Kraftvolles Schauspiel – Anna Drexler als wilde wie wohltätige Krähe in „Trauer ist das Ding mit Federn“

Anna Drexler ist die Krähe (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Wer Anna Drexler noch auf der Bühne des Schauspielhauses erleben will, sollte sich sputen. Denn in der kommenden Spielzeit wechselt diese großartige Künstlerin ihren Arbeitgeber, geht von Bochum ans Münchner Residenztheater. Im Zusammenspiel mit Maja Beckmann haben wir Anna Drexler (Jahrgang 1990) auf diesen Seiten früher schon bewundert und gepriesen. „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ hieß das Stück, das im Mai 2023 Premiere hatte. Da spielt sie eine junge Frau, was nicht verwundern muß. In „Trauer ist das Ding mit Federn“ aber, dem Stück, von dem hier die Rede sein soll, ist sie eine Krähe. Und was für eine!

Tod der Mutter

Nach wenigen Minuten Bühnenpräsenz verschwindet die Frage, ob der Besuch dieses Krähentheaters noch lohnen würde, ganz still und endgültig in der Versenkung. Obwohl, nun ja: Die Geschichte ist eigentlich traurig. Vater und Kinder betrauern nämlich den Tod der Mutter. Alles erinnert an sie, das nachbarschaftliche Umfeld zeigt die übliche Zuwendung, doch ein Zurück zur Normalität will nicht gelingen, zumal dem Vater (Risto Kübar) nicht, der wie gelähmt ist vom Verlust. Mit seinem Verlustmonolog startet das Stück, und man macht sich auf, zurückhaltend ausgedrückt: Längen gefaßt.

Vater und Kinder (von hinten nach vorne): Risto Kübar, Jing Xiang, Alexander Wertmann (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Eigentlich unverschämt

Doch dann ist plötzlich die Krähe da und mischt die Familie auf. Stellt respekt- und pietätlose Fragen, fragt die Kinder nach Eigenheiten der Mutter und läßt sie, unerhört eigentlich, von ihnen nachspielen; wendet sich mit Erklärungen dem Publikum zu, veranstaltet eine heitere Fragerunde, kümmert sich um den Vater im Bett, bewahrt ihn späterhin vor der „falschen Frau“ oder der Vorstellung von ihr, ist mal cool, mal aufgekratzt (eine Krähe eben), und bezeichnen läßt sich die Rolle der Krähe eigentlich nur vom Ergebnis her: Nach ihren Auftritten geht es allen besser; nicht gut, aber besser. Und das alles ist sicherlich auch ein bißchen pädagogisch, aber deshalb nicht verkehrt.

Mythologisches Tier

Natürlich kann man fragen, warum nun gerade eine Krähe mit ihrer mythologischen Aufladung und ihren durchaus auch animalischen Impulsen den Störenfried in der familiären Tristesse geben muß. Als Antwort mag der Hinweis dienen, daß die literarische Vorlage für das Stück der gleichnamige Roman des englischen Autors Max Porter war, der seinen Titel wiederum einem Gedicht von Emily Dickinson verdankte. Und der eben eine Krähe für diese Rolle vorsah. Der Vater übrigens, quasi augenzwinkernde inszenatorische Fußnote, ist Literaturwissenschaftler und versucht – erfolglos – das Krähen-Thema zu bearbeiten.

Anna Drexler als entspannte Krähe (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Komödiantin von hohen Gnaden

Die Wirkmächtigkeit dieser Inszenierung aber, um jetzt endlich darauf zurückzukommen, liegt im annähernd dauerpräsenten Bühnenspiel der Künstlerin Anna Drexler. Ja, sie ist – und das soll hier ein Kompliment sein – eine Rampensau und eine Komödiantin von hohen Gnaden; doch gelingt es ihr fast gleichzeitig, das Rätselhafte, die Ambivalenz, die Unsicherheit, auch die Begrenztheit ihrer (Krähen-) Möglichkeiten herauszuspielen. Alles ist besser als unabsehbare Trauerstarre, sagt die Inszenierung, sagt ihre Hauptfigur.

Fabelhafte Tänzer

Neben einer solchen Krähe haben die anderen Darsteller keinen leichten Stand. Also müssen sie tanzen! Jing Xiang und Alexander Wertmann, die Kinder, tun dies mehrfach, entwickeln aus scheinbar alltäglichen Bewegungen unglaubliche Tanzfiguren, spielerisch und hoch artistisch zugleich, homogen eingefügt in den Fluß des Geschehens, beeindruckend.

Außerdem auf der Bühne: Nina Steils als Mutter, in gebührlicher Zurückhaltung spielend, wenn sie nicht gerade das Falsche-Frau-Monster ist und sich mit der Krähe einen ritterlichen Zweikampf bis zum bitteren Ende liefern muß, sowie Jasmin Kruezi als Kameramann, der übrigens auch für das Videodesign genannt wird.

Reichen Applaus gab es, was auch sonst, und das angenehm nachwirkende Gefühl, saftiges, kraftvolles Schauspiel erlebt zu haben. Bitte mehr davon.




Sechs Stunden sind nicht genug – In Bochum inszeniert Johan Simons Elena Ferrantes Roman „Meine geniale Freundin“

Freundinnen fürs Leben: Elena Greco (Jele Brückner, links) und Raffaela Cerullo (Stacyian Jackson) (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Sechs Stunden! Wo sitzt man noch so lange im Theater? Die Schauspielexzesse Peter Steins fallen einem ein, sein Antiken-Projekt, der Faust, der Wallenstein. Doch das ist Jahrzehnte her, und seitdem sind „90 Minuten, keine Pause“ längst schon so etwas wie gültiger Bühnenstandard geworden. Man mag das bedauern. Oder sich dem widersetzen. Johan Simons tut das, in Bochum.

Neapolitanische Saga

Er macht es wieder, seine „Brüder Karamasow“ nach Dostojewskij, Premiere im Oktober 2023, dauerten gar sieben Stunden, inklusive zweier Pausen nebst Gastmahl. Zu essen gab es diesmal auch, doch dazu später (vielleicht) mehr. Nun also: Premiere der Bühnenadaption von Elena Ferrantes Romanen um zwei Freundinnen aus dem armen italienischen Süden, deren erster den Titel „Meine geniale Freundin“ trug und die als Zyklus „Neapolitanische Saga“ enorm erfolgreich waren und sind. Die Textfassung stammt von Koen Tachelet, einem langjährigen Mitstreiter Simons‘ seit gemeinsamen Zeiten am NTGent.

Jele Brückner als Elena am Schreibtisch und in der Videoprojektion (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Rechtlose Frauen

Erzählt werden die Lebensgeschichten von Elena und Raffaela, kurz Lenù und Lila, beginnend mit ihrer Kindheit in einem armen Stadtviertel Neapels. Das Viertel heißt Rione, was das italienische Wort für Viertel ist, und von wo man vor allem weg will. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt, mafiöse Strukturen herrschen, und die faktische Rechtlosigkeit der Frauen scheint gottgegeben zu sein. Das Rione ist ein Hort der strukturellen Gewalt, zu der brutale Erniedrigungen und Vergewaltigungen ebenso zählen wie das ängstliche Festhalten an traditionellen Rollenbildern. In dieses Milieu werden die beiden Protagonistinnen hineingeboren. Elena, unschwer erkennbar als Alter Ego der Autorin, schafft die Aufnahmeprüfung einer Elitehochschule in Pisa, wird eine erfolgreiche Journalistin und Schriftstellerin; Raffaela heiratet früh, bekommt früh ein Kind von einem anderen, trennt sich von ihrem gewalttätigen Ehemann, schließt eine „Vernunftehe“, landet schließlich als Arbeiterin in der Fleischfabrik.

Feministischer Jahrhundertroman

Natürlich geschieht noch viel mehr in den Romanen, sind atmosphärische Elemente von großer Bedeutung. Elena Ferrante hat weit über tausend Seiten mit ihren Beschreibungen gefüllt, daran gemessen sind sechs Stunden Theater – netto vielleicht um die fünf – immer noch wenig, auch wenn fast pausenlos dialogisiert wird. Offenbar hat sich die Inszenierung, was man begrüßen mag, zum Ziel gesetzt, die biografische Grobstruktur beizubehalten. „Kindheit und Jugend“ ist der erste Teil überschrieben, es folgen „Erwachsenenjahre“ und „Reife und Alter“. Das Dilemma dieses Vorgehens ist jedoch die weitgehende Reduktion auf biografische Fakten – Männergewalt, Kinderkriegen, Trennungen, persönlicher Erfolg. Den feministischen Jahrhundertroman, den manche Kritiker in Ferrantes Werk sehen, findet man hier nicht wieder, gesamtgesellschaftliche Themen wie bürgerlicher Reichtum, organisierte Kriminalität oder Vetternwirtschaft bleiben lediglich strukturelle Grundierung.

Bühnenbild aus der Zentralperspektive. Es soll sich um eine typische italienische Piazza handeln. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

68 und danach

Gewiß gibt es im Stück auch Klassenkampf und revolutionäre Bestrebungen. Die Zeit nach 1968 und die 70er Jahre waren davon geprägt, in Italien verübten die Roten Brigaden Gewalttaten, ermordeten Politiker wie den christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Ferrante, Jahrgang 1943, erzählt vermutlich vieles aus eigenem Erleben im universitären Milieu. Wiederholt werden (vorwiegend im zweiten Teil des Abends) Nachrichten von revolutionären Taten in das Bühnengeschehen getragen, treten klassenkämpferische junge Männer aus gutem Haus als Agitatoren auf, gibt es den Versuch, Arbeiter und Studenten im Klassenkampf zu vereinen. Doch bei den Frauen reift die Erkenntnis, daß offenbar auch die Revolution Männersache ist, sich strukturell für sie somit nicht viel ändern würde. Hier finden sich die Wurzeln der autonomen Frauenbewegung, und wer etwas älter ist und früher mal „links“ war, kennt das vielleicht auch alles. Dieser Wiedererkennungseffekt hat sicherlich einen nicht geringen Anteil am Erfolg der Ferrante-Bücher, auch beim deutschen Publikum.

Strukturelle Zusammenhänge

In Bochum indes, kommen wir zum Theaterstück zurück, zeigt die Inszenierung letztlich wenig Interesse daran, strukturelle Zusammenhänge herauszuarbeiten. Einige Male liest Elena Sätze aus ihren Texten vor, die man vielleicht als analytischen Versuch bezeichnen könnte. Aber sie bleiben isoliert. Doch bietet diese Art der Inszenierung immerhin eine gute Wiedererkennbarkeit der Textvorlage. Wer die Bücher gelesen hat, kann alte Bekannte grüßen.

Ein bißchen wie bei Pina Bausch: Das Bühnenpersonal nimmt auf gereihten Stühlen Platz. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Johans Stühle

Von Johan Simons wissen wir, daß er gerne Stühle auf der Bühne mag. So auch hier. Und die Schauspieler sind gut damit beschäftigt, Stühle hin und her zu tragen, aufzureihen, abzuräumen. Wenn gar ein Erdbeben die Stadt erschüttert, bleibt als bildlicher Ausdruck ein großer Haufen Stühle, unter denen (Trümmer!) Opfer zu beklagen sind. Doch mehr als einprägsame Bilder entstehen so nicht; anders als in manchen Psychotherapien erklären die Stühle in ihren Anordnungen nicht die Beziehungen der Menschen zueinander, bleibt es bei allgemeiner Symbolik von Verortung und Seßhaftigkeit.

Es soll eine italienische Piazza sein

Zweites prägendes Bühnenelement ist die permanent rotierende Drehbühne. Sie bewahrt vor allzu großer Statuarik des Geschehens und bietet in Verbindung mit mitkreisenden Videokameras zudem den Vorteil, daß auf allen Plätzen – es gibt sie im Zuschauersaal wie auch hinten auf der Bühne – in Verbindung mit der Videoprojektion alles gesehen und verfolgt werden kann. Zu Beginn rotieren zwei Schreibtische mit den beiden jungen Mädchen, umlegt mit Büchern der eine (von Elena), mit Schuhen der andere. Der Bühnenraum selbst, war vor der Premiere in einem Vorgespräch zu erfahren, sei einer italienischen Piazza nachempfunden, aber wenn man das nicht weiß, kommt man auch nicht drauf. Dafür bleibt es zu abstrakt, trotz der warm erstrahlenden Straßenlaterne.

Nicht folkloristisch

In gewisser Weise ist der hohe Abstraktionsgrad dieser Ausstattung aber auch vorteilhaft, bewahrt er das Publikum doch vor allzu folkloristischer Deutung des Geschehens. Etwas anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn die Inszenierung sich statt für eine lineare Protokollierung für punktuelle Verdichtung der Handlung entschieden hätte.

Nochmal die Freundinnen: Stacyian Jackson als Raffaela links, Jele Brückner als Elena rechts. . (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Ideale Besetzung

Schauen wir auf die Darsteller. Jele Brückner ist Elena Greco, schon vom Typ her eine geradezu ideale Besetzung. Nachdem sie sich mit etwas Verzögerung „warmgespielt“ hat, ist sie eins mit ihrer Rolle. Die Zumutungen des Lebens – Freude, Angst, Selbstzweifel, Bedürftigkeit wie auch späterhin Selbstbewußtsein und Kraft weiß sie intensiv zu geben. Später wird ihr dafür reicher Applaus zuteil. Ihre Freundin Raffaela Cerullo wird von Stacyian Jackson gegeben, deren körperlicher Einsatz beeindruckt, die sprachlich aber nicht überzeugt. Sie spricht mit starkem (amerikanischen?) Akzent, was immer wieder zu Verständnisschwierigkeiten führt. Zudem gibt es ärgerliche Versprecher, die dem Redefluß ebenfalls nicht guttun. Außerdem legt sie (legt der Regisseur) die Rolle der Lila recht prollig an, was Leser der Bücher für unzutreffend halten.

Unmengen von Text

Mit Ausnahme der beiden Hauptkräfte spielen die anderen meistens mehrere Rollen. Garderobenwechsel geschieht oft auf der Bühne, was der Produktion die Anmutung des Unfertigen gibt. Darstellerinnen und Darsteller schlagen sich gut, stundenlang, bewältigen eine Unmenge von Text, beeindrucken mit ihrer scheinbar grenzenlosen Beweglichkeit. Wir erleben in Bochum ein hochwertiges, homogenes Ensemble, das die Inszenierung, die nicht immer frei von Längen ist, souverän trägt und alles in allem und trotz vieler bedrückender Handlungselemente zu einem unvergeßlichen Theaterabend macht.

Ein Solitär in der deutschsprachigen Theaterwelt

Erwähnt werden muß noch, daß es bei der Premiere eine ca. viertelstündige Unterbrechung durch einen Notarzteinsatz gab. Schließlich aber: Stehender Applaus, lang anhaltend. Mit seiner selbstbewußten Art, Theater zu machen, ist der 78jährige Johan Simons mittlerweile ein Solitär, nicht nur im Ruhrgebiet, sondern im ganzen deutschsprachigen Theaterraum.

Ach ja: Zu essen gab es verschiedene italienische Vorspeisen, vom Caterer in praktischen Einmalverpackungen dargeboten, außerdem Brot und Wasser. Man nahm es dankbar an an diesem beeindruckenden Theaterabend, der erst weit nach Mitternacht sein Ende fand.

Weitere Aufführungen: 1., 2., 23. Februar, jeweils 16:00 Uhr
www.schauspielhausbochum.de




Museen geschlossen, Frank Goosen ausverkauft: Ärger und Freude liegen im Kulturbetrieb des Reviers nahe beieinander

Von außen sieht man ihm seine charakteristischen Tütenlampen gar nicht an: das Schauspielhaus Bochum, wo Frank Goosen sein „Silvester Spezial“ zur Aufführung brachte. (Foto: Schauspielhaus Bochum/Martin Steffen)

Frank Goosen, das ist mal klar, Frank Goosen hat uns gerettet. Das „Silvester Spezial“ des Bochumer Kabarettisten, dargebracht im Großen Haus des Bochumer Schauspiels, fügte sich exakt in die Erfordernisse des diesjährigen Besuchsbespaßungsprogramms: Beginn um 20 Uhr und um die zwei Stunden lang, so daß es bis zum Jahreswechsel dann nicht mehr weit war. Die Silvesterparty im Schauspielhaus knickten wir uns und strebten hernach den heimischen Dortmunder Fleischtöpfen zu. Guter Abend, gutes Timing, 2025 konnte kommen.

Ruhrgebietskultur

Warum erzähle ich das eigentlich? Nun, weil die Berliner Verwandtschaft in diesem Jahr bei uns zu Gast war und man dann natürlich einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, richtig schöne Ruhrgebietskultur vorzuführen. In vielen Vorjahren war – in Berlin – die Komische Oper ein prominenter verwandtschaftlicher Bespaßungsort, aber die wird ja jetzt umgebaut und Barrie Kosky ist auch nicht mehr da und überhaupt. Also finde mal was, hier im Revier, wenn es nicht traditionelle Operette sein soll. Nun, wir fanden, wie gesagt, ihn, Frank Goosen, den man mit seiner grundsoliden Bochumer Erdung nebst gleichzeitiger, hochgradig anregender intuitiver Beweglichkeit und profundem historischen Spezialwissen auswärtigem Publikum durchaus zumuten kann, ja geradezu: sollte.

Andreas Weißert las in Dortmund

Der Fairneß halber sei ergänzt, daß auch andere Bühnen Jahresausklangsprogramme anboten. So las der geschätzte Schauspieler Andreas Weißert auf der Dortmunder Studiobühne wieder etwas vor, Textpassagen von Fontane, Kästner, Fallada und Bernhard unter dem Titel „Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben“ (ein Fontane-Zitat). Nur – um 16 Uhr fing er an und anderthalb Stunden später war er fertig, das ist dann noch verdammt viel Zeit bis Mitternacht.

Volle Hütte

Bei Goosen war das Theater voll, ganz offensichtlich giert das Volk nach Jahresendkultur. Da paßt es – Vorsicht, Ironie! – wunderbar ins Bild, daß die heimischen Museen an den letzten Tagen des Jahres einfach zumachen. Das Dortmunder „U“, zentrale Adresse, blieb zwischen 30. Dezember und 1. Januar, also von Montag bis Mittwoch, drei Tage immerhin, geschlossen, und in etliche anderen Städten hielten kommunale Museen es ebenso. Offensichtlich war hier eine Bürokratie am Werke, die die Welt in Brückentagen denkt und nicht in Publikumsinteresse. Warum sollte man an kalten, nassen Winter-Werktagen „zwischen den Jahren“, die wirklich nicht zu Spaziergängen irgendwelcher Art einladen, Museumsbesuche ermöglichen? Und der Montag ist eh sakrosankt, liege er für das ungeliebte Publikum auch noch so günstig zwischen den Feiertagen. Es macht die Sache übrigens nicht besser, daß wir, wären wir in Berlin gewesen, ebenfalls vor größtenteils geschlossenen Häusern gestanden hätten. Die Ignoranz einer selbstgefälligen kommunalen Bürokratie ist ein bundesweites Phänomen.

Offene Türen beim Schraubenkönig

Private Museen hingegen kennen das Publikumsinteresse und haben ihre Angebote angepaßt. So läßt „Schraubenkönig“ Würth die Tore seiner drei Häuser in und um Künzelsau jeden Tag von 10 bis 18 Uhr öffnen, das Potsdamer Museum Barberini, das SAP-Chef Hasso Plattner gehört, bot am 1. Januar zumindest Führungen durch das Haus an, und ebenso hatte die Duisburger Küppersmühle am 1. Januar geöffnet.

Wenigstens haben wir den Kran gesehen

In Dortmund, wo Tage vor Silvester museal nichts mehr ging, blieb als touristische Aktion schließlich noch eine Stadtrundfahrt mit dem eigenen Auto, Borsigplatz, Westfalenhütte (wo große städtebauliche Veränderungen anstehen), Hoesch-Museum (geschlossen wegen Umbau). Weiter über Malinckrodtstraße und Nordmarkt zum Hafen, wo vis-à-vis vom wilhelminischen Hafenamt der alte Kran zu besichtigen ist, den man weiter unten auf dem Hafengelände abgebaut und hier, auf der Vorzeigemeile, wieder aufgebaut hat. Gut, wenigstens diese Besichtigung hat geklappt, umsonst und draußen, wie es sein soll bei einem Freiluftindustriedenkmal.

Und es ging auch vom Auto aus. Mistwetter, wie gesagt.




Ruin der menschlichen Beziehungen – Johan Simons inszeniert O`Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ in Bochum

Szene mit (v.l.) Alexander Wertmann, Pierre Bokma und Guy Clemens. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Am Eingang wird das Publikum gewarnt. Laut werde es, aber nur am Anfang, kostenlose Ohrenstöpsel gibt’s am Stand mit den Programmen. Auf der Bühne dann, der eiserne Vorhang hat sich gehoben, ein weißes Haus mit Fenstern, Tür und Inneneinrichtung. Das steht da einfach so, minutenlang, während aus dem Off ein betörend schönes, langsames Blechbläsersolo ertönt.

Kommt gleich Till Brönner um die Ecke? Nein, aber völlig unvermittelt kracht das Häuslein ohrenbetäubend zusammen, und die Stöpsel, die man für die schöne Musik aus den Ohren gezogen hatte, haben einem überhaupt nichts genutzt.

Ein Haus stürzt ein

Der stimmige Simonsche Knalleffekt nimmt vorweg, was in den folgenden drei Stunden intensiv herausgespielt wird: Das Haus als zentraler Ort familiärer Geborgenheit, Sicherheit und Struktur ist ein Trümmerhaufen schon, bevor das Spiel beginnt. Intendant Johan Simons inszeniert im Schauspielhaus Bochum Eugene O’Neills Stück „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ als bedrückendes Tableau menschlicher Unzulänglichkeiten. Und warum es nicht hier schon sagen: Ein großartiger Theaterabend ist es geworden, getragen von Akteuren, denen die Berufsbezeichnung Schauspielkünstler (ein bedeutender Vertreter der Kritikerzunft verwendete sie besonders gerne) angemessen ist.

Elsie de Brauw als Mutter Mary (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Eine Künstlerin

Allen voran ist die Künstlerin zu nennen, Elsie de Brauw, die sich als morphiumsüchtige Mutter Mary in mitunter atemberaubende schauspielerische Intensität steigert, eins wird mit ihrer Rolle, wie man es in Inszenierungen der letzten Jahre kaum noch gesehen hat. Ein bißchen holländische Grundierung hört man bei ihr noch heraus, doch hat sie ihr Deutsch – so jedenfalls schein es dem Verfasser dieser Zeilen – in den letzten Jahren perfektioniert. Die holländische Sprachfärbung wirkt, so könnte man vielleicht sagen, wie ein leichter V-Effekt und tut der Erzählung gut. Außerdem agiert die zierliche Schauspielerin (Jahrgang 1960) mit einer Körperlichkeit, die man eher von einer Zwanzigjährigen erwarten würde. Man kann es nicht anders sagen: dieser Theaterabend ist ihr Abend, ein Erlebnis.

Szene mit (v.l.) Alexander Wertmann, Pierre Bokma und Konstantin Bühler. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Der Patriarch

Ein weiterer hoch zu preisender Akteur ist Pierre Bokma als ihr Mann, ein gleichermaßen brummeliger, düsterer, geiziger wie auch wichtigtuerischer und protziger Patriarch, ein Vater, auf den man sich nicht verlassen, auf den man nicht hoffen kann. Bokma ist eine kongeniale Besetzung für die Rolle des alten Schauspielers James Tyrone.

Die Familie hat Probleme

Ein bißchen Inhalt will noch erzählt werden, denn Inhalt gibt es schon, Handlung eher nicht. Die Familie des einstigen Bühnenstars James Tyrone – er, sein Frau Mary sowie die Söhne Jamie und Edmund – verbringen ihren Sommer im nebelumwaberten Ferienhaus am Ozean. Quasi sachliche Probleme sind die Morphiumsucht der Mutter, die nach der schweren Geburt des jüngeren Sohnes entstand, der Alkoholismus der drei Herren, die Schwindsucht Edmunds, die lieblose Entscheidung des Alten, ihn für mindestens ein halbes Jahr in eine öffentliche (statt private) Therapieeinrichtung zu stecken, um Geld zu sparen. Doch das alles wäre ja, wenn nicht lösbar, so doch besprechbar oder therapierbar.

Nicht mehr zu reparieren

Nicht zu reparieren aber ist der Totalruin der zwischenmenschlichen Beziehungen. Das vergiftete, lustvoll-zwanghaft betriebene Spiel mit Nähe und Distanz, Liebe und Destruktion, Verzeihen und Entwertung (und so weiter und so weiter) prägt den langen Tag. Die Eltern spielen es, und natürlich hat es die Kinder kaputtgemacht, und etwas Besonderes ist es gleich gar nicht. Jeder im Zuschauerraum kennt solche Familienverhältnisse, bei sich selbst, bei anderen. Und die Bühne kennt sie natürlich auch. Auch von vielen anderen Autoren.

Szene mit (v.l.) Guy Clemens und Pierre Bokma (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Die anderen

Bleibt die weiteren Mitwirkenden zu preisen, die sämtlich stark in ihren Rollen auftreten. Guy Clemens ist der ältere Bruder Jamie, dem das Stück eine in ihrer Ambivalenz geradezu bedrohliche Haß-/Liebeserklärung für seinen jüngeren Bruder Edmund (Alexander Wertmann) zugeteilt hat, furios und alkoholisch enthemmt gespielt. Der junge Edmund wiederum steigert sich beeindruckend im Streit mit seinem Vater, der ihn in die Billigklinik abschieben will. Konstantin Bühler als Diener (im Original ist übrigens ein Hausmädchen vorgesehen) und Django Gantz als von Mutter Mary im Morphiumrausch fast verführter Handwerker komplettieren die Besetzung.

Ein Sittenbild

Zum Ende des Stücks hin werden Selbsterklärungen verbindlicher, Zwiegespräche länger und intensiver, entsteht Raum für eine tragische Verständnisebene.  Johan Simon, der einen respektvollen Umgang mit der Vorlage pflegt, zeigt uns diese Entwicklung, legt aber gleichzeitig viel Gewicht auf die Anmutung eines eher stillstehenden Sittenbildes. Die Verhältnisse sind, wie sie sind. Und auch wenn alle unter ihnen leiden, werden sie nicht besser werden. Doch lange sah man diese Unzulänglichkeit nicht mehr so grandios auf die Bühne gestellt wie in dieser Inszenierung.

Einige Jahre, ist zu lesen, wird uns Altmeister Johan Simon (er ist jetzt 78) noch in Bochum erhalten bleiben, bis sein Nachfolger Nicolas Stemann 2027 antritt. Man darf gespannt sein, was er in dieser Zeit realisieren wird, mit seiner wunderbaren Art, „richtige“ Stücke mit viel Text und Spieldauer zu realisieren.

Großer Applaus.

  • Weitere Aufführungen
  • 11.Oktober
  • 30. Oktober

www.schauspielhausbochum.de




Zwischen Brontë und O’Neill – Schauspielhaus Bochum kündigt Programm für 2024/2025 an

Der Intendant des Bochumer Schauspielhauses Johan Simons und Chefdramaturgin Angela Obst präsentierten das Programm der kommenden Spielzeit (Foto: Daniel Sandrowski/Schauspielhaus Bochum)

„Ausgewogen“ – hartnäckig setzt sich das Wort fest und lauert auf Wiederaufruf, wenn man sich das Programm des Schauspielhauses Bochum für die kommende Spielzeit durchliest. Dreimal werden Stücke inszeniert, viermal ist Literatur die Vorlage; viermal richtet sich das Angebot an Kinder und Jugendliche, vier projektartige Produktionen schließlich kreisen um die Themenfelder Ökologie, Frieden, KI. Der Rest ist unterschiedlich zuzuordnen.

Abhängig von den Zuordnungen kann man auch zu anderen Zahlen kommen, jedenfalls ist für jeden (und jede!) etwas dabei. Und einmal mehr ist man dem Hausherrn Johan Simons dankbar dafür, daß er in Zeiten, in denen „Rechtspopulist*innen immer mehr Zuspruch“ erhalten, sein Theater nicht zur dumpfen Trutzburg gegen nämliche macht. Politisch ist sein Theater gleichwohl, weil es immer politisch ist, wenn es seriös gemacht wird.

Zwei Regiearbeiten für den Chef

Die beiden Regiearbeiten jedenfalls, die der 78-jährige Chef sich selbst vorgenommen hat, zeigen wohltuende Distanz zur Tagesaktualität. Zum einen will er Eugen O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ herausbringen (27. September), laut Programmbuch „eine Familientragödie, in Whiskey getränkt“; zum anderen hat er die Erfolgsautorin Elena Ferrante für sein Theater entdeckt und wird die Bände 1 bis 5 ihrer „neapolitanischen Saga“ zum Stück „Meine geniale Freundin“ verarbeiten (24. Januar 2025).

Wir warten auf Godot

Alles Weitere sollen die Kollegen richten. Becketts „Warten auf Godot“ war eigentlich schon für die jetzige Spielzeit vorgesehen, mußte aber verschoben werden. Nun ist die Premiere dieser Regiearbeit von Ulrich Rasche für den 6. September vorgesehen. Drittes „richtiges“ Schauspiel auf der Agenda schließlich ist Brechts „Trommeln in der Nacht“, Regie Felicitas Brucker (11. April 2025).

Romane auf der Bühne

Weiter geht es mit den – man will immer Literaturverfilmungen sagen, aber was wäre richtig? Inszenierungen vielleicht? Also Literaturinszenierungen. Lies Pauwels wird sich recht freihändig dem Werther widmen (Untertitel, wie passend: „Love and Death“, Premiere 1. November 2024). „Sturmhöhe“ heißt die Produktion nach dem gleichnamigen Roman Emily Brontës, die Claudia Bossard realisieren wird. Es ist ihre erste Regiearbeit am Schauspielhaus Bochum, sie gilt als Expertin für komplexe literarische Texte, verwandelt sie in eindrucksvolle Bilder und atmosphärische Szenen. Da muß man gespannt sein. Schließlich steht in der Literaturabteilung noch Kästners „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ auf dem Zettel, eine Koproduktion mit der Folkwang Universität der Künste in der Regie von Thomas Dannemann (31. Januar 2025).

Stücke für Kinder und Jugendliche

Bei den Arbeiten für ein junges Publikum wirken schon die Titel selbsterklärend, „Vier Piloten“, „S.U.P.E.R. Superheld*innen in eurem Klassenzimmer“, „Das NEINhorn“… Schließlich die Befassung mit aktuellen Themen. Wenn es um „Künstliche Intelligenz – KI“ geht, heißt die Veranstaltung, köstlicher Scherz, „Frankenstein“, (18. Oktober), „Exit Hambi – Ein Escape Room zur Rettung der Welt“ nimmt – richtig! – Bezug auf den Hambacher Forst und wird, eigentlich etwas befremdlich, vom Bund gefördert (3. Mai 2025). „Gundhi“ schließlich – die Schreibweise ist gewollt, im Namen ist eine Schußwaffe (engl. gun) versteckt – ist eine Produktion von De Warme Winkel aus Holland, die kritisch fragt, was uns der Frieden wert ist.

Illustre Gäste

So viel zum Bochumer Programm in Kürze, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Außerdem kommen einige sehr attraktive Gäste: Max Goldt, Frank Goosen, Lars Eidinger u.a. Und Norbert Lammert, ehemals Bundestagspräsident und bekennender Bochumer, wird im Format „Ein Gast. Eine Stunde“ wieder sehr persönliche, spannende Vieraugengespräche führen.




Schönheit im Tanz, Elend der Epileptiker – „Voodoo Waltz“ von Janja Rakus in Bochum

Pierre Bokma (li.), William Cooper. (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

„Ich bin ein Mann“ sagt der Mann auf der Bühne. Mühsam erhebt er sich vom Boden, mühsam zieht er Hemd und Hose an. Es ist der erste gesprochene Satz an diesem Theaterabend, verzweifelt-trotzige Selbstverortung. „Ich bin keine Frau“ setzt er nach, und haarklein wird er uns späterhin berichten, was er damit meint.

Choreographen inszenierten

Der Mann, mittleres Alter, gebeugte Körperhandlung, heißt im Stück Orfan und wird gespielt von Pierre Bokma, einer lange schon festen Größe im Bochumer Ensemble. Das Stück heißt „Voodoo Waltz“, wurde geschrieben von der jungen Slowenin Janja Rakus und von den niederländischen Tänzern Imre und Marne van Opstal, Geschwister die beiden, als hybride Hervorbringung aus Schauspiel, Tanz und viel Deklamation zu einem intensiven Bühnenprodukt verarbeitet, zu sehen nunmehr im Bochumer Schauspiel.

Chloé Albaret, Ramon John (von links). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

Ivana, Orfan und Wilhelm sind die schauspielerischen Hauptfiguren des Stücks; Ivana (Stacyian Jackson) war Rechtsanwältin in dem Land, das sie verlassen mußte (Slowenien vielleicht?) und hat mit manchen Fällen aus dieser Vergangenheit noch nicht abgeschlossen; Wilhelm (William Cooper) zieht es zum Göttlichen, Psalmen (aus dem Off) säumen seinen Lebensweg, Orfan schließlich (sein Name aus dem Englischen übersetzt bedeutet Waisenkind) ist ein unglücklicher Sexarbeiter, zu dessen regelmäßigen Aufträgen es gehört, dem „Oldie“ mit seinen bizarren Vorlieben zu Diensten zu sein. Schließlich wird er in ihm seinen Vater erkennen, der ihn schlug und mißbrauchte und beizeiten zu eben jenem gescheiterten, unglücklichen Menschen machte, den Pierre Bokma in dieser Inszenierung sehr berührend gibt.

Boston Gallacher, Chloé Albaret, Pierre Bokma, Emilie Leriche, Ramon John, William Cooper (v.l.). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

Rotlichtviertel

Die Menschheit zwischen hemmungslosem Trieb und Göttlichkeit, gut küchenfreud-ianisch zwischen „Es“ und „Über-Ich“, dargeboten in drei Bühnencha-rakteren, das ist doch schon was. Aber anrüchig bleibt es auf allen Ebenen, weshalb der Spielort irgendwie – Kulissen gibt es eigentlich nicht, wenn man von den leise ab und zu ihre Position verändernden Stoffbahnen absieht – im Amsterdamer Rotlichtviertel angesiedelt ist. Als eine Art Fremdenführerin hat da Puffmutter Kinga Xtravaganza ihre auftrumpfenden Monologe, die ebenso wie die Ex-Anwältin Ivana von der bühnenmächtigen, dunkelhäutigen Stacyian Jackson gespielt wird. A propos: Vorwiegende Bühnensprache ist Englisch, aber die Übersetzungen in der Projektion auf den Oberrand der Bühne kommen da gut mit, Deutsch in Englisch, Englisch in Deutsch, die Technik ist uneingeschränkt zu loben.

Androgyne, kraftvolle Wesen

Etwas ärgerlich ist nur, daß alles in allem eben recht viel Text gesprochen (und visuell übersetzt) wird. Der unüberwindliche Lesedrang hindert einen daran, den Tänzern beim Tanzen zuzugucken. Drei Paare, androgyne, kraftvolle Wesen, geben dem Schauspiel so etwas wie eine zweite, unaufdringlich-präsente, körperliche Nachzeichnung, sind schwerelos, schemenhaft manchmal gar. In gewisser Weise sind diese jungen Tanzkünstlerinnen und –künstler – „internationaler Cast“, laut Presseinformation – in ihrer Enthobenheit geradezu der idealisierte Gegenentwurf zu den armseligen Epileptikern. Wenn man es denn so sehen will.

Choreographie und Tanz finden oft nicht zueinander

Denn daß die Kombination – diese Kombination – von Opstals Choreografie und Rakus’ Geschichte künstlerischen Mehrwert schüfe, kann man auch nicht unbedingt sagen. Choreographie und Schauspiel bleiben oft für sich, nehmen nicht wirklich Beziehung zueinander auf. Dabei mag dem einen im Zuschauerraum zu viel Theater im Tanzstück sein, dem anderen zu viel Tanz in einem Plot, den man ja auch ganz naturalistisch hätte anlegen können.

Eher grau in grau als Voodoo Waltz

Nüchtern besehen sind die Geschichten, die hier erzählt werden, weder Voodoo noch Waltz, eher kümmerliches grau in grau. Unbestreitbar aber auch reihen sich zwei Stunden lang bemerkenswerte Einzelleistungen aneinander. Auch soll nicht bestritten werden, daß wir hier Helden „auf der Suche nach einer neuen Identität in einer Welt, die nicht wirklich für sie gemacht zu sein scheint“ (Presseinformation) begegnen. Nun, die trifft man im Theater relativ oft, aber oft sind sie weniger schillernd oder bedauernswert, je nachdem, als jene in „Voodoo Waltz“ am Bochumer Schauspielhaus. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß frenetisch, weitere Aufführungen folgen.

 




Männliche Familienbande – Johan Simons inszeniert Dostojewskijs „Brüder Karamasow“ mit viel Gelassenheit

Elsie de Brauw als Stariza Sossima in ihrer Klause. Der brave Hund taucht in der Besetzungsliste namentlich leider nicht auf. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Dies könnte eine Kirche sein, ein lichter Raum mit hohen Fenstern und vielen Kerzen, sparsam möbliert; es könnte aber auch ein Labor sein, steriler Ort für emotionslose Untersuchungen und Experimente. Beide Deutungen haben etwas für sich. Auf der Bühne des Großen Hauses inszeniert Bochums Schauspielchef Johan Simons den ersten Teil seiner „Brüder Karamasow“-Produktion.

Später wird das Publikum ins Kleine Haus umziehen, noch später im Foyer des Großen Hauses ein „Gemeinsames Dinner“ zu sich nehmen. Dies ist nicht eben ein unaufwendiges Projekt, schon das erste überaus beeindruckende Bühnenbild (Wolfgang Menardi) läßt daran keinen Zweifel.

Dostojewskijs Qualen

Tief tauchen wir ein in den Kosmos der Dostojewskijschen Qualen, in dem Himmel und Hölle, Wiederauferstehung, ewiges Leben, Schuld, Strafe, Vergebung, Lebensüberdruß zentrale Begriffe sind. Klug sind sie auch in diesem Spätwerk in Kontrast zu den quasi niederen Motiven der Menschen montiert, der Gier, dem skrupellosen sexuellen Verlangen, dem Schuldenmachen. Die Figuren des Romans finden in jenen auf der Bühne kongeniale Entsprechungen, allen voran im alten Pierre Bokma als Fjodor Pawlowitsch Karamasow, Vater, Lebemann und Dummschwätzer, dem seine Söhne in ehrlicher Abneigung zugetan sind. Voneinander lassen kann man nicht, auch deshalb nicht, weil eine üppige Erbschaft lockt. Und irgendwann, sehr viel später an diesem Abend, ist der Alte tot.

Karamasows in Teilansicht: Bruder Iwan (Steven Scharf, links), Vater Fjodor Pawlowitsch (Pierre Bokma, Mitte) und Halbbruder Smerdjakow (Oliver Möller, rechts). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Vorkenntnisse

Manches erklärt die Inszenierung dem Publikum, vieles aber auch nicht. Ohne recht genaue Kenntnis des Stoffs, der Charaktere und ihrer philosophisch-religiösen Verortungen ist es nicht leicht zu folgen. Johan Simons’ Inszenierung zeigt wenig Interesse daran, die dem Drama innewohnende Mechanik offenzulegen, sondern verströmt sich in der oft detailverliebten Illustration des als bekannt Vorausgesetzten. So stehen hier hübsche Spielszenen großer Intensität neben schwergewichtigen Sätzen, die, einmal in den großen Bühnenraum hineindeklamiert, beziehungslos hängenbleiben und dann langsam verblassen. Entschleunigung ist die Devise, doch führt sie nicht zwingend zu Erkenntnisgewinnen.

Gute Leute

Gleichwohl ist das Schauspielhaus Bochum in der Intendanz von Johan Simons nach wie vor und mehr als viele andere Häuser immer noch ein Theater der Schauspielkunst. Und deshalb muß man jetzt noch einige Namen nennen: Steven Scharf bringt es als Iwan zu beachtlicher Intensität, Jele Brückner zeigt als desillusionierte Katerina Ossipowna Chochlakowa im Gespräch mit dem Schuldner Smerdjakow (Oliver Möller) unerwartete Abgründigkeit; die Rolle des weisen Starec Zosima wurde zur Stariza Sossima und wird nun in Bochum von Elsie de Brauw verkörpert, die sie souverän füllt und der man höchstens vorwerfen könnte, daß sie für eine Sterbenskranke etwas zu kraftvoll agiert. Als Hexe – später – ist sie noch besser. Die Frauenriege wird vervollständigt durch Anne Rietmeijer als von Vater und Sohn Dimitrij (Victor Ijdens) begehrte Schönheit Gruschenka. Danai Chatzipetrou schließlich ist Katerinas behinderte Tochter Lise im elektrischen Rollstuhl. Konstantin Bühler als zottelbärtiger Nachbar Nikolaj Iljitsch Snegirjow sowie die Kinder Davin Cakmak und Mina Skrövset vervollständigen die Riege.

Abgeranzte Küche

Erste Pause um Viertel vor fünf, Wanderung durch die Kulissen zum Kleinen Haus, Zwischenstop im Foyer. Weitergeht es um halb sechs, mit einem völlig anderen Bühnenbild. Im Kleinen Haus wird deutlich, warum im Großen Haus so viele Sitze frei bleiben mußten. Hier ist nun alles besetzt. Auf der Bühne steht als raumgreifende, naturalistisch durchgestaltete Kulisse eine recht professionelle, aber auch reichlich abgeranzte Küche, Lüftungsrohre unter der Decke, Kellerlage mit Treppenaufgang. Ein sinnfälliger Ort natürlich, hier unten werden Sachen angerichtet, der Kohl (für den Borschtsch) ebenso wie die eine oder andere Mordidee. Hier fliegt das Gemüse, hier fliegen die Töpfe; Konflikte werden zelebriert und auch gelöst mit den Methoden des Tür-auf-Tür-zu-Theaters, wenngleich es nur eine einzige Tür links im Bild – und eben die Treppe – gibt. Fast hatte man es bei der ganzen Statuarik im ersten Teil schon vergessen: Johan Simons ist ja auch ein ganz vorzüglicher Possenreißer mit Wurzeln im Straßentheater, der mit burlesken Späßen souverän dramatische Fallhöhe zu erzeugen weiß. Das wissen wir in Deutschland spätestens seit „Sentimenti“.

Die Küche ist das Bühnenbild des zweiten Teils. Im Vordergrund liegt Smerdjakow (Oliver Möller). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Fallhöhe

Dramatische Fallhöhe – das Drama strebt dem Höhepunkt zu – gibt es in Teil 3, nach dem Gemeinsamen Essen, nun wieder im Großen Haus. Der Alte ist mittlerweile tot, liegt in der Ecke. Wie kein anderer Dostojewskij-Stoff gelten „Die Brüder Karamasow“ ja auch als „Kriminalstory“, doch explizite Elemente einer solchen fehlen in dieser Inszenierung. Spannung oder ein bißchen „Whodunnit“ ebenso.

Fast kommt die nun geradezu unerträglich entschleunigte Inszenierung zum Stillstand, doch dann wird die Verlangsamung dankenswerterweise gebrochen durch den wunderbaren Dialog, in dem Iwan (Steven Scharf) Smerdjakow (Oliver Möller) gleichsam zu der Einsicht verführt, den Mord begangen zu haben. Mit einem frommen Epilog des jüngsten Bruders Aljoscha (Dominik Dos-Reis) geht die Inszenierung sieben Stunden nach dem Start dann endlich zu Ende. Diese Zeit abzusitzen war schon ein Angang; um so größer allerdings Respekt und Anerkennung für die nicht eben große Schauspielerriege, die in dieser Zeit eine unglaubliche Textmenge zu bewältigen hatte und dies mit Bravour meisterte.

Borschtsch und Gemüsequiche

Zu essen gab es übrigens den nämlichen Borschtsch (vegetarisch), ein Stück Gemüsequiche und ein Pöttchen Panna Cotta, alles qualitativ nicht zu beanstanden, von einem Catering schnell und freundlich auf die Tische gebracht. Zu essen soll es auch an den weiteren Terminen geben; bei sieben Stunden, sollte es denn dabei bleiben, braucht man schon was Kleines zwischendurch.

Materieller Aufwand

Und nun sitzt man zu Hause, massiert sich die immer noch schmerzenden Knie (vom langen Sitzen), wühlt sich durch die Unterlagen und fragt sich, was man eigentlich erlebt hat, im Kern, in der Essenz. Großes Theater war es sicherlich, schon hinsichtlich des materiellen Aufwandes (beide Häuser, Publikumswanderung durch Kulissen und Garderoben, Heerscharen von Mitarbeitern, die den Weg weisen mußten, usw.). Das Ensemble gut bis großartig, eine doch sehr homogene Truppe, deren holländische Mitglieder mittlerweile ein untadeliges Deutsch sprechen. Und schließlich: Eine gelassene Sicht auf Stück und Autor, die sich nur ein Regisseur mit uneingeschränkter Souveränität leisten kann, einer wie eben Johan Simons mit seinen 77 Jahren.

Nicht alles geht in 90 Minuten

Bochum bietet großes, anspruchsvolles Theater, wie es nicht (mehr) oft zu sehen ist im Ruhrgebiet. Es läßt sich nicht alles in „90 Minuten, keine Pause“ (heutzutage ein beliebtes Inszenierungsformat) erzählen, und das muß man auch nicht, und das tut man hier eben auch nicht, jedenfalls nicht immer. Das Publikum, wie könnte es auch anders sein, zeigte begeistertes Verständnis für das anspruchsvolle theatralische Großformat und spendete reichen, anhaltenden Beifall.




Mord als schrecklich groteskes Kinderspiel – Shakespeares „Macbeth“ in Bochum

Wenn’s zum Schwur kommt: „Macbeth“-Szene mit gezückten Messern im Becken – mit (v. li.) Marina Galic, Jens Harzer und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Hat dieser Mann, Macbeth heißt er, erst einmal den grundsätzlichen Entschluss gefasst und einmal einen Mord begangen, so tötet es sich hernach furchtbar leicht. Einfach das Messer angesetzt und zugestochen. Dann wird noch demonstrativ eine Portion Theaterblut angerührt und über Mörder wie Leiche gegossen – und fertig. Gedanke und Tat folgen dann immer schneller aufeinander. Es ist fast wie ein Kinderspiel. Oder eben wie Theater.

Intendant Johan Simons hat Shakespeares blutrünstiges Drama „Macbeth“ auf die Bühne des Bochumer Schauspielhauses gebracht. Gar oft ist die Premiere verschoben worden, nahezu gefühlte zwei Jahre lang (hab’s nicht eigens nachgerechnet), gewiss nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Nein, Simons und sein Team haben offenkundig mit diesem kaum auszulotenden, schwerlich auszuschöpfenden Stück gerungen, sie haben es wohl noch und noch von immer wieder anderen Seiten her betrachtet, um eine Form zu finden. Womöglich war es ein Prozess, der zur Entschlackung und zu einer Art Minimalismus geführt hat. Es ist nun, als wäre es ein Konzentrat geworden, das jedoch an manchen Rändern leichthin in Anflüge von Clownerie „ausfranst“ und neben dem Schrecklichen auch das Groteske aufruft. Nun gut, das Publikum will unterhalten und nicht nur entsetzt werden. Trotzdem ist es – alles in allem – eine Inszenierung, die einem nachgeht.

Den Text auf nur drei Figuren verteilt

Die Bühne (Nadja Sofie Eller) ist weitgehend leer, bis auf ein gekacheltes Becken. Eine unwirtliche Welt. Ganz hinten findet sich eine große Bild- und Videowand, die nur von Zeit zu Zeit sichtbar wird. Gespielt wird die Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch, über der Szenerie läuft Shakespeares genialer englischer Originaltext synchron mit – eine eigentlich willkommene Dienstleistung, auf die man sich jedoch kaum konzentrieren kann, weil die Darstellenden sofort alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Fast wie ein Herz und eine Seele: weitere Dreier-Szene mit (v. li.) Marina Galic, Jens Harzer und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Es sind nur drei, auf die sich die Textmenge aller wesentlichen Figuren verteilt. Anfangs mag das etwas verwirrend sein: Wer ist er oder sie denn jetzt schon wieder? Doch es tritt rasch Gewöhnung ein. Entweder hilft die namentliche Anrede, oder einfache Gesten wie das Auf- und Absetzen der Krone markieren die Person, mit der wir es gerade zu tun haben. Es geht ja auch nicht so sehr um abgrenzbare Individuen, sondern ums große Ganze der Zustände. Bei all dem kommt die Aufführung mit sehr wenigen Zeichen und Symbolen aus. Krone und (schottische) Fahne, das wär’s beinahe schon.

Die Hexen sind eigentlich immer dabei

Die drei multiplen Gestalten gehen aus der anfänglichen Szene mit den drei berühmt-berüchtigten Hexen hervor, die Macbeth jene vieldeutigen Prophezeiungen einflüstern, denen er nach gehabtem Schlachten-Glück die kommende Königswürde entnehmen könnte, die jedoch auf vertrackte Art auch den Nachkommen seines Kampfgenossen Banquo zufallen soll. Höllischer Zwiespalt! Ihn nutzt seine Frau, Lady Macbeth, um dem Manne die Mordlust einzuimpfen, geradezu schmackhaft zu machen. Erst den regierenden König Duncan gemeuchelt, sodann alle anderen, die irgendwie im Wege stehen oder auch nur hinderlich zu sein scheinen. Doch es nützt nichts. Wieder tritt eine rätselhaft doppeldeutige Prophezeiung ein…

Sie müssen natürlich spätestens jetzt genannt werden: Jens Harzer ist zunächst eine der Hexen, fortan Macbeth, Duncan, Malcolm und ein Mörder. Marina Galic ist ebenfalls eine Hexe, aus der abwechselnd Lady Macbeth, Banquo, Macduff, Lady Macduff und deren Sohn hervorgehen. Stefan Hunstein schließlich ist und bleibt „Hexe“, sprich: eines jener Geistwesen, das in den Menschen wütet. Das wiederum bedeutet: Die Hexen sind eigentlich immer dabei, vom Anfang bis zum bitteren Ende. Sie sind in Hirne und Seelen der Handelnden gefahren und weichen nimmermehr. Das Böse und die Unnatur sind nun einmal in der Welt.

Plötzlich die Frage: „Und wenn das schiefgeht?“

Auch sitzen und lauern die Mordgelüste schon in den Menschen, Macbeth kommt schließlich aus einem Krieg, in dem er sich bereits durch diabolische Grausamkeit „ausgezeichnet“ hat. Im trügerischen Frieden schreckt er zu Beginn noch vor Einzelmorden zurück, doch das gibt sich bald. Gewaltsame Gelüste müssen nur noch hervorgekitzelt und mit tätiger, doch eher passiver, geschehen lassender Hexen-Mithilfe ausgeführt werden. So vollführt Stefan Hunstein Mordtaten gleichsam als Pantomime mit. Es gibt etliche Szenen, in denen ausgiebig posiert wird und sich die Darstellung in wortlose „Choreographien“ verlegt – bis an den Rand des Plakativen. Andererseits zeigt sich vielfach, dass das Mörderische auch in der Sprache wurzelt. Gewalt ist nicht zuletzt ein „Sprach-Ding“.

Mordgelüste bis zum Slapstick: Szene mit (v. li.) Jens Harzer, Marina Galic und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Das großartige, durchweg gleichwertig ausbalancierte Schauspiel-Trio hält das Geschehen in der Schwebe oder im steten Wechsel zwischen Schauder und Groteske, punktuell werden auch ästhetische Mittel des Horrorfilms nicht gescheut. Überhaupt bewegt sich die Inszenierung zuweilen ganz stil- und formbewusst an einer bloßen Oberfläche, die allerdings schon genug Schrecken bereithält.

Zwischendurch treten die Drei öfter kurz aus ihren eh schon zersplitterten Rollen heraus und schauen verwundert auf sich selbst. Dann klingt es reichlich naiv und kindlich hilflos, wenn etwa Macbeth auf einmal vor der Untat Bedenken äußert: „Und wenn das schiefgeht?“ Auch gibt es Passagen, in denen Jens Harzer als Macbeth in eine Art Polit-Gelaber oder gefälliges Parlando verfällt, hinter dem die Morde quasi verschwinden sollen. Hat nicht seine Lady gesagt, er solle sich nichts draus machen und kein schlechtes Gewissen haben, sondern seine tyrannische Machtfülle lustvoll genießen? Hat sie ihn nicht auch mit sexueller Gier und Gunst ins irgendwann Unvermeidliche getrieben? Dazu wird zwischendurch auch schon mal eine Platte mit dem brünstigen Stöhn-Song „Je t’aime – moi non plus“ aufgelegt. Sex und Macht – ein weites Feld der Wechselwirkungen.

Ausblick auf eine Welt ohne Menschen

All das könnte schiere Einbildung sein und sich im Inneren eines mörderischen Hirns abspielen – mitsamt dem Geist des ermordeten Banquo, der Macbeth so schauderhaft erscheint. Ist vielleicht alles ein von den Hexen ins Werk gesetztes (oder auch nur amüsiert beobachtetes), blutiges Spiel der Sinnlosigkeit? Sogar die Massenmorde des 20. Jahrhunderts könnten schon gemeint sein, denn wenn einmal die Schranken des Gewissens gefallen sind, dann ist alles möglich. Shakespeare hat denn auch Sätze geschrieben, bei denen man zutiefst erschrickt; Sätze, die bereits mitten ins erkaltete Herz des Nihilismus führen, die manches an Dostojewski, Kafka oder Beckett vorwegnehmen. Das Bochumer Programmheft zitiert derweil Leute wie den Rapper Eminem und den Horror-Autor Stephen King. Das ganze Spektrum soll es sein.

Ins Allgemeine und Apokalyptische greift eine Videoeinspielung gegen Schluss. Wir haben erfahren müssen, dass auch der nächste Herrscher nach dem Tod von Macbeth seinen geköpften Widersacher kannibalisch fressen will. Und immer so weiter. Das Elend der grenzenlosen Gewalt hört nie auf. Selbst der monströse Macbeth war nur ein Beispiel von vielen. Und nun sind auf der Videowand Käfer und Raupen zu sehen. Vermeintlich niederes Getier. Einfach so. Nicht allzu fern liegender Gedanke: Es sind Geschöpfe, die nach dem Ende der Menschheit überleben und auf ihre Art weitermachen werden.

Der Rest ist Schweigen. Und Finsternis.

Riesenbeifall für alle Beteiligten, sodann stehende Ovationen. In Bochum wissen sie halt immer noch, was sie an ihrem Schauspiel haben.

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Die nächsten Vorstellungen: 13. Mai, 2., 11. und 14. Juni.

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Der Heimkehrer ist nicht willkommen – „Einfach das Ende der Welt“ nach Jean-Luc Lagarce im Bochumer Schauspielhaus

Familienaufstellung mit Benjamin Lillie (links, von hinten), Maja Beckmann (Mitte) und Wiebke Mollenhauer (Foto: Diana Pfammatter/Schauspielhaus Bochum)

Es war dann doch gut, nicht in der Pause gegangen zu sein. Wenn der Rest des Abends in der Pause absehbar gewesen wäre – und bei einer angekündigten „Familientrilogie“ konnte man ja fast davon ausgehen – hätte man sich den Rest möglicherweise schenken können. Aber diese Inszenierung, und das ist wirklich ein Alleinstellungsmerkmal, schafft es bis zur Pause, mit einem einzigen Darsteller auf der Bühne auszukommen.

Keine Maja Beckmann, keine Ulrike Krumbiegel; der Rezensent gibt gerne zu, daß er vor allem wegen den beiden großartigen Schauspielerinnen ins Bochumer Schauspiel gekommen war. Nun denn: Der (im Stück namenlos bleibende) Hauptdarsteller heißt im wirklichen Leben Benjamin Lillie, das Stück „Einfach das Ende der Welt“. Inszeniert hat es am Züricher Schauspielhaus Christopher Rüping, die Vorlage stammt von Jean-Luc Lagarce. Ein Gastspiel mithin; laut Programmheft zudem die erste Folge einer auf drei Teile angelegten Familiengeschichte.

Solo für Benjamin Lillie

Erste Hälfte dieses Abends, wie gesagt, ein Solo für Lillie. Er führt sich ein als Vollgas-Entertainer, Einpeitscher, wild gewordener Bühnen-Rocker mit der rasenden schwerelosen Körperhaftigkeit eines Mick Jagger, als der so alt war wie Lillie jetzt, Mitte dreißig. Fast könnte man meinen, er hätte was genommen, wäre sein Auftritt nicht so präzise durchchoreographiert.

Superstory

Nein, der Held ist nicht auf Droge, er huldigt lediglich seinem Ego. Nach 12 Jahren, irgendwann ist es bei all der Bühnenzappelei dann endlich raus, ist er zurückgekehrt ins Elternhaus, das er nie wieder betreten wollte. Das ist die Superstory, die er dem Publikum auftischt. Und für die er doch – welche Frage! – gefeiert werden muß. Das überaus kooperative Bochumer Publikum muß es im Chor mehrmals aufsagen, daß er nach 12 Jahren zurückgekehrt ist, dreistimmig, ein bißchen so wie „Der Hahn ist tot“.

Benjamin Lillie in Aktion. Im Video Nils Kahnwald als sein Bruder, mit Perücke (Foto: Diana Pfammatter/Schauspielhaus Bochum)

Schlechte Nachricht

Doch ach. Dieser Regisseur der Massen und der Emotionen hat auch eine üble Nachricht im Gepäck. Die größere Regie auf Erden, wenn man einmal so sagen darf, hat beschieden, daß er bald sterben muß. Warum wieso, woran, das bleibt unklar. Ist ja auch egal. Jedenfalls haben wir nach einer Menge Ego-Show den Plot einigermaßen zusammen: Strahlender Held (außerdem Künstler und schwul) kommt zum Sterben nach Hause. Irgendwie auch klassisch, oder? Einige Minuten filmt er dann noch Erinnerungsstücke seiner Jugend mit der Videokamera ab, die die Inszenierung in reicher Zahl in das Bühnenbild von Jonathan Mertz gefügt hat. Überhaupt, die Videokamera: Alles und jedes wird gefilmt, nachher auch die Familienmitglieder, nervig, nervig. Doch erstmal ist jetzt Pause, weil, wie der Protagonist uns mitteilt, das Bühnenbild ab- bzw. ungebaut (eigentlich großenteils auch nur umgedreht) werden muß.

Ein fast schon naturalistisches Bühnenspiel

Der Pause folgt, wer hätte das gedacht, vergleichsweise naturalistisches Bühnenspiel mit richtigen Bühnencharakteren. Nils Kahnwald ist der mäßig erfolgreiche Bruder des Heimkehrers, Maja Beckmann seine Frau. (Sie haben zwei Kinder, die aber nicht mitgekommen sind.) Aus der kleinen Schwester (Wiebke Mollenhauer) ist eine nette junge Frau geworden, Ulrike Krumbiegel – zu laut, zu grell und dem Schampus nicht abgeneigt – die Mutter der Familie. Einen Vater gibt es nicht (mehr). Sechster Mitwirkender ist Matze Prölloch, nicht als Familienmitglied, sondern als eine Art Faktotum, als Drummer (vor der Pause), als schwuler Lebensgefährte, als personalisierte Erinnerung etc.

Schwester und Bruder, Wiebke Mollenhauer und Benjamin Lillie (Foto: Diana Pfammatter/Schauspielhaus Bochum)

Kein Interesse

Diese überaus gewöhnliche Familie hat mit Rock’n’roll nichts am Hut und würde weiterhin auch gut ohne ihren grandiosen Frühaussteiger auskommen; wenn er aber unbedingt Kontakt haben will, soll er sich gefälligst auch für die anderen interessieren, was er zunächst nicht begreift und anschließend nicht hinbekommt. Und so weiter.

In unterschiedlichen Härtegraden, viel zu oft mit lästigem Videokameraeinsatz, mit wechselnder Lautstärke, farbigen Scheinwerfern u.ä. aufgebauscht, wird aneinander vorbeigeredet. Erst gegen Ende des Stücks streiten sich die beiden Brüder mal richtig persönlich, beklagt der Held das fehlende Verständnis für ihn, den Heranwachsenden, der seine Homosexualität durch schmerzlich imitierte Männlichkeit zu unterdrücken trachtete. Und dann ist Schluß. Ob noch mehr daraus wird? Wer weiß, das alles ist ja, wie gesagt, auf Dreiteiler angelegt.

Es knutschen (von links) Matze Pröllochs und Benjamin Lillie (Foto: Diana Pfammatter/Schauspielhaus Bochum)

Kein Drama

Man wird gut unterhalten von dieser Produktion des Schauspielhauses Zürich (übrigens und erstaun-licherweise eine Aktiengesellschaft, wie dem nett gemachten Booklet zu entnehmen ist). Doch Veränderung, Wandel in den Charakteren, dramatische Fallhöhe mithin, sind nicht zu erkennen. Die Inszenierung scheint sich dafür auch nicht interessiert zu haben. Ihre Methode erschöpft sich im Zitieren letztlich grauer, unspektakulärer biographischer Gegebenheiten, wie es derzeit Mode ist auf den Theatern und deren erfolgreichste Vertreterin wohl Annie Ernaux ist. Ihr Stück „Der Platz“ stand in Dortmund auf dem Spielplan, und selbstverständlich fehlt sie nicht bei den „Literaturempfehlungen“ des Programmhefts – neben Didier Eribon, Fassbinder, Bernhard, Schleef und anderen. Wenn graue Stoffe aber so grell wie hier inszeniert werden, mag man das als Widerspruch betrachten. Vermutlich hat es einen Hintersinn, dem nachspüren mag, wer will.

Schönes Wiedersehen

Schön war, wie erhofft, die Begegnung mit Maja Beckmann, die die biedere, aber auch selbstbewußte Hausfrau und Mutter mit jenen typischen kleinen Beimengungen von kindlicher Ernsthaftigkeit, Unsicherheit und Komik zu geben weiß, wie es so keine andere kann. Viele kennen sie noch aus ihrer Bochumer Zeit, aus „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ zum Beispiel. Seit Jahren ist sie nun schon Ensemblemitglied in Zürich. Ihre Welt ist ganz vorwiegend das Theater, doch gerne würde man sie ebenso wie die etwas bekanntere Schwester Lina Beckmann auch wieder mal im Fernsehen sehen.

Bestes Theater?

Froh, die zweite Hälfte nicht verpaßt zu haben, begibt man sich auf den Heimweg. Langweilig war es ja nicht. Wenn allerdings, wie geschehen,  eine Theaterzeitschrift „Einfach das Ende der Welt“ zur „Inszenierung des Jahres 2021“ erkoren hat, wirkt das doch befremdlich. Die große deutsche Theaterlandschaft, auf die wir doch so unverschämt stolz sind, soll nicht mehr zu bieten haben als diese dünne Geschichte? Man sollte nicht zu viel auf das Urteil anderer Leute geben. Und lieber selber ins Theater gehen.

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Klönschnack zum Kringeln: „Dittsche“ im Bochumer Schauspielhaus

„Biddä, biddä“: Olli Dittrich alias „Dittsche“ im legendären Bademantel beim Schlussapplaus im Bochumer Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Vor ein paar Wochen hat sich hier die Frage erhoben, wie Comedians (oder wie man die höchst individuellen Meister ihres Fachs nun nennen soll) mit der gegenwärtigen Weltlage umgehen. Im Dortmunder Konzerthaus hat Helge Schneider eine erste Antwort gegeben und sich klugerweise jeder direkten „Stellungnahme“ enthalten. Statt dessen hat er das gemacht, was er am besten kann. Ihr wisst Bescheid.

Kurz darauf war – gleichfalls im Konzerthaus – Olli Dittrich alias „Dittsche“ angekündigt, auch er eine Kultfigur von hohen Graden. Aus Gründen habe ich seinen Auftritt versäumt. Doch jetzt hat sich noch einmal Gelegenheit ergeben, die Chose nachzuholen, und zwar im ehrwürdigen Bochumer Schauspielhaus.

Wie hat „Dittsche“ die Gemütslage der kriegerischen Zeiten „aufgegriffen“? Ebenfalls so gut wie gar nicht. Zwar stand seitwärts auf der ansonsten leeren Riesenbühne eine dittscheske Stellvertreter-Figur, der eine Ukraine-Fahne beigesellt war (gerade so, dass es nicht aufdringlich wirkte), doch gab’s einen zaghaften verbalen Hinweis erst ganz am Schluss des langen Abends. Da meinte Olli Dittrich beiläufig, man müsse eben auch mal wieder lachen, um das ständige Entsetzen auszuhalten. Womit er recht haben dürfte.

Erscheinung am Bühnenrand: Lookalike-Figur mit bekannter Flagge. (Foto: Bernd Berke)

Zum Lachen gab’s wahrhaftig viel. Streckenweise war’s zum Kringeln. „Dittsche“ war in Höchstform, sein Soloauftritt zog sich – mit kurzer Pause – über mehr als drei Stunden hin. Zum Abschluss seiner Tournee zeigte sich Olli Dittrich schließlich einigermaßen gerührt vom donnernden Applaus des Bochumer Publikums – und gab sich gar zu bescheiden: Dass „so ein Kasper wie ich“ auf diesen Brettern stehen dürfe, sei ja schon bemerkenswert, befand der Mann, der selbstverständlich im berühmten Bademantel, mit „Schumiletten“ und Aldi-Tüte auftrat. Auch das Bierchen („Ah, das perlt richtig…“) durfte nicht fehlen. Übrigens war in den Zuschauerreihen ein Hardcore-Fan auszumachen, der tatsächlich im Bademantel im Theater erschien.

„Dittsche“ griff tief in seine Geschichten-Kiste, erzählte von schreiend komischen Vorfällen, vor allem rund um „Herrn Karger“ (der Ex-Friseur aus der Wohnung unter ihm), doch auch von „Ingo-Mann“ und „Schildkröte“ selig. So redefreudig war Olli Dittrich, dass er dauernd herrlich abschweifte und sozusagen „von Hölzken auf Stöcksken“ kam. Es gibt ja bekanntlich diese schweigsamen Norddeutschen, die an ein paar wenigen Worten genug haben. Und es gibt z.B. jene Sorte von Hamburgern, die ohne Unterlass klönschnacken können. In Dittsche lebt auch dieser Menschenschlag auf. In diesem Sinne jagt denn eine „Weltidee“ aus seiner irrwitzigen Ideen-Werkstatt die andere – und immer wieder ist von Katastrophen mit tückischen Alltagsdingen die weitschweifige, aber niemals langweilige Rede. Man kann jeweils nur zu gut ahnen, dass Dittsche mal wieder fürchterlich Mist gebaut hat, doch schuld soll am Ende stets Herr Karger sein, der diesmal eine ganz andere Erzähl-Präsenz erlangte als in der Fernsehreihe, die zu kennen von unschätzbarem Vorteil war, wollte man allen Witz nachschmecken. Die Perspektive war freilich leicht verschoben, weil die anderen Serienfiguren eben nicht anwesend waren. Also konnte Dittsche nun mehr ü b e r sie reden. Und über den bärbeißigen Karger sowieso.

Später geht’s dann mehr um Promis und „Titanen“, als da zum Exempel wären: Olli Kahn, Dieter Bohlen, die Queen (mitsamt deren allergrößter Anhängerin: Frau Karger) und Dittsches hanseatisches Fußball-Idol Uwe Seeler. Im zweiten Teil spielt dann auch Olli Dittrichs aus dem wirklich wahren Leben gegriffene Offenbacher Großmutter eine zentrale Rolle. Allein ihre überlieferte Reaktion auf Eduard Zimmermanns „Aktenzeichen XY…ungelöst“ ist goldig genug, zumal in hessischer Mundart. Und wie Olli Dittrich zudem Ede Zimmermanns Standard-Mimik nach den stümperhaften Verbrechens-Filmchen nachmacht (ein schwerer Atemzug, bedenkliches Kopfwiegen, dann die ernsten Worte: „Kein Einzelfall.“), das ist einfach ziemlich göttlich.




Warten auf Macbeth – Schauspielhaus Bochum plant eine zweite Saisonhälfte in Omikron-Zeiten

Bochums Intendant Johan Simons (links) und sein Chefdramaturg Vasco Boenisch stellten das Programm für die zweite Hälfte der Spielzeit 2021/2022 auf einer Video-Pressekonferenz vor. (Foto: Daniel Sadrowski/Schauspielhaus Bochum)

„Das schaffen wir nicht“, hat Johan Simons immer deutlicher gespürt, „das bekommt nicht die Qualität, die es haben muß“. Und deshalb wird die Premiere der Macbeth-Inszenierung des Bochumer Intendanten ein zweites Mal verschoben. Vorgesehen war sie für Freitag, 28. Januar, das neue Datum steht noch nicht fest. „Ich mußte einfach diese Entscheidung treffen“, legt Johan Simons nach, und natürlich hieß und heißt der Grund für die Verschiebungen Omikron. Auch den Chef selbst hatte es erwischt, er hat es gut überstanden, aber viel Zeit ging verloren.

Er macht weiter und weiter und weiter

Also Macbeth: Auf dieser Spielzeit-Pressekonferenz spricht Simons von seinem Projekt mit einer Ernsthaftigkeit, die im Theater nicht mehr selbstverständlich ist. Das Prototypische an diesem Shakespeare-Schurken hat es ihm angetan, der zutiefst menschliche Drang, zu beherrschen, unbeschränkt, gewalttätig. Nach dem ersten Mord fällt der nächste schon nicht mehr so schwer, „wenn er einmal angefangen hat, macht er weiter und weiter und weiter“.

Die Menschheitsgeschichte ist reich an monströsen Despoten wie Macbeth, und das Theater ist der geeignete Ort, sich mit ihnen zu befassen. Aber die Erwartungen an Johan Simons’ Bochumer Inszenierung sind deshalb besonders hoch, weil Ensemble-Star Jens Harzer den Macbeth spielt, jener oft etwas abwesend, etwas träumerisch wirkende Mime, den man auch aus dem Fernsehen kennt und der im Bochumer „Iwanow“ 2020 Schauspielkunst von höchster Güte zeigte. Harzer ist ein Typ, ist immer derselbe, wie bei aller Wandlungsfähigkeit auch Lars Eidinger oder Joachim Meyerhoff, um einmal zwei weitere Größen zu nennen, immer dieselben sind, keine Rollenspieler eben. Paßt das? Was für ein Macbeth wird Jens Harzer sein?

Schwarzes Loch

Jens Harzer, hier als Iwanow in Johan Simons‘ gepriesener Inszenierung. (Foto: Monika Rittershaus/Schauspielhaus Bochum)

„Das ist ein Blick in ein schwarzes Loch“, gibt Johan Simons zur Antwort. „Wird er nachvollziehbar?“ setzt sein Chefdramaturg Vasco Boenisch nach. Nach einer langen Pause sagt Simons „Ja“. Und fügt als gleichsam letzten Satz noch an: „Wie jemand zum Morden kommt, ich selber kenne es nicht. Gewalt sieht eigentlich scheußlich aus, aber im Theater…“ Wir sind sehr gespannt.

Maja Beckmann gastiert

Die weiteren Ankündigungen auf dieser Spielplan-Pressekonferenz sind weniger spannend. Zu den schöneren Nachrichten zählt auf jeden Fall, daß Maja Beckmann mal wieder nach Bochum kommt. Etliche Jahre war sie im Bochumer Ensemble, man erinnert sich an sie noch gerne in Stücken wie „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ nach dem Film Aki Kaurismäkis oder Elmar Goerdens eigenwillige Einrichtung von Shakespeares „Wie es euch gefällt“. Sie hatte so ihre eigene Art, auf die Fresse zu fallen (ja, wirklich!), ohne daß dies erkennbare Spuren hinterließ, außerdem ist sie die Schwester von Lina Beckmann, die am Hamburger Deutschen Schauspielhaus wirkt, als „Richard the Kid and the King“ in Salzburg umjubelt wurde und mit Charly Hübner verheiratet ist. Maja Beckmann, um auf sie zurückzukommen, ist jetzt in Zürich engagiert, und das Züricher Theater wird sechs Mal in Bochum mit Christopher Rüpings „Einfach das Ende der Welt“ zu Gast sein, erstmalig am 3. Februar. Die Geschichte dreht sich um einen jungen Künstler, der sterbenskrank in die Kleinstadt seiner Kindheit zurückkehrt und dort, statt über sein baldiges Ableben berichten zu können, einen heftigen Kulturschock erleidet.

Die erste „Hermannsschlacht“ seit Peymann

Überhaupt, äußerst jugendlich ist es hier überall, und ohne Musik, so scheint es, geht gar nichts. Intendant Simons kommt einem da fast vor wie der gütige Opa, der milde über die Nachgeborenen wacht und sie in seinem Theater an ganz langer Leine laufen läßt. Aber ob immer Gutes dabei herauskommt? Viele Ankündigungen, wie gesagt, vermögen nicht wirklich zu überzeugen. Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ gibt es (auch aus Zürich) als Zweipersonenstück mit Musik, Kleists „Hermannsschlacht“, an die sich in Bochum seit Peymanns Zeiten keiner mehr herantraute, erfährt humoristische Berücksichtigung mit Minimalbesetzung und viel poppiger Musik. Es gibt Theater, das von einem jungen Fußballer erzählt und konsequenterweise in den Vereinsheimen von Fußballvereinen aufgeführt werden soll (auch im Dortmunder Fußballmuseum), es gibt ein Bevölkerungsprojekt mit Laien, das polnischen und türkischen Migrationshintergrund reflektieren soll, außerdem einiges im Jugendbereich in der Prinzregentstraße. Interessierten sei die Internetseite des Bochumer Schauspielhauses sowie die durchaus beeindruckend geratene Programmzeitung empfohlen, die vielerorts ausliegt.

Grönemeyer muß warten, Simons will bleiben

Was es übrigens bis auf weiteres nicht geben wird, ist das einst vollmundig angekündigte Grönemeyer-Projekt. „Nicht bei Pandemie“, vermerkt der Chef einsilbig. Und dann wird Johan Simons noch gefragt, was er von einer Vertragsverlängerung in Bochum hält. „Aber gerne“, sagt er einfach. Der Rat entscheidet demnächst über weitere drei Jahre Intendanz.

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Hier haben alte weiße Männer nichts zu lachen – „Schande“ nach J. M. Coetzee im Bochumer Schauspielhaus

Szene aus der Roman-Adaption „Schande“ mit Amina Eisner (li.) , Dominik Dos-Reis. (Foto: Marcel Urlaub/ Schauspielhaus Bochum)

Im Grunde kann man so einen Stoff ja gar nicht mehr auf die Bühne bringen. Oder nur mit Schwierigkeiten. Denn wenn die Protagonisten in J. M. Coetzees Romanvorlage „Schande“ Schwarze und Weiße sind (darf man noch Schwarze sagen?), dann müssen sie ja auf der Bühne auch von Schwarzen und Weißen gespielt werden. Schwarz schminken ist nicht, das wäre „Blackfacing“ und somit auch eine Form der Diskriminierung.

Überhaupt passte es vorne und hinten nicht, weshalb aus der ursprünglichen Besetzung mit mehreren dunkelhäutigen Frauen aus Gründen rassistischer Unkorrektheiten oder so ähnlich nichts wurde. Letztlich steht jetzt neben drei weißen Männern nur eine etwas dunklerhäutige Frau auf der Bühne (Amina Eisner), und die auch nur deshalb, weil sie, wie sie sagt, freiberuflich arbeitet und das Geld braucht. Das alles erzählt sie uns vor Beginn der eigentlichen Handlung, und es ist der mit Abstand heiterste Teil des Abends. Dunkel aber beschleicht einen das Gefühl, dass dies alles auch genau so gemeint sein könnte wie vorgetragen, hundert Prozent ironiefrei.

Schmerzlicher Machtverlust

Handlung gibt es, zunächst, im Schnelldurchlauf. Erzählt wird die Geschichte des weißen Literaturprofessors David Lurie, der nach der Affäre mit einer schwarzen Studentin aus seinem Job fliegt und zu seiner Tochter Lucy aufs Land zieht, die dort eine Art Hundeklinik betreibt. Er muss miterleben, dass seine Tochter von einem Schwarzen vergewaltigt wird. Später erkennt er den Vergewaltiger wieder, doch der bleibt unbehelligt, weil er zum Clan von Petrus gehört, dem mächtigen schwarzen Paten der Region. Nichts kann Lurie an alledem ändern, so sehr er sich auch echauffiert. Aus dem privilegierten Literaturprofessor ist unübersehbar ein machtloser alter Mann geworden. Und Lucy, schlimmer noch, übereignet schließlich Petrus ihr Land und wird so etwas wie seine Drittfrau, um in Sicherheit leben zu können.

Dies erzählt uns, kräftig eingedampft, die Bochumer Inszenierung von Oliver Frljić, in der Dominik Dos-Reis, Marius Huth, und Victor Ijdens neben der schon erwähnten Amina Eisner in wechselnden Rollen das Geschehen vorantreiben. Alle vier zeigen viel Einsatz und Vitalität, so dass die im Grunde sehr naturalistisch-dialogisch gehaltene, manchmal auch etwas hölzerne Inszenierung trotz einiger überflüssiger Aktionen („Käfige stapeln“) alles in allem durchaus akzeptabel zu nennen wäre.

Victor Ijdens (links), Amina Eisner. (Foto: Marcel Urlaub/Schauspielhaus Bochum)

Vorwurfsvoll und unversöhnlich

Doch natürlich gibt sich diese Produktion nicht damit zufrieden, einen Coetzee-Roman auf die Bühne zu bringen, im Gegenteil: Die Geschichte ist kaum mehr als ein Vehikel, um möglichst viel kategorischen Antirassismus über dem Theaterpublikum auszugießen, die anhaltende Ungerechtigkeit der Weißen gegenüber den Schwarzen zu geißeln und den unglücklichen Literaturprofessor David Lurie gleichsam zum Prototypen des alten weißen Mannes zu ernennen. Und den südafrikanischen weißen (!) Autor Coetzee gleich mit, dem politisch korrekte Literaturkritiker – unter anderem kommt dies zum Vortrag – seinen Rassismus in den Figurenbeschreibungen längst schon nachgewiesen haben.

Publikum auf der Anklagebank

Zum Zweck der Läuterung wird einige Male das Spiel unterbrochen und die Schauspieler richten sich direkt an das Publikum, das dann kalt und weiß von oben herab beleuchtet wird. Im Kollektiv ist es ja quasi auch nur ein alter weißer Mann, der gefälligst ein schlechtes Gewissen zu haben hat. „Möchten Sie etwas sagen?“, fragt Frau Eisner dann in einem ersten großen Break, und die, die sich äußern, sind selbstverständlich betreten und betroffen. Kolonialismus und Ausbeutung kommen zur Sprache, doch es hilft alles nichts. „Warum glaube ich euch nicht?“, muss Frau Eisner späterhin fragen. Und fortfahren: „Als ihr uns versklavt habt, da ging es auch nur um euch. Aber ich hasse euch nicht dafür. Euch zu hassen wäre zu einfach…“ Und so weiter. Das mag im Roman ein ergreifender Monolog sein, als Rede an das Publikum ist es hier grotesk.

Der dritte Mann: Marius Huth, umgeben von viel antirassistischer Literatur. (Foto: Marcel Urlaub/Schauspielhaus Bochum)

Soundteppich

Der Vollständigkeit halber seien noch weitere Stilmittel erwähnt wie das beharrliche Ticken einer Uhr oder die Videoaufnahmen von Luries Verhandlung und Meldungen darüber, die sich im Nachrichten-Laufband am unteren Fernseh-Bildschirmrand – dies immerhin ein netter kleiner Einfall – einreihen in „richtige“ Meldungen des Tages (Bühne: Igor Pauška). Außerdem stets präsent ist ein bassträchtiger Soundteppich, der nach Bedarf wummert, grummelt und raunt. Und wenn der Saal ganz traurig sein soll, erklingt ein Streichquartett in Moll.

Vielleicht funktionierte eine Produktion wie diese in einem Land wie Südafrika oder den USA mit ihrem unübersehbaren Schwarz-weiß-Rassismus, der sich aus der historischen Erfahrung der Sklaverei speist. „Black Lives Matter“ ist dort angesichts polizeilicher Übergriffe eine geradezu tagespolitisch aktuelle Parole. Deutsche Rassismus-Erfahrungen aber sind anders, die Auseinandersetzung mit ihnen müsste es ebenso sein. Deshalb schießt diese Bochumer Inszenierung mit ihren Mätzchen und Peinlichkeiten ziemlich ins Leere. Die konstante Vorwurfshaltung, der hohe moralische Ton, aber auch der eigentlich respektlose Umgang mit der literarischen Vorlage sind, um das Mindeste zu sagen, nicht nachvollziehbar. Und nur ganz, ganz leise möchte man zum Ende hin doch wenigstens, andeuten, dass auf dem Theater gerade die schweren Themen mit Humor oder gar Ironie sehr gewinnen können, man denke nur George Taboris Arbeiten. Und vielleicht sogar an den Einstieg in diesen alles in allem sehr unbefriedigenden Theaterabend.

Freundlicher Beifall im nicht nur wegen der Corona-Beschränkungen sehr luftig besetzten Großen Haus.

www.schauspielhausbochum.de

 




Für das Echte gibt es keinen Ersatz: Bochums Theater verzichtet auf digitale Hamsun-Premiere

Lang entbehrt, nicht zu ersetzen: Blick ins Bochumer Schauspielhaus, nach Ende der Vorstellung. (Aufnahme vom November 2018: Bernd Berke)

Es war eine unscheinbare Mail, die uns heute aus dem Schauspielhaus Bochum erreicht hat – und doch ist sie in gewisser Weise bedeutsam. Inhalt: Die ursprünglich für den 29. Mai angekündigte Bochumer Theaterpremiere nach Knut Hamsuns Roman „Mysterien“ wird abgesagt.

Interessant ist die Begründung. Zitat aus der Presseinformation: „Wie sich im Laufe des Probenprozesses gezeigt hat, kann die Aufführung mit ihrer visuellen Einbeziehung des Theaterraums auf dem Bildschirm nicht ihre volle Wirkung entfalten.“

Die Premiere war als Streaming-Ereignis geplant, doch just diese (neuerdings oftmals erprobte) Form der Präsentation hat eben offenkundig ihre Grenzen. Ohne weitere Details zu kennen, darf man davon ausgehen, dass der jetzigen Absage redliche künstlerische Erwägungen zugrunde liegen. Regisseur Johan Simons und sein Team konnten es offenkundig nicht verantworten, für eine Online-Darbietung zu viele Kompromisse einzugehen. Das Stück soll zu Beginn der nächsten Spielzeit als analoge Premiere gezeigt werden.

Auch im Museum geht nichts über Präsenz

Und was lernen wir daraus? Nochmals und wie zur Bekräftigung das, was wir eigentlich schon längst gewusst haben: Die vielbeschworene Digitalität ermöglicht zwar Ausweichmanöver in Krisenzeiten, sie ist oft weitaus besser als gar nichts. Aber sie ist keineswegs geeignet, das klassische Theatererlebnis zu ersetzen. Das mag man auslegen, wie man will, mir erscheint es als Hoffnungszeichen – und als weiterer Beleg dafür, wie sehr wir der unmittelbaren Präsenz in Theatern und sonstigen Kulturstätten bedürfen.

Ähnliches gilt auch für andere Kunstsparten. Nur ein Beispiel: Jüngst hat das Museum Ostwall im „Dortmunder U“ den Versuch unternommen, die bereits geschlossene Retrospektive über Rainer Fetting quasi als Online-Aufzeichnung mit 360-Grad-Rundumsicht fortbestehen zu lassen. Sicher, da kann man sich nach und nach durch die Räume klicken und sozusagen virtuell vor die Bilder hinstellen, aber es wirkt doch eher wie die hilflose Parodie eines Rundgangs.

Wie lautete doch einst jener Werbespruch: „Für das Echte gibt es keinen Ersatz.“




Die Wiederentdeckung der Langsamkeit – Johan Simons inszeniert einen grandiosen „Iwanow“ im Bochumer Schauspiel

Szene mit (von links) Jens Harzer als Iwanow, Veronika Nickl, Gina Haller und Romy Vreden. (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Quälend langsam hebt sich der eiserne Vorhang. Kann man die Geschwindigkeit steuern? Kein warnendes Glöckchen läutet, doch ein, zwei Male grummelt das Blech bedrohlich. Langsam, ganz langsam öffnet sich der Blick auf einen Mann, der auf einem Stuhl sitzt und von dem man nicht sicher sagen kann, ob er das Buch in seinen Händen liest oder nur den Boden anstarrt.

Iwanows Leben steht still, und der Stillstand verheißt ganz früh schon Untergang. Im Folgenden nimmt sich Regisseur Johan Simons viel Zeit, um uns diesem tragischen Menschen näher zu bringen – in Bochum, in seiner fulminanten Inszenierung von Tschechows Bühnen-Erstling.

Der große Glücksgriff dieses Abends hat einen Namen: Jens Harzer verkörpert die Hauptfigur mit atemberaubender Intensität. Ein tragischer Mensch ist er, ganz ohne Frage; doch auch ein Schelm, ein Verführer und Komödiant. Ob Ernst oder Ironie seine Sätze formt, weiß er oft selbst wohl nicht genau. Verschlagen und höhnisch schaut er manchmal in die Welt, doch auch verletzliche Kinderblicke kann er. Und wenn er und die junge Sascha in Liebe entflammen, sich antanzen und übereinander herfallen, ist vom depressiven Mann auf dem Stuhl nichts mehr übrig. All das bei fast ununterbrochener Bühnenpräsenz. Beeindruckend.

Keine Deutungen

Das Stück über den grandiosen, narzißtischen, depressiven Halbintellektuellen und Pleitier, der Iwanow ist, könnte man in heutiger Begrifflichkeit mit kleinen Einschränkungen ein Psychogramm nennen. Wir erfahren etliches darüber, wie dieser Mann in seine allseitige Handlungsunfähigkeit abrutschte, wie er sich überschuldete und wie er auch jetzt noch unfähig ist, die Hilfe anzunehmen, die ihm angeboten wird.

Doch vermeidet die Inszenierung durchgängig Deutungen und Pointierungen, sondern beschreibt statt dessen sorgfältig und liebevoll die Umgebung Iwanows als ein Milieu, in dem (in den besseren Kreisen) Langeweile, üble Nachrede, Kungelei und Suff das Leben prägen. Vor einem Jahr noch hatte Iwanow hier kräftig mitgemischt, Ideen für sein Gut entwickelt und mit brennendem Interesse die ganze Nacht hindurch philosophische Bücher gelesen, wie er sich, ungläubig fast, erinnert. Und eigentlich gehört er ja immer noch dazu. Er und seine „Buddies“ wissen fast alles voneinander, drücken und herzen sich, sorgen fallweise für vorteilhafte Eheschließungen, planen gerne krumme Geschäfte, die um so krummer werden, je reichlicher der Wodka fließt.

Jens Harzer als Iwanow. Im Hintergrund Thomas Dannemann. (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Mit Jens Harzer (Iwanow), Martin Horn (Schabelskij), Bernd Rademacher (Lebedew) und Thomas Dannemann (Borkin) steht dem Regisseur eine Kerntruppe zur Verfügung, die das alles unnachahmlich launig und stimmig vorführt. Sie macht nachvollziehbar, daß Tschechow das Stück zunächst als Komödie plante, was aber leider nicht funktionierte.Man spielt auf nackter Bühne, ein großes, bewegliches Gestell aus Holzbalken, das später von Bühnentechnikern zerlegt wird, signalisiert häusliche Beklemmung, Verortung, Milieu.

Die Anordnung der Personen erfolgt so, wie man es bei Johan Simons schon oft gesehen hat, auf Sitzgelegenheiten, vorne an der Rampe. Hier spielen sie jedoch wirklich miteinander, die Schauspielerinnen und Schauspieler, und das Textverständnis ist ganz vorzüglich. Kein Videoeinsatz, keine überlauten Klangeffekte, keine Deklamationen in das Publikum hinein. Lediglich ahnen wir oft mehr als daß wir es tatsächlich hören: ein bedrohliches Grummeln, ein diffuses Störgeräusch, das ein Herzschlag sein könnte und das die Intensität der Inszenierung steigert (Musik: Benjamin van Dijk).

Szene mit (von links) Martin Horn,  Marina Frenk und Thomas Dannemann. (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Fast wie bei Peter Stein

Gesellschaftliche Bestandsaufnahmen finden – gleichsam im Vorübergehen – überwiegend im ersten Teil dieses fast vierstündigen Theaterabends (mit Pause) statt. Und die Produktion nimmt sich souverän die Zeit, die sie eben braucht, bis alles gesagt, gespielt und vorgeführt ist, was in der Neuübersetzung von Angela Schanelec steht, in gepflegter, unauffälliger und zweckmäßiger Umgangssprache. Der Regiestil läßt an manche Produktionen Peter Steins denken, der in seinen sorgfältigen, nichts von den Vorlagen auslassenden Inszenierungen ebenfalls keine Eile hatte.

Zeitlos aktuell

„Iwanow“ spielt in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts; die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft hatte das rückständige Land nicht wirklich weitergebracht, in den Eliten herrschte Orientierungslosigkeit. Angesichts der Bochumer Produktion mag man sich fragen, ob Tschechow mit dem Gesellschaftsbild seines Stücks vor allem dieses desolate vorrevolutionäre Rußland meinte oder eher die immer gültigen Verhältnisse. Es wird wohl beides sein; als Theaterbesucher ist man heutzutage irritiert, wenn man einmal nicht mit der Nase auf die täglichen Schrecklichkeiten der Welt gestoßen wird. Dank dem Regisseur an dieser Stelle deshalb auch dafür, einem zeitlos aktuellen Stoff Raum gegeben zu haben.

Szene mit (von links) Gina Haller (im Hintergrund), Martin Horn, Jens Harzer und Bernd Rademacher (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Alles unmöglich

Nach der Pause – seine erste Frau Anna Petrowna (Jele Brückner) stirbt an Tuberkulose, Iwanow schickt sich an, die blutjunge Sascha (Gina Haller) zu heiraten – eskalieren die Dinge ein wenig, da wird es auch manchmal etwas lauter. Doch bleibt die Inszenierung ihrem deskriptiven Ansatz treu; der Unterschied zu vorher ist, daß Iwanow kräftiger und immer öfter beteuern muß, daß ihm eigentlich alles, hier vor allem jedoch die Heirat mit Sascha, unmöglich sei. Auch sein Onkel, der mit der Heirat der sehr viel jüngeren Marfa Jegorowna Babakina (zierlich, aber kämpferisch: Marina Frenk) finanziellen Engpässen begegnen zu können hoffte, schwächelt, und der junge Arzt Lwow (Marius Huth) fordert ein weiteres Mal Moral ein. Es ist alles etwas viel für den psychisch kranken Titelhelden, weshalb zum Schluß ein Schuß ertönt.

Theater ohne finale Wahrheiten

Eine Suche nach Ursachen für das, was den Narzißten Iwanow so tödlich lähmte, was man in seiner Zeit noch mit dem Begriff Melancholie faßte und heutzutage am ehesten wohl als Depression beschreibt, unterbleibt. Dabei könnte man vermuten, daß der Autor Anton Tschechow seiner Figur gar nicht so unähnlich war, im Programmheft abgedruckte Briefwechsel lassen einen solchen Schluß zu. Er hätte sich also dramenwirksam fragen können, wie er es selbst aus diesem Teufelskreis aus Scheitern und Antriebslosigkeit herausgeschafft hat – aber dieser Gedanke ist natürlich sehr spekulativ. Johan Simons entläßt sein begeistertes Publikum mit der Frage in die Nacht, ob ein Schicksal wie das Iwanows eher persönlich oder gesellschaftlich ist. Ein Theater ohne finale Wahrheiten.

Allseitig begrenzte Spielstätte; Szene mit (von links) Martin Horn, Thomas Dannemann und Bernd Rademacher (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Gutes Ensemble

Haben wir sie jetzt alle genannt, die elf Akteure, die so wunderbar zusammenspielen und auch (hinten) auf der Bühne verharren, wenn sie gerade einmal nicht an der Reihe sind? Ausnahmslos verdienen sie es. Veronika Nickl gibt sehr überzeugend die geizige Tante, die ihre Gäste mit Stachelbeerkompott traktiert, aber auch sehr schön Klavier spielen kann; Gina Haller verleiht der kindlichen Sascha artistisch Schnelligkeit und Beweglichkeit, Konstantin Bühler, rote Haare und rotes Gesicht, nervt gekonnt als glückloser Zocker. Und Romy Vreden singt (als Gawrila) den Blues, zwei Male nur und leise, aber zur richtigen Zeit. Jele Brückner schließlich, solide Stütze des Ensembles, brilliert in den gezählten Momenten, die ihr die Rolle der sterbenskranken Anna Petrowna läßt.

„Iwanow“ in Bochum: Ein beglückender, trotz seiner Länge niemals langweiliger Theaterabend, wie man ihn lange nicht mehr erlebt hat. Ein begeistertes Publikum bedankte sich mit stehendem Applaus im ausverkauften Haus.




Mett-Igel statt Haifisch: In Bochum bringen Schauspiel und Symphoniker zum 100. Geburtstag wenig auf die Beine

Figuren aus der Vergangenheit: Jonathan Peachum (Martin Horn), Hauer-Hendrik (Dominik Dos-Reis), Jenny (Friederike Becht), Celia Peachum (Veronika Nickl), Polly (Romy Vreden) und der Kommissar a.D. Braun (Michael Lippold, v.l. Foto: Jörg Brüggemann)

Kinder, wie die Zeit vergeht. Der Haifisch trägt keine Zähne mehr im Gesicht, Mack the Knife ist nur mehr ein Mackie ohne Messer und verlebt sein Altenteil mit Frau Polly im Ruhrgebiet. Gemeinsam mit den Schwiegereltern Peachum hängen sie in Bochum in der Kneipe „Zur Ewigkeit“ ab. Sie warten auf den Beginn eines großen Festes, denn angeblich wird die Schenke 100 Jahre alt. Die Ewigkeit ist eben auch nicht mehr das, was sie mal war.

Mit dieser Kneipen-Kantate für Bettler, Bergleute und Betrunkene, die jetzt im Anneliese Brost Musikforum Premiere hatte, feiern das Bochumer Schauspielhaus und die Bochumer Symphoniker gemeinsam ihren 100. Geburtstag. Diesen bedeutenden Anlass hat es gebraucht, um nach vielen vergeblichen Anläufen endlich zu einer Koproduktion zusammen zu finden. Statt nun mit vereinten Kräften ein künstlerisches Großprojekt zu stemmen und beispielsweise Ibsens „Peer Gynt“ samt der Schauspielmusik von Edvard Grieg aufzuführen, gab man beim Komponisten Moritz Eggert ein neues Stück in Auftrag, das sich als inszenierte Ereignislosigkeit entpuppte.

Als Geschäftsführerin der Firma „Bergmanns Freund“ muss Polly (Romy Vreden) viel telefonieren (Foto: Jörg Brüggemann)

So wird „Ein Fest für Mackie“ zwar unentwegt angekündigt, kommt aber mangels Geld und Personal nicht in die Gänge. Der einst gefürchtete Gangster (Guy Clemens) will nicht von seinem Turm aus Kohle steigen, auf dem er in Bademantel und weißen Socken sitzt, als sei er ein Bruder der TV-Comedyfigur Dittsche. Da keift und wettert Romy Vreden als Polly Peachum ganz vergeblich.

Das Geld ist futsch, die Kneipe pleite und Pollys Firma „Bergmanns Freund“ findet keine Mitarbeiter mehr. Es ist Schicht im Schacht. Trotz virtuoser Betrunkenheits-Akrobatik, die Michael Lippold als Tiger Brown und Martin Horn als Jonathan Peachum auf ihren Barhockern vorführen, ist das von Schauspiel-Chef Johan Simons persönlich inszenierte Stück ungefähr so attraktiv wie der Mett-Igel, den Celia Peachum (Veronika Nickl) an der Bar zubereitet, die Simons und Oliver Kroll vor das Orchester gestellt haben.

Jonathan Peachum (Martin Horn,l.) und Kommissar Braun (Michael Lippold, r.) sind virtuos versoffen (Foto: Jörg Brüggemann)

Schmerzlich wenig reicht diese Anhäufung von Klischees an den Geist und das Genie von Brecht/Weill heran. Immerhin färbt die Vorlage ein wenig auf die Musik ab. Wo Moritz Eggert sich hörbar an berühmte Nummern wie den „Anstatt dass“-Song oder das Dreigroschen-Finale anlehnt, entwickeln die Bochumer Symphoniker unter der Leitung von Steven Sloane einigen Schmiss. Gekonnt auch die böse Ironie, mit der Eggert manche Musical-Süßlichkeit zentimeterdick aufträgt. Die Texte von Martin Becker passen sich hingegen ganz dem Niveau einer Ruhrgebiets-Spelunke an. „Wat is denn dat jetz für ne Scheiße?“, brüllen die Figuren gegen Ende zunehmend entnervt. Das wüssten wir in der Tat auch ganz gerne.

Aber mögen diese versoffenen Gestalten auch trostlos in das Jahr 5000 stieren: Der laue Beifall des Publikums brandet herzlich auf, sobald der Ruhrkohle-Chor das Steigerlied anstimmt. Die Frage, ob ein derart mageres Produktiönchen dem Ruf und der Bedeutung zweier kultureller Flaggschiffe wie dem Bochumer Schauspielhaus und den Bochumer Symphonikern gerecht wird, muss freilich gestellt werden dürfen.

Zwei weitere Aufführungen am 13. Oktober 2019. Karten/Infos:

https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/3114/ein-fest-fur-mackie

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Geld, Produktionen und Zeit – von allem etwas weniger: Intendant Olaf Kröck stellt Programm der Ruhrfestspiele vor

Am 4. Mai wird in Recklinghausen ein Laufsteg für die Bürger aufgebaut. „What is the City but the People?“ heißt die Aktion. Vorbild ist der Laufsteg, den Regisseur Richard Gregory am 29. Juni 2017 für das MIF Manchester International Festival schuf. Dort entstand auch das Foto. (Bild: John Super/Ruhrfestspiele)

Jetzt wissen wir, was gespielt wird – bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen unter neuer Intendanz. Olaf Kröck, so heißt der Neue, hat sein Programm vorgestellt, es steht auch schon im Internet. Erster Eindruck: Halbwegs solide, aber auch etwas dünn.

Kröck muß mit deutlich weniger Geld auskommen als Amtsvorgänger Frank Hoffmann. Die Grundstruktur hat er nicht verändert, der Schwerpunkt liegt eindeutig im Bereich Schauspiel. Und das soll auch so sein, unterstreicht der neue Intendant. Die Ruhrfestspiele seien eben ein Theaterfestival, in deutlicher Unterscheidung zu anderen Festivals im Land.

Virginia Woolf

Die attraktivste Produktion auf dem Spielplan dürfte wohl „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ sein, inszeniert von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg mit Maria Schrader und Devid Striesow und von der überregionalen Kritik heftig, wenn auch nicht gefeiert, so doch wahrgenommen.

Weitere Glanzpunkte sind „Hochdeutschland“ nach dem Roman von Alexander Schimmelbusch, von Regisseur Christopher Rüpling auf die Bühne der Münchner Kammerspiele gestellt und bei den Ruhrfestspielen nun als „Gastspiel der Uraufführung“ angekündigt. Es geht im Stück um Victor, einen frustrierten Investmentbanker, der (stark verkürzt) kaum vierzigjährig und millionenschwer in deutschem Populismus macht. Bei diesem Stück ahnt man ein Streben nach Aktualität, was sich bei „Virginia Woolf“ kaum erkennen läßt.

Max und Moritz

Ebenfalls aus der ersten Liga der deutschen Schauspielhäuser kommen Max und Moritz nach Recklinghausen. „Eine Bösebubengeschichte für Erwachsene“ wird als Koproduktion mit dem Berliner Ensemble angekündigt, ist eine Regiearbeit des Spaniers Antú Romero Nunes. Lustig wird es werden und irgendwie auch gesellschaftskritisch, weil die Inszenierung auf die braven Bürger im Lausbubenumfeld fokussiert.

Szene aus der Tanztheaterproduktion „Grand Finale“ (Bild: Rahi Rezvani/Ruhrfestspiele)

Alte Bekannte

Vieles aber, was auf dem Programmzettel steht, weiß keineswegs in gleicher Weise zu begeistern. Da gelangt unter dem Titel „Istanbul“ eine Produktion zur Aufführung, die wesentlich von Liedern der türkischen Sängerin Sezen Aksu getragen wird und die das Licht der Bühnenwelt vor nicht all zu langer Zeit im Bochumer Schauspielhaus erblickte, als der dortige Interims-Intendant Olaf Kröck hieß.

Roberto Ciulli, seit ewigen Zeiten Mülheimer Theaterdirektor mit unbestreitbaren Verdiensten, ehrt man in einer „Werkschau“ mit der Aufführung von gleich drei Regiearbeiten: „Immer noch Sturm“, „Clowns 2 ½“, „Othello“. Das alles konnte und könnte man auch in Mülheim sehen, vielleicht auch auf dem NRW-Theatertreffen. Aber für die Ruhrfestspiele, die (jedenfalls früher) so viel Wert auf ihre Internationalität legen, ist dieser Programmschwerpunkt doch arg regional.

Szene aus „Ein wenig Leben“ (Bild: Jan Versweyveld/Ruhrfestspiele)

Müller und Wuttke

Vom Berliner Ensemble kommt als „Heiner Müllers letzte Regiearbeit“ Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Premiere war 1995, aber immerhin spielt Martin Wuttke die Titelrolle.

Zwei Einpersonenstücke hat man ins Schauspielprogramm gehoben: Zum einen Patrick Süskinds „Der Kontrabaß“ mit dem Schauspieler Roland Riebeling, den man als bürokratischen Sidekick Jütte aus dem Kölner „Tatort“ kennt, zum anderen eine Hofmannsthal-Adaption mit dem Titel „Jedermann Reloaded“, die Philipp Hochmair ganz alleine spielt, unterstützt allerdings von einer Kapelle mit dem Namen „Die Elektrohand Gottes“.

Szene aus „The Prisoner“ (Bild: Simon Annand/Ruhrfestspiele)

Peter Brook, unverwüstlich

Als „Koproduktion mit dem International Theater Amsterdam“ ist „Ein wenig Leben“ nach dem Roman von Hanya Yanagihara zu sehen. Ivo van Hove inszenierte die Viermännerromanze in Niederländisch, was die Befürchtung nährt, daß dieser „Deutschlandpremiere“ nicht sehr viele Aufführungen hierzulande folgen werden.

Peter Brook schließlich, 94jährige und immer noch sehr lebendige internationale Theaterikone, bringt ein Stück mit dem Titel „The Prisoner“ zur Aufführung, das er selbst auch, zusammen mit Marie-Hélène Estienne, geschrieben hat. Es geht um einen Gefangenen, der nicht ins Gefängnis darf und nun vor dessen Toren leidet, es spielt das Théâtre des Bouffes du Nord Paris, in Englisch. Ahnt man hier Migrantisches, so ist es in Jean Raspails „Das Heerlager der Heiligen“ handfest vorhanden. Schon in seinem 1973 veröffentlichten Roman ging Raspail der Frage nach, was es mit einer Gesellschaft macht, wenn plötzlich viele tausend Elendsflüchtlinge mit ihren Booten anlanden. Hermann Schmidt-Rahmer, den man als Gastregisseur von etlichen NRW-Bühnen gut kennt, hat den Stoff am Schauspiel Frankfurt dramatisiert. In Recklinghausen ist jetzt Uraufführung.

Ein Laufsteg für Recklinghäuser Bürger

Nicht zu vergessen: Auch das Eröffnungsspektakel am 4. Mai ist unter Schauspiel einsortiert. An diesem Tag sollen 100 handverlesene Recklinghäuser über einen Laufsteg in der Stadtmitte schreiten, quasi ein Querschnitt der Stadtgesellschaft. „What is the City but the People?“ heißt die Aktion, mit „Wer ist die Stadt, wenn es nicht die Menschen sind?“ könnte man das Motto übersetzen. Regisseur Richard Gregory hatte seinen Laufsteg erstmalig auf dem Manchester International Festival aufgebaut, und es soll eine sehr vergnügliche Angelegenheit gewesen sein. Also sind wir gespannt.

Tanztheater, wie von Rembrandt gemalt. Szene aus „The Great Tamer“ (Bild: Julian Mommert/Ruhrfestspiele)

Kulturgeschichte

Fünf Tanzproduktionen sind angekündigt, von denen zwei besonders ins Auge stechen. Zum einen „Grand Finale“ der Hofesh Shechter Company aus London, ein Stück, das die endzeitliche Menschengemeinschaft in der Krise thematisiert, zum anderen „The Great Tamer“ von Dimitris Papaiannou, wo nichts weniger als 2000 Jahre Kulturgeschichte zur Aufführung gelangen. Ein bildmächtiges, manchmal akrobatisches, manchmal komisches Programm wird angekündigt, und das Foto im Programmheft, das die Compagnie wie in einem Rembrandt-Bild mit großen Dunkelzonen zeigt, läßt Unterhaltsames erhoffen. Choreograph Papaiannou war in jüngster Zeit auch im Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch aktiv, wo er seine überwiegend nicht gelobte Tanztheater-Produktion „Seit Sie“ inszenierte. Um die 13 Festivals (die nicht konstante Interpunktion macht das genaue Zählen schwierig) und Institutionen listet das Programmheft als Produzenten auf, erster in der Liste ist das Onassis Cultural Centre, Athen. Wörtlich übersetzt heißt die Produktion übrigens „Der große Zähmer“, was sich zumindest nicht spontan erschließt.

Die Zukunft der Arbeit

Musik, Kabarett, Literatur, Diskussionen, Kindertheater und Bildende Kunst gibt es nach wie vor im Programm, auch „Fringe“ hat – abgespeckt – überlebt und heißt jetzt „Neuer Zirkus“. Aber alles ist etwas weniger geworden, eine Woche weniger, ein Zelt weniger, und vom Programm war ja schon die Rede. Hinzugekommen jedoch ist unter dem fetzigen Titel „#jungeszene“ ein Projekt in Recklinghausen und Windhoek, Namibia, in dem unter künstlerischer Leitung von „Kaleni Kollectiv“ die „Zukunft unserer Arbeit“ untersucht werden soll. Was genau dabei herauskommt weiß man natürlich noch nicht, zur Vorführung jedoch gelangt es Mitte Mai in Recklinghausen und Anfang Juni in Windhoek. Den Deutschen Gewerkschaftsbund als Gesellschafter der Ruhrfestspiele wird es freuen.

 




Liebe kann es nicht geben – Johan Simons inszeniert in Bochum „Plattform“ nach dem Roman von Michel Houellebecq

Bühnengeschehen mit (von links) Valéries Chef Jean-Yves (Guy Clemens), Michel (Stefan Hunstein, vorn), Aisha (Mourad Baaiz) und dem späteren Terroristen Yassin (Lukas von der Lühe) (Foto: Schauspielhaus Bochum, Tobias Kruse / Ostkreuz)

Bühnengeschehen mit (von links) Valéries Chef Jean-Yves (Guy Clemens), Michel (Stefan Hunstein, vorn), Aisha (Mourad Baaiz) und dem späteren Terroristen Yassin (Lukas von der Lühe) (Foto: Schauspielhaus Bochum, Tobias Kruse / Ostkreuz)

Es beginnt mit einem Knall. Plastikmobiliar kracht vom Schnürboden auf die Bühne, und erstaunt nimmt man im weiteren wahr, daß Menschen unter den Trümmern sind.

Dies war, erfährt man, ein terroristischer Anschlag, der die weibliche Hauptfigur des Stücks das Leben kostete, während der Mann unverletzt blieb. Also ist dies eigentlich der Schluß; doch in Johan Simons’ Bochumer Bühnenadaption von Michel Houellebecqs Roman „Plattform“ folgt jetzt die Rückblende auf unverdient glückliche Tage mit viel, viel glücklichem Sex.

Viel und gerne vögeln

Stefan Hunstein und Karin Moog spielen Michel und Valérie. Der Verwaltungsbeamte und die Touristikmanagerin haben sich im Urlaub heftig verliebt, was beide gar nicht so recht fassen können. Nun kopulieren sie ohn’ Unterlaß, genauer: Michel erzählt auf der Bühne fast pausenlos davon, detailverliebt, von Anfang bis Ende.

Mit seiner etwas ungepflegten, leicht gebückten Erscheinung erinnert Michel dabei an seinen Namensvetter Houellebecq, was vermutlich kein Zufall ist und uns mißtrauisch machen sollte. Denn Liebe und Verliebtheit ist den immer ähnlichen Houellebecqschen Hauptfiguren fremd. Zwar vögeln sie alle viel und gerne, doch ist das eigentlich nur Kompensation für die unerträgliche Banalität des Seins, der sie nicht entkommen können. Oder nicht entkommen wollen, weil ihre misanthropische Randexistenz auch recht komfortabel ist.

Dabei sind sie beruflich durchaus erfolgreich, Stützen der Gesellschaft fast – der Beamte Michel in „Plattform“ ebenso wie der Literaturwissenschaftler François in „Unterwerfung“, dem oft schon inszenierten Erfolgsstück nach Houellebecq-Vorlage, das an diesem Theaterabend ebenfalls zur Aufführung gelangte.

Zwei Liebende: Michel (Stefan Hunstein) und Valérie (Karin Moog) (Foto: Schauspielhaus Bochum, Tobias Kruse / Ostkreuz)

Bekannte Stilmittel

Johan Simons’ „Plattform“-Inszenierung (Bühnenfassung von Tom Blokdijk) bedient sich bekannter Stilmittel. Alle Personen sprechen, wenn sie an der Reihe sind, in das Publikum hinein, agieren immer wieder aber auch szenisch miteinander, wie es gerade paßt. Das thematisch stets präsente Kopulationsgeschehen erschöpft sich zwar in Andeutungen, an diesen ist jedoch kein Mangel. Und da Houellebecqs Michel, sieht man mal von der hohen Frequenz ab, ziemlich phantasielosen Blümchensex favorisiert, wäre man manches Mal für eine Abkürzung der betreffenden Beschreibungen dankbar. Erfreulich ist aber, daß es auch darüber hinaus viel zu erzählen gibt. Man langweilt sich nicht.

Sexuelle Dienstleistungen

Die Handlung, um zu ihr zurückzukehren, dreht sich im weiteren um den beruflichen Erfolg Valéries: Sie ist gut in ihrem Job, kriegt 6000 Euro netto im Monat. Dieses Einkommen könnte sie mit einem neuen Konzept verdoppeln. Einen neuen Hoteltyp mit frei buchbaren Sexangeboten haben sie und Michel sich ausgedacht, eine weltweite Kette mit dem Namen „Eldorador Aphrodite“. Denn daß es im Norden des Planeten mit der Sexualität von Mann und Frau nicht mehr klappt, hat mit dessen unverschämtem Reichtum zu tun (sagt die Inszenierung von Johan Simons), hat damit zu tun, daß alle Beziehungen, auch die erotischen, zu Warenbeziehungen verkommen sind. Der größere Teil der Menschheit hingegen, der „nichts hat“, steht immerhin noch für sexuelle Dienstleistungen zur Verfügung. Hier funktioniert der Markt, ein Superdeal mithin, eine klassische Win-win-Situation.

Stefan Hunstein, Mourad Baaiz und Lukas von der Lühe (von links) (Foto: Schauspielhaus Bochum, Tobias Kruse / Ostkreuz)

Gespräche mit der Nummer eins

In diesen kapitalistischen Erkenntnisprozeß sind immer wieder kleine autorentypische Exkurse wie die über den miesen Zustand der Prostitution in Europa oder den Pornographiekonsum im Internet eingestreut, die beunruhigend wirken, weil sie ganz einfach wahr sein könnten; ebenso wahr wie die Exkurse über Konzentrationsprozesse im internationalen Beherbergungswesen, bei denen Realnamen von Touristikunternehmen fallen, Marriott, Hilton, MotelSix usw. Für ihre „Eldorador“-Idee will Valérie TUI ins Boot holen, weltweite Nummer eins im Reisebusiness. Gespräche gibt es schon.

Sprengstoffgürtel

Es gibt im Stück weitere Personen: Valéries netten Chef Jean-Yves (Guy Clemens) zum Beispiel, der unglücklich mit Audrey (Mercy Dorcas Otieno) verheiratet ist und in seiner völligen sexuellen Passivität gleichsam den männlichen Gegenentwurf zu Michel bildet. Oder die 15jährige Studentin Aisha, die Mourad Baaiz mit machtvollem schwarzem Bart entzückend mädchenhaft gibt und die bis zu dessen Ableben eine Beziehung mit Michels Vater hatte, was ihr eine recht ordentliche Erbschaft einbrachte. Und schließlich Yassin (Lukas von der Lühe), der außerhalb der Handlung steht und der immer wieder einmal Nachrichten von einer anderen, ungerechten, brutalen Welt-Wirklichkeit in das Bühnengeschehen raunt. Er ist es schließlich auch, der sich den Sprengstoffgürtel umschnallt, wenn das Stück die maximale dramatische Fallhöhe erreicht hat. Das Wort „islamistisch“ fällt nicht, wenn Yassin von seinen Vorbereitungen erzählt. Er und seine Gruppe wollen nicht, daß ihr Land zum Bordell für reiche weiße Männer wird. Den Anschlag soll es in Krabi, Thailand, gegeben haben.

Die Vielschichtigkeit verliert sich

Die Darstellerriege – vor allem die Hauptdarsteller – überzeugt mit Spielfreude und großem körperlichem Einsatz, die Dramatisierung der Buchvorlage funktioniert hinlänglich. Doch geht einiges verloren von der unerschrockenen Vielschichtigkeit Houellebecqschen Denkens, zumal die Inszenierung sich zum Ende hin auf etwas unerfreuliche Weise bemüht, die Geschichte zur Kapitalismuskritik zuzuspitzen. Da windet sich der Hauptdarsteller am Ende in suizidgefährdenden Selbstzweifeln, und das ist befremdlich, wenn er vorher die ganze Zeit nur über Sex geredet hat. Nun denn.

Freundlicher Beifall im bei weitem nicht ausverkauften Schauspielhaus.

  • Weitere Termine: 27.1. (Doppelvorstellung mit dem Stück „Unterwerfung“), 29.1., 7.2., 17.2. (Doppelvorstellung mit dem Stück „Unterwerfung“).

 

 




Die Vergangenheit schmerzt immer noch: „Gift. Eine Ehegeschichte“ in den Bochumer Kammerspielen

Ein Mann und eine Frau bewegen sich auf dem Konfliktfeld Bühne und bewegen dabei vor allem auch die Herzen des Publikums. Das Licht im Saal bleibt an. Die Zuschauer sind Teil der Bilanz einer Ex-Ehe – zehn Jahre nach der Trennung.

Elsie de Brauw, Steven van Watermeulen als Ex-Ehepaar (Foto: © Phile Deprez / Schauspielhaus Bochum)

Elsie de Brauw, Steven van Watermeulen als Ex-Ehepaar (Foto: © Phile Deprez / Schauspielhaus Bochum)

Die beiden treffen sich zum ersten Mal „danach“ im Warteraum eines Friedhofs. Dieser Raum ist eine Tribüne mit nur wenigen intakten Sitzplätzen. Zuerst kommt er und schaut ins Publikum, dann sie, staksend und unsicher. Wo soll sie Platz nehmen? Neben ihm oder weit entfernt? Meist sind sie voneinander entfernt, manchmal rücken sie zusammen.

Hier ist ihr gemeinsames Kind begraben. Es soll umgebettet werden. Sie wohnt in dieser Stadt, er inzwischen in der Normandie mit neuer Frau und angeblich neuem Leben. Die Vergangenheit wird hier behandelt und zurückgeholt ins Jetzt. Dialoge, die viele im Saal an eigene Erfahrung erinnern. Das ist hörbar. Manche lachen, andere glucksen zustimmend.

Das Stück wurde bereits im Jahre 2009 am NT-Gent in Belgien vom jetzigen Bochumer Intendanten Johan Simons inszeniert. Die Textvorlage, eine kluge Aufarbeitung einer Beziehung, stammt von Lot Vekemans. Das Schauspielhaus hat die Produktion nun übernommen und in deutscher Sprache eingerichtet. Das klappt hervorragend. Der minimale Akzent ist ein sprachliches Gewürz.

Elsie de Brauw wurde für ihre Rolle in den Niederlanden als beste Schauspielerin des Jahres mit dem Theo d’Or ausgezeichnet. Man schaut einem Duo zu, das die Erinnerung lebt, eine emotionale Reise durch die Verzweiflung und Zweifel von zwei Menschen. Das geht nah und wird ausgezeichnet dargestellt, glaubwürdig und irritierend. „Wir sind ein Mann und eine Frau, die zuerst ein Kind verloren haben, dann uns selbst und schließlich einander.“

Weitere Vorstellung am 13.12.2018
https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/197/gift-eine-ehegeschichte




Königin und König im Geschlechterkampf: Johan Simons reduziert Kleists „Penthesilea“ auf ein Zweipersonenstück

Penthesilea (Sandra Hüller), Achilles (Jens Harzer) (Foto: Schauspielhaus Bochum/Monika Rittershaus)

Am Anfang ist das Geräusch. Das könnte ein Zerreißen sein, ein Zerknüllen oder Zerfetzen, auf jeden Fall etwas Beunruhigendes. Man ahnt schon den Tabubruch. Dann erst werden die beiden Figuren im dunklen Hintergrund bemerkbar, die in ständiger Bewegung sind und sich nun langsam zum Bühnenraum vorarbeiten. Sie ist Penthesilea, er Achilles, und sie werden die einzigen Personen auf der Bühne bleiben, in Johan Simons’ Ausdeutung des Kleist-Stoffes im Bochumer Schauspielhaus.

Keine Rahmenhandlung

Mit einer „Rahmenhandlung“ hält sich die Inszenierung nicht lange auf. Weitere Amazonenfürstinnen, griechische Könige, die Oberpriesterin und die Statisten sind gestrichen. Äußere Umstände, die zur ersten und den weiteren, stets zutiefst aufgewühlten Begegnungen der beiden Protagonisten führten, spielen die gleichsam nebenbei mit. Im Zentrum steht der Geschlechterkampf, befeuert von rasender Liebe zwischen den Kriegsgegnern ebenso wie von unbändigem Vernichtungsdrang. Siegreicher Triumph und bedingungslose Hingabe wechseln sich bei beiden in rascher Folge ab, und gerne hätte man, wie bei vielen anderen Klassikern auch, den Beteiligten geraten, sich erst einmal abzuregen. Und später vielleicht eine Therapie zu suchen.

Penthesilea (Sandra Hüller), Achilles (Jens Harzer) (Foto: Schauspielhaus Bochum/Monika Rittershaus)

Die Amazonen

Bemerkenswert ist an diesem Penthesilea-Stoff, den Kleist sich wohl weitgehend ausgedacht hat, daß er eine relativ schlüssige Erklärung für das Mal um Mal die Extreme suchende Verhalten der Amazonenkönigin liefert. Der unerhörte, in sich aber auch schlüssige „alternative“ Lebensentwurf der Amazonen entstand demnach, als „rauhe Äthiopierstämme“ die Männer ihres Volkes ermordet hatten. Da beschlossen die Frauen, fürderhin allein zu bleiben und einen Frauenstaat zu bilden. Ab und zu erjagen sie sich seitdem ein paar Männer für die Fortpflanzung – und auf einem solchen Beutezug war Penthesilea mit den Ihren, als sie Achilles kennenlernte. Es kann kein Zufall sein, daß diese Bochumer Premiere auf den Tag fiel, an dem man 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland feierte.

Beeindruckende Darstellerin

Jens Harzer ist Achilles, Sandra Hüller gibt die Penthesilea, und auf sie fokussiert Johan Simons’ Inszenierung. Tatsächlich sah man lange keine Schauspielkünstlerin mehr, die ihre Rolle mit einer derartigen Intensität, Durchdringung und Körperlichkeit eher lebte als spielte wie Sandra Hüller. Kleine umgangssprachliche Brüche und Apercus in der Textfassung von Vasco Boenisch verstärken die Unmittelbarkeit des Spiels der beiden Akteure überdies.

Leider jedoch verlispelt Hüller manche komplizierte Satzkonstruktion in die Schwerverständlichkeit. Mit einer gewissen Wehmut fühlt man sich an die große Edith Clever erinnert, die vor über 30 Jahren in Hans Jürgen Syberbergs Penthesilea-Projekt die Kleistschen Zeilen mit äußerster artikulatorischer Präzision, bis an den Rand der Manieriertheit manchmal, sprach. Nun gut, das war ein anderes Theater und eine andere Zeit.

Alles schwarz

Die Bühne (Johannes Schütz) ist dunkel und leer, lediglich ein nerviger, grell blendender Lichtbalken ist am vorderen Bühnenrand in den Boden eingebaut. Er taucht die Akteure, wenn sie vorne spielen, in ein unwirkliches Rampenlicht, das dem Spiel viel Natürlichkeit nimmt. Sparsam auch bleibt die Garderobe (Kostüme: Nina von Mechow), beschränkt sich auf einige schwarze Kleidungsstücke, und statt der nackten Frau ist an diesem Abend mal ein nackter Mann zu sehen.

Zum Ende hin recht statisch

Bekanntlich gibt es kein Happy End bei Achilles und Penthesilea, über ihre Schatten können sie nicht springen. Verlangsamung und Statuarik dominieren somit die Schlußminuten der knapp zweistündigen Inszenierung, es ist ja auch ein Trauerspiel. Nach knapp zwei Stunden ist alles vorbei, und das Premierenpublikum zeigt sich erwartungsgemäß begeistert.




Beklemmend schön: „Der Hamiltonkomplex“ mit dreizehn dreizehnjährigen Mädchen im Bochumer Schauspiel

Hamiltonkomlex Foto: Fred Debrock

Dreizehn (ungefähr) Dreizehnjährige bilden das Ensemble in „Der Hamiltonkomplex“. (Foto: Fred Debrock / Schauspielhaus Bochum)

„Der Hamiltonkomplex“ heißt die Inszenierung von Lies Pauwels aus Belgien, die das Publikum am Bochumer Schauspielhaus (Kammerspiele) jubeln ließ.

Bodybuilder (Stefan Gota) mit Mädchen (Emily Lück). (Foto: Fred Debrock / Schauspielhaus Bochum)

Dass diese Idee aus Belgien kommt (Antwerpen 2015) zeigt einmal mehr, dass dieses Land seit langem viele freie Produktionen hervorbringt, die dann ihren internationalen Weg machen und an Schauspielhäusern Einzug finden in die Spielpläne (z. B. Alain Platel, Jérôme Bel etc.). Auch Lies Pauwels gehört zu dieser Riege. Seit Jahrzehnten ist sie als Erfinderin solcher Projekte und als Schauspielerin geachtet.

Worum geht es im „Hamiltonkomplex“? In den 60er Jahren hatte der Fotograf David Hamilton mit Fotos ganz junger Mädchen seinen Stil entwickelt, den viele Kritiker als kitschig, pornografisch oder latent pädophil bezeichneten. Im Gegensatz zu anderen Fotografen lehnte er es ab, seine Motive naturgetreu abzulichten.

„Befinden sich Pädophile im Raum?“

13 Mädchen um die 13 (begleitet von dem Bodybuilder Stefan Gota) sind die Hauptfiguren des Stückes, die dem „Hamiltonkomplex“ folgen. Direkt zu Beginn stellen sie sich vor. Ihre Namen – allesamt Allegorien – versinnbildlichen die Zeit, in der wir leben. Und die Sprecherin teilt Regeln mit, die das Publikum zu beachten hat. Zudem lautet eine Frage ungefähr so: „Befinden sich Pädophile im Raum? Wir wollen niemanden diskriminieren, aber die Sache klarstellen.“ Dann beginnt ein Reigen von Bildern, der beeindruckt, schmunzeln lässt, schön und doch schrecklich ist.

Es beginnt mit dem Aufmarsch der Mädchen in Uniformen von Einlassdamen. Kostümwechsel und immer wieder Formationen der geballten Mädchenpower lassen den Augen keine Zeit, sich zu erholen. Dem Aufzählen ernsthafter Probleme, folgt am Ende ein Foto von Elyas M‘Barek („Fack ju Göhte“) und es beginnt eine nicht enden wollende Kreischorgie. Mädchengekreische. Mannomann.

Gassi gehen: ein Hausmädchen (Louisa Marti y Schiebel) mit Kuschelhündchen. (Foto: Fred Debrock / Schauspielhaus Bochum)

Es folgen u.a. 13 Rotkäppchen mit gesenkten Köpfen. Und da steht der „böse Wolf“ in Gestalt des einzigen Erwachsenen auf der Bühne: Stefan Gota, ein Hüne zwischen den Mädchen, kraftvoll aber sanft Angst einflößend.

Parade der Kuschelhündchen

Die Assoziationen springen durch den Kopf. Eine Choreografie mit Letizia Altmann und später mit der behinderten Robine Goedheid sind Höhepunkte des Abends. Extraapplaus gab es außerdem für die Leistung eines Mädchens, eine Suada von Vokabeln ins Mikro zu jagen. Unglaublich. Darin nur ein vollständiger Satz: „I wanna be your dog.“ Und schon sieht man kleine Kuschelhündchen, die von herausgeputzten Hausmädchen Gassi geführt werden. Doch nichts kommt einfach nur so daher, alles hat spürbare Hintergründe, die nicht nur komisch sind. Es endet im kontrollierten Chaos und aufbrausendem Jubel.

Bis Januar 2019 ist diese Produktion noch zu sehen – und es lohnt sich. Es ist die Kunst von Frau Pauwels, aus kontrollierten Improvisationen das herauszufiltern, was trägt und ein kunstvolles Gesamtbild ergibt. Chapeau!

Die nächsten Termine in den Kammerspielen: 4. November (17 Uhr), 9., 10. November (jeweils 19 Uhr), 11. November (17 Uhr), 16. November (19 Uhr), 24. November (19.30 Uhr) usw. Karten-Tel.: 0234 / 3333 5555. 

www.schauspielhausbochum.de




Aus dem Geisterreich der Geschichte: Johan Simons inszeniert in Bochum „Die Jüdin von Toledo“ nach Feuchtwangers Roman

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo". (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo“. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Große Erwartungen an der Königsallee: Der neue Schauspielhaus-Intendant Johan Simons (zuvor Chef der RuhrTriennale) zeigt seine erste Bochumer Premiere und hat mit „Die Jüdin von Toledo“ nach Lion Feuchtwangers Roman gleich einen höchst gewichtigen Stoff gewählt, der sich trotz historischer Ferne immer wieder aufs Heute beziehen lässt und verblüffende bis bestürzende Aktualität gewinnt. Und das keineswegs nur gedanklich, sondern mit genuin theatralischen Mitteln.

Das Grundgerüst der vielfältigen Ereignisse: Der kastilische König Alfonso (Ulvi Erkin Teke) sinnt mit anderen christlichen Fürsten auf einen neuen Kreuzzug gegen die andalusischen Gebiete Spaniens, in denen Muslime herrschen, seinerzeit als Garanten einer kulturellen Blüte sondergleichen. Zur Abwehr christlicher Angriffe rufen sie hernach freilich andere, weit weniger tolerante Glaubensbrüder zur kriegerischen Hilfe – ein Umstand, der sich womöglich durch all die Jahrhunderte fatal ausgewirkt hat.

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

König Alfonso, hier eher mit trottelhaften Zügen als bruchlos imponierende Heldenfigur, verfällt derweil einer Amour fou mit der schönen, muslimisch erzogenen Jüdin Raquel (gegen jedes Klischee besetzt: Hanna Hilsdorf) und lässt gar eigens ein Lustschloss errichten. Lässt ihr Vater etwa zu, dass sie sich als eine Art Hure verdingt?

Jedenfalls zieht Raquels mit manchen Wassern gewaschener Vater Jehuda (Pierre Bokma), vormals zum Islam konvertiert und nun wieder zum jüdischen Glauben zurückgekehrt, geschickt die Fäden in Alfonsos Staats- und Wirtschaftswesen. Derlei Aufschwung aber braucht Frieden als Grundlage, während der Ritterkönig Alfonso trotz anders lautender Verträge zum „Heiligen Krieg“ gegen die Muslime drängt und vom christlichen Scharfmacher De Castro (Guy Clemens) zusätzlich angetrieben wird. Zur gleichen Zeit werden Juden in Europa zunehmend verfolgt.

Gewalt macht grässlich geil

Es entsteht eine kreuz und quer verwobene, mitunter auch verworrene Gemenge-, Gefühls- und Gefechtslage, die tief bis in die Körperlichkeit hineinreicht. Macht und „Heldentum“, so sieht man vielfach, machen mitunter grässlich geil. Die abgründige Faszination durch schrankenlose Gewalt ist ein Kernthema des Stücks. Blutrünstige Vorstellungen erfassen nicht zuletzt die Frauen, die Königin (Anna Drexler) ebenso wie Alfonsos jüdische Geliebte. Hie und da erkundigen sie sich lechzend nach Leichenzahlen, bevor sie es bereitwillig treiben.

In einer Szene steigert sich der Befund zur ebenso bizarren wie lachhaften Gruppen-Orgie. Unbedingt nötig war diese Aufgipfelung nicht, sie brachte freilich die lautesten Lacher des Abends. Auch wirkte das anfängliche Gezerre des zehnköpfigen Ensembles um ein Tuch noch ein paar Spuren zu harmlos und „sportlich“ verhampelt für die verwickelten Interessenlagen. Doch das sind Ausnahmen in einer ansonsten sehr ernsthaften Aufführung, die gleichsam von Szene zu Szene an Dringlichkeit gewinnt. Übrigens erleichtern englische Obertitel auch deutschsprachigem Publikum den Zugang, falls denn mal ein Satz vernuschelt sein sollte.

Einige Zeitebenen sind zu bedenken

Regisseur Johan Simons und sein Dramaturg Koen Tachelet haben den Roman (als Aufbau-Taschenbuch immerhin 511 Seiten) zu einer knapp dreistündigen Theaterfassung konzentriert und dialogisch gekonnt aufbereitet. Das Ganze ist wahrlich nicht unkompliziert, sind doch einige Zeitebenen zu bedenken: Der Roman über die Kreuzzugszeit des 12. Jahrhunderts beschreibt die Beziehungen zwischen Christen, Muslimen und Juden in jener frühen Epoche. Gewiss ist er nicht ohne die Erfahrungen des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger im erzwungenen Exil ab 1933 zu verstehen. Feuchtwangers Roman erschien 1955, umfasst also auch das furchtbare Wissen um den Holocaust. Schließlich spielen nunmehr heutige Konflikte zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen hinein. Solche Fülle will erst einmal bewältigt sein.

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hana Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hanna Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Der Bühne (Johannes Schütz) merkt man die Vielschichtigkeit nicht direkt an, im Gegenteil: Sie ist radikal reduziert auf eine im Grunde simple Geometrie aus Kreis (Drehbühne) und raumgreifendem Rechteck. Eine große weiße Mauer (Aus Styropor? Aus Rigips?) teilt die Spielfläche die ganze Zeit über in zwei variierende Hälften. Immerzu werden Figuren voneinander getrennt oder auch wieder zueinander gebracht. Beinahe unaufhörlich rotiert die Drehbühne, so dass die Darsteller stets in Bewegung sein müssen, sollen sie vorne sichtbar bleiben; es sei denn, sie lägen leblos Boden, was überaus häufig geschieht. Dabei sieht es manchmal so aus, als würden sie beinahe von der Mauer zermalmt. Doch selbst dann vollführen sie zwangsläufig die Drehung der Bühne mit.

Auch eine Klagemauer

Auf diese Weise entstehen – wie von Geisterhand – immer wieder neue Situationen und Konfrontationen oder auch Allianzen, wie denn überhaupt die Figuren gelegentlich wirken, als seien sie flackernde, schwankende, wankende Gestalten aus einem geschichtlichen Geisterreich, die aber jederzeit wiederkehren können. Sie tragen ja auch einen „ewigen“ Streit aus; jedenfalls einen, der nicht und nicht aufhören will und immer wieder ins falsche Heldentum „Heiliger Kriege“ mündet, die schon hier (jüdische) Flüchtlingsströme und deren rigide Abwehr nach sich ziehen. Die dominierende Trennwand ist daher auch und vor allem eine Klagemauer.

Zu schrecklichen Opfern bereit

Feuchtwangers historisch weitgehend faktengetreuem Roman folgend, ist dies ein vielfältig und oft gedanklich haarfein differenzierendes Stück, reich an Zwischentönen, die am Ende allerdings brutal erstickt werden. Mehrere Protagonisten, wie Alfonsos Beichtvater Rodrigue (Michael Lippold) oder auch der muslimische Arzt Musa (Gina Haller) unternehmen – aus unterschiedlicher Motivation (Menschenliebe, Pragmatismus, Fatalismus etc.) – immer wieder Anläufe zur Friedensstiftung und zur Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen, ungefähr im guten Geiste von Lessings „Nathan“-Drama. Doch die kriegerischen Gegenkräfte scheinen übermächtig.

Die eifersüchtige Königin sorgt dafür: Den Juden wird am Ende, als alles zerstört ist, die Schuld an der christlichen Niederlage zugeschoben, weil die lüsterne Raquel Alfonso von Kriege abgelenkt habe. Die Juden haben keine Armeen und sie sind, wie es einmal raunend heißt, oft auf schreckliche Weise zu allen erdenklichen Opfern bereit. Wehe, wenn das aufgehetzte Volk auf sie losgelassen wird. Zunächst werden hier „nur“ Raquel und ihr Vater umgebracht, doch sind diese Morde Vorboten der Pogrome kommender Zeiten.

Neben all dem steht ein blinder Bettler und etwas entrückter „Seher“ (Risto Kübar), der – mal weise, mal opportunistisch – weitere Perspektiven ins Geschehen einbringt. Ist er nicht ein Nachfahr Shakespearescher Narren?

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Wenn alles zertrümmert ist

Als Kriegslüsternheit und tödliche Intrigen die Oberhand gewonnen haben, wird minutenlang die weiße Mauer in Stücke geschlagen, bis die Bühne wie ein Schlachtfeld aussieht – oder wie das Eismeer auf Caspar David Friedrichs berühmten Gemälde. Es ist, als sei auch die Schutzmauer der Zivilisation gefallen.

Schon zu Beginn hat eine schrille Alarmsirene aufgeheult, zwischendurch haben immer wieder (Wach)hunde bedrohlich gebellt und schlimmste Assoziationen geweckt, auch haben anschwellende Motorengeräusche an Schlachten und Abtransporte neuerer Zeiten gemahnt. Am Schluss fährt die Bühne zurück und wird in Richtung Zuschauerraum gekippt, so dass alle Trümmerteile und alle Schauspieler haltlos hinunter rutschen. Ein immens starkes Katastrophen-Bild, das in Erinnerung bleiben wird.

Erstmals sind mit dieser Produktion Teile des völlig neu formierten Bochumer Ensembles zu erleben. Man darf annehmen, dass sie sich mit der Zeit noch mehr aufeinander einspielen, doch schon jetzt war ein von Simons geweckter Ensemble-Geist zu spüren. Niemand spielt sich über Gebühr in den Vordergrund, alle miteinander sind sie aufs bestmögliche Ergebnis aus. Ungeschmälerte Bewunderung ist indes Pierre Bokma als Jehuda zu zollen. Er ist denn doch ein Zentralgestirn, um das diese Aufführung zu wesentlichen Teilen kreist.

Großer, anhaltender Beifall für alle Beteiligten. Gut möglich, dass das Haus mit solchen Inszenierungen wieder nachdrücklicher auf der überregionalen Theater-Landkarte auftaucht. Eine ganz andere Frage ist, ob auch nennenswert viele muslimische Zuschauer sich das Stück ansehen werden.

Nächste Vorstellungen: 3., 4., 7., 16. November, 14., 16., 26. Dezember. Karten-Telefon: 0234 / 3333 5555. 

www.schauspielhausbochum.de




Daniel Paul Schrebers Wahnvorstellungen – „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ in Bochum uraufgeführt

Raphaela Möst, Simin Soraya,  Therese Dörr, Veronika Nickl (v.l.)  (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Alle tragen sie zu Beginn hohe schwarze Zylinder. Doch bei vier Personen lugt unter dem Gehrock ein Damenkleid hervor. Eine Holzvertäfelung verheißt Gemütlichkeit, doch das eigentümliche Gebilde in Bühnenmitte, Konzertflügel ebenso wie Billardtisch, irritiert. Auf den zweiten Blick ist hier vieles nicht so, wie es sein sollte, auch die Beziehungen zwischen den Personen sind es schon bald nicht mehr. Wer ist hier Arzt, wer Patient? „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ ist das Stück betitelt, das nun im Bochumer Schauspiel seine Uraufführung erlebte.

Therese Dörr (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Acht Jahre in der Anstalt

Die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, denen Stefan Wipplinger und Fabian Gerhardt (auch Regie) in Bochum eine dramatische Form geben, verfasste zwischen 1894 und 1902 der Psychiatriepatient Daniel Paul Schreber, während seines Aufenthaltes in der Anstalt Sonnenschein. Dieser zweite Psychiatrieaufenthalt währte lange acht Jahre. Vater des Patienten war übrigens der nicht unumstrittene Orthopäde und Begründer der Schrebergarten-Bewegung, Dr. Moritz Schreber.

Bis zu seiner erneuten Erkrankung war Schrebers Karriere steil nach oben verlaufen. Trotz eines sechsmonatigen Klinikaufenthaltes 1884/1885 war er 1893 zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Dresden ernannt worden, zu Sachsens oberstem Richter mithin. Doch im Herbst desselben Jahres kehrte die Geisteskrankheit zurück, diesmal endgültig.

Strahlensystem und Nervenschwingungen

Schreber hörte Stimmen, stand durch ein Strahlensystem mit Gott in Verbindung, war der Überzeugung, dass Nervenschwingungen den Urgrund allen Seins bildeten und so fort. Sein Verdienst liegt darin, diesen Wahnideen in seinem 1903 veröffentlichten Text brillant und in sich schlüssig Ausdruck gegeben zu haben.

„Seit Freud und Lacan sind Daniel Paul Schreibers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken das meistzitierte und meistinterpretierte psychopathologische Zeugnis der abendländischen Psychiatriegeschichte“, ist dem Programmheft (in den Worten Martin Stingleins) zu entnehmen. Sigmund Freud, Elias Canetti und andere beschäftigten sich mit Schrebers Text.

Jürgen Hartmann, Raphael Möst, Therese Dörr, Günter Alt (v.l.) (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Auf der Bühne bleibt von dem komplexen Gedankengebäude des Kranken nicht gar so viel übrig. Das bühnentauglichste Motiv ist offenbar Schrebers Wunsch, eine Frau zu sein. Wegen seiner im gesamten Kosmos einmaligen Nähe zu Gott, so argumentiert er, müsse er in der Lage sein, den göttlichen Keim zu empfangen, um einen Erlöser zu gebären.

Siegmund Freud erkannte in Schrebers Paranoia „das Auftreten einer femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie“. Zudem gab es mit dem Psychiater Dr. Paul Emil Flechsig neben Vater Schreber einen weiteren Mann im Leben des Patienten, auf den sich unterdrückte homosexuelle Wünsche gerichtet haben könnten.

Die Stimmen kann man nicht verbieten

Live-Musik – eher verhalten, suchend – spielt Michael Emanuel Bauer mal auf dem Flügel, mal auf dem Kinderklavier. Die mit Schnurrbärten und bunten Röcken absichtsvoll widersprüchlich gewandete Damenriege (Raphaela Möst, Simin Soraya, Therese Dörr, Veronika Nickl) bildet einen eindrucksvollen, facettenreichen polyphonen Chor der Stimmen, die gleichzeitig locken und verbieten, aber selten ruhig sind. Mal sind sie aber auch, gewandet als phantasievolle Flatterwesen, „Gott“ oder doch wenigstens die Verbindung zu ihm, mal tumbe Protokollanten, die alles aufschreiben, ohne es zu verstehen. Und mal auch vierfaches weibliches Alter Ego, das tun darf, was der Patient gern tun würde. Wie sie flirren und gurren und einfach oft nur lästig sind, geben sie den Qualen des armen Schreber bildhaft Ausdruck.

Günter Alt, Jürgen Hartmann, Simin Soraya (v.l.) (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Vielleicht könnte man ihnen vorwerfen, insgesamt gesehen zu lustig zu sein, zumal es für das Leiden kein adäquates Schauspiel gibt, sondern nur gut gesetzte Videobilder (Vincent Stefan). Andererseits tut der gemessen heitere Grundton dieser Inszenierung dem Stückverständnis gut; es reicht, das Leiden in einer Psychiatrie des 19. Jahrhunderts mit ihren Irrenwärtern und Kaltwasser-Schockbehandlungen, wie hier, nur anzudeuten.

Gediegene Konversation

Doktor und Patient, zwei Herren erkennbar aus besseren Kreisen, pflegen meist den gediegenen Konversationston. Der eine fragt, der andere weiß; immer wieder, ein Spiel, tauschen sie ihre Rollen, und einmal auch kreuzen sie die Klingen vor dem Billardtisch, die hier aber lediglich die Queues sind. Ein symbiotisches Verhältnis, in welchem man dem etwas fülligen Günter Alt den allmächtigen Psychiater eher abnimmt als dem schlankeren Jürgen Hartmann, der letztlich doch der Patient bleibt. Der war er schon gleich zu Beginn, als er sich dem Publikum vorstellte.

Trotz projizierter Kapitelüberschriften (wohl aus dem Originalbuch) ist die chronologische Struktur locker gehalten, wirkt die Darbietung über längere Strecken hin eher wie ein Tableau des Ungeheuerlichen, als wie ein Stufenmodell des Niedergangs. Dem Titelhelden, und das ist fraglos eine Qualität dieser Inszenierung, merkt man in all seiner Not doch auch an, dass er ein Kämpfer ist, ein systematischer Denker, ein schlauer Kopf, und sein Anderssein (vielleicht auch: seine Verrücktheit) nicht als Totalverlust ertragen will.

Könnte man ihm heute helfen?

Eindrucksvoll schließlich geriet das Bühnenbild Christian Wiehles, das neben sparsamer Möblierung von Fransenvorhängen geprägt ist, die gleichsam die Allgegenwart von unendlich vielen Nervenbahnen symbolisieren. Die Vorhänge ermöglichen der Damenriege sogar Andeutungen von „Show-Acts“, heiter wie sinnfällig.

Eine ernsthafte, neugierige Inszenierung ist Stefan Wipplinger und Fabian Gerhardt in Bochum gelungen. Vielleicht wäre es schön gewesen, aus heutiger Sicht eine Diagnose zu hören, vielleicht auch eine Antwort auf die Frage, ob und wie man diesem Patienten heute helfen könnte. Doch mit solchen Themenstellungen wäre es ein anderes Stück geworden. Für dieses Stück und seine präsent agierende Darstellerriege jedenfalls gab es lang anhaltenden, begeisterten Applaus.




Parallelwelt, Schwanensee, Taubensuppe – Theater Dortmund stellt sein Programm für die kommende Spielzeit vor

Auch wenn es auf diesem Foto nicht so scheint – im Dortmunder Opernhaus tobt in der kommenden Spielzeit wieder das Leben (Foto: Philip Lethen / Theater Dortmund)

Gabriel Feltz fehlte. Ein wichtiger Termin auf dem Balkan hinderte den Orchesterchef  daran, an der Programmpressekonferenz des Theaters Dortmund teilzunehmen. Doch Feltz hatte ein sehr nettes Video mit Musikumrahmung vorbereitet, in dem er seine Pläne schilderte. „Krieg und Frieden“ sei das Leitthema des Orchesters in der kommenden Spielzeit, verkündete er, und deshalb gelangt nun viel Musik zur Aufführung, die auf die eine oder andere Weise damit zu tun hat – von Beethovens „Eroica“ bis zu Schostakowitschs „Leningrader“.

Thorsten Schmidt und Philip Pelzer in „Tschick“. Das Stück wird auch in der Spielzeit 2018/2019 im Kinder- und Jugendtheater gespielt (Foto: Birgit Hupfelf/Theater Dortmund)

Konzert zu „Panzerkreuzer Potemkin“

Die Reihe Wiener Klassik macht die europäischen Metropolen Wien, Paris und Berlin zu Themenschwerpunkten der einzelnen Abende und bedient so das Thema ganz mustergültig, weil Metropolen immer mit Krieg und Frieden zu tun haben. Start ist in „Wien“ am 3. Dezember 2018 mit Beethovens „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria op. 91“, immerhin.

Ansonsten im Programm: schöne Sonderkonzerte, unter denen das Stummfilmkonzert „Panzerkreuzer Potemkin“ (26.3.2019) besonders auffällt, Kammerkonzerte, Familienkonzerte, Babykonzerte („Maxi“ und „Mini“). Es findet sich alles im einwandfrei strukturierten Programmbuch und im Netz, deshalb erspare ich mir hier das Aufzählen der weiteren Highlights und Merkwürdigkeiten.

Auslastung nahe an 80 Prozent

Das Orchester habe zahlreiche Gastspiele in fernen Landen absolviert, Mahler und Rachmaninow seien jetzt gänzlich eingespielt, die 80-Prozent-Marke bei der Auslastung sei so gut wie erreicht. Als Feltz in Dortmund anfing, erinnert er sich, lag die Marke bei 65 Prozent. Da kann man schon stolz sein.

Das Ballett plant wieder zwei Premieren. Zum einen gibt sich Chef Xin Peng Wang an Dantes Göttliche Komödie und inszeniert im ersten Teil „Inferno“. Bis 2021 soll jedes Jahr ein weiteres Teilstück hinzukommen (Musik von Michael Gordon und Kate Moore, Uraufführung Samstag, 3.11.2018).

Die zweite Premiere ist wieder ein Gemeinschaftswerk dreier Choreographen. Douglas Lee, Jacopo Godani und Wubkje Kuindersma haben „Visionen“ (erstmalig am 9.3.2019).

Wiederaufnahme des Balletts: „Alice“ (Foto: Theater Dortmund)

„Alice“ bleibt

„Schwanensee“, in Xin Peng Wangs Einrichtung erstmalig 2012 in Dortmund zu sehen, ist ebenso bei den Wiederaufnahmen wie „Alice“ nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti mit Musik der Gruppe Assurd. Zwei internationale Ballettgalas sind für Mitte Oktober 2018 und Juli 2019 eingeplant. Außerdem, in Stichworten: Sommerakademie, Seniorentanztheater, Open Classes und etwas Drumherum.

„Echnaton“ von Philip Glass

In der Oper „Aida“, Der Barbier von Sevilla“, „Das Land des Lächelns“, „Turandot“ und (immerhin) „Echnaton“ von Philip Glass. Regie und Choreographie bei „Echnaton“ führt Demis Volpi, und es steht zu hoffen, daß ihm Besseres gelingt als Laura Scozzi in Bonn mit ihrer verunglückten Verlagerung des Stoffes in eine Schulklasse mit submotivierten Pubertierenden.

Neben den erwähnten unverwüstlichen Ohrwürmern findet sich mit „MusiCircus“ nach John Cage oder „Fin de partie – Endspiel“ von György Kurtág auch Experimentelles im Spielplan, doch ist so etwas wie ein Stil des Hauses nicht recht erkennbar. Anders als sein Vorgänger Jens Daniel Herzog inszeniert der neue Intendant Heribert Germeshausen nicht selber, sondern plant in großen Würfen. Die Oper werde sich zukünftig in die Stadtgesellschaft öffnen, sagt er, und ab 2020 stehe Wagner verstärkt im Fokus. Von 2021 bis 2024 soll ein kompletter „Ring“ neu entstehen.

Neue Ästhetik im Sprechtheater?

Im Sprechtheater arbeitet Schauspielchef Kay Voges an einer Koproduktion mit dem Berliner Ensemble, Titel „Die Parallelwelt“. Das Projekt, erläutert er, basiere auf der Grundkonstellation, daß an zwei Orten zur gleichen Zeit zwei identische Aufführungen stattfinden. Und daß diese miteinander, via Glasfaserkabel und Videokunst, miteinander in Verbindung treten. Nach dem Weggang Claus Peymanns steht der neue Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, solchen experimentellen Projekten positiv gegenüber. Man darf also gespannt sein, ob es beim technischen Spiel bleibt oder ob mit seiner Hilfe eine neue Ästhetik, neue Kunst mithin, erwächst.

Das Schauspiel zeigt weiterhin „Das Internat“. Bild mit Ensemble und Studenten der Folkwang UniversitäŠt der KŸünste (Foto: Birgit Hupfeld  /Theater Dortmund)

Horror – frei ab 18

Jörg Buttgereit, „der Papst des deutschen Horrors“ (O-Ton Voges), setzt mit dem Stück „Im Studio hört Dich niemand schreien“ zu neuen Schandtaten an, und sicherheitshalber hat das Theater hinter diese Ankündigung schon mal den „ab 18 Jahren“-Vermerk geschrieben. Eine „Hedda Gabler“ sticht ins Auge, die der Regisseur Jan Friedrich im Studio zur Aufführung bringen will, ebenso ein Stück des Dortmunder Sprechchores, in dem es „über Fußball und heimliches Begehren“ geht. Genauer gesagt geht es in „Echte Liebe“ um Homosexualität, die im Fußball nach wie vor kaum akzeptiert wird.

Viele Wiederaufnahmen

Diverse größere und kleinere Sachen stehen in der Ankündigung, einige noch etwas unfertig, daneben etliche Wiederaufnahmen: „Das Internat“, „Biedermann und die Brandstifter/Fahrenheit 451“, „Der Theatermacher“, „Die Show“, „Zerline“, „Der Kirschgarten“, „Endspiel“, „4.48 Psychose“ und weitere.

Gerburg Jahnke führt Regie

Ja und dann ist da Gerburg Jahnke, die man vielleicht noch als eine Hälfte der „Missfits“ in Erinnerung hat, die treffsicheres Frauenkabarett macht und regelmäßig auch Regie führt. Jetzt tut sie das in Dortmund, im Stück „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“. Das Stück entstand nach dem gleichnamigen Roman von Anna Basener und beschreibt launig das Aufeinandertreffen der hippen Nichte aus Berlin, die eine vielversprechende, aber erfolglose Designerin von Damenschlüpfern ist, mit – eben – Oma, die einen Großteil ihres Erwerbslebens als Puffmutter verbrachte. Die Musik macht, wie in vielen anderen Produktionen auch, Tommy Finke, und den Kostümverantwortlichen, wenngleich er schon lange im Geschäft ist, muß man einfach seines „märchenhaften“ Namens wegen einmal wieder nennen: Michael Sieberock-Serafimowitsch, die Bühne gestaltet er auch.

Anke Zillich wechselt vom Schauspielhaus Bochum an das Theater Dortmund (Foto: Schauspielhaus Bochum)

Abiturstoff im Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) schließlich tritt mit acht Premieren an, von denen zwei – „Fast Faust“ nach Goethe und „Der Sandmann“ nach einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann – demnächst auch Abiturstoff sein sollen. Alle Produktionen sind präzise auf Altersgruppen zugeschnitten, was durchaus auch als künstlerische Herausforderung gesehen werden muß.

„Cinderella“ ist das neue Weihnachtsmärchen (ab 6 Jahren). Als Autor zeichnet KJT-Chef Andreas Gruhn selbst, und er bediente sich der Vorlage Charles Perraults. Uraufführung ist am 15. November, glücklicherweise jetzt wieder im renovierten Schauspielhaus, wo hoffentlich genug Platz für die erwarteten Besucherscharen sein wird.

Weitere Programminfos, noch einmal sei es gesagt, stehen im dicken Programmbuch. Lediglich eine Personalie sei noch erwähnt: Schauspielerin Anke Zillich wechselt vom Bochumer Schauspielhaus nach Dortmund. Fraglos eine Bereicherung des Ensembles.

www.theaterdo.de




Ein Ruhri als Arbeitsmigrant in Istanbul – burlesker Musikabend des Bochumer Schauspiels mit Liedern von Sezen Aksu

Im Dolmus, dem speziellen türkischen Sammeltaxi, kommen sich die Menschen sehr nah. Ensembleszene aus „Istanbul“. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Schummrig glimmende Messinglampen, dicke Teppiche, im Hintergrund die Blaue Moschee: ganz klar, der Orient.

Umrahmt indes wird die orientalische Szenerie vorne, links und rechts von voll besetzten Biertischen und –bänken, und käme im nächsten Moment eine blonde Resi Maßkrüge stemmend um die Ecke, wunderte es einen nicht. Man ahnt, dass hier Kulturen aufeinanderstoßen werden, und liegt damit natürlich richtig.

Türkische Künstlerin

„Istanbul“ heißt das Stück von Selen Kara und Torsten Kindermann, in dem es meistens laut und lustig zugeht und in dem es viel Musik zu hören gibt – Premiere im Kleinen Haus des Bochumer Theaters.

Zu hören sind an diesem Abend Lieder der türkischen Sängerin Sezen Aksu (Jahrgang 1954). Sie ist in der Türkei seit Jahrzehnten ein Star, singt von Sehnsucht, Liebe, Trauer, Verlust. Im Jahr 1990, verrät uns das Internet, gab es eine Zusammenarbeit mit Udo Lindenberg, dennoch dürfte die Künstlerin in Deutschland nur wenigen bekannt sein. Diesem Defizit mit einem Liederabend zu begegnen, ist somit ein löbliches Unterfangen.

Wie sagt man, daß man Kaffee lieber mag als Tee? Aufmerksame Barkeeper und sprachunkundiger Gastarbeiter (von links): Koray Berat Sari, Torsten Kindermann, Gregor Hengesbach, Jan Sebastian Weichsel, Roland Riebeling. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Die Rahmenhandlung spielt mit einer Fiktion. Wie wäre es, wenn die türkisch-deutsche Arbeitsmigration umgekehrt verlaufen wäre? Wenn nicht Türken zum Broterwerb nach Deutschland hätten kommen müssen, sondern Deutsche in die Türkei, vor allem nach Istanbul, Boomtown am Bosporus?

Klaus Gruber, VfL-Fan aus Bochum, ereilt dieses Schicksal. Die entwürdigende medizinische Untersuchung erklärt ihn für tauglich, und in einem Ort namens Börök bekommt er Arbeit. Klaus (Roland Riebeling) versteht kein Wort Türkisch, seine Behausung ist winzig, seine Arbeit eine Knochenmühle, immerzu muss er, der notorische Kaffeetrinker, Tee trinken, und erotischen Offerten beiderlei Geschlechts – schließlich ist er verheiratet – muss er entschlossen widerstehen. Doch Klaus schluckt all das, schickt Geld nach Hause, schwört sich und allen, die es hören wollen, dass er das höchstens zwei Jahre macht.

Klaus‘ Frau kam nach

Bekanntlich kam es anders für die Männer und Frauen der „ersten Generation“. Die neue Heimat haben sie nicht gewonnen, die alte aber Stück um Stück verloren. Irgendwann ist Klaus’ Frau Luise (Tanja Schleiff) nachgezogen, und als Rentner sitzen sie immer noch in Istanbul. Obwohl Klaus in Bochum ein Haus gebaut hat, blau-weiß angestrichen, mit Wintergarten. Anfang und Ende der Handlung ist übrigens eine Beerdigungsszene, in der die Hinterbliebenen darüber streiten, wo Klaus’ Urne denn nun vergraben werden soll.

Neben Klaus und Luise wirken eine türkische Geliebte (Raphaela Möst), ein Barkeeper (Martin Weigel) und ein Dolmetscher (Daniel Stock) mit, und alle fünf singen sie abwechselnd Lieder von Sezen Aksu. Begleitet werden sie von einer Viermannkapelle (Gregor Hengesbach, Torsten Kindermann, Koray Berat Sari, Jan-Sebastian Weichsel), die sich auch, wie man spätestens bei der Zugabe hören wird, mit hartem Rockgeschrammel recht gut auskennt. So viel zur Konstruktion dieser eher schlicht gestrickten Zweistundenproduktion.

Klaus (Roland Riebeling) auf seinem Teppich. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Selbstgemachtes Musiktheater hat in Bochum Tradition. Ein sehr erfolgreicher Johnny-Cash-Abend mit Thomas Anzenhofer in der Titelrolle stand während der Intendanz Anselm Webers jahrelang auf dem Programm. Auch hier verantwortete Torsten Kindermann das musikalische Konzept. Wahrscheinlich hoffen er und die anderen „Istanbul“-Verantwortlichen – zu nennen wäre noch Regisseur Selen Kara, der zusammen mit dem Texter Akin E. Sipal die Fassung dieses Stücks schuf – auf einen ähnlichen Erfolg.

Doch wirklich überzeugend geraten die Musikbeiträge hier nicht. Die eher burleske Darbietung auf der Bochumer Bühne (Thomas Rupert) unterscheidet sich nachteilig vom stilvollen, intensiven Vortrag der türkischen Diseuse.

Auch die musikalische Begleitung gerät zu derb, lässt mit lautem Trommeln eher an den Balkan-Sound eines Emir Kusturica denken. Subtile „orientalische“ Klänge hingegen, die, wenngleich sparsam gesetzt, den Reiz der Lieder von Sezen Aksu zu einem nicht geringen Teil ausmachen, sind Sache dieser Musikanten nicht. So wie in Bochum vorgetragen, klingen die Lieder auch deshalb bald schon einförmig, und ungeduldig harrt man des Fortgangs der Handlung.

Keiner versteht Ruhri-Deutsch

Nun, trotzdem bleibt es vergnüglich, und das ist vor allem Roland Riebeling als Gastarbeiter Klaus zu verdanken. Mit Mutterwitz ist er gesegnet, die Sprache des Reviers ist ihm vertraut, und mit gutem Gespür für die rechte Balance von Tragik und Komik arbeitet er auch die traurigen Valeurs des Gastarbeiterschicksals heraus: Ein armer Ruhri, dessen Ruhri-Sprache keiner versteht und der in seiner existentiellen Not unser Mitleid erregt. Auch die anderen vier Mitspieler wissen zu überzeugen, wenn die Inszenierung ihnen dazu die Gelegenheit gibt. Alle arbeiten sie hoch präsent und mit beeindruckendem Körpereinsatz.

Das Publikum bejubelte „Istanbul“ am Premierenabend frenetisch. Auch zu Silvester, wenn das Schauspielhaus mit Doppelvorstellungen in beiden Häusern maximales Programm bietet, ist das Stück im Angebot. Spaßtheater zum Jahreswechsel, warum auch nicht. Die Sängerin Sezen Aksu indes sollte man sich im Original anhören. Im Internet geht das problemlos.

 




Boulevard am Abgrund: „Biedermann und die Brandstifter“ zeigen in Bochum freundliche Gesichter

Die Kulisse lässt an anspruchsloses Tourneetheater denken, eine Art Wohnzimmerwand mit Türen darin, Sofa, Tisch, Sessel. Und wenn sich Herr Biedermann bei der Zeitungslektüre über die Brandstifter aufregt, die in der Stadt ihr Unwesen treiben, dann wirkt das immer noch wie Boulevardkomödie.

Herr Biedermann (Martin Horn, Mitte) mit dem Ringer Schmitz (Jürgen Hartmann, li.) und dem Kellner Eisenring (Matthias Eberle, re.). (Foto: © Thomas Aurin / Schauspielhaus Bochum)

Herr Biedermann (Martin Horn, Mitte) mit dem Ringer Schmitz (Jürgen Hartmann, li.) und dem Kellner Eisenring (Matthias Eberle, re.). (Foto: © Thomas Aurin / Schauspielhaus Bochum)

Doch spätestens mit dem Auftreten des dreiköpfigen Chores kommt Hintersinn ins Spiel. Regisseur Hasko Weber inszeniert auf der großen Bühne des Bochumer Schauspielhauses Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“, und dies ist angeblich eben keine Komödie, sondern, in den Worten des Dichters, „ein Lehrstück ohne Lehre“.

Zudem war dieses Lehrstück eins der erfolgreichsten Stücke der Nachkriegszeit. 1958 in Zürich uraufgeführt, erlebte es in der Folge über 250 deutschsprachige Inszenierungen. Damals, 13 Jahre nach Ende des Krieges, muss es genau den richtigen Ton getroffen haben, der trotz humoristischer Elemente fraglos ein hoch moralischer war.

Damals standen Verbrecher in Uniform im Mittelpunkt der Kritik, denen, kleiner Scherz gegen Ende des Frisch-Textes, die Qualen der Hölle erlassen werden, wenn sie ihre Verbrechen in Uniform begangen haben. Doch reicht dieses Stück mit seinen absurden inhaltlichen Elementen weit über die Begrenztheit einer Moralpredigt hinaus, ist ganz im Gegenteil ein schonungsloses Ausloten menschlichen Verhaltens in diffus bedrohlicher Situation und damit hoch aktuell.

Des Hausherrn rätselhafte Motive

Ob das Stück auf der Bühne funktioniert, hängt natürlich maßgeblich an der Interpretation des Biedermanns, der nahezu unspielbar ist. Ein aufrechter Bürger soll er sein, der völlig zu Recht die Unfähigkeit der Behörden beklagt, ein brutaler Chef aber auch, der seinen Mitarbeiter Knechtling in den Selbstmord getrieben hat und dessen Witwe die Hilfe verweigert; einer, der sich bei „armen Leuten“, eben den Brandstiftern, anbiedert und von deren Brandstiftungsabsicht selbst dann noch nichts wissen will, wenn diese auf dem Dachboden letzte Vorbereitungen für das große Zündeln treffen. Sie haben ja nicht mal Streichhölzer dabei, wie könnte Gefahr von ihnen ausgehen?

Martin Horn gibt diesen Herrn Biedermann nach anfänglicher Ambivalenz bald schon sorglos und entspannt. Die Motive seiner ungebetenen Gäste verleugnet er hartnäckig, und die Frage, warum er das tut, hätte durchaus etwas mehr Beachtung innerhalb dieser Inszenierung verdient. Ist es Naivität, Verleugnung aus schlechtem Gewissen, opportunistische Anbiederei?

Die Stadt in Flammen

Stattdessen nimmt das Bühnengeschehen seinen boulevardesken Fortgang. Anna, das Dienstmädchen (Kristina Peters) fällt wiederholt gekonnt in Bühnenohnmacht und muss dann wieder aufgerichtet werden, durchaus erheiternd gerät die stilgerechte Inszenierung eines „proletarischen“ Gänsebratenessens durch den absichtsvoll leger gekleideten Hausherren.

Bis zur Pause geht das so, auch die Gespräche zwischen bunten Benzinfässern auf dem Dachboden sind getragen von Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Nur die hübsche projizierte Stadtkulisse im Hintergrund (Bühne und Kostüme: Thilo Reuther) scheint irgendwann Feuer gefangen zu haben.

Nach der Pause denn also, nachdem die Stadt in Schutt und Asche liegt, treffen wir Herrn Biedermann und seine Frau Babette (Veronika Nickl) in der Hölle wieder, wo eine veritable Riesenflamme aus dem Boden schießt und ab und zu grelles Scheinwerferlicht die Zuschauer blendet. Im Hintergrund verbrennen Höllenmitarbeiter in einem Feuerkorb Blatt für Blatt den Grundrechteteil des Grundgesetzes, jeden Paragraph zitierend und mit Nummer 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) endend – ein ärgerlicher interpretatorischer Eingriff, der der breiten Gültigkeit des Stücks nicht gerecht wird. Kurz darauf ist das Spiel dann zu Ende, und auf die Pause hätte man gut verzichten können.

Der Chor kann nichts machen

In lebhafter Erinnerung bleiben Jürgen Hartmann und Matthias Eberle als die Brandstifter Schmitz und Eisenring, beide eher bedrohlich als bedürftig, trotz der rührenden Geschichten, die sie aus ihrem harten Leben erzählen.

Daniel Stock, Klaus Weiss und Luana Velis bilden den Chor nach dem Vorbild der klassischen griechischen Tragödie. Sie sind Beobachter des Geschehens, paraphrasieren und kommentieren es in gemessenen Versen. Und würde man sie rufen, dann würden sie auch helfen. Doch zunächst ist es an den Menschen selbst, zu handeln. Auch das „Lehrstück ohne Lehre“ kommt ohne Lehre nicht aus.

Herzlicher Applaus für die aufgeräumt aufspielende Darstellerriege.

  • www.schauspielhausbochum.de
  • Termine: 26., 28. Januar, 2., 7., 15., 25. Februar 2017,
  • 19.30 Uhr, Schauspielhaus
  • Karten Tel.  0234 3333 5555

 




Kaputte Theater, alte Säcke – eine betrübliche Wanderung durch die NRW-Theaterlandschaft

Um die nordrhein-westfälische Theaterlandschaft steht es nicht gut. In Köln und Dortmund werden die Gebäude saniert, und in beiden Städten dauert das länger als geplant. Doch wenigstens stellt hier noch keiner die Häuser als solche in Frage. In Düsseldorf hingegen, der Landeshauptstadt, ist nichts mehr sicher. Ebenfalls wird hier das Haus saniert, die Kosten der Sanierung laufen davon, und ein „kunstsinniger“ Oberbürgermeister stellt sich und seinen Genossen laut die Frage, ob das denn wirklich alles sein müsse.

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Auch nicht mehr die Allerjüngsten, doch ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler. (Foto: Bernd Berke)

Man könne das Filetgrundstück, auf dem das Theater derzeit noch die Stirn zu stehen hat, doch viel besser vermarkten. Und wenn man die alte Bude aus der Nachkriegszeit wegen Denkmalschutz schon stehenlassen müsse, könne man dort doch wenigstens etwas Interessanteres machen als ausgerechnet Theater. Kongresse abhalten zum Beispiel. „Eventbude“ wäre der passende Kampfbegriff, auf den, wie bekannt, Claus Peymann das Copyright hat.

Düsseldorfer Misere

Immerhin würden Abriß oder Umwidmung des Theaters in der Stadt, in der einst Gustaf Gründgens wirkte, keinen Intendanten arbeitslos machen, denn Wilfried Schulz, der aus Dresden an den Rhein kam, ist Jahrgang 1952 und könnte wahrscheinlich mit geringen Abzügen vorzeitig in Rente gehen (bitterer Scherz!). Allerdings hatte er wohl andere Vorstellungen von Theaterarbeit, als er aus Dresden in den tiefen Westen wechselte, hatte Ideen, wie er in Düsseldorf die Karre aus dem Dreck ziehen würde, die dort seit dem Abgang Amélie Niermeyers 2011 und dem „Burnout“ ihres Nachfolgers Staffan Valdemar Holm steckt.

Ein tapferer Senior hatte zwischenzeitlich die Stellung gehalten: Günther Beelitz (75), der das Haus schon einmal von 1974 bis 1986 geleitet hatte. Doch nun? Nun befindet OB Thomas Geisel (und mit ihm fraglos etliche weitere kunstsinnige Lokalpolitiker), daß das Schauspiel im „Central“, der Ausweichspielstätte in Bahnhofsnähe, sehr gut aufgehoben sei.

Das Land schweigt

Irgendwie fragt man sich da schon, welche Vorstellung die Düsseldorfer Lokalpatrioten von Urbanität haben, von städtischem Leben und städtischer Kultur. In der Antwort, fürchte ich, wäre viel weißes Rauschen. Und eine zweite Frage drängt sich auf: Würden kulturlose Lokalpolitiker wie die in Düsseldorf auch so dreist auftreten, wenn sie es mit selbstbewußten, erfolgreichen Theaterleuten zu tun hätten statt mit personellen Notnägeln? Wilfried Schulz ist damit ausdrücklich nicht gemeint. Zwischen Niermeyers Abgang und Schulz‘ Dienstantritt sind fünf Jahre verstrichen, in denen das Düsseldorfer Schauspielhaus langsam aber sicher in den Bedeutungsverlust trieb.

Hat in diesem Zusammenhang übrigens jemand etwas von der Landesregierung gehört? Das Theater der Landeshauptstadt wird nämlich von Land NRW mitfinanziert, ist somit auch ein Staatstheater, und eigentlich müßte das Land ein vehementes Interesse an diesem kulturellen Aushängeschild haben. Hat es aber wohl nicht. Kulturelle Präferenzen dieser Landesregierung sind ja eh kaum auszumachen, und wenn doch, dann liegen sie eher im pädagogischen Bereich, dann hat man es in der Kunst lieber breit als hoch. Mit etwas Wehmut denkt man da an alte Zeiten, in denen ein Ministerpräsident Jürgen Rüttgers die Verdoppelung der Kulturausgaben verkündete und ein Kulturstaatssekretär mit Namen Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff in den Spielstätten des Landes fast allgegenwärtig war.

Den Namen der amtierenden Kultusministerin mußte ich googeln: Christina Kampmann heißt sie, Jahrgang 1980, seit 2015 im Amt und außer für Kultur auch für Familie, Kinder, Jugend und Sport zuständig. Ihre Vorgängerin (wieder gegoogelt) war Ute Schäfer, Jahrgang 1954, die jetzt ihren (Vor-) Ruhestand genießt. Beide keine politischen Schwergewichte. Ob von Frau Kampmann noch was kommt? (Detaillierte Bemerkungen über eine glanzlose Landesregierung, ihre skandalösen Kunst-Verkäufe und ihre Neigung zum Wegducken bei ungeliebten Themen spare ich mir an dieser Stelle.)

Intendantin und „Chef-Regisseur“

Falsche Personalentscheidungen standen am Anfang der Düsseldorfer Schauspielkrise, und nachher ist man immer klüger. Blicken wir nun auf die Ruhrtriennale, die ebenfalls zu einem wesentlichen Teil vom Land finanziert wird und alle drei Jahre einen neuen Intendanten bekommt. Offensichtlich wollte und will man hier in Fragen der Intendanz kein Risiko eingehen. Hier sollen es die alten Männer richten. Dem Niederländer Johan Simons (70) folgt 2018 Christoph Marthaler (Jahrgang 1951) nach, der dann also, wir rechnen mal kurz, 67 Jahre alt sein wird.

Doch halt, in Wirklichkeit ist es ja ganz anders! Intendant wird eine Intendantin, eine Frau im Amt war überfällig! Stefanie Carp, fünf Jahre jünger als Marthaler und, nebenbei bemerkt, Schwester des Oberhausener Theaterleiters Peter Carp. Schaut man sich ihren beruflichen Werdegang an, könnte man sie, und das ist nicht despektierlich gemeint, eine „ewige Dramaturgin“ nennen, war sie doch in Sonderheit für Christoph Marthaler viele Jahre lang das, was beispielsweise Hermann Beil für Claus Peymann ist. Auch hat sie wiederholt die Wiener Festwochen geleitet.

Nun ist sie also Intendantin der Ruhrtriennale; Marthaler ist ihr „Chef-Regisseur“, fraglos eine interessante Position, die man am Theaterbetrieb bisher kaum kannte. Da sich die beiden von der Berliner Volksbühne her gut kennen, mag das das Werk wohl gelingen. Besonders gespannt muß man auf das Musikprogramm dieses traditionell musikorientierten Festivals sein, bei so viel Sprechtheater-Kompetenz. Aber in Marthalers Inszenierungen wird ja meistens sehr schön gesungen.

Wo sind die Jungen?

Simons ist Holländer, Marthaler Schweizer, Frank Hoffmann, der Intendant der Ruhrfestspiele, ist Luxemburger, der designierte neue Chef im Dortmunder Kulturzentrum „U“, Edwin Jacobs, wiederum Holländer. Zum gelassenen Ruhrgebiets-Internationalismus paßt das durchaus. Doch stimmt es auch nachdenklich, daß große Teile des kulturellen Spitzenpersonals a.) im Land nicht zu finden waren und b.) selten unter 60 Jahre alt sind, oft deutlich älter.

Bitte nicht mißverstehen: Nichts spricht dagegen, Leitungspositionen in Theatern und Museen mit Ausländern zu besetzen, das ist weltweit gang und gäbe. Hartwig Fischer beispielsweise, der so gut mit Berthold Beitz konnte und durchaus seinen Anteil an der Verwirklichung des neuen Folkwang-Museums in Essen hat, leitet jetzt (als erster Ausländer) das British Museum in London. Zum British Museum gehört die Tate Gallery of Modern Art, deren Chef Chris Dercon wiederum Nachfolger Frank Castorfs als Intendant der Berliner Volksbühne wird, was indes von vielen als Skandalon empfunden wird… (Vielleicht kein so gutes Beispiel.).

Besorgniserregend aber ist, wenn wir auf NRW blicken, daß nirgendwo im ganzen großen Kulturbetrieb jemand zu entdecken ist, Mann oder Frau und idealerweise noch nicht kurz vor der Rente, den oder die man als kulturellen Hoffnungsträger bezeichnen könnte. Sicherlich kann niemand einen Künstler vom Range des verstorbenen Christoph Schlingensief aus dem Zylinder ziehen, auch kleinere Talente schon stimmten ermutigend. Doch wenn Anselm Weber, noch Intendant in Bochum, in der nächsten Spielzeit nach Frankfurt wechselt, räumt er seinen Platz für den, wie schon erwähnt, 70jährigen Johan Simons. Aufbruch sieht anders aus.

Vielleicht ist es ja so, daß kleinmütige Findungskommissionen es Mal um Mal vermieden haben, mit Jüngeren ein experimentelles Tänzchen zu wagen. Man hat ja nicht dabeigesessen. Das Resultät bleibt das gleiche, und die Parole lautet „Alte Säcke an die Macht“.

Dortmunder Spezialisten

Hat da jemand „Aber Dortmund!“ gerufen? Nun gut: Auch die Dortmunder haben Streß mit ihrer Theatersanierung. Wie bekannt spielt man im „Megastore“, einem Lagerhallenkomplex im Gewerbegebiet, die Sanierung des Schauspielhauses verzögert sich, wird überdies teurer als geplant. Aber wer hätte auch anderes erwartet? Die Tatkraft und die Kreativität, mit denen sich das Dortmunder Theater diese (Anti-) Spielstätte erobert hat, sind auf jeden Fall beeindruckend.

Hier können zukünftige Ruhrtriennale-Intendanten noch etwas lernen, wenn sie wieder eine alte Industriehalle bespielen sollen, die anscheinend für alles besser geeignet ist als für Theater. Doch muß man Zweifel haben, ob dieses sehr sportliche, sehr dem theatralischen Jugendbereich zugewandte und in diesem Sinne hochspezialisierte Dortmunder Theater wegweisend für die Entwicklung in der Region ist. Trotzdem bin ich jetzt schon sehr gespannt auf das, was Kay Voges und die Seinen demnächst im renovierten Schauspielhaus zustande bringen werden.




So viel Komödie wie nur möglich – Molières „Tartuffe“ im Bochumer Schauspielhaus

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Orgon (Michael Schütz, links) und Tartuffe (Jürgen Hartmann) (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Gegen solche Verblendung ist kein Kraut gewachsen. Nur für das Wohlbefinden seines bewunderten Gastes Tartuffe interessiert sich der Hausherr, die lebensbedrohlichen Fieberschübe seiner Gattin aber sind ihm egal.

Gleich in der ersten Szene führt Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer in unüberbietbarer Deutlichkeit vor, wie es zugeht im Hause Orgon. Das kann ja heiter werden. Bochums Schauspielhaus zeigt Molières „Tartuffe“, ein großes Vergnügen und nicht gänzlich frei von Hintersinn.

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Töchterlein Marina (Kristina Peters, vorn) ist in Ohnmacht gefallen, Zofe Dorine (Xenia Snagowski) herzt Hausherrn Orgon (Michael Schütz). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Damals skandalös

Wenngleich: In unserer Gegenwart, in der gröbste Beleidigungen im Internet und „Shitstorms“ das gesellschaftliche Erregungsniveau bestimmen, wirkt eine Figur wie Tartuffe auf den ersten Blick vergleichsweise unauffällig. Ein Schleimer ist er, ein Verführer und Betrüger, und Heiratsschwindler könnte er wohl auch, na und?

Zu Molières Zeiten jedoch, im absolutistischen regierten Frankreich mit seiner ausgeprägten Günstlingswirtschaft, wirkte die ausführliche Zeichnung seiner Untugenden wegen ihres ausgeprägten Wiedererkennungswertes offenbar skandalös. Nach einer „Privatvorführung“ am Hof von Versailles, 1664, verbot der König die öffentliche Aufführung. Erst 1667 durfte das Volks eine entschärfte Fassung sehen, und das Aufregungspotential soll immer noch erheblich gewesen sein.

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Tartuffe (Jürgen Hartmann, links), Elmire (Raphaela Möst) (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Ein Finsterling eben

Glücklicherweise macht Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer nicht den Versuch, Tartuffe zu einer Gegenwartsperson mit aktuellen, schändlichen Verhaltensweisen umzuformen. Tartuffe (Jürgen Hartmann), der ja erst spät die Bühne betritt, ist ein ebenso verlotterter wie gescheiter Finsterling und bleibt es auch. Natürlich ist seine kriminelle Energie erheblich, er bringt Orgon (Michael Schütz) und die Seinen um Hab’ und Gut, baggert Orgons Gattin Elmire (Raphaela Möst) an und würde auch das Töchterlein Mariane (Kristina Peters) nicht verschmähen, wenn dieses sich mit tatkräftiger Hilfe des Zimmermädchens Dorine (Xenia Snagowski) nicht zur Wehr setzte.

Das passt alles ins Bild eines schlechten Menschen und bedarf hier deshalb keiner weiteren Klärung. Das Bühnenbild versucht sie dennoch, Worte wie Ordnung, Anstand, Moral, Jungfräulichkeit oder Pünktlichkeit hängen in Großbuchstaben von der Decke (Bühnenbild: Thilo Reuther) und bemühen sich um eine Bezüglichkeit, die der Inszenierung ansonsten abgeht. Auch Orgons Motive und Gefühle stehen nicht eben im Mittelpunkt des Spiels. Hier reicht es, dass der Verführte seinen Fehler, wenn auch spät, erkennt.

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Herren in wechselnden Gewändern, von links: Orgon (Michael Schütz), Cléante (Daniel Christensen), Tartuffe (Jürgen Hartmann). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Schenkelklopfer

Statt also in den Charakteren zu gründeln, testet diese Inszenierung lustvoll aus, was in einer gut geölten, burlesk überzeichnenden, nie um einen Gag verlegenen Komödie möglich ist. Grotesk und übertrieben bewegen sich die Personen, sprechen in getragenen Versen (deutsche Fassung von Wolfgang Wiens), um im nächsten Augenblick den Handlungsgang mit banaler Umgangssprache zu unterbrechen oder das Publikum direkt anzusprechen. Schnell wird es laut in den hitzigen Dialogen; wenn Worte fehlen, wird grimassiert und gestikuliert, und all das mit hohem Tempo. Screwball, Sitcom, Comedy: Alles drin, ein großes, schenkelklopfendes Amüsement.

Babydolls und klotzige Pumps

Michael Sieberock-Serafimowitsch, den man auch als Bühnenbildner kennt, der hier jedoch „nur“ für die Kostüme verantwortlich zeichnet, hat die Personen in hinreißend überdrehte grellbunte, die barocke Mode parodierende Kostüme gesteckt, einige Damen überdies in unförmige „Babydolls“ und klotzige hohe Pumps. Später jedoch, wenn die Wahrheit und der materielle Totalverlust ihr grausiges Haupt erheben und der Gerichtsvollzieher (Bernd Rademacher) in putzig durchgereimter Amtsspache den Pfändungsbeschluss verkündet, kauern sie sinnfällig entblößt am Bühnenrand.

An zwei Stöcken, doch überaus selbstbewusst stakt Anke Zillich als des Hausherrn verständnisvolle Mutter Madame Pernelle durch das Geschehen, Daniel Christensen gibt als Cléante einen erfrischend respektlosen Schwager, Matthias Eberle den Sohn, Roland Riebeling den Verlobten. Und wenn dieser Theaterabend so glänzend funktioniert, ist das natürlich nicht zuletzt das Verdienst dieses trefflich zusammenarbeitenden Ensembles.

Frenetischer, lang anhaltender Schlussapplaus.




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Zum Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt

Durch eine Mitteilung des Schauspielhauses Bochum erfahren wir vom Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt, der jetzt mit nur 63 Jahren gestorben ist. Wir zitieren im Wortlaut:

„Das Schauspielhaus Bochum trauert um Wolfgang Welt.
Wolfgang Welt war seit 1991 Nachtpförtner am Schauspielhaus Bochum und allen hier arbeitenden Kolleginnen und Kollegen vertraut. Er war im besten Sinne des Wortes ein ,Original‘ des Hauses, jedem Künstler bekannt, umgeben von einer geheimnisvollen Aura, nicht ganz zu durchschauen, mal abweisend beobachtend, dann wieder gesprächig, offen und interessiert.
Vor seiner Tätigkeit als Nachtpförtner war Wolfgang Welt bereits als Journalist und Autor erfolgreich tätig. In den späten 1980er war er einer der wichtigsten Musikjournalisten des Reviers, schrieb für „Sounds“, „Marabo“ und „Musikexpress“. Danach begann er Romane zu schreiben und galt mit Büchern wie „Peggy Sue“, „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ oder „Doris hilft“ als Geheimtipp der deutschen Literatur-Szene. (…)
Wolfgang verstarb gestern Morgen nach kurzer schwerer Krankheit.
Wir werden ihn sehr vermissen.“

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Hier noch einmal ein Text über Wolfgang Welt, der am 23. November 2012 erstmals in den Revierpassagen erschienen ist:

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So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Elend so nah: Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ mit Epilog im Bochumer Schauspiel

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Es regnet Menschen: Klein, rosa, nackt prasseln die Püppchen auf die Bühne hernieder und bleiben den Wohlstandsmenschen in den Haaren hängen. Sie häufen sich auf dem Boden, so dass die Bühnenarbeiter sie zum Schluss wegfegen müssen. Hilft ja nichts, es sind zu viele.

Wortkaskaden strömen in den Zuschauerraum, es sind viele Wörter, Textflächen, sie kreisen um die Themen Flucht, Migration, das Eigene und das Fremde und sie sind von Elfriede Jelinek. Hermann Schmidt-Rahmer inszenierte für das Bochumer Schauspielhaus „Die Schutzbefohlenen/Appendix/Coda/Epilog auf dem Boden“, wobei „Die Schutzbefohlenen“ bereits 2014 uraufgeführt wurde. Das Stück nimmt Bezug auf die antike Tragödie „Die Schutzflehenden“ von Aischylos. Parallel zur Entwicklung der „Flüchtlingskrise“ in Europa hat Jelinek den Text seitdem fortgeschrieben und erweitert. Der letzte Teil „Epilog auf dem Boden“ war nun in Bochum erstmalig zu sehen.

Die Perücken und Kostüme der Schauspieler erinnern an Marie Antoinette und Luis XVI, aber als seien sie von Karl Lagerfeld verfremdet und zum letzten Schrei von Paris erklärt. Die dekadente Gesellschaft trägt dunkle Datenbrillen, durch die sie in sicherem Abstand die Tragödie auf dem Mittelmeer medial verfolgt.

Nein, die Europäer sind nicht am eigenen Leibe betroffen, sie schauen nur zu. Natürlich ist das schrecklich, da muss man Mitleid haben. Wirklich beängstigend wird es aber für sie erst, als plötzlich die realen Menschen in ihr Land strömen und man diesen und ihrem Unglück von Angesicht zu Angesicht begegnen kann. Da wird’s dann doch ein bisschen viel. So genau wollte man das Elend lieber doch nicht sehen.

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

In Jelineks Text prallen die Absurditäten der Politik und Gesellschaft mit einer ganz eigenen Ironie aufeinander. Sie hat dem Gerede gelauscht und reiht die wahnsinnigen Worthülsen dieser Tage so aneinander, dass man nicht zu fassen glaubt, was man da alles hört.

Doch wie funktioniert das auf der Bühne? Schmidt-Rahmer hat mit seinem Bühnenbildner Thilo Reuther und den Kostümen von Michael Sieberock-Serafimowitsch eine ästhetische Plattform gefunden, in der sich das Thema sinnfällig entfalten kann: Die große Landkarte von Nordafrika ist wie ein Trichter aufgehängt, durch den die eingangs beschriebenen Püppchen in die Szene purzeln. Die großartigen Schauspieler bringen den Text zum Schweben und helfen bei der Materialisierung – inklusive Püppchenköpfen (für das Video im Netz).

Allerdings ist Jelineks Perspektive immer nur die unsere: Auch wenn Schicksale von Flüchtlingen referiert werden, geschieht das durch unsere Augen und nicht aus deren eigener Sicht. Hier gerät der Text an seine Grenzen, das ist dramatisch nicht leicht zu überwinden. In Nicolas Stemanns Inszenierung für das Thalia Theater waren Flüchtlinge selbst als Chor einbezogen, Schmidt-Rahmer überlässt es in Bochum den Schauspielern, auch in die Rollen der Flüchtlinge zu schlüpfen. Das klappt nicht immer. Aber warum sollte es auch? Jelinek schreibt über uns, weil sie von uns am meisten weiß. Und wir im Publikum schauen dabei zu – die anderen stauen sich an den Grenzen…

Karten und Termine: www.schauspielhausbochum.de




Fast ein Krimi – „Das Fleischwerk“ von Christoph Nußbaumeder in Bochum

Das Stück beginnt, wie könnte es heutzutage anders sein, mit großen Köpfen auf einer Videowand. Andrei aus Bulgarien skypt mit seiner schwangeren Frau im heimischen Dorf.

Erst auf den zweiten Blick gewahrt man den echten Andrei (Matthias Kelle), der sein Telefonat rechts in der Kulisse offenbar heimlich führt, geschützt unter einem Blätterdach. Er wähnt sich in Gefahr; von Unruhe im Fleischwerk erzählt er seiner Frau daheim, von nicht ausgezahltem Lohn und von geheimen Streikplänen. Und schon wissen wir, wo Christoph Nußbaumeders sein neuestes Stück „Das Fleischwerk“ angesiedelt hat.

"Das Fleischwerk": Szene mit Andrei (Matthias Kelle, li.) und Akif (Roland Bayer). (Foto: Arno Declair)

„Das Fleischwerk“: Szene mit Andrei (Matthias Kelle, li.) und Akif (Roland Bayer). (Foto: Arno Declair)

Immer wieder findet der aus Niederbayern stammende Bühnenautor des Jahrgangs 1978 die Themen seiner Dramen bei den kleinen Leuten, den Ausgebeuteten und Entrechteten. Hier sind es osteuropäische Arbeitskräfte, die in der deutschen Fleischindustrie für Hungerlöhne schuften und überdies noch um ihren Lohn betrogen werden. Und bei einem so didaktisch daherkommenden Einstieg fragt man sich als Zuschauer schon, was das wohl werden wird: Investigative Theaterarbeit, Bildungsfernsehen, Schulfunk? Zunächst sieht es durchaus danach aus.

Ein LKW-Fahrer lernt dazu

Nachdem das Videogespräch beendet ist, schickt Regisseur Robert Schuster nämlich seinen Star auf die Bühne, den Schauspieler Bernd Rademacher, der rein optisch etwas von Mike Krüger hat und den LKW-Fahrer Daniel Rabanta gibt. Er saß, stellt sich nach und nach heraus, wegen eines Totschlagsdelikts im Gefängnis und fand nach der Entlassung einen Job als Schweinekutscher. Für ihn ist das eine ganz neue Welt, die ihm (und uns) sogleich mit Nachdruck erklärt wird – vom unglücklichen Schweinemäster Weidenfeller (Günter Alt), vom Schlachthof-Vorarbeiter Georgi (Matthias Eberle) und in gewisser Weise auch von seiner Schwester Gabi (Anke Zillich), die sich um ihren antriebsschwachen Bruder sorgt und ihm damit auf die Nerven geht.

Doch dann verlässt die Handlung den Pfad der Belehrungen. Der zwielichtige Schlachthof-Subunternehmer Akif (Roland Bayer) kommt ins Spiel, der mit Rabanta Schnaps trinkt und vorsätzlich den Tod des aufrührerischen Andrei in der Gaskammer des Fleischwerks herbeiführt. Angetrunken fährt Rabanta des nachts eine junge Frau an, er nimmt sie mit zu sich nach Hause und versorgt ihre Wunden. Bald stellt sich heraus, dass sie Andreis Witwe Susanna (Minna Wündrich) ist, die von der Arbeiterin Valentina (Veronika Nickl) einen Brief bekam. Sie nimmt blutige Rache an Akif. Rabanta stirbt an Lungenkrebs, Gabi spricht letzte Worte, das Licht geht aus (und wieder an). Und das Publikum ist etwas unschlüssig, was es da in zwei Stunden ohne Pause eigentlich zu sehen bekommen hat.

Schauspielhaus Bochum   Foto: Jürgen Landes

Im Schauspielhaus Bochum erlebte „Das Fleischwerk“ von Christoph Nußbaumeder seine Premiere – genau genommen allerdings auf der Rückseite des Gebäudes, in den Kammerspielen. (Foto: Jürgen Landes/Schauspielhaus Bochum)

Subunternehmer, Frauenarzt

Eine aktionsreiche Handlung, ganz ohne Frage, hat Nußbaumeder sich ausgedacht, einen Krimi im Fleischverarbeitungs-Milieu. Doch ein Krimi ist dies nur, weil es Verbrechen gab, nicht etwa, weil deren Auflösung zu irgendeinem Zeitpunkt spannend gewesen wäre. Der fade Nachgeschmack hat sicherlich aber auch mit der Inszenierung zu tun, die sich personell zu sehr auf den tadellos aufspielenden Bernd Rademacher verlässt. Auf eine ähnlich differenzierte Zeichnung des verbrecherischen Subunternehmers Akif Kral verzichtet sie jedoch leider. Hart und unnahbar gibt ihn Roland Bayer und blendet so die tragischen Dimensionen der Person weitgehend aus. Was wäre er geworden, wenn sich die Dinge normal entwickelt hätten, fragt Rabanta ihn bei einem ihrer Schnapstreffen. „Frauenarzt in Teheran“ antwortet Akif, und das scheint er ernst zu meinen. Doch dieser Wortwechsel bleibt ein textlicher Solitär.

Blutleerer Schlachthof

Eigentümlich wirkt das durchaus aufwendige Bühnenbild (Sascha Gross, auch Kostüme), das einerseits aus Rabantas etwas verwahrloster Junggesellenbehausung besteht, andererseits aber auch diverse elektrische Förderanlagen aufbietet. Sie werden nach vorne gezogen, prominent aufgestellt und in Gang gesetzt, wenn Fleischwerkszenen zur Vorführung gelangen. Sie bleiben im wörtlichen wie im übertragenen Sinne völlig blutleer, wirken zudem auch im Betrieb kaum bedrohlicher als eine Tiefkühltruhe, und man fragt sich nach dem Sinn des erheblichen technischen Aufwands.

Nicht zu sehen gab es an diesem Abend, was man nach Titel und Inhaltsankündigung auch hätte erwarten können: den empörten Aufschrei der Tierschützer, der Globalisierungsgegner, der Veganer, und man hat ihn auch nicht vermisst. Überhaupt hatten nicht sehr viele Menschen irgendwelche Erwartungen an dieses Stück. Die Zahl der leeren Plätze im Zuschauerraum war am Premierenabend beunruhigend hoch.




Sie geht, er geht auch: „Gift. Eine Ehegeschichte“ am Schauspielhaus Bochum

Irgendwann steht die Frau ganz alleine auf der Bühne der Bochumer Kammerspiele, der Theaternebel wabert langsam ins Publikum und mit ihm eine große Traurigkeit, während die Frau sich mit geschlossenen Augen dem Regen hingibt.

Die namenlose Frau (Bettina Engelhardt), die vor zehn Jahren erst ihr Kind, dann sich selbst und dann ihren Mann verlor, hat diesen gerade zum ersten Mal seit zehn Jahren wiedergesehen – auf dem Friedhof, auf dem das gemeinsame Kind liegt. Denn Jacob soll umgebettet werden: Der Boden des Friedhofs ist vergiftet. Die Frau fühlt sich nun bereit für die gemeinsame Trauerarbeit, die direkt nach dem tödlichen Unfall des Kindes unmöglich war. Doch ihr Ex-Mann (Dietmar Bär) fand eine andere Strategie der Bewältigung. Er, der sie nach dem Unglück verlassen hatte, hat sich „damit abgefunden, dass das Kind jeden Tag fehlt“, und ist nun dabei, eine neue Familie zu gründen.

Szene aus "Gift. Eine Ehegeschichte" mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Szene aus „Gift. Eine Ehegeschichte“ mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

„Gift. Eine Ehegeschichte“ heißt das Zweipersonen-Stück der holländischen Autorin Lot Vekemans, das am Samstag Premiere in Bochum hatte. Ein dichtes, intensives Konversationsstück, das davon erzählt, wie es sein kann, wenn ein Paar ein Kind verliert. 80 Prozent aller Ehen, heißt es, scheitern nach einer solchen privaten Katastrophe.

Ricarda Beilharz‘ Bühne spiegelt das Seelenleben der Eltern: Alle Erinnerungen und Spuren sind noch da, notdürftig verpackt und verhüllt. Weißer, fließender Stoff bedeckt Wände und Boden, Möbel und Kinderzimmerausstattung. Ein nur auf den ersten Blick leerer Raum, der auch an das Innere eines Sarges erinnert – und damit an die unendliche Einsamkeit der Trauernden.

Die Szene, in der sich der Nebel (das Gift?) verzieht und der Regen kommt, liegt genau in der Mitte des Stücks. Bislang war zu sehen, wie Mann und Frau die riesige emotionale und räumliche Distanz versuchen, in den Griff zu bekommen. Denn nicht nur der Friedhofsboden, auch die Atmosphäre ist vergiftet. Es dauert keine fünf Minuten, da verfallen die ehemaligen Partner in vertraute Mechanismen: „Ich rede von Jacobs Umbettung, du redest von den Kosten!“, wirft sie ihm vor. „Leiden macht süchtig, findest du nicht auch“, stichelt er. Die alten Psychospielchen. Er geht, er kommt zurück. Sie geht. Er geht auch.

Im Stücktext folgt dann eigentlich die Wende: Mann und Frau finden nach und nach im Gespräch wieder zu einer gemeinsamen Sprache, erinnern sich an die letzten Minuten mit ihrem Kind und schaffen es, ihre Geschichte nachträglich in Würde zu beenden.

Regisseurin Heike M. Götze hat sich etwas anderes ausgedacht. Bei ihr geht die Geschichte nach der Regen-Szene zunächst noch einmal von vorne los – allerdings mit vertauschten Rollen. Im zweiten Durchgang ist die Frau diejenige, die einen neuen Partner gefunden hat und schwanger ist. Der Mann ist zurück geblieben und hat sich in seiner Trauer eingerichtet. Das Publikum erlebt die gleichen Dialoge noch einmal – aus anderer Perspektive.

Damit rückt das Geschehen zwangsläufig ein Stück vom Zuschauer weg, der nun nicht mehr eine individuelle Geschichte sieht – sondern eine Studie zur Trauer- und Beziehungsarbeit. Götze nimmt dem Stück damit seine Wucht und Intensität. Der Erkenntnisgewinn bleibt dagegen gering und ein wenig im Vagen: Was soll das Experiment bedeuten? Dass Trauerstrategien nicht geschlechtsspezifisch sind? Dass Verständigung nur funktioniert, wenn man mal die Perspektive wechselt? Dass es keinen Unterschied macht, wie man nach so einem Ereignis weitermacht – Hauptsache man tut es?

Bettina Engelhardt und Dietmar Bär gehen ihre (wechselnden) Rollen sehr unterschiedlich an: Engelhardt macht sich komplett durchlässig, wirft sich mit voller Intensität in die Figuren und zeigt Aggression, Zynismus, Hysterie, dann wieder enorme Verletzlichkeit und tiefe, tiefe Trauer. Dietmar Bärs Spiel ist dagegen stark zurückgenommen, zeitweise wirkt er wie ein Stichwortgeber, dessen Sätze nur Reaktionen seiner Partnerin provozieren sollen. Körperliche Interaktion zwischen den Protagonisten findet kaum statt – ein heftiger, fast aggressiver Kuss – ansonsten halten beide die meiste Zeit über größtmöglichen Abstand. „Ich würde mich freuen, ab und zu von dir zu hören“, sagt am Ende die eine Figur. „Ich auch“, erwidert die andere – mehr Happy End kann man nicht erwarten.

Zu den Terminen, Karten unter 0234 / 33 33 55 55.

(Die Kritik erschien auch im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Peter Høegs „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ im Bochumer Schauspiel

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Was ist Zeit? Zeit ist zum Beispiel Rhythmus: Ein penetrantes Hämmern, ein ewiger Herzschlag. Wiederholung. Das kann beruhigen – oder in den Wahnsinn treiben. Eher letzteres ist der Fall in Peter Høegs Roman „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ – eine vor 20 Jahren erschienene Außenseiter-Geschichte des dänischen Autors, der zuvor mit „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ einen internationalen Bestseller geschrieben hatte.

Im „Theater Unten“ des Schauspielhauses Bochum feierte nun eine Bühnenversion der Romanvorlage Premiere (Bearbeitung: Christiane Pohle, Miriam Ehlers). Martina van Boxen richtete das Stück für vier Schauspieler und einen Musiker ein.

Nach einer unglücklich zusammengekürzten Hörspielfassung lautete die spannende Frage: Gelingt es, den Stoff zu visualisieren? Denn die Geschichte um drei Jugendliche, die an einer Privatschule in den 1970er Jahren Teil eines reformpädagogisches Experiments werden, ist nur der eine, vordergründige Teil des Romans. Auf einer anderen Ebene erzählt er von Zeit und davon, was sie mit den Menschen macht. Tatsächlich gelingt der Inszenierung, was dem Hörspiel nicht glückt: Zeit hör- und spürbar, sogar sichtbar zu machen.

Das Waisenkind Peter (Damir Avdic) lebt nach einer typischen Heimkarriere in Biehls Privatschule, ebenso wie Katharina (Jessica Maria Garbe). Beide leiden am streng reglementierten Alltag. Aus der totalen Unmündigkeit sehen sie nur einen Ausweg: Sie versuchen, die undurchschaubaren Strukturen und Gesetze der Erwachsenenwelt zu durchblicken, den „geheimen Plan“ zu verstehen.

„Wenn man leistet, was man leisten soll, hebt die Zeit einen empor. Man soll an die Zeit glauben“, vermutet Peter. Man kann Zeit manipulieren, glaubt Katharina. Dann kommt der psychisch kranke August (Matthias Eberle) an die Schule. Warum wurde er aufgenommen? Und wieso haben die Lehrer ihre eigenen Kinder von der Schule genommen? Nach und nach entdecken die drei: August hat seine Eltern getötet und ist an der Schule in Sicherheitsverwahrung. Alle Schüler sind Teil eines integrativen Schulexperiments. „Wir wollten allen Kindern das Licht zeigen“, rechtfertigt sich Schulleiter Biehl am Ende mit humanistischen Idealen. Doch das Dunkel lässt sich nicht so einfach abschaffen.

Erzählt, gedeutet und kommentiert wird die Handlung vom erwachsenen Peter (Michael Habelitz). Damit hat die Inszenierung wie der Roman drei Zeitebenen: Erzähl-Gegenwart, erzählte Gegenwart und erzählte Vergangenheit.

Die Schule – das Schulsystem – ist auf Michael Habelitz’ Bühne eine Landschaft aus miteinander verbundenen Holzgerüsten, die als Klassenzimmer, Bett, Büro dienen – karg, roh, lebensfeindlich. In der Mitte sitzt ein Musiker (Manuel Loos), der der Inszenierung mit Schlagwerk und Elektro-Sounds Takt und Rhythmus gibt. Ständig ertönt ein Gong, rennen die Schauspieler von links nach rechts, repetieren in abgehackten, synchronen Gesten die von Disziplin geprägten Abläufe des Tages: schreiben, lesen, sich melden, Kopf aufstützen, zusammenpacken, weiter geht’s. Die Lehrer, sogar die Schulpsychologin kommunizieren ausschließlich via Megaphon mit den Schülern. Der Stress der Kinder überträgt sich nahtlos aufs Publikum.

Erholsam sind lediglich die kleinen Fluchtpunkte außerhalb der Taktung, wenn sich Peter und Katharina hinausschleichen, um dem Geheimnis der Schule auf die Spur zu kommen. Am Ende, kurz vor der Katastrophe, die die drei für immer auseinanderreißt, kuscheln sie sich aneinander und bilden eine Ersatz-Familie. Ein herzzerreißendes Bild.

Nächste Termine hier

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm).




Tödliche Dreiecksbeziehung – „Einsame Menschen“ im Schauspielhaus Bochum

Man könnte sich in einer antiken Richtstätte wähnen. Gegenüber vom Saal ragen auf der Bühne weitere Zuschauerreihen auf, zwischen den Rängen befindet sich somit der Spielraum. In dessen Mittelpunkt wiederum dreht sich langsam eine Plattform mit fünf Stühlen, welche gemächlich von Schauspielern eingenommen werden, während seinerseits das Publikum seine Plätze einnimmt.

Man erkennt: Was immer in den nächsten zwei Stunden auf dieser Bühne geschehen wird, ist gründlichster allseitiger Betrachtung preisgegeben. Gespielt wird im Bochumer Schauspielhaus Gerhart Hauptmanns Stück „Einsame Menschen“ – genauer: das, was Regisseur Roger Vontobel daraus gemacht hat.

„Einsame Menschen“, uraufgeführt 1891 in Berlin, zählt zu den weniger bekannten Stücken Hauptmanns, behandelt aber doch einen durchaus aktuellen Konflikt. Johannes Vockerat, Wissenschaftler und Freigeist, empfindet wachsendes Unwohlsein in seiner engen, kleinbürgerlichen Existenz, in der Mutter und Vater (Katharina Linder und Michael Schütz), vor allem jedoch Gattin Käthe (Jana Schulz) nebst Nachwuchs seinem intellektuellen Streben enge Grenzen setzen.

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Junges Ehepaar, unglücklich: Jana Schulz und Paul Herwig als Johannes und Käthe Vockerat (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Als Anna Mahr, eigentlich eine Bekannte des Hausfreundes Braun (Felix Rech), die Szene betritt, ist Vockerat von ihrer Weltläufigkeit und ihrer Bildung geblendet. Er will sie binden, eine Art Dreiecksbeziehung schaffen mit der Intellektuellen hier und der jungen, schlichten Mutter dort, was erwartungsgemäß nicht funktioniert.

Käthe, eh noch geschwächt von der Niederkunft, kränkelt bald schon besorgniserregend, und die Leute reden. Ein väterliches Machtwort macht dem Unbotmäßigen ein Ende. Vockerat erträgt das nicht und erschießt sich – und Schluss.

Nun gut. Väterliche Machtworte sind etwas aus der Mode gekommen, doch ersetzte man sie durch ein zeitgemäßes Treuegebot für den jungen Familienvater Vockerat, so genügten die Postulate in „Einsame Menschen“ durchaus dem aktuellen Moralkodex. Seiner jungen Frau und dem gemeinsamen Kind untreu werden, das gehört sich auch heutzutage nicht. Trotzdem passiert es natürlich immer wieder, und die nächstliegende Frage für eine Inszenierung wäre doch, warum. Was macht Anna Mahr – nicht zufällig wohl klingt der Name ein wenig nach Nachtmahr – so attraktiv, was vor allem aber geht in Johannes Vockerat vor, der blind für die Kränkung seiner Frau ist und tatsächlich zu glauben scheint, die Nähe zu Anna Mahr werde völlig platonisch bleiben? Wirklich nichts Sexuelles?

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Ensemble am Klavier (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Das Desinteresse, das Roger Vontobels Inszenierung solchen zentralen Fragen entgegenbringt, ist, zurückhaltend ausgedrückt, bemerkenswert. Es bleibt auch unverständlich, warum Vontobel die Gelegenheit nicht nutzt, Anna Mahrs Attraktivität herauszuarbeiten. Therese Dörr muss in ihrer Rolle blass und wenig eindrucksvoll agieren und wirkt deshalb nicht eben wie eine Idealbesetzung.

Hingegen liegt das große Interesse der Inszenierung anscheinend darauf, das fragwürdige Glück in familiärer Enge plakativ zu machen. Dazu müssen Lieder herhalten, kirchliche zumal, doch auch Reinhard Meys etwas angekitschtes „Apfelbäumchen“ gelangt wiederholt zum Vortrag. Und weil vor Spielbeginn Notenblätter an das Publikum verteilt wurden, darf es sogar mitsingen.

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Dreiecksbeziehung, von links: Anna Mahr (Therese Dörr), Johannes Vockerat (Paul Herwig), Käthe Vockerat (Jana Schulz) (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Nötig für das Stückverständnis wäre all das sicherlich nicht, doch verhilft es der Veranstaltung zu Beginn vor allem zu einigen schönen Musiknummern. Der Sänger Tomas Möwes, ein drahtiger Mann im dunklen Anzug, der äußerlich wirkt wie vom Männergesangsverein abgeworben, hat einige großartige Auftritte und entwickelt sich zügig zum heimlichen Star des Abends. Zu preisen ist auch Cellist Matthias Herrmann, wenngleich aufs Ganze gesehen vielleicht etwas viel Musik im Stück ist. Mitunter verschlechterte sie (trotz Microports) das Verständnis des reichhaltigen Textes, der zudem oft etwas lieblos dargeboten wird.

Andererseits nötigt es einem Bewunderung ab, wie das gerade einmal sechsköpfige Ensemble gegen diesen brutalen, inszenatorische Konzentration konsequent verweigernden Bühnenraum erfolgreich anspielt. Vor allem den Darstellern galt daher der anhaltende, freundliche Schlussapplaus.

Termine: 16.11. (17 Uhr), 20.12. (19 Uhr), 28.12. (17 Uhr).
Karten Tel. 0234 / 3333 5555




Reales Drama: „Die Kinder von Opel“ am Schauspielhaus Bochum

OpoelEnde des Jahres schließt das Opel-Werk in Bochum für immer. Der Automobilhersteller kam Anfang der 1960er Jahre und läutete den Strukturwandel ein: Die ersten Zechen in Bochum hatten damals längst dicht gemacht, Opel war der Hoffnungsträger. Sein Ende hinterlässt ein Trauma.

Das Schauspiel Bochum, traditionell stark verwurzelt im Alltagsleben der Stadt, leistet schon seit einem Jahr kreative Traumatherapie mit seinem „Detroit-Projekt“. Einen Abschluss-Beitrag lieferte nun die Künstlergruppe „kainkollektiv“: Im Theater unter Tage, der kleinsten Spielstätte des Schauspielhauses, hatte „Die Kinder von Opel“ Premiere.

„kainkollektiv“, das sind Mirjam Schmuck und Fabian Lettow. Konzept, Regie und Text stammen von ihnen, und sie benötigen für ihren Abend keinen einzigen professionellen Schauspieler. Mit Mitteln des Theaters, der Performance, der Recherche holen sie das reale Drama auf die Bühne – und lassen keine „Typen“ zu Wort kommen – sondern echte Menschen. Den Großteil des 75-minütigen Abends verbringen die Zuschauer damit, sich die acht Stationen der Bühne zu erlaufen, in denen diese „Kinder von Opel“ ihre Geschichten erzählen.

Da ist die 12-Jährige, deren Opa Opelaner war. Sie sagt, dass sie sich einen Park auf der freiwerdenden Industriefläche wünscht, und dass sie den Anblick der schmutzigen Arbeiter beim Essen im Schnellrestaurant manchmal auch etwas ekelig fand.

Da ist der gelernte Zerspanungsmechaniker, der noch immer bei Opel am Band arbeitet. Im Live-Interview erzählt er, was in seinem Zwei-Minuten-Takt alles zu tun ist, berichtet von der Isolierung im Kotflügel, von Leitungen und Schläuchen, die im Motorraum verbunden werden müssen, von der Gasleitung im hinteren Radkasten rechts. Er braucht länger als zwei Minuten, um seine Arbeit zu beschreiben.

Da ist die Osteopathin, die die körperlichen und emotionalen Blockaden der Opelaner behandelt, und der Mann, der in Herne mit Leidenschaft ein Opel-Museum führt.

Eingebunden sind ihre Geschichten in eine aus dem Off gesprochene Erzählung, die Illustratorin Julia Zejn mit animierten, an die Wand projizierten Zeichnungen lebendig werden lässt: Kurz vor Ende der letzten Schicht ist das Opel-Werk einfach aus „Botown“ verschwunden. „Es war unser Werk, also haben wir es eingepackt und mitgenommen“, heißt es am Ende – „unsere eigene Transfergesellschaft“. Wieder aufgebaut wurde es bei General Motors im Zentrum von „Motown“ (Detroit), also „dort, wo es herkommt“.

Dass diese Verbindung einzelner Erzählungen kein ganz rundes Bild ergeben – geschenkt. Der Abend leistet einiges, bietet unbekannte Perspektiven auf ein zuende gehendes Stück Industriegeschichte, holt einmal mehr die Stadt ins Theater und bringt das Theater in die Stadt. Er bespielt eine künftige Leerstelle, und er holt ein Thema ganz nah heran, das für einen Gutteil des Theaterpublikums sonst ziemlich weit weg ist.

Die nächsten Termine stehen hier.




Die Leiden des Unternehmers: Peter Handke in Bochum

Foto: Pinetzki

Foto: Pinetzki

„Egal was du machst – mach das einzig Wahre“, spricht Unternehmer Hermann Quitt resigniert und bleibt einfach sitzen, während die Drehbühne ihn weiter und wegdreht. Mit diesem Werbespruch einer Brauerei endet in Bochum Peter Handkes „Die Unvernünftigen sterben aus“.

Wäre es nach Handke gegangen, hätte Protagonist Quitt den Abend nicht überlebt – im Original schlägt Quitt seinen Kopf so lange gegen einen Fels, bis er reglos liegen bleibt. Das Überleben aber, soviel wird klar, ist für den erfolgreichen, aber an sich selbst scheiternden Unternehmer nicht unbedingt die gnädigere Variante.

Vor zwölf Jahren stand Handkes Stück über den unglücklichen Kapitalisten Quitt zum letzten Mal auf dem Bochumer Spielplan, damals in einer Inszenierung des Publikumsschrecks Jürgen Kruse. Der junge Regisseur Alexander Riemenschneider (Jahrgang 1981), der die Premiere in den Kammerspielen verantwortete, verstörte mit seiner Inszenierung wohl niemanden mehr.

Unternehmer Quitt (Matthias Redlhammer) steht bei ihm am Rande des Burnouts. Er verabredet mit seinen Mitbewerbern ein Kartell, hält sich jedoch an keine Absprache und ruiniert seine Geschäftspartner. Antrieb ist jedoch weder Gier noch Bosheit: Quitt scheint sich mit seinem Handeln selbst strafen zu wollen. Voller Ekel liefert er sich den Regeln des Kapitalismus bis zum bitteren Ende aus. Handelt er nun vernünftig oder unvernünftig, indem er sich der Logik des ökonomischen Systems konsequent unterwirft? Klar ist nur: Auf die Vernunft berufen sie sich alle in diesem Stück.

„Die Unvernünftigen sterben aus“ ist eigentlich ein (Geschäfts-)Beziehungsdrama, das Psychogramm einer Gesellschaftsschicht, in der Menschen immer nur Mittel zum Zweck sind. Da ist Diener Hans (Roland Riebeling mit blasiertem Blick), der als Quitts Sparringpartner bezahlt wird. Da sind die Unternehmerfreunde (Bernd Rademacher, Nils Kreutinger, Kristina Peters) und der Unternehmenspriester (Marco Massafra), denen es weder mit erotischen noch mit rhetorischen Manipulationen glückt, Quitt wieder auf Spur zu bringen. „Du ruinierst unseren Ruf, weil du dich genauso gebärdest, wie sich Otto Normalverbraucher einen Unternehmer vorstellt“, appellieren sie verzweifelt.

Und da ist ihr Widersacher, Kleinaktionär Kilb. Daniel Stock gibt ihn als dynamischen Systemkritiker, der mit seinem Engagement ständig mit voller Wucht ins Leere läuft. Mit großen Augen steht er wie ein Maskottchen stets am Rande des Geschehens, darf alles mithören und sehen – in der sicheren Gewissheit der Unternehmer, dass er eh nichts ausrichten können wird.

Geschäftliches und Privates sind hier untrennbar miteinander verzahnt; das zieht sich bis in Bühne und Kostüme fort: Quitt trägt Strickjacke zu Anzug und Krawatte (Kostüme: Lili Wanner), und die Drehbühne besteht aus zwei exakt gleichen Zimmern, die in ihrer modernen Gesichtslosigkeit gleichermaßen Vorstandsbüro und Wohnzimmer sein könnten (Bühne: David Hohmann).

Dann und wann geistert Quitts Frau (Judith van der Werff) durch die Zimmer und spielt die Rolle, die Handke ihr in diesem Drama zugedacht hat: keine, abgesehen vom Plappern, Kichern, Posieren.

In dieser durchökonomisierten Welt, in der Migranten „unsere Importe aus südlichen Ländern“ heißen und  Werbung als Lebenshilfe durchgeht, erinnern nur mehr kleine, Tic-artige Ausbrüche und Verrücktheiten daran, dass hinter diesen Unternehmerfiguren Individuen, Menschen stecken. Quitt zumindest scheitert daran, sich zu befreien. Desillusioniert erkennt er: Selbst wenn er es denn täte, das „einzig Wahre“ – dann folgte er doch nur wieder den Regeln der Ökonomie. Es gibt eben kein wahres Leben im falschen. Was daraus folgt, bleibt auch bei Riemenschneider offen.

 Weitere Termine

(Der Text entstand für den Westfälischen Anzeiger, Hamm)




„Bochum“ in Bochum – ein wehmütiges Singspiel mit Liedern von Herbert Grönemeyer

BochumTief im Wehesten, wo die Sonne verstaubt„…gibt es Theateraufführungen, die sind noch viel besser, als man glaubt. Die Rede ist von „Bochum“ in Bochum, genauer gesagt im Schauspielhaus Bochum.

Das Bochumer Ensemble belebt seit einiger Zeit mit großen Erfolg das Genre Singspiel neu. Die Qualität der „Tribute to Johnny Cash„-Inszenierungen hat sich mittlerweile revierweit herumgesprochen, die Inszenierung „Heimat ist auch keine Lösung“ riss das Publikum im letzten Jahr zu Begeisterungsstürmen hin und rührte nicht nur mich zu Tränen.

Seit der Spielzeit 2013/2014 zeigt das Haus nun „Bochum“, ein Singspiel von Lutz Hübner mit Liedern von Herbert Grönemeyer. „Bochum“ ist weit mehr als eine Würdigung des berühmten Sohnes der Stadt, „Bochum“ ist auch eine Reminiszenz an die Vergangenheit der Stadt, ein wehmütiger Rückblick, ein Abschied. Abschied von „diesem Handy-Hersteller, dessen Namen nicht genannt werden darf„, von „diesem Auto-Hersteller, dessen Name bald nicht mehr genannt werden darf„, wohl auch der Abschied vom „Pulsschlag aus Stahl“. Was der Stadt nebem dem Namen der Currywurst, „der nicht genannt werden braucht, weil ihn ohnehin jeder kennt“ bleibt, ist ungewiss. „Bochum“ zeigt nur den Abschied, keine Lösung, keinen Ausblick, nur die Wehmut, keinen Protest. Den findet man dann wohl eher im ambitionierten Detroit-Projekt.

Im Theaterstück selbst ist es der Abschied von einer Eckkneipe. Die Band spielt ein letztes Lied. Lotte, die gute Seele der Kneipe, räumt die letzten Gläser zusammen, das Bierfass ist leer. Im Morgengrauen werden die Abrissbagger anrücken. Roger, Ralf, Peter und Sandra sind Stammgäste, seit sie vor fast 30 Jahren nach ihrer Abiturfeier mehr oder weniger zufällig in dieser Kneipe versackten. Unglücklich versuchen sie, den Moment des Abschieds noch hinaus zu zögern. Lotte spendiert ihnen schließlich die letzten Schnäpskes, für jedes Jahr einen.

Und so trinken sie „auf die alten Zeiten. (Denn worauf sonst sollte man in Bochum trinken können?)“. Der Alkohol entfaltet den „Fallschirm in der Not„, die Vier und Lotte beschwören Erinnerungen herauf, alte Träume, aber auch alte Gespenster. Worte alleine reichen nicht, ihre Gefühlslage zu beschreiben und so wird „das alte Liedgut“ rausgekramt und inbrünstig gesungen. Vom Mensch(en), vom Vollmond, von der Zeit, als sich was drehte, von Männern, von Flugzeugen im Bauch und natürlich von Bochum.

Die musikalische Leitung liegt wie oft in Bochum bei Torsten Kindermann, somit quasi beim legitimen Nachfolger Grönemeyers. Im Zusammenspiel mit der an jedem denkbaren Instrument versierten Band wirken die Lieder überraschend und eigenwillig arrangiert. Aber wenn man sich auf die ungewohnten Arrangements einlässt, sind sie großartig. Das Stück „Bochum“ als Ballade funktioniert wunderbar – wer hätte das gedacht? Ausgefallene Percussion, gelegentlicher A-cappella-Gesang – man entdeckt die altvertrauten Stücke neu, plötzlich findet man sogar an Liedern, die man nie mochte, großen Gefallen.

Regisseurin Barbara Hauck inszeniert behutsam, an keiner Stelle überfrachtet oder kitschig, den Schauspielern viel Raum lassend. Lächelnd entdeckt man kleine Würdigungen des dramaturgischen Aufbaus eines Grönemeyer-Konzerts – das Steiger-Lied vor „Bochum“, als letztes Lied „Halt mich“. Und wie so oft in Bochum möchte man die großartigen Schauspieler gar nicht mehr von der Bühne lassen. An und für sich möchte man gar keinen hervorheben aus dieser Riege, aber ich bin jedes Mal wieder begeistert von der Bühnenpräsenz des Michael Schütz und meine persönliche „Entdeckung“ des Abends war Günter Alt. Selten hat eine Bühnenfigur so viel Sympathie ausgelöst.

Verdiente standing ovations gab es nach der Aufführung, die Künstler revanchierten sich gerne. Unter anderem „Bochum“ gab es nochmal, diesmal als gewohnte rockige Version, die Zuschauer mitklatschend und singend. Es mag Einbildung gewesen sein, aber nach den jüngsten verbalen Entgleisungen des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt, hörte sich das gemeinsam gegröhlte „Wer wohnt schon in Düsseldorf“ noch einen Tick inniger und trotziger an als sonst.

Drei Zugaben und ungezählte Vorhänge später findet man sich wieder, draußen vor der Tür und kann Lotte nur zustimmen: „Realität ist nur die kleine häßliche Schwester der Kunst„. Aber wenigstens wissen wir jetzt, was Glückauf auf englisch heisst: Luck up. Gesprochen, Lack ab. Das mag im Moment (noch) für Teile des Reviers gelten, für das Schauspielhaus Bochum auf gar keinen Fall.

„Bochum“ wird auch in der Spielzeit 2014/2015 noch auf dem Spielplan stehen. Termine und Informationen auf der Homepage des Schauspielhauses Bochum.




Uraufführung in Bochum: Aus der neuen Arbeitswelt

Es ist die vielleicht banalste und zugleich wichtigste Frage: Wie soll ich leben? Banal, weil man das doch eigentlich wissen sollte. Und wichtig, weil es viele Menschen gibt, die sich diese Frage niemals stellen. Laura Naumann hat ein Stück über die Suche nach Antworten geschrieben. „Raus aus dem Swimmingpool, rein in mein Haifischbecken“ erlebte nun im „Theater Unten“ am Bochumer Schauspielhaus seine Uraufführung – es geht um Menschen, die suchen und um solche, die noch nicht wissen, dass sie auf der Suche sind.

Die junge Autorin, Förderpreisträgerin und Absolventin eines Studiengangs für kreatives Schreiben, mixt in ihrem fünften Stück Dialoge voller Schärfe und pointierten Spitzen mit Erzähl-Passagen, in denen die Figuren ihr Erleben aus der Ich-Perspektive schildern. Das gibt dem Stück Witz und Tiefe zugleich. Die temporeiche Inszenierung von Malte C. Lachmann wurde dem Text vollauf gerecht.

Auf der Bühne prallen Lebensentwürfe aufeinander, dass es funkt: Moana (Sarah Grunert) hat gerade ihren stressigen Job als Unternehmensberaterin begonnen und will alles richtig machen, um im Team für Paris zu landen: „Ich weiß, ich tauge zur Leadership.“ Ihre Mutter Christiane (Nicola Thomas) möchte auch alles richtig machen – allerdings nicht im Hinblick auf ihre Karriere als Nachrichtensprecherin, sondern auf eine bessere Welt. Dank der Nachrichten, die sie liest, könnten sich die Menschen schließlich ein Bild von der Welt machen und entsprechend handeln. Nur: Warum bleibt trotzdem immer alles beim Alten?

Höchst unterhaltsam streiten sich Mutter und Tochter um die Zukunft des Planeten, das richtige Business-Kostüm und die Badewasser-Temperatur. Moanas Freund, der Flugbegleiter Boris (Matthias Eberle), schneit zwischen seinen Flügen herein und vermittelt – er selbst ist familiär belastet und führt ein Leben wie auf der Flucht.

Unweigerlich steuert die Konstellation auf eine Katastrophe zu: Mutter und Tochter katapultieren sich selbst mehr oder weniger unbewusst aus der Bahn. Moana bricht sich bei einem Verkehrsunfall beide Arme, und ihre Mutter beschimpft das Nachrichten-Publikum live als passiv und verantwortungslos: „Ich werde Ihnen diese Scheiße nicht mehr vorlesen.“

Mit diesem Wendepunkt tritt Nikita (Torsten Flassig) in das Leben der drei. Nikita hat Moana beim Verkehrsunfall gerettet und zieht vorübergehend bei den Frauen ein. Ob Nikita Mann ist oder Frau, ob er oder sie einen Beruf hat, Familie oder einen Plan fürs Leben – nichts von alledem bekommen sie aus Nikita heraus. Nikita will sich nicht festlegen, sondern lebt vollkommen im Hier und Jetzt. Mit buddhahafter Gleichmütigkeit ist er einfach nur präsent – und schon projizieren die drei bedürftigen Mitbewohner ihre Sehnsüchte auf ihn.

Als Nikita plötzlich wieder verschwindet, wird allen dreien die große Leere in ihrem Leben erst richtig bewusst.

Im Gedächtnis bleibt unter anderem Moanas Monolog eines Anti-Gutmenschen: Boshaft engagiert, gänzlich unironisch und dabei sehr traurig erklärt Sarah Grunert als Moana, wie geil sie es findet, wenn auf Flügen viel CO2 in die Luft geblasen wird. Wie sie ohne schlechtes Gewissen Plastikflaschen ins Meer wirft. „Mir ist vor allem wichtig, möglichst viel kaputt zu machen“, sagt sie.

Man mag das Stück als Kommentar auf die moderne Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf den Menschen von der Anlage her etwas platt finden – es funktioniert jedoch allemal, es unterhält, und es führt unweigerlich zu der Frage: Wo stehen wir eigentlich selbst?

Nächste Termine hier

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(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger)




Othello im globalen Krieg: Premiere am Bochumer Schauspielhaus

v.l. Jago (Felix Rech) und Othello (Matthias Redlhammer). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

v.l. Jago (Felix Rech) und Othello (Matthias Redlhammer). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

„Vergesst Romeo & Julia, das neue Traumpaar heißt Othello & Desdemona“, der Popsong auf der Bühne des Schauspielhaus Bochum macht sogleich klar, dass man es mit einer typischen Inszenierung von David Bösch zu tun hat.

Doch die Othello-Light-Version funktioniert gut, denn aus heiterem Liebesgeplänkel wird schnell Ernst. Jagos Intrige und die zunehmende Verrohung durch immer beiläufigeres Morden verleiht dem Stück Tiefenschärfe und zieht die Zuschauer in Bann.

Bösch und sein Bühnenbildner Falko Herold haben die Handlung in einer Art zerschossener Fabrikhalle angesiedelt. Ein Kriegsschauplatz irgendwo in der Welt, den General Othello befehligt und wohin ihm sowohl sein militärischer Stab als auch seine geliebte Desdemona folgen. Ausstaffiert in Backpacker-Outfit (Friederike Becht als Desdemona) bzw. Cocktailkleidchen (Xenia Snagowski als Emilia, Jagos Frau) finden sich die Familienangehörigen in der Fremde wieder und zeigen die Attitüde von Amerikanerinnen, die es in irgendeine Bananenrepublik verschlagen hat – Balkan? Vietnam? Irak? Zumindest die Jukebox spielt heimatliche Klänge und die Hochzeit wird mit viel buntem Konfetti gefeiert.

Doch der Honeymoon währt kurz, denn Jagos Intrige vergiftet die Atmosphäre, in seinem Netz verfangen sich nach und nach alle. Desdemona untreu? Es ist nichts daran und doch scheinen die Beweise sie zu überführen. Felix Rech gibt den Jago als gefühlskalten Machtmenschen, für den Töten eine alltägliche Angelegenheit bedeutet, die nebenbei erledigt wird. Obwohl es ihm natürlich lieber ist, wenn andere dabei Hand anlegen und er sie nur anstiftet. Nach so einer Exekution macht er sich erst mal in aller Ruhe ein Bier auf. Irgendetwas hat das Kriegshandwerk wohl mit ihm angerichtet, so dass er zur Empathie nicht fähig ist. Oder liegt es ihm deswegen, weil Mitleid ihm nicht im Wege steht? Eine Folterszene, in der Leutnant Cassio (Florian Lange) mit der Plastiktüte über dem Kopf geschlagen und gedemütigt wird, erinnert stark an die Bilder aus dem Abu Ghraib-Gefängnis und an den Folterskandal der US-Armee im Irak.

Othellos Hochzeit mit Desdemona (Friederike Becht). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Othellos Hochzeit mit Desdemona (Friederike Becht). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Doch auch Matthias Redlhammer als Othello, der von seiner militärischen Mission aus einigermaßen edlen Motiven überzeugt ist, wird zum Berserker: Zwar hat Jagos Lüge ihn vergiftet und die Eifersucht lässt ihn rasen, doch ist auch bei ihm der Firnis der Zivilisation dünn. Er mordet im Rausch der Leidenschaft, vielleicht weil er an zivile Gesetze nicht mehr gewöhnt ist. So exekutiert er die eigene Frau, Desdemona, die er doch über alles liebt. Ein Mann des Kriegsrechts, der mit Streitigkeiten im Frieden gar nicht adäquat umgehen kann.

Diese Lesart verleiht dem ansonsten kurzweilig dargebotenen Shakespeareschen Drama, das wie immer auch witzige Szenen kennt, eine gesellschaftliche Reflexionsebene. „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt“, der Satz von Napoleon Bonaparte trifft hier auf erschreckende Weise zu.

Karten und Termine:
www.schauspielhausbochum.de




[FI’LO:TAS] leidet im Bochumer Schauspielhaus

Ein Mensch hockt bewegungslos auf der Bühne, schreibt dann mit den Händen hektisch Zeichen in den Sand, verwischt sie wieder, erstarrt. Er wechselt die Position, seine Handlungen wiederholen sich. Schon diese ersten Minuten in Roger Vontobels Einpersonenstück „Filotas“ im Kleinen Haus des Bochumer Schauspiels lassen erkennen, dass dies ein Gefangener ist, gefangen von Feinden ebenso wie in zwanghaften Vorstellungswelten, deren Sinnlosigkeit er ahnt und erleidet, ohne sie jedoch überwinden zu können.

Foto: Jana Schulz als gequälte Kreatur in Roger Vontobels Lessing-Adaption "Filotas". (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Foto: Jana Schulz als gequälte Kreatur in Roger Vontobels Lessing-Adaption „Filotas“. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Der Mensch ist die Schauspielerin Jana Schulz, das Stück die Bochumer Wieder-Inszenierung jener Arbeit, mit der der junge Schweizer Regisseur Roger Vontobel (Jahrgang 1977) im Jahr 2002, damals in Hamburg noch, unter Verwendung von Motiven aus Gotthold Ephraim Lessings Drama „Philotas“ seine Karriere begann. Den Stücktitel schreibt das Theater in einer Art Lautschrift: „[FI’LO:TAS]“, was möglicherweise den Charakter der Interpretation betonen soll.

Lessing erzählt in seinem Stück die Geschichte des Königssohnes Philotas, der sich in der Kriegsgefangenschaft entleibt, um nicht vom gegnerischen König Aridäus als Druckmittel gegen den eigenen Vater eingesetzt werden zu können. Im Sterben erst muss er erkennen, dass die Tat sinnlos ist, weil, kurz gesagt, auf gegnerischer Seite ebenso viel Heldentum zu finden ist, sich kriegerisches Töten und Sterben zum Nullsummenspiel verrechnen. Eine klare, friedliche Botschaft, wie vom großen Menschenfreund Lessing nicht anders zu erwarten.

Das tragische antike Geschehen nun, so ist allerdings eher im Programmheft zu lesen als auf der Bühne wahrzunehmen, verbindet Vontobel mit der Geschichte des jungen US-Amerikaners John Walker Lindh, der in Afghanistan auf Seiten der Taliban kämpfte und 2001 20-jährig in Kriegsgefangenschaft geriet. Bei den jungen Männern, so die These, gibt es Parallelen.

Der Menschen auf der Bühne ist sicherlich eher gefangener Taliban als Königssohn. Lessing kommt nur mit wenigen Sätzen ins Spiel, die angesichts der starken Erregung des Helden ebenso auch persönliche Beruhigungsmantras sein könnten, seelische Positionierungsversuche im traumatischen Geschehen. Das zwanghafte Memorieren diverser Zahnbürstengrößen aus vergangenen amerikanischen Jugendzeiten verfolgt den selben Zweck.

Satzfragmente sind zu vernehmen, Wörter wie König, Vater und Sohn, die an ein ödipales Problem denken lassen, ohne dass dies indes Kontur gewönne. Das Spiel mit einem Stuhl, dessen Beine zum Schwert werden, nimmt breiten Raum ein. Doch alles in allem geschieht wenig. Zu sehen sind 55 Minuten im Leben eines Gefangenen, der mit seiner Situation überfordert ist und am Ende gar noch – piff! – eine Sprengladung zündet. Möglich, dass der „amerikanische Taliban“ Lindh irgendwie ein Seelenverwandter des Königssohns Philotas ist, zumindest jugendliche Radikalität mag beiden eigen sein.

Doch damit hat es schon sein Bewenden. Keine radikalisierenden Ohnmachtserfahrungen deuten sich an, keine psychischen Krisen in früheren Zeiten und auch nichts anderes aus dem Bereich Motivforschung. Man wundert sich, wie wenig Energie dieses Bühnenprodukt für ein intellektuelles Durchdringen des vermeintlich Ungeheuerlichen aufwendet. Hätte es sich nicht aufgedrängt, jetzt, in der Bochumer Neuauflage nach immerhin zehn Jahren, etwas mehr in die Tiefe zu gehen? Doch nach wie vor herrscht dort, wo es wirklich spannend werden könnte, geradezu unverständliche Gleichgültigkeit.

Wenn diese Momentaufnahme aus einem Kriegsgefangenenlager unbefriedigend bleibt, ist das sicherlich nicht der Schauspielerin Jana Schulz (Jahrgang 1977) anzulasten. Sie, die diese Rolle vor über 10 Jahren auch in Hamburg spielte, formt den Titelhelden mit androgyner Kreatürlichkeit berührend aus, verkörpert seine existentiellen Dimensionen überzeugend. Ihr galt in Bochum der größte Applaus.

 

Nächster Termin: 15. Januar. Karten Tel.: 0234 / 33 33 55 55 

tickets@schauspielhausbochum.de

 




Dem Himmel ganz nah: Martin Heckmanns` „Es wird einmal“ in Bochum uraufgeführt

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Wer sich schon einmal an einem Theater beworben hat, fühlt sich sofort erinnert: Kurze Begrüßung durch eine hektische Assistentin, dann stundenlanges Warten in der Kantine. Danach eine Referentin knapp vor dem Burn-Out, die einem das gleiche Schicksal in Aussicht stellt, falls „Er“ sich für einen entscheiden sollte.

Dann wieder Kantine, drei Cola, erster Weißwein, weiter warten, Schauspieler in Maske kommen rein, Vorstellung fängt gleich an. Chefdramaturgin: „Er“ sei manchmal sehr schwierig, ob man da gute Nerven habe? „Er“ wolle einen vielleicht später noch kennenlernen, ob man nochmal kurz in der Kantine? Zweiter Weißwein, dritter Weißwein, Anruf: Heute werde es leider nichts mehr mit „Ihm“, vielleicht morgen…Schauspieler kommen rein, Vorstellung ist aus, Absacker, Vorhang.

Nein, die Szene stammt nicht aus Martin Heckmanns neuem Stück „Es wird einmal“, das jetzt am Bochumer Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Sie ist selbst erlebt, doch das Anfangsszenario auf der Bühne ist ähnlich und die Satire geht in die gleiche Richtung: Zwei Schauspieler haben eine Einladung zum Vorsprechen bei „Obermann“ bekommen und begegnen sich auf einer leeren Probebühne. Sie treffen die namenlose Hospitantin (Kristina Peters), sie werden kujoniert von einer übermotivierten Assistentin (Minna Wündrich), sie treten in Konkurrenz mit einer Schauspiel-Kollegin (Therese Dörr) und verlieben sich in sie, sie zeigen viel Seele und geben alles: Doch „Obermann“ treffen sie nie.

Das ist fein und böse beobachtet, sprachlich brillant und doch erschöpft sich Heckmanns Text in der Inszenierung des Bochumer Intendanten Anselm Weber keineswegs in einer Satire über den Theaterbetrieb. Denn „Es wird einmal“ ist zugleich eine moderne Fassung des „Jedermann“. Die Bewerbung um eine unbekannte Rolle in einem unbekannten Stück ist zugleich eine Allegorie auf das Leben. Der Text muss erst noch geschrieben werden, die Konsequenzen des Handelns sind nicht immer klar.

Gott, falls es ihn gibt, lässt sich nicht blicken, nur manchmal hat man das Gefühl, er schaue von oben zu – wie Obermann. „Zufall ist das Pseudonym Gottes, wenn er nicht unterschreiben will“, heißt das in der Sprache Heckmanns und die namenlose Hospitantin schlüpft mit umgeschnallten Engelsflügelchen in die Rolle des Zufalls. Ansonsten sind sie und die intendantenhörige Assistentin Dora als balletttanzende Skelette zu sehen, ein Memento Mori für den älteren Schauspieler Hermann Schwinder (Günter Alt) und den Jüngeren Martin Neumann (Matthias Kelle), der sich mit der Rolle des Jedermann noch nicht anfreunden kann.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Denn eigentlich schimpft Neumann/Jedermann sich Performancekünstler und als solcher möchte er dem Theater wieder gesellschaftliche Bedeutung verleihen: „Wir thematisieren den Raum und die Institutionen, die Abhängigkeitsverhältnisse, in denen wir uns bewegen, auch wenn wir uns jetzt hier bewerben, um Anerkennung von Unbekannten.“ Statt dessen wird er als nackter Mann über die Bühne gejagt (was Matthias Kelle so großartig verletzlich absolviert, dass man fast Mitleid mit ihm hat) und bekommt am Schluss eine Plastiktüte von Sinn&Leffers als Unterhose verpasst.

„Das Problem mit nackten Männerkörpern auf der Bühne ist allerdings, dass sich die Aufmerksamkeit des Betrachters meist auf einen Punkt fokussiert“, dichtet Heckmanns und der Punkt geht an ihn, denn der Satz hat nichts Banales, entlarvt er doch die Blickrichtung der Zuschauer in den letzten zehn Minuten. Ein Beweis dafür, dass „Es wird einmal“ klug und vielschichtig gebaut ist und mit Leichtigkeit zwischen den letzten und den oberflächlichsten Dingen oszilliert.

Es entsteht tatsächlich ein „kleines Bochumer Welttheater“, das die Figuren mit existenziellen Fragen von Leben und Tod konfrontiert. Es entlarvt die theaterbetriebseigene Hybris, die Bühne für das Leben zu nehmen und bekräftigt sie zugleich. Denn was sind wir sonst, als Spieler auf einer Lebensbühne? Die nicht wissen, wann und wie sie abtreten müssen? Die nicht wissen, ob ihnen die große Liebe bevorsteht oder die große Verletzung? Die nicht merken, ob Ihnen jemand zusieht oder ob das eigene Schicksal Leuten wie „Obermann“ nicht völlig gleichgültig ist. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ – das gewichtige Luther-Zitat fungiert als Motto, aber drückt das Dramolett nicht nieder; es verleiht ihm eine Tiefendimension und lässt Raum für Ironie. Denn auf dem Theater sollte man das Leben leicht nehmen, sonst kann man nicht mitspielen.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Unbedingt lobenswert daher die Schauspieler: Günter Alt gibt den älteren Mimen koboldhaft und traurig zugleich. Er hat viel gesehen, viel ertragen und er braucht verdammt nochmal diesen Job. Bei Obermann spielte er auch den dritten Engel von links oder Helmut Kohl, egal. Er muckt nicht mal auf, als am Ende offen bleibt, ob er jetzt stirbt oder engagiert wird – aber vielleicht kommt das ja auch auf dasselbe raus. Minna Wündrich spielt die Assistentin Dora so zickenhaft-intellektuell-überheblich, dass es eine wahre Freude ist und ihre Neigung zum Sadismus gegenüber der namenlosen Hospitantin, die in einer Ohrfeige mündet, wurde auch schon öfter am Stadttheater beobachtet. Kristina Peters wiederrum verleiht diesem bedauernswerten Geschöpf eine charmante Note und viel Spielwitz. Naiv und poetisch legt Therese Dörr die Sophie Sikora an, eine Darstellerin aus der Fußgängerzone, die natürlich auch zaubern kann. Der verkopfte Neumann, gespielt von Matthias Kelle, zeigt zum Schluss Herz und ansonsten nackte Haut (s.o.). Und der Regisseur? Schwierig, jetzt so einen „Obermann“ zu loben, nur soviel: Er vertraut auf dezente Weise dem Text und stülpt ihm nicht allzu viel über, was der Sache gut tut.

Zuletzt eine Frage an den Ausstatter Hermann Feuchter: Das Bühnenbild ist dem „Meeting“–Room des Land-Art Künstlers-James Turrell nachempfunden, zu sehen im MoMA PS1 in Brooklyn, NYC. An den Wänden des leeren Raums verläuft eine durchgehende Sitzbank, durch ein rechteckiges Loch in der Decke kann man den freien Himmel sehen. Fast eine halbe Stunde saß ich letzten Sommer dort und ruhte meine Füße aus, es war sehr friedlich. In Bochum ist dieses Loch allerdings rund und der Himmel eine Projektion. Also doch alles nur Illusion im Theater? Warum nicht gleich die Decke der Kammerspiele durchstoßen und dem Himmel ein wenig näher kommen? Doch was sollen die doofen Fragen, meint Heckmanns: „Kann das Theater nicht einmal aufhören Fragen zu stellen und stattdessen eine Antwort geben?“

Infos und Karten:
www.schauspielhausbochum.de