Sensation! Das Ruhrgebiet heißt wieder Ruhrgebiet

Ein Bildmotiv der neuen Ruhrgebiets-Kampagne: smarte junge Frau mit Laptop auf alter Industrie-Lok. (Foto: RVR)

Welch eine aufregende Mitteilung uns aus Essen bzw. Gelsenkirchen ereilt! Das Ruhrgebiet darf wieder schlichtweg Ruhrgebiet heißen, wenn es um die Werbung für die Region geht. Das Revier (früher auch schon mal von übereifrigen Kreisen „Ruhrstadt“ genannt) muss sich also nicht mehr zur „Metropole Ruhr“ aufplustern und sich als Weltstadt gerieren.

Garrelt Duin, noch relativ neuer Regionaldirektor beim Regionalverband Ruhr (RVR) und vormals NRW-Wirtschaftsminister aus den Reihen der SPD,  mochte das Metropolen-Gerede nicht mehr so gern hören. Diese Regung lässt sich gut nachvollziehen. Wie das selbsternannte Ruhrgebiets-Zentralorgan, die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ), gleichsam hochroten Kopfes berichtet, soll die Gegend künftig mit dem Slogan „Ruhrgebiet – Die grüne Industrieregion“ beworben und vermarktet werden. Tja. Ob das (auf Neudeutsch) ein „Game Changer“ sein wird?

Plakate und Schaukästen in maßgeblichen Städten wie Berlin, Frankfurt und München sollen es den – womöglich ahnungslosen – Bewohnerinnen und Bewohnern beibringen. Laut RVR finden die Auswärts-Auftritte in „Out-of-Home-Flächen“ statt. Man ist eben nicht nur heimatverbunden, sondern auch weltläufig. Und natürlich total digital: Die frohe Botschaft soll in allen wesentlichen sozialen Netzwerken verbreitet werden. Alles andere wäre ja auch fahrlässig. Ohne TikTok und Konsorten geht bekanntlich nicht mehr viel.

Das Kampagnen-Motto borgt man sich derweil bei Herbert Grönemeyer, dessen altes, leicht angegrautes Bochumer Revier-Image sie hierzulande einfach nicht ruhen lassen wollen, obwohl er längst nicht mehr im „Pott“ lebt. „Bleibt alles anders“ hieß 1998 eines seiner Studioalben, „Hier bleibt alles anders“ paradoxt der RVR nun geflissentlich hinterdrein. RVR-Chef Garrelt Duin vergaß bei der Kampagnen-Präsentation in Gelsenkirchen nicht zu erwähnen, dass Grönemeyer die Anleihe gebilligt habe; keine Selbstverständlichkeit, hat „Herbie“ doch jüngst dem grünen Vizekanzler und Kanzlerkandidaten Robert Habeck untersagt, seinen Song „Zeit, dass sich was dreht“ zitierend zu verwenden – und sei’s auch nur leise gesummt. Auch der CDU wurde keine Song-Erlaubnis zuteil.

Wie üblich, haben für die neue Kampagne wieder etliche Köpfe geraucht, gewiss nicht unentgeltlich. Wie ebenfalls üblich, wurde das Resultat nicht im Revier selbst ausgebrütet, sondern bei der Agentur Scholz & Friends in Hamburg. Jetzt aber bitte keine müden Querverweis-Scherze mit dem Namen Scholz! Oder mit friends und Hamburg. Am besten mal gar keine Scherze, woll?!

 




Das Ruhrgebiet – von allen Seiten betrachtet: 100 Jahre Regionalgeschichte, wichtige Kulturbauten und zigtausend Luftbilder

Auch ein Aspekt bei „100 Jahre Ruhrgebiet“: selbstironische Imagekampagne „Der Pott kocht“ (1999) mit einem hässlichen Entlein aus dem Revier. (© Leihgeber Regionalverband Ruhr RVR)

Zur Zeit geht’s aber so richtig rund mit der allseitigen Selbstvergewisserung im Ruhrgebiet: Neben der hier bereits ausführlich vorgestellten Schau „Kindheit im Ruhrgebiet“ des Essener Ruhr Museums gibt es jetzt mehrere bemerkenswerte Projekte, welche die ganze Region in den Blick nehmen.

Zuvörderst wäre eine weitere, noch aufwendigere Ausstellung des Ruhr Museums zu nennen, die parallel zu den Kindheits-Betrachtungen läuft: „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“ umgreift mit über 1000 Exponaten alle wesentlichen Bereiche des öffentlichen Lebens im Revier, und zwar seit Gründung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, die am 4. Mai 1920 von der preußischen Landesversammlung beschlossen wurde, um den „Wilden Westen“ zu zähmen und zu ordnen. Erst damals entstand im Ruhrgebiet das Bewusstsein der Gemeinsamkeiten. Der Rundgang durch die Ausstellung erweist sich als vielfach aufschlussreicher Streifzug durch Politik, Verwaltung, Industrie, Infrastruktur, Kultur, Wissenschaft und Sport in der Region. Welch eine überbordende Themenfülle! Mehr Einzelheiten dazu folgen demnächst an dieser und an anderer Stelle, nämlich im „Westfalenspiegel“.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“. 13. September 2020 bis 9. Mai 2021 im Ruhr Museum, Zeche Zollverein, Essen, Gelsenkirchener Str. 181 (Navi: Fritz-Schupp-Allee). Gebäude Kohlenwäsche, 12-Meter-Ebene. Geöffnet Mo-So (täglich) 10-18 Uhr, Eintritt 7, ermäßigt 4 Euro. Kinder/Jugendliche unter 18 frei. Katalog im Verlag Klartext (304 Seiten, über 300 Abb.), 29,95 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de

Stätten der Revierkultur

Glamouröser Auftritt: Hollywood-Star Joan Crawford mit einem Modell des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier – bei Eröffnung der Ausstellung „The New Theatre in Germany“, New York, 5. Februar 1961. (Silbergelatine-Abzug / © Baukunstarchiv NRW)

Eine zweite regionale Selbstbetrachtung mit deutlich mehr eingrenzender Fokussierung ist jetzt im Essener Museum Folkwang zu sehen, und zwar die Ausstellung mit dem (ironisch) staunenden Titel-Ausruf „Und so etwas steht in Gelsenkirchen…“ Hier dreht sich alles um bedeutsame „Kulturbauten im Ruhrgebiet nach 1950″ (Untertitel). Die in Kooperation mit dem Dortmunder Baukunstarchiv NRW und der TU Dortmund entstandene Zusammenstellung umfasst vor allem Skizzen, Pläne und Modelle, beispielsweise zu Bauten wie dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier, der Essener Aalto-Oper und dem Bottroper Museum Quadrat.

„Und so etwas steht in Gelsenkirchen…“. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. Bis 10. Januar 2021. Öffnungszeiten Di, Mi, Sa, So 10 – 18 Uhr, Do, Fr 10 – 20 Uhr, Mo geschlossen. Der Katalog (ca. 200 Seiten, 34 Euro) erscheint im November 2020 im Dortmunder Verlag Kettler.

Aus der Vogelperspektive

Nur mal so als Beispiel von der Seite 3d.ruhr: Schrägluftbild des Dortmunder Westfalenstadions (aka Signal-Iduna-Park), des Stadions Rote Erde, der Körnighalle, der Westfalenhalle und des Messegeländes. (© Geonetzwerk Metropole Ruhr / Regionalverband Ruhr (RVR) / virtualcity SYSTEMS GmbH)

Die Resultate des dritten Projekts kann man besichtigen, ohne das Haus zu verlassen. Auf der Internetseite https://www.3d.ruhr lassen sich – Stück für Stück, Straße für Straße, Haus für Haus – die Städte und Kreise des Ruhrgebiets aus der Vogelperspektive betrachten. Ein kurzes Video auf der Startseite erklärt diverse Zugriffs-Möglichkeiten. Insgesamt 150.000 Luftbilder sind die Grundlage für diesen bundesweit beispiellosen Auftritt, für den die Vermessungs- und Katasterämter der gesamten Region sich untereinander abgestimmt haben. Federführend beteiligt ist der Regionalverband Ruhr (RVR).

https://www.3d.ruhr

 

 




Mach mal Pause? Der Literaturpreis Ruhr auf Schlingerkurs

2019 soll die seit 1986 jährlich stattfindende Verleihung des Literaturpreises Ruhr ausfallen – ein Neustart mit „geschärftem Profil“ wird für 2020 angekündigt. Was könnte diese Nachricht bedeuten?

Gruppenbild von der (vorerst) letzten Preisverleihung mit (v. li.): Oliver Driesen (Förderpreisträger), Ingrid Kaltenegger (Förderpreisträgerin), Dietmar Dieckmann (Kulturdezernent Bochum), Elke Heinemann (Hauptpreiströgerin), Ulli Langenbrinck (Laudatorin), Monika Simshäuser (Vorsitzende im RVR-Kulturausschuss), Hanns Krauss. (Foto: RVR/Tack)

Gruppenbild 2018 von der (vorerst) letzten Preisverleihung mit (v. li.): Oliver Driesen (Förderpreisträger), Ingrid Kaltenegger (Förderpreisträgerin), Dietmar Dieckmann (Kulturdezernent Bochum), Elke Heinemann (Hauptpreisträgerin), Ulli Langenbrinck (Jurymitglied/Laudatorin), Monika Simshäuser (Vorsitzende im RVR-Kulturausschuss) und Hannes Krauss (Jurymitglied). (Foto: RVR/Tack)

Als bei der Verleihung des Literaturpreises Ruhr 2016 im Gladbecker Martin Luther Forum das Grußwort des Regionalverbandes Ruhr aufgesagt wurde, verkaufte Jörg Obereiner, der grüne Repräsentant des Ausschusses für Kultur und Sport, ganz nebenbei als Erfolg, dass der Literaturpreis Ruhr in Zukunft nur noch zweijährlich vergeben werde.

Hinter den RVR-Kulissen war zuvor sogar zu hören, dass man diskutiere, den Preis zugunsten des Journalistenpreises „Lorry“ ganz abzuschaffen. Nur interner wie öffentlicher Druck verhinderten diese Pläne. Der RVR ruderte wieder einmal zurück und erhöhte ab Herbst 2018 – erstmals nach 14 Jahren – den Preis-Etat generös um ein paar Tausender.

Gala statt Prosa

Mit der Neubesetzung des Literaturbüros Ruhr und der Aufstockung des Personals wurde dann ab Juni 2018 unter dem Logo „Alles neu!“ auch eine Umgestaltung des Literaturpreises und seiner verstaubt scheinenden Verleihungsmodalitäten angekündigt. Aus der Preisverleihung sollte eine „Verleihungsgala“ werden, man lud Jörg Thadeusz als Moderator des Abends ein und die Zucchini Sistaz als sexy Trio fürs Auge und Easy-Listening-Act fürs Ohr: „Mit Netzstrümpfen und falschen Wimpern katapultieren uns die drei frechen Damen in die goldene Swing-Ära.“

Nur wollte dies alles so gar nicht zur literarischen Arbeit der Hauptreisträgerin Elke Heinemann passen, von der die Laudatorin Ulli Langenbrinck sagte:
„Die Jury würdigt mit Elke Heinemann eine beharrlich widerständige Autorin, die ebenso virtuos wie ironisch gesellschaftliche Klischees, die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und menschlicher Bedürfnisse, die Glaubenssätze und vermeintlichen Gewissheiten unserer Gegenwart seziert.“

Hauptpreisträgerin, geehrt?

Die Verdrängung von Literatur zugunsten von Talk & Trubel, Self-Marketing des RVR/Literaturbüros Ruhr, öden Grußworten und Gratis-Buffet fand ihren Höhepunkt darin, dass Jörg Thadeusz ohne Absprache das geplante Gespräch mit der Hauptpreisträgerin ausfallen ließ, auch für die von ihr vorbereitete „Selbstauskunft“ sollte es keinen Raum geben. Ein Affront. Geplant allerdings war als „Neuerung“ eine Lesereise mit der Hauptpreisträgerin. „Erstmalig hat das Literaturbüro Ruhr mit Unterstützung des Literaturnetzwerks literaturgebiet.ruhr eine Lesereise für den Hauptpreis organisiert“.

Mal davon abgesehen, dass das Literaturbüro Ruhr auch zuvor mit Hauptpreisträgern oft über viele Jahre zusammengearbeitet hat, kam es bei der Organisation der Lesereise zwischen dem Literaturbüro und Elke Heinemann zu allerlei Querelen. Als die Hauptpreisträgerin sich über unzureichende Organisation und ungeklärte Zahlungsmodalitäten beschweren musste und um verbindlichere Infos bat, sagte das Literaturbüro Ruhr die Lesereise am 1. Februar 2019 kurzerhand ab. Mittlerweile haben Elke Heinemann und engagierte Partner im Ruhrgebiet die Lesereise ohne Litbüro/RVR organisiert.

Drucksache

Alljährlich werden Haupt- und Förderpreise des Literaturpreises Ruhr vom Literaturbüro Ruhr/RVR ab Mitte Januar online ausgeschrieben; die Print-Ausschreibung erfolgt etwas später. In diesem Januar geschah dies nicht – und heute konnte man der WAZ (Seite „Kultur & Freizeit“) entnehmen, dass der Preis 2019 gar nicht ausgeschrieben werden soll. Der RVR selbst – unbeholfen wie oft – schreibt zuvor in einer „Anlage zur Drucksache Nr. 13/1372: Weiterentwicklung des Literaturpreises Ruhr“:

„Durch eine Weiterentwicklung soll der Literaturpreis Ruhr stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Ziel der Weiterentwicklung ist es, dass die Autorinnen und Autoren wirksamer von der Auszeichnung profitieren und der literarische Nachwuchs stärker eingebunden wird. Zudem soll das Profil des Preises geschärft sowie auf (sic, GH) aktuelle Entwicklungen angepasst werden.
Das Literaturbüro Ruhr und der RVR möchten gemeinsam und unter Einbeziehung der Jury eine weiterentwickelte Konzeption für den Literaturpreis Ruhr erarbeiten. (…) Dieses noch zu entwickelnde Konzept soll dem Kultur- und Sportausschuss im Frühjahr 2019 vorgelegt und anschließend umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund wird vorgeschlagen, den Preis im Jahr 2019 pausieren zu lassen, um im RVR-Jubiläumsjahr 2020 und zu seinem 35-jährigen Bestehen neu und gestärkt an den Start zu gehen. In Zukunft soll der Preis weiterhin jährlich vergeben werden.“

Weiterentwicklung oder Hornberger Schießen?

Wird hier mit der schon bekannten, aber ins Leere gelaufenen Ankündigungsrhetorik vom Herbst 2018 erneut versucht, einen misslungenen Neustart doch noch in einen geplant-fundierten Relaunch des Literaturpreises Ruhr umzumünzen? Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.

Unterm Strich bleibt heute festzuhalten: Falls die Verleihung des Literaturpreises Ruhr 2019 ausfällt (im RVR-Deutsch: „pausiert“), was geschieht dann mit dem Budget der Preisverleihung und der Preissumme von 15.110 Euro, die alljährlich an Autorinnen und Autoren vergeben wird? Verfallen sie? Das Literaturbüro jedenfalls wird dieses Geld nicht ins Haushaltsjahr 2020 hinüberretten können, weil das Land NRW sonst seinen 2020er-Fehlbedarfszuschuss ans Literaturbüro um genau diesen Betrag kürzen müsste. Und was – um Himmels willen – spräche eigentlich dagegen, den Literaturpreis Ruhr 2019 zu vergeben und parallel dazu die Neuausrichtung des Preises zu diskutieren?

Bleibt zu hoffen, dass aus der Pause und „Weiterentwicklung des Literaturpreises Ruhr“ nicht doch noch seine Verschleppung oder schleichende Abwicklung werden. Misslungene Versuche dazu hat der RVR schon des Öfteren unternommen.




Hat Literaturförderung eine Zukunft? Oder: Ein Interview als Selbstversuch

Zum 1. April 2018 habe ich im Literaturbüro Ruhr e.V. als wissenschaftlicher Leiter gekündigt. Kein Wunder, dass ich des Öfteren gefragt werde, ob ich zum vorzeitigen Abgang ein Interview gäbe. Angeregt durch die Sammlung „Unmögliche Interviews“ des Wagenbach Verlags und David Foster Wallaces „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ habe ich mich heute endlich dazu entschlossen, mich – mir nichts, dir nichts – selbst zu interviewen. Denn, so sagt Novalis, „Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.“

Beim „Kaputten Abend 1“ im Maschinenhaus der Zeche Carl – Maria Neumann (Theater an der Ruhr), geschultert von Gerd Herholz; Foto: Jörg Briese

Drei Jahrzehnte Literaturbüro Ruhr? Wie hält man das aus?
Sie hatten doch intelligente Fragen versprochen. Naja …
Heute scheint tatsächlich jeder verdächtig, der sich über längere Zeit einer Sache widmet. Die Beschäftigung mit Literatur in all ihren Facetten aber bleibt ein Leben lang  inspirierend und bereichernd. Man kann übrigens hier- und dennoch nicht zurückbleiben.

Empfinden Sie Wehmut zum Abschied?
Mut und Weh zugleich. Von Meister Eckhart stammt der Satz: „Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist.“ Da stimme ich gottloser Humanist dem begnadeten Mystiker zu, spät und wahrscheinlich auch zu spät.

Wahrlich mystisch! Das heißt konkret?
Innehalten. Es braucht Muße, um wieder zu sich zu kommen. Als Rollenspieler im Hamsterrad der Literaturförderung war ich zu oft außer mir, eingespannt bei der Suche nach Fördermitteln, medialer Aufmerksamkeit, Publikum, aber auch in die bitter notwendige Kritik öffentlicher Kulturpolitik, war also Teil eines zwar noch nicht rasenden, aber rasanten Stillstands. Die Literatur, das Lesen, das Dem-Gelesenen-Nachsinnen, all das kommt eindeutig zu kurz. Ein Literaturbüro ist zwar immer auch ein Biotop für Literaturbekloppte, aber eben viel zu selten.

Hate Poetry-Abend des Literaturbüros im Essener Katakombentheater – u.a. mit Hasnain Kazim & Doris Akrap; Foto: Jörg Briese

Das war’s jetzt mit dem Weh?
Nein. Weh tut im Moment des Abschieds, dass es so scheint, als ob die Zukunft des Literaturbüros als Komplize literarischen Eigensinns verramscht würde. Da machen gedankenlose Vordenker  wohl schon länger obskure Planspiele zum Um- oder Abbau des Trägervereins, ohne dessen Vorstand und Mitglieder oder mich als Leiter des Büros überhaupt zu informieren. Insbesondere aus dem Umfeld des Regionalverbands Ruhr hört man, dass sich das Literaturbüro Ruhr mehr zu vernetzen habe, umzustrukturieren, vielleicht seine Landeszuschüsse in ein neues „Literaturzentrum“ überführen, sich gar einen neuen Standort außerhalb Gladbecks suchen solle.

Wäre denn Veränderung so schlecht?
Die behutsame Entwicklung des Literaturbüros, sein Ausbau wären mir lieber. Die Selbstständigkeit des Vereins, seine Souveränität müssen geachtet werden. Ich lege seit vielen Jahren beharrlich, aber vergeblich auch dem RVR Konzepte dazu vor, wie ein Literaturhaus, ein Literaturnetz Ruhr, Residenzen/Stadtschreiberstellen und der Literaturpreis Ruhr zukünftig aussehen könnten.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(von rechts nach links): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Mitglied des Vorstandes Stiftung Zollverein), Dr. Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung),Eva Schuderer (Programm lit.RUHR),Bettina Böttinger (Moderatorin), Dr. Thomas Kempf (Mitglied des Vorstandes der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Der RVR allerdings zeichnete sich bisher nicht durch eine ideenreiche und die Region vehement unterstützende Literaturförderung aus, im Gegenteil: Er hat sie eher verschleppt. Noch planloser sind nur die großen Stiftungen des Ruhrgebiets. Sie geben ab 2017 jährlich eine halbe Million Euro an Kölner Veranstalter, um von dort aus jeweils im Herbst die lit.RUHR organisieren zu lassen. Diese ‚lit.KOLONE‘ ist aber nichts weiter ist als eine schlichte Kopie der lit.COLOGNE: Das Ruhrgebiet – ein starkes Stück Köln! Am grünen Planertisch der hiesigen Eliten-Darsteller denkt man leider nur noch in Kategorien wie Kulturtourismus, Veranstaltungstaumel oder „Dachmarkenmarketing“ – und landet eher bei einem Dachschaden-Marketing.

Das klingt ziemlich aggressiv und verbittert.
Aggression, das heißt auch: sich auf etwas zubewegen. Meinen kleinen Zorn möchte ich mir bewahren. Den Anschein von Einstimmigkeit zu durchbrechen, das macht auch Spaß.
Verbittert? Nein. Aber enttäuscht, vor allem extrem gelangweilt von der immer gleichen größenwahnsinnigen Kulturkampagnenpolitik im Ruhrgebiet, die nicht einmal nach der Loveparade-Katastrophe gründlich infrage gestellt wird. Ich muss mir aber auch selbst vorwerfen, dass ich mich angesichts der kargen Mittel des Literaturbüros Ruhr und der fehlenden kulturpolitischen Unterstützung verschlissen habe bei dem Versuch, Literatur- und Leseförderung auf möglichst hohem Niveau zu gestalten. Man kommt sich vor wie ein Bastard aus Sisyphos, Don Quichotte und Freigänger.

Textrevolte – eine Reihe des Literaturbüros Ruhr

Wie sieht die Zukunft der Literaturförderung im Ruhrgebiet aus? Hat sie überhaupt eine?
Ein Großteil des geistigen Lebens im Alltag der Region wird auf der Strecke bleiben, wenn die Sparpolitik bei der kulturellen Infrastruktur – etwa bei den öffentlichen Büchereien – so fortgesetzt wird. Das dürfte hier aber kaum jemandem auffallen.
Die vielen selten subventionierten Enthusiasten und kleinen Initiativen wird es weiter geben. Solides ehrenamtliches Engagement gegen anämische Festivalitis und Eventitis. Ansonsten: Die hoch bezuschusste lit.RUHR als Festivalzirkus der Beliebigkeit wird das große Geld und vieles an Energie binden. Also immer öfter: Promis als Programm, Kunstsimulation als Konzept. So etwas kann man aber auch von den Ruhrfestspielen sagen: ein Kessel Buntes, Culture-to-go.

Dem Publikum scheint’s zu gefallen.
Man kann dennoch versuchen, nicht populistisch zu werden, wenn man Populäres macht. Und es gibt ein Publikum, das wünscht sich auch im kleineren Rahmen des Alltags das gekonnte Gespräch, den Vortrag guter Literatur auf der Bühne, neue Formate und vor allem politisch-kulturelle Intervention – abseits allen Talkshow- und Marketing-Gesumses. Stattdessen wird es seit Jahren vor allem von der Krimi-Flut überrollt. Ein Wellenreiter wie Sebastian Fitzek wird dabei tatsächlich als Schriftsteller gehandelt und ist doch bloß einer, der in Serie Sprache killt. Allerdings sieht man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten auch viele Kulturpolitiker und –‚manager‘, sogenannte Intendanten, Experten, Hobby-Moderatoren, Dichterdarsteller, die sich so vor die gekonnte Literatur, die Literaten schieben, dass man diese gar nicht mehr sieht.

Wieso setzt sich die Festival-Blase überall durch, wenn sie doch nur einfallslose Mono-Kultur bietet?
Es gibt – wie gesagt – die Begierden der Festivalmacher, immerhin agieren sie in sehr gut bezahlten Jobs. Dazu jede Menge offene und verdeckte Politik-, Verwaltungs- und Sponsorinteressen. Alle wünschen sich den Abglanz glitzernder Kunst-Fassaden, den Imagetransfer. ‚Social washing‘: Da lässt sich halt ein Kulturfestival von ‚Gönnern‘  wie VW oder Mercedes sponsern und die Auto-Patriarchen sind erfreut, sich für ein paar Peanuts abseits aller Abgas- und Affenversuchsskandale in veritable ‚Kultur‘ einzukaufen – eine Kultur, die sie selbst nicht besitzen. Und während des Festivals wird dann dreist von Literatur als Widerstand gesprochen, ein Widerstand, der längst verraten und verkauft wurde. Das Großformat erstickt per se aufrechte Haltung und Integrität.

Und wenn man von der öffentlichen Hand gefördert wird, dann bleibt man sauber?
Mitnichten. Öffentlich geförderte Einrichtungen werden nicht nur ins Abseits gespart, sondern zunehmend mit Zielvereinbarungen, Evaluationen usw. gegängelt. Die Landesrechnungshöfe würden im Gegenzug für öffentliche Förderung gern Mindestzahlen beim Publikumsbesuch fixieren. Quotenwahn statt künstlerischer Freiraum. Um so Quote zu machen, werden Kulturförderer sich schlechtem Massengeschmack weiter anpassen müssen und ihn damit selbst immer neu erzeugen. Das wäre die Selbstaufgabe kritischer Literatur- und Leseförderung. So hechelt sie dem Markt nur noch hinterher, statt dessen Korrektiv zu sein und Freiheitsübungen zu ermöglichen.

Harald Welzer plädiert für eine offene Gesellschaft; Foto: Jörg Briese

Denken ist ein großes Vergnügen, meinte Brecht, aber eben auch anarchisch und gefährlich. Dieser ganze sinnentleerte Kulturtrubel, der nur noch dem Profit, den Zuschauerzahlen und der Standortkonkurrenz verpflichtet ist, das ganze sich totlaufende Eventkarussell als austauschbare Fun-Fassade scheinen mir gewollt. Da sollen sich die Leute zu Tode amüsieren, statt über die Zukunft des Gemeinwesens zu diskutieren.

Wüssten Sie ein Gegengift?
Manchmal wünsche ich mir, ein zweijähriges Moratorium, wie es Hans Magnus Enzensberger 1993 in der FAZ gefordert hat, würde endlich umgesetzt und wir lassen den ganzen hypernervösen, von Sponsoren und öffentlichen Förderern abgerichteten Literaturbetrieb zwei Jahre ruhen, um Literaturförderung neu auszurichten. Das Geld sollte stattdessen dem Erhalt und Ausbau der Bibliotheken zugutekommen. Wer dennoch Literatur auf die Bühne bringen will: okay! Aber das soll man bitte aus der eigenen Tasche oder der der Zuhörer zahlen. Wie viel Zeit wir gewinnen würden fürs Lesen, Nachdenken und für Gespräche!




Die „Kumpel“-Zeit im Ruhrgebiet ist längst vorbei: Jetzt sind nur noch „Akteure“ auf der Zeche

Stillgelegte Fördertürme der Marler Zeche Auguste Victoria (Schacht 1 und 2). (Foto: Daniel Ullrich / Threedots - Wikimedia CReatice Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Stillgelegte Fördertürme der Marler Zeche Auguste Victoria (Schacht 1 und 2). (Foto: Daniel Ullrich / Threedots – Wikimedia Creative Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Es scheint ganz so, als käme man beim Regionalverband Ruhr (RVR) vom angeblich metropolitanen Urbanitäts-Sprech nicht mehr herunter, das eigentlich ein von Bürokraten und Funktionären ausgehecktes, besinnungsloses Event-Sprech ist, welches sich wiederum im Grunde als lebensfernes Schnarch-Sprech erweist.

Auch rückwirkend werden Menschen nach diesem Kauderwelsch kategorisiert. Wollt ihr beispielsweise wissen, wer früher „auf Zeche“ tätig war, also denkbar hart gearbeitet oder – noch viel wahrer ausgedrückt – malocht hat?

Hier erfahrt ihr es. In einer heute lancierten Pressemitteilung aus dem Hause RVR kommt dieser weichgespülte Satz zum WDR-Dokufilm „Der lange Abschied von der Kohle“ vor, der von der Schließungsphase der Zeche Auguste Victoria in Marl handelt:

„Parallel zur Schließungsgeschichte schlägt der Film mit Archivmaterial und Erzählungen von Akteuren den Bogen von den 1950er Jahren bis heute.“

„Erzählungen von Akteuren“. Um mal herzhaft auf Herbert Knebel zu machen: Boaah, ey, glaubsse! Meine Fresse! Auch hier wären sie also zugange (gewesen): die notorischen, laut RVR stets auch für allerlei Ausprägungen der Revierkultur zuständigen „Akteure“ – und offenbar erst in zweiter Linie Bergleute, von „Kumpeln“ ganz zu schweigen.

Diese immer wieder gedankenlos herbeizitierten „Akteure“ können alles und nichts bedeuten. Es müssen wohl blutleere, künstliche Wesen, Zombies oder Aliens sein, die mit Klassenzusammenhängen oder gar Kämpfen nichts mehr zu schaffen haben. Woran sich zwanglos die Frage anschließt: Sind auch landläufige Betriebsnudeln „Akteure“?

Nun aber Fakten, Fakten, Fakten: Für seinen Dokumentarfilm hat Werner Kubny ab Herbst 2015 ein Jahr lang einige Bergleute begleitet. Am Freitag, 5. Januar, läuft die 90-minütige Doku um 20.15 Uhr im WDR-Fernsehen.

Hintergrund ist das endgültige Aus für den Steinkohlebergbau im gesamten Ruhrgebiet, das 2018 mit Schließung der Bottroper Zeche Prosper Haniel bevorsteht. Es ist das Ende einer Epoche, das sich freilich schon seit Jahrzehnten abzeichnet. In diesem neuen Jahr wird das Thema so manche Kultur-Unternehmung prägen.




Festival als Fetisch – Versuch über das Scheitern regionaler Literaturpolitik am Beispiel der Kölner lit.RUHR

Von 2017 bis 2019 leisten sich fünf Ruhr-Stiftungen für eine halbe Million Euro jährlich den Aufbau einer Außenstelle der lit.COLOGNE. Mit dieser Filialisierung verpasst die selbsternannte Metropole Ruhr erneut die Chance zu zeigen, was sie aus eigenen Kräften zu leisten imstande wäre. Statt eigensinnige Ansätze der Literaturförderung zu wagen und aus dem sich totlaufenden Event- und Kampagnenkarussell auszusteigen, wird Kölner Literatrubel dreist kopiert. Darin könnte auch eine Chance für selbstbewusste Literaturprojekte abseits des Rummels liegen.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(v. r. n. l.): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Vorstandsmitglied Stiftung Zollverein), Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung), Eva Schuderer (Programm lit.RUHR), Bettina Böttinger (Moderatorin), Thomas Kempf (Vorstandsmitglied der Krupp-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Viel zu lange haben es sowohl Kulturpolitik als auch Unternehmen und Stiftungen längs der Ruhr versäumt, Literaturförderung beherzt so zu unterstützen, dass sich mehr gute Ideen bis zur Projekt- oder Bühnenreife hätten entwickeln lassen.

An Konzepten wie dem zum Europäischen Literaturhaus Ruhr, zum Literaturnetz Ruhr, zur Stadtschreiber-Residenz oder zur Fortführung des Schulschreiber-Modellversuches herrschte kein Mangel. Viele klopften damit als bittstellende Buch- und Bettelmönche an die Türen der Internationalen Bauausstellung Emscherpark, der Kulturhauptstadt-Macher, der RAG-Stiftung oder des Regionalverbandes Ruhr.

Konzepte leichthin abkupfern

Doch hiesige Geldgeber scheinen guten Ideen, die aus der Region kommen, abgrundtief zu misstrauen. Sie fürchten schlicht jenes dräuende Mittelmaß, das ihnen aus der eigenen Arbeit so wohl vertraut ist. Niemand wollte Interesse daran bekunden, behutsam Qualität aufzubauen, konnte man doch leichthin Kulturtourismus-Konzepte anderswo abkupfern – zuletzt ging es so zum Shoppen auf nach Köln.

Mit dem Ankauf des hochglänzenden lit.COLOGNE-Ablegers lit.RUHR – so hoffte wohl eine dezent agierende „Elite“ – bekäme man über den Hintereingang doch noch Zutritt ins austauschbare Event- und Marketingbusiness großer Vorbild-Metropolen wie Berlin, London, New York. Dass angesichts solch öden Kopisten-Coups wirklich schöpferischer und inspirierender Austausch im öffentlichen Leben des Ruhrgebiets nicht vermisst wird, zeigt bereits, wie ruiniert jede Debattenkultur hierzulande ist.

(Ach, Ruhrgebiet, du sick apple. Gestern Abend ging ich durch Essens Kettwiger Straße und dachte: Wer es hier nicht schafft, schafft es nirgendwo. Bin ich wirklich der Einzige ohne Bierflasche in der Hand?)

Simulation statt Stimulation

Um Missverständnissen vorzubeugen: Über die lit.RUHR und deren Glamour-Mäntelchen ist zu sprechen. Infrage steht aber ebenso eine ideenlose Literaturpolitik, die lebendiges literarisches Leben weder gestalten kann noch fördern will. Statt genau dieses Leben zu stimulieren, wird es immer nur simuliert.

Infrage steht die Arroganz reicher Ruhr-Stiftungen, die besser zu wissen wähnen, was das literaturinteressierte Publikum wünscht. Infrage steht ihre als „gut gemeint“ deklarierte, aber schlecht gemachte Modernisierung von oben, vom grünen Sponsor-Tisch aus. Infrage steht mit diesen Stiftungen und deren Vorständen, Kuratorien, Juristen aus Wirtschaft und Politik eine eitle Literaturförderung nach Gutsherrenart, die sich qua Kultur vor allem dem Standortkonkurrenz-Denken und der Politikrepräsentation verpflichtet fühlt (zu dieser Mentalität s. auch FAZ).

Pressekonferenz lit.RUHR
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Mit beschränkter Haftung

Zurück zunächst aber zur geschäftstüchtigen lit.COLOGNE-GmbH (und dem ihr eng verbundenen gemeinnützigen lit e.V.). Hochprofessionell hat man in Köln Denkfaulheit und Geltungssucht an der Ruhr genutzt, um einen Marken-Klon namens lit.RUHR zu platzieren und sich dabei exorbitant subventionieren zu lassen. Allerdings darf man dies Verein und GmbH nicht ernsthaft vorwerfen.

Die lit.COLOGNE hat so eine zweite Abspielstätte gefunden, hat allen Fensterreden zum Trotz aber über die Eigenart des Ruhrgebiets bisher nicht wirklich nachgedacht. Schade, dass mit der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Brost-Stiftung, der RAG-Stiftung, der innogy Stiftung sowie der Stiftung Mercator gleich fünf Stiftungen der Versuchung nicht widerstanden, an der lit.COLOGNE anzudocken.

Sehr gekonnt gepanschter Wein in gebrauchtem Schlauch

Kaum etwas an der lit.RUHR überrascht, die meisten Schauspieler, Moderatoren, Musiker und – nicht zu vergessen – Autoren waren längst zu Gast an der Ruhr. Zugegeben, Literaturveranstalter kochen überall nur mit Wasser und selbstverständlich werden auch der lit.RUHR gute Abende gelingen.
Schließlich hat er Hochkonjunktur, dieser im deutschen Sprachraum sich überbietende Eventzirkus: vom ‚internationalen literaturfestival berlin‘ über ‚Harbour Front‘ in Hamburg und „Leipzig liest“/“Zürich liest“ bis hin zur Frankfurter Buchmesse, zum Erlanger Poetenfest oder all den Crime-Festivals landauf landab. Viele dieser Festivals sind zum Erfolg verdammt, auch ökonomisch. Und wo Erfolg sich nicht einstellen will, redet man ihn über PR-Arbeit herbei.

Heinz Strunk: Kommt zur lit.Ruhr und war letztes Jahr Gast der Reihe"ausgebootet" im Katakombentheater Essen; Copyright-Foto: Jörg Briese

Heinz Strunk: Kommt zur lit.Ruhr und war letztes Jahr Gast der Reihe“ausgebootet“ im Katakombentheater Essen; Copyright-Foto: Jörg Briese

Gut aufgestellt? Schlecht nachgestellt!

Angesichts dieser Festivalitis und Überfülle nähme die lit.RUHR den Mund allerdings sehr voll, wenn sie irgendein „Alleinstellungsmerkmal“ auch nur ansatzweise behaupten wollte. Beileibe nicht nur die IKIBU Duisburg, die Internationale Kinderbuchausstellung, stellt seit Jahrzehnten Kinder- wie Jugendbuchautoren aus aller Welt vor und kämpfte immer mal wieder ums Überleben. Auch Jugendstil, das Dortmunder Kinder-und Jugendliteraturzentrum NRW, unterstützt vehement das Engagement für „kreative Literaturvermittlung und Leseförderung“.

Nun also liest auch die lit.kid.RUHR den Jüngeren was vor, das ist sehr lieb, aber beileibe nichts Unerhörtes, zumal trotz Förderung durch die Brost-Stiftung nicht einmal dies kostenlos zu sein scheint. Und in Gelsenkirchen durfte eine Jungautoren-WG aus Studenten des Literaturinstituts Leipzig sogar fünf Wochen lang das Ruhrgebiet erkunden und beschreiben. Schön für die Transitreisenden, doch auch nur wunderbar kalter Kaffee. Die Katholische Akademie in Mülheim hat so etwas unter dem Projekttitel „Metropolenpilger“ bewerkstelligt – und auch sie war damit nicht die Erste oder Einzige.

"Morgenstund hat Gift im Mund" -Sophie Rois las auf Einladung des Literaturbüros im Ringlokschuppen gallige Texte Dorothy Parkers; Fotot: © Jörg Briese

„Morgenstund hat Gift im Mund“: Sophie Rois las auf Einladung des Literaturbüros im Ringlokschuppen gallige Texte Dorothy Parkers; Foto: © Jörg Briese

Permanente Revolution

Ende August 2017 gingen die lit.COLOGNE SPEZIAL und die lit.RUHR gleich mit zwei zum Verwechseln ähnlichen Pressemitteilungen/Programmvorstellungen in Köln und Essen ins Festival-Windhundrennen. Wer es vom 3. bis zum 15. Oktober 2017 nicht schaffen sollte, Zadie Smith, Donna Leon, Sven Regener, Ulla Hahn oder Uwe Timm in Köln zu erleben, kann sie vom 4. bis 8. Oktober im Ruhrgebiet sehen und hören. Nicht nur jene Fans wird das freuen, die an der Ruhr bereits bei einem der vielen Auftritte dieser Autoren dabei waren.

Allein Zadie Smith war im Revier nie zu Gast, jeder aber kennt Donna Leon, die einst sogar in der Stadtbücherei Gladbeck las, später trat sie mehrmals bei „Mord am Hellweg“ auf. Auch Robert Menasse kommt zur lit.RUHR. Bei seinen drei Auftritten für das Literaturbüro Ruhr war er immer ein sehr kluger, liebenswerter Gast; etwa als er seinen Essayband „Permanente Revolution der Begriffe“ im Essener Grillo-Theater vorstellte.

Anteasern und wiederkäuen

Apropos Revolution in Permanenz: In der Tat wenig Lust auf die lit.RUHR macht einer der Video-‚Teaser‘ auf Youtube. Mariele Millowitsch nuschelt da vor Kölner Lärmkulisse so über die lit.RUHR hinweg, als ob diese längst gelaufen wäre. Sprachlich ergiebiger dürfte dagegen die Eröffnungsgala der lit.RUHR werden. Neben Iris Berben, Christoph Maria Herbst, Bettina Böttinger, Max Mutzke sind sogar zwei Literaten zu hören, einer davon Wladimir Kaminer, auch ihn kennen viele von seinen Lesungen im Ruhrgebiet.

Die Eintrittspreise für einen Platz bei der Eröffnungsgala liegen zwischen 24 und 56 Euro. Nicht auszudenken, wie hoch sie lägen, wenn nicht fünf Ruhrstiftungen die lit.RUHR mit 500.000 Euro gesponsert hätten. Wofür gibt man diese Summe plus der Einnahmen durchs Ticketing wohl aus? Die Honorarkosten des diesjährigen Programms scheinen eine solch hohe Summe kaum herzugeben, zumal durch Mehrfachauftritte in Köln und an der Ruhr sowie die Sponsoren einiges an Fahrt-und Hotelkosten eingespart werden dürfte. Doch sicher werden viele Tausender auch in die Werbung und die Infrastruktur gehen müssen, um im Ruhrgebiet einen Hype um die lit.RUHR erstmals zu entfachen.

Ziemlich versteckt: Landschaftspark Duisburg-Nord, das 2010-Publikum der Grass-Lesung des Literaturbüros Ruhr. Foto: © Jörg Briese

Schelte und Ignoranz

Dabei sollte mit der lit.RUHR alles ganz anders werden. Wie meinte in der WAZ Essen die „Vorsitzende der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Stiftung Zollverein und seit langem ein Fan der lit.Cologne“, wie also sprach Dr. Anne Rauhut, die die spannende Vielfalt der Lesungen und Literaturgespräche vor Ort nicht zu kennen scheint und also die lit.COLOGNE ins Revier lockte: Vieles sei „zu versteckt und relativ weit weg von den Menschen“, findet Rauhut.

Ein Lesefest wie die lit.RUHR, so Rauhut weiter, sei eine „gute Mischung aus Anspruch und Unterhaltung“, eine große Bühne, auf der Fußball und Musik genauso Platz haben wie Tolstoi und Tucholsky. ‚Man muss die Hemmschwellen niedriger legen‘, meint Rauhut.“ Gratulation, Letzteres scheint nun gelungen. Fehlen auf der Bühne eigentlich nur noch Carmen Nebel und ein Pony. Aber wer weiß?

Fehlgriff Stadtschreiber Ruhr, Glücksgriff Gila Lustiger

Nun aber wirklich Schluss mit der Kritik an der lit.RUHR, ihrem Marketing-Sprech, ihrem rasenden Event-Stillstand. All das hat die Ruhr-Stiftungen nicht davon abgehalten, die lit.COLOGNE auch noch zu Beratern des frisch installierten Stadtschreiber Ruhr-Projekts zu machen. Die gute Nachricht war: Gila Lustiger wird erste Stadtschreiberin Ruhr; die schlechte: Die Kölner „lit.Cologne berät“ – so die WAZ – beim Stadtschreiber-Projekt die Essener Brost-Stiftung.

Jens Dirksen, Kultur-Chef der WAZ, war in seinem Print-Artikel so freundlich zu erwähnen, dass das Literaturbüro und die Literarische Gesellschaft Ruhr seit Jahren eine Stadtschreiber-Residenz fordern. Niemand hat allerdings hingehört. Nun machen Brostens dabei erneut diskret-gemeinsame Sache mit der lit.COLOGNE.

Bodo Hombach formulierte erläuternd: „Im Ruhrgebiet ist eine reiche menschliche, kulturelle und historische Schatzsuche möglich.“ Was mag das sein, eine ‚menschliche Schatzsuche‘? Das Gegenteil einer ‚unmenschlichen Schatzsuche‘? Hombach möchte wahrscheinlich sagen, dass es auch an der Ruhr großartige Menschen zu entdecken gäbe, wenn man denn hinsähe. Da hat er allerdings recht.

„Wir müssen draußen bleiben“

Doch auch beim Stadtschreiber-Projekt hat man davon abgesehen, Autoren, Kritiker, Literaturwissenschaftler oder Literaturveranstalter aus der Region einzubeziehen. Wiederum borgt man sich das, was man für Kompetenz hält, aus der karnevalesk schillernden Ruhrmetropole Köln (die so gerne wie Berlin wäre).

Von Balance und dem rechten Maß kann nirgendwo mehr die Rede sein: hier der Tribut der Stiftungen für die lit.COLOGNE, dort die Missachtung der Literaturförderer vor Ort. Sprach nicht der Philosoph Odo Marquard einst von Inkompetenzkompensationskompetenz?

„Mehr Licht“ forderte völlig vergeblich Günter Grass bei seinen 2010er-Lesungen fürs Literaturbüro Ruhr in Bochum und Duisburg.

Kampagne – von „campagne“: „Feldzug“

Konfuse Kulturpolitik im Ruhrgebiet hat ohne Not kapituliert, sich selbst entmündigt und große Teile konzeptioneller Eigenständigkeit aus der Hand gegeben. Obszön ist das, im ursprünglichen Sinn des Wortes, beschämend für alle Beteiligten.

Woher kommt sie, diese Dominanz des Herumprotzens mit dem Fetisch ‚Festival‘, mit dem Irrglauben an dessen zwingenden Erfolg und überragende Außenwirkung? Als ob es im Ruhrgebiet nicht bereits ernüchternde Erfahrungen mit Kampagnenpolitik, deren bösen Folgen oder deren Verpuffen gegeben hätte. Überfällig, dies endlich zu evaluieren; nur bitte nicht weiter von jenen, die solche Kampagnen selbst inszeniert haben.

Statt Literatur zu lesen, darüber in Muße nachzudenken und sich in Gesprächen öffentlich auszutauschen, werden mit der Festivalisierung der Stadtpolitik Kunst und Kultur weiterhin vor den Karren von Marketing und Politik gespannt. Dabei vernachlässigt man gern auch die äußerst unterschiedlichen strukturellen Rahmenbedingungen Kölns und des Ruhrgebiets.

Das Ruhrgebiet ist Flächen- und Splitterstadt, es fehlt an großen Sendern, Verlagen, es fehlt trotz guter Journalisten an einem international ausstrahlenden Feuilleton und all jenen Medienmenschen, Kritikern, Autoren, die in Köln dafür sorgen, dass die lit.COLOGNE mediale Schaufenster ins Bundesweite hat. Immerhin: Für die lit.RUHR hat man wichtige  ‚Medienpartner‘ wie WDR und Funke-Medien gewonnen, dies dürfte zumindest garantieren, dass unabhängige Eventkritik nicht stattfindet.

2014: US-Autor Stewart O’Nan als Gast von lit….. äh… des Literaturbüros Ruhr; Foto: © Jörg Briese

Ruhrgebiets-Bashing

Wobei neben der Eventkritik auch Diskursanalyse bitter nötig wäre. Michel Foucault hatte einst über sie nachgedacht, jene unausgesprochenen Regeln, die beeinflussen, was wie wann von wem zur Sprache gebracht werden kann und was nicht. Vielleicht ließe sich so erklären, warum Rainer Osnowski von der lit.COLOGNE im Rahmen seiner Vorankündigungsrhetorik in der Kölnischen Rundschau verlauten ließ: „Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen „erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind“. Das interessiere auch jene Verlage, „für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist‘.“

Wer austeilt, sollte auch einstecken können: Alles, was man im Leben braucht, sind Ignoranz und Selbstvertrauen, heißt es bei Mark Twain – und davon hat Osnowski anscheinend reichlich. Bös missglückte ihm aus enger Kölner Perspektive die Werbung für die lit.RUHR gleich zu Beginn. Um die lit.RUHR aufzuwerten, griff er zur Entwertung des literarischen Lebens an der Ruhr.

Mit osnowskischer Geringschätzung und Erlöserpose treten Missionare auf, nicht aber Förderer der Literatur, die doch Kenner und Könner der Sprache sein sollten. Zwischen Duisburg und Dortmund würde man noch mehr Osmose durch internationalen Austausch der Künste und Künstler durchaus begrüßen, auf die lit.RUHR aber und Großformate ohne Format könnte man gut und gern verzichten.

Keine Fixierung auf die lit.RUHR, sondern Eigensinn ganzjährig stärken

In diesen Zeiten der postdemokratischen Kultur- als Symbolpolitik kann allen Literaturliebhabern an der Ruhr in heiterer Verlassenheit nur geraten werden, ihre eigenen und eigensinnigen Projekte weiter voranzutreiben (viele davon habe ich für die ‚Revierpassagen‘ recherchiert). Und: Warum sollte man sich beim Tanz ums goldene Festival-Kalb überhaupt abstrampeln? Kraft und Fantasie kostet das und mit jeder Überdosis Organisation verkümmert schnell die Lust am Lesen.

Nervtötend ist zurzeit deshalb auch die Dauerfrage, warum denn die ‚literarische Szene‘ an der Ruhr (was soll das sein?) nicht selbst ein ‚hochkarätiges‘ (drunter geht’s nicht) Festival auf die Beine gestellt habe. Ganz einfach: Viele investieren hierzulande all ihr beharrliches Engagement, manchmal auch einen Teil ihres Geldes in die eigenen Projekte der Literatur- und Leseförderung, des Zeitschriftenmachens oder internationalen Austauschs – damit haben sie mehr als genug zu tun. Niemand von ihnen könnte nebenbei auch noch die ‚Szene‘ dauerhaft vernetzen oder ein Festival organisieren. Und vor allem: Kaum jemand will das. Warum auch? Siehe oben.

Heinz Helle & Hubert Winkels zu Gast bei „Über Leben! Von der Hoffnung auf Zukunft“ – September 2017, Medienforum Bistum Essen

Kleine Volte: Hoch lebe die lit.RUHR!

Die lit.RUHR kommt so sicher wie das Amen im Essener Dom und für vier Tage im Jahr wird sie ihr ganz eigenes Publikum finden: Und? Mögen doch „Hannelore Hoger, Richie Müller und die Gummi-Ente“ (Programmbeilage der lit.RUHR) im schadstoffarmen Diesel des Sponsors Mercedes zu ihrem Auftritt „Fetisch“ (7.10., Zollverein) fahren, ihre „literarische Expedition in die Welt des Fetischismus“ starten und danach erschöpft ins Kissen der Hotel-Suite des Sponsors Sheraton sinken. Wieder ein – sagen wir mal – bunter Rezitationsabend, den man nicht selbst veranstalten musste (Verzeihung, verehrte Frau Hoger).

„Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, daß der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, daß es Zeit wird.“ So heißt es in Paul Celans Gedicht „Corona“. Man darf das UNIFORMAT „FESTIVAL“ getrost der lit.RUHR und ihren Gönnern überlassen und … abhaken.

An der Zeit wäre es allerdings, im Ruhrgebiet die Förder-Balance nicht noch weiter zu verlieren und ideell wie finanziell endlich Initiativen zu ermutigen, deren nachgewiesene Kompetenz es verdient hätte. Aber dafür werden Sachverstand, Mut und Geld bei den Stiftungen wohl nicht ausreichen – von Kommunen und RVR ganz zu schweigen.

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Gerd Herholz, der Autor des Beitrags, ist langjähriger Wissenschaftlicher Leiter des in Gladbeck angesiedelten Literaturbüros Ruhr. (Anm. d. Red.)




Die Hauruck-Metropole gibt sich die Ehre: „Stadt der Städte“ – eine neue Image-Kampagne fürs Ruhrgebiet

Da wird der steinreiche Chinese aber staunen und womöglich gleich ein paar Dutzend Milliönchen im „Pott“ investieren. Denn siehe da: Das Ruhrgebiet hat eine neue Werbekampagne mit dem fulminanten Slogan „Stadt der Städte“. Da staunt auch ihr, nicht wahr?

Blick von oben: Bildmotiv der neuen Revier-Kampagne. (© Regionalverband Ruhr/Kai-Uwe Gundlach)

Blick von oben: Bildmotiv der neuen Revier-Kampagne. (© Regionalverband Ruhr/Kai-Uwe Gundlach)

Natürlich haben sich böse, böse Menschen im Netz gleich darüber lustig gemacht. Nun gut: „Stadt der Städte“ hört sich ja auch mal wieder – wie das bei Revierkampagnen öfter mal der Fall ist – etwas geschwollen an; ganz so, als gebe es nichts Größeres auf Erden.

Tja, wer kann sich schon mit uns vergleichen? Frech bis anmaßend tritt die im Auftrag des Regionalverbands Ruhr (RVR) entstandene Kampagne auf und fordert Metropolen wie New York ausdrücklich heraus. Da möchte man am liebsten mit Frank Goosens lakonischem Klassiker „Woanders is‘ auch scheiße“ dagegenhalten. Runterkommen statt abheben.

Formel des Wunschdenkens

Mit sanfter Gewalt sollen die 53 Kommunen in ein begriffliches Korsett gezwängt werden, auch das ist ein altbekannter Impuls. Die Formel „Fünf Mio. Menschen, 53 Städte, 1 Metropole.“ steht – trotz stimmiger Zahlen in den ersten beiden Teilaussagen – irgendwie windschief in der Landschaft, sie zeugt von Wunschdenken. Selbst die WAZ, als publizistischer Platzhirsch sonst für jede Hauruck-Vereinigung des Ruhrgebiets zu haben, sieht sich in der heutigen Ausgabe zu einem „Pro & Contra“ zweier Redakteure genötigt, bei dem zumindest ein wenig Skepsis durchschimmert.

Vor Jahr und Tag wollte das Blatt partout der ganzen Gegend den Namen „Ruhrstadt“ aufdrängen – vergebens. Welcher Bewohner, der bei Trost und kein RVR-Funktionär ist, würde im Alltag von der „Ruhrstadt“ oder auch nur von der „Metropole Ruhr“ reden? Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Übergreifende Projekte wie Emscher-Renaturierung und Fahrrad-Autobahn sind selbstverständlich manche Anstrengung wert. Aber Gemeinsamkeiten müssen erst einmal wachsen und nicht herbeigefaselt werden. Und wir reden hier längst nicht mehr von Stahl- und Bergbaugeschichte.

Zehn Millionen Euro im Werbetopf

Satte zehn Millionen Euro, die vorerst in drei Jahren verpulvert werden sollen, kostet der neue Kampagnen-Spaß, der die Region als besonders innovativ und dynamisch darstellen soll. Über den Auftrag durften sich zwei Werbeagenturen aus Essen und Hamburg freuen. Das Wort „Werbefuzzis“ verkneifen wir uns. Für die eine oder andere Flasche Champagner dürfte es jedenfalls gereicht haben. Nur für Fernsehspots langt das Geld nicht. Statt dessen will man die frohe Botschaft vom modernen Revier vorwiegend in Zeitungsanzeigen und im Internet verbreiten. Gemeine Frage: Was könnte man mit zehn Millionen Euro sonst noch anfangen?

Der Slogan „Stadt der Städte“ (siehe P.S. im Nachspann) zielt, wie schon angedeutet, besonders auf potente Investoren aus aller Welt. Global tritt man als „City of Cities“ auf. Was sie wohl in New York, Shanghai, Tokyo, Bombay oder Rio dazu sagen werden? Und ob sich Investoren durch Slogans locken lassen oder ob sie auf handfeste Kennzahlen achten werden? Mal sehen.

Starkes Stück und kochender Pott

Wir erinnern uns: Es ist beileibe nicht die erste Image-Kampagne fürs Ruhrgebiet. 1985 hieß es „Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland“, ab 1998 folgte „Der Pott kocht“. Zwischendurch gab es auch schon mal völlige Rohrkrepierer. Es wäre interessant zu erfahren, was all diese Bemühungen in den Köpfen tatsächlich bewirkt haben. Ja, is klar, das kann man nicht messen.

Apropos Kampagne. Jüngst hat die WAZ mal wieder in ein solches Horn gestoßen und sie wird wohl nicht ruhen, bis die Sache so oder so durch ist. Nachdem das Weltereignis in diversen anderen deutschen Städten keine Chance hatte, will die Zeitung darauf dringen, Olympische Spiele ins Revier zu holen. Abgesehen davon, dass es oft reichlich dubiose Wege sind, auf denen man an solche Veranstaltungen gelangt (ich will nichts gesagt haben), blendet man auch sonst alle möglichen Begleiterscheinungen (von Doping bis Terror) aus und malt lieber schon jetzt die schönsten Bilder etwa von neuen Verkehrswegen, auf denen nicht nur die Jugend der Welt durchs Ruhrgebiet gleiten soll.

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P.S.: Durch einen mit entsprechenden Links versehenen Newsletter des Journalistenbüros correctiv.org werde ich gerade darauf aufmerksam, dass „Stadt der Städte“ nicht einmal neu ist. Der wahrlich nicht ganz unbekannte Werbemann Michael Schirner hat den Slogan 1996 ausgerechnet für die WAZ verwendet (© Schirner Zang Institute of Art and Media GmbH), auch die WAZ selbst erinnert daran. Gutes kommt eben wieder…




Der ewige Zwiespalt: Gehört die Stadt Dortmund eher zu Westfalen oder zum Ruhrgebiet?

Vor einigen Tagen gab es ein mächtiges Rumoren im Ruhrgebiet. Oder war’s eher ein klägliches Jammern und Jaulen? Thomas Westphal, Chef der Dortmunder Wirtschaftsförderung, hatte es offenbar gewagt, am gelingenden Strukturwandel des Ruhrgebiets zu zweifeln.

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, rechts die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, vorn die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Der übrigens in Lübeck geborene und also des hiesigen Stallgeruchs ermangelnde, jedoch namentlich für Westfalen prädestinierte Westphal belobhudelte (etwas penetrant pro domo) die von ihm mitverantwortete Entwicklung in Dortmund, das er als digitales Zentrum für Westfalen ausschilderte. Laut WAZ fuhr er in diesem distanzierenden Sinne fort: „…obgleich wir öffentlich immer gerne zum Bestandteil des niedergehenden Ruhrgebiets gemacht werden, sind wir in Wirklichkeit ein Motor der westfälischen Boomregion.“

Das böse Wort vom Niedergang

Oha! Niedergehendes Ruhrgebiet. Bei diesen Reizworten bekamen sie beim Regionalverband Ruhr (RVR), der es sich allzeit angelegen sein lässt, das Revier in günstigem Licht darzustellen, Anfälle von Schnappatmung: Und das uns! Und das vom Wirtschaftsförderer der größten Ruhrgebiets-Kommune, der noch dazu vorher selbst beim RVR gearbeitet hat. Roland Mitschke (Bochum), CDU-Fraktionschef im so genannten Ruhrparlament, sprach deshalb von „Mangel an nachlaufender Loyalität“. Eine hübsche Formulierung, fürwahr.

Besonders aus den Reihen der Ruhrgebiets-CDU wurde vom Dortmunder OB Ullrich Sierau (SPD) nicht nur sofortige, „öffentlich sichtbare Distanzierung“ von den garstigen Worten gefordert, sondern gleich auch noch Westphals Amtsverzicht. Kleine Münze wird da halt nicht ausgezahlt.

Der Westen ist nur eine Richtung

Gewiss, Westphals Sätze waren in der Tat unglücklich zugespitzt. Doch nun mal halb lang. Man schaue sich die Lage von Dortmund auf einer handelsüblichen Landkarte an. Im Westen geht die Stadt zwar ins Ruhrgebiet über, jedoch im Süden ins Sauerland, nordwärts in die Ausläufer des Münsterlandes, östlich nach Unna und ins Vorfeld der Soester Börde. An drei Seiten ist also nicht so sehr die industrielle, sondern vornehmlich eine ländliche Umgebung prägend. Das unterscheidet die Stadt sehr wohl von Gemeinden, die in drangvoller Enge mitten im Pott liegen. Und das wiederum hat Einfluss aufs lokale Bewusstsein.

Nicht zuletzt aus Imagegründen ist es daher langjährig geübte Dortmunder Praxis, sich weniger als Revierkommune zu gerieren, sondern in erster Linie als „Westfalenmetropole“, was sich freilich etwas geschwollen anhört. Hätte man gewisse Gebäudeensembles nach dem Krieg nicht abgerissen, so wäre der historische Zusammenhang vielleicht noch sinnfälliger. So aber hat der übliche sozialdemokatische Betonwust der „autogerechten Stadt“ auf hässliche Weise die Oberhand gewonnen. So richtig westfälisch sieht das nicht mehr aus. Auf dem Gebiet sammelt Münster eindeutig mehr Punkte.

Trotzdem: Immer wieder hat sich die vormalige Freie Reichsstadt und Hansestadt Dortmund gern westfälisch bespiegelt. Namen wie die Westfalenhalle, Westfalenstadion oder Westfälische Rundschau (*1946 †2013) und viele andere künden davon. Richtig, andererseits erscheinen in der Stadt die Ruhrnachrichten. Aber die gehören schon zu den Ausnahmen von der Regel.

Absetzbewegungen

Immer mal wieder hat es auch Absetzbewegungen vom Ruhrgebiet gegeben, um 2007/2008 drohte der damalige Dortmunder Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer (SPD) gar brüsk mit dem Austritt aus dem Regionalverband Ruhr (RVR). Der Zwiespalt bewegte ihn auch noch im Herbst 2015. Da referierte der Ex-OB gemeinsam mit dem einstigen NRW-Städtebauminister Christoph Zöpel über das Thema „Heimat Dortmund – Großstadt in Westfalen oder Metropole Ruhr?“

Niemals hat man sich in Dortmund so mit dem „Pott“ als Ganzes identifiziert wie etwa in Essen, wo sie zwar weniger Einwohner haben als in Dortmund, sich aber gleichwohl als Revier-Kapitale sehen. Auch die Phantasien von einer künftigen „Ruhrstadt“ fielen in Dortmund am wenigsten auf fruchtbaren Boden.

Anzeichen eines „Niedergangs“ gibt es indessen nicht nur im mittleren und westlichen Revier. Da nützt alle geflissentliche Berufung auf Westfalen nichts: Auch Dortmund hat arge Probleme, die eben nicht mit landsmannschaftlich getönter Symbolpolitik zu bewältigen sind.




„Zeit-Räume Ruhr“: Orte der Erinnerung im Revier gesucht

Jetzt mal Butter bei die Fische: An welchen Ort im Ruhrgebiet erinnern Sie sich besonders intensiv, ob nun gern oder ungern?

Das Plakat zum Projekt "Zeit-Räume Ruhr": Zechenkumpel wird zum... IT-Experten, Hipster oder was auch immer. (© Zeit-Räume Ruhr / Gestaltung: Freiwild Kommunikation)

Das Plakat zum Projekt „Zeit-Räume Ruhr“: Zechenkumpel wird zum… IT-Experten, Hipster oder was auch immer. (© Zeit-Räume Ruhr / Gestaltung: Freiwild Kommunikation)

Wenn Ihnen dazu jetzt oder demnächst etwas einfällt und Sie vielleicht auch noch eigene Fotos vom besagten Ort beisteuern können, dann sollten Sie vielleicht an einem neuen Projekt mitwirken. Es heißt „Zeit-Räume Ruhr“ und soll revierweit ortsbezogene Erinnerungen sammeln, später dann sichten und werten.

Texte und Bilder einfach hochladen

Es ist ganz simpel: Texte und Bilder bis zum 31. Dezember 2017 auf der Internetseite www.zeit-raeume.ruhr hochladen – und schon ist man dabei, wenn denn der Beitrag Netiquette und Gesetze nicht verletzt. Ansonsten gilt selbstverständlich: „Eine Zensur findet nicht statt“.

Treibende Kräfte sind das Ruhr Museum auf dem Gelände der Essener Kulturwelterbe-Zeche Zollverein, der Regionalverband Ruhr (RVR) und das zur Ruhr-Uni Bochum (RUB) gehörige Institut für Soziale Bewegungen. Wie in derlei Fällen landesüblich, soll es im Gefolge der Internetseite einen Fachkongress und eine Buchpublikation geben.

Bisher noch sehr übersichtlich

Und wie schaut’s jetzt auf der Seite aus? Bisher noch sehr übersichtlich. Gewiss, erst heute ist die Aktion auf einer Pressekonferenz in Essen vorgestellt worden, also kann sich seither nicht allzu viel getan haben. Die benannten Orte kann man einstweilen noch an zwei Händen abzählen. Abwarten.

Was bisher (Stand 18. Januar, 18 Uhr) zu finden ist, entspricht im Wesentlichen den Glaubensbekenntnissen des Regionalverbandes, dass nämlich der Strukturwandel an der Ruhr auf dem besten Wege sei. So gilt etwa das „Dortmunder U“ ebenso als Ort des geglückten Umschwungs wie auch die einstige Hertener Zeche „Schlägel und Eisen“. Um es zuzuspitzen: Man erinnert sich ans kohlenschwarze Gestern und freut sich am bunteren Heute. Wenn die allerersten Äußerungen nicht als bloße Anreize im redaktionellen Auftrage entstanden sind, sollte es mich wundern. Künftig kann es eigentlich nur interessanter werden.

Rivalität der Städte

Überdies träumt man beim RVR immer noch von einer Vernetzung der ganzen Region, der manche am liebsten den Kunstbegriff „Ruhrstadt“ und entsprechende Verwaltungsstrukturen überstülpen würden. Sie sind noch allemal am Rivalitäts- und Kirchturmdenken der einzelnen Städte gescheitert, was man bedauern mag. Doch mal ehrlich: Wenn ich „meine“ Erinnerungsorte aussuche, so liegen sie weit überwiegend in Dortmund und eben nicht in Bottrop, Herne, Oberhausen oder Gelsenkirchen. Unter veränderten Vorzeichen wird es den meisten ähnlich gehen. Isso, woll?

Nach Möglichkeit sollen es beim „Zeit-Räume“-Projekt kollektive Erinnerungsorte sein und wohl weniger Locations wie die eigene Schule (obwohl sich da manche Erinnerungen bündeln) oder der Arbeitsplatz – es sei denn, es handele sich um eine Zeche bzw. ein Stahlwerk. Denn von den einstigen Verhältnissen geht man immer noch aus. Auch das Plakat hebt auf die Kumpel-Zeiten ab.

Wandel der Ansichten

Einigermaßen spannend und anregend könnte die allmählich anwachsende Sammlung werden, wenn sich zu bestimmten Orten viele, womöglich konträre Erinnerungen „anlagern“ und sich dabei auch verschiedene zeitliche Perspektiven ergeben. Die Siebzigjährige erinnert sich halt anders als ein 25jähriger. Genau diesen Wandel der Ansichten soll das Projekt ja auch spiegeln. Derselbe Ort kann eben auf ganz unterschiedliche Weise Erinnerungen prägen.

Es wäre außerdem gut, wenn tatsächlich nicht nur die üblichen Sehenswürdigkeiten und „Landmarken“, sondern auch verborgene oder vergessene Ecken des Reviers auf der bislang noch so spärlich gefüllten Landkarte der Homepage auftauchten.

Steilvorlage vom Schalke-Fan

Übrigens sind die „Orte“ nicht nur wortwörtlich zu verstehen. Im Anfangsbestand der Netzseite finden sich auch überörtliche Themen wie „Flucht/Vertreibung“ (aus dem Osten ins Ruhrgebiet) und „Kohlenkrise/Zechensterben“, die nur beispielhaft in Bochum verankert werden. Einer nennt gar Herbert Grönemeyers Schallplatte „4630 Bochum“ als seinen liebsten Erinnerungsort. Wenn man auf der Scheibe mal keinen Drehwurm kriegt!

Ein anderer Revierbewohner gibt schon mal mit Schalker Kindheitserinnerungen an die Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn eine Steilvorlage. Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, dass Dortmunder mit „Rote Erde“ oder Westfalenstadion kontern und sich das Ganze ein bisschen hochschaukelt.

Um die Leute zu animieren, haben die Projektemacher schon mal vorab ein paar Orte vorgeschlagen: An den Phoenixsee (Dortmund) dürften sich freilich nur neuere Erinnerungen ergeben, ans Bochumer Schauspielhaus schon deutlich tiefer reichende. Und ans Bochumer Kneipenviertel Bermuda3eck? Nun ja. Was heißt hier Erinnerungen? Jedenfalls nicht an gestern Abend…

www.zeit-raeume.ruhr

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Nachtrag, 19. Januar, 10:30 Uhr: Inzwischen sind schon über 20 Erinnerungsorte verzeichnet. Es scheint zu werden…




Der Literaturpreis Ruhr verdient eine Aufwertung – und kein Sparprogramm

Gastautor Werner Streletz, Bochumer Schriftsteller und 2008 selbst Träger des Literaturpreises Ruhr, mit kritischen Anmerkungen zur Zukunft der Auszeichnung:

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Der Literaturpreis Ruhr soll vielleicht nur noch alle zwei Jahre verliehen werden. Das wäre ein herber Einschnitt.

Die einzige nennenswerte Auszeichnung, die das literarische Image des Reviers ein wenig polieren kann, darf nicht in den Schatten des halbwegs Vergessenen versinken. Eine solche Gefahr bestünde, würde der Jahresrhythmus aufgegeben.

Auch angesichts der schnelllebigen Medienwelt ist der bisherige Verleihungstakt anzuraten. Es wäre zudem blamabel, würde sich die Vermutung verbreiten, im Ruhrgebiet (mit immerhin fünf Millionen Einwohnern) seien nicht alle zwölf Monate preiswürdige KandidatInnen zu finden. Oder AutorInnen, die zwar nicht in der Region leben, aber über das Ruhrgebiet schreiben. Das sind die beiden Auswahlkriterien.

Merke: Auch wenn bedeutsame Namen wie der unlängst verstorbene Wolfgang Welt fehlen, die Liste der Ausgezeichneten zählt doch die allermeisten bemerkenswerten SchriftstellerInnen auf, die im Ruhrgebiet wohnen oder über diese Region Literarisches verfasst haben.

Also weiter wie gehabt? Das nicht unbedingt. Anzuraten wäre ein Begleitprogramm zum Preis, das den jeweils Ausgezeichneten (auf einer Lesetour zum Beispiel) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht. Ein flankierender publizistischer Schub, u.a. von den Ausrichtern der Auszeichnung animiert, könnte dazu beitragen, Preis, Preisträger und die Literaturszene der Region stärker ins Gespräch zu bringen. Man muss es halt nur wollen …

Ich habe mich nach der Preisverleihung (2008) jedenfalls ziemlich alleingelassen gefühlt. Ein rauschendes Fest – danach Stille. Also war Eigeninitiative angesagt. Aber dazu muss ja nicht jeder Preisträger verpflichtet sein…




Protest gegen die Schließung der Rundschau-Redaktion wächst

Es gibt Anzeichen von Widerspenstigkeit, ja von Widerstand gegen die Entscheidung des Essener WAZ-Mediengruppe, die komplette Redaktion der Westfälischen Rundschau zu schließen und das Traditionsblatt nur noch als bloßes Etikett mit Fremdinhalten weiterzuführen:

Der Glossenplatz auf Seite 2 der Westfälischen Rundschau blieb heute (Ausgabe vom 17. Januar) weitgehend leer. Statt dessen teilte die WR-Redaktion lakonisch mit, aus guten Gründen sei ihr nichts eingefallen (siehe Foto). Die Kollegen der Essener WAZ sandten an paralleler Stelle in ihrem Blatt, also auch am Glossenplatz, ein Signal der Solidarität, indem sie ebenfalls etlichen Weißraum freiließen und sinngemäß feststellten, sie seien angesichts der Kündigung von 120 WR-Redakteur(inn)en nicht zum Scherzen aufgelegt.

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Eine von der Rundschau-Redaktion hergestellte Sonderseite mit kritischen Stellungnahmen zur WR-Schließung ist hingegen nur in der abendlichen Postausgabe erschienen und offenbar im Laufe der weiteren Produktion (auf Geheiß aus der Essener Konzernzentrale) „gezogen“ (also entfernt und durch andere Inhalte ersetzt) worden. Näheres dazu steht im Facebook-Auftritt „WR muss bleiben“, wo man sich jetzt auch die besagte Seite ansehen kann.

Außerdem hat der stellvertretende WR-Chefredakteur Lars Reckermann den Lokalredaktionen die Berichterstattung in eigener Sache per Rundschreiben untersagt. Bei den Ruhrbaronen findet sich ein Faksimile des Schreibens. Auch Reckermanns Vorgehen riecht streng nach Zensur. Eine andere, ausgesprochen wohlwollende Lesart besagt, dass Lars Reckermann die Redakteure – nach entsprechenden Warnungen aus Essen – mit seinem Schreiben davor bewahren wollte, Ansprüche auf Abfindungen zu verwirken. Tatsächlich ist auch eine Kollegin, die mir einen Hinweis geben wollte, von ihrem Lokalchef ermahnt worden, dabei wenigstens äußerst diskret vorzugehen. Übrigens: Während offiziell klar ist, dass Malte Hinz auch künftig als Chefredakteur einer quasi redaktionslosen WR firmieren soll, ist offenbar noch in der Schwebe, was aus Reckermann wird.

Am Samstag, 19. Januar, wird um 11 Uhr am Dortmunder Brüderweg 9 (Rundschauhaus) eine Solidaritäts-Demonstration für die WR-Redaktion beginnen, die zum Alten Markt im Herzen Dortmunds ziehen soll. Der Aufruf zu dieser Demo steht u. a. im Nachrichtenportal der Stadt Dortmund.

Unterdessen unterzeichnen nicht nur Journalisten, sondern auch zahlreiche Leser eine Online-Petition, die die Geschäftsführung der WAZ-Gruppe zum Umdenken bewegen soll. Mag auch die Hoffnung gering sein, mit diesem Mittel etwas Entscheidendes zu bewegen, so gilt doch auch hier der alte Satz: Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Bei Facebook gibt es inzwischen eine Solidaritäts-Seite für die Rundschau – mit einer Resonanz, die in die Tausende geht.

Es regt sich auch Protest unter den Kulturschaffenden der Region: Das Theater Dortmund – Zitat- „bedauert die Entscheidung, die ‚Westfälische Rundschau‘ als eigenständiges Blatt einzustellen, sehr und empfindet dies als herben Verlust für die Medienszene Nordrhein-Westfalens. Die kritische und informative Begleitung der Theaterarbeit durch die Mitarbeiter der ‚Westfälischen Rundschau‘ war stets eine wichtige Stimme im Zusammenspiel der Meinungen und Ansichten zu kulturellen Themen, und dies weit über Dortmund hinaus. Die Entscheidung, die ‚Westfälische Rundschau‘ nicht mehr in der bisherigen Form zu publizieren, bedeutet einen spürbaren Einschnitt.“

Auch gibt es eine öffentliche Stellungnahme von Jac van Steen, dem scheidenden Orchesterchef der Philharmoniker. Darin heißt es: „Mit großer Fassungslosigkeit muss ich (…) meinem Erstaunen über die Schließung der WR-Redaktionen Ausdruck verleihen. (…) Diese Entscheidung bedeutet eine Degradierung unserer demokratischen Grundausstattung von Meinungsfreiheit in möglichst vielfältiger Breite. Eine sehr bedenkliche Entwicklung nicht nur für die Kunst und Kultur.“

Das Dortmunder Kulturzentrum domicil ließ verlauten: „Wir (…) sind noch immer sprachlos über die Abwicklung der Westfälischen Rundschau durch die Geschäftsführung des WAZ-Konzerns. Wir möchten uns (…) mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages, die wohl in Kürze auf der Straße stehen werden, solidarisch zeigen, zum anderen aber auch darauf hinweisen, dass gerade eine lebendige Kulturszene von fachkundiger, auch kritischer journalistischer Vermittlung, breiter Öffentlichkeit und vor allem Meinungsvielfalt lebt, die nun durch die Schließung der Redaktion der Westfälischen Rundschau in Dortmund massiv verliert und einseitig zu werden droht. Die Abwicklung der eigenständigen WR-Redaktion ist ein großer Verlust für die Stadt.“

Eine weitere Reaktion aus dem Dortmunder Kulturleben trägt die Unterschriften von Kurt Eichler (Geschäftsführer der Kulturbetriebe Dortmund), Claudia Kokoschka (Leiterin des Kulturbüros) und Wolfgang Weick (Leitender städtischer Museumsdirektor).

Vergleichsweise vorsichtig hatte sich zuvor Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) geäußert. Er sei ob der Nachricht über die Schließung der WR-Redaktion „fassungslos“. Und: „Ich habe das Angebot einer pluralistischen Medienlandschaft in unserer Stadt immer geschätzt.“

Inzwischen (22. Januar) hat sich Sierau allerdings sehr viel deutlicher geäußert und davon gesprochen, dass die WAZ-Gruppe ihrer Verantwortung nicht gerecht werde. Im Wortlaut kann man sein Statement hier nachlesen.

Apropos: Vermutlich werden schon ab Anfang Februar die Ruhr-Nachrichten das Monopol in der Dortmunder Lokalberichterstattung haben; ein unguter Zustand, der sich mit demokratischer Auseinandersetzung nur schwer vertragen dürfte. Schon jetzt könnten und sollten sich daher die unabhängigen Online-Medien der Region (Ruhrbarone, Pottblog, Revierpassagen usw.) darauf verständigen, Marktgebaren und journalistische Arbeitsergebnisse der Ruhr-Nachrichten künftig etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Auch dem WDR kommt hierbei eine erhöhte Verantwortung zu.

Noch eine kleine Anmerkung: Der Informationsdienst Ruhr (idr), ein Ableger des in Essen angesiedelten Regionalverbands Ruhr (RVR), der jede Kleinigkeit vermeldet, mit der die so genannte „Ruhrstadt“ vermeintlich hochgejubelt werden kann, bringt natürlich keine einzige Zeile über die Demontage der Westfälischen Rundschau. Es passt nicht in den PR-Rahmen. Es ist halt nicht positiv. Und aus Essener Perspektive sieht die Welt sowieso ganz anders aus.

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LINKS

Hat die WR wirklich 50 Mio. Euro Schulden angehäuft? http://meedia.de/print/waz-gruppe-und-ddvg-weiter-im-clinch/2013/01/17.html

Die nüchterne Sicht der Dinge und…

…die emotionale Sicht der Dinge.

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Den wohl besten Überblick bekommt man hier: https://www.facebook.com/WRMussBleiben

Die teilweise kontroverse Debatte findet man im „Medienmoral“-Protestblog.

Viele weitere Links der letzten Tage stehen unter dem vorherigen Artikel.




Der RVR und die koordinierte Kultur

Heute verscherze ich’s mir mal mit – nun? – dem Regionalverband Ruhr (RVR). Und zwar so:

Der RVR-Presseservice (idr = Informationsdienst Ruhr) hat heute eine nichtssagend gravitätische Mitteilung versandt, die besagt, dass das „Erbe“ der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr (Ruhr 2010) nunmehr gesichert sei.

Da möchte man doch auftamen.

Dann freilich liest man, dass just der RVR den (Zitat) „Staffelstab“ übernehmen wird, um die „nachhaltige Entwicklung von Netzwerken und Projekten“ der gewesenen Kulturhauptstadt sicherzustellen.

Auch ist die gestanzte Rede von der neuen Programmsäule namens „Künste im urbanen Raum“, die vor allem auch Exzellenzprojekte anstoßen soll.

Eingebunden sind die Kultur Ruhr GmbH, die Ruhr Tourismus GmbH und das European Center für Creative Economy (ECCE). Hört sich gewaltig an, wenn man’s nur nicht hinterfragt.

Der von mir eigenmächtig hinzugefügte Fettsatz zeigt an: Da haben wir es mal wieder, das verwaltungsgemäße, mit leerlaufenden Floskeln durchsetzte „Kreativ“-Sprech, das meist nur mit bürokratischen Verfahrensweisen, aber nicht mit wirklichen Ideen jongliert. Wer so redet, lässt ahnen, dass Kultur nur abermals der Anlass ist für aufgeplusterte Strukturen. Den vermeintlichen Erfolg wird man später gewiss herbeireden.

4,8 Millionen Euro werden jährlich aufgerufen, zur Hälfte vom Land NRW und vom RVR beigesteuert. Kein immenser Betrag, wenn man ihn aufs ganze Revier verteilt. Doch natürlich wird dieses schöne Geld nicht einfach so versickern. Schon 2012 wird beispielsweise eine „Kulturkonferenz Ruhr“ einberufen, welche die „profilbildenden Projekte“ diskutieren und Zukunftsstrategien entwerfen soll.

Im Tunnel (Bild: Bernd Berke)

Im Tunnel (Bild: Bernd Berke)

Schon dem dürren Jargon ist abzulauschen, dass da viel heiße Luft in die Gegend geblasen wird. Bereits jetzt sind etliche Impulse der Kulturhauptstadt, sofern es sie überhaupt je gegeben hat, kläglich erloschen. Längst wieder eingekehrt ist der kulturelle Alltag mit Finanzsorgen an allen Ecken und Enden.

Kulturjournalisten des Ruhrgebiets werden wissen, wovon ich rede: Pressekonferenzen des RVR (vormals KVR), die kulturell wirklich spannend gewesen wären, wird man selbst mit der Lupe vergebens suchen. Ich kann mich an Termine erinnern, bei denen nach meinem Eindruck mehr Vertreter des RVR anwesend waren als Pressemenschen. Viele von ihnen hatten offenkundig keinerlei Funktion beim jeweiligen „Meeting“. Sie standen zinslos herum. Doch es gab gelegentlich Sekt und Häppchen. Gern wurden derlei Treffs am Freitag anberaumt, wenn man anschließend rasch ins Wochenende aufbrechen konnte.

Bitte, bitte, ich lasse mich gern eines Besseren belehren. Vielleicht weht ja beim RVR jetzt und demnächst ein frischer Wind, der alles Gestrige hinwegfegt.

Doch mal ehrlich. Auch dieser Satz klingt beim ersten Hinhören nicht wie eine Verheißung, sondern eher wie eine sanfte Drohung:

„Der Regionalverband Ruhr koordiniert mit einer neuen Stabsstelle künftig die Entwicklung der Kultur in der Metropole Ruhr.“

Hat da jemand „Stillgestanden!“ ge…flüstert?