Die vielen Lügen entlarven – Europas Faktencheck-Teams schließen sich zusammen

Seit 23. Februar online: Screenshot der neuen GADMO-Faktencheck-Homepage.

Eigentlich zutiefst betrüblich, dass so etwas nötig ist, aber: Faktenchecks werden in diesen Zeiten dringend gebraucht. Spätestens seit Corona ist es bekannt, erst recht seit Russlands Kriegsüberfall auf die Ukraine.

Es sind viel zu viele Lügen und Fälschungen auf dem medialen Markt und in den „sozialen Netzwerken“ unterwegs, die nicht so ohne weiteres entlarvt werden können, sondern nach journalistischer und sonstiger Expertise sowie hartnäckiger Recherche verlangen. Nun gibt es einen professionellen Zusammenschluss auf europäischer Ebene, der sich genau dies zur Aufgabe gemacht hat. Gegenwärtig sind in diesem Rahmen rund 100 spezialisierte Journalistinnen und Journalisten vorzugsweise in Sachen Faktenchecks tätig. Das Projekt, das wissenschaftlich begleitet („evaluiert“) werden soll, wurde jetzt auf einer von der Dortmunder Uni (TU) eingerichteten Online-Pressekonferenz vorgestellt.

Zertifizierung nach strengen Regeln

Beteiligt sind im deutschsprachigen Raum (ohne Schweiz) die Deutsche Presseagentur (dpa), deren österreichisches Pendant APA, das in Essen angesiedelte Recherche-Netzwerk Correctiv, das Institut für Journalistik sowie Statistiker der TU Dortmund und – als Verbindungsglied zu Europa – die französische Nachrichtenagentur Agence France Presse (AFP). Auch IT-Fachleute sind mit an Bord. Der deutsch-österreichische Zweig des kontinentalen Projekts nennt sich abgekürzt GADMO (German-Austrian Digital Media Observatory), informiert über eine nagelneue Homepage (gadmo.eu) und geht mit je eigenen Ressourcen, aber auch namhaften EU-Mitteln an den Start. Alle Beteiligten sind nach den strengen Faktencheck-Kriterien des IFCN zertifiziert.

Über 14 sogenannte Hubs (Knotenpunkte) werden sämtliche EU-Mitgliedsländer einbezogen, sogar (man muss es leider eigens betonen) Ungarn, wo gesteigerter Bedarf wahrlich gegeben ist. Als Nicht-EU-Länder bleiben Großbritannien und die Schweiz allerdings außen vor. Man kann nur hoffen, dass sie auf andere Weise Anschluss finden und sich zu helfen wissen.

Angesichts der vielen Beteiligten kann es passieren, dass dieselben Themen mitunter mehrfach untersucht werden. Kein Problem, wie es heißt. Vielleicht erhellt die Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven die Dinge sogar noch gründlicher. Und falls dabei Widersprüche auftauchen? Das wird sich finden.

Unterwegs zu einem „Frühwarnsystem“

Da Fakes und Desinformationen dermaßen weit verbreitet sind, ist es nicht mit einzelnen Überprüfungen getan. Ein mittelfristiges Ziel ist es, wiederkehrende Muster falscher Faktenbehauptungen zu sammeln und auf dieser Basis künftig möglichst im Voraus zu erkennen. So ließe sich eine Art „Frühwarnsystem“ errichten, etwa im Vorfeld von Wahlen. Auch Künstliche Intelligenz (KI) soll dabei helfen – ein Mittel, das freilich auch von den Gegenseiten genutzt werden dürfte. Es ist ein Informations-„Krieg“, in dem beide Lager nach Kräften aufrüsten. Und gewiss sind die Probleme nicht auf Europa beschränkt, sondern globaler Art.

Die folgende Erkenntnis gehört zu den gar häufig zitierten Standards, die man kaum noch hören mag, aber es stimmt ja immer wieder: Das erste Kriegsopfer ist die Wahrheit. Also haben die in GADMO zusammengeschlossenen Faktencheck-Teams derzeit vor allem mit Russland und der Ukraine zu schaffen. Da wurden und werden etwa Fotos aus dem Zusammenhang gerissen und/oder neu montiert, so dass sich deren Aussagen grundlegend ändern. Auf einmal werden beispielsweise irgendwo stationierte Panzer zu finnischen Gerätschaften umdeklariert, die vermeintlich Russland bedrohen. Wer so etwas glaubt, könnte schrecklich falsche Konsequenzen ziehen.

Zwischen Wolfsrudeln und Schokoladensorten

Ein weiterer Evergreen lautet ungefähr so: „Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Auch das rührt an ein dauerhaftes Problem: Häufig werden obskure Studien und Zahlenkolonnen angeführt, die nur mit viel Aufwand zu widerlegen oder wenigstens einigermaßen zu klären sind. Es gibt so viele Unwahrheiten, aber letztlich nur eine Wahrheit – wenn sie sich denn überhaupt dingfest machen lässt. Manchmal scheint es, als sei es ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Aber aufgeben wäre fatal. Schließlich zielen zahllose Fakes auf die Substanz demokratischer Gesellschaften.

Wie ein kurzer Probelauf über die neue Homepage zeigt, geht man auch etwas harmloseren Gerüchten über bedrohliche Wolfsrudel (angeblich in Österreich, in Wahrheit in Kanada) nach oder recherchiert der eher absurden Behauptung hinterher, demnächst werde es die „Ritter Sport“-Schokolade auch in der Geschmacksrichtung „Ganze Grille“ geben – im Zuge der EU-Erlaubnis, bestimmte Insekten als Nahrungsmittel zuzulassen. Stimmt natürlich nicht. Aber auch das will erst einmal bewiesen werden; wobei andere Handlungsfelder ungleich wichtiger sind.

Hilfestellungen zur Medienkompetenz

Auf der besagten Homepage sollen Monat für Monat etwa 100 Faktenchecks hinzukommen. Auf diese Weise soll und dürfte sich auch das komplett durchsuchbare Archiv rasch füllen. Beim „Durchblättern“ (vulgo: Scrollen) wird man sich wohl für allerlei Falschmeldungen sensibilisieren können. Auf der Homepage finden sich Kontaktwege für alle User, über die Fachwelt hinaus – via WhatsApp. Apropos Breitenwirkung: Weitere Aufgabe der Faktenchecker sind Angebote zur Steigerung der „Medienkompetenz“, sprich: Wir alle sollen besser gegen Lug und Trug gewappnet werden und im Idealfalle irgendwann selbst in der Lage sein, Falschnachrichten gleichsam zu „wittern“. Dazu wird es hin und wieder spezielle Workshops geben. Wie wär’s außerdem mit gezielten Aktionen an den Schulen?

Ein österreichischer Fachpublizist („Ich habe 15 Bücher veröffentlicht“) gab in der Pressekonferenz zu bedenken, dass man strikt unterscheiden müssen zwischen der Überprüfung von Fakten und von Meinungen. Manchmal sei das kaum zu trennen. Die online anwesenden Faktencheck-Leute wiesen etwaige Meinungs-Kontrollen weit von sich. Überdies gebe es jederzeit Beschwerde-Möglichkeiten. Zur guten Recherche gehöre es außerdem, eigene Fehler öffentlich zu machen.

Übrigens: Wie einigen Statements nebenher zu entnehmen war, kooperieren die Faktencheck-Teams punktuell auch mit machtvollen Online-Akteuren wie Google und Meta (Facebook). Diese Verbindungen sollten unbedingt aufrecht erhalten werden – ohne die eigene Unabhängigkeit und Transparenz auch nur im Mindesten einzuschränken.

Deutschsprachige Homepage: gadmo.eu
Europaweites Projekt: edmo.eu

__________________________________

Hier noch einige Namen aus der Leitungs- und Organisations-Ebene des Projekts:

  • Stephan Mündges, Institut für Journalistik, TU Dortmund,
    GADMO-Koordinator
  • Prof. Christina Elmer, GADMO-Koordinatorin, Institut für Journalistik der TU Dortmund
  • Uschi Jonas, Team-Leiterin CORRECTIV.Faktencheck und Florian Löffler, Projektleiter EFCSN & GADMO bei CORRECTIV
  • Teresa Dapp, Leiterin der Faktencheck-Redaktion der dpa, Tobias Schormann, Faktencheck-Koordinator für Ausschreibungen & Projekte der dpa, und Kian Badrnejad, Faktencheck-Redakteur der dpa
  • Christian Kneil, Head of Content Business und Mitglied der APA-Chefredaktion, und Florian Schmidt, Verification Officer und Leiter von APA-Faktencheck
  • Yacine Le Forestier, AFP, stellvertretender Direktor für Europa, und Isabelle Wirth, Projektleiterin GADMO bei der AFP.



Der nächste Promi im Osthaus Museum: Dieter Nuhr als Fotograf

Vom Hagener Museumsdirektor aufgenommen: Dieter Nuhr mit digitaler Fotografie in seinem Atelier. (Foto: © Tayfun Belgin)

Die Zielrichtung ist unverkennbar: Schon wieder setzt das Hagener Osthaus Museum mit Aplomb auf den Promi-Faktor.

Wir erinnern uns, mehr oder weniger flüchtig: Zuerst hat der weltberühmte Hollywood-Star Sylvester Stallone („Rambo“, „Rocky“) hier seine Gemälde präsentiert, dann kam der Popmusiker Bryan Adams mit seinen Fotografien an die Reihe. Und jetzt? Stellt wieder jemand aus, den man aus anderen Bereichen kennt, allerdings eher im deutschen Sprachraum.

„Von Fernen umgeben“

Man weiß ja nicht einmal so recht, wie man seine Berufssparte bezeichnen soll. Ist er Comedian? Kabarettist? Satiriker? Naja, vielleicht irgend etwas in dieser groben Richtung. Es ist jedenfalls Dieter Nuhr, der – weit abseits seiner sonstigen Tätigkeit – „in fast 100 Ländern“ auf den Auslöser gedrückt hat und jetzt (vom 8. Mai bis zum 26. Juni) einige Resultate seiner digitalen Fotografie im Museum vorzeigt. Poetisierender Titel der Schau: „Von Fernen umgeben“. Man ist ja dankbar, dass die Chose nicht etwa „Nuhr belichtet“ oder so ähnlich heißt. Tatsächlich ist es technisch mehr als das. Laut Vorankündigung des Museums malt Nuhr, der auch einmal Kunst studiert hat, mit dem „digitalen Pinsel“, erzeugt also Bilder aus fotografischen Daten.

„Linke“ werden kaum begeistert sein

Wie auch immer: Etwas weiter „links“ angesiedelte Leute werden sich bei der bloßen Namensnennung mit Grausen abwenden und vielleicht alpträumen, dass der bei ihnen ebenso verpönte Harald Martenstein womöglich einen Katalogtext verfasst hat (was nicht der Fall ist). Oder sie bleiben gelassen und sagen sich feixend: Hauptsache, Dieter Nuhr steht nicht auf der Bühne. Mit Fotos kann er ja wohl nicht so viel anrichten. O, wie hinterhältig wäre das. Aber immer noch besser als „Cancel Culture“, oder?

Altbau des Hagener Osthaus Museums, bei Regen durch die Frontscheibe des Autos aufgenommen. Und nein: Das Bild soll nicht „trübe Aussichten“ bedeuten. (Foto: Bernd Berke)

„Demnächst“ eine Ausstellung in Russland?

Osthaus-Direktor Tayfun Belgin ist sozusagen in die Schlusskurve seiner aktiven Museumslaufbahn eingebogen. Offenbar hat er sich für die letzte Strecke vor dem Zieleinlauf vorgenommen, nicht mehr nur der hehren Kunst zu frönen, sondern auch noch einmal ordentlich „Betrieb“ zu machen und mit gesteigerten Besuchszahlen zu glänzen. Man darf schon jetzt gespannt sein, wer mit welchem Konzept seine Nachfolge antreten wird. Und wie es überhaupt weitergeht.

Ach so, übrigens: „Demnächst“, so heißt es auf der Museums-Homepage ganz nebenbei, werde Nuhr seine Fotografien auch im Puschkin-Museum zu St. Petersburg ausstellen. In Russland. Stimmt das wirklich? Immer noch?




Ein Beitrag, der jetzt gestrichen werden muss

Seit den monströsen Kriegsverbrechen von Buschta (oder Buchta oder Butscha – sucht euch die Schreibweise aus, es ist zweitrangig) „gehen“ Texte wie der folgende, eilig gestrichene eigentlich nicht mehr, es verbietet sich jede auch noch so eingehegte Launigkeit. Da wir aber andererseits keine (Selbst)-Zensur ausüben wollen, bleiben die Ende März verfassten Zeilen noch notdürftig erkennbar.

Überhaupt vergeht einem schon seit einiger Zeit ganz gründlich die Lust auf kulturell oder feuilletonistisch angehauchte Betrachtungen. Obwohl gerade die Künste, sofern sie den Namen verdienen, ein dauerhaftes Gegengewicht sein und bleiben könnten… Ars longa, vita brevis.

Ceterum censeo: Jetzt endlich selbst das russische Gas abdrehen – und sei es „nur“ als starkes Zeichen ohne entscheidende Wirkung!

Was waren das noch für selige Zeiten, als „wir“ lediglich eine Nation von 40, 60 oder 80 Millionen Fußballtrainern gewesen sind. Gewiss, Länder- und Vereinsmannschaften stellen wir auch heute noch linkshändig auf, notfalls für Frankreich, England und Spanien gleich mit. Aber nur noch nebenbei. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.

Inzwischen haben wir nämlich anderweitige Karrieren draufgesattelt. Zunächst bekanntlich als Top-Virologen, die sich ganz geläufig über komplizierteste Fachfragen ausgetauscht haben. Mit Corona und Konsorten kennt sich doch heute jeder Depp aus. Nun gut: Zuweilen ist da auch ein bisschen Besserwisserei im Spiel. Das bleibt halt nicht aus, wenn man viele Semester eines Fachstudiums und praktischer Forschung kurzerhand überspringt. Dann muss man eben beherzt behaupten.

Neuerdings haben sich viele, die das vorher nicht von sich selbst erwartet hätten, dem verschrieben, was hirnparalysierte Vorväter „Kriegskunst“ zu nennen beliebten. Zeitenwende eben. Oder richtiger: Zeitenbruch. Als Generalissimus von eigenen Gnaden widmet sich nun so mancher Mann überschlägigen ballistischen Berechnungen, intelligenter Nachschub-Logistik, effektiven Abwehrsystemen oder der schlagkräftigen Koordination verschiedenster Waffengattungen bis hin zu… Nein, wir wollen es nicht auch noch hier leichtfertig herbeireden. Frauen sind auf diesem Felde jedenfalls hoffnungslos in der Minderheit. ER wird es ihnen beizeiten zu erklären versuchen – wie einst das Abseits.

„Blamiert“ sich Russland militärisch – oder sollte man es nach wie vor „nicht unterschätzen“? Hockt Putin schon im Bunker? Dreht er uns den Gashahn zu? Gibt er sich mit dem Donbass zufrieden? Was machen die Chinesen? Derlei gravitätische Fragen werden Tag für Tag in mancherlei Medien erwogen. Im Gefolge solcher Gedankenspiele haben sich einige Leute außerdem flugs zu Flüchtlings-Kommissaren und Energie-Experten mit ungeahnt fossilen Präferenzen promoviert. Zwei bis drei Talkshows gucken – und schon kann man wieder mitpalavern. Wo liegt denn nur wieder die Generalstabskarte mit den vielen Pfeilsymbolen?

 




„Wehe, wenn der Russe kommt…“ – So haben wir damals gelacht und nicht gedacht

Sichtbares Bekenntnis beim Gang durch den Dortmunder Rombergpark, Ende Februar 2022. (Foto: Bernd Berke)

„Wann und wie mag denn wohl der Russe kommen?“ Wenn ich diese triefend ironische, hier noch einmal mitsamt Text verlinkte Überschrift vom 24. Juni 1982 über einem meiner Artikel wieder lese, läuft es mir heißkalt den Rücken herunter, so überaus falsch klingt sie jetzt.

Die Schlagzeile stand jedenfalls über einer TV-Vorschau auf einen Film des Dortmunders Michael Braun, der damals die Bundeswehr aufs Korn genommen hat. Flott und flockig, wie man wohl zu sagen pflegte. Wenn ich mich recht entsinne, hat die Süddeutsche Zeitung den Beitrag seinerzeit aus der Westfälischen Rundschau übernommen.

Ich war mit einer solchen Gesinnung beileibe nicht allein. Es war weithin Konsens. Dabei gab es doch noch die Sowjetunion, über die seinerzeit der Hardliner Leonid Breschnew (gestorben im November 1982) gebot, der am 25. Dezember 1979 seine Armee in Afghanistan hatte einmarschieren lassen. Doch das Böse, so haben viele – spätestens seit dem Vietnamkrieg – ganz selbstverständlich gemeint, hause vor allem oder gar ausschließlich in den Vereinigten Staaten und bei ihren Vasallen; erst recht, seit Ronald Reagan ab 1981 US-Präsident war und hitzig über den NATO-Doppelbeschluss diskutiert wurde.

Waren es nur Jugendsünden?

Rund vierzig Jahre ist das her. „Jugendsünden“ also? Ja, so haben wir damals und noch lange, lange Zeit danach uns lustig gemacht über die vermeintlich unsinnige Vorstellung, dass „der Russe“ kommen werde. Wir, die wir uns für links und fortschrittlich gehalten haben. Sehr viele sehr kluge Leute dabei und trotzdem gar nicht gut beraten, wenn man es von heute aus betrachtet. Aber hätten wir denn auf die Kommunistenfresser hören sollen? Auf einen CDU-Betonkopf wie Alfred Dregger etwa, an dessen von Buhrufen übertönten Dortmunder Marktauftritt aus den späten 70er Jahren ich mich noch erinnere, weil er immer „Kommenisten“ sagte. Wie haben wir uns beömmelt!

Das Gefasel vom „Ende der Geschichte“

Spätestens 1989 und die Folgen (das Gefasel vom „Ende der Geschichte“) haben uns vollends eingelullt. Wenn man nur hellhöriger gewesen wäre! Wenigstens in den letzten Jahren, wenigstens 2014, als Wladimir Putin kurzerhand die ukrainische Halbinsel Krim annektieren ließ. Doch aus schierer Gewohnheit, Denkfaulheit und Bequemlichkeit haben wir noch jede Lüge Putins geglaubt, haben sie glauben wollen. Nun überschreiten seine Truppen nicht nur widerrechtlich Staatsgrenzen, sondern er selbst lässt auch Grenzlinien des bisher Vorstellbaren hinter sich. Über 70 Jahre Frieden in weiten Teilen, ja fast (!) in ganz Europa haben uns in Sicherheit gewiegt. Nun droht uns einer mit Atomwaffen und lässt Atomkraftwerke attackieren. Auch wird wild spekuliert, ob seine Armee Polen, das Baltikum oder Berlin angreifen werde. Welch ein Wahnsinn! Seit der Kubakrise 1962 ist die Weltlage nicht mehr so brandgefährlich gewesen. Jetzt aber direkt vor unserer Haustür. Was freilich angesichts atomarer Bedrohung beinahe zweitrangig ist.

Ausläufer der alten „Denke“ waren noch bis vor ein, zwei Wochen virulent oder vielmehr: einschläfernd wirksam; bis zum ruchlosen Überfall der russischen Militär-Maschinerie auf die Ukraine am historischen 24. Februar 2022. Seitdem hat sich so furchtbar viel getan und geändert, hat sich manches, was oben zu liegen schien, zuunterst gekehrt. Nun beugen sich auch Pazifistinnen und Pazifisten besorgt über Europa-Karten, sprechen auf einmal geläufig von wehrhafter Demokratie und stellen strategische Erwägungen an, die bis vor Kurzem Generälen vorbehalten waren.

Wertschätzung für Wehrhaftigkeit

Die ziemlich marode Bundeswehr, wenn auch vielfach reformbedürftg (was derzeit eher organisatorisch als politisch verstanden wird), ja das Militärische im Westen überhaupt, erfährt eine vordem ungeahnte Wertschätzung. Wehrhaftigkeit ist das Wort der Stunde, vielleicht des Jahrzehnts. Wenn das mal nicht ins andere Extrem umschlägt! Wer hätte unter einer „Ampel“-Regierung erwartet, dass man in dieser „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) so schnell derart viele Gewissheiten über Bord wirft?

Und wir dachten, wir wären dabei, in Sachen Corona-Pandemie (die bereits als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg galt) schon das Schlimmste hinter uns zu lassen. Und jetzt? Redet kaum noch jemand vom Virus.




Standardsituationen und schwindende Gewissheiten – eine kurze, weitgehend schmerzlose Bilanz zur Fußball-WM

Meine kleine Ballsammlung (Foto: BB)

Unsere kleine Ballsammlung (Foto: Bernd Berke)

Na gut, äh! Irgend eine Bilanz zur Fußball-WM muss man jetzt wohl ziehen. Sei’s drum. Wir haken das mal eben Punkt für Punkt ab. Bei Nummer 22 (naturellement 2 x 11) ist dann aber Sense. Versprochen.

  1. Gratulation dem Weltmeister Frankreich. Es war – nehmt alles nur in Allem – tatsächlich das beste, in allen Mannschaftsteilen ausgewogene Team. Und der pfeilschnelle, erst 19-jährige Kylian Mbappé war vielleicht d e r Spieler dieser WM. Was aus dem noch werden kann! (Übrigens muss man den Nachnamen wirklich nicht „Emm-Bappeee“ aussprechen, wie das gewisse Experten im deutschen Fernsehen tun. Anlautendes M geht auch bruchlos mit nachfolgendem B).
  2. Um ein Haar wäre es zum Finale zweier kleiner Länder gekommen, Belgien und Kroatien. Ganz so, als sei die Zeit der „Großen“ vorbei. Kroatien war ein starker Finalteilnehmer, in der Anfangsphase zweifach entscheidend (?) vom Schiri benachteiligt.
  3. Die Engländer können neuerdings Torwart. Und sie können Elfmeterschießen. Und auch noch die ziemlich effektive „Buswarteschlange“ bei Ecken oder Freistößen. Sie haben mit dem alten Kick & Rush nichts mehr zu schaffen. Auch scheint es ihnen nicht zu schaden, dass so viele Leute aus anderen Ländern in der Premier League spielen. Da schau her, die wohligen alten Gewissheiten sind dahin. Dass die Engländer mit ihrem Trainer und eleganten Westenträger Gareth Southgate zudem einen vorbildlichen Gentleman aufgeboten haben, entspricht hingegen den althergebrachten Vorstellungen.
  4. Die These, dass der Fußball den Zustand einer ganzen Nation widerspiegele, mag füglich bezweifelt werden. Es lassen sich immer Argumente dafür, aber auch dagegen aufführen. So schlimm kann es um England nach dem Brexit eigentlich nicht stehen, wenn man die Leistung der „Three Lions“ zum Maßstab nimmt.
  5. Sportlich war es ein recht mittelmäßiges Turnier mit nur wenigen, wirklich packenden Partien. Viele magere 1:0-Ergebnisse, etliche Quälereien bis in Verlängerungen und ins Elferschießen hinein. Einige Abwehr-Bollwerke bis zum Abwinken. Entscheidungen oft nicht durch kreatives Spiel, sondern durch „Standardsituationen“ mit ruhendem Ball.
  6. So genannte Superstars nützen offenkundig überhaupt nichts, wenn nicht etwas hinzu kommt. Nach und nach durften Messi, Ronaldo und Neymar mit ihren Teams vorzeitig nach Hause fliegen. Der Satz, Fußball sei halt ein Mannschaftssport, taugt nicht nur fürs Phrasenschwein. Er hat was für sich.
  7. Sorry, aber: Nach dem frühen Ausscheiden habe ich (und haben wohl viele) die deutsche Mannschaft kaum vermisst. Man konnte auch mit den Konter-Königen aus Belgien oder mit sonstwem fiebern. Die Belgier haben sogar dieselben Flaggenfarben, wenn auch anders angeordnet. Das deutsche „Aus“ hatte auch sein Gutes: Auf diese Weise blieb Kanzlerin Merkel ein Tribünen- oder Kabinenbesuch erspart.
  8. Das ewige, überaus gestenreiche und zuweilen aggressive Reklamieren beim Schiri geht einem nur noch auf den Geist. Und das unsägliche „Markieren“ von Fouls (mit Neymars vielfacher Platzrolle als wahnwitzigem Tiefpunkt) sollte viel härter bestraft werden; ebenso wie die wild gestikulierende Forderung nach der gelben oder roten Karte für den Gegenspieler. Übrigens: Findige Leute haben ermittelt, dass Neymar während seiner Turnier-Auftritte rund 14 Minuten auf den Plätzen gelegen bzw. sich dort gewälzt hat. Scheint sein Hobby zu sein.
  9. Die deutschen TV-Kommentatoren bei ARD und ZDF waren zu allermeist nicht WM-tauglich. Hier sollte man grundlegende Reformen anstreben und vielleicht je zwei Sprecher(innen) bzw. ehemalige Spieler mit wachem Geist im möglichst munteren und uneitlen Dialog einsetzen. Nein, auch Claudia Neumann war nicht besser als ihre männlichen Kollegen. Aber auch nicht schlechter. Die endlosen Experten-„Analysen“ vor und nach den Spielen tue ich mir sowieso gar nicht mehr an. Ihr etwa?
  10. Immer häufiger beschränken sich die Kommentatoren als Künder des Offensichtlichen auf belanglose Feststellungen wie „gute Bewegung“, „gute Körpersprache“, „guter Laufweg“, „gut aufgepasst“ oder „geblockt“. Dazwischen irrwitzige Statistiken und Boulevard-Gewäsch. Das ist oft ziemlich ärmlich.
  11. Jetzt doch noch mal zur deutschen Mannschaft, die insgesamt aufreizend überheblich aufgetreten ist. Mir ist schleierhaft, warum Löw nicht loslassen mag. Oliver Kahn hat recht: Löw hätte nach dem Finale 2014 aufhören sollen, als er alles erreicht hatte. Noch viel fälliger zum Rücktritt wäre allerdings der ach so smarte Oliver Bierhoff. Er hat zunehmend nur noch aalglattes Marketing im Sinn gehabt. Von seinem Umgang mit der Causa Özil/Gündogan/Erdogan ganz zu schweigen. Erst abwiegeln, nach dem Ausscheiden auf einmal übel nachtreten und Özil für alles haftbar machen wollen. Unmöglich! Und die DFB-Spitzen? Versuchen sich ebenfalls rauszuwinden und wegzuducken. Welch ein Elend!
  12. Nicht unbedingt sympathischer: Auch ein Vielzahl von Salonlinken hat den Fall Özil“ auf die eigenen Mühlen lenken wollen. Erstaunlich, wie sie den Erdogan-Freund mit Pauken und Trompeten verteidigt haben, weil ja angeblich nur teutsche Nationalisten und Rassisten gegen ihn Stellung bezogen haben. So ein Unsinn! Es dürften auch etliche Gegner der Erdogan-Diktatur darunter gewesen sein. Ach so, wie konnte ich es nur vergessen: Es herrscht ja längst Redeverbot in dieser Sache. Es sei denn, man schwinge den politisch korrekten Degen.
  13. Auf verquere Art links gestrickt sind auch die blödsinnigen Versuche, die Migrantenquote abermals auf die Qualität des Fußballs anzuwenden. Nach der Formel „Je mehr Migranten in der Mannschaft, umso besser der Fußball“ predigen manche quasi einen auf links gekrempelten Rassismus. Es ist letzten Endes nur die spiegelbildliche Umkehr dessen, was rechts gestrickte Typen blöken: „Zu viele Ausländer im Team…“
  14. Das Getue um den Videobeweis hat nicht nur in der Bundesliga genervt, sondern auch bei dieser WM. Ungefähr jeder vierte Torjubel wird im Keim erstickt und infrage gestellt. Ständig fordern Spieler, die sich benachteiligt fühlen, mit der notorischen Rechteck-Geste die Videoprobe ein. Mag sein, dass der eine oder andere grobe Fehler korrigiert wird. Doch ob es insgesamt „objektiver“ zugeht, darf bezweifelt werden.
  15. Wirklich gerecht wird es erst im Jenseits sein. Das wird ein sonderbares Ding, wenn Begegnungen vor den versammelten himmlischen Heerscharen völlig ohne Fehler und Fouls vonstatten gehen. Klingt ganz schön langweilig, nicht wahr?
  16. Eins wollen wir nicht vergessen: Es war eine WM ohne terroristische Bedrohung oder gar einen Anschlag. Dazu darf man sogar Vladimir Putin gratulieren. Ansonsten aber…
  17. Wenn wir schon beim „lupenreinen Demokraten“ Putin sind: Ex-Kanzler Gerhard Schröder hat sich unterdessen mit beiden Potentaten getroffen: Putin und Erdogan, bei dem er im staatlichen Auftrag als „besonderer Freund“ aufkreuzte. Auf seine alten Tage wird der Mann zusehends zur peinlichen Hofschranze. Ich kann mich an keinen Kanzler erinnern, der mir im Nachhinein widerlicher gewesen wäre.
  18. Man fragt sich, was aus all den Arenen in der russischen Provinz werden soll. Werden die sündhaft teuren Bauten jemals wieder auch nur annähernd gefüllt sein? Selbst zur WM sind ja schon etliche Plätze leer geblieben. Verrückt genug: Inzwischen verpflanzen die Russen schon ganze Vereine in die Diaspora. Ein Oligarch muss „seinen“ Erfolgsclub aus St. Petersburg nach Sotschi umtopfen. Was die Fans wohl dazu sagen? Man stelle sich vor, Bayern München würde seine Heimspiele nur noch in Erfurt oder Osnabrück austragen.
  19. Gibt es jemanden, der sich auf die nächste WM 2022 in Quatar/Katar freut? Müsste man dafür nicht ein Wort wie Vorzorn statt Vorfreude verwenden?
  20. Und danach? Sollen 2026 die USA und Mexiko ein WM-Turnier gemeinsam mit Kanada ausrichten. Schon allein das würde gegen die Mauer sprechen, die Donald T. an der Grenze zu Mexiko errichten will. Aber 2026 ist der Kerl eh schon längst ein irres Nebenkapitel der Geschichte.
  21. Freuen wir uns vorerst auf den Wiederbeginn der Bundesliga. Und auf die nächste Europameisterschaft 2020. Diese WM war ja am Schluss auch schon ein rein europäischer Wettbewerb.
  22. Zugabe: Entscheidend is aufm Platz!

 




Löw hat WM-Kader in Dortmund verkündet, doch das Treffen von Özil / Gündogan mit Erdogan überschattet die DFB-Show

So. Jetzt ist es heraus. Bundestrainer „Jogi“ Löw hat heute in Dortmund sein vorläufiges Aufgebot für die Fußball-WM verkündet. Ein verdammt ungünstiger Zeitpunkt. Just gestern war bekannt geworden, dass die beiden deutschen Nationalspieler mit türkischen Wurzeln, Mesut Özil und Ilkay Gündogan, in London gemeinsam mit dem türkischen Präsidenten Erdogan für Fotos posiert und liebedienerisch Trikots ihrer Vereine Arsenal und Manchester City für ihn signiert haben. Gündogan schrieb gar den Zusatz „Für meinen Präsidenten“. Bloß gut, dass der Kerl den BVB verlassen hat!

Irgendwo in diesem Fotografengewühl saß Bundestrainer Löw. (Screenshot / ZDF Sport)

Irgendwo in diesem Fotografengewühl saß Bundestrainer Löw. (Screenshot / ZDF Sport)

Die beiden Spieler, die anscheinend außer Fußball und weit überzogenen Millionenbeträgen nicht allzu viel im Kopf haben, sehen Erdogan also als „ihren Präsidenten“ an. Und das als deutsche Staatsbürger. Und das mitten im türkischen Wahlkampf, in dem die dämliche Aktion als Sympathiewerbung für den Despoten wahrgenommen wird. Das haben Erdogan und seine Berater perfide eingefädelt. Im Nachhinein wollten die Spieler es als Geste der Höflichkeit verstanden wissen. Lächerliche Ausrede.

Na, klar: Die beiden fahren mit

Diese völlig unnötige, verwerfliche Aktion war gewiss bewusst so hinterhältig terminiert. Was wäre geschehen, wenn sich Löw im letzten Moment ein Herz gefasst und die Nominierung der beiden zurückgezogen hätte? Aber nein, der Bundestrainer glaubt die Herrschaften für die „kreativen Momente im Mittelfeld“ zu brauchen, wie es im Sportreportersprech heißt. Alles ganz unpolitisch, versteht sich.

Leute, ihr ahnt vielleicht, was jetzt in den (a)sozialen Netzwerken los ist. „Spaßes“halber, nein: Aufregungshalber habe ich mal auf der Facebook-Seite der CSU gestöbert. Da geht’s in den Kommentaren richtig zünftig ab. Dass Özil und Gündogan ihre deutschen Pässe abgeben sollen, ist noch einer der milderen Vorschläge. Nein, mit dem AfD-Auftritt habe ich mir dann nicht mehr die Kante gegeben.

Bei jedem Fehlpass wird gegiftet werden

Özil und Gündogan haben nicht nur dem Nationalteam und allen Integrations-Bestrebungen, sondern auch sich selbst enorm geschadet. Was wird während der WM passieren? Bei jedem kleinen Fehlpass von Ö. oder G. werden Millionen selbsternannte Bundestrainer giftige Sprüche absondern – nicht alle vollkommen unberechtigt.

Das alles spielt jenen in die Karten, die ohnehin keine Spieler mit ausländisch klingenden Namen in der Mannschaft sehen wollten. Und mit den hochdotierten Werbeverträgen der beiden Fußballkasper dürfte es auch nicht zum Besten stehen. Welche Firma will schon (wenn auch nur indirekt) mit einem wie Erdogan in Verbindung gebracht werden?

Das Problem kleingeredet und schnell weggebügelt

Doch bei der heutigen Pressekonferenz im Deutschen Fußballmuseum zu Dortmund wurden etwaige Bedenken allesamt rasch weggebügelt. Wortblasen des DFB-Präsidenten Reinhard Grindel: „Menschen können Fehler machen. Und wir müssen das Maß wahren.“ Man werde zum Miteinander zurückkehren und das Trennende überwinden. Fall erledigt. Joachim Löw sekundierte, es sei „keine glückliche Aktion“ gewesen, die Jungs hätten aber einen guten Charakter, es werde ihnen eine Lehre sein. Und dann, besonders bildkräftig: Bei Spielern mit Migrations-Hintergrund schlügen oft zwei Herzen in einer Brust, die schwer unter einen Hut zu bringen seien. Alles klar?

Andere, eher sportliche Einzelfall-Entscheidungen standen so ziemlich im Schatten des hochnotpeinlichen Vorfalls. In Dortmund gab’s ein bisschen medienwirksamen Budenzauber. Das Fußballmuseum war draußen mit 26 Schattenrissen verhängt, die nach und nach durch Porträts der auserkorenen Spieler ersetzt wurden. Das Museum blieb derweil ganztags geschlossen.

Und was ist nun herausgekommen, nachdem der Berg gekreißt hatte?

Ohne Mario Götze und Sandro Wagner

Dass Mario Götze nicht benannt werden würde, war schon im Vorfeld sonnenklar, zumal Joachim Löw selbst in weitaus besseren BVB-Zeiten Berührungsängste hatte, was Dortmunder Kicker anging. In aller Regel nahm er lieber noch einen Münchner und noch einen Landsmann aus dem Südwesten mit… Reicht ja auch, wenn er seine Entscheidungen in Dortmund bekanntgibt. Naja, immerhin steht der Dortmunder Marco Reus (Löw: „Eine besondere Waffe“) im Aufgebot.

Die Namen des vorläufigen Kaders – ohne Mario Götze, ohne Sandro Wagner, vorerst mit Manuel Neuer – wurden in schneller Abfolge eingeblendet (siehe Liste am Schluss), sodann kommentierte Löw seine Präferenzen. Man muss das nicht alles zitieren. Beinahe beiläufig erfuhr man noch, dass die Verträge von Löw und seinem Trainerteam bis 2022 verlängert worden sind.

WM-Vorfreude hält sich vielfach in Grenzen

Es scheint so, als hätten viele Fußballfans eh keine rechte Lust auf diese kommende WM in Russland (14. Juni bis 15. Juli), bei der sich ab Mitte Juni Präsident Putin im Licht der Weltöffentlichkeit sonnen will, in mancher Hinsicht ein Ungeistesbruder von Erdogan. Der Missmut darüber wird allenfalls noch übertroffen von mulmigen Gedanken an die darauf folgende WM 2022 in Katar. Alles ganz unpolitisch, versteht sich.

Auch an solchen trüben Aussichten mag es liegen, dass sich selbst in der „Deutschen Fußballhauptstadt“ Dortmund nicht genügend Sponsoren für größere Public-Viewing-Veranstaltungen zur WM gefunden haben. Es sieht ganz so aus, als seien die Zeiten fürs bierselige Rudelgucken eh vorbei, weil viele Leute daheim inzwischen ziemlich große Bildschirme oder Beamer haben. Und der Kühlschrank ist auch groß genug.

Ach, übrigens: Die Türkei nimmt gar nicht an der Fußball-WM teil. Sie hat sich – ebenso wie Holland und Italien – nicht qualifiziert. Hätten sich Özil und Gündogan seinerzeit für die türkische Nationalmannschaft entschieden, wär’s jetzt also Essig mit der WM.

______________________________________________

Die 27 nominierten Spieler im vorläufigen Kader (endgültige Liste mit 23 Namen folgt am 4. Juni):

Tor: Neuer, Leno, ter Stegen, Trapp
Abwehr: Boateng, Ginter, Hector, Rüdiger, Tah, Hummels, Kimmich, Plattenhardt, Süle
Mittelfeld und Angriff: Brandt, Draxler, Gomez, Goretzka, Gündogan, Khedira, Kroos, Müller, Özil, Petersen, Reus, Rudy, Sané, Werner




Hilfe, die Bär(inn)en sind allgegenwärtig!

Wo wir gerade so schön gemütlich bei Invasions-Phantasien sind: Ich wette, Euch ist der folgende Umstand noch nicht aufgefallen. Bären sind nämlich drauf und dran, die Macht in Politik und Gesellschaft zu übernehmen. Nicht im Handstreich, sondern heimlich. Begonnen hat es vielleicht vor langer Zeit mit „Teddy“ Roosevelt in den USA. Heute kann man es schon längst nicht mehr verkennen.

Sie sehen so harmlos aus. Jedoch... (Foto: BB)

Sie sehen so harmlos aus. Jedoch… (Foto: BB)

Ihr wollt Indizien? Kein Problem. Wir haben sie sogar mit magischer Jahreszahl auf Lager.

Wie heißt jetzt die neue Parteichefin der Grünen? Exakt. Annalena Baerbock, die seit 2013 (!) im Bundestag sitzt.

Auch die CSU hat ihre mittlerweile bundesweit bekannte bekannte Bärin, nämlich Dorothee Bär, die 2013 (!) erstmals zur Staatssekretärin (im Verkehrsministerium) wurde, nun im selben Rang dem Landwirtschaftsministerium angehört und in die erste Reihe ihrer Partei aufgerückt ist.

Und wer ist seit 2013 (!) FDP-Generalsekretärin? Richtig: Nicola Beer. Das heißt: eigentlich nicht so ganz richtig. Denn durch ihre Schreibweise schert sie aus der Bärinnen-Phalanx aus. Und wisst ihr was? Das dürfte der eigentliche Grund sein, warum die FDP aus den Jamaika-Sondierungen ausgestiegen ist. Tja!

Christian Lindner musste halt einsehen, dass es besser ist, gar keine Bärin in die Koalition zu holen, als eine falsche Bärin. Mit anderen Worten: Grüne und CSU haben das Bären-Defizit der FDP vergleichsweise überdeutlich werden lassen. Haben sie der Republik einen Bärendienst erwiesen?

Habt ihr übrigens schon einmal über den vielsagenden Anklang der Worte Koalition und Koala sinniert? Nein? Dann wird’s aber höchste Zeit.

Jedenfalls gilt neuerdings: kaum eine Talkshow ohne Bär oder orthographisch artverwandte Wesen. Und was binden sie uns dort auf? Eben. Quasi sich selbst. Bären!

Doch damit nicht genug: Unter welchem Zeichen tritt Putin in Moskau an? Unter dem eines russischen Bären, der mühelos Tiger zureitet. Welches Wappentier hat die deutsche Hauptstadt Berlin? Genau! Und welches Tier steppt auf der dortigen Szene? Ebenfalls der Bär! Wer steht vor den Börsen der Welt und bedeutet böse Baissen? Nun, der Stier ist es nicht, sondern… Im Kölner „Tatort“ tritt derweil seit vielen Jahren der Dortmunder Dietmar Bär auf. Sie sind eben überall. Ebenso wie all die bärtigen Männer.

Schon unsere Kleinen werden indoktriniert und an die angeblich niedlichen, im Grunde aber ziemlich gefährlichen Tiere gewöhnt. Denkt an die Abermillionen Teddybären, denkt an literarische Figuren wie „Pu“, den Bär, an schier endlose TV-Serien wie „Mascha und der Bär“. In jedem zweiten oder dritten Kinderbuch taucht mindestens ein Bär auf. Und immer wollen sie Honig.

Von wegen „Nich‘ am Bär packen!“ Mit solchen Sprüchen lassen wir uns nicht mehr abspeisen. Das Bären-Desaster liegt so offen zutage, dass es sich nicht mehr um eine Verschwörungstheorie handeln kann. Wir reden hier von echten Zusammenhängen, von glasklaren Ursachen und Wirkungen, die tief in die Struktur unserer Wirklichkeit eingesenkt sind.

Und Psssst! Mich würde es nicht wundern, wenn auch das Merkel ein Bär ist.




Ich habe keine Lust mehr auf Turnier-Fußball

Nein, wenn es so läuft, habe ich keine Lust mehr auf diese großen Turniere des Fußballs.

Da sind wir uns sicherlich weitgehend einig: Bis auf ganz wenige Ausnahmen, war diese monströs aufgeblähte EM eine flächendeckende Enttäuschung. Die Chose mit den Isländern war hübsch, tröstet aber kaum.

Im Moment der Verletzung: Cristiano Ronaldo (Portugal). (ARD-Fernsehbild/Screenshot)

Im Moment der Verletzung: Cristiano Ronaldo (Portugal). (ARD-Fernsehbild/Screenshot)

Und wie schäbig ging es noch im heutigen Finale zu! Als hätten sie’s erst einmal nur darauf angelegt, säbelten die Franzosen gleich Christiano Ronaldo dermaßen ruppig nieder, dass er kurz danach unter Tränen aufgeben musste. Es war leider einer der größten, weil bleibenden Momente dieser Europameisterschaft.

Ich war bislang kein Ronaldo-Fan. Aber heute habe ich wirklich mit ihm gefühlt – und von Stund’ und Sekund’ an gehofft, dass die Portugiesen trotz aller Widrigkeiten gewinnen sollten. Und tatsächlich. Sie haben es geschafft.

Kein Wort mehr über die fortwährende Langeweile in der Vorrunde, die überwiegende Ödnis selbst noch in den allermeisten K.-o.-Partien. Der Zauber dieses Sports kam nur äußerst selten zur Geltung.

Vom Finale bleiben (neben Ronaldo) vielleicht nur die flatternden Motten in Erinnerung. Eine setzte sich, wenn ich’s richtig gesehen habe, für einen Moment sogar auf Ronaldos weinendes Auge. Das hatte denn doch nahezu mythische Qualität. Und dann noch der finale Jubel…

Aber nun mal Hand aufs Herz: Wer freut sich wirklich aufs nächste WM-Turnier 2018 in Russland oder gar auf 2022 in Katar? Da ist von vornherein der Wurm drin, um das Mindeste zu sagen. Die schon im Ansatz spürbare Idiotie der nächsten EM (anno 2020 mit 24 Teams, auszutragen in 13 ! Ländern) steht dem kaum nach.

Jetzt ist man zunächst dankbar für eine fußballfreie Zeit. Durchatmen. Der Kopf muss frei werden.

Es bleiben uns einstweilen oder auch auf längere Dauer wohl nur die nationalen Ligen, meinethalben auch die spanische, die englische und die italienische. Schade, dass die Bundesliga erst am 26. August wieder startet. Aber sei’s drum. Diesmal verspricht selbst die zweite Liga (schon ab 5. August) einige Spannung – mit Clubs wie Stuttgart, Hannover, Kaiserslautern, Nürnberg, St. Pauli, 1860 München usw.

In der Bundesliga interessiert mich beileibe nicht nur der gründlich umgekrempelte BVB; nein, ich möchte auch wissen, wie sich Werder und der HSV schlagen, was die Neulinge RB Leipzig und Freiburg anrichten. Na, zugegeben: Selbst Schalke ist einem nicht völlig schnurz.




Russland gehört zu Kultur-Europa

Ich sehe die Geschehnisse in der Ukraine und denke, das kann doch nicht wahr sein. Jetzt ist Rußland wieder der Feind? Das Reich der finsteren und selbstverständlich unbelehrbaren Despoten? Die ideologische Konfrontation schien doch überwunden. Und die  Gegenüberstellung von „Europa“ und „Rußland“ ist doch geographischer Unsinn. Europa geht bis zum Ural, natürlich liegt Moskau in Europa.

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich will hier kein politisches Urteil fällen. Nach meinem Eindruck haben beide Seiten des Konflikts gravierende Fehler gemacht, die aber alle nicht in den Untergang führen müssen. Mir geht es, ich bitte um Entschuldigung für den bombastischen Sound, um „Kultur-Europa“, in dem die russische Kultur größte Bedeutung hat. Landauf, landab spielen Theater und Konzertsäle in allen europäischen Ländern Tschechow und Tschaikowsky, um nur die beiden zu nennen; die russische Literatur hat Weltgeltung, und in den letzten Jahren hat beispielsweise auch die vormoderne russische Malerei, die sich mit dem Namen Ilja Repin verbindet, im Westen wachsende Beachtung erfahren. Russische Kultur ist, wie auch die französische oder die italienische, Teil unserer gemeinsamen europäischen Kultur. Wie kann man eine Nation, mit der uns kulturell viel verbindet, politisch ausgrenzen? Nach meinem Empfinden geht das nicht. Auch deshalb nicht, weil man den Russen Unrecht täte, die in ihrer großen Mehrzahl fraglos vernünftige Menschen sind.

Eine Lösung habe ich nicht – nur die Hoffnung, daß „die Politik“ vernünftig handelt. „Versöhnen statt spalten“, war ein Drei-Worte-Spruch unseres ehemaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau. Zu seinen Lebzeiten klang das banal; doch jetzt wäre es für alle Beteiligten die richtige Parole.




Der Zweite Weltkrieg in Nahansicht: Zum ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“

Es wurde mal wieder hohe Zeit für ein solches Großereignis im Fernsehen: Der Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ (ZDF) scheint die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch einmal ganz nah heranzurücken. Wir wissen, dass damals Millionen elendiglich gestorben sind. Und doch werden uns immer Einzelschicksale am meisten berühren.

Fünf Freunde beim Abschied im Sommer 1941. Von links: Greta (Katharina Schüttler), Wilhelm (Volker Bruch), Charlotte (Miriam Stein), Friedhelm (Tom Schilling), Viktor (Ludwig .  (Foto: © ZDF/David Slama)

Fünf Freunde beim Abschied im Sommer 1941. Von links: Greta (Katharina Schüttler), Wilhelm (Volker Bruch), Charlotte (Miriam Stein), Friedhelm (Tom Schilling), Viktor (Ludwig Trepte). (Foto: © ZDF/David Slama)

Der entsprechenden Dramaturgie, die uns gleichsam mitten ins Geschehen führt (Bewunderung gilt nicht zuletzt den Kulissenbauern und Kostümbildnern), folgt auch die Spielhandlung, die Regisseur Philipp Kadelbach mit einem großartigen Schauspieler-Ensemble in Szene gesetzt hat: Fünf Freunde treffen sich im Sommer 1941 noch einmal in Berlin. „Weihnachten sehen wir uns wieder“, glauben sie allen Ernstes und prosten einander fröhlich zu. Sie sind jung, lebenshungrig und halten sich für unsterblich. Wie tragisch sie sich irren!

Fünf Freunde und ihre Illusionen

Der Anlass des Abschieds-Umtrunks: Wilhelm (Volker Bruch) und sein schöngeistiger jüngerer Bruder Friedhelm (Tom Schilling) müssen an die Ostfront nach Russland ziehen, „den Iwan ein bisschen verhauen“, wie anfangs naiv gescherzt wird. Charlotte (Miriam Stein) folgt ihnen als Krankenschwester ins Feldlazarett. Greta (Katharina Schüttler) und ihr jüdischer Freund Viktor (Ludwig Trepte) bleiben unterdessen in Berlin, wo auch sie in ein Gestrüpp von Lüge und Verrat hineingerissen werden. Denn Viktor wird von NS-Schergen verfolgt und da nützt es gar nichts, dass Greta, die als Sängerin Karriere machen will, sich mit einem ebenso hochrangigen wie schmierigen Nazi einlässt, um Ausreisepapiere für Viktor zu beschaffen. Freilich lässt sie sich auch von der Aussicht auf Rundfunkaufnahmen betören.

Erschießungen gegen jedes Völkerrecht

Im steten Wechsel schwenkt die Handlung zwischen Berlin, der Front und dem Lazarett hin und her. In Russland zeigt sich mehr und mehr, wie schmutzig dieser Krieg geführt wird – mit Exekutionen wider jedes Völkerrecht, mit willkürlichen Erschießungen und Gräueltaten. Das Lazarett erweist sich als Schlachthaus, in dem Tag und Nacht die Schmerzensschreie durch Mark und Bein dringen. Und dann kommt auch noch der eisige russische Winter, in dem der zuerst so zartsinnige Friedhelm zum Zyniker und härtesten Hund von allen wird.

Der Film lässt drastische Szenen nicht aus. Schon in der ersten Folge bleiben keine Zweifel, dass der Krieg in jedem das Schlechteste weckt. Entweder Täter und Verräter oder Opfer – dazwischen gibt es praktisch nichts – bei allem Bemühen um Differenzierung. Das ist umso schrecklicher, als diese Generation unserer Mütter und Väter (wie hier sehr deutlich herausgearbeitet wird) wunderbar normal hätte sein und leben können, wenn sie nur nicht diesem verfluchtem Regime verfallen wären.

Ein Projekt für alle Generationen

Im Vorfeld dieses Dreiteilers hatte Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), die Bedeutung dieser Produktion beschworen und mahnend festgestellt, dass allmählich die allerletzten Zeitzeugen des Weltkriegs sterben. Deshalb sollten sich die verbliebenen Generationen diesen Film unbedingt gemeinsam anschauen. Er hat recht. Tatsächlich habe ich mir an etlichen Stellen des ersten Teils gewünscht, ich hätte ihn noch gemeinsam mit meinen Eltern sehen können.

Mein Vater ist – wie so viele andere – immer sehr wortkarg gewesen, wenn es um seine Erlebnisse an der Ostfront ging. Dieser Film, der anschließend von einer Dokumentation und einer Spezialausgabe von Maybrit Illners Talk begleitet wurde, hat vielleicht die Wucht und überhaupt die Qualität, doch noch diese oder jene Zunge zu lösen.

Teil zwei und drei (Montag, 18. März, und Mittwoch, 20. März, jeweils 20.15 Uhr) sollte man sich nicht entgehen lassen.

_________________________________________________________________________

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Von der Last der Macht: „Boris Godunow“ im Dortmunder Opernhaus

Dimitry Ivashchenko als "Boris Godunow" in der gleichnamigen Oper von Modest Mussorgsky (Foto: M.Jauk/Stage Picture)

Diese Insignien der Macht übersteigen jedes menschliche Maß. Drei Männer braucht es, um das pelzgefütterte Prunkgewand des frisch gekrönten Zaren zu tragen. Tonnen scheint auch die mit Juwelen besetzte Mütze des Monomach zu wiegen.

Zwei Männer halten sie an Stangen in die Luft. Doch darunter ist kein Kopf. Auch der Mantel entpuppt sich als leere Hülle. Den zum Jubel abkommandierten Untertanen ist’s freilich egal. Für sie ändert sich ohnehin nur der Name der Knute, der sie sich beugen.

Solch klare und sinnfällige Bilder findet Katharina Thoma, Hausregisseurin an der Dortmunder Oper, die in ihrer Neufassung von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ die Schwere von Schuld und Macht erkundet. Dabei verzichtet sie fast gänzlich auf Prunk. Ein weißgrauer Betonbunker mit verschiebbarer Hinterwand verwandelt sich durch wenige Requisiten mal zur Straße, mal zum Palast, mal zu einem Birkenwäldchen (Bühne: Stefan Hageneier).

In diesem Rahmen, der oft überraschend licht wirkt, führt Katharina Thoma die individuelle Tragödie des Boris und das Drama des russischen Volkes zwingend zusammen. Mit feinem Gespür für Mussorgskys mitfühlende Musikpsychologie zeigt sie uns, dass der von Schuldgefühlen gequälte Boris nicht der schlechteste Regent ist, bevor ihn die Erinnerung an ein Verbrechen in den Wahnsinn treibt: hatte er doch aus Machtgier befohlen, den legitimen jungen Thronfolger zu ermorden. Im Stadium zunehmender geistiger Zerrüttung umhüllt sich Boris schutzsuchend mit seinem Mantel. Aber der erdrückt ihn schier, schrumpft ihn zum schaudernden Zwergen. Derweil schreit das hungernde Volk nach Brot. Es fleht zu einem Zaren, der sich nicht einmal selbst mehr helfen kann.

Es ist nicht das letzte Mal an diesem Abend, dass Katharina Thoma uns die ganze Bitterkeit von Russlands Misere schmecken lässt. Lob verdient ihre scharfe Ausleuchtung der Chorszenen. Das Volk ist bei ihr eine geschichtsbildende Kraft, zugleich aber dumpf, verroht, ungebildet und leicht zu manipulieren. Es kuscht vor der Gewalt, wird losgelassen aber zum reißenden Tier. Indes vereinen Opern- und Extrachor des Theaters sowie der Knabenchor der Chorakademie ihre Stimmkraft, ohne die Klangschönheit auf dem Altar des Fortissimo zu opfern (Choreinstudierung: Granville Walker und Jost Salm).

Als Gast erntet Dimitry Ivashechenko Beifallsstürme für die sensibel ausgeformte Titelpartie. Ivashchenko gibt „seinem“ Boris sonore Redlichkeit, aber auch grüblerische und gebrochene Töne. Der Tenor von Sergey Drobysheskiy bildet dazu den passenden Kontrast: Er singt den Hochstapler Dimitri, der aus der Mönchzelle mal eben flott auf den Zarenthron hüpfen möchte, mit einem zuweilen beinahe öligen Puccini-Schmelz. Die ernsthaft gestalteten Nebenrollen werten die Produktion weiter auf: Stellvertretend erwähnt seien Christian Sist als der Chronist Pimen und Hannes Brock als zwielichtiger Fürst Schuiskij, die wie der Rest des Ensembles in russischer Sprache singen (mit deutschen Übertiteln).

Der rauen Tonsprache des „Ur-Boris“ folgend, durchschreitet Dortmunds Philharmonisches Orchester unter der Leitung von Jac van Steen den großen Reichtum von Mussorgskys Partitur. Kinder- und Volksweisen, derbe Trinklieder, religiöse Choräle, Ausbrüche des Wahnsinns und der Verzweiflung klingen nicht immer ohne Wackler, aber mit zunehmender Vehemenz aus dem Graben.

Das Anarchiebild im Wald bei Kromy, das in Dortmund den Schluss bildet, könnte kaum deprimierender sein. Das marodierende Volk, kurz zuvor noch gegen Boris und dessen Blutschuld murrend, akklamiert unter Hurrageschrei den falschen Dimitri: einen Hochstapler und Mörder mit höchst zwielichtigen Absichten. Die Trostlosigkeit kulminiert im Klagelied des Gottesnarren: „Wehe dir, weine, du hungerndes Russland.“

(Informationen und Karten: www.theaterdo.de)




Was heißt denn hier naiv – Kunsthalle Recklinghausen zeigt Werke von russischen Laienmalern

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wenn wir von naiver Kunst reden, so ist das allemal ein unscharfer Sammelbegriff. Sicher, da gibt’s die unbedarften Sonntagsmaler, die aus schierem Horror vacui (Angst vor Leere) auch noch den letzten Bildwinkel besinnungslos füllen – gegen jede kompositorische Vernunft. Doch manche, die gleichfalls „naiv“ genannt werden, sind eher subversiv veranlagt und üben sich im freien Spiel mit dem vom Kunstbetrieb Verdrängten.

Mit der Recklinghäuser Kunsthalle traut sich jetzt mal wieder ein stockseriöses Haus ans Thema heran – eine Anknüpfung an örtliche Gepflogenheiten, denn hier setzte sich schon der frühere Hausherr Thomas Grochowiak fürs rege Schaffen der Laien ein. Auf drei Etagen präsentiert man nun rund 60 Arbeiten von „Russischen Naiven“ neueren Datums.

Die Bilder stammen aus der weltgrößten Spezialsammlung, welche von der Galeristin Charlotte Zander in einem Schloss bei Stuttgart verwahrt wird. Im „Ländle“ (Tübinger Retrospektive) ist derzeit ja auch der Berühmteste aller Naiven zu bewundern: der „Zöllner“ Henri Rousseau, der längst alle Weihen der Kunstgeschichte empfangen hat.

Die Russen stehen immer noch mehrheitlich für eine dörflich orientierte Themenwahl, die meist um Frömmigkeit und Feste im Jahreslauf kreist oder auch Wolfsrudel in sibirischer Kälte aufsucht. Das unverkennbare Prägemuster etlicher Bilder gibt die große Ikonen-Tradition vor. Und diese religiösen Schöpfungen waren nun einmal flächig, sie enthielten sich jeder perspektivischen Raffinesse.

Das Ungelenke wird kultiviert

Recklinghausens Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich scheint aber selbst ein wenig im Zwiespalt zu stecken. Sein geschulter Blick merkt den Bildern natürlich „das Ungelenke, Nicht-Gekonnte“ an. Derlei Defizite aber würden von den Besten der Zunft auf frappante Außenseiter-Weise „kultiviert“ und produktiv gewendet, findet der Museumsmann.

Gilt also der Spruch „avanti dilettanti“? Beileibe nicht nur. Wenn etwa ein Pawel Leonow seine üppigen Szenarien von freudigen Festivitäten ausbreitet, so geschieht dies zwar ohne jede Perspektive und Tiefenstaffelung. Doch seine umstandslos aufzählend und aufschichtend gestuften Werke verweisen auf moderne Verfahren der seriellen Art.

Auf Bildern wie „Treffen der Königin von Holland“ (1998) reiht Leonow alle Geschehnisse simultan . Es ist eine Malerei wie mit staunend offenem Munde, manches Gesehene zwanghaft wiederholend. Groteske Fügungen: Vögel fliegen immer wieder in derselben Gruppen-Formation, Hubschrauber reihen sich artig ein. Auch auf der Straße sind Autos und Tiere brav hintereinander unterwegs. Überholen verboten. Musiker, die zum Fest aufspielen, erscheinen in symbolhafter Erstarrung wie auf einem Fries. Und alles, selbst ein ansonsten munterer Zirkus, wird von akkuraten Hecken rechteckig eingefriedet; ganz so, als seien die Phantasie-Räume, die sich da öffnen könnten, dem Künstler selbst zu weitläufig.

Wo die nackten Paare fliegen

Mag die pure Malweise auch naiv, wenig professionell (und gar nicht akademisch) wirken, so könnte die Haltung, die sich dahinter offenbart, als nahezu avanciert gelten. Postmoderne Profis, die eh mit allem Verfügbaren spielen, fänden wohl einiges Vergnügen darin. Ganz und gern zu schweigen von Joseph Beuys‘ altem Sprüchlein, jeder sei ein Künstler.

Bildmächtigster Maler der Schau, die punktuell auch schon mal an die Kitschgrenze rührt, ist wohl Alexander Belych. Seine seltsam symmetrische, jedoch mehrdeutige Darstellung „Liebe, Liebe“ summiert in Chagall-Manier fliegende nackte Paare, einen lüsternen Wolf, körperlose Hände, die sich aus einem züngelnden Feuer recken, sowie allerlei erzählendes Beiwerk. Ist’s nun das Paradies oder nicht doch eine Hölle der Liebenden?

Russische Naive. Kunsthalle Recklinghausen (direkt am Hauptbahnhof). Bis 30. September. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 2,50 DM, Katalog 25 DM.




Als die Zukunft brodelte – Wuppertaler Ausstellung aus dem Umkreis der russischen „Futuristen“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit grell bemalten Gesichtern und in wallenden Phantasie-Gewändern zogen sie durch Moskau oder St. Petersburg. Manche trugen auch schrille gelbe Brillen zur Schau. Wenn sie sich zu Gruppen vereinten, nannten sie sich beispielsweise „Karo Bube“ oder „Eselsschwanz“.

Etwas verrückte „Szenen“ gab es eben schon lange vor unserer Zeit. Besagte Leute waren russische Künstler, Musiker und Dichter um 1910. Mit dem Furor der Jugend forderten sie, die gesamte bisherige, „von Ratten zerfressene“ Kultur müsse erneuert werden. Ganz und gar der Zukunft zugewandt, verstanden sie sich als „Futuristen“ – ein Wort, das in Italien erst später aufkam.

„Die Russen sind da“, verkündet ein großes Transparent vor dem Eingang. Fast klingt’s wie eine Reminiszenz an Ängste aus dem Kalten Krieg. Doch das Wuppertaler Von der Heydt-Museum zeigt nur einen Querschnitt durch das russische Kunst-Schaffen jener bewegten Zeiten nach 1900. Die 155 Werke von 33 Urhebern, vornehmlich aus St. Petersburg geliehen und in dieser Fülle bei uns noch nie gezeigt, fasern freilich im Verbund mit Gebrauchs- und Textilkunst zu einer verwirrenden stilistischen Vielfalt aus. Das Wort „Futuristen“ dient hier nur noch als notdürftige Klammer und umfasst alle, die damals nach vorn schauten.

Keine Verherrlichung des Krieges

Die Namen der meisten Künstler sind bei uns unbekannt. Selbst in ihrer Heimat, wo Stalin sie in den 30er Jahren drangsalierte, sind sie weithin vergessen. Während Italiens Futuristen um den Manifest-Autor Marinetti sich generell an Dynamik berauschten (sei es in Gestalt von Rennautos, brodelnden Großstädten oder Kriegsgetümmel), begriffen die Kunstler aus den weiten russischen Landen den Krieg nicht als stählernes Reinigungsbad. Natalija Gontscharowa ließ auf einer Lithographie von 1914 gar Engel eingreifen, um bedrohliche Flugzeuge am Himmel aufzuhalten…

Auch priesen die Russen die Metropolen keineswegs als einzig wahre Gär-Stätten der Moderne. Ländliche Motive, allerdings formal aufgefächert oder aufgesplittert, kommen hier häufig vor. Wurzeln in der Volkskunst sind unverkennbar, doch zeitgemäße Impulse aus Expressionismus oder Kubismus ließen eine arglose Weltsicht nicht mehr zu. Auch Bauern und Pferde werden vom Gewitter der Formzertrümmerung erfasst.

Das Neue ersehnen oder vor seiner Gewalt erzittern

Einen gewissen Schwerpunkt der Schau bilden Arbeiten von David Burliuk (1882-1967), der zu Beginn des Jahrhunderts an Ausstellungen beim „Blauen Reiter“ in München beteiligt war. Künstlerische Eigenkraft mag man ihm nur bedingt zusprechen. Beflügelt von allgemeiner Aufbruchstimmung, wirken seine in Werke noch vielversprechend, doch später verlieren sie sich in knatschbunt kolorierter Gefälligkeit. Derlei ästhetische Sinkflüge oder gar Abstürze werden in Wuppertal reichlich, wenn auch summarisch (dicht gehängt) abgehandelt.

Doch es finden sich auch etliche Bilder, die seinerzeit als wild empfunden wurden und heute noch beträchtliche Energie ausstrahlen. Einige der stärksten Beiträge stammen von Frauen: Die erwähnte Gontscharowa hat mit dem rasanten „Radfahrer“ (1913) gar eine der Ikonen der Jahrhundert-Frühe gemalt. Elena Guros „Frau mit Tuch“ (1910) ist in kühner Ausschnittwahl und riskanter Farbgebung eines der originellsten Bilder der gesamten Auswahl. Die kubistischen Formfindungen der Vorjahren in Köln schon eingehend vorgestellten Ljubow Popowa halten jeden Vergleich aus.

Höchst einprägsam ist auch Pavel N. Filonows Großformat „Umwandlung des Menschen“ (1914/15). Es handelt natürlich noch nicht von Gentechnik, wohl aber vom seelisch-körperlichen Elend des Proletariats in den wuchernden Städten. Diese Menschen erzittern geradezu vor ragenden Hochhäusern und überhaupt vor der Gewalt des Neuen. Ein erschütternder Blick auf die Kehrseite der Zukunft.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 17. September bis 26. November. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 45 DM.

 




Kunst im Dienst der Revolution – Werkschau über die Russin Ljubow Popowa

Von Bernd Berke

Die jahrelangen Vorbereitungszeiten für Kunstausstellungen haben manchmal seltsame Folgen: So wird ausgerechnet jetzt im Kölner Museum Ludwig einer „Tochter der russischen Revolution“ die Ehre erwiesen. Damit steht man natürlich quer zu allen Entwicklungen.

Die Künstlerin Ljubow Popowa (1889-1924) ist seit den 20er Jahren nicht mehr mit einer Einzelausstellung gewürdigt worden. Also gibt es eine praktisch unbekannte Größe zu entdecken, die im Umkreis von Berühmtheiten wie Malewitsch, Archipenko und Tatlin gewirkt hat.

Ljubow Popowa ist höchst empfänglich für Anregungen und Vorbilder. So orientiert sie sich – nach frühen, hochtalentierten Naturstudien – zunächst am Impressionismus, dann an Cézanne, sodann an Kubismus und Futurismus, schließlich am vollends abstrakten „Suprematismus“ eines Kasimir Malewitsch. Nicht immer findet sie dabei zu gänzlicher Eigenständigkeit, auch wenn sich die Farbigkeit ihrer kubistischen Bilder (fernes Vorbild: russische Ikonen) von Picasso und Braque deutlich abhebt.

Am interessantesten ist sicher Popowas abstrakte Phase, die etwa 1916 beginnt. Erstaunlich die Dynamik, die sie auf der Bildfläche mit ihren „Raum-Kraft-Konst-Konstruktionen“ erzielt. Sie hat solche durchaus beachtlichen Form-Errungenschaften alsbald ganz in den Dienst der Revolution und kommunistischer Propaganda gestellt. Da erweist sich die Tendenz zur Abstraktion vom Menschenbild denn manchmal auch im schlechten Sinne als Über-Formung. Besonders deutlich wird dies anhand ihrer Entwürfe für Schauspielerkostüme, die nicht nur für die Bühne, sondern fürs ganze Leben gedacht waren und sehr stark an Uniformen gemahnen.

Andererseits sind gerad Popowas Bühnenbildentwürfe (vor allem zu Inszenierungen von Wsewolod Meyerhold) bemerkenswerte Belegstücke der Theatergeschichte. Hier wird Abstraktion in Gestalt von Gitter- und Rippenmustern sowie maschinenförmigen Aufbauten ganz real wirksam. Man kann sich gut vorstellen, wie hier die gesamte Theatermaschinerie entfesselt wurde, um den „neuen Menschen“ gleichsam auf der Bühne zu erzeugen. Diese Kunst hat etwas grandios Vorwärtsdrängendes und Zukunftsgewisses, sie entspricht eben dem damaligen Revolutionsoptimismus.

Am Ende ihres sehr kurzen Lebens (Stalins Drangsalierung avantgardistischer Kunst erlitt sie nicht mehr) wandte sich die Popowa völlig von der Tafelbildmalerei ab. Kunst, so damals nicht nur ihr Bekenntnis, mußte mitten im Leben wirken, mußte „Produktionskunst“ werden. Hierfür stehen abstrakte Stoffmuster-Entwürfe für eine „Mode der Zukunft“, die in Fabriken massenhaft angefertigt werden sollte.

Ljubow Popowa. Malerin der russischen Avantgarde. Köln, Museum Ludwig. 1. Oktober bis 1. Dezember, di-do. 10-20 Uhr, fr.-so. 10-18 Uhr. Eintritt 8 DM. Katalog 45 DM.




Ikonenmuseum in Recklinghausen – die größte Sammlung der westlichen Welt

Von Bernd Berke

Das Jesuskind liegt nicht im Stall, sondern in einer dunklen Höhle. Statt in eine liebliche Landschaft blicken wir auf ein zerklüftetes Felsmassiv. Die Jungfrau Maria beugt sich nicht über Christus, sondern liegt, dem Betrachter zugewandt, malerisch hingestreckt. Josef hat der Szenerie sogar ganz den Rücken zugekehrt.

Josef spricht mit einer Gestalt im blauen Fellgewand. Theologen und Kunsthistoriker vermuten, daß diese Figur einen Versucher darstellt, der in Josef Zweifel an dem Vorgang der Jungfrauengeburt entweder wecken oder bestärken will.

Das Bild widerspricht nicht von ungefähr unserer gewohnten Vorstellung vom Geschehen in der Heiligen Nacht. Es handelt sich nämlich um eine Ikone, also um ein Andachtsbild, das am Ende des 16. Jahrhunderts in Griechenland entstanden ist und heute im Ikonen-Museum Recklinghausen hängt. Dort befindet sich die größte Ikonensammlung der ganzen westlichen Welt.

*

Die Madonna ist eine Fälschung

Eva Haustein sieht es sofort: „Kein Zweifel. Das ist eine Fälschung!“ Und das, obwohl die Ikone, die ein Bekannter im Jugoslawien-Urlaub gekauft hat, erst seit Sekunden auf ihrem Tisch liegt. Die 500 DM, die der Leichtgläubige dafür berappt hat, waren hinausgeworfenes Geld. Die Expertin erkennt gleich: „Das ist ein ganz bekanntes Motiv. Aber der Kopist hat die Engel in beiden oberen Ecken vergessen.“ Außerdem hat er sich nicht die Mühe gemacht, mehrere Farbschichten aufzutragen. Ein Kratzer mit dem Fingernagel, und schon ist es vorbei mit der Herrlichkeit. Das blanke Holz scheint unmittelbar durch. Und mit dem steht es denn auch nicht zum besten. Eva Haustein: „Je älter und vergammelter das Holz aussieht, desto verdächtiger. Echte Ikonentafeln sind meistens relativ gut erhalten.“

Eva Haustein weiß, wovon sie spricht. Die 31-Jährige ist Leiterin des Ikonenmuseums Recklinghausen und damit „Herrin“ über die größte Ikonensammlung der gesamten westlichen Welt. Über die Entstehung dieser Einrichtung hat sich eine hartnäckige Anekdote gehalten: Als 1955 in Recklinghausen die Ratsentscheidung über die Einrichtung eines Ikonenmuseums anstand, konnten sämtliche Parteien aus voller Seele zustimmen. Freilich jede aus ureigenen Gründen: Die CDUCDU, weil es um christliche Güter ging; die SPD, weil diese Kunst von breiten Volksschichten ausgeübt wurde; die FDP, weil es sich um Wertanlagen handelte – und die damals noch im Rat vertretene KPD, weil die meisten Ikonen aus der „ruhmreichen Sowjetunion“ stammten. So jedenfalls will es die Anekdote.

Wie auch immer. Dem „Gründervater“ des Museums, Thomas Grochowiak (70), war Erfolg beschieden. Seit dem Sommer 1956 gibt es in der Stadt der Ruhrfestspiele das Ikonenmuseum. Es beherbergt heute rund 700 Exponate. Das älteste Bild stammt von ca. 1300 n. Chr. Die Besucher (rund 12 000 im Jahr) kommen oft aus den Niederlanden, aber auch aus dem Ostblock. Begonnen hatte alles mit der vergleichsweise bescheidenen Ausstellung einer Privatsammlung. Bescheiden war übrigens auch die Ausstattung des Museumsetats in den letzten Jahren. Geld für Neuankäufe gab es nicht mehr, und für die wissenschaftliche Betreuung der Sammlung ist nur noch eine Halbtagsstelle vorgesehen.

Finanzkraft aber ist vonnöten – auch für den privaten Ikonensammler. Lohnt es sich eigentlich, Ikonen zu sammeln? Eva Haustein ist skeptisch. Der Einstieg sei heute nur noch bedingt empfehlenswert. Die wirklich kostbaren Stücke befinden sich längst in festen Händen. Auf dem Markt sind fast nur Exemplare aus dem 19. Jahrhundert, und die stellen meist keine besonders attraktive Wertanlage dar.

Sowjetunion hat ein striktes Ausfuhrverbot verhängt

Über ältere Ikonen hat die Sowjetunion, ehedem „Hauptlieferant“ mit den Zentren Kiew, Nowgorod und Moskau, ein striktes Ausfuhrverbot verhängt. Nach der Oktoberrevolution hatte man noch, wenn sie nicht gleich zerstört wurde, die verhaßte Christenkund „mit Kußhand“ außer Landes gehen lassen. Mittlerweile haben die Sowjets auch auf diesem Gebiet entdeckt, welch großes kullurelie Erbe es zu hüten gilt. Die Folgen sind mitunter drastisch: Vor wenigen Jahren etwa bekam ein Matrose, der auf dem Seeweg Ikonen herausschmuggeln wollte, eine hohe Haftstrafe.

Ikonen jüngeren Datums sind deshalb mit Vorsicht zu genießen, weil es seit langem ganze „Maldörfer“ gibt, die die Bilder für Touristengleichsam am Fließband produzieren – der eine malt nur Heiligenscheine, der zweite fügt Engel hinzu – und so fort. Nicht eben hochwertig ist auch die Ware, die in sowjetischen Devisenläden für harte Westwährung verhökert wird. Da nützt auch das beigefügte „Zertifikat“ des Kultusministers wenig.

Kein Wunder, daß die Preise für wirklich alte Ikonen in schwindelnde Höhen geklettert sind. .Unter 100 000 DM ist da nichts mehr zu machen. Auch für gute Stücke aus dem 19. Jahrhundert werden Beträge um 3000 bis 6000 DM verlangt.

Ikonen-Museum, Kirchplatz 2 a, 4350 Recklinghausen. Öffnungszeiten: di-fr 10 bis 18 Uhr, samstags, sonn- und feiertags 11 bis 17 Uhr, montags geschlossen, 1. Weihnachtsfeiertag geschlossen. Eintrittspreis für Erwachsene 2 DM, Führungen für Gruppen über 15 Personen nach Vereinbarung (Tel.: 02361/58 73 96)

____________________

Erschienen in der Rundschau-Wochenendbeilage vom 22. Dezember 1984.