina Wagners live aus dem Bayreuther Festspielhaus in viele Kinos in Deutschland, Österreich und der Schweiz live übertragen. Beginn ist um 16 Uhr, ab 15.45 Uhr gibt es ein Vorprogramm.

Info über die Kinos in der Region: http://www.wagner-im-kino.de/land/deutschland/de-NW

Der Bayerische Rundfunk bringt auf BR Klassik die Übertragung als Live-Stream am 7. August ab 16 Uhr. Aus rechtlichen Gründen ist dieses Angebot nur in Deutschland verfügbar. Der Videostream ist bis 31.12.2015 nachzuschauen.

Info: www.br.de/radio/br-klassik/themen/bayreuther-festspiele-br-sendungen100.html

Am Samstag, 8. August, 20.15 Uhr, wird „Tristan und Isolde“ in 3sat gezeigt.

Info: http://www.3sat.de/page/?source=/musik/182785/index.html




Fieberfrei in Dortmund: Skrjabin mit Joseph Moog und den Bochumer Symphonikern

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Vor zehn Jahren, da war er gerade mal 17 Jahre alt, spielte Joseph Moog in einem Konzert Franz Liszts „Totentanz“ – und seine Zurückhaltung bekam Liszts abundanten Klangfantasien außerordentlich gut. Vor zwei Jahren debütierte er in Moers beim Klavier-Festival Ruhr – und überzeugte mit klug ausbalancierten Klavier-Versionen von Opernschlagern Verdis und Wagners. Nun kehrt Moog zum Tastenfeste zurück, stürzt sich im Konzerthaus Dortmund in Alexander Skrjabins mystisch-fantastisch-rauschhafte Musikwelten. Und lässt diesmal spüren, dass er an Grenzen stößt. Nicht an pianistische, aber an musikalische.

Sein Zugang zur Skrjabins fis-Moll-Klavierkonzert op. 20 ist zunächst durchaus logisch. Moog macht aus Skrjabins vermeintlich formvergessen schweifender, selbstversponnener Kunstmystik keine esoterische Meditation. Er formt seine Soli klar durch, gibt ihnen kühle Fasslichkeit, vernebelt nichts in dampfendem Klang. Auch im Andante-Satz träumt er nicht vor sich hin.

Moog vergisst nicht, dass Skrjabin einen Variationensatz und keine Fantasie konzipiert hat. In fein poliertem Porzellanton modelliert er die melodischen Motive, lyrisch gelöst reiht er Figurationen und absichtslos wirkendes Spielwerk. In der unterschiedlichen Gewichtung der Phrasen, in der Differenzierung des Anschlags macht er die Struktur des Satzes deutlich. Und die Bochumer Symphoniker lassen es unter ihrem Chef Steven Sloane nicht an Piano-Delikatesse, an lichten Streicherlinien, an einer aparten Klarinette fehlen.

Was zum glückhaften Gelingen fehlt, ist bei einem so bewussten und ästhetisch präsenten Pianisten wie Joseph Moog nicht einfach zu beschreiben. Vielleicht geht er zu ernst mit den emotionalen Schichten in Skrjabins Musik um. Vielleicht geht er in den Noten auf statt über den Noten zu fliegen. Vielleicht äußert sich eine Befangenheit, die den spontanen und durchaus einmal riskanten Zugriff hemmt.

Das dynamisch variable Spiel mit dem Orchester gelingt nicht durchgängig. Wo sich der Klavierpart mal wie eine zusätzliche Farbe in den Klang integriert, sind die Symphoniker zu dominant; wo er mal selbstbewusst und klangfroh aufleuchten soll, bleibt Moog zu diskret; wo das Piano in kostbar stillen Tönen singen sollte, lässt er die metrischen Fesseln nicht fahren.

Auch das Poème „Vers la flamme“, eines der letzten Werke Skrjabins aus dem Jahr 1914, hat zwar die Steigerungsdynamik, nicht aber das raffinierte Flair. Moog beginnt mit dem schattigen Pianissimo und intensiviert es bis zum „Forte crescendo“. Aber sein Ton bleibt kalt, das „éclatant, lumineux“ hat statt der Hitze einer Flamme die fröstelnde Grelle einer Leuchtstofflampe. Moog fast dieses Werk in den Ton der Moderne: nicht strahlend, sondern gleißend.

Das Farbenspiel, die züngelnden Nuancen einer Flamme liefern die Bochumer Symphoniker. Sloane exhibitioniert Skrjabins frei dem Rausch und dem erotisch geladenen Klang huldigende Werk von 1908 nicht; er lässt die Musik nicht schwitzen, den Klang nicht dampfen. Sondern er betont die Nähe zu den französischen Impressionisten und zu Claude Debussy. Der Duft der flirrenden Streicher, das feine Parfüm der Harfen, die sehnsuchtsvoll verklingenden Flöten: das ist eher die Ahnung „ekstatischer“ Ausbrüche als ihre klangprächtige Vergegenwärtigung. So hält Sloane die allzu direkte und schnell banal wirkende Effekt-Dramaturgie zurück. Und die Finesse ist bei den präsent und farbenfroh agierenden Philharmonikern in guten Händen. Nur in den finalen Entladungen trägt das Konzept nicht ganz: Lautstärke ist nicht Intensität, die entsteht durch Hingabe und Risiko – und da waren die Bochumer noch zu fest auf der Erde verankert.

Dass Sloanes zurückhaltender, ins Lyrische neigender Ansatz seine Probleme hat, wurde im „Tristan“-Vorspiel zu Beginn des Konzertes deutlich. Vermutlich wollte der Dirigent die Bezüge demonstrieren, die zwischen der vor 150 Jahren uraufgeführten Oper Wagners – einem Meilenstein in der historischen Entwicklung der europäischen Musik – und ihrem Echo im Werk des vor 100 Jahren gestorbenen russischen Komponisten feststellbar sind. Entsprechend legte er Wagners Musik nicht im Sinne des Drängens und Sehrens aus, das die wellenförmige Dynamik ihrer Entwicklung hin zur Ekstase der sich lösenden harmonischen Spannung bestimmt. Sondern er leuchtet die Statik der Klänge aus, lässt sie fast lyrisch verharren, nimmt ihr die innere Unruhe. Auch den „Tristan“ prägt das milde Licht Debussys statt der Fieberschübe Wagners.




Götterdämmerung für die Gralswelt: „Parsifal“ in kontroverser Deutung in Wuppertal

Wuppertaler Bühnen: "Parsifal", Szene aus dem zweiten Aufzug mit Tilmann Unger und Kathrin Göring. Foto: Uwe Stratmann

Wuppertaler Bühnen: „Parsifal“, Szene aus dem zweiten Aufzug mit Tilmann Unger und Kathrin Göring. Foto: Uwe Stratmann

Was der Gral ist, das sagt sich eigentlich nicht. Der Junge, der sich da etwas abseits von den anderen Studenten an den roten Livreen der Türsteher vorbeidrückt, weiß es auch nicht. Er zuckt die Schultern: Eben doch nur ein Tor? Aber Thilo Reinhardt sagt es uns, im Laufe der fünf Stunden „Parsifal“ an der Wuppertaler Oper.

Der Gral ist demnach ein machterhaltendes Konstrukt, eine Gedanken-Chimäre, ein ideologisches Bücher- und Herrschaftswissen. Parsifal verbrennt am Schluss dieses Buch, den Speer und die Abschussvorrichtung für eine Panzerabwehrrakete gleich mit.

Da war er kurz vorher zurückgekehrt in eine verwüstete Welt (Kompliment für den Inspizienten Klaus Bjarne Kasch: Er hat die Materialschlacht im Griff). Er kommt wieder als UN-Blauhelm, also wohl als Friedensstifter, und feiert wie Christus mit der multiethnischen Soldatenschar ein Abendmahl. Brot wird gebrochen, Wein gereicht, und die traumatisiert zitternde Kundry darf auch mit an die Tafel, die aus zwei umgestürzten, zusammengeschobenen Spinden gebildet ist.

Begonnen hat alles in feinster Ordnung. Die Jungs, die für die Gralswelt vorgesehen sind, absolvieren eine High-End-Erziehung. Wir sehen vor uns die Sporthalle des Colleges (Bühne: Harald Thor, Kostüme: Katharina Gault). Trainer Gurnemanz scheucht die Schläfer hoch. Vor dem Fechten Lockerungsübungen: Schon in diesem Moment ist es einer Dame im Publikum zu viel. Diese Inszenierung habe doch wohl mit Wagner nichts zu tun, ruft sie ins Publikum, bevor sie die Tür geräuschvoll zuklappen lässt. Woher wollte sie das wissen? Denn an diesem Punkt war Reinhardts Exposition durchaus nachvollziehbar: Gurnemanz ist schließlich ein Erzieher, und dass im Vorhof des Grals eine Elite herangezogen wird, ist wohl nicht zu bezweifeln. Auch bei Wolfram von Eschenbach lernt Parzifal die Regeln des Hofes bei Gurnemanz.

Elite-Erziehung im College: Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und die Statisterie der Wuppertaler Bühnen. Foto: Uwe Stratmann

Elite-Erziehung im College: Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und die Statisterie der Wuppertaler Bühnen. Foto: Uwe Stratmann

Das Bild des exklusiven Internats funktioniert: Bei der Spindkontrolle wird ein Pin-up-Girl entdeckt – und ein Teddy. Dessen Besitzer wird höhnisch gemobbt, bekommt unter den voyeuristischen Blicken seiner Kumpel den Hintern rituell versohlt: Weicheier haben keinen Platz unter künftigen Entscheidern. Sobald Gurnemanz den Rücken kehrt, kehren die das Tier hervor: Kundry, streng-ältliche Sekretärin in altmodischem Kostüm, den Aktenordner mit wichtigen Unterlagen verwaltend, wird ungeniert angemacht: Die jüngsten Berichte über Sex and Crime an englischen Elite-Internaten lassen grüßen.

Parsifal, so legt Reinhardt nahe, bleibt diese Welt fremd. Er schießt mit seinem Pfeil keinen Schwan, sondern den kraftvollsten Turner an, der ganz am Anfang sein Können an den Ringen demonstriert hat. Irritierend, aber schlüssig: Es ist sein erster, unbewusster Angriff auf diese Welt kanalisierter Gewalt und unterdrückter sexueller Kräfte. Die Schüler dagegen sehen während Gurnemanz‘ moralischer Tierschutztirade interessiert zu, wie sich der junge Mann im Blut windet.

Amfortas - das Opfer: Die Szene der "Gralsenthüllung" in Thilo Reinhardts Deutung von Wagners "Parsifal" in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Amfortas – das Opfer: Die Szene der „Gralsenthüllung“ in Thilo Reinhardts Deutung von Wagners „Parsifal“ in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Der Gral: Amfortas, ein Alt-68er mit wirren langen Haaren, ist das kostbar mit einem priesterlichen Mantel geschmückte Opfer. Einer, der einst einen Fehler gemacht hat. Er wird auf einem Blech wie ein Gekreuzigter montiert. Die ausgestreckten Arme, kunstvoll aufgeritzt, spenden das Blut, das livrierte Pedelle auffangen und den Rittern kredenzen. Die Schüler saufen derweil das Blut, das herabrinnt und sich am unteren Blechrand in einer Rinne sammelt. Ein verstörendes Bild ungenierter Brutalität. Champagner schwebt herab, ein Foto zur Erinnerung beendet das Ritual.

Wer bist du, grabender Greis? In Wuppertals "Parsifal" wird tief geschürft. Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und Tilmann Unger, als Soldat zurückkehrend, im dritten Aufzug. Foto: Uwe Stratmann

Wer bist du, grabender Greis? In Wuppertals „Parsifal“ wird tief geschürft. Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und Tilmann Unger, als Soldat zurückkehrend, im dritten Aufzug. Foto: Uwe Stratmann

Parsifals Erkennen durch den Kuss, so darf man annehmen, sprengt diese Welt aus den Fugen. Im dritten Akt sind die Spinde umgestürzt, Gurnemanz, ein grabender Greis, stählt jetzt seine Muskeln mit der Erdschaufel. In einem der Stahlschränke entdeckt er Kundry: Ihr Stöhnen, als sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtet, hat etwas von: „Oh mein Gott, wie seh‘ ich aus!“

Aber, ein Glück, der Ordner mit Kundrys Unterlagen hat das Unglück überstanden! Als gute Verwaltungskraft strebt sie danach, wenigstens die Papiere in Ordnung zu bringen: „Wie anders schreitet sie als sonst …“. Ein Zug alter Krabbler erscheint, versucht, sich noch einmal für das Ritual in Form zu bringen. Vergeblich: Parsifal pfeffert die Kultgegenstände ins Feuer: Speer, Buch, Rauchmantel vergehen. Götterdämmerung für die Gralswelt.

Auch wenn die Botschaft der Bilderflut, die Thilo Reinhardt und der immer wieder einfallsreiche Harald Thor entfesseln, am Ende doch ins Vordergründige abgleitet, bleibt die geistige Basis der Inszenierung bemerkenswert, ihre szenische Durchführung angemessen, auch wenn sich die Bilder kritisch befragen lassen: Blauhelmsoldaten stehen nicht unbedingt für das Mitleid, das Wagner aus christlichem und schopenhauerischem Gedankengut entwickelt hat. Auch die Konzeption der Figuren lässt zu viele Fragen offen: Titurel – der zuverlässige Martin Blasius – vielleicht der Vorsitzende des Schulträger-Komitees? – bleibt eine zu blasse Nebenfigur. Kundry verliert sich im dritten Akt im Ungefähren. Und Klingsor gewinnt nur schwerlich eine eigenständige Kontur, wird sehr funktional konzipiert.

Symbol- und Gedanken-Raum: Klingsors Reich im Entwurf Harald Thors in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Symbol- und Gedanken-Raum: Klingsors Reich im Entwurf Harald Thors in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Der zweite Akt in einem weißen (Gedanken-)Raum lässt sich als innerer Reifungsprozess Parsifals lesen – mit Kundry als rotgewandeter Fantasiegestalt des herausfordernden Weibes, einer verschleierten Dame, die sich zum Schluss als Klingsor-Transe entpuppt, und einer bräutlichen Gestalt, die man als Erscheinung von Parsifals Mutter Herzeleide lesen kann. Dennoch: Szenisch kann Wuppertal mit Thilo Reinhardts Phantasmagorie weit eher punkten als Essen vor zwei Jahren mit Jochen Schlömers verqueren Konstrukten.

Das gilt für die Szene, nicht jedoch für die Musik: Hat Stefan Soltesz am Aalto-Theater ein weites Panorama musikalischer Subtilität eröffnet, bleibt Toshiyuki Kamiokas Lesart in Wuppertal auf schmaler Spur. Schon die rasche Eröffnung – Kamioka sucht nach einem modernen, entmystifizierten „Parsifal“-Klang – ist ohne Reiz phrasiert, mit einer zu langen Generalpause und befreit vom Blühen der Bögen.

Die sinnliche Magie der Klangmischungen Wagners wird reduziert auf rationale Blässe. Geheimnislos buchstabiert Kamioka wichtige Motive, auf das subtile Spiel des allmählichen Erblühens und Erblassens, Trennens und Verschmelzens des musikalischen Materials lässt er sich nicht ein. Im dritten Aufzug verlieren sich die Violinen dünn und klangarm; den spannungsvollen Weg zum Finale verfolgt Kamioka lapidar und glatt. An die großen Parsifal-Dirigate der Geschichte darf man nicht denken.

Der Tenor Tilmann Unger singt in Wuppertal den Parsifal. Das Foto wurde von den Wuppertaler Bühnen zur Verfügung gestellt.

Der Tenor Tilmann Unger singt in Wuppertal den Parsifal. Das Foto wurde von den Wuppertaler Bühnen zur Verfügung gestellt.

Auch die Sänger kommen zum guten Teil nicht über den Durschnitt hinaus; von der internationalen Klasse, die Kamiokas Stellvertreter Joachim Arnold angekündigt hatte, ist wenig eingelöst: Thomas Gazheli – er hat den Amfortas wie viele andere Wagner-Partien bei den Festspielen in Erl gesungen – bleibt rau, angestrengt, gefährdet in der Höhe. Thorsten Grümbel von der Deutschen Oper am Rhein strahlt als Gurnemanz weder szenische Autorität aus, noch kann er mit seinem verlyrisierten, zeitweise dünn und ungestützt klingenden Gesang überzeugen.

Andreas Daum (Klingsor), viel beschäftigt an der Wiener Volksoper, und Kathrin Göring (Kundry), im Wagner-Fach in Leipzig regelmäßig eingesetzt, gehören zur positiven Bilanz des Abends. Daum singt mit überlegter Präsenz; Göring neigt manchmal zur Härte, hat aber Emission und Vibrato tadellos unter Kontrolle.

Der Parsifal ist Tilmann Unger, jugendlich gutaussehend, der mit der Partie vor einem Jahr in Innsbruck debütiert hat. Der Tenor hat von Würzburg ausgehend seine Karriere geduldig aufgebaut; das zahlt sich aus: Sein Ton ist noch nicht ganz frei gebildet, aber die Stimme wirkt gesund und unangestrengt, hat eine dunkel-sinnliche Farbe und gestalterisches Potenzial.

Der Chor von Jens Bingert gibt sein Bestes – und das ist beachtlich. Dass er im Schlussbild auseinanderfällt, mag auch der Szene geschuldet sein. Dieser „Parsifal“ wird – wie schon im Premierenbeifall – Kontroversen auslösen. Das macht nichts: Wagner als Liturgie großbürgerlicher Kunstreligion hat sich längst überlebt, und Thilo Reinhardt bietet zumindest den Stoff, aus dem sich neue Ideen entwickeln.

Weitere Vorstellungen: 4. und 6. April. Info: www.wuppertaler-buehnen.de




Festspiel-Passagen XII: Keine Bedeutung, aber auf Zeithöhe – Castorfs „Ring“ in Bayreuth

Dunkle Wolken über dem Festspielhaus: Der "Ring" von Frank Castorf provozierte auch in seinem zweiten Jahr wütende Proteste. Allseits beliebt dagegen sind die kleinen Wagnerchen von Ottmar Hörl. Foto: Werner Häußner

Dunkle Wolken über dem Festspielhaus: Der „Ring“ von Frank Castorf provozierte auch in seinem zweiten Jahr wütende Proteste. Allseits beliebt dagegen sind die kleinen Wagnerchen von Ottmar Hörl. Foto: Werner Häußner

Bayreuth hat es wieder, sein Alleinstellungsmerkmal: So einen „Ring“ gibt es in der Tat nirgends sonst. So radikal, so konsequent wird nirgendwo der Abschied vom Regietheater zelebriert, das „Material“ ironisiert, zertrümmert, zerknickt …

Für Wagners Tetralogie ist das neu; für Bayreuth nach Schlingensiefs „Parsifal“ und Baumgartens „Tannhäuser“ nicht ganz so taufrisch. Eine Linie, die 2016 mit dem „Parsifal“, inszeniert von Jonathan Meese, fortgesetzt und vorläufig abgeschlossen wird.

Meese sollte man nicht auf seine Hitlergruß-Skandale reduzieren. Denn bei ihm gibt es in der Auseinandersetzung mit den Mythen der deutschen Geschichte – und auch dem Mythos Wagner – viel Erwägenswertes, durchdrungen von der Lust am Ironischen und Grotesken. Auch Frank Castorf erschöpft sich nicht in seinen unbestreitbaren Fähigkeiten als Skandal-Entertainer. Die hat er schon im letzten Jahr bei der „Ring“-Premiere ausgespielt: Vogelzeigen oder – wie andere meinen – eine zum Nachdenken auffordernde Geste beim Buh-Sturm nach der „Götterdämmerung“, Vergleiche zwischen Bayreuth und der DDR. In diesem Jahr galliger Protest gegen die Umbesetzung in der Rolle des Alberich, den Oleg Bryiak statt Martin Winkler sang. Castorf hat sein Soll erfüllt.

Dieser „Ring“ ist ein Dokument der Kontinuität: Wie er war zu aller Zeit, so bleibt Castorf in seiner Theater-Ewigkeit. Für die Besucher der Berliner Volksbühne – ein exklusiver Kreis von Leuten, die den immer gleichen Umgang mit alten und neuen Stoffen schätzen, also echte Formkonservative – ist in Bayreuth nichts Neues passiert. Für die aus aller Welt angereisten Spurensucher nach dem Mythos Wagner und der Aura des „Hügels“ allerdings schon. Dass es in den Vorstellungen des zweiten „Ring“-Zyklus relativ verhaltene Missfallenskundgebungen gab, hat wohl weniger mit wachsender Zustimmung, mehr mit der Ratlosigkeit der international gemischten Audience zu tun.

Stimmschöne Luder: die drei Rheintöchter. Foto: Enrico Nawrath

Stimmschöne Luder: die drei Rheintöchter. Foto: Enrico Nawrath

Castorfs „Ring“ repräsentiert die bekannten hermeneutischen Prinzipien: Die grundsätzliche Verweigerung einer Erzählung über die einzelne Szene hinaus. Den prinzipiellen Einsatz diskontinuierlicher Zeichen und Schauplätze. Das Ringen mit der eigenen Biografie und der DDR-Vergangenheit. Das verzweifelt-lustvolle Zerschlagen auch noch der letzten Spur von Bedeutung. Die Reibung an dominierenden ideologischen Systemen der Jetztzeit.

So gesehen ist dieser „Ring“ auf der Höhe der Zeit: Spiegel einer Theaterästhetik, die sich jenseits traditionellen Bedeutungs- oder ästhetisch-kulinarischen Unterhaltungstheaters bewegt, aber auch nur eine Minderheit erreicht. Stets gefährdet, jenseits eines in sich gekrümmten, selbstreferentiellen Kulturbetriebs bedeutungslos zu werden. Das hat nichts mit der Qualität der Kunst zu tun, wohl aber mit ihrem Gewicht für die gesellschaftliche Debatte – sofern diese überhaupt noch stattfindet. Und man muss gerechterweise auch feststellen, dass Provokationen wie Castorfs „Ring“ die Frage nach der Relevanz eines Ortes wie Bayreuth in der Kontroverse eher schärfen als nivellieren.

Sicher ist zu fragen, ob es unbedingt der Aufregung bedarf, um alte Themen neu zu entdecken. Ist das konsequent entwickelte erzählende Theater nicht besser geeignet, zu berühren, auch zu verstören, Wirklichkeit als brüchig und ideologische Systeme als verlogen zu entlarven? Im Brecht’schen Sinne ist dieser Mangel an Distanz sicherlich der kardinale Sündenfall des Theaters. Aber: Wodurch wäre gerechtfertigt, das Theater der Dekonstruktion und Diskontinuität als letzten Stand der Dinge zu zementieren? Es trägt, auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung, den Keim zu seiner Überwindung bereits in sich. Und Castorfs „Ring“, das muss ihm bescheinigt werden, ist ein Höhepunkt dieser Form des Theaters. Seine Überbietung, so es denn eine gibt, darf dann der „Ring“ des Jahres 2020 leisten,

"Wer meines Speeres Spitze fürchtet ...": Wolfgang Koch als Wotan vor brennendem Ölfass in der "Walküre". Foto: Enrico Nawrath

„Wer meines Speeres Spitze fürchtet …“: Wolfgang Koch als Wotan vor brennendem Ölfass in der „Walküre“. Foto: Enrico Nawrath

So ist, wer nach einem roten Faden in den vier Abenden fragt, von vornherein falsch gepolt. Auch das „Öl“, das Castorf den nach Interpretation gierenden Medien vorgeraunt hat, zieht keine Spur, sondern schillert höchstens hier und da als Chiffre auf. Es ist in raffinierter Form der Treibstoff an der abgewetzten Tankstelle des Motels im „Rheingold“; es wird demonstrativ präsent gesetzt im Förderturm und einer dämonischen Pumpe in der „Walküre“; es wird zitathaft angesprochen in herumstehenden Ölfässern oder in der brennenden Tonne der „Götterdämmerung“, in der am Ende der Ring verschwindet. Und es grüßt als skurriles Versprechen in der Leuchtschrift „Plaste und Elaste aus Schkopau“ von der Wand, hinter der sich ein abgeranzter Berliner Hinterhof mit Döner-Bude, aber auch der verhüllte Reichstag und die tempelartige Säulenfassade der „New York Stock Exchange“ verbirgt.

Ein Gegenstand überlebt die Drehbühnen-Verwandlungen der vier Teile, ein silberner Fünfziger-Jahre-Wohnwagen mit aufklappbarer Seitenwand: In ihm wird Alberich als Kröte gefangen; in ihm haust Mime im „Siegfried“. Aber auch dieser alternative Raum zu den bühnenfüllenden Großbauten Aleksandar Denićs ist wenig mehr als Strandgut im wechselvollen Treiben der subjektiv aufgeladenen Zeichen. Er täuscht den strebenden Geist, der sich nach einem Motiv der Kontinuität seht. Den Aha-Effekt verweigert Castorf maliziös. Eine „konzise dramaturgische Analyse“ wird zu keinem Ergebnis führen. Das sagte Bayreuth-Cheferklärer Sven Friedrich, Leiter des Wagner-Nationalarchivs, schon im letzten Jahr in einem seiner Einführungsvorträge.

Die Post am Alex zu DDR-Zeiten: Aleksandar Denic hat atmosphärisch dichte, detailreiche Bühnenbilder gebaut. Foto: Enrico Nawrath

Die Post am Alex zu DDR-Zeiten: Aleksandar Denic hat atmosphärisch dichte, detailreiche Bühnenbilder gebaut. Foto: Enrico Nawrath

Der Bühnenbildner Aleksandar Denić ist der Star der Produktion, denn seine Bilder zwischen einem kommunistischen Mount Rushmore mit den Steinköpfen von Marx, Lenin, Stalin und Mao und der versifften S-Bahn-Station „Alexanderplatz“ ohne „Al“ sind so fotorealistisch wie Filmsets gebaut und von Rainer Casper hingebungsvoll ausgeleuchtet. Es sind spektakuläre Schauplätze bis hin zum Zitat der großen Filmtreppe für den herabschreitenden Star – in diesem Falle Brünnhilde – in der „Götterdämmerung“: Der Zuschauer fühlt sich, als sei er zu schauen gekommen, freilich nicht zu schaffen. Denn Bedeutung darf man auch an diesen Orten nicht erwarten: goldene Isolierdecke und blutrote Ketchupflasche haben nichts miteinander zu tun und konstituieren ebensowenig Sinnzusammenhang wie eine blutige Voodoo-Ecke in der „Götterdämmerung“ und die amerikanische Mittelwest-Scheune im ersten Akt der „Walküre“.

Potenziert wird die Flut der Bilder noch von den Videos von Andreas Deinert und Jens Crull. Immer wieder sieht man Kameraleute, die auf die Sänger „draufhalten“: Die Gesichter erscheinen übergroß auf Leinwänden, Bettlaken, Häuserwänden oder LED-Schirmen. Manchmal zeigt die Kamera auch Verborgenes, etwa das Innere des Wohnwagens oder die frustrierte Fricka beim Vertilgen von Sahnetorte. Oder Ausschnitte aus alten Filmen von den Ölfeldern von Baku. Oder Geheimnisvolles wie eine schattenhafte Maske und eine unheimliche Puppe, wenn Siegfried in der „Götterdämmerung“ als Gunther getarnt zu Brünnhilde vordringt.

Hinterhof und Dönerbude: Szene aus "Götterdämmerung" mit Attila Jun als Hagen und dem Festspielchor. Foto: Enrico Nawrath

Hinterhof und Dönerbude: Szene aus „Götterdämmerung“ mit Attila Jun als Hagen und dem Festspielchor. Foto: Enrico Nawrath

Dass Castorf ein Ende verweigert, versteht sich nach allem, was in den sechzehn Ring-Stunden zur monströsen Collage verklebt wurde, von selbst: Hagen treibt auf einem Schlauchboot von einem Ufer weg ins Wasser. Vielleicht gibt es Castorf-Fans, denen angesichts eines solch metaphysischen Bildes der Atem stockt. Wahrscheinlicher ist: Wir sehen eine Szene, deren Belang sich im Augenblicklichen erschöpft. Das Spiel ist aus, ganz einfach.

Für diese banale Weisheit sind vier Abende fehlinvestiert – trotz allen bunten Volksbühnen-Klamauks –, wären da nicht Kirill Petrenko und das Festspielorchester gewesen: Die eigentliche innovative Arbeit findet unsichtbar im Graben statt. Petrenko schafft es tatsächlich, diese so oft und so erstklassig vergegenwärtigte Musik aufregend neu zu erschaffen. Wie bei früheren Wagner-Dirigaten, etwa „Tristan und Isolde“ bei der Ruhr-Triennale, denkt er die Musik eher in die Tiefe als in die Weite. Petrenko meidet das Pathos, strebt einen feinnervigen, kammermusikalisch geprägten Klang an, beleuchtet die Details und setzt sie in vielfältige Beziehungen miteinander. Eine moderne „Ring“-Linie, wie sie etwa auch Sebastian Weigle in Frankfurt verfolgt hat.

Das Ergebnis ist ein sorgsam abgemischter, aber nie ins Ungefähre vermischter Klang, eine kristallene Klarheit der Artikulation. Prägnante Einzelstimmen, die man so kaum gehört hat, verbinden sich zu einem musikalischen Geflecht, das genau das auszeichnet, was der Bühne fehlt: innerer Sinn. Petrenko meidet das Blühende, Schäumende in Wagners Musik nicht, aber er opfert manchmal den spontanen Schwung, die zehrende, drängende Dynamik, die sie vorwärts treibt. Ein überlegt-überlegener Dirigent, der das Wort von der „Werkstatt“ Bayreuth im musikalischen Sinn voll einlöst. Wenn er sich tatsächlich, wie Gerüchte sagen, 2015 vom „Ring“ zurückziehen sollte, wäre der Verlust nicht absehbar.

Catherine Foster als Brünnhilder in der "Götterdämmerung". Foto: Jörg Schulze

Catherine Foster als Brünnhilder in der „Götterdämmerung“. Foto: Jörg Schulze

Das Ensemble, angeführt von dem stets untadeligen Chor Eberhard Friedrichs, hat mit Catherine Foster eine der besten Brünnhilde im derzeitigen internationalen Sänger-Markt zu bieten. Foster bildet die Töne frei und unverkrampft, ohne Druck und Verfärbung, mit einer ermüdungsfreien Schwerelosigkeit, wie sie im dramatischen Fach heute so gut wie ausgestorben ist. Wie schwer das ist, demonstriert Lance Ryan als Siegfried: eine kraftvolle Stimme mit strahlendem Timbre, aber mit steif gebildeten Tönen, hilflosem Vibrato und ganzen Passagen, die ins Deklamatorische abgleiten. Die drei Rheintöchter müssen sich als aufgemotzte Prostituierte oder Edel-Spielpuppen im blauen Mercedes-Cabrio aufführen; stimmlich harmonieren Mirella Hagen, Julia Rutigliano und Okka von der Damerau ausgezeichnet miteinander: ein Rheintöchter-Gesang ohne das übliche Geschrei.

Auch die Sieglinde von Anja Kampe und der Siegmund Johan Bothas sorgen für stimmliche Glanzpunkte, nicht zuletzt durch ihr engagiertes Spiel. Kwangchul Youn ist ein wie immer profunder, textverständlicher, psychologisch genau färbender Hunding; die andere große Basspartie des „Ring“, Hagen, ist mit Attila Jun nicht überzeugend besetzt: Seine Stimme klingt immer wieder unfrei, als könne er sich mit seiner Rolle als bulliger Punk nicht recht identifizieren. Der Wotan Wolfgang Kochs hat starke Momente, aber auch flache Passagen; das Nibelungenpaar Alberich (Oleg Bryjak) und Mime (Burkhard Ulrich) übertreibt’s mit der Deklamier-Schärfe und den spitztönigen Auswüchsen. Warum sich Claudia Mahnke als Waltraute einige Buhs gefallen lassen musste, bleibt rätselhaft. Norbert Ernst und Nadine Weissmann zeigen als Loge und Erda stimmliche Charakterisierungskunst, präzise Tonansprache, rhetorische Zuspitzung und weich geformtes Legato.

Impression aus Bayreuth: Wohin führt der Weg? Foto: Werner Häußner

Impression aus Bayreuth: Wohin führt der Weg? Foto: Werner Häußner

Bayreuths Ausflüge ins postdramatische Theater könnten weitergehen, wenn sich 2015 Katharina Wagner an „Tristan und Isolde“ macht und 2016 Meeses „Parsifal“ folgt – wobei bei beiden die Erwartungen nicht so eindeutig vorauszuberechnen sind wie bei Castorf. Wenn dann 2017 Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, die „Meistersinger“ inszeniert, kommt wieder einmal ein Regisseur vom Fach zum Zuge; ebenso 2018 bei „Lohengrin“, für den der Lette Alvis Hermanis vorgesehen ist. Er hat in Salzburg mit Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ 2012 einen großen Erfolg errungen und sich in Verdis „Trovatore“ in diesem Jahr nicht schlecht geschlagen. Und für den „Tannhäuser“ 2019 ist Tobias Kratzer im Gespräch – ebenfalls ein vielversprechender junger Regisseur, der die „Große romantische Oper“ bereits 2011 in Bremen inszeniert und etwa mit den „Meistersingern“ in Karlsruhe, aber auch mit Meyerbeers „Die Hugenotten“ in Nürnberg große Hoffnungen geweckt hat.




Festspiel-Passagen X: „Tannhäuser“ in Bayreuth – Keine Erlösung aus dem System

Wichtig für das Funktionieren der Wartburg-Gesellschaft im Bayreuther "Tannhäuser": der "Alkoholator" in Joep van Lieshouts Bühnen-Installation. Für das Publikum eine Provokation. Foto: Enrico Nawrath

Wichtig für das Funktionieren der Wartburg-Gesellschaft im Bayreuther „Tannhäuser“: der „Alkoholator“ in Joep van Lieshouts Bühnen-Installation. Für das Publikum eine Provokation. Foto: Enrico Nawrath

Wieder einmal funktioniert die „Werkstatt Bayreuth“. So war die Erwartung 2011, als Sebastian Baumgartens neue „Tannhäuser“- Inszenierung den „Grünen Hügel“ und die Wagner-Welt in Aufregung versetzte. Immerhin ist Baumgarten einer der Vordenker des (Musik-)Theaters in Deutschland.

Und der Dirigent der damaligen Premiere, Thomas Hengelbrock, steht für eine kompromisslose Sicht auf die Musik, nicht nur in ihrem von den Schlacken der Interpretationsgeschichte gesäuberten Text, sondern auch in den aufführungstechnischen Bedingungen ihrer Entstehungszeit. Dazu kommt die Bühne von Joep van Lieshout, der mit seinem „AVL“-Atelier in Rotterdam und seinem utopischen Kunstprojekt „AVL-Ville“ alles andere als einen exklusiven zeitgenössischen Formalismus oder Ästhetizismus vertritt.

Dass es dann ganz anders kam und drei Jahre nach dem Premieren-Aufreger ein müder Abschied von dieser „Tannhäuser“-Episode ansteht, ist bedauerlich, aber zu erklären. Der Grund ist nicht das Publikum, auch wenn die „Buh“-Rufer nach wie vor eine starke Fraktion stellen. Die Bayreuther Wagner-Pilger haben schon ganz andere Provokationen weggesteckt und – von Wieland Wagner über Patrice Chéreau bis Christoph Schlingensief – sogar zu bewundern gelernt. Der Grund liegt darin, dass Sebastian Baumgarten der „Hölle des Interpretationstheaters“ entkommen wollte und im Orkus des postdramatischen Erklärtheaters gelandet ist.

Dabei war die Idee brillant: Ganz im Sinne Joep van Lieshouts eine hermetische Gesellschaft agieren zu lassen, die inmitten ihrer alltäglichen Lebensverläufe ein rituelles Stück namens „Tannhäuser“ aufführt. Daher die offene Bühne und die Aktionen vor „Beginn“ des Stücks und während der Pausen, zu denen auch die Parodie einer heiligen Messe gehörte – mit Heine-Texten aufs Deutschlandlied, einem persiflierten „O Haupt voll Blut und Wunden“ und einem Lob auf „Apoll und Dionysos“. Passend auch der Raum van Lieshouts: eine Halle voller Tanks und Maschinen, bestimmt zur autarken Selbstversorgung der Wartburg-Gesellschaft. Ein in sich geschlossenes System, zu dem auch der Venusberg gehört.

Monochrom: der "Venusberg" im Bayreuther "Tannhäuser". Foto: Enrico Nawrath

Monochrom: der „Venusberg“ im Bayreuther „Tannhäuser“. Foto: Enrico Nawrath

Im Keller der rationalen Bewirtschaftungsräume hausen vorgeschichtliche, äffische Triebwesen in monochromem Rotlicht, das alle Farben erstickt. Und Frau Venus ist die mütterliche Verwalterin. Sie sieht ein bisschen aus wie Mathilde Wesendonck, die sich auf eine Party der Gesellschaft der Freunde Bayreuths verirrt hat (Kostüme: Nina von Mechow). Dass sie am Ende ein Kind kriegt, das zum Erlösungs-Preisgesang des Schlusschores herumgereicht wird, ist kein Bruch. „Ein Kind ist uns geboren …“ möchte man unwillkürlich die weihnachtliche Weise auf die Lippen nehmen.

Nur: Trotz der Video-Maria, die in der Inszenierung immer wieder in den Hintergrund projiziert wird, glaubt niemand, wohl am allerwenigsten das Regieteam, an einen Erlöser. Sondern eher an ein (irreguläres?) Produkt der biologistischen Reproduktionsmaschinerie, die in Christopher Kondecks Videos – mit Spermienangriffen, Bakterien-Fressattacken und Zellteilungen – von innen ausgeleuchtet wird.

Gang ins Gas als Rückzug aus der Gesellschaft

Keine Erlösung, auch nicht durch oder für Elisabeth, die eigentliche Außenseiterin in diesem „Tannhäuser“. Camilla Nylund muss sich händeringend auf einem Steg über oder mit großen Stummfilmgesten in die Schar der Wartburg-Hörigen werfen. Dass sie am Ende ins Biogas geht, hat 2011 ungeheuer provoziert, liegt aber genau in der Konsequenz dieser hermetischen, menschlichkeitsentkleideten Welt.

Schon Vera Nemirova realisierte in ihrem durchdachten Frankfurter „Tannhäuser“ einen von Wolfram von Eschenbach assistierten Suizid. In Bayreuth entzieht sich Elisabeth mit dem Gang in den Gastank – und Wolfram drückt den Sicherungshebel herab und macht ihre Entscheidung unumkehrbar: Auch er teilt das Konzept Elisabeths einer Liebe jenseits venerischer Niederungen und wartburgischer Erhebung nicht; er besingt lieber den Abendstern als entferntes Objekt entsagungswilligen Schmachtens.

Auch wenn es nicht so scheint: Baumgartens Inszenierung trifft Grundintentionen Wagners und versucht, sie über das Konfliktfeld des christlichen Manichäismus hinaus zu aktualisieren. Dass der kühne Wurf nicht gelungen ist, liegt jedenfalls nicht an der gedanklichen Vorarbeit. Es liegt vor allem an der hermetischen Art des postdramatischen Theaters. Mit ungeheurem Einsatz von Gehirnschmalz von Dramaturgen und Regisseuren zu reibungslosem Lauf geschmiert, gleitet es dennoch an den rezeptiven Organen auch des aufgeschlossenen Mitakteurs im Publikum vorbei. Mit gewaltigem Aufwand von Signalen, Chiffren und Bildern versucht es die Synthese von Vorlage, kreativem Zugriff und aktiver Rezeption – und scheitert oft genug an der fragilen inhaltlichen Gespinst von nachvollziehbaren Mustern und privaten Mythologien und Obsessionen der „Macher“, an ihren biografisch verschlüsselten Bildwelten oder ihrer assoziativen Fantasie.

Bayreuth: Torsten Kerl als Tannhäuser. Der Tenor stammt aus Gelsenkirchen. Foto: Jörg Schulze

Bayreuth: Torsten Kerl als Tannhäuser. Der Tenor stammt aus Gelsenkirchen. Foto: Jörg Schulze

Mit Frank Castorfs „Ring“ ist derzeit in Bayreuth ein Beispiel dafür zu erdulden. Und Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“ ist – im Verbund mit van Lieshouts „Technokrat“-Landschaft – an seinem Erklärungsbedarf zerschellt. Genau das ist auch der Unterschied zu Castorfs Arbeit: Die geniert sich nicht einmal mehr, die Streifzüge assoziativer Fantasie auszustellen und mit einem Zug ins Wollüstig-Zynische dem Zuschauer zum Fraß vorzuwerfen.

Baumgarten arbeitet strenger, stringenter, deswegen aber nicht theatralischer. Denn an der Frage nach der Funktion und den Grenzen von Theater entscheidet sich, ob Baumgartens Entwurf als „gescheitert“ anzusehen ist. Aber vielleicht ist angesichts der ökonomischen Zwänge des Theaters heute und der damit verbundenen Rückkehr zum widerstandslosen Konsumangebot eine solche Debatte nur noch in elitären Kreisen relevant?

Gebrochen ist auch der Wille zur klangsinnlichen Neuentdeckung der „Tannhäuser“-Partitur: Hengelbrock am Hügel, das ist Geschichte, nicht zuletzt, weil es nicht funktionierte. Axel Kober, GMD der Deutschen Oper am Rhein, macht im Abgrund keinen mystischen, sondern einen sehr klar strukturierten Job. Auch er durchleuchtet Wagners Webmuster auf relevante Einzelstimmen hin, will durch feinnervigen Klang und gemäßigte Dynamik den Bezug Wagners zur deutschen romantischen Oper, aber auch das innovative Potenzial der Komposition freilegen. Das gelingt, weil Kober auf übertriebene Tempi verzichtet und dem Mischklang kein Kainszeichen aufdrückt. Dass es mit der Balance zwischen Bühne und Graben im zweiten Aufzug hapert, das Finale zu zerfallen droht, mag auch mit der  Aufstellung der – wie stets ausgezeichneten – Chöre Eberhard Friedrichs zu tun haben.

Camilla Nylund als Elisabeth. Foto: Jörg Schulze

Camilla Nylund als Elisabeth. Foto: Jörg Schulze

Bei den Sängern verteilen sich Licht und Schatten gleichmäßig: Auch Torsten Kerl, der untadelige Tannhäuser, hat seine Probleme, wenn er die Höhe mit einem druckvollen Ansatz in präsent und hell klingender Maske bildet, aber den Klang damit raumlos eng beschneidet. Markus Eiche singt einen freien, im Piano allerdings fragwürdig verflachenden Wolfram. Kwangchul Youn ist ein stimmgewaltiger Landgraf ohne Noblesse. Camilla Nylund ist nach wie vor eine engagierte, berührende Elisabeth mit subtil abgeschatteten Piano-Momenten, in der jubelnden Emphase etwa der „Hallen-Arie“ diesmal mit einem aufgerauten Vibrato, das vielleicht der Tagesform geschuldet ist. Michelle Breedt kann als Venus mit ihren eng geführten Tönen nach wie vor nicht überzeugen; Katja Stuber bringt die wenigen Sätze des Hirten mit sympathischem Leuchten über die Rampe.

Wenn wir eines aus dieser unglücklichen Inszenierung mitnehmen, dann dies: Baumgarten hat in seiner in sich geschlossenen Wartburg das Ende innergesellschaftlicher Perspektiven gespiegelt. Erlösung kann nur von außen kommen: Eine Erkenntnis, die auch Wagner von den „Feen“ bis zum „Parsifal“ umgetrieben hat.




Wacht auf, Verdammte dieser Erde: „Der fliegende Holländer“ wieder am Aalto

Foto: Aalto-Musiktheater

Foto: Aalto-Musiktheater/Thilo Beu

„Ein Gespenst geht um in Europa, es ist das Gespenst des Kommunismus“, so beginnt das berühmte Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Diesen Satz hat Regisseur Barrie Kosky in seiner Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ von 2006, die jetzt in der Aalto-Oper in Essen wiederaufgenommen wurde, ganz wörtlich genommen.

Er deutet den Holländer als Wiedergänger des geschundenen Arbeiters, des Kommunisten der ersten Stunde, der in der Welt keine Heimat finden kann – schon gar nicht im real existierenden Sozialismus der DDR. Hier leben nämlich Senta (Astrid Weber), ihr Vater Daland (Tijl Faveyts) und auch alle Matrosen dieses „Staatsschiffes“, das anmutet wie ein Bürogebäude der Staatssicherheit in Plattenbauweise. Die „Wacht“ des Steuermannes (Rainer Maria Röhr) wird dabei übersetzt als Komplettüberwachung der Bevölkerung durch die Behörde „Horch und Guck“. Mit Fernrohren spähen die Seeleute bzw. Beamten aus dem Fenster, ab und zu blitzt eine Kamera auf, um einen Vorgang auf der Vorderbühne zu dokumentieren.

Dieser Zugriff auf eine Wagneroper scheint zunächst ein wenig ungewöhnlich und man braucht als Zuhörer etwas Zeit, die Bilder zu enträtseln, während die bekannten Klänge aus dem Drama um das Geisterschiff, Liebestreue und Erlösung an die Ohren drängen.

Doch es funktioniert, denn Barrie Kosky hat seine Interpretation dem Stoff nicht einfach übergestülpt, sondern seine Ideen aus ihm entwickelt. Was bedeuten Treue und Verrat für Menschen in unserem Jahrhundert? Kann man sich auf Freundschaft in einem sogenannten „Unrechtsstaat“ verlassen? Kann ich mir sicher sein, dass meine eigene Ehefrau mich nicht bespitzelt? Auf diese Weise macht Regietheater Spaß und Sinn – vor allem, wenn wie in Essen, der musikalische Genuss noch dazukommt (Dirigat: Tomás Netopil).

Foto: Aalto-Musiktheater

Foto: Aalto-Musiktheater/Thilo Beu

Stimmlich beeindrucken vor allem Astrid Weber als Senta und Tijl Faveyts als Daland. Ebenso zeigt Almas Svilpa als Holländer Präsenz, wenn er wie einst Manfred Krug im Film „Spur der Steine“ in Feinripp-Unterhemd und Zimmermannshose die Bühne beherrscht, von den staunenden Bewohnern des Arbeiter- und Bauernstaates als ein Gespenst aus längst vergangenen Zeiten begafft. Die Szene, in der dann der komplette Opernchor als Senta verkleidet kurz davor ist, das Geisterschiff zu stürmen, überdreht die Sache ein wenig und kann doch sinnvoll gedeutet werden: Den Traum vom wahren Sozialismus haben nicht nur Senta, sondern sie alle vielleicht mal geträumt. Doch was ist daraus geworden: Ein Schiff, bewohnt von Gespenstern. Und die Ideale von damals? Sind in der hinterhältigen Spießigkeit des Überwachungsstaates irgendwann verlorengegangen…

„Fürchtest Du ein Lied, ein Bild?“ singt Senta, gerichtet an Erik (Jeffrey Dowd), ihren Führungsoffizier, und spielt damit auf das schwierige Verhältnis der Kulturschaffenden zur Staatsführung an. Die Szene, in der Erik Senta noch einmal auf ihre Liebe verpflichten will, ist konzipiert wie ein Verhör. Senta hätte „eine Versicherung ihrer Treu“ gegeben respektive unterschrieben, bei der Stasi mitzutun. Hat sie? Der Holländer, der hinter dem Vorhang steht, muss dies glauben: Senta hat ihn verraten.

Sie nun, setzt das Messer an seinen Hals und erlöst ihn. Sich selbst zu richten, das gelingt ihr bei Barrie Kosky nicht. Senta blickt stumm ins Leere: Aus der Traum.

Nächste Aufführung: 21. Februar 2014
Karten: www.aalto-musiktheater.de

 




Stimmungsmache, Skandalgerede, Voraburteile: Dortmund und die „Tannhäuser“-Premiere

Kay Voges inszeniert in Dortmund den "Tannhäuser". Foto: TheaterDortmund/Birgit Hupfeld

Kay Voges inszeniert in Dortmund den „Tannhäuser“. Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Skandal! Das Wort ist ausgesprochen, ist nachzulesen schwarz auf weiß. Der Vorgang, den es bezeichnet, wird herbeigeredet, -geschrieben, von manchem vielleicht auch ersehnt. Stimmungsmache, Beschwichtigungen, Erklärungen und Voraburteile schwirren durch den Raum. Eine Debatte ist zu verfolgen, deren Gegenstand bisher nur fragmentarisch sich darstellt. Es ist so, als würde ein Schmetterlingsbein sich aus der Raupe herausschälen, und einer ruft: „Ist das Tier aber hässlich“.

Worum geht es? In nüchternen Worten formuliert, um die bevorstehende Premiere von Richard Wagners großer romantischer Oper in drei Akten „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ am Theater Dortmund. Regie führt Kay Voges, der erfolgreiche, längst über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Chef des Schauspielhauses. Es ist seine erste Arbeit im musikdramatischen Fach. Voges wird, über das Bühnengeschehen hinaus, multimediale Effekte einsetzen. Eigentlich ist solcherart Inszenierungsbeigabe ein nicht mehr ganz neuer Hut. Doch mancher Bedenkenträger fragt schon jetzt beklommen, ob das nicht zu viel des Illustrierens sei.

Wagners „Tannhäuser“ – da war doch was. Genau: etwa die tumultuöse Aufführung 1861 in Paris, als organisierte Gruppen mit aller Macht (und Trillerpfeifen) das Werk des Deutschen akustisch zerstören wollten. Ein Vorgang, der bis heute zu den größten Eklats der Musikgeschichte zählt. Und jüngst, im Mai, der Skandal um die Inszenierung von Burkhard C. Kosminski an der Rheinoper in Düsseldorf. Die Premiere war die erste und letzte szenische Vorstellung, hernach blieb der Vorhang zu, der „Tannhäuser“ mutierte zu einem rein konzertanten Erlebnis. Freilich, der Regisseur hatte das Werk teils in der Nazi-Zeit verortet und pantomimisch gezeigt, wie eine ganze Familie exekutiert wird. Einige aus dem Publikum gaben an, sie hätten ob der Zumutung einen Arzt aufsuchen müssen.

Wenige Tage später stellte Dortmunds Opernchef Jens-Daniel Herzog den neuen Spielplan vor, mit eben jener Nachricht, dass Kay Voges den „Tannhäuser“ inszenieren werde. Um eiligst hinzuzufügen, Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Dann ging die Zeit ins Land und die Welt war in Ordnung. Nun aber, nach einigen Überlegungen des Regisseurs, abgedruckt in der Theaterzeitung, nach Einführungsmatinee und öffentlicher Probe, herrscht plötzlich jede Menge Aufgeregtheit. Der Knackpunkt vor allem: die Videoprojektionen.

Tischbein_-_Tannhäuser_1845

Joseph Tichatschek als Tannhäuser und Wilhelmine Schröder-Devrient als Venus in der Dresdner Uraufführung 1845. Zeichnung: F. Tischbein

Voges setzt sie im Schauspiel regelmäßig ein, etwa in seiner Inszenierung nach Thomas Vinterbergs „Das Fest“. Die Gesichter der Figuren werden groß auf eine Leinwand projiziert, auf dass das Publikum jede emotionale Regung und deren mimische Entsprechung mitbekomme. Das war immerhin eine Nominierung für den Theaterpreis „Faust“ wert. Ähnliches hat Voges im „Tannhäuser“ vor. Hinzu kommt der Versuch, in dieser Figur, taumelnd zwischen Venusberglust und hehrer Minne, Christus zu sehen; in Anlehnung an Martin Scorseses so umstrittenen wie glänzenden Film „Die letzte Versuchung Christi“.

Ob das gelingt, werden wir sehen. Voges sagt, Wagner, der Verfechter des Gesamtkunstwerks, hätte den Film als Gestaltungsmittel eingesetzt. Jens-Daniel Herzog hat das in einem Interview ähnlich formuliert. Ein Teil der veröffentlichten Meinung hingegen zerrt den wohlbekannten Satz mancher Wagnerianer hervor, der Komponist habe das so sicher nicht gewollt. Nun gut, Spekulationen sind das eine, teils polemische Urteile über einen Probenausschnitt aber sind von anderem Gewicht. Vom Skandal ist vorsorglich auch schon Mal die Rede.

„Kinder, schafft Neues!“ ist ein vielzitiertes Wagner-Wort. Ist der Einsatz der Video-Technik zu neu? Das Dortmunder Publikum werde durch die Bilder zu sehr von der Musik und den Figuren abgelenkt, unkt es im Blätterwald, das Seelenheil der Zuschauer könnte leiden. Solcherart Fürsorge ex cathedra wirkt geradezu putzig. Doch Filmsequenzen zur Oper sind den Musikfreunden der Stadt durchaus bekannt, zuletzt gesehen in hochgelobten Konzerthaus-Aufführungen von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und, man staune, in Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

Voges hat unterdessen auf die Vorab-Urteile höchst originell reagiert. Bei aller Verärgerung stichelte er in einer Mischung aus Ernst und Ironie zurück. Inmitten seiner tiefsinnigen, urkomischen, so erfrischend albernen wie entlarvend verstörenden Revue „Das goldene Zeitalter“, in der uns das Leben als Endlosschleife offenbart wird, mit mehr oder weniger gelungenen Versuchen, daraus auszubrechen. Da dröhnt die „Tannhäuser“-Ouvertüre aus den Lautsprechern, und ein blondes Barbiepuppenwesen hämmert manisch in die Schreibmaschine „Volle Konzentration auf die Musik“.  Konsequent fällt der Vorhang, das Theater wird zum kollektiven Wohnzimmer mit Stereoanlage, Rezeption zur behaglichen Routine, wie der alltägliche Konsum der Tagesschau. Touché!

Gut nur, dass nun, kommenden Sonntag (1. Dezember), endlich Premiere ist, in annähernd ausverkauftem Haus. Erst dann ist die Stunde ernsthafter, kundiger Analyse und ästhetischer Beurteilung gekommen. Stimmungsmache aber vernebelt die Gedanken.

Informationen zur Inszenierung: http://www.theaterdo.de/detail/event/513/?not=1




„Tristan und Isolde“ in Essen: Peter Schneiders meisterliches Dirigat

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für "Tristan und Isolde" fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für „Tristan und Isolde“ fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Hätte dieser Liebestod doch alleine im Orchestergraben stattgefunden! Musikalisch geformt von Peter Schneiders kundiger Hand, aufblühend aus einem delikaten Piano zu fiebrigem Glanz, transparent, geschmeidig und klangvoll, in leuchtender Ekstase auf dem Höhepunkt der dynamischen Entfaltung.

Aber zum Schlussgesang von „Tristan und Isolde“ gehört die Stimme – in Essen diejenige von Evelyn Herlitzius. Und die allseits gefeierte Sängerin brach am Aalto-Theater in der letzten der drei „Tristan“-Vorstellungen dieser Wagner-Jubiläums-Spielzeit den magischen Moment des Verströmens herunter auf höchst irdisches Buchstabieren.

Herlitzius hatte schon die Premiere von Barrie Koskys Inszenierung unter Stefan Soltesz 2006 gesungen. Es war ihre zweite Isolde nach Chemnitz – und die erste vor international relevanten Bühnen wie Dresden, Wien, Berlin. Bei ihrem Essen-Debüt lobte die Kritik ihre vokale Risikobereitschaft, ihren bedingungslosen Einsatz. Das stimmt auch für 2013, nur: Evelyn Herlitzius hat darüber vergessen, dass Isolde nicht nur ein Parforceritt im Zeichen von Forte- und Fortissimo-Anspannung ist. Der erste Akt geriet mit überbordender vokaler Gewalt zu einem Schrei-Duell mit der schönstimmigen, nur manchmal in der Höhe spitzen Martina Dike. Und der „Liebestod“ begann nicht „mild und leise“ – und setzte sich fort im Versinken und Ertrinken in riesigen Tönen, weit abgekehrt von sauberer Artikulation, flexiblem Legato oder sinnlichem Strömen.

Im zweiten Akt zeigte sich, dass allen prachtvollen Volumens zum Trotz der Kern der Stimme im Mezzoforte nicht erfüllt fließend, sondern flackernd gespannt klingt. Der Gegensatz zu Jeffrey Dowd, der sich bemüht, den Tristan lyrisch grundiert und entspannt zu singen, kann nicht größer sein: Zwei Stimmen, die im Duett nicht harmonieren, zumal Dowd die leuchtend-expansive Höhe nicht aufbringen kann. Mit kluger Ökonomie bewältigt das bewährte Essener Ensemblemitglied den dritten Akt, lässt sich nicht zum Forcieren hinreißen und kleidet so die Sehnsuchtsverzweiflung Tristans eher in resigniert gedämpfte als in aufbrausend gewaltige Klänge.

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von "Tristan und Isolde" in Essen. Foto: Matthias Jung

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von „Tristan und Isolde“ in Essen. Foto: Matthias Jung

Mit Liang Li präsentierte sich ein neuer König Marke, der die Partie aus einem kantablen Ansatz heraus gestaltet, aber hin und wieder den Ton nicht ausreichend fokussiert. Vielleicht kommt die Partie für den Bass, der einen mustergültigen Banco im Essener „Macbeth“ gesungen hat, noch zu früh. Tadellos Heiko Trinsinger, der die Rolle des Kurwenal szenisch wie musikalisch weiter verinnerlicht hat: Überzeugender als früher lässt er den Klang strömen, bildet kraftvolle Höhe statt mit gestautem mit freier gehaltenem Atemfundament. Die sorgende Zuwendung zu dem tödlich getroffenen Freund Tristan und das bedingungslose Einstehen für sein Leben haben in Trinsingers Gestaltung berührende Größe.

In den von Wagner weniger ausgiebig bedachten Partien kann das Aalto-Theater auf bewährte Sänger zurückgreifen: Albrecht Kludszuweit als kultiviert singender Hirte, Mateusz Kabala als klischeeferner Melot, Rainer Maria Röhr als Seemann und Thomas Sehrbrock als Steuermann. In der szenischen Wiederaufnahme gab sich Frédéric Buhr alle Mühe, die Intentionen Koskys zu reanimieren. Dennoch: Klaus Grünbergs Bühne mit dem in riesenhafter Schwärze schwebenden Licht- und Erzähl-Raum ist das Plus dieser Produktion, die Kosky nach einigen modisch-überflüssigen Sexual-Errationen im ersten und einer sorgfältigen, aber wenig pointierten Personenregie im zweiten und dritten Akt unschlüssig enden lässt.

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

So bleibt als prägender Eindruck das meisterliche Dirigat Peter Schneiders. Lange Erfahrung, eine intime Kenntnis der Partitur, Achtsamkeit für die Sänger prägen seine Auffassung. Schneider knüpft an der intensiven Arbeit von Stefan Soltesz an, der die drei „Tristan“-Vorstellungen ursprünglich als Gast an seinem langjährigen Stammhaus dirigieren sollte, aber alle Aalto-Auftritte abgesagt hat. Auf die Essener Philharmoniker ist Verlass: von der genau ausgehörten Streicher-Balance über die konturscharf zugeschnittenen prominenten Bläser-Momente, den solistischen Glanz bei Hörnern oder Holzbläsern bis hin zu Andreas Goslings elegisch-intensivem Englisch Horn.

Schneider nutzt dieses „Kapital“ für einen schlanken, fließenden Duktus der Musik, für bewegte Tempi – die nur im zweiten Aufzug die Holzbläser für einige Momente hastig wirken lassen – und für einen aufgelichteten Mischklang, der Details nicht zudeckt, aber auch nicht über Gebühr heraushebt und damit die Rundung des Klangs beeinträchtigt. Der dritte Aufzug beginnt mit der schmerzlich intensiven Tönung durch die tiefen Streicher und begeistert durch exquisit kultivierte Piano-Schattierungen und die Kunst des Übergangs – wie sie bei Schneiders letztem „Tristan“-Dirigat 2012 in Bayreuth schon zu bewundern waren. Wie hätte Wagner reimen können? In diesem „Tristan“ webt Wunder ein wissender Weiser.




Richard Wagners Steinway-Flügel „gastiert“ in Düsseldorf

Richard Wagners Steinway-Flügel kommt nach Düsseldorf. Aus Anlass des 200. Geburtstags Wagners, und weil die Villa Wahnfried in Bayreuth derzeit grundsaniert wird, „tourt“ der Steinway von 1876 durch die fünf Häuser des weltbekannten Klavierbauers in Deutschland. Vom 4. bis 9. November steht das reich verzierte Instrument aus braunem Holz im Steinway-Haus in der Immermannstr. 14-16. Wer einen Termin vereinbart (E-Mail: wagner@steinway.de), darf ihn auch spielen: „Interessierte können den Flügel im Dreißig-Minuten-Takt ausprobieren“, kündigt Verkaufsleiter Wolfgang Kaczmarek an.

Der Flügel mit der Opus-Nummer 34304 war ein Geschenk der Firma Steinway & Sons New York zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele 1876. Über dem Manual trägt er die Inschrift „Festgruß aus Steinway Hall“. Damals repräsentierte der Flügel technisch den neuesten Stand; er war das erste Modell mit einem aus Metall gegossenem Rahmen. So konnten die Saiten stärker gespannt und ein kraftvolleres Klangvolumen erreicht werden.

Richard Wagner, aber auch Franz Liszt und vielleicht noch mancher Wahnfried-Gast haben den Flügel gespielt, der in der Rotunde des Saals der Villa stand. Nach Wagners Tod wurde er wie eine Devotionalie behandelt. Durch den Bombentreffer 1945 kaum beschädigt, kam er erst in den neunziger Jahren zu einer behutsamen Restaurierung in die Steinway-Fabrik nach Hamburg. Seither wurde er regelmäßig für Solo- und Kammerkonzerte im Saal von Wahnfried benutzt.

Die Villa Wahnfried, aufgenommen im Juli 2009. Foto: Werner Häußner

Die Villa Wahnfried, aufgenommen im Juli 2009. Foto: Werner Häußner

Der Flügel war bisher in München, Hamburg und Berlin zu sehen und geht nach seiner Station in Düsseldorf noch nach Frankfurt (11. bis 17. November), bevor er bis zum Abschluss der Sanierung der Villa Wahnfried, der Neugestaltung des 1976 eröffneten Richard-Wagner-Museums und des Erweiterungsbaus – voraussichtlich 2014 – in Hamburg verbleiben wird.

Der Steinway war Richard Wagners modernster Flügel. In Wahnfried steht noch ein Instrument von Breitkopf & Härtel, das Wagner 1843 zum ersten Mal erwähnt. Außerdem besaß Wagner u. a. einen Érard-Flügel, zwei Flügel und ein Komponierklavier aus dem Haus Bechstein sowie zwei Ibach-Instrumente, die er in Italien spielte.

Am Donnerstag, 7. November, 20 Uhr, spricht Sven Friedrich, Direktor des Richard-Wagner-Museums mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, über den Wagner-Flügel und die umfassende Sanierung von Haus Wahnfried. Dabei wird das Instrument auch gespielt.

 




Dualismus und Erlösung: Vera Nemirovas „Tannhäuser“-Inszenierung in Frankfurt

Iso-Matten, Rucksäcke, bunte Käppis: Die Truppe sieht aus, als komme sie gerade vom Weltjugendtag. Zum frommen Klang der Pilgerchor-Melodie lässt man sich nieder. Viele beten, manche denken in sich versunken nach. Eine Gruppe zieht ein, schleppt ein riesiges Kreuz mit sich. Alle scharen sich darum. Dann übermannt der Schlaf das Völkchen.

So lange, bis die ersten Tremoli der Venusberg-Musik aufzüngeln: Jung und Alt werfen sich in die Arme, bald fliegen die Klamotten. Die fröhlichen Nackten ziehen einem weiß-blauen Himmel entgegen. Doch das venerische Treiben geht nicht lange gut: In Richard Wagners Orchester setzen sich die Pilgerchor-Motive wieder durch. Zuckende Leiber kriechen mit Gesten des Entsetzens und der Reue zum Kreuz. Klagende Gebärden zur triumphal vom Blech intonierten erhabenen Melodie.

Szene aus der Ouvertüre zu "Tannhäuser" in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Szene aus der Ouvertüre zu „Tannhäuser“ in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Inszenierte Ouvertüren sind manchmal nur der Angst des Regisseurs vor der reinen Musik geschuldet. Doch im Falle des Frankfurter „Tannhäuser“ erschließt Vera Nemirova damit die Sinnrichtung des Stücks. Sie stellt den prägenden Dualismus zwischen Venus und Maria, zwischen sexuell-sinnlicher Entfesselung und keusch-vergeistigt Liebe in einer präzis entwickelten Szene auf die Bühne. Und sie behauptet so, dass der Dualismus nicht allein eine Angelegenheit des 19. und des vergangenen 20. Jahrhunderts sei.

Der „Tannhäuser“, eine wichtige theatrale Station auf dem lebenslangen Weg Wagners zur Bewältigung seiner Konflikte zwischen Reinheit und Trieb, wurzelt in einem christlichen Menschenbild, das aber mit den ideologischen Brillen des 19. Jahrhunderts kaum erkennbar war. Die Verbindung von körperlich-sexueller und seelisch-spiritueller Liebe hätte durch Tannhäuser und Elisabeth erreicht werden können: Hier der Mann mit den Erfahrungen des Venusbergs, der weiß, dass der sterbliche Mensch auch durch Götter nicht zum Gott gemacht wird; der erfahren hat, dass der schrankenlose, ungetrübte Genuss sinnlicher Reize nur zum Überdruss führt. Dort eine starke Frau, die eine widerstandsfähige Liebe bewahrt, die nach ganzheitlicher Erfüllung strebt, die das „Rätsel ihres Herzens“ zu lösen hofft.

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova behauptet in ihrer Inszenierung eindrucksvoll, dass diese Liebe scheitern muss: Die Ideologie der Wartburg, im Wettstreit der Sänger zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht, lässt nur den dualistischen Bruch zu. Hier der „Liebe reinstes Wesen“, das Wolfram von Eschenbach nicht „mit frevlem Mut“ berühren will. Dort der Tannhäuser mit seinem faustischen Vornamen Heinrich, der „im Genuss nur Liebe“ kennt, der in Venus „die Quelle alles Schönen“ propagiert. In diesem Konflikt weist selbst der Papst keinen Ausweg, und die Barmherzigkeit ist eine Tugend, die in dieser Welt nicht reift und von oben kommen muss.

Nemirova – die Regisseurin des gefeierten Frankfurter „Ring“ und eines neuen „Lohengrin“ in Basel – inszeniert den „Tannhäuser“ nicht als ein Stück von gestern, dem man für seine Schlüssigkeit heute ein neues Thema überstülpen müsste. Und es genügen ihr im Verein mit ihrem Bühnenausstatter Johannes Leiacker knappe Hinweise und Andeutungen, um einen zwingenden, berührenden Opernabend zu gestalten.

Etwa die Szene mit dem Hirten: In Frankfurt ist er mit einem Kind besetzt (Cedric Schmitt). Er singt von Frau Holda und malt mit Kreide ein Kreuz auf den Boden – für eines jener Hüpfspiele, mit denen sich Kinder früher auf den Straßen die Zeit vertrieben. Tannhäuser, der Wanderer mit Gitarre und Federn am Hut, legt sich auf das Kreuz und wird von seinen Ex-Sängerkollegen entdeckt. Der Hirte spielt am Ende dann eine entscheidende Rolle: Das Kind, von den Konflikten unberührt, führt Tannhäuser zu den Klängen des Erlösungschores weg.

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter "Tannhäuser". 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter „Tannhäuser“. 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Leiacker genügt für die karge Bühne eine Wand mit einem weiß-blauen Himmel, davor eine Peitschenlampe mit kaltem, trübem Schein (Olaf Winters Licht mit entscheidendem atmosphärischem Anteil). Dieser Himmel mag, wenn die aufgedrehten Kirchentags-Teenies in ihm „baden“, ein Ort emotionalen Höhenflugs sein; eine Erfüllung der menschlichen Sehnsucht ist er nimmer. Im dritten Aufzug hat die Leinwand Löcher, wird das hölzerne Traggerüst sichtbar. Eine höchst irdische, vergängliche Illusion.

Der Hirtenjunge führt den Tannhäuser zwar in Richtung des zerfetzten Himmelsbilds, aber darin hat sich eine Öffnung gebildet, die ins Unbestimmte führt. Nemirova lässt offen, wohin dieser Weg führt, aber keinen Zweifel, dass es sich um einen Moment des Transzendierens handelt. Die Szene erinnert an den Schluss von Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“. Eine bedeutungsvolle Parallele: Beide Regisseure sind nicht mit vorschnellen Lösungen bei der Hand, stellen die für Wagner essenzielle Erlösungssehnsucht nicht in Frage, lassen aber offen, worin die Erlösung bestehen könnte.

Sänger machen sich das Regiekonzept zu eigen

Wie wenig authentisch die Wartburg-Welt ist, zeigt Nemirova deutlich: Der zweite Aufzug ist eine Show, die aus den Fugen gerät. Landgraf Hermann, von Andreas Bauer mit Autorität gesungen, liest die Frage nach dem wahren Wesen der Liebe wie eine Quizfrage vom Spickzettel ab. Die Sänger, einheitlich in lila Rüschenhemd, liefern ihre Beiträge ab: der kleine, eitler Walther von der Vogelweide (präsent: Jun Ho You), der nur in der Kategorie des „Kampfs“ denkende Biterolf (überzeugend: Magnus Baldvinsson). Und Wolfram von Eschenbach, der Vertreter eines Liebesbegriffs, der sich in Anbetung verzehrt, ohne das Subjekt der Liebe je erreichen zu wollen. Daniel Schmutzhard spielt die inneren Qualen dieses Charakters aus; sorgt mit klug gebildeter, ebenmäßig geformter Stimme für den vokalen Höhepunkt der Frankfurter Aufführung. Dass Wolfram im dritten Aufzug Elisabeth erdrosselt und sie so beim Übertritt ins Jenseits „geleitet“, ist aus der Anlage der Figur heraus nur konsequent.

Die Neueinstudierung der Inszenierung von 2007 – aus Anlass des Wagner-Jahres – ist auch gelungen, weil sich Lance Ryan (Tannhäuser) und Annette Dasch (Elisabeth) das Regiekonzept zu Eigen gemacht haben. Ryan singt anfangs mit extrem gespanntem, beengtem Tenor; wird nach und nach freier, hat die Kraft für die gefürchteten Stellen im zweiten Aufzug und für eine durchdachte Rom-Erzählung. Aber Schmelz und gelösten Klang erwartet man von diesem Tenor vergeblich.

Annette Dasch genießt zurzeit viel Anerkennung. Für das jugendliche Strahlen der „Hallenarie“ reicht der Klangkern der Stimme nicht, aber die lyrisch-innigen Momente gelingen mit dem Zauber, den nur eine reflektierte Gestaltung hervorruft. Der Frankfurter Opernchor hatte nicht seinen besten Abend; das Orchester unter Constantin Trinks überwand die groben Momente des Beginns und steigerte sich auf ein solides Niveau, das im dritten Aufzug vor den Finessen einer subtilen Dynamik nicht kapitulieren musste.




Wagner-Jahr 2013: Die Jugendoper „Das Liebesverbot“ in Leipzig

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagners Verdikt scheint eindeutig: „Ich irrte einst und möcht‘ es nun verbüßen. Wie mach‘ ich mich der Jugendsünde frei?“. Die Widmung an König Ludwig II. von Bayern galt dem heiter-sinnlichen „Liebesverbot“. Geniusworte werden gemeinhin nicht kritisch hinterfragt. So wurde Wagners opéra comique „Das Liebesverbot“ nach seinem Tode erst 1914 wieder aufgeführt und blieb seitdem ein nur gelegentlich beachteter Sonderling.

Kein Wunder: Wagner selbst hat sich nach der katastrophal misslungenen einzigen Aufführung 1836 in Magdeburg vom Konzept der opéra comique, wie es ihm im Theateralltag in den Werken Daniel François Esprit Aubers formvollendet entgegentrat, gelöst und andere Wege beschritten, die ihn letztlich zurück zur romantischen Sphäre der „Feen“ geführt haben. Und die spätere Wagnerianer-Literatur konnte mit dem „Liebesverbot“ überhaupt nichts anfangen: Die Überwindung des Dualismus von sinnlicher Lust und asketischer Geistigkeit durch eine kontrollierte Balance beider Kräfte war nicht das Thema einer Zeit, die manichäisch in den Kategorien von „schmutzig“ und „rein“ dachte. So galt das „Liebesverbot“ als die Jugendsünde schlechthin – ein Kapitel Wagner, das man am besten verdrängte und vergaß.

Der Bedeutung des Werks für Wagners Œuvre wird man so freilich nicht gerecht: Das Thema selbst taucht, romantisch kategorisiert, im „Tannhäuser“ wieder auf – und die Reflexe der „Liebesverbot“-Musik in der großen romantischen Oper sind zu deutlich, um bloßer Zufall zu sein. Inhaltlich befasste sich Wagner bis kurz vor seinem Tod mit dem „Weibe“, sprich, der Problematik von Sinnlichkeit, Erotik und Liebe, von Verdrängung, Überhöhung und Integration des Sexuell-Körperlichen.

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Musikalisch ist die an Auber geschulte rhythmische Verve in den Folgewerken verschwunden. Aber die schwärmerische Bellini-Melodik begegnet uns ab dem „Fliegenden Holländer“ in allerlei Facetten wieder, und die ausgefeilte Ensemblekunst – von Auber und Rossini geprägt – war wegweisend für das spätere Musikdrama. Wer also das „Liebesverbot“ aus dem sowieso fragwürdigen „Kanon“ von Wagners Meister-Werken eliminiert, wird der Entwicklung des Komponisten nicht gerecht. Und Wagner „Genie“ zeigt sich eben auch in der Adaption von Vorbildern: So, wie der Zwanzigjährige in den „Feen“ ein Finale schreibt, das in der Oper von 1833 seinesgleichen sucht, so gekonnt lässt es sich ein Jahr später auf den zündenden Überschwang französischen Vorbilder ein. Wer Aubers Opern aus dieser Zeit kennt, kann ermessen, mit welcher Souveränität Wagner mit dem Meister des Genres gleich zieht.

Wagner artikuliert revolutionär-demokratische Ideen

Die wenigen Inszenierungen der letzten Jahre haben erwiesen, dass sich das „Liebesverbot“ durchaus jenseits einer bloß „museal“ verstandenen Jubiläums-Würdigung auf der Bühne behaupten kann. Die aus Shakespeares „Maß für Maß“ entlehnte Story hat Wagner für seine Zwecke geschärft: Ein bigotter Statthalter – heute würde man ihm Kontrollzwang diagnostizieren – verbietet jede sinnliche Lust bei Todesstrafe und stolpert durch die List einer Nonne (!) und den fröhlich-selbstbewussten Widerstand des Volkes über seine eigenen Regeln. Jenseits der Kritik am moralischen Rigorismus artikuliert Wagner aber auch eine revolutionär-demokratische Idee, die ihn noch 1849 in die Nähe der Dresdner Barrikaden führte: Das Volk ist der eigentliche Souverän des Geschehens.

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger "Liebesverbot". Foto: Kirsten Nijhof

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger „Liebesverbot“. Foto: Kirsten Nijhof

In Leipzig – und wo sonst wäre Wagners Frühwerk angebrachter – hatte nun das „Liebesverbot“ in der Regie von Aron Stiehl Premiere; jene Version, die im Sommer anlässlich des Wagner-Geburtstags in Bayreuth zu sehen war. Jürgen Kirner bot in seinem Bühnenbild den technisch beschränkten Möglichkeiten der Oberfrankenhalle Paroli: Stellwände und beleuchtete, rasch verschiebbare bühnenhohe Kästen ermöglichen schnelle Szenenwechsel und schaffen atmosphärische Räume: ein Dschungel mit wuchernden Pflanzen für das Reich der Sinne und der Triebe; ein weiß leuchtendes Kreuz für den Raum des Klosters. Statthalter Friedrich residiert zwischen riesigen, nummerierten Schubkästen, Chiffren des Ordnungszwangs und Kategorisierungswahns.

Sven Bindseils Kostüme schärfen mit leichter Ironie den Gegensatz von Geistigem und Triebhaften, den Regisseur Aron Stihl herausarbeitet: Das „Volk“ – der Chor Alessandro Zuppardos leistet auch szenisch ganze Arbeit – trägt die Flecken und Streifen wilder Tiere in einer Art von Steinzeit-Fetzen-Look; Friedrich dagegen tritt im schwarzen Rock des bürgerlich-klerikalen 19. Jahrhunderts auf, sein alles andere als überzeugter Gefolgsmann Brighella in einer pompösen Amtsdiener-Robe. Die Regie setzt auf Bewegung und lebhafte Aktion: Stiehl versteht es, Personen unspektakulär, aber konsequent zu führen. Wenn im Finale die Beine geschwungen werden, ist das ein durchaus beabsichtigtes Zitat: Der Triumph der lustvollen Ausgelassenheit führt direkt zur Sensation des Offenbach’schen Can-Can.

Bis an die Grenzen geforderte Sänger

Musikalisch wird man in Leipzigs Opernhaus leider wieder einmal nicht glücklich: In der Ouvertüre schon bringen die vehementen Staccati und das rhythmisch Ungestüm Wagners die Musiker aus dem Tritt; lustlos nivelliert das Orchester die Kontraste der Musik. Später lässt Dirigent Matthias Foremny arg massive Lautstärke zu. Geformte Phrasen, ausgearbeitete Details? Oft Fehlanzeige. Da haben es die Sänger schwer, die Wagner ohnehin ständig an die Grenzen führt. Christiane Libor muss als Isabella mal hochdramatisch auftrumpfen, mal lockeren Singspielton anschlagen oder sich durch Ketten kurzer Noten hangeln – was ihr mit beachtlicher stimmlicher Reserve auch gelingt.

Olena Tokar hat es als Mariana einfacher: die Partie der verlassenen Ehefrau des Statthalters ist in Leipzig kurz. Und die dritte der Frauen auf der Suche nach der ehrlichen Liebe, Dorella, wird von Magdalena Hinterdobler verkörpert: In bester, sexistisch anmutender Boulevard-Manier von einem Presseorgan als einzig sehenswertes Formenwunder auf der Leipziger Bühne angepriesen, quält sie sich ohne zuverlässigen Stimmsitz und ohne tragende Resonanz durch Wagners Noten.

Bis an ihre Grenzen gefordert sind Mark Adler (Luzio) und David Danholt (Claudio): beide haben mit Wagners hybriden Anforderungen hörbar zu kämpfen. Reinhard Dorn orgelt den Brighella nicht als verschlagenen Sbirren, sondern als gemütliche Charge. Der Pontio Pilato Martin Petzolds lässt sich stimmlich nichts zuschulden kommen, bleibt aber als Figur von der Regie merkwürdig unerklärt. Tuomas Pursio hat die stocksteife Figur für den in seinen politischen wie psychischen Zwängen eingeklemmten Friedrich, ist als herrischer Bürokrat glaubwürdig, stimmlich aber oft verhärtet und trocken: Die belcantistischen Aspekte seiner Rolle kommen nicht zum Tragen.

Am Ende reißt der entlarvte Statthalter einen Blumenstrauß an sich und zieht dem zurückkehrenden König entgegen, während sich in der bunten Truppe der Karnevalisten die Feiernden wie Domino-Steine der Reihe nach zu Fall bringen: ein angedeuteter Zweifel an der finalen Versöhnung, der nicht so recht überzeugen will, weil er szenisch zu unbestimmt bleibt. Eine verdienstvolle Inszenierung: Wer den „ganzen“ Wagner verstehen will, wer um die Wurzeln des Musikdramas wissen will, kommt am „Liebesverbot“ nicht vorbei.




Gala zu 25 Jahren Aalto-Theater: Norbert Lammerts Plädoyer für die Oper

Wird 25 Jahre: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Wird 25 Jahre alt: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

„Wacht auf“! Der Chor aus Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ hätte durchaus an den Schluss der Rede von Norbert Lammert gepasst. Nicht, weil dieser Appell an die Zuhörer bei der Gala zum 25-jährigen Bestehen des Essener Aalto-Theaters nötig gewesen wäre: Der Bundestagspräsident hielt sein Publikum gekonnt bei der Stange. Sondern weil sein leidenschaftliches, argumentativ brillantes Plädoyer für die Oper endlich einmal zum Aufwachen führen sollte.

Zum Aufwachen bei seinen Kolleginnen und Kollegen in der Kulturpolitik, die dem Musiktheater seit Jahren eine Krise nach der anderen einbrocken. Davon war bei der festlichen Gala im Aalto-Theater nichts zu hören. Verständlich: Man feiert zu Recht das Bestehende, freut sich am Gegebenen. Es muss nicht Krisen-Geraune über jedem Anlass zur Freude liegen.

Essen: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Einer der schönsten Theaterbauten Europas: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Und ein Grund zum Feiern ist das Jubiläum in der Tat: Essen besitzt mit dem Bau des finnischen Architekten einen der schönsten Theaterbauten Europas, wenn nicht sogar weltweit. Das betonte Oberbürgermeister Reinhard Paß zu Recht. Wohl kaum ein Essener Bürger wird vergessen, neben der Zeche Zollverein „das Aalto“ als kulturellen Leuchtpunkt der Stadt zu nennen. Die Festschrift zum Jubiläum, nach der Veranstaltung kostenlos verteilt, lässt zwischen blau-silbernen Buchdeckeln 25 Jahre Erfolgsgeschichte Revue passieren: Von der Eröffnungspremiere – natürlich „Die Meistersinger von Nürnberg“ – über die damals provokante erste von 18 Regiearbeiten Dietrich Hilsdorfs („Don Carlos“) bis hin zum Abschied von Stefan Soltesz mit Joachim Schlömers verstiegenem „Parsifal“.

Das Aalto hatte in diesen 25 Jahren drei Intendanten, drei Generalmusikdirektoren, drei Chordirektoren, drei Ballettchefs und drei Geschäftsführer: ein Zeichen von Solidität und kontinuierlicher Arbeit. Das Niveau in diesen Jahren ist unbestritten; die Auszeichnung „Opernhaus des Jahres“ 2008 ist nur ein Zeichen dafür, wie sehr das Aalto-Theater als eine der führenden deutschen Bühnen geschätzt wird.

Auch Nordrhein-Westfalen ist Theater-Krisenland

Aber: Man muss nicht nach Sachsen-Anhalt blicken, wo gerade eine von allen guten Geistern verlassene Landesregierung die Theaterlandschaft irreparabel zu schädigen plant und die Zukunftsinvestitionen Bildung und Kultur zusammenstreichen will. Auch Nordrhein-Westfalen ist ein Theater-Krisenland; da mögen sich die Kulturhauptstadt-Nachklänge noch so sirenenhaft entfalten: Die Kölner Opernkrise ist nach dem peinlichen Spiel um die Intendanz Uwe-Eric Laufenbergs mühevoll auf einem Niveau abgewendet, auf dem künstlerische Wagnisse kaum mehr finanzierbar sind. Die Oper Bonn muss unter ihrem neuen Intendanten Bernhard Helmich mit drei Millionen Euro weniger auskommen.

An der Deutschen Oper am Rhein herrscht Ruhe, so lange, bis die nächste Krisenrunde in Duisburg ansteht. In Gelsenkirchen wird in dem wunderbaren Bau von Werner Ruhnau dank des ungebrochenen Willens zur Kultur noch produktives Musiktheater gespielt – allerdings im Vergleich zu früher mit einem Rumpfprogramm, das zu unterschreiten seriös nicht mehr möglich ist. Hagen kämpft verzweifelt ums Überleben – und das schon seit Jahren.

Und in Wuppertal ist die – von politischer Seite sogar als mutig bezeichnete – Schließung des Schauspielhauses bittere Realität: Die Schauspieltruppe ist auf einen Zehn-Personen-Rest geschrumpft und auch die Oper wird unter ihrem neuen Intendanten Toshiyuki Kamioka, dem bisherigen Chefdirigent der Wuppertaler Sinfoniker, auf ein Niveau gekürzt, auf dem vielleicht noch ein Betrieb, aber kaum mehr künstlerische Herausforderungen bewältigt werden können.

Wuppertal steht exemplarisch für ein weithin beobachtbares Phänomen, das innere Aushöhlen kultureller Einrichtungen. Das liegt ja auch in Essen nicht fern: Auch das Aalto-Theater litt unter Kürzungsrunden. Ein Haus dieser Größe müsste sich eigentlich mehr als fünf Opernpremieren pro Spielzeit leisten können, von der fast verschwundenen Operette ganz zu schweigen. Aber das wagt kaum jemand mehr zu sagen – es könnte ja als undankbar gelten: Seien wir froh, dass wir noch so gut dastehen. Und wer weiß, wann die Theater und Philharmonie Essen (TuP) angesichts des Wetterleuchtens für den Essener Haushalt 2014 erneut mit dem falschen, aber dennoch wirksamen Totschlagargument konfrontiert wird, dass in Krisenzeiten „alle“ sparen müssten.

Harte Argumente für die Oper

Aufwachen also! Aber wie? Für die von Nothaushalten gebeutelten Städte, denen vor allem der Bund viele Kosten aufgebürdet, aber keine Entlastungen gewährt hat, ist diese Frage kaum zu lösen. Norbert Lammert ist als Bundestagspräsident weit weg von der kommunalen Kleinarbeit, aber nahe dran an denen, die große Linien vorgeben. Die Situation drängt nach der Frage: Wann kommt der Rettungsschirm für die Kultur? Die Kommunen alleine sind längst überfordert.

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Norbert Lammert hat sein Eintreten für die Oper mit harten Argumenten untermauert: Die Kunst- und Kulturlandschaft gehört zu den Pfunden, mit denen das Ruhrgebiet wuchern kann. „Die Ausgaben für Kunst und Kultur fließen mit bemerkenswerter Präzision in die heimische Wirtschaft zurück“, fasste er das Ergebnis vieler Studien der letzten Jahrzehnte zusammen. Es sind also nicht allein schöngeistige Argumente, die für die Oper sprechen. Die werden zwar höchstens von Kämpfern gegen die „elitäre“ Kultur angezweifelt – wie jüngst in Bonn u.a. von den „Piraten“ –, aber angesichts von Haushaltszwängen und Verteilungskämpfen dennoch gerne in die zweite Reihe abgeschoben.

Lammert wusste auch solchen Einwänden überzeugend zu kontern: Wer die angeblich elitäre Hochkultur nicht ausreichend öffentlich fördert, „verschärft den sozialen Ausschluss hochinteressierter, in der Regel aber nicht hochverdienender Kunstfreunde“. Und weiter: „Wer Kulturausgaben kürzt, gefährdet nicht Salzburg, sondern Hagen und Gelsenkirchen.“ Dafür war ihm der Beifall des Auditoriums sicher.

Kein Haushalt wird durch Kultur-Kürzungen solider

Auch was Lammert zu den finanziellen Belastungen durch Kulturausgaben erwähnte, ist längst bekannt, wird aber in den Debatten regelmäßig verdrängt: Zehn Milliarden jährlich geben Bund, Länder und Gemeinden jährlich für Kunst und Kulturförderung aus. Eine Menge Geld, aber gänzlich ungeeignet, um Haushalte zu konsolidieren. Der Anteil an den Gesamtausgaben liegt nämlich bei lediglich 1,7 Prozent – zu gering, um selbst bei drastischem Kürzen messbare Ergebnisse für öffentliche Haushalte zu erbringen. Für die Kultur dagegen ist die Bedeutung dieser Ausgaben immens – und man muss dazu ergänzen: lebensnotwendig. Lammert räumte auch mit der Sage auf, die staatliche Finanzierung könnte durch privates Sponsoring ersetzt werden: Gerade einmal ein Prozent der Theaterfinanzierung kommt aus privaten Mitteln – und die fließen meist in prestigeträchtige Projekte.

Für die Theater und Orchester in Deutschland mit ihrer beeindruckenden Bilanz – 35 Millionen Besucher jährlich, 105.000 Theateraufführungen, 84 Musiktheater mit mehr als 9.300 künstlerische Beschäftigten und 6.000 Opernaufführungen jährlich – werden gerade einmal 0,2 Prozent der öffentlichen Ausgaben aufgewendet. „Das müssen wir uns leisten, wenigstens dann, wenn wir eine Kulturnation bleiben wollen.“ Es wäre zu wünschen, dass – um bei Wagners „Meistersingern“ zu bleiben – Lammerts „Stimm‘ durchdringet Berg und Tal“, auf dass in der Welt der Kultur „die rotbrünstige Morgenröt‘ her durch die trüben Wolken geht“. Schade, würden diese Worte bei den Tausenden wohlmeinender, aber folgenloser Sonntagsreden zur Kultur abgeheftet.

Großbürgerlich erhaben: Jubel mit Wagner

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Dass der Rückblick auch mit Aufbruch verbunden ist, machte die Begrüßung durch den neuen Intendanten Hein Mulders deutlich: Spannendes Musiktheater und mitreißende Ballettabende versprach er für die Zukunft. Im künstlerischen Programm der Gala war davon noch nichts zu spüren. Früher hätte man für einen solchen Anlass unter Umständen eine neue Komposition in Auftrag gegeben; heute greift man auf Wagner zurück: Erhaben muss es sein, wenn großbürgerliche Weihe- und Jubelveranstaltungen zu untermalen sind. Dass der „Einzug der Gäste“ aus dem „Tannhäuser“ eine ziemlich verkniffene Gesellschaft schildert, wen kümmert’s? Es schmettert und marschiert so schön! Tomáš Netopil, der „Neue“ am Pult der Essener Philharmoniker, hat den Überblick und das Händchen fürs Rhythmische, kam mit Schwung und Präzision auf den Punkt, auch dank der kernigen Stimmen in Alexander Eberles Chor.

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

In „Wachet auf“ aus den „Meistersingern“ überzeugte der Aufbau der Dynamik. Doch an die „Walküre“ wird sich Netopil noch gewöhnen müssen: Fließend-transparenter Orchesterklang, aber ohne dramatische Gestaltung. Jeffrey Dowd, bewährtes „Urgestein“ im Aalto-Ensemble, sang einen lyrischen Siegmund; Anja Kampe holte sich als fein artikulierende Sieglinde herzlichen Beifall. Zum bunten Abschluss gab das Orchester Ben van Cauwenberghs „Bolèro“-Choreographie das strikte Gerüst. Auch das ein Zeichen: Im Ballett regiert die Kulinarik des Anstoßfreien, die smarte Verführung durch das Gängige. In diesem Sinne bewegten sich auch die Tänzer im fantastischen Bühnenbild Dmitrij Simkins. So wird es wohl bleiben, so lange Cauwenbergh alle die bedient, die nach der Aufführung vor allem „schön“ zu stöhnen belieben.

 

Die Festschrift. Foto: TuP

Die Festschrift. Foto: TuP

Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums hat das Aalto-Theater eine Festschrift und einen Dokumentarfilm veröffentlicht. Buch und DVD sind ab sofort im TicketCenter der TUP sowie an den Kassen des Aalto-Theaters und der Philharmonie Essen erhältlich. Der Preis beträgt jeweils fünf Euro.

Die 224-seitige Festschrift lädt ein zu einer Reise in die Vergangenheit des Opernhauses. Sie bietet eine umfangreiche Rückschau auf alle im Aalto-Theater gezeigten Inszenierungen, dazu enthält das Buch unter anderem viele Szenenfotos, Kurzporträts der Intendanten und Geschäftsführer, die am Haus gewirkt haben. Die 35-minütige Dokumentation des amerikanischen Filmemachers Sam Shirakawa auf der DVD widmet sich – unter anderem anhand von Archivmaterial und Interviews – der Geschichte und der Architektur des Hauses, aber auch dem Alltag im Theater.




Ruhrtriennale: Seltsame Rituale in Harry Partchs Instrumenten-Wunderland

"Zeit des gemeinsamens Vergnügens" heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto:

„Zeit des gemeinsamens Vergnügens“ heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Das erste Wort gönnen wir Karl Valentin: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Die Erkenntnis des Münchner Komikers und Sprachkünstlers kommt uns alsbald in den Sinn, wenn wir vor dem Bühnenbild stehen, das vor allem eine Anordnung überwiegend riesiger, seltsamer Instrumente zeigt, das „Orchester“ des amerikanischen Komponisten Harry Partch.

Darin wuseln Solisten herum, die gleichzeitig Musiker, Sänger, Schauspieler und Pantomimen sind. Die bisweilen winzig klein wirken, wie Arbeiterfiguren in einem Baukasten fürs experimentierfreudige Kind.

Zumal sie hauptsächlich in bunter Werktätigenkluft, teils hübsch-hässlich den Prekariatsstandard erfüllend, sich an ihren klingenden „Maschinen“ zu schaffen machen. Auf dass eine wahrhaft un-erhörte, sirrende, flirrende, motorische Musik erklinge. Mit Anlehnungen an asiatische und afrikanische Exotismen. Was alles einem großen Ritual gleichkommt, das Partch „Delusion oft the Fury“ betitelt hat. Integrales Theater heißt diese Mixtur aus Klang, Sprache, Szene und Licht im Fachjargon – Richard Wagner hatte 100 Jahre zuvor vom Gesamtkunstwerk gesprochen.

Und die Ruhrtriennale, Heiner Goebbels’ Experimentallabor des Theatralischen, hat dem Amerikaner nun in Bochums Jahrhunderthalle ein Podium gegeben. Wir staunen, horchen auf ob verquerer Rhythmen und neuer Tonwelten, ergeben uns einem exzessiven Ritual, das indes alsbald tönende Züge der amerikanischen Minimalisten trägt. Kurzum: Die anfängliche Faszination weicht dem Wunsch, nun doch zum Ende zu kommen.

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto:

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto: Schott-Archiv/Andersen

Wer war Harry Partch? Einer jener amerikanischen Komponisten, die, fernab der Traditionen des alten Europa, eine eigene musikalische Sprache suchten. Der dabei mindestens so radikal zu Werke ging wie sein Landsmann John Cage. Der das wohltemperierte System, das eine Oktave in fünf schwarze und sieben weiße Tasten unterteilt, scharf ablehnte und eigene Skalen entwickelte. Zugleich tüftelte und baute Partch an einem neuen Instrumentarium. Allem voran ein „Chromelodeon“, ein Harmonium, bei dem eine Oktave 43(!) Tonhöhen zählt. Andere Skurrilitäten heißen „Gourd Tree“, ein baumartiges Gebilde aus Kürbisflaschen, oder „Marimba Eroica“, ein riesiges Marimbaphon mit nur vier wuchtigen Klangplatten.

Schon dies lässt erahnen, dass es sich bei Partch um einen Freak der Musikszene handelte. Wie denn auch die meisten Figuren in seinem zweiteiligen Instrumentaltheaterstück „Delusion oft he Fury“ äußerst freaky daherkommen. Obwohl doch ernste Dinge verhandelt werden, einerseits der reuevolle Bußgang eines Mörders, zum anderen der aus einem Missverständnis herrührende Konflikt, der vor Gericht schiedlich-friedlich gelöst wird – wenn auch von einem nahezu taubblinden Richter.

Triennale-Intendant Heiner Goebbels erlaubt sich hier als Regisseur eine amerikakritische Spitze, indem er den Richter als übergroße „Kentucky Fried Chicken“-Pappfigur zeichnet. Die Anspielung, dass auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten das Fressen vor der Moral kommt, hätte Partch gewiss gefallen. Er selbst, 1901 geboren, erlebte in den USA die „Große Depression“ der 30er Jahre, schlug sich zeitweise als Hobo durch. Solcherart Landstreicher wird im zweiten Teil von „Delusion“ übrigens zur Hauptfigur. Dort mümmelt er, taub und arm, im Wasser sitzend, sein karges Mahl. Im Disput mit einer Ziegenhirtin kommt es zum oben erwähnten Konflikt. Am Ende aber wird der große Versöhnungsgesang angestimmt: „Pray for me“. Ob die rot ausgeleuchtete Bühne (Klaus Grünberg) nebst kleiner Flämmchen eine Art Vorhölle sein soll?

Das Instrumentarium als Werkbank. Foto:

Sonderbares Instrumentarium als Werkbank im hellen Licht. Foto: Wonge Bergmann, Triennale

Manches mag nach geschäftiger Aktion klingen, doch alles geschieht in höchster Strenge. Die Buße und Läuterung eines Mörders lässt Elemente des japanische No-Theaters erkennen – Klangfarben, die Gewandung der Hauptfigur und die rituelle Bedeutung fließenden Wassers deuten darauf hin. Der zweite Teil trägt hingegen afrikanische Züge. So gesehen, hat auch Partch nicht im luftleeren Raum gearbeitet.

Schwer zu tun hat zudem, in vielfältiger Funktion, das Ensemble musikFabrik. Anziehen, umziehen, schreiten, umherhuschen, singen, sprechen, musizieren – ein Mammutprogramm. Damit nicht genug: Partchs Original-Instrumentarium musste Stück für Stück nachgebaut werden – für Thomas Meixner und sein Team eine Herkulesarbeit.

So steht an diesem Abend Bewunderung neben Verstörung. Das letzte Wort geben wir dem Rockmusiker Frank Zappa: „Ich mag den Klang der Instrumente … aber gleichzeitig denke ich, das Zeug läuft und läuft und läuft und läuft und läuft zu lange.“




Gestochene Klarheit: Nikolai Tokarev beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim

Um mal gleich die Kleiderfrage zu beantworten: Beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim trat Nikolai Tokarev im schwarzen Hemd über nur wenig hellerer Hose an den Flügel. Keine Nadelstreifen, keine Chucks, und beim gut gelaunten Signieren nach dem Konzert ein eng anliegendes, helles Shirt.

Soweit die Nebensächlichkeiten, nun kann folgen, worum es jenseits der Styling-Masche eigentlich gehen soll: Der Pianist, mittlerweile dreißig Jahre alt, setzte nicht (nur) auf Glamour und die sichere Wirkung seines bravourösen Spiels. Sondern nahm sich mit Beethovens Opus 111 eine der heikelsten Sonaten der Klavierliteratur vor. Problematisch nicht so sehr durch technische Schwierigkeiten, sondern durch eine lange Interpretations- und eine philosophisch überhöhte Rezeptionsgeschichte: Was wurde nicht alles in Beethovens letzten Beitrag zur Gattung der Klaviersonate hineingedeutet!

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Tokarev spielt – und das zeigt der prüfende Blick in die Noten – so nah wie möglich an Beethovens Text. In der „Maestoso“-Einleitung fordern die ersten Takte sogleich einen Wechsel zwischen forte und piano, dazwischen einen heftig betonten Triller („sforzando“) und eine rhythmisch pointierte Pianissimo-Kette. Tokarev überspielt nicht mit dem „großen“ Ton diese differenzierten Details, sondern versucht sie einzuholen, pflegt dafür einen unvernebelten Anschlag, der klar macht, warum er an den Konzertanfang Bachs e-Moll-Toccata BWV 914 gesetzt hat: Die strukturelle Transparenz im Werk des einzigartigen Kontrapunktikers ist auch der Maßstab für den Zugang zu Beethoven.

Man mag sagen, diese Lesart rücke das „brio“ und das „appassionato“ des Allegros in den Hintergrund. Doch die gestochene Klarheit, ein volltönender, farbrauchfreier Ton, die bestechend dynamische Differenzierung und die sinnstiftende Beachtung des „ritenente“, einem leichten Nachgeben des Tempos in Übergängen lässt – im Gegenteil – die dramatische Beredsamkeit dieses Satzes noch schlüssiger, noch unmittelbarer hervortreten.

Die Arietta beginnt Tokarev mit dem erhabenen Leuchten einer tragischen Gluck-Arie; man ist geneigt, die Winkelmann’sche Formel von der edlen Einfalt und stillen Größe zu zitieren, von der Beethovens Ästhetik wohl nicht unberührt geblieben ist. Tokarev betont weniger das Legato als das rhythmische Glasperlenspiel, das er – mit Igor Strawinsky im Kopf und Friedrich Gulda vor dem inneren Ohr? – bis zum Ragtime-Rhythmus der dritten Variation radikalisiert: Befremdlich, aber genau gelesen.

Am Ende, in fast unerträglich langen, brillant artikulierten Trillern, stellt er Beethovens insistierende Energie noch einmal ungeschützt aus, bis er das Stück pianissimo mit mattem Sforzando-Aufbäumen verklingen lässt. Die Suche nach der musikalischen Wahrheit, die Tokarev vor fünf Jahren im Eröffnungskonzert des Klavier-Festivals mit Schubert und Liszt demonstriert hat, die auch seine CD-Aufnahmen mit wechselndem Erfolg belegen, die führt er nun mit Beethoven auf einem faszinierenden individuellem Weg fort.

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Manuelles hält ihn dabei nicht auf, auch wenn zwei, drei Mini-Blackouts die menschlichen Grenzen von Tokarevs viel gepriesenem, überlegenem Klavierspiel markieren. Wenn der Virtuose in ihm erwacht, gibt es für die glühende Rasanz seiner Hände, für den voluminösen Klang seines Anschlags kein Halten mehr. Das geeignete Material stammt, zum Leitmotiv des Klavier-Festivals passend, von Jahres-Genius Richard Wagner.

Die „Wagneriana“ von Tokarevs Freund Alexander Rosenblatt sind, glaubt man den Schott-Internetseiten, sogar eine Uraufführung gewesen. Das gut viertelstündige, vor Klangopulenz schier berstende Stück verarbeitet Themen von Tannhäuser über Tristan bis zum Fliegenden Holländer. Der russische Komponist des Jahrgangs 1956 ruft manuelle Reminiszenzen an die alte Virtuosenliteratur auf, bezieht sich augenzwinkernd auf Liszts raffinierte Schaustücke. Von der schwärmerischen Arabeske bis zur unendlich zelebrierten Chromatik sind Bezüge zur Salonmusik unüberhörbar. Das gibt dem Stück den ironischen Touch, der es vor der Banalität rettet. Wer vor Venusrausch und Geisterquinten im Salon keine Scheu hat, wird mit Vergnügen folgen, wer darüber nicht froh werden kann, entwickelt rasch Überdruss.

Tokarev widmet sich dem Werk mit der Passion, mit der er 2006 schon Goldenblatts Paganini-Variationen beim Klavier-Festival gespielt hat – nachzuhören auf der CD des Jahrgangs. Die symphonischen Episoden aus Wagners „Ring“ von Sergej Pavtschinski (1909 bis 1976) hatte Tokarev bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2005 in Düsseldorf schon einmal vorgestellt. Sie beweisen ein weiteres Mal, wie aussichtslos es ist, den Zauber von Wagners Orchesterklang auf den Flügel reduzieren zu müssen. Es webt und klingt nichts; das dürre Gerüst von Wagners Motiven, Melodien und Materialbruchstücken verbreitet keinen Bann.




Krachledern: Liszts Wagner- und Verdi-Bearbeitungen beim Klavier-Festival Ruhr

Große Geste: Pianist Boris Bloch. Foto: KFR/Mohn

Große Geste: Pianist Boris Bloch. Foto: KFR/Mohn

Richard Wagner und Giuseppe Verdi in aller Form zu würdigen, zu beider 200. Geburtstag, ist für Opernschaffende ein Leichtes. Beide Komponisten definieren sich ausschließlich über ihr musikdramatisches Schaffen, andere Gattungen rangieren unter „ferner liefen“. Wenn sich also das Klavier-Festival Ruhr diesen Monolithen des 19. Jahrhunderts angemessen nähern will, bleiben nur Umwege. Der wichtigste Pfad führt über den seinerzeit herausragenden Pianisten Franz Liszt, der im übrigen 1870 Wagners  Schwiegervater wurde.

Liszt entpuppte sich im Laufe seiner Auftritte am Klavier nicht zuletzt als Meister der Paraphrasen, Transkriptionen, Fantasien. Als Vorlagen dienten ihm auch die Opern Wagners und Verdis. Der Zweck dieser Übungen in akrobatischer Virtuosität dürfte ein doppelter gewesen sein: das komplexe musikdramatische Werk in handlicher Form unters Volk zu bringen, den Ruhm Liszts selbst als Dompteur seiner Musik zu mehren. Er protegierte andere und pflegte seine zweifellos vorhandene Eitelkeit.

Das Transkriptionenwerk in toto aufzuführen würde wohl bedeuten, eine extra Konzertwoche auf die Beine zu stellen. Immerhin hat sich das Klavier-Festival zu einem fünfstündigen Marathon entschlossen (incl. Pausen). Kein Problem zumindest für eingefleischte Wagnerianer, die in dieser Zeit mal eben einen „Tristan“ absitzen. Doch vier Konzerte und ein Zugabenblock mit Verdis Dramatik, Wagnerscher Wucht und Lisztschem Wirbeln ist schon ein harter Brocken. Nun, es war möglich, nur einzelne Konzerte zu buchen.

Viele aber harren aus an diesem Nachmittag in Essens Haus Fuhr. Ergeben sich drei Pianisten, die vor Kraft strotzen, in nahezu virtuosem Wahn die Tastatur durchpflügen. Wie der Ukrainer Boris Bloch, der den „Tannhäuser“-Pilgerchor in Liszts Transkription zwar als würdevolles Schreiten beginnt, sich aber in einen Handkantenbruitismus steigert, der uns offenbar schon mal gewöhnen soll an die vorherrschende Lautstärke der Deutungen. Oder wie der Weißrusse Yuri Blinov, der das „Meistersinger“-Vorspiel (in Zoltán Kocsis’ Fassung) geradezu hinrichtet. Oder wie der Kölner Michael Korstick, ein bisschen an den Noten hängend, der den „Einzug der Gäste auf der Wartburg“ (Tannhäuser) bedingt festlich, umso mehr grobschlächtig zelebriert. Ja, die drei Herren am Klavier lassen es ordentlich krachen.

Es ist ein schweres Wagner-Liszt-Gewitter, das uns zunächst überwältigt – Musik als gesichtsloses Virtuosenfutter. Dabei teils derart eigenwillig, manieriert gespielt, dass der Verdacht aufkommt, Liszt hätte seinen Protegée karikieren wollen. Vor allem Bloch inszeniert großes Drama, Subtiles hat kaum eine Chance, und wenn, gerät es unangenehm sentimental („Am stillen Herd“/Meistersinger). So gedeutet und betrachtet, wird verständlich, dass Wagner von manchen bis heute in die monströse Ecke gestellt wird.

Mit stetem Blick in die Noten: Pianist Michael Korstick. Foto: KFR/Mohn

Mit stetem Blick in die Noten geht Pianist Michael Korstick eifrigst zu Werke. Foto: KFR/Mohn

Immerhin: Der Himmel lichtet sich ein wenig, wenn wir in Verdis Sphären vordringen. Michael Korstick spielt Liszts Bearbeitung von „Danza Sacra e Duetto Finale“ (Aida) eher verhalten und einigermaßen sensibel. Dass dieses letzte Duett der Oper allerdings vom Tod handelt, ist bestenfalls zu erahnen. Korstick zerdehnt das Liebesthema, nimmt dem Drama seine Wirkung. Boris Bloch übrigens interpretiert das Stück ebenfalls, es klingt weniger brüchig und das Tänzerische gewinnt mehr rhythmisches Profil.

Überhaupt scheint Bloch in Verdis Welten etwas sicherer zu Werke zu gehen. So beginnt Liszts Paraphrase auf das „Rigoletto“-Quartett (Bella figlia dell’amore) zwar sanft melodisch, doch der Pianist braucht nicht allzu lange, um in gewohnt brachialer Manier das Stück auf Effekt zu bürsten, offenbar, um Liszt noch übertreffen zu wollen.

Am Ende dieses außergewöhnlichen Konzert-Formats, das Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg als Experiment ankündigte, klingeln uns die Ohren. Diese Musikdosis reicht für die nächsten 24 Stunden. Ärgerlicher aber ist, dass mit der Zahl der falschen Töne, die wir ertragen müssen, noch ein Öperchen hätte komponiert werden können. Insofern haben drei Pianisten drei berühmten Komponisten nichts als Bärendienste erwiesen.




Dem „Meister“ entkommt man nicht: Klavierduo Tal/Groethuysen würdigt Wagner

Sympathie-Bonus für das Klavierduo! Yaara Tal und Andreas Groethuysen kamen zum Klavier-Festival mit einem Programm, das genau auf das Thema dieses Jubiläumsjahres abgestimmt war.

Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: Uwe Arens

Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: Uwe Arens

In der Philharmonie Essen kombinierten sie Wagner, übertragen auf zwei Klaviere, mit Debussy, durchleuchteten damit berühmte Ausschnitte aus Opern des „Meisters“, stellten ihm die ganz andere Musik Claude Debussys zur Seite. Der Franzose ist einer der Vielen, die sich vom Sog der Wagner’schen Musik freischwimmen mussten und doch dem Strudel nicht  ganz entkamen.

Die Transkriptionen für zwei Klaviere sind mehrfach erhellend: Da überrascht eine Bearbeitung von „Siegfrieds Tod“ und vom Finale der „Götterdämmerung“ von Alfred Pringsheim, einem Münchner Mathematikprofessor und flammendem Wagnerianer, mit einer Professionalität, die sich durchaus messen kann mit der Fassung des „Bacchanale“ aus dem „Tannhäuser“ aus der Hand des renommierten französischen Komponisten Paul Dukas.

Die Philharmonie Essen: Das Klavier-Festival Ruhr ist häufiger Gast. Foto; Werner Häußner

Die Philharmonie Essen: Das Klavier-Festival Ruhr ist häufiger Gast. Foto: Werner Häußner

Die Fäden, die sich zwischen Wagner und Debussy spinnen, werden nicht so sehr in dessen Arrangement der „Holländer“-Ouvertüre deutlich, sondern eher, wenn Tal und Groethuysen „Siegfrieds Tod“ mit „En blanc et noir“ konfrontieren. Dann ist zu hören, dass Debussy 1915 – mitten im Ersten Weltkrieg – den Luther-Choral von Gott als der festen Burg zitiert und das rhythmische Todespochen zu Beginn von Siegfrieds Trauermarsch wörtlich übernimmt. Schwarz und Weiß – Freund und Feind? Man darf spekulieren. Yaara Tal hat sich nicht damit begnügt, sondern das nicht eben häufig zu hörende Klavierstück in einer klugen Analyse als Reaktion auf den Krieg gedeutet: „Schwarz“ und „Weiß“ sind hier tatsächlich nicht nur die Klaviertasten, sondern die Gegner im Kampf.

Das „Prélude à l’après-midi d’un faune“ schließt sich der musikalisch-erotischen Gischt des „Tannhäuser“ reibungslos an: Die lastend-laszive Atmosphäre wirkt wie eine Antwort auf die erschöpfte Beruhigung am Ende von Wagners Bacchanale. Tal und Groethuysen lassen spüren, wie selbstverständlich sie sich nach mehr als 25 Jahren gemeinsamen Spiels in minimalsten Nuancen verständigen können. Sie zeigen aber auch, wie skelettiert Wagners Kompositionen wirken, nimmt man ihnen die Magie des Orchesterklangs. Im süßen Pianissimo von Isoldes Liebestod aus der bearbeitenden Feder Max Regers erstirbt ein Konzert, das Freude gemacht hat: ein intelligentes Programm, zwei überzeugende Solisten.

(Der Bericht erschien in ähnlicher Form in der WAZ Essen)

 

Zum Nachhören: CDs mit Yaara Tal und Andreas Groethuysen:

Richard Wagner, Piano Transcriptions for four hands, Sony (1997)

Götterdämmerung, Transkriptionen von Wagners berühmtesten Opern für zwei Pianisten, Sony (2013), Preis der deutschen Schallplattenkritik




Sophie-Mayuko Vetter zelebriert beim Klavier-Festival Ruhr die Klangfarben der Melancholie

Die Pianistin Sophie-Mayuko Vetter, mit verharrender Hand dem Klang nachspürend. Foto: Mark Wohlrab

Die Pianistin Sophie-Mayuko Vetter, mit verharrender Hand dem Klang nachspürend. Foto: KFR/Mark Wohlrab

Manchmal gibt es diese Abende. Die uns noch eine Zeit lang beschäftigen. Die nachwirken ob dessen, was es zu hören gab. Die dem Publikum Konzentration und Geduld abverlangen, außerdem die Bereitschaft, mehr zu wollen als pure Unterhaltung. So wie jetzt beim Auftritt der Pianistin Sophie-Mayuko Vetter, deren Programm sich als überwiegend dunkel tönender musikalischer Kosmos entpuppt. Wo Disparates auf lineare Poesie trifft, Melancholie auf trotziges Aufbegehren.

Vetter widmet sich, als Gast des Klavier-Festivals Ruhr, einem Werkkanon, der abseits jener üblichen Beethoven-Chopin-Schumann-Linien anzusiedeln ist, die uns allenthalben entgegen tönen. Sie erkundet die  schwärmerische, nachtschwarze, todesnahe Seite der Romantik und wagt, davon ausgehend, einen Blick zur Moderne. Das geschieht ohne nennenswerte körperliche Außendarstellung, nur manchmal schweben der Pianistin Hände über der Tastatur – wie ein kurzes Innehalten, um dem gerade Erklungenen noch mehr Nachdruck zu verleihen. Ohnehin scheint sie mit der Musik verwachsen,  mit dem Wechselspiel von Akkorden, Phrasen und Harmonien fest verwoben.

Der Auftritt der Deutsch-Japanerin in Holzwickede (Haus Opherdicke) ist jedenfalls von bezwingender Intensität. Wenn sie Richard Wagners kaum gespielte As-Dur-Sonate interpretiert, des Komponisten Liebeserklärung an Mathilde Wesendonck, dann entwickelt Vetter aus größter Ruhe heraus eine mehr und mehr ungezügelte Schwärmerei, verbunden mit sublimer Farbgebung. Und bereits dieser Beginn macht deutlich, dass die Solistin aus innerer Notwendigkeit heraus all ihr Können in die Waagschale legt. Um dem Publikum zu sagen, dass Musik hören mehr ist als nur Plaisir.

Es mag auch kein Vergnügen aufkommen, wenn Liszts Trauermusik „Am Grabe Richard Wagners“ aufklingt, stockend und düster, das Grübeln über den Tod inbegriffen. Oder wenn Liszts Spätwerk „Unstern. Sinistre. Disastro“ ertönt – des alten Meisters dumpfes Grollen und stampfendes Klagen über das Wüten der Welt sowie sein sanftes Singen über die Einsamkeit. Natürlich reizt die Pianistin hier die dynamische Bandbreite voll aus, doch nie wirkt ihr Spiel in dem kleinen Saal knallig. Und alles ist zuerst Klang.

Das verwundert kaum, denn Sophie-Mayuko Vetter hat auch ein Studium des Obertongesangs absolviert. Jener Technik also, die aus einem Ton gewissermaßen Ableitungen herausfiltert, sodass der Höreindruck von Mehrstimmigkeit entsteht. Diesen Umgang mit Klang hat sie auf bestechende Weise auf ihr Klavierspiel übertragen. Und in einem Stück wie Peter Ruzickas „Über Unstern. Späte Gedanken für Klavier“ kann sie ihre Sensibilität für die Farben einer Musik voll ausspielen. Hinzu kommt, dass Vetter sich mit Ruzickas Klavierwerk seit jeher intensiv beschäftigt hat.

Die Pianistin, ganz entspannt. Foto: KFR/Mark Wohlrab

Die Pianistin, ganz entspannt. Foto: KFR/Mark Wohlrab

„Über Unstern“ ist eine Reflexion auf die gleichnamige Liszt-Komposition, im Auftrag des Klavier-Festivals geschrieben. Das Stück erfährt an diesem Abend seine Uraufführung. Ruzicka hat im Prinzip originales Material verwendet, um es im nächsten Moment zu verfremden. Liszts düsteres Grollen wird mit harten Diskantschlägen konterkariert. Verdichtungen werden noch enger zusammengepresst, dann entlädt sich die Spannung in wilden Figuren. Wo Liszt Zeitläufte reflektiert, schildert Ruzicka das Weltenwüten selbst, das sich am Ende in quirligen Tonumspielungen auflöst, wie Messiaens farbentrunkenes Vogelgezwitscher. Vetter interpretiert das großartig und wir geben uns dieser rauschhaften Musik vorbehaltlos hin.

Hans Werner Henzes „La mano sinistra“ wirkt dann wie ein melancholischer Nachklang. Das Stück für die linke Hand, Leon Fleisher gewidmet, entwickelt sogar einen Hauch von lichter Transparenz mit harmonischen Farbspielen. Doch Akkorde, die wie ein Fanal wirken, stehen jeder freundlichen Stimmung im Weg. So bleibt am Ende, mit Brahms’ späten Klavierstücken (Opus 117/118), die Suche nach Trost im Melancholischen, die Hoffnung nach Erlösung von Resignation und Einsamkeit. Hier indes stößt Vetters klangbetontes Spiel an seine Grenzen. Um des Nachhalls willen geht die Stringenz bisweilen verloren. Dann schrumpft dunkel tönendes Melos zu einer Ansammlung von Aphorismen. Die Frage, die sich daraus ergibt, kann allerdings nur jeder für sich selbst beantworten: Mindert oder steigert das Verharren die Spannung?

Nun, für uns hat sich Sophie-Mayuko Vetters Klavierabend als einzig spannendes Abenteuer erwiesen. Eines, das noch eine Weile nachwirkt.

 

 

 




Benjamin Moser pflegt beim Klavier-Festival in aller Bescheidenheit das musikalisch Ernste

Der Pianist Benjamin Moser. Foto: KFR

Der Pianist Benjamin Moser. Foto: KFR

Benjamin Moser ist der Typ eines Pianisten, der sich selbst am wenigsten in den Vordergrund stellt. Der weder hyperventilierend-virtuos die Tastatur durchpflügt, noch in einer Art Trancezustand die Gesetze der Langsamkeit erforschen will. Der junge Münchner ist vielmehr ein Künstler mit bezwingender Musikalität, ein Diener des Notentextes. Nur manchmal verfällt er seiner Bescheidenheit, spielt dann derart akkurat, dass wir ihm mehr interpretatorische Freiheit wünschen wollen.

Zum zweiten Mal ist Moser nun Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und er beginnt sein Konzert im Bottroper Kulturzentrum August Everding mit einer Hommage an Richard Wagner, dessen 200. Geburtstag derzeit gefeiert wird. In Form des „Tristan“-Vorspiels, in der Bearbeitung des berühmten ungarischen Pianisten Zoltan Kócsis. Es ist ein schwieriges Unterfangen, denn diese Sehnsuchts- und Begehrensmusik entfaltet ihren Reiz eigentlich nur als Orchesterstück. Moser gibt alles, um die Gefühlsseligkeit in Fluss zu halten, gleichzeitig die radikal neue Harmonik zu betonen. Dennoch wirkt die Klavierfassung brüchig. Dem Interpreten indes ist das nicht anzukreiden.

Einmal den romantischen Pfad beschritten, bleibt der Pianist dem Weg treu. Setzt aber auf harsche Kontraste. Denn Schumanns „Kinderszenen“ wirken im Gegensatz zu Wagner nachgerade leicht und locker. Doch im Einfachen, im schnell skizzierten Charakterstück, liegt oft das Schwerste. Mosers Mimik zeigt, was er will: sanften Passagen  eine heitere und keine kitschige Note geben, das Gewichtige nicht erdrücken. Und am schönsten klingen diese „Szenen“ dort, wo der Solist die Farben der Klänge durchschimmern lässt.

Johannes Brahms’ 1. Sonate ist hingegen von ganz anderem Kaliber. Dunkel und schwer, ein viersätziges Sturm-und-Drang-Opus, groß dimensioniert, in seinen Höhepunkten ein Werk symphonischer Wucht. Zu Recht schätzte Schumann die Musik des jungen Kollegen als revolutionär ein. Und Moser hat als Interpret alle Hände voll zu tun, um den Spannungen und Fallhöhen gerecht zu werden. Es braucht seine Zeit, bis der Pianist in den bisweilen herben, dann melancholischen, ernsten Tonfall hereingefunden hat. Manches klingt in der Akzentuierung noch unausgewogen. Er ringt, wie einst Brahms mit der Materie gerungen hat.

Doch welche Ruhe geht von Moser aus, wenn er Schuberts letzte Sonate (B-Dur) in aller Schlichtheit aufblühen lässt, sodass wir reine Schönheit hören. Der Pianist formuliert beinahe andächtig die einfachen, innigen Melodien, lässt sie atmen und nachklingen. Musik für die Seele ist das, und Moser hütet sich, Heiteres ins Überbordende zu treiben. Denn Schubert war es, der feststellte, er kenne keine fröhliche Musik.

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ-Ausgabe Bottrop erschienen).




Zwischen Popularität und Wagnis – der neue Spielplan des Dortmunder Theaters

Theater Dortmund - Gebäude -

Die Oper, die Dortmund verdient. Foto: Theater

Eine Dame und fünf Herren. Das Leitungssextett des Dortmunder Theaters gibt sich die Ehre zur Verkündung des neuen Spielplans. Ein 75 Minuten langer, sechsfach unterteilter Vortrag über Eckdaten, Produktionen, Programmprinzipien, über die Bedeutung des Hauses für die Stadt. Inklusive einiger dürrer Zahlen. Eine Pressekonferenz könnte spannender sein. Doch hinter allen Fakten verbergen sich interessante Details.

Bettina Pesch, geschäftsführende Direktorin des Theaters, ist die Herrin der Bilanzen. „Es geht wieder mal aufwärts“, verrät sie. 350.000 Euro Mehreinnahmen in allen Sparten, ein Auslastungsplus von 1,5 Prozent für die Oper oder plus 7 Prozent fürs Schauspiel seien Belege für solcherart Optimismus. Bezugsgrößen für diese Zahlen nennt sie nicht. Und Pesch muss konstatieren, dass die Stadt zwar die Tariferhöhungen 2013 fürs Personal ausgleicht, zudem aber einen Konsolidierungsbeitrag von 510.000 Euro einfordert. Dies gelte indes nur für die Saison 2013/14. „Weitere Einsparungen sind nicht machbar, sie gingen an die Substanz des Hauses“, sagt Pesch.

Wie die einmalige Konsolidierung aussehen soll, wo also ein Abzwacken noch möglich ist, bleibt offen. „Wir sparen nicht an der Kunst“ ist das Credo und dann verrät Pesch, sie habe auch ihre Tricks. Nun, abseits dieser sonderbaren Aussage bleibt festzuhalten, dass es im Musiktheater zwei Produktionen weniger geben wird: keine konzertante Oper, kein Werk der (klassischen) Moderne. Zwei Linien, die Intendant Jens-Daniel Herzog zu Amtsbeginn vorgegeben hat, sind erst einmal gekappt.

Immerhin: Im Doppeljubiläumsjahr zu Ehren von Richard Wagner und Giuseppe Verdi stehen zwei gewichtige Premieren an. Herzog selbst inszeniert „Don Carlo“ (Übernahme von Mannheim) und Schauspielchef Kay Voges wagt sich an den „Tannhäuser“. Eilig versichert er, es werde keine Nazis auf der Bühne geben. Andererseits wird betont, die Konstellation dokumentiere die gute Zusammenarbeit zwischen den Sparten des Dortmunder Hauses.

Szene aus dem Mannheimer "Don Carlo". Foto: Theater

Szene aus dem Mannheimer „Don Carlo“. Foto: Theater

Insgesamt sei angemerkt, dass der Opernspielplan,  um es dezent auszudrücken, populär ist. „Carmen“ und „La Cenerentola“, „Der Graf von Luxemburg“ und „Anatevka“ – Repertoire-Raritäten suchen wir vergebens. Dass Herzog Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ dramatisiert, sei aber als Besonderheit durchaus erwähnt. Und dass sich die Junge Oper in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater des „Carmen“-Stoffes annimmt, darf ebenfalls als Zeichen guter Nachbarschaft gewertet werden.

Neu im Boot der Nachbarn ist Gabriel Feltz als Chef der Dortmunder Philharmoniker. Er gibt sich sachlich, beschwört keine visionären Ideen, ja bremst sogar die Erwartungen. „Es gab Anfragen, ob die Philharmonischen Konzerte nicht wieder an drei Abenden stattfinden könnten“, sagt Feltz. Doch er wolle erst einmal in Dortmund ankommen. Dort wird er drei Opernpremieren dirigieren, fünf der zehn „Philharmonischen“ sowie diverse Sonder-, Jugend- oder Familienkonzerte. Das klingt nach gehöriger Präsenz, aber sein Vorgänger Jac van Steen war im Grunde nicht weniger fleißig. Gleichwohl hat die Stadt ihn unsanft aus dem Amt gedrängt. Pech gehabt.

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Ein Glücksjunge hingegen ist Ballettdirektor Xin Peng Wang. Die Sparte ist beliebt, die Compagnie wird international beachtet, das Programm zeugt stets von üppiger Fantasie. Dementsprechend launig verkündet er die Premieren der neuen Saison als opulentes, schmackhaftes Mehrgangmenü. Und vor allem die Hauptspeise hat es in sich: Wang selbst setzt Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in Szene. Die Choreographie wolle Menschenschicksale zeigen in der so schönen wie geisterhaften Stadt Wien. Mit Musik von Johann Strauss und Alban Berg, also mit übersprudelnden, prachtvollen wie brüchigen, morbiden Klängen.

Hier der Blick nach draußen, sonst aber stets der Hinweis, dass das Theater als Ganzes sich in der Stadt verorten müsse. Was niemand so konsequent angeht wie  Schauspielchef Kay Voges. Mit „Stadt der Angst“ will die Bühne das Ende der Leistungsgesellschaft einläuten – mit Hilfe einer Lichttherapie. Das klingt so kryptisch wie spannend. Ein Wagnis mit Intensität, denn an drei Tagen werden sechs Premieren, Vorträge und Diskussionen offeriert.

Andere Abgründe kommerzieller Art will wiederum Kristof Magnussons Komödie „Männerhort“ ausloten. Ein Blick auf weiblichen Shoppingwahn und die kleinen Fluchten des Mannes. Ein Spiel, das sich nur wenige Meter von Dortmunds Thier-Galerie ereignen wird, wie Voges eigens betont. Neben dem Premierenreigen – von „Peer Gynt“ bis „Der Elefantenmensch“ – setzt er auf Neues. Auf Stücke in türkischer Sprache (Kooperation mit Mülheim), auf Lesungen aus der Bloggerszene, auf eine Herbstakademie für Jugendliche.

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Erste Adresse für diese Zielgruppe ist das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das Andreas Gruhn nun in die 15. Spielzeit führt. In all den Jahren konnte er einen Publikumszuwachs von fast 26.000 auf 35.000 Besucher verbuchen.  Eine Erfolgsgeschichte, die sich auch nach 2015 fortsetzen soll, wenn die Spielstätte an der Sckellstraße aufgegeben werden muss, wenn möglicherweise ein neues Domizil neben dem Schauspielhaus entsteht. Zunächst aber bietet die neue Saison acht Premieren – Stücke, in denen etwa die Themen Liebe und Sexualität, Mobbing oder virtuelle Kriegsspiele verhandelt werden. Märchenhaftes wird das Programm ergänzen, ein Werk soll in Kooperation mit dem Jugendclub produziert werden.

Ja, die Dortmunder Bühnen haben in der Spielzeit 2013/14 einiges zu bieten. Doch vor allem die musiktheatralische Abteilung ächzt unter den Altlasten schlechter Intendanzen, ringt um jeden Zuschauer. Die Auslastung in der Saison 2011/12 liegt hier bei gut 53 Prozent. Dass Intendant Jens-Daniel Herzog den Satz in die Runde wirft, „Die Stadt hat die Oper, die sie verdient“, ist Ausdruck trotzig-optimistischen Nachvornblickens. Andererseits: Eine Kommune, die Millionen in einen „Kulturleuchtturm“ namens U pumpt, dem Theater aber kalt lächelnd das Geld aus der klammen Kasse zieht, bekommt eben die Oper, die sie verdient.

Alles zum Programm der Spielzeit 2013/14 unter www.theaterdo.de