Simultantheater in Lichtgeschwindigkeit: „Die Parallelwelt“ von Kay Voges hatte in Dortmund und Berlin zugleich Premiere

Zwei Welten, zwei Hochzeiten, viel Verwirrung: Szene aus "Die Parallelwelt" (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Zwei Welten, zwei Hochzeiten, viel Verwirrung: Szene aus „Die Parallelwelt“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Freds Pullover ist furchtbar. Eine optische Beleidigung in Blau. Aber die gestrickte Scheußlichkeit mit den zwei auffallenden Querstreifen besitzt einen entscheidenden Vorteil: Sie ist leicht wiederzuerkennen. Und das ist wichtig in der „Parallelwelt“, denn in ihr ist Fred immer ein anderer, verkörpert durch ein halbes Dutzend Schauspieler und Schauspielerinnen.

Im neuen Stück des Dortmunder Intendanten Kay Voges und seines Teams erleben wir Fred in verschiedenen Phasen seines Lebens zugleich. Er ist jung und er ist alt, Familienvater und Pflegefall, frisch verliebt und verdrossene Hälfte einer gescheiterten Ehe.

Mehrere Terabyte an Daten werden an diesem Premierenabend in Lichtgeschwindigkeit durch ein Glasfaserkabel gejagt, welches das Schauspiel Dortmund mit dem Berliner Ensemble verbindet. Denn „Die Parallelwelt“ findet als Simultanaufführung in beiden Städten zugleich statt. Hier wie dort filmen Live-Kameras die Schauspieler auf Schritt und Tritt. Was sie aufnehmen, sehen wir als Doppelbild und als Übertragung auf Leinwänden, die den Guckkasten zu zwei Dritteln in ein Kino verwandeln.

Eine Geburt in Berlin, ein Tod in Dortmund: „Die Parallelwelt“ erzählt eine Lebensgeschichte von ihrem Beginn und ihrem Ende her. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Moderne Schöpfungsgeschichte

Voges greift Freds Lebensgeschichte an Anfang und Ende gleichzeitig auf. Uwe Schmieder, der uns in Dortmund die Agonie des Sterbenden vor Augen führt, geht dabei ähnlich unerschrocken an die Grenzen des Darstellbaren wie Stephanie Eidt, die in Berlin die Geburt des Babys spielt. Für schwache Nerven ist diese Introduktion nur bedingt geeignet. Aber an den scheinbar extremen Gegenpolen des Lebens findet sich seltsam Gleiches: die Sterilität der Zimmer, die Tracht der Krankenschwestern, der tröstende Zuspruch, schließlich die Waschung der Körper. Dazu erzählt Voges eine moderne Schöpfungsgeschichte, eine Genesis von einer Welt ohne Abstände, in der das Glasfaserkabel zum Räume und Zeiten verbindenden Wurmloch wird.

Was ist Original, was ist Kopie?

Die folgenden zweieinviertel Stunden gleichen einem bildgewaltigen, verrückten Spiegellabyrinth, in dem hinter jeder Biegung andere Fragen auf uns warten. Was ist Original und was Kopie? Was ist real, was virtuell? Ist die Welt mehr als Wille und Vorstellung? Gibt es überhaupt Materie, wenn am Ende womöglich alles nur Energie ist? Voges und seine Dramaturgen spielen ähnlich rasant mit diesen Themen wie die Techniker mit den Möglichkeiten von Bildregie (Voxi Bärenklau) und Videodesign (Mario Simon, Robi Voigt).

Ohne Live-Kameras läuft nichts in der „Parallelwelt“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das mag ernst klingen, wird aber höchst komisch und unterhaltsam, wenn der gegenläufig erzählte Abend seinem Zentrum zustrebt, also der Lebensmitte von Fred. Denn während seiner Hochzeit mit Stella, die in Berlin und Dortmund zugleich gefeiert wird, tut sich ein Riss in der Raumzeit auf. Die Festgesellschaften stehen plötzlich sich selbst gegenüber, woraus ein herrlich amüsantes Chaos entsteht. In den hitzig ausbrechenden Diskussionen darüber, welche Feier denn nun die wahre und echte sei, werden die Bräute hysterisch („Mein Kleid ist verdammt nochmal ein Unikat!“). Begriffe wie rechts und links verschwimmen, was plötzlich pikant politische Töne ins turbulente Spiel bringt. Selbst kalauernde Currywurst-Vergleiche werden nicht ausgelassen.

Aus der Komik zurück zum Ernst

Erstaunlich, wie die Macher der „Parallelwelt“ nach diesem Riesen-Hallo zur Ernsthaftigkeit zurückfinden. Immer wieder gibt es so genannte Loops, in denen sich bestimmte Szenen wiederholen. Manchmal verhalten sich die Darsteller dabei eine Winzigkeit anders als erwartet, was dann zu einem anderen Fortgang der Geschichte führt – oder auch nicht. Es ist, als spielte dieser Abend beständig mit dem Was-Wäre-Wenn, mit den schier unendlichen Möglichkeiten, zwischen denen jeder Mensch immerzu die Wahl hat.

Verdoppelung, Vervielfältigung und Fragmentierung der Bilder in „Die Parallelwelt“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Jagd nach den Parallelen im vermeintlich Paradoxen gipfelt in eine flimmernde, sich im Tempo rasant steigernde Videosequenz, in der die Bilder wie eine entfesselte Flut vorbei rauschen: verdoppelt, vervielfacht, fragmentiert. Verwirrend und betörend zugleich, nicht zuletzt auch durch die Musik von T.D. Finck von Finckenstein. Mit diesem Feuerwerk hätte der Abend enden können, aber das Stück geht noch rund 20 Minuten weiter, obschon das meiste bereits gesagt scheint. Zu den sanften Klängen des Songs „Enjoy the silence“ von Depeche Mode plätschert „Die Parallelwelt“ beinahe ein wenig müde aus. In Erinnerung aber bleibt die überbordende Fantasie eines unbedingt sehenswerten Theaterabends, der von Entgrenzung und Neuzusammensetzung der Welt erzählt.

(Infos/Termine: https://www.theaterdo.de/detail/event/die-parallelwelt/)




Islam im Blut – Theater Dortmund zeigt „Geächtet“ von Ayad Akhtar im Megastore

Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Auf den ersten Blick eint sie die Eigenschaftslosigkeit. Amir, Emily, Isaac und Jory sind in der Dortmunder Inszenierung von Kay Voges farblos-weiße Gestalten mit roten Albino-Augen (Kontaktlinsen), frei von störenden Eigenschaften (des Blutes?) oder Hypotheken einer ungemäßen Herkunft. Wechselseitige Wertschätzung speist sich aus der Höhe sechsstelliger Jahresgehälter, rhetorische Nähe zum Islamismus hier und larmoyantes Judentum dort werden bestenfalls als folkloristische Apercus empfunden, die die lockeren Gespräche eines entspannten Abends zu viert ein wenig zu würzen versprechen. Kleine Provokationen unter guten Freunden, harmlose, gut gemeinte Späße: Was soll da schon passieren?

Bettina Lieder Merlin Sandmeyer

Emily (Bettina Lieder), Abe (Merlin Sandmeyer) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nun gut; wenn jemand wie der 1970 geborene amerikanische Autor Ayad Akhtar in bester Yasmina-Reza-Tradition vier so grundverschiedene Protagonisten auf die Broadway-Bühnen schickt, dann wird es böse enden, das ist von vornherein klar. Und blickt man auf das Personaltableau, kommt einem die Konstellation fast ein wenig hölzern vor, sind in diesem Stück zur politischen Lage doch alle üblichen Verdächtigen traulich vereint.

Da ist der erfolgreiche indische Anwalt Amir (Carlos Lobo), der eigentlich pakistanisch-islamische Wurzeln hat, was er bestreitet, weil es ihm berufliche und gesellschaftliche Nachteile brächte und weil, überhaupt, sein Vater das heutige Pakistan schon lange vor der Abtrennung von Indien verließ.

WASPs haben die besten Karten

Seine Frau Emily (Bettina Lieder) zählt zu den WASPs, den „White Anglo-Saxon Protestants“, die in der keineswegs klassenlosen amerikanischen Gesellschaft ein gewisses Herkunftsoptimum darstellen. Emily malt Bilder, bewundert islamische Kultur und versucht, etwas davon in ihrer Kunst einzufangen. Isaac (Frank Genser) ist ein jüdischer Kunstkurator, den Emily nachgerade hündisch um Aufmerksamkeit für ihre Bilder anhechelt und der mit ihr schläft. Vierte ist – na, wer fehlt noch? – genau, eine Afroamerikanerin, die Juristin Jory (Merle Wasmuth), die in der selben jüdischen Anwaltfirma arbeitet wie Amir, aber noch erfolgreicher als dieser ist. Nummer 5 im Stück ist Amirs Neffe Abe, ein Sidekick eher, der zum Ende hin Salafistentracht tragen wird.

Von links: Isaac (Frank Genser), Emily (Bettina Lieder), Amir (Carlos Lobo), Jory (Merle Wasmuth) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte zieht sich über einige Wochen hin, und ihren desaströsen Ausgang nimmt sie bei der Verteidigung eines radikalen Imams, an der sich Amir in einem Anwaltskollektiv auf Drängen Abes nur höchst widerwillig einläßt. Er ahnt, was kommen wird. Man stellt ihn in die Islamistenecke, und in seiner Firma, deren Chef Steven Fundraiser für Netanjahu ist, kann er einpacken. Aber hatte man ihn nicht lange vorher schon diskriminiert, Jory goldene Brücken gebaut und ihn auf die Ochsentour geschickt?

Etliche Whiskeys

Es kommt halt alles zusammen, und das dauernde Sich-Verstellen zehrt. In angespannter Partyheiterkeit, befeuert von etlichen Whiskeys und von Isaac provoziert, kann Amir nicht länger mehr an sich halten, gesteht seine klammheimliche Sympathie für islamistische Anschläge, erinnert sich – der Gipfel! – an seine Glücksgefühle beim Fall der „Türme“ in New York. Schluß mit lustig, Amir verliert Freundeskreis, Ehefrau, Job und Wohnung in beliebig wählbarer Reihenfolge.

Carlos Lobo  Bettina Lieder  Frank Genser

Von links: Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder), Isaac (Frank Genser) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wenn das Stück beginnt, hat jeder der nach und nach auftretenden vier Partygäste seinen festen Bereich auf der eher breiten als tiefen Bühne (Michael Sieberock-Serafimowitsch). Die Sätze werden ins Publikum hinein gesprochen, selbst das Begrüßungs-Bussibussi landet im Zuschauerraum.

Intensive Videoarbeit (Mario Simon) macht inhaltliche Positionen deutlich, zeigt, wenn es grundsätzlich wird, Davidstern, grüngrundigen Halbmond, Sternenbanner oder auch Karten des „alten“ Indiens flächendeckend in leuchtenden Farben. Diese Dekonstruktion des Dialogischen hat durchaus Schlüssigkeit und Reiz, und vielleicht verlangt dieser abgründige Stoff, das Monströse andeutend, gar danach.

Allerdings ist die Dekonstruktion der Spielhandlung nicht durchzuhalten. Heftige Diskussionen und finale Gewaltszenen verlangen einfach nach körperlicher Nähe.

Carlos Lobo

Amir (Carlos Lobo) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Verfremdungseffekt

„Geächtet“ erlebte vor einigen Wochen seine deutsche Uraufführung in Hamburg in der Regie von Karin Beier, etliche weitere Theater gaben sich an Inszenierungen.

Kay Voges’ Albino-Interpretation dürfte im nationalen Vergleich ein Alleinstellungsmerkmal sein, ein gewiß zulässiger Verfremdungseffekt in einem aus dem Ruder laufenden Boulevardstück. Gleichwohl hat man nicht das Gefühl, durch „Geächtet“ wirklich an Erkenntnis zu gewinnen, was weder dem Stück noch der Inszenierung anzulasten ist. Eher scheint es, als stünde auch der Autor hilflos vor seinem Personal, vor Amir vor allem, den er eigentlich doch so gut versteht.

Regisseur Kay Voges hat seine Darsteller nicht geschont. Vor allem Bettina Lieder ist als Emily (zunächst jedenfalls) pausenlos in sportlicher Bewegung, hypermotorisch, AHDS-verdächtig, offenbar die Verkörperung eines allgegenwärtigen unterschwelligen Stresses. Auch Carlos Lobo, wiewohl mit Neigung zum Übergürtelbauch, zeigt als hin- und hergerissener Amir viel mobilen körpersprachlichen Ausdruck. Merlin Sandmeyer, Frank Genser und Merle Wasmuth dürfen es als Abe, Isaac und Jory etwas ruhiger angehen lassen, doch sportlich sind auch sie.

Reicher Applaus für einen furiosen Theaterabend.

  • Termine: 21.2., 9., 26.3.
  • Informationen und Karten: Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de

Infos zur neuen Spielstätte Megastore: https://www.theaterdo.de/service/anfahrt/megastore/




Aus dem Leben eines Trinkers – „Die Reise nach Petuschki“ im Dortmunder Schauspiel

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man weiß sofort, was mit Wenja los ist. Er ist ein Trinker, immer auf der Suche nach dem nächsten Schluck; einer, der in Hausfluren schläft und klaffende Gedächtnislücken hat. Wenja macht keinen Hehl aus alledem, sondern erzählt (wie man hier vielleicht nicht mehr sagen sollte) frei von der Leber weg.

Wenja hat auch Stil. Und Kultur. Die Abfolge der Getränke, des Wodkas, des Bieres, des Rosés, will bemessen und durchdacht sein. Auch wenn längst schon klar ist, daß nicht Wenja über den Alkohol, sondern der Alkohol über ihn gebietet. Besonders dann, wenn er nach Moskau reist; dann richtet sich sein Pfad nach den Kneipen und Restaurants, die geöffnet haben, weshalb er den Kursker Bahnhof schon oft, den Kreml aber noch nie gesehen hat.

1973 schrieb Wenedikt Jerofejew seinen Roman „Die Reise nach Petuschki“, dessen Hauptperson und Ich-Erzähler Wenja ist (in dem man sicherlich auch einen Wiedergänger des Romanautors erkennen kann). Lange blieb das Buch verboten, und im Westen scheint der Stoff erst in den letzten Jahren so richtig angekommen zu sein, wurde er zu Hörbüchern und einem Hörspiel verarbeitet und fand seinen Weg nun auch ins Dortmunder Theater.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Sehnsuchtsort Petuschki

Wenja denn also, den Uwe Rohbeck herausragend gibt, will vom Kursker Bahnhof aus nach Petuschki reisen, wo Frau und Kind auf ihn warten und der Himmel blau ist und es auch im Winter nach Lavendel riecht. Geschenke hat er dabei, die indes eher Alkoholika zu sein scheinen, und irgendwie landet er am Ende wieder in Moskau. Was da unterwegs passiert ist, kriegt er nicht mehr zusammen, es verliert sich im Nebel der Trunksucht.

Das so in groben Zügen Skizzierte gibt es nun also auf der Studiobühne zu sehen – in einer rigoros zusammengestrichenen, gut einstündigen Textfassung von Stephen Mulrine (deutsch von Hein Marecek) und in der Regie von Katrin Lindner. Eine sehenswerte Personenstudie ist es geworden, ein in sich schlüssiges Theaterprodukt, ein schöner, amüsanter Theaterabend.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck): (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Verhältnisse in der Sowjetunion

Wer allerdings das Glück hat, Jerofejews Vorlage zu kennen, ist möglicherweise ein wenig enttäuscht. Denn die Geschichte lebt ja nicht nur vom Wenja-Plot, sondern von den vielen, mehr oder weniger alkoholdurchtränkten Gesprächen, von den beiläufigen Beschreibungen gesellschaftlicher Abgründigkeiten und der allgegenwärtigen Absurdität des erstarrten Breschnew-Sozialismus.

Manches wird in der Dortmunder Kompaktversion erwähnt, wie die Geschichte rund um den stets betrunkenen Eisenbahnkontrolleur, der sich von ertappten Schwarzfahrern mit Wodka bezahlen läßt; doch bleibt das sich in diesem Macht- und Korruptionsverhältnis spiegelnde Gesellschaftsbild anders als im Buch ungemalt. Auch die zahlreichen liebevollen Beschreibungen der einfachen russischen Menschen, die sich ihre Wirklichkeit gern zusammenphantasieren (der Alkohol hilft dabei), sind weggefallen. Nun denn.

Trinker mit Schlips und Kragen

Uwe Rohbecks grandioses Spiel vermag für diesen Mangel reich zu entschädigen. Seine Figurenzeichnung ist brillant. Nie sieht man ihn mit Glas oder Flasche in der Hand. In Anzug, Schlips und Kragen steht er auf der kargen Bühne (Bühne und Kostüme: Tobias Schunck), ein Mann offenbar, der auf sein Äußeres hält. Und doch sind kleine Zeichen der Verwahrlosung in der Kleidung unübersehbar. Zudem weiß Rohbeck, zierlich, hager und gelenkig, gekonnt die kleinen Bewegungsunsicherheiten des Trinkers zu geben, und auch die Sprache läßt den Alkoholpegel ahnen, doch ist sie weit vom Lallen der Betrunkenen entfernt. Dieser Alkoholiker wahrt Haltung und hat Benehmen – was ihn nicht vor dem Delir bewahren wird.

Begeisterter Applaus. Und Dank dem Haus für ein feines Stückchen Schauspielertheater.

  • Nächste Termine: 22.1., 18.2. (15,- Euro/ 10,- Euro ermäßigt)
  • Karten und Informationen Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de

 




Auf zur fröhlichen Menschenjagd: Schauspiel Dortmund zeigt Spiel um Leben und Tod

"Wetten dass" war gestern: Für Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann) geht es um alles (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

„Wetten, dass…?“ war gestern: Für Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann) geht es um alles. (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Das Kommando hat Pistolen, es hat Kalaschnikows, es hat Handgranaten. Es besteht aus drei Auftragskillern, die den Kandidaten einer TV-Show sechs Tage lang quer durch die Stadt jagen. Je später sie ihn töten, desto mehr erhöht sich ihr Preisgeld.

Schafft es der Kandidat hingegen, die mörderische Hatz zu überleben und noch während der Live-Show auf einen roten Knopf zu drücken, erhält er zur Belohnung eine Million Euro. Die Bevölkerung ist dabei ausdrücklich dazu aufgerufen, ihm entweder zu helfen oder ihn auffliegen zu lassen.

Das sind die Spielregeln der „Die Show“ („Die“ spricht sich dabei wie das englische Wort für Sterben). Es handelt sich um eine bitterböse Mediensatire, mit der das Dortmunder Schauspiel jetzt die neue Spielzeit eröffnete. Intendant Kay Voges hat das Stück gemeinsam mit den Dramaturgen Alexander Kerlin und Anne-Kathrin Schulz entwickelt. Ihre Vorlage war ein Fernsehspiel von Tom Toelle aus dem Jahr 1970. Wolfgang Menge schrieb dazu ein Drehbuch, das so realistisch wirkte, dass manche Zuschauer das Spiel für echt hielten und die fiktive Telefonnummer des Senders anriefen.

Der Theaterversion, die nun in Dortmund zu sehen ist, muss ein ungeheurer Aufwand vorangegangen sein. Wie viele Arbeitsstunden mag allein das Drehen der Videos gekostet haben? Beleuchter, Kostümbildner, Techniker, Kameramänner, die Band von Tommy Finke und nicht zuletzt die Schauspieler müssen bis an ihre Grenzen gegangen sein, um das Spektakel auf die Bühne zu bringen.

Ulla (Julia Schubert) und Bodo (Frank Genser) sind ein aalglattes Moderatoren-Duo (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Ulla (Julia Schubert) und Bodo (Frank Genser) sind ein aalglattes Moderatoren-Duo. (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Im Studio richtet Carlos Lobo das Publikum zum Klatschvieh ab, bevor das aalglatte Moderatoren-Duo Bodo (Frank Genser) und Ulla (Julia Schubert) die vergangenen sechs Tage resümiert. Sie lassen ein Feuerwerk von Video-Einspielungen, Expertengesprächen, Schleichwerbung und Studiogästen auf uns los.

Live kommt es dann zum Showdown zwischen Kandidat Bernhard Lotz (eine kolossale Kampfmaschine: Sebastian Kuschmann) und dem Killer-Trio, das uns aus Film und Fernsehen nur zu bekannt vorkommt (wunderbar schräg: Andreas Beck, Björn Gabriel und Bettina Lieder).

Bis ins kleinste Detail führen Voges und sein Team uns den täglichen TV-Wahnsinn vor: die ausgeweideten Emotionen, den auf Quote schielenden Menschen-Zirkus, das Gehechel des Echtzeit-Journalismus, sabbernd vor Gier nach jedem neuen Nachrichten-Schnipsel – fein beobachtet und virtuos persifliert. Doch je länger die „Die Show“ dauert, desto mehr stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn. Natürlich ist das alles widerlich. Aber haben wir das nicht schon vorher gewusst?

Baeby Bengg (Eva Verena Müller) beglückt uns mit  dem japanischen Top-Hit "Surimi Sushi Bang" (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Baeby Bengg (Eva Verena Müller) beglückt uns mit dem japanischen Top-Hit „Surimi Sushi Bang“. (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Schon nach der dritten dilettantischen Gesangseinlage von Castingshow-Stars sehnen wir uns nach der Fernbedienung. Es geht uns wie im wirklichen Leben: Wir möchten umschalten, oder besser gleich ganz ausschalten. Aber diesmal sind wir machtlos, können uns nicht entziehen. Hier heißt es durchhalten bis zum krachenden Finale. Feuerwerk, Konfettiregen, Zusammenbrüche, Siegerposen. Würg.

Das Publikum lacht an den richtigen Stellen. Es scheint die Satire zu goutieren und amüsiert sich dabei wie Bolle. Uns aber beschleicht der Verdacht, dass ein hoher Prozentsatz der Besucher sich privat exakt so verhält wie die Passantin auf dem Dortmunder Westenhellweg (die natürlich von einer Darstellerin gespielt wird). Vom Moderatoren-Team nach ihrer Meinung zur „Die Show“ befragt, sagt sie mit Nachdruck in die Kamera, dass diese natürlich entsetzlich sei, ein menschenverachtender Dreck, der eigentlich verboten werden müsste. „Sie werden die Sendung also nicht sehen?“, hakt das TV-Team nach. Da lächelt die Frau verschmitzt: „Das habe ich nicht gesagt…“

Bis 24. Januar 2016. Ticket-Hotline 0231/50 27 222. Informationen: www.theaterdo.de/detail/event/die-show/




Twittern im Theater: Das goldene Zeitalter für Social Media

KarteGestern war ich im Schauspiel Dortmund. Es war eine Einladung. Ich sollte mein Handy mitbringen, um damit während der Vorstellung zu fotografieren, zu filmen und Kurz-Texte darauf schreiben, so viele wie ich will. Dafür gab es freies W-Lan, ein Bier und eine Brezel. Es war mein erstes TweetUp, und es war – tja. Es war so, dass ich am Ende das Bedürfnis verspürte, mehr als 140 Zeichen zu schreiben. Also bitte, hier der Erfahrungsbericht.

Ein TweetUp ist eine Zusammenkunft von Twitterern, also Nutzern des gleichnamigen Microblogging-Dienstes, die während einer Veranstaltung über diese Veranstaltung kommunizieren – miteinander und mit dem Teil der Öffentlichkeit, der ihnen folgt. Damit man sich im Strom der ständig tickernden Tweets auch findet, wird vorab ein Hashtag bestimmt, den alle Twitterer in ihre 140-Zeichen-Kurznachrichten mit aufnehmen.

Der Hashtag hat das Zeichen einer Raute, #, er ist eine Art Code- und Schlagwort. An diesem Abend hieß der Hashtag #ZeitalterDo, denn das zu betwitternde Theaterstück hieß „The Return of Das goldene Zeitalter – 100 Wege, dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“. Es war die Wiederaufnahme aus der vergangenen Saison, ein Stück über die unerträgliche Leichtigkeit der Routine und Rituale, die unser Leben beherrschen.

Hundert Male gehen in dem Stück uniformiert gekleidete Menschen Treppen rauf und runter, durchgetaktet und doch variantenreich. Die Figuren – darunter Heine, Goethe, eine „Erklär-Bär“, diverse Nachrichten-Sprecher sowie Adam und Eva – agieren auf spontanen Zuruf der Regie. Jeder Abend verläuft etwas anders – und doch wurde jeder Gedanke in diesem Stück schon einmal gedacht, jeder Satz schon einmal gesprochen, so oder anders.

Sie ist verstörend beruhigend, diese Wiederkehr des Immergleichen, die Routinen und Rituale sind absolut verrückt und doch vertraut und gut. Wir haben uns in ihnen eingerichtet, und auch ein vermeintlich exzentrischer Ausbruch aus dem Alltag ist wenig originell, sondern eine vor-gedachte, vorgelebte Sollbruchstelle.

Kay Voges’ und Alexander Kerlins „Goldenes Zeitalter“ ist eine verstörend wahre, absolut unterhaltsame, nachdenklich machende, musikalisch und filmisch genial umgesetzte Allegorie auf das Leben. Mehr zum Stück bitte nachlesen in der Besprechung der Premiere von Anke Demirsoy oder Rolf Pfeiffers aktuelle Besprechung  – die Wiederaufnahme hat zwar einen anderen Untertitel und einige neue Szenen und Figuren, ist aber in Regiekonzept und Aussage deckungsgleich.

Ebenso neugierig wie auf das Stück, das ich noch nicht kannte, war ich auf das TweetUp: Wie würde ich mit der Möglichkeit umgehen, nonstop am Smartphone fummeln zu können? Was würde ich twittern, wieviel – und wie würde das die Konzentration und die Rezeption beeinflussen?

Zunächst bekamen wir Twitterer eine Einführung samt Vorstellungsrunde. Einer nach dem anderen nennt seinen richtigen und seinen Twitter-Namen und dazu einen persönlichen Hashtag, der das Befinden oder den eigenen Kontext angibt. „#Durst“, sagt einer, „#Ichfreuemichdassichdabeibin“. Die Kolleginnen und Kollegen fotografieren sich gegenseitig, fotografieren die Brezeln, den einführenden Dramaturgen und laden sie auf Twitter hoch. Soll ich auch schon? Ich fotografiere meine Eintrittskarte und schreibe dazu, dass man heute im Zuschauerraum trinken und fotografieren darf. Hm. Das haben die anderen auch schon getwittert.

Die meisten meiner Twitter-Kollegen stammen eher aus der Social-Media- denn aus der Kulturszene, und so hat man die Begleitmaterialien mit etwas mehr Infos versehen als für Theaterkritiker üblich: Die Twitterer erfahren zum Beispiel, dass das Schauspiel nur eine Sparte des Theaters ist und dass es auch noch Oper, Ballett, Philharmoniker und Kindert- und Jugendheater gibt.

Außerdem sagt die Mitarbeiterin aus der Öffentlichkeitsarbeit, dass es eine Burka-Szene geben wird und dass wir diese Bilder bitte nicht twittern sollen. Man wolle mit der Szene niemanden verletzen, und es könne ein falsches Licht auf die Inszenierung werfen, wenn diese Szene zusammenhanglos auf Twitter erscheine. Ich horche auf: Das ist neu. Von so einer Bitte habe ich noch nie gehört. Ich denke an den Kabarettisten Martin Kaysh, der 2013 mit Burkini ins Schwimmbad ging und daraus eine Nummer machte – aber das war vor Paris. Was ist von der Bitte zu halten? Wieso nimmt man die Szene ins Programm, hat aber gleichzeitig Angst, dass sie zu öffentlich wird? Die Gedanken dazu auf 140 Zeichen zu bringen – unmöglich. Ich twittere: Ok. Es wird eine Burka-Szene geben, aber mit der will man niemanden verletzen. Spannung steigt… #zeitalterdo“.Burka

Es ist nicht das erste TweetUp des Dortmunder Schauspiels, man sammelt schon seit etwa einem Jahr Erfahrungen mit dem Format. Regelmäßig werden Twitterer und Blogger eingeladen, von Proben oder Veranstaltungen zu berichten. Es gab sogar interaktive Inszenierungen, in die die Tweets der Zuschauer eingebunden wurden; in denen sich Zuschauer und Schauspieler auf digitalem Wege beeinflussten. Das ist an diesem Abend nicht so – von den Aktivitäten der Twitterer nehmen vor allem die Twitterer selbst Notiz und Teile des Publikums, die schon vorab durch Aushänge informiert wurden: Wundern Sie sich nicht, dass da eine ganze Zuschauerreihe am Handy spielt – die sollen das.

Dann geht es los. Ich habe mir vorgenommen, mein Handy wie einen Schreibblock zu benutzen. Gewohnt, während der Vorstellung ständig etwas später meist Unlesbares und Halbgares auf Papier zu notieren, will ich nun eben zum Handy greifen. Doch das funktioniert nicht. Meine Beobachtungen, Beschreibungen, Wertungen würden auf Twitter keinen Sinn ergeben, außerdem zögere ich, etwas zu veröffentlichen, das ich am Ende des dreistündigen Abends vielleicht ganz anders sehen werde. Ich schreibe etwas über das wiederkehrende Geräusch der Klospülung und erhalte sogar mehrere Retweets und „Favs„. Aber was soll irgendjemand damit anfangen, der nicht im Stück war?

kloDie Idee, der auf Twitter folgenden Öffentlichkeit von dem Stück in einer Sinn ergebenden Reihenfolge zu erzählen, gebe ich also schnell auf. Das entspräche schließlich auch nicht den Nutzungsgewohnheiten auf Twitter, wo sekündlich neue Tweets die alten verdrängen. Niemand wird meinen Botschaften in der von mir gedachten Reihenfolge folgen.

Es bleibt nur, auf griffige – und kurze! Zitate und Gedanken zu warten. Auf Witziges, Überraschendes, Aktuelles. Schlagzeilen schreiben, den Nachrichtenfaktoren folgen.

AdamDass die Schauspieler ihre Szenen in Dauerschleife wieder und wieder bringen, kommt mir entgegen: Wenn mir nach dem zweiten Durchgang auffällt, dass diese zwei Sätze ein schönes Video ergäben, halte ich beim nächsten Durchgang einfach drauf.

Die Qualität der Bilder aus dem dunklen Zuschauerraum ist erstaunlich gut, was an den großformatigen Bildern auf der Leinwand über der Bühne liegt. Wenig überraschend, dass ich dabei vor allem auf die spektakulären Bilder anspringe: Adam und Eva im Nackedei-Kostüm, der lustige Erklär-Bär, ein groß auf die Leinwand projiziertes vermeintliches Brecht-Zitat, mit dem das Schauspiel die aktuelle Diskussion um die Aufführung von Brechts Stücken kommentiert: „Der Urheber ist belanglos“.Brecht

Dann kommt die Burka-Szene, die wirklich gut ist: Drei Verschleierte stehen vorne auf der Bühne, dahinter riesengroß auf der Leinwand zwei wasserstoffblonde, gleich geschminkte und gekleidete Schauspieler, die da singen: „Ich bin anders als, du bist anders als, er ist anders als sie.“ Ich mache ein Video und lade es hoch. Es ist mein elfter Tweet aus der Vorstellung, vier weitere werden folgen, und ich finde nicht, dass da irgendetwas aus dem Zusammenhang gerissen ist – zumindest nicht mehr, als bei Twitter irgendwie immer alles aus dem Zusammenhang gerissen ist. Für den Kontext sorgt eigentlich nur der Hashtag.

Irgendwann, ich habe mich gerade in meinen Twitter-Rhythmus eingefunden, beginne ich damit, zu beobachten, was die anderen so twittern, verbreite ihre Tweets weiter, antworte und kommentiere. Phasenweise schaue ich minutenlang nicht auf die Bühne, dann wieder lange Zeit nicht aufs Handy. Das geht bei diesem Stück gut – es wird ja sowieso alles wiederholt.

Am Ende habe ich mich keine Sekunde gelangweilt und habe, anders als viele andere Zuschauer, meinen Platz nicht zum Bierholen verlassen. Wie wäre das ohne die Ablenkung durchs Twittern gewesen? Ich weiß es nicht. Und wie wäre es, über ein Stück zu twittern, das eine Geschichte erzählt, das sich entwickelt, das Beobachtung und Aufmerksamkeit erfordert? Ich kann und will es mir nicht vorstellen – genauso wenig kann ich mir vorstellen, mir parallel zum Twittern auch noch Notizen für eine ausführliche Kritik zu machen.

Twitter ist ein eigenes Medium, das einer eigenen Logik folgt. Als Medium der Theaterkritik ist es höchstens ergänzend geeignet, es bereichert die reflektierte Auseinandersetzung um spontane Eindrücke. In Zukunft, wenn Twitter in Deutschland populärer geworden ist, könnte es auch den gepflegten Zuschaueraustausch nach der Vorstellung ins Digitale verlagern bzw. erweitern – viele Menschen möchten nach einem Theaterabend gerne wissen, wie es anderen gefallen hat, haben aber Scheu, sich selbst in solche Diskussionen zu begeben.Danke

Als Medium der Kritik ist der Theatertwitter aber, zumindest von Seiten des Theaters, erstmal gar nicht gedacht. Es ist ein Instrument der Öffentlichkeitsarbeit und soll vor allem die Botschaft transportieren, dass – ja, dass am Theater getwittert wird. Was, das spielt gar keine große Rolle.

Und genau das ist auch okay. Es ist gut. Es hat tatsächlich Menschen ins Theater gebracht, die dort vorher selten waren, und es erweitert die Öffentlichkeit für das Schauspiel. Und mir hat es Spaß gemacht.

Übrigens, wenn Sie mir auf Twitter folgen wollen, bitte hier entlang.




„Häuptling Abendwind und die Kassierer“: Punk trifft Nestroy im Theater

Koch und Sänger: Wolfgang "Wölfi" Wendland. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Koch und Sänger: Wolfgang „Wölfi“ Wendland. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Die „Kassierer“ aus Bochum-Wattenscheid machen Fun-Punk – eine legendäre Band seit inzwischen 30 Jahren. Auf ihren Konzerten grölen sie vom Bier, das alle ist oder von „Sex mit dem Sozialarbeiter“.

Klassiker unter ihren Songs heißen „Stinkmösenpolka“ oder „Ich töte meinen Nachbarn und verprügel‘ seine Leiche“, dargeboten von Sänger „Wölfi“ Wendland gerne auch mal unten ohne, mit freiem Blick aufs baumelnde Gemächt. Weil das als Satire durchgeht, haben die vier größtenteils akademisch gebildeten Musiker bislang keine Probleme mit der Bundesprüfstelle.

Johann Nestroy ist ein österreichischer Dramatiker, der vor 150 Jahren starb. Sein Stück „Häuptling Abendwind“ gehört nicht gerade zu den Spielplan-Klassikern; es handelt von zwei Kannibalen, die sich gegenseitig ihre Frauen aufgefressen haben und versehentlich auch noch den Sohn des einen. Ein ziemlich irres Stück, das je nach Interpretation als Satire auf den Nationalismus oder auf das Gebaren der politisch-diplomatischen Klasse durchgeht – in der Hauptsache aber eher noch auf seine Wiederentdeckung wartet.

Häuptlinge des Punk: Uwe Schmieder (li), Uwe Rohbeck. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Häuptlinge des Punk: Uwe Schmieder (li), Uwe Rohbeck. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Die Idee, die „Kassierer“ und Nestroys „Häuptling Abendwind“ in einer „Punk-Operette“ zusammenzubringen, ergibt sofort Sinn – nicht nur, weil die Werke Nestroys, eines ausgebildeten Sängers und Schauspielers, sowieso halb Schauspiel, halb Operette sind.

Wer allerdings erwartet hat, dass das Schauspiel Dortmund in der Regie von Andreas Beck der Gaga-Show der Kassierer und ihren expliziten Texten etwas Hochkultur entgegensetzt, hat sich getäuscht. Die Kassierer und Nestroy, die Gleichung ergibt in Dortmund keine Inszenierung mit punkigem Touch. Sondern Punk auf allen theatralen Ebenen – da wächst zusammen, was zusammen gehört. Johann Nestroy wirkt in dieser Inszenierung wie ein früher Apologet der Punk-Bewegung. Und was noch nicht passt, das wird passend gemacht.

Wie hat man sich das vorzustellen? Zum Beispiel Atala, die Tochter des Häuptlings Abendwind, die in der Originalfassung eine der Zeit gemäße passive Rolle als Stichwortgeberin und Be-Handelte statt Handelnde hat. Darstellerin Julia Schubert zeigt dieser Rollenzuschreibung den blanken Hintern – nicht nur im übertragenen Sinne. „Ist Ihnen aufgefallen, dass ich bisher nur Reaktionssätze hatte?“, fragt  sie das Publikum und klärt es darüber auf, dass das weibliche Fleisch eine ausgebeutete Ressource sei. „Ich habe ein Recht auf lange Monologe“, verkündet sie, zetert „Nieder mit dem Patriarchat“ – und öffnet im rosafarbenen Prinzessinnen-Glitzer-Kostüm Bierpulle um Bierpulle. Mit den Zähnen.

Zum Beispiel die Häuptlinge. Abendwind (Uwe Rohbeck) und Häuptling Biberhahn (Uwe Schmieder in Bollerbuxe und Adiletten) wollen ihre Reiche vor der Leit- und Hochkultur schützen. Sie spekulieren auf eine „anarchische Revolution“ und feiern das Zusammentreffen mit einem Festmahl, das versehentlich aus Biberhahns Sohn Artuhr (Ekkehard Freye) besteht. Der wurde im fernen Europa bei den „Zivilisierten“ erzogen und sollte eigentlich Abendwinds Tochter Atala heiraten. Nun liegt er geschlachtet im Topf, die Häuptlinge stürzen sich kopfüber in die riesigen Tröge, und natürlich gibt es eine angemessen ekelhafte Fress-Schlacht am Bühnenrand, bei der das Essen (Spaghetti mit Tomatensauce) auch schon mal in den ersten Publikumsreihen landet. Dort landen im weiteren Verlauf des Abends auch noch aufblasbare Gummi-Sex-Puppen und, immerhin, einige Flaschen Bier. Denn Sven Hansens Bühneneinrichtung, das sei nachgeholt, besteht ausschließlich aus leeren Bierkisten, aus denen Thron und Sofa gebaut wurden.

Nieder mit dem Patriarchat: Julia Schubert. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Nieder mit dem Patriarchat: Julia Schubert. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Und die Kassierer? Die vierköpfige Band steht die ganze Zeit über auf der Bühne, liefert den Soundtrack, gibt dem Abend ihren Rhythmus, ihren Humor, ihr Niveau. Sänger Wölfi spielt außerdem den Koch. Er trägt, wie immer, ein viel zu kurzes T-Shirt über viel zu dicker Wampe und hat ansonsten das Aussehen eines freundlichen Grüffelos mit Bluthochdruck. Tatsächlich integrieren sich die Songs mühelos in die Nestroysche Handlung: „Arbeit ist Scheiße“, „Blumenkohl am Pillemann“, „Arsch abwischen“, „Mein schöner Hodensack“.

Letzter Song erklingt zum Höhepunkt des Abends, zumindest für die zahlreichen Kassierer-Fans im Publikum. Die sind es von den Konzerten ihrer Band längst gewöhnt, dass Sänger Wölfi sich irgendwann die Hose auszieht, passend zum Songtext: „Hast du schon mal so nen schönen Hodensack gesehen?“ Diesmal erleben sie eine Überraschung. Als Wölfi in seiner Rolle als Kannibalen-Koch seine blutbespritzte Metzgerschürze hebt, erblickt das johlende Publikum Schamhaar-Extensions, eine hübsche Locken-Frisur für untenrum. Sogar das passt weitgehend zu Nestroy: Tatsächlich hat im Stück der zum Festmahl erkorene Friseur Arthur den Koch mit einer neuen Frisur bestochen, auf dass er ihn verschone und statt seiner das Orakel des Stamms schlachte.

Eine Seh-Empfehlung gibt es für: Fans der Kassierer, Punks, Ex-Punks und Möchtegern-Punks sowie für alle, die nach der Lektüre dieses Textes nicht abgeschreckt, sondern neugierig sind. Wer sich jedoch auf ein selten gespieltes Nestroy-Stück freut oder im Theater gerne mal die Frage nach der künstlerischen Notwendigkeit von Nacktheit stellt – der bleibe lieber zu Hause.

Nach 75 Minuten haben die Zuschauer von „Häuptling Abendwind und die Kassierer“ die Genitalien von fünf der acht Beteiligten gesehen. Und wenn es im Song heißt „Ich möchte mir mit deinem Gesicht den Arsch abwischen“, dann wird das auf der Bühne nicht nur gesungen, sondern dargestellt. Insofern ist der Abend vor allem eines: die Erweiterung des Fun-Punk mit theatralen Mitteln. Oder auch: ein theatralisch dargestelltes Musikvideo mit Nestroy-Motiven.




Die Katastrophen sah sie kommen – „Kassandra“ in Dortmund

Die Rückwand eine Spiegelfläche, einige Scheinwerfer – mehr Bühnenbild braucht es nicht, um Kassandras Denken sinnfällig zu machen: Reflexion und Erhellung (vielleicht auch Erleuchtung) kennzeichnen es, ein Verstandesmensch ist sie, eine Analytikerin, ein Intellektuelle. Und eine Leidende unter eigener Erkenntnis.

Kassandra1_6291a

Bettina Lieder als Kassandra (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Im Studio des Dortmunder Theaters gibt die jugendliche Bettina Lieder Kassandra Gesicht und Stimme. In einem kräftezehrenden 80-Minuten-Monolog erzählt sie ihre – Kassandras – Lebensgeschichte, und sie wirft sich so bedingungslos in die Rolle, daß ein Schwächeanfall nach etwa einer Stunde den Fortgang der Aufführung für kurze Zeit fraglich macht. Doch nach wenigen Minuten ist Bettina Lieder wieder vorne. Und sie ist wieder Kassandra, die zornige Frau, die die Gabe der Weissagung haben soll und die darunter körperlich leidet.

Tochter von König Priamos und seiner Frau Hekabe ist sie, doch die hohe Herkunft erspart ihr nicht das entwürdigende Deflorationsritual, das sie ganz selbstverständlich erkennt als Teil der politisch gewollten Frauendiskriminierung. Sie will Abstand halten zu den Widrigkeiten dieser Welt, strebt das Amt der Priesterin an und wird in der Folgezeit eine mehr oder weniger involvierte Beobachterin der Verhältnisse, insbesondere der Kriegstreiberei gegen die Griechen.

Den Trojanischen Krieg sieht sie ebenso kommen wie sie späterhin auch früh die List der Griechen erkennt, die den Trojanern ein viel zu großes Holzpferd zur Opfergabe machen. Und sie weiß auch, dass das Trojanische Pferd Symbol für ein besonders grausames Gemetzel und den Untergang Trojas sein wird. So viel Inhalt im Kurzdurchlauf. Der Text, den Bettina Lieder vorträgt, berichtet natürlich ungleich mehr. Und man kann ihm recht gut folgen, wenngleich auch er mit vielen Namen und langen Sätzen gewisse Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Publikums stellt.

Der Text nun stammt in seiner angewandten Form von Dirk Baumann und Lena Biresch und entstand „nach Christa Wolf“. Christa Wolf starb 2011 und kann sicherlich die bedeutendste Schriftstellerin der DDR genannt werden, hoch geschätzt und viel gelesen auf beiden Seiten der deutschen Grenze. Ihre „Erzählung“ (Untertitel) „Kassandra“ kam in Westdeutschland 1983 heraus, ein mit nicht einmal 160 Seiten recht schmales, also wichtiges Buch, in dem die Schriftstellerin eine antike Heldin frauenbewegt, soziologisch und mit kühlem Intellekt erforscht.

Wenn Christa Wolfs Kassandra im Rückblick ihr Leben erzählte, so vermeinte man bei der Lektüre immer auch die Schriftstellerin selbst zu vernehmen, seelisch und methodisch mit ihrer Heldin nahezu verschmolzen. Auch vom Alter her war der Rückblick eine plausible Form des Erzählens. Somit ist der Vortrag des Textes durch eine junge Frau zunächst einmal irritierend. Was Bettina Lieders Kassandra im Dortmunder Schauspiel zornig, traurig, aufgewühlt erzählt, kann sie ja noch gar nicht erlebt haben.

Doch andererseits ist alles schon angelegt, es gehört zur Menschheitstragik, daß man vieles kommen sehen könnte, wenn man es denn wollte. Und nicht den letztlich wohlfeilen Zorn der Götter zur Ursache allen Übels erklärte. So gesehen ist eine jugendliche Kassandra eine stimmige Besetzung, denn es war ja ihr Los, vorher schon Bescheid zu wissen. Und nicht gehört zu werden. Und so zum Sonderling zu werden.

Auf unerwartete Weise lädt die Einrichtung des Stoffes von Dirk Baumann und Lena Biresch (auch Regie) dazu ein, über göttliche Fügung, Tragödie, Erkenntnis oder auch Verantwortung nachzudenken, wie es das Bühnenbild (Ausstattung: Mareike Richter, Licht: Rolf Giese) beizeiten schon nahelegte. Und die Sympathie des Abends gehörte selbstverständlich der kämpferischen Darstellerin.

Die nächsten Termine: 9., 25. April, 23. Mai. www.theaterdo.de




Thema „Lügen“ – Theatergegensätze zwischen norwegischer Saga und nahöstlicher Realität

Das Dortmunder Schauspielhaus, längst überregional „auf der Liste“, bietet fürwahr ein abwechslungsreiches Programm auf seinen Bühnen.

Die Abonnenten können aus dem Vollen schöpfen. Da kann man sich die Gegensätze um die Ohren und Augen fliegen lassen. Das ist sicher ein Paket, das nicht leicht zu handeln ist und die SchauspielerInnen haben zahlreiche schwierige Aufgaben zu bewältigen.  Zwei gegensätzliche Stücke werden im Folgenden als Beispiele herangezogen. Beide handeln vom Lügen.

Nawals Schicksal  – brutal und real

Foto: Theater Dortmund

Foto: „Verbrennungen“ Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Gewalt und Krieg sind Themen, die das Theater von jeher bearbeitet. Je näher sie am Jetzt und Hier sind, desto schwieriger scheint der theatrale Weg, das Publikum aufzurütteln, es zu bewegen. Der kanadische Autor Wajdi Mouawad – im Libanon geboren – hat ein viel gespieltes Stück verfasst, das eigentlich ein Erzählstoff ist. Basis ist eine Lebenslüge, die im Angesicht des Todes aufgelöst werden soll. „Verbrennungen“ heißt das Schauspiel auf der weiß ausgeschlagenen Bühne, einem Labor, das immer wieder wechselnde Spielorte hervorbringt. Die Orte werden nie klar benannt.

Irgendwo im Nahen Osten herrscht Krieg – für uns inzwischen ein Normalzustand. Fast täglich hören wir nur noch halb hin, wenn derartige Meldungen durch die Nachrichten rauschen. Es gibt Vergewaltigung und Folter. So auch in diesem Stück – als szenische Erzählung. Das tragische Geschehen: Die Kinder der gestorbenen Mutter erfahren von der Wahrheit ihrer Identität über Umwege. Das ist furchtbar und dennoch will uns das kaum nahe gehen, da die Figuren nur angerissen werden. Konflikte werden auf die Bühne verteilt und in 90 Minuten erzählt. Es ist schwer, ein derartiges Stück „zu verpacken“, auch für die niederländische Regisseurin Liesbeth Coltof.

Peer Gynts Leben – weltfremd und verblendet

Auf der Suche nach allem und nichts, der Seelenlügner und notorische Verdränger Peer Gynt, Bühnenfigur des Welttheaters, wird gedoppelt und vervielfacht. Er ist die Hauptfigur, der mit Lügengeschichten versucht, der Realität zu entfliehen.

Foto: Theater Dortmund

Foto: „Peer Gynt“ Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

In Dortmund wälzen sich die Figuren im Wasser, wechseln ihre Farbe wie die Personenhüllen. Das ist anschaulich, gar etwas wild und vor allem interpretierend. Der Zuschauer erhält eine Deutung des Stoffes. Wer das Original kennt, wird sich anschließen oder auch nicht. Die Inszenierung ist eine kompakte Show ohne großes Tableau mit ausgezeichneter Ensembleleistung.  Die große Musik, die zu dieser Figur von Edvard Grieg geschrieben wurde, findet hier nur als kurzes Zitat statt. Ansonsten wird das Ganze beherrscht von der Musik des Thomas Truax zwischen schleppenden und scheppernden Sounds. Ein guter Griff, nicht nur auf den Gitarrensaiten. Henrik Ibsen hätte die Musik mutmaßlich gefallen.




Zum Tod von Christian Tasche

Gestern kam mein Mann die Treppe runter, ganz blass, und fragte: „Du kennst doch Christian Tasche, oder?“ Ich nickte. „Er ist tot.“

Das hier wird kein Nachruf, keine Ansammlung von Daten und Fakten. Ganz sicher gibt es Menschen, die Christian Tasche sehr viel besser und enger kannten. Das hier ist eine Sammlung persönlicher Erinnerungen, ein Fluss von Gedanken, es ist das Mindeste, was ich jetzt für Christian tun kann und es ist auch der ganz persönliche Versuch, diesem Gefühl von Irrealität zu begegnen, das ich seit gestern habe. Vor anderthalb Wochen habe ich noch mit Christian Tasche telefoniert – und jetzt ist er gestorben, am letzten Donnerstag, 7. November, „plötzlich und unerwartet“, wie es der WDR schreibt.

Hüftschwung

Viele kennen Christian Tasche als Staatsanwalt Wolfgang von Prinz im Kölner Tatort, an der Seite der Kommissare Ballauf und Schenk. Ich habe ihn in einer weitaus weniger knorrigen, sehr viel schillernderen Rolle kennengelernt – als Dortmunder Ensemble-Mitglied bei den „Liebesperlen“. Als ich als Kulturredakteurin in Dortmund anfing, kannte ich die Kult-Revue nicht. Aber als Elvis-Fan fielen mir sein Hüftschwung und sein Timbre natürlich direkt auf. In dieser bunten Sammlung von Akteuren aufzufallen, ist nicht einfach – Christian Tasche hat es immer geschafft.

Christian Tasche in einem Kölner "Tatort" (© WDR/Uwe Stratmann)

Christian Tasche in einem Kölner „Tatort“ (© WDR/Uwe Stratmann)

Und das gilt für ihn auch neben der Bühne. Als Journalist kommt es häufig vor, dass man für Andere vor allem für einen bestimmten Zweck wichtig ist. Christian Tasche begrüßte mich schon nach der zweiten Begegnung mit Namen, ganz ohne Allüren. Er fragte nach, er interessierte sich für Menschen, nicht allein für ihre Funktion.

Von Herzen

Ich habe Christian Tasche als jemanden kennengelernt, der sagte, was er dachte – und gleichzeitig stets Humor zeigte. Selbst, als er einmal bei einer Probe ein wenig grummelte, weil die Choreographie nicht passte, trällerte er im nächsten Moment gut gelaunt ein von Herzen kommendes „Viiiiita bella!“

Apropos Herz. Christian Tasche hatte ein ganz großes. Das habe ich persönlich erlebt, als die Redaktion der Westfälischen Rundschau schloss und er mich sofort empört anrief. Das hat aber auch sein Handeln allgemein bestimmt – im Großen wie im Kleinen: Er hat sich mit dem Verein „Tatort – Straßen der Welt“ für benachteiligte Kinder engagiert. Und das Festival „FatPigtures“ in Unna zur Förderung des Filmnachwuchses zur Herzensangelegenheit gemacht.

Ungerechtigkeit trieb ihn zur Weißglut. Um einer Freundin in Not jüngst zu helfen, lotete er jede Möglichkeit aus, telefonierte, fragte, bat.

„Nur Mut“

Wenn ich mit ihm sprach, schien vieles aus seinem Mund leicht – ohne oberflächlich zu sein. Als ich ihm erzählte, dass meine Tochter sieben Wochen zu früh zur Welt gekommen war, meinte er: „Nur Mut, die Kleinen werden später mal ganz groß!“

Sein sonores Lachen habe ich immer noch im Ohr.

„Möge Euch 2013 alles gelingen“ schrieb er in einer Mail zum neuen Jahr. Das geht jetzt nicht mehr.

 




Im Aufzug zur Ewigkeit: Kay Voges beschwört in Dortmund „Das goldene Zeitalter“

Und ewig trommelt der Duracell-Hase: Szene aus „Das goldene Zeitalter“ von Kay Voges und Alexander Kerlin (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Eine monotone Automatenstimme zählt bis Neunundneunzig. Gleichförmig, unerbittlich. Elektronische Instrumente simulieren das Schrittgeräusch der Schauspieler. Einundzwanzig. Tack tack. Zweiundzwanzig. Tack tack.

Alle tragen den gleichen Minirock, die gleichen Riemchenschuhe, die gleiche wasserstoffblonde Lockenperücke. Wie ferngesteuerte Barbiepuppen treten sie einzeln aus einem Aufzug, schreiten roboterhaft zwei Treppen hinab. Unten angekommen, streifen sie die Schuhe mechanisch an einer Fußmatte ab, bevor sie wieder in den Aufzug steigen, diesmal auf dem Weg nach oben.

So geht das hoch und runter, auf und ab, wieder und wieder, wie im Traum oder wie in Trance. So setzen Dortmunds Schauspielintendant Kay Voges und sein Dramaturg Alexander Kerlin das Rad der Zeit in Gang, ziehen uns hinein in den Kreislauf der ewigen Wiederkehr. „Das goldene Zeitalter – 100 Wege, dem Schicksal die Show zu stehlen“ heißt ihr Stück, das die Routinen des Alltags in immer neuen Schleifen zelebriert, persifliert und schließlich transzendiert. Aus öden Obligationen des Lebens wie der täglichen Körperpflege und dem Einkauf im Supermarkt haben sie eine genial-verrückte Revue entwickelt, die das Endlos-Entertainment des 21. Jahrhunderts kommentiert. Sechs Schauspieler strampeln sich ab im Strom der Fließbandunterhaltung, suchen nach Wahrheit, nach Glück, nach Erlösung.

Für etwa acht Stunden halb improvisiertes Theater reichen die Szenen, Figuren, Videos und Musikstücke insgesamt. Zu sehen bekommt das Publikum stets nur einen Teil davon: welchen, das wissen weder die Mitwirkenden noch Kay Voges und Alexander Kerlin vorher genau. Beide sitzen mitten im Publikum und greifen per Funk und Mikrophon nach Lust und Laune in das Geschehen ein. „Bitte jetzt Heinrich Heine“, sagt Voges zum Beispiel in Richtung Bühne, und schon rezitiert ein Schauspieler einen Text, in dem der Dichter das „Goldene Zeitalter“ beschwört, einen gottähnlichen Zustand des Menschengeschlechts.

Der deutsche Michel (Uwe Schmieder), hier einmal nicht verschnarcht, sondern angsterstarrt im Kreis der ewigen Wiederkehr (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Der deutsche Michel (Uwe Schmieder), hier einmal nicht verschnarcht, sondern angsterstarrt im Kreis der ewigen Wiederkehr (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Abrupt wird Heines schöne Vision vom Tagesschau-Gong unterbrochen. Wir stolpern in die nächste Schlaufe: Die Voges-Familie versammelt sich für die 20-Uhr-Nachrichten am Esstisch. Schlagworte flimmern vorüber, Lampedusa, Merkel, Uli Hoeneß. Die Moderatoren wechseln, Eva Herman, Steffen Seibert, Tom Buhrow, egal. Alles neu und doch bis zum Überdruss bekannt. Langeweilesoße. Manche Parodie ist zum Schreien komisch. Manchmal passiert auf der Bühne quälend wenig. Dann wieder bricht ein geregeltes Chaos aus, in dem uns aus allen Ecken große Ratlosigkeit anblickt. Was jetzt? Wohin? Und vor allem: warum?

Das ist eine Zumutung, und nicht jeder ist bereit, sie auszuhalten. Zuschauer verlassen den Saal, um sich etwas zu trinken zu holen. Das ist in dieser Aufführung ausdrücklich erwünscht. Aber nicht alle kehren zurück. Sollten sie überdrüssig geworden sein, dann sind sie an diesem Abend nicht alleine. Wütend empört sich ein Schauspieler über die Monotonie, über die ewige Wiederkehr des längst Bekannten. Er rebelliert, versucht auszubrechen, ist aber trotzdem weiter Teil des Spiels. Und Peng, schon läuft wieder der Werbespot für Zott-Sahnejoghurt, „hinein ins Weekend-Feeling“.

Die Videokunst von Daniel Hengst bleibt dem Verrinnen der Zeit auf den Fersen. Jeder Augenblick, gerade noch live erlebt, gerinnt in seinen Bildern zur Vergangenheit. Die Sekunde wird zur Erinnerung, die von uns fort gleitet. Bilder splitten sich auf, optische und akustische Echos entstehen. Zeitschleifen überlappen sich, bilden Schichten. Dahinter beginnt etwas aufzuleuchten, was sich zunächst nur erahnen lässt. Ein ferner Schimmer, der Gewissheit wird, sobald die Worte großer Schriftsteller und Philosophen ins Spiel kommen.

Das sind die Protagonisten: ferngesteuert, videoüberwacht, auf der Suche nach dem Glück (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das sind die Protagonisten: ferngesteuert, videoüberwacht, auf der Suche nach dem Glück (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein paar Zeilen von Tschechow, ein Bruchstück von Beckett genügen, um uns endlich sehen zu lassen. Wie aus dem Nichts flammt das Licht der Erkenntnis auf, hinterlässt eine schillernde Spur, und alles wird plötzlich transparent. Wir sehen ihn zappeln und pulsen, den heißen Herzschlag des Lebens, das so toll und trostlos ist, voller Schönheit und Stumpfsinn, extrem im Wunderbaren wie im Vulgären. Irgendwann, wir verdrängen das gerne, gibt es für alles ein letztes Mal. Ein letzter Spaziergang, ein letzter Morgen, ein letzter Blick aus dem Fenster. Das Leben aber wird weiter schreiten, gleichförmig, gleichgültig. Vorhang. Fortsetzung folgt.

Wir gehen nach Hause, mit hundert Bildern im Kopf und manchem Zweifel im Herzen. Wir legen uns schlafen, und am nächsten Morgen stehen wir auf. Gehen unter die Dusche, putzen die Zähne und ziehen uns an, zuerst das Hemd, dann die Hose. Einundzwanzig. Tack tack. Zweiundzwanzig. Tack tack.

(Informationen und Termine: http://www.theaterdo.de/detail/event/4017)




Jung sein war für sie keine Frage des Alters: Zum Tod der Schauspielerin Helga Uthmann

Für viele war sie der „Inbegriff von einer Schauspielerin“ und so mancher schaute sich ein Stück nur an, um sie zu erleben: Die Kammerschauspielerin Helga Uthmann ist gestorben.

Als Journalistin hat man Termine, auf die man sich freut und solche, zu denen man sich schleppt. Helga Uthmann zu treffen, war jedes Mal wie ein Lichtstrahl. Stets sorgsam gekleidet, die Haare hoch gesteckt, so zuvorkommend, so freundlich, so lebensfroh und interessiert an ihrer Umwelt, an ihrem Gegenüber. Und so aufgeregt.

Das Theater Dortmund trauert um Helga Uthmann. (Screenshot www.theaterdo.de)

Das Theater Dortmund trauert um Helga Uthmann. (Screenshot www.theaterdo.de)

Jahrzehnte auf der Bühne waren wie weggewischt, wenn Helga Uthmann plötzlich selbst im Zentrum des Interesses stand. Kein Regisseur, kein Text, keine Vorgaben. „So privat zu sein! Grauenhaft! Ich möchte weglaufen“, rief sie einmal an einem Theaterabend, der ihr gewidmet war. Und das von einer Frau, die allein am Schauspiel Dortmund 30 Jahre lang zum Ensemble gehörte.

Niemals eine Diva

Doch Helga Uthmann wollte nie Diva oder Grande Dame sein. „Theatermama“ nannten sie manch jüngere Kollegen liebevoll. Sie selbst sprach gern von sich als der „komischen Alten“. Und komisch sein, das konnte Helga Uthmann. Wenn sie lachte, dann mit dem ganzen Gesicht, dem ganzen Körper, der ganzen Seele. Ein Lachen, dem sich keiner entziehen konnte.

Es passte zu ihr, diesem so sympathischen Menschen, dass ihr Werdegang buchstäblich auf der Straße anfing, beim Theaterspiel unter Freunden. „Ich war die böse Schwiegermutter. Die Prinzessin fand ich ungeheuer langweilig“, erzählte sie mir einmal in einem Interview. Glamour, Allüren – Fremdworte für sie.

„Ich komm‘ schon noch“

Helga Uthmann legte keine aalglatte Karriere hin. Nach der Folkwangschule blieben viele ihrer Kollegen in Essen – sie ging an das Kleine Theater in Mülheim. Und erlebte eine anstrengende, eine prägende Zeit, in der vom Soufflieren bis zum Wände anmalen alles dazu gehörte – fast wie in einer freien Gruppe. Selbst die ersten Auftritte vor dem Publikum fand sie abschreckend: so fremd, so ausgeliefert. Und doch dachte sie bei sich: „Ich komm‘ schon noch“.

Bemerkenswert an Helga Uthmanns Weg ist, dass er immer auch einer jenseits der Zeit war: Am Anfang lagen ihr die jungen Rollen nicht und sie freute sich über jedes Jahr des Älterwerdens – später ab schien sich ihre Lebensspirale andersherum zu drehen. „Ich werde innerlich immer jünger. Ich bin noch 30″, sagte sie mir, als sie vom Papier her 75 war.

Diese unbändige Spiellust

Wer sie in Mathias Franks Inszenierung von Peter Turrinis „Josef und Maria” mit Claus Dieter Clausnitzer erlebt hat, weiß, was das für die Bühne bedeutete: so voller Lebenslust, so kraftvoll und bezaubernd das Sein umarmend war sie da zu sehen, dass die Zuschauer nur so in das Stück pilgerten. Sie wollten erleben, wie diese beiden vermeintlich Alten plötzlich Tango tanzten, Wange an Wange, jede Widrigkeit des Lebens verlachend. Jung sein ist keine Frage des Alters.

Man konnte sich regelrecht vorstellen, dass Helga Uthmann auch schon mal vor einer Vorstellungen laut brüllte: „Ich hab‘ Lust! Ich hab‘ Lust!“

Und doch sagte Helga Uthmann vor fünf Jahren, ihre Kraft lasse nach, sie wolle kürzer treten. Jürgen Kruses Ruf ans Schauspiel Köln ist sie trotzdem noch einmal gefolgt, als der sie anbrüllte: „Und wenn Du 130 wärst – Du spielst!”

Sie ist leider nicht 130 geworden.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Menschen, der so wundervoll warmherzig war, so groß im Leben und auf der Bühne. Für Helga Uthmann war es ein Kompliment, wenn jemand sie bodenständig nannte. Oder, wie sie es sagte: „Ich muss auch mal dreckige Hände haben und in der Erde wühlen.“




Der Werther in uns oder: Goethes Worte brennen heute noch

Die Leiden des jungen Werther im Schauspielstudio Dortmund. Foto: Birgit Hupfeld

Die Leiden des jungen Werther im Schauspielstudio Dortmund. Foto: Birgit Hupfeld

Wie wollen wir unser Leben führen? Angepasst, ohne anzuecken, aber auch ohne Tiefe – oder voller Leidenschaft, Emotion, vielleicht auch Einsamkeit? Regisseur Björn Gabriel hat für seine Inszenierung im Dortmunder Studio eine generationsübergreifende, nie endende Frage aus Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ herausgeschält.

Jüngst wetterte Richard David Precht gegen Werther: Unglaublicher Kitsch sei der Text, „verlogene Sozialromantik“, die aus dem Deutschunterricht verbannt werden müsse. Regisseur Björn Gabriel zitiert den Bestsellerautoren – übrigens herrlich gespielt von Schauspieldirektor Kay Voges – und tritt den doppelten Gegenbeweis an: In Videointerviews lässt er den Dortmunder Kulturdezernenten Jörg Stüdemann und Filmregisseur Adolf Winkelmann humorig von der Notwendigkeit des Auf- und Ausbruchs, von Revolte und Freiheit reden. Um dann auf der Bühne zu zeigen, dass Goethes Worte auch heute noch brennen.

Gabriel stellt denn auch weniger allein die unglückliche Liebe von Werther (Sebastian Graf) zu der mit dem angepassten Albert (Ekkehard Freye) verlobten Lotte (Bettina Lieder) in den Vordergrund – und setzt folgerichtig Werthers Selbstmord an den Anfang.

Werther ist verzweifelt an der Welt: Er will, er kann sich nicht anpassen, würgt an der Verlogenheit und Gleichgültigkeit der Menschen um ihn herum und ist voll ungezügelter Wut und Leidenschaft – von Sebastian Graf ungestüm und voller Ungeduld gespielt. Werther will leben, mit all seinen Sinnen – Mittelmaß und Mäßigung sind für ihn erniedrigend. Er ist ein Außenseiter – bis plötzlich Lotte ihn versteht.

Es wäre ein Leichtes, den angepassten Albert nun zur reinen Karikatur verkommen zu lassen. Ekkehard Freye aber spielt ihn als einen Gebrochenen, Verletzten, der in Schönfärberei und Harmonie sein Heil sucht. So lässt Regisseur Gabriel die Möglichkeit offen, Albert und Werther als „zwei Seelen in einer Brust“ zu sehen, Idealismus versus Konformismus – und Lotte hin- und hergerissen zwischen beiden (überzeugend zwiespältig von Bettina Lieder gespielt).

Sicher ist nicht immer subtil, was auf der Bühne geschieht: Es wird geschrien und gekocht, Reis und Champagner fliegen durch den Raum, riesige Projektionen (Daniel Hengst) sind mal überstilisiertes Idealbild, dann Videotagebuch für die Innenschau. Schade auch, dass es bei der Premiere teils Ton-Probleme gab. Der Grundkonflikt aber berührt. Sind wir nicht alle ein bisschen Werther?




Theater Dortmund: Schräge Helden in der SpielBar

„Helden meiner Jugend“ – das klingt nach Leidenschaft, Liebe und ein wenig Nostalgie. Ein wenig von all dem, vor allem aber viel Charme hielt am Freitag die SpielBar im Institut (Theaterbar) des Schauspiels bereit, die Ensemblemitglied Sebastian Graf organisiert hat.

Einen musikalischen Auflauf hatte Sebastian Graf im Vorfeld angekündigt – und diesem Ruf waren viele erlegen: Das kleine, gemütlich hergerichtete Institut platzte aus allen Nähten, bevor der Schauspieler und seine zahlreichen Gäste auch nur den ersten Ton gespielt hatten. Mit dem ziemlich launigen „Ne Frau, die sich mich leisten kann“ und den ersten Zeilen „Ich bin ein fauler Knabe, daraus mach ich keinen Hehl und Faulheit kostet nun mal ihren Preis“ gab Sebastian Graf den Ton des Abends vor: lässig, ein wenig schnoddrig, sehr authentisch. Knüpfte der Start mit einigen „Joint Venture“-Liedern noch an den ersten Teil des „Helden meiner Jugend“-Abends an, sorgte Ensemblemitglied Uwe Schmieder anschließend für eine Zäsur: Im hautengen, schwarzen Kostüm mit Bürste auf dem Kopf drosch er auf ein Bierfass ein und brüllte, dass manchem Zuschauer fast das Trommelfell zerplatzte.

Danach war der Weg frei für die überzeugende Combo aus Paul Wallfisch am Klavier, Uwe Muschinski am Schlagzeug (ein Techniker des Schauspiels) und Gast David Schlax aus Köln an der Gitarre und mit beeindruckendem Gesang, die gemeinsam mit Sebastian Graf Liedern wie „Whisky in the Jar“ oder „Rebel Yell“ ihre eigene Interpretation aufdrückten. Für großes Amüsement sorgte Christoph Jödes Massenmörder-Version von „Umbrella“, während Bettina Lieder mit „Valerie“ berührte. Die größte Überraschung war aber sicherlich Maik Fuhrmann, der eigentlich als Techniker am Schauspiel arbeitet – diesmal aber mit Ukulele und vor allem klarer, schöner Stimme für Gänsehaut sorgte. Chaos und Improvisation taten ihr Übriges für einen schräg-charmanten Abend.

Die neue Theaterreihe SpielBar wird im Februar fortgesetzt.

Dieser Artikel ist in ähnlicher Form in der Westfälischen Rundschau erschienen.




Unendliche Räume des Traumes – achtstündiges „Fest der Romantik“ im Dortmunder Schauspiel

Von Bernd Berke

Dortmund. Zuweilen war es wirklich wie ein schöner Traum – von einer allseits mit Künsten gesättigten Sehnsuchts-Welt: Dortmunds Schauspiel beging am Samstag erstmals sein groß angelegtes „Fest der Romantik“.

Mit einer ganzen Flut einschlägiger Texte werden im Laufe des fast achtstündigen Spektakels sämtliche Winkel des Theaters bespielt, bis hin zu Probenräumen und Unterbühne. Selbst in den Pausen sind Foyer und Wandelgänge von historisch kostümierten, literarischen Geistern erfüllt.

Es kann nur gut sein, wenn sich – in schwierigen Zeiten – ein Stadttheater so massiv inErinnerung bringt, wenn es zudem sein Innerstes hervorkehrt und sich in die imposante Maschinerie blicken lässt. Und so weckt das auch logistisch gewiss ungeheuer aufwändige Kaleidoskop in seiner Gesamtheit nachhaltige Sympathien für die Bühne.

Natürlich geht’s nicht um Hollywood-Romantik, sondern um Ausflüsse und Eckpunkte, um Sehnsuchts-, Nacht- und Schattenseiten jener Epoche, in der die Tore zu den unendlichen Räumen des Traumes und des Unbewussten aufgetan wurden. Nicht ganz lupenrein, aber im Sinne der Gewichtigkeit und der Grenzverläufe plausibel: Kleist, Hölderlin und Nietzsche sehen sich mit einbezogen. Man hätte etliche Linien auch in die Gegenwart verlängern können, etwa bis zu Botho Strauß.

Kleists „Käthchen“ mit Stahlhelmen und Wehrmachtsmänteln

Mit Kleists „Käthchen von Heilbronn“ beginnt der Reigen, Hausherr Michael Gruner lat den Klassiker selbst inszeniert. Er malt den Text nicht breit aus, sondern schraffiert ihn rasch mit verschatteten Grau-Tönen. Stahlhelme und Wehrmachtsmäntel lassen allzu früh ahnen: Das „Käthchen“ wird einmal mehr auf die gespenstischen Seiten deutscher Historie bezogen – eine Rechnung, die nicht restlos aufgehen mag. Es waltet kaum ein Zauber, sondern Entzauberungs-Absicht. Wenigstens ist damit der etwaige Vorwurf, in diesen kriegsschwangeren Wochen nur „auf Romantik zu machen“, vom Tisch.

Von dunklen Mauern umgeben und geheimnisvoll ausgeleuchtet (Bühne: Peter Schutz), schnurrt hier ein doch etwas bemühtes Spiel ab, das die sprachlichen Qualitäten derVorlage nicht immer im Sinn behält. Man vernimmt dumpfe Echos aus dem Gruselkeller der Geschichte. Graf Wetter vom Strahl (Pit-Jan Lößer) ist ein Typ fast wie aus dem Landser-Heft, das ihn so aufopferungsvoll liebende Käthchen (Astrid Rashed) bleibt selbst in traumhaften Sequenzen blässlich patent.

Gar zu greller Kontrast: Käthchens böse Gegenspielerin Kunigunde (gespielt von einem Mann: Manuel Harder) gerät zur jaulenden Chargenrolle, zur hassenswerten Gesamt-Germanin. Anders als bei Kleist, heiratet Graf Strahl dieses präfaschistische Monstmm und nicht das zarte Käthchen. Die reine Liebe ist nur ein Traum, es obsiegt martialisehe Geschichte. Ein Ansatz, den man filigraner hätte herausarbeiten können.

Worte zwischen Weltschmerz und Natur-Beglückung

Es folgt der wohl schönste Teil des Projekts, die mit punktgenauer Raffinesse dargebotene Offenbach-Oper „Hoffmanns Erzählungen“, die man eines Tages aus dem Projekt lösen und separat spielen sollte.

Sodann hat man die Wahl zwischen sechs parallel aufgeführten Texten. Schweren Herzens lasse ich Tieck, E. T. A. Hoffmann, Bonaventura, Achim von Arnim und Nietzsche beiseite und entscheide mich für Hölderlins Briefroman „Hyperion“, der hier als „dramatisches Fragment“ firmiert und bruchstückhaft auf drei Darsteller (Jürgen Hartmann, Manuel Harder, Birgit Unterweger) verteilt wird.

Regisseur Matthias Gehrt lässt die Zuschauer auf der knarzenden Drehbühne sitzen und rotieren. Das scheint von den wunderbaren Wendungen der Sprache abzulenken. Doch so kommen die Figuren von allen Seiten her ins vieldimensionale Wort-Gewoge zwischen Weltschmerz und Natur-Beglückung, die Phantome sind nah. Man lauscht bewegt und hoch erfreut: So herrlich ist einst in deutscher Sprache geschrieben worden.

Termine: 14. Feb. (18 Uhr), 16. Feb. (16Uhr), 22. Feb. (17Uhr). Karten: 0231/50 27 222.

 




Schaubude des Unglücks – Nicky Silvers „Zwillingsbrut“ als deutsche Erstaufführung in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Was kommt heraus, wenn man bitterernste psychologische Fälle in die Form einer Seifenoper gießt? Nun, zum Beispiel so etwas wie Nicky Silvers US-Stück „Zwillingsbrut“, das jetzt als deutsche Erstaufführung (Regie: Harald Demmer) im Dortmunder Schauspielstudio gegeben wird. Das populäre Genre wird boshaft-lustvoll bedient und zugleich entlarvt.

Bernadette ist eine hysterische Schreckschraube, quasselsüchtig zum Steinerweichen, als nahezu niedliche Neurotikerin gespielt von Wiebke Mauss. Ihr Zwillingsbruder Sebastian (wie von Woody Allen erdacht: Michael Fuchs) betritt als erfolgloser und hochverschuldeter Ostküsten-Intellektueller die bonbonbunte Bühne der Beschädigten.

Bei Mutters Begräbnis, der ein von der Brause katapultierter Duschkopf den Garaus gemacht hat, begegnen sich die Geschwister. Im nervösen Pingpong der Fix-und-Fertig-Dialoge à la TV-Comedy zeigt sich hartnäckiger Hang zum Unglück. Bloß kein beschauliches Leben führen, es wäre ja wohl nicht zum Aushalten, oder?

Ausbruch zwecklos: Bernadettes Mann Kip (Thomas Gumpert), der nicht mehr Zahnarzt, sondern Maler sein und nackend-naturnah in Afrika leben will, ist eine hüftsteife Lachnummer. Für Sebastian hat der ganze Wahn beim Kindergeburtstag mit dem tristen Frohsinnsterror seines Miet-Clowns begonnen; damals, als sich Bernadette die Haare anzündete, weil sie den sengenden Geruch mochte. Jetzt, seit dem elf Jahre zurückliegenden Aids-Tod seines Freundes Simon, hat der schwule Sebastian keinen Menschen mehr richtig berührt. Nur der Briefwechsel mit einem Mörder im Knast (Christoph Schlemmer) hält sein Interesse am Leben halbwegs wach. Lockung des Abgrunds.

Verstorbene Mutter erscheint in Engelsgestalt

Sodann blitzen die Messer: Sebastians erbärmlich einsame Psychologin (Ines Burkhardt) sticht sich in einem Anfall von Gottsuchertum die Augen aus und vegetiert als zerlumpte Büßerin dahin. Ein geldgieriger Stricher schneidet Sebastian beim Oralsex beinahe das Kostbarste ab. Prompt erscheint die verstorbene Mutter in Engelsgestalt dem verwundeten Sohn und enthüllt: Sebastian ist bei einer Vergewaltigung gezeugt worden. Grelle Effekte in dichter Staffelung.

Ein Panoptikum von Schuld, Sühne und Selbstverstümmelung. Schaubude monströsen Unglücks, Verzweiflungs-Comic. Ganz recht also, wenn man das rasierklingenscharfe Stück in Dortmund auch mit den Mitteln der Schmiere ins Schrille schraubt. Beachtliche Schauspieler, die dies vollbringen, ohne daß es peinlich wird.

Und dann gibt es noch jene Traumspiel-Einschübe, in denen die Phantome eines besseren Daseins herumgeistern. Wenn sich Bernadette am Ende von ihrem Mann lossagt, um mit ihrem Baby und Sebastian eine Dreifaltigkeit zu bilden, kann man sich dies freilich nur als minimalen Glücks-Rest vorstellen: als endgültige Flucht in die Regression, in den seelischen Embryonalzustand. Solches Weh erfaßt keine handelsübliche Seifenoper.

Termine: 30. Nov., 1., 5. und 6. Dez., Karten: 0231/16 30 41.