Operetten-Passagen (10): Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“ in Mainz als überdrehtes Spiel zwischen Sein und Schein

Hohe und höchste Herrschaften, und dazu ein Quartett, das "Pam-pam-pam" singt. In Paul Abrahams "Märchen im Grand-Hotel" ist auch höherer Blödsinn angesagt. Foto: Andreas Etter

Hohe und höchste Herrschaften, doch auf der Stiege wird „Pam-pam-pam“ gesungen. In Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“ ist auch höherer Blödsinn angesagt. (Foto: Andreas Etter)

Mainz war schnell: Kaum hatte Paul Abrahams 1934 entstandene Operette „Märchen im Grand-Hotel“ an der Komischen Oper Berlin ihre semi-konzertante deutsche Erstaufführung erlebt, war das Staatstheater am Start: Kein Jahr später rauscht jetzt der einstige Erfolg, der wegen brauner Verunklarung in Deutschland und ab 1938 auch in Österreich und der Tschechoslowakei nicht mehr gezeigt werden durfte, erstmals in Deutschland voll szenisch ausgearbeitet über die Mainzer Bühne.

Es bestätigt sich, was sich in Berlin schon abgezeichnet hatte: Operette braucht die Illusionsmaschine prallen Theaters, um ihre volle Wirkung zu entfalten.

Damit Satirisches wie Sentimentales auch sitzt, hat Mainz das Team Peter Jordan und Leonhard Koppelmann verpflichtet, zwei Routiniers des Komödienfachs, die bereits Ralph Benatzkys „Weißes Rössl“ präsentiert hatten. Sie füttern die Dialoge der Operettenspezialisten Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda mit aktuellen Bonmots auf, ohne dem Text zu viel Gewalt anzutun, blasen das Stück aber auf über drei Stunden Dauer auf – zu viele Spielflussbremser für die Story der Romanzen, die eine hochadlige spanische Infantin und einen tolpatschigen Kellner, einen Wiener Prinzen und eine amerikanische Filmmogultochter zusammenbringen.

Eine Überdosis an Gags und Grimassen

Zumal sich Jordan/Koppelmann nicht auf die Kardinaltugend aller Regisseure im komischen Fach besinnen wollen: Weniger ist mehr, und wenn die Slapstick-Effekte, die gedrechselt überdrehten Bewegungen, Gesten und Grimassen, die running gags und Kalauer, die affektiert ausgestellten Emotionen und die völlig ausgerasteten Dialoge überhand nehmen, stumpfen sie das Interesse ab, werden langatmig und lassen die Charaktere statt witzig oder grotesk nur unglaubwürdig und nervig werden. Die Menge macht das Gift, und das Regieteam füttert das Publikum mit einer so gut gemeinten Überdosierung, dass die genussreiche Digestion durch erhebliches Grimmen des Lachzentrums ersetzt wird.

„Pam-pam-pam“ singt das Männerquartett

Alles Projektion, alles Staffage? "Märchen im Grand-Hotel" am Staatstheater Mainz. Foto: Andreas Etter

Alles Projektion, alles Staffage? „Märchen im Grand-Hotel“ am Staatstheater Mainz. (Foto: Andreas Etter)

Dabei ist die Grundidee durchaus gelungen: Die Bühne von Christoph Schubiger zeigt zunächst einen gesichtslosen Aufbau, der erst durch Projektionen (Stefan Bischoff) zum Schauplatz wird: ein luxuriöses Büro, nostalgische Reiseplakate, durch naive Tricks filmisch belebt, oder eine mondäne Hotelhalle.

Doch die virtuellen Realitäten setzen sich in den Raum der Bühne fort: Das elegante Treppenhaus materialisiert sich als bespielbare Stiege, auf dem ein Vokalquartett á la Comedian Harmonists als running gag immer wieder Melodien mit „Pam-pam-pam“ wie Loriots Männerchor-Männchen vorträgt. Und auf dem Plüsch der Möblierung lässt sich Platz nehmen, wenn sie wie die Ausstattung im Fernsehstudio mitsamt den Darstellern hereingerollt wird.

Das Leben – ein Traum, die Geschichte – eine Illusion, die Gefühle – bloße Projektion. Die Ebene der vermittelten Realität, eine romantische und eine moderne Metapher, funktioniert bestens. Der Film, damals die neueste mediale Illusionsfabrik, und das Hotel, der magische Brennpunkt eines von den einen erträumten, von den anderen in weltfernem Luxus verbrachten Daseins, gehen eine komplexe Symbiose ein. Von Anfang an wird klargemacht, was Paul Abrahams Operette erst am Ende enthüllt: Es geht um einen Film, dessen Vorspann schon die erste Szene auf der Bühne begleitet.

Zwischen realer Fiktion und gemachter Realität

Was geschickt in der Schwebe bleibt, ist die Frage, wie weit uns „Universal Star Pictures“ in allem, was wir sehen, nur eine synthetische Realität vorspielt. Und inwieweit die Menschen auf der Bühne sich selber verkörpern oder nur sich selber spielen. Die Ambivalenz einer als real empfundenen Fiktion und einer ins „Gemachte“ abgleitenden Realität funktioniert und lässt Abrahams Operette in einer Zeit, in der eine hochtechnisierte Brille reicht, um in eine nahezu perfekte künstliche Welt abzudriften, erstaunlich aktuell werden.

Barbara Aigners Kostüme spiegeln die luxuriöse Vergnügungswelt der dreißiger Jahre, aber auch den leicht angestaubten Glanz vergangener Monarchien. Sie setzt die Übertreibung so dezent ein, dass sie witzig, aber nicht aufdringlich wirkt, etwa, wenn die Gefolgsleute des gnadenlos brüllenden und greinenden Filmproduzenten Sam Makintosh (Murat Yeginer) von John-Lennon-Pilzkopf und Brille bis zum übergewichtigen, rothaarigen irischen Einwanderer oder den Spießer im Karo-Pullover auf anglo-amerikanische Typen anspielen. Die adligen Herrschaften sind so glanzvoll gekleidet, die Pracht wird so hemmungslos ausgestellt, dass die Eleganz zur Staffage abgleitet und amüsanten Effekt bereitet.

Die Regie unterstützt diesen Zug ins Groteske und veralbert die Operetten-Sentimentalitäten ums blaue Blut gründlich als Teil einer umfassenden Illusions-Fabrik. Jennifer Panara hat bei ihrem Auftritt als Infantin den besten Moment, wenn sie gesteht, sie wäre so gerne Königin auf einem gold’nen Thron, lässt aber hinter der Fassade der distinguierten Dame durchscheinen, dass sie auch gerne einmal so richtig ausgelassen sein möchte. Michael Dahmen kann – im Gegensatz zu Max Hopp an der Komischen Oper – tenoral schmachten, leiden und locken. Sein Tangolied „Die schönste Rose und ein Herz voller Liebe“ balanciert genau auf der Trennlinie triefenden Sentiments und ironischer Süffisanz. Stimmlich präsent und als Darsteller ein herrlicher Filou: Johannes Mayer als Prinz Andreas Stephan mit weichem österreichischem Akzent.

Ein Film – vom richtigen Leben gekurbelt

Die Marylou Nini Stadlmanns, die sich selbstbewusst „ihren Film vom richtigen Leben kurbeln lassen“ will, setzt flinke Stepschritte, lange Beine, goldene Locken und einen roten Kussmund ein, um Männer mit solchen primären Locksignalen genau dahin zu manövrieren, wo sie sie haben will. Während sie – ohne Opernstimme – besser verstärkt wird, sind die Mikroports bei anderen Darstellern lästige Stimmvergrößerer – eine Mode, die sich in der Operette leider immer mehr durchsetzt. Dass Artikulation, Verständlichkeit und stimmlicher Schliff damit nicht gehobener werden, zeigt Anika Baumann als grotesk überdrehte Gräfin Ramirez: eine potenzierte „komische Alte“. Auch von ihrem pseudospanischen Geschnatter gilt: Maßvoll wäre es genussreicher goutierbar. Lorenz Klee, der voluminöse, goldbetresste Großfürst, und Henner Momann, mal tattriger Haudegen, mal Zofe en travestie, wirken vor allem durch ihre Erscheinung.

Samuel Hogarth garantiert am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz und als Barpianist auf der Bühne für einen stilistisch sorgfältig erarbeiteten Zugriff auf Paul Abrahams mitreißende Musik.  Zwar zündet keiner der Schlager beim ersten Hören, aber beim zweiten Mal gehen die Melodien ins Ohr und zu Herzen. Der rhythmische Reiz der Modetänze lässt nicht kalt – ob mit Bravour quick gestept wird oder beim Tango die falsche Träne glitzert. Wie Hogarth die Farben der Instrumente ausbalanciert, wie er Details – wie die nach Original-Vorbild mit selbstgebauten Megaphonen verstärkten Klarinetten – hervorhebt, wie er die Melodien phrasiert und das Metrum pointiert gestaltet, zeigt treffsicheren Geschmack.

Ähnlich wie mit Abrahams anderer Hotel-Operette „Ball im Savoy“ könnte auch mit dieser Entdeckung ein Märchen wahr werden – das einer Renaissance eines köstlich-frechen Stücks Musiktheater aus einer bis heute aufwühlenden Zeit des 20. Jahrhunderts.

Nächste Aufführungen: 31. Dezember 2018 – 4. und 26. Januar 2019 – 14. und 16. Februar 2019. Weitere Infos: http://www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/oper18-19/grand-hotel




Heilige oder Rächerin: Elisabeth Stöpplers „Norma“ aus Gelsenkirchen nun in Mainz

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Ein aussichtsloser Konflikt, von Anfang an. Noch ist alles in der Schwebe, zu Beginn der Oper „Norma“ von Vincenzo Bellini. Der Status Quo ist prekär, aber gefestigt. Die zur Keuschheit verpflichtete Priesterin der Gallier kann seit Jahren ihre beiden Kinder verbergen. Und ihre Liebe zum Feind ebenso, denn der Vater ist kein anderer als der römische Prokonsul Pollione, der die verhassten Besatzer anführt. Noch kann Norma den bewaffneten Konflikt verhindern, aber dann eröffnet ihr die junge Novizin Adalgisa eine schockierende Erkenntnis …

Bellinis Oper hat in den letzten zehn Jahren eine bemerkenswerte Wiederkehr auf deutschen Bühnen erlebt. Ausweglos gefangen zwischen den Erwartungen und Tabus einer nach Kampf und Krieg gierenden archaischen Gesellschaft und der gescheiterten Liebe zu einem Mann, der ihr Volk unterdrückt, hat Norma mehr zu bieten als den Selbstzweck ebenmäßiger Legati und perfekt geformter Koloraturen.

Die Nähe dieser zerrissenen Frau zur gedemütigten Kindsmörderin Medea ist oft beobachtet worden. Wohin sich Norma wendet, ob sie kompromisslose Rächerin oder heroisches Opfer wird, bleibt bis zum letzten Moment offen. Und dazwischen liegen zwei Stunden eines inneren Konflikts, der in seiner ganzen Unerbittlichkeit und Ratlosigkeit von der Musik und der Dichtung Felice Romanis in wichtigen psychologischen Facetten ausgebreitet wird.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben in ihrer legendären Stuttgarter Inszenierung 2002 in erschütternden, schlüssigen Bildern Bellinis Oper endgültig aus dem Mief plüschiger Historisierung befreit, ohne ihr eine zwanghafte Aktualisierung aufzudrücken. Das hatte Jorge Lavelli schon 1983 in Bonn vor, ist aber mit Mara Zampieri als Revoluzzerin auf einem Lastwagen längst nicht so gut gefahren.

An Rhein und Ruhr gab es in den letzten Jahren mehr (Dortmund, Bonn) oder weniger (Düsseldorf) überzeugende Versuche, sich Bellinis nach eigenem Bekunden bester Oper zu nähern. In der letzten Spielzeit hat sich dann Elisabeth Stöppler in Gelsenkirchen in Hermann Feuchters abstraktem Bühnenraum ganz auf die Personen fokussieret. Norma ist das Kraftzentrum, um das sich alle drehen.

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Jetzt hatte die Produktion am Staatstheater Mainz Premiere, wo Stöppler als Hausregisseurin Stil und Spielplan prägen kann – und das nicht zum Nachteil eines in dieser Spielzeit besonders vielfältigen Angebots. Noch stärker als im Musiktheater im Revier konzentriert sie sich auf die Beziehungen der Personen, schwächt Nebenwege wie eine angedeutete homoerotische Verbindung zwischen Pollione und seinem Offizier Flavio ab, arbeitet vor allem Normas Schwanken zwischen impulsiver Liebe zu ihren Kindern und kalkulierender Berechnung ihrer Rache deutlich heraus. Geblieben sind die von Flavio (wie in Gelsenkirchen: Lars-Oliver Rühl) hervorragend rezitierten, den Gang des Stücks zerreißenden Texte von Pier Paolo Pasolini: bewusst gelegte Stolpersteine, die aber eher stören als vertiefen. Geblieben sind auch szenische Symbole wie das nackte Opfer, das am Anfang schon die Sichel am Hals spürt, dann aber von Norma erlöst wird. Ein anrührendes Bild vom Verletzlichkeit und Ausgesetztsein.

Dass in Norma am Ende die Menschlichkeit siegt, wird nicht heroisiert, sondern wirkt fast, als sei ihre Kraft letztendlich erschöpft. Zu Beginn die Hohepriesterin in nachtblauem, langem Kleid, zeigt das Kostüm (Nicole Pleuler, sonst mit nicht immer glücklicher Hand) Normas Wandel zur Kämpferin und schließlich zum idealisierten Opfer. Nicht Norma selbst stilisiert sich dazu: Statt auf dem Scheiterhaufen zu sterben, wird sie von der Gesellschaft im weißen Ornat einer Heiligen erhoben.

Nadja Stefanoff, die Mainzer Norma, spielt mit hoheitsvoll schlanker Gestalt die Facetten der Rolle aus – mit erheblichem Stimm-, aber auch Körper-Einsatz: von der selbstbewussten Priesterin bis zur gebrochenen Frau, von der wild entschlossenen Rache bis zum selbstzerstörerischen Aufgeben. Musikalisch beglaubigt Stefanoff ihre Rolle weniger durch flexibel-weichen Schöngesang, sondern eher durch einen kalt glänzenden, ausdrucksstarken, dynamisch facettenreichen Ton, der auf seelische Schwankungen reaktionsschnell eingeht und sie – technisch abgesichert – im Klang vernehmbar macht. Eine Norma, die man so schnell nicht vergisst.

Die Adalgisa der Marie-Christine Haase hat gegen so viel Dominanz keine Chance. Stimmlich ist sie der Partie – die der kritischen Rekonstruktion der Urfassung gemäß einen leichten Sopran vorsieht – vollkommen gewachsen. Aber die Regie Elisabeth Stöpplers gesteht ihr wenig eigenes Gewicht zu, trotz der wundervollen Duette der beiden Frauen. Die Nebenrolle der Clothilde, der eingeweihten Dienerin Normas, ist in ihr aufgegangen – das lässt den Aspekt der Freundschaft zu Norma hervortreten. Auch Oroveso, der Vater Normas, hat wenig eigenständiges Gewicht; Dong.Won Seo mit einer rauen, dem Ideal des „basso cantante“ nicht eben gewogenen Stimme, ist nicht der Sänger, der die Figur aus sich heraus wachsen ließe.

Bleibt Pollione, der Urheber des Konflikts: Joska Lehtinen gibt ihm den eindimensionalen, leicht gaumig gefärbten Ton, der einem auf den ersten Blick ziemlich einfältigem Macho angemessen ist. Auf den zweiten Blick hätte man sich für die gespenstische Traumschilderung von „Meco all’altar di Venere“ mehr Farbe, für den verhärteten Trotz des Finales mehr Furor gewünscht. Was von diesem Mann zu halten ist, macht Stöppler am Ende deutlich: Er stiehlt sich einfach davon.

Sebastian Hernandez-Laverny hat mit dem Chor des Staatstheaters eine gewaltige Aufgabe achtbar gemeistert, auch wenn die Stimmgruppen Mühe haben, sich zu koordinieren, wenn die Sänger über die ganze Breite der Bühne hoch oben auf einer Brüstung stehen müssen. Das Philharmonische Staatsorchester offenbart wenig Schwächen, aber auch wenig Subtilität im Ton. Clemens Schuldt dirigiert wie viele andere eine rasche Ouvertüre und differenziert die Tempi nicht, wodurch der gerade Takt Bellinis in die Nähe eben jener „Leierkastenmusik“ rückt, die der italienischen Oper der Zeit gerne unterstellt wurde.

Wenn Schuldt die Sänger zu begleiten hat, lässt er das Orchester immer wieder zu laut spielen, lässt sich aber auf den Atem der „melodie lunghe“ ein, phrasiert sinnig und arbeitet vor allem die instrumentalen Details heraus, die in der kritischen Fassung für farbige Nuancen sorgen. Dass die Tutti arg knallig wirken, ist nicht nötig; das Martialische stellt Bellini nur im berühmten „Guerra“-Chor aus. Elisabeth Stöppler ist in Mainz eine starke Antwort auf die ambitionierte „Norma“ von Gabriele Rech am anderen Ufer des Rheins, in Wiesbaden (2015), gelungen.

In dieser Spielzeit hat Bellinis „Norma“ noch in Essen (8. Oktober) und in Nürnberg (13. Mai 201) Premiere. Weitere Vorstellungen in Mainz am 1. und 9.Oktober, 1., 17. und 20. November.

Info: www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/oper1617/norma