Namen über Namen: Michael Krügers „Verabredung mit Dichtern“

Eines gleich vorweg: Der Lebensleistung von Michael Krüger, dem langjährigen Leiter des Münchner Hanser-Verlags und – keinesfalls nur nebenbei – Schriftsteller, gebührt unbedingt großer Respekt, ja Bewunderung. Kaum einer neben und nach dem Suhrkamp-Doyen Siegfried Ungeld hat dermaßen viel für die Literatur seit den mittleren 1960er Jahren bewirkt. Umso mehr Aufschlüsse erwartet man von Krügers Buch „Verabredung mit Dichtern“, das im Untertitel „Erinnerungen und Begegnungen“ verheißt.

Der Band umfasst immerhin 447 Seiten, lässt also eigentlich Raum für Gründlichkeit. Doch, ach! Satt dessen wird man geradezu erdrückt von lauter Namedropping. Wenn Krüger erst einmal in Fahrt geraten ist, vergisst er (obwohl er mehrmals auf sein schwaches Gedächtnis verweist) offenbar gar keine Begegnung mit höchstkarätigen Literaten und sonstigen Künstlern aus Musik, Bildnerei, Film und Theater zu erwähnen. Nur leider erschöpfen sich seine Aufzählungen eben oftmals darin. Häufig driften sie ins bloß Anekdotische oder schlimmstenfalls ins Prätentiöse ab.

Worüber hat er mit Susan Sontag gesprochen?

Nur ein Beispiel von Hunderten: Da lässt uns Krüger wissen, er habe mit der legendären Susan Sonntag (eine von relativ wenigen Frauen als Protagonistinnen im Buch, viele andere haben lediglich Kurzauftritte als kluge Partnerinnen berühmter Schriftsteller) in der ebenso legendären Berliner „Paris Bar“ gesessen. Was sie dort geredet haben, bleibt freilich im Verborgenen. Es hätte sehr interessant sein können – wie so vieles andere. Ist es Diskretion, Notizen-Chaos, Erinnerungsverlust oder Unlust, die uns so manches vorenthält?

Offenbar hat niemand bei Suhrkamp einem wie Michael Krüger dreinzureden gewagt. Seine Einleitung folgt etwa dem Motto „Kinder, wenn ich wollte, könnte ich ungeheuer viel erzählen.“ Doch dafür, so Krüger in majestätischer Bescheidenheit, sei er gar nicht so recht begabt. Dann legt er allerdings los…

Bloß niemanden verprellen!

Nach einem längeren Exkurs zu seiner Berliner Nachkriegsjugend wendet sich der 1943 geborene, schwer an Leukämie erkrankte Krüger (der am 9. Dezember 80 Jahre alt geworden ist) seinen verlegerischen Anfängen zu. Zunächst absolvierte er eine Art Praktikum in London, dann ging’s alsbald zu Hanser in München – in einer enorm spannenden Zeit des politischen und literarischen Aufbruchs, in der freilich die Literatur zu Krügers Leidwesen von vielen Leuten totgesagt und der Politik untergeordnet wurde.

Bis hierhin wird das Geschehen noch ziemlich plastisch wiedergegeben, Krügers Stil wirkt zunächst angenehm entschlackt. Doch dann hat er immer mehr, wenn nicht nahezu alle damaligen und späteren Berühmtheiten des Literaturbetriebs kennen gelernt. Deshalb gerät er nun immer öfter in Versuchung, Namenslisten aufzustellen und abzuarbeiten, ja durchzuhecheln. Bloß niemanden durch Nichtnennung verprellen!

Einer, der zu rühmen weiß

Da könnte man wirklich neidisch werden: Wen er gekannt hat! Bei wem er eingeladen war oder ein und aus ging. Mit wem er nach eigenem Bekunden befreundet war. Wo und bei wem er genächtigt hat und an traumschönen Orten dieser Welt Wochen oder Monate verbringen durfte! Stets in ungemein anregendem, hochgeistigem Ambiente, versteht sich. Überdies in einer Ära, in der das Verlagswesen noch nicht so durchkommerzialisiert war…

Michael Krüger ist einer, der vor allem zu rühmen weiß. Auch scheut er das zwischenzeitlich in der Literaturwissenschaft verpönte, recht weihevolle Wort „Dichter“ nicht. Die allermeisten, die er erwähnt, waren oder sind demnach ungemein polyglott und haben die Inhalte abertausender Bücher in ihren Köpfen. Nie versäumt es Krüger, geradezu unfassbare geistige Kräfte seiner Freunde zu schildern. Wie Koketterie mutet es an, wenn er immer mal wieder betont, wie wenig fähig und berühmt er selbst im Vergleich sei (Zitat, anlässlich einer Tagung: „…außer mir alles berühmte Namen, die zu dem Thema wichtige Gedanken liefern konnten“). Sollte das etwa Fishing for compliments sein?

Warum denn kein Personenregister?

Die lange Liste der Namen füllt sich zunächst mit einem Aufenthalt in der römischen Villa Massimo, der sich als ausschweifender persönlicher Streifzug durch die italienische Gegenwartsliteratur und darüber hinaus erweist. Weitere Kapitel heißen z. B. „Meine schwedischen Freunde“, „Meine israelischen Dichter“, „The Boys und einige andere“ (USA), „Meine holländischen Dichter“ und „Meine polnischen Freunde“. Wohlgemerkt: Meine…

Da gibt es Abschnitte, in denen sich weltweit geschätzte Autoren wie Derek Walcott,  Joseph Brodsky, Seamus Heaney und Philip Roth gleichsam die Klinke in die Hand geben oder gleich mit Krüger beieinander sitzen. Da wohnt er in London beim ruhmreichen Pianisten Alfred Brendel, um Julian Barnes zu treffen, wobei auch… Halt! Wir wollen hier nicht die schier endlosen Namenslisten der Kulturgrößen nachbeten. Es fragt sich jedoch, warum gerade ein solcher Band völlig ohne Personenregister auskommt. Die ganze Herangehensweise ruft doch nach abschließender alphabetischer Sortierung und Überblick. Auch hätte man sich ein paar prägnante Abbildungen mehr gewünscht.

Manches bleibt noch zu tun

Dass Krüger ein Verleger war, der sich für „seine“ Autorinnen und Autoren eingesetzt und sie – bei fachlicher Kritik im Detail – grundsätzlich „beschützt“ hat, ahnt man gleichwohl in vielen Passagen dieses Buches. Dass er außerdem über weitaus subtilere Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, als er sie hier über weite Strecken erkennen lässt, zeigen eingestreute Auszüge aus seinen Gedichten und etliche Zitate aus Nachrufen und Preisreden, die er auf Schriftsteller gehalten hat. Apropos: Im obligatorischen Frack hat er die eine oder andere Nobelpreisverleihung erlebt. Hingegen schreibt er mit einer Regung zwischen Scham und Stolz, über Jahrzehnte keinen kompletten Anzug getragen zu haben.

In einer knappen Nachbemerkung entschuldigt sich Michael Krüger, einige Literatur-Nationalitäten diesmal noch nicht berücksichtigt zu haben. Er nennt mal eben pauschal: Frankreich, Spanien, Portugal, das Baltikum, Russland, die Ukraine, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, die Türkei, Japan, China – und last, but not least: all die „deutschen Dichter, mit denen ich mein Leben verbracht habe (…) Es bleibt also noch etwas zu tun.“

Michael Krüger: „Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen“. Suhrkamp, 447 Seiten, 30 Euro.

 

 




Was vor sich geht und wie – Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“

Misslicher Vorfall mit Nachwirkung: Inmitten der Lektüre diesen grandiosen Sammelbandes bin ich erkrankt und habe wochenlang unterbrechen müssen. Ich will das alles nachholen, Stück für Stück. Das ist ja immerhin das Gute daran: Das (Wieder)-Lesen liegt größtenteils noch voraus.

Wir haben hier nichts weniger als ein Lebenswerk in seinem stetigen Fortgang, ein wahres Monument, das freilich keines sein will. Es ragt aus den Zeiten von unvergesslichen Autoren wie Nicolas Born und Rolf Dieter Brinkmann, angloamerikanischern Anregern (W. C. Williams u. a.) oder auch bildenden Künstlern wie Wolf Vostell zu uns herüber, in all seiner Fragmentierung und all seinem angewachsenen  Zusammenhang. Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“ zählen unbedingt zu den Hauptwerken der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Man möchte geradezu hymnisch werden, doch käme kritiklose Verehrung so gar nicht mit diesen Sprachkunstwerken überein.

Spuren und Fährten finden

Der in jeglichem Sinne umfassende Band enthält sämtliche Gedichtzyklen Jürgen Beckers (geboren am 10. Juli 1932), die seit „Schnee“ (1971) und „Das Ende der Landschaftsmalerei“ (1974) entstanden sind. Das Ganze reicht bis zu „Graugänse über Toronto“ (2017) und „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ (2022). Mit Nachwort, erläuternden Texten und diversen Verzeichnissen bringt es das Buch auf 1120 Seiten. Weiter und weiter lesend, kann man sich bald nicht mehr vorstellen, dass auch nur ein einziges Gedicht weniger bedeutsam sei und fehlen dürfe. Jedes gehört hinein, jedes hat seinen Platz. Gar vieles baut aufeinander auf. Was allerdings nicht heißen soll, dass man schon „verstanden“ oder gar durchdrungen hätte. Wie denn auch? Aber man spürt wohl, sofern empfänglich, die errungene Würde des Werks in jeder Faser. Auch wird man immer mehr Spuren und Fährten finden.

Diesen oft genug weit ausgreifenden, mäandernden, dennoch vorsichtig-demutsvoll sich fortsetzenden Sprachschöpfungen ist der Gestus des abgeklärten Feststellens ebenso eigen, wie sie schier Ungreifbares und Flüchtiges dennoch menschenmöglich registrieren. Auch stellt sich solcherlei  Dialektik ein: Das „Private“ scheint durchs wechselhafte Weltgeschehen hindurch, welches wiederum durchs Private blinzelt. Atemberaubend etwa, wie der langjährige Rundfunkredakteur Jürgen Becker (u. a. Leiter der Hörspielabteilung beim Deutschlandfunk) den Nachrichtenstoff mit dem beruflichen Alltag verwebt („Zum Programmschluß die Nationalhymne“). Dabei hat er doch noch die besseren Zeiten des Mediums erlebt…

Vor- und rückwärts durch die Zeit

Beckers Gedichte schließen vieles auf, weit übers wortwörtlich Gesagte hinaus. Lakonische, oft melancholische Sätze in bieg- und schmiegsamer Sprache. Was Sprache überhaupt vermag – und was nicht. Der Moment und die Geschichten, denen stets zu misstrauen ist. Das Unwiederbringliche. Zeitschichten. Sich verändernde Orte und Landschaften. Nüchterne Selbstzitate. Zeile für Zeile einzig, mit größter Sorgfalt herausgearbeitet. Genau hier und genau dies. Immer wieder zeitlich eingefrorene Inbilder wie „Sommer in den Fünfzigern“ oder „Sommer, siebziger Jahre“. Insgesamt das große Journal, die Chronik der laufenden Ereignisse; all die Inventuren, auf dass nichts verloren gehe. Die Anrufung der einfachen Dinge (oft wiederkehrende Signaturen: Pappeln, Forsythien, aber auch anschwellende Verkehrsströme und Klimaanlagen). Leise und doch mit großem Atem verzeichnete Stimmungslagen der ganzen Gesellschaft, Klima-Verläufe in jeder Hinsicht.

Kurzum: ein Buch für Lieblingsplätze in den heimischen Regalen; eines, dessen Fluss man sich getrost  anvertrauen kann.

Jürgen Becker: „Gesammelte Gedichte“. Mit Bildern und Collagen von Rango Bohne und Fotos von Boris Becker (Sohn von Jürgen Becker). Mit einem Nachwort von Marion Poschmann. Suhrkamp Verlag. 1120 Seiten. 78 Euro.

 




Feiertagskinder, der Norden und literarische Hasstiraden – drei Neuerscheinungen von Gewicht

Im Vorfeld der Buchmesse stellen wir drei empfehlenswerte Neuerscheinungen vor:

Man mag Eduard von Keyserling (1855-1918) einsortieren, wie man will: generell als modernen Klassiker, schon etwas spezieller als einen „Impressionisten“ der deutschsprachigen Literatur, persönlich als prägenden Protagonisten der Schwabinger Bohème um 1900 – und was dergleichen Schubladen mehr sind. In Wahrheit überragt er solche Zuschreibungen bei weitem. Dass wir so einen hatten in unserer Literatur, ist ein Glücksfall.

Und so ist es durchaus erfreulich, dass sein Werk jetzt wieder präsent ist, weil der Manesse Verlag die „Schwabinger Ausgabe“ seiner Werke herausbringt; allerdings nicht im sonst verlagsüblichen, handlichen Kleinformat, das von der Inhaltsfülle gesprengt worden wäre.

Mit dem Titel „Landpartie“ über den gesammelten Erzählungen (Zeitrahmen von 1882 bis 1918) bewegt man sich verbal in den Gefilden jener Landlust, wie sie seit Jahren zum Zeitgeist gehört. Eduard von Keyserling hat mit derlei Moden natürlich nichts gemein. Möge der leise Anklang seinem Schaffen nur mehr Leser(innen) zuführen.

Jetzt ist der zweite Band der Ausgabe erschienen, er heißt „Feiertagskinder“ und enthält die späten Romane des Schriftstellers: das hier bereits ausführlicher besprochene Werk „Wellen“ (1911), außerdem „Abendliche Häuser“ (1914), „Fürstinnen“ (1916) und eben „Feiertagskinder“ (posthum 1919); jeder einzelne ein Meisterstück für sich.

Es ist ein Buch von einigem Gewicht und doch im Fortgang von wundervoller Leichtigkeit. Welch eine erlesene Noblesse und Eleganz im Stil, die ungeahnte Nuancen erfasst! Zu gewärtigen ist der wehmütige, freilich mit feinfühliger Distanz gestaltete Abschied von überkommenen Sitten und Werten Europas. Es ist große Literatur einer Dekadenz-Epoche, die im furchtbaren Ersten Weltkrieg mündete. Sage bloß niemand, das alles gehe uns nicht mehr viel an.

Am Schluss des Bandes finden sich – hinter den hilfreichen Anmerkungen – noch ein paar Keyserling-Würdigungen berufener Zeitgenossen, so etwa von Lion Feuchtwanger und Thomas Mann. Letzterer benennt die literarischen „Verwandten“ Keyserlings: allen voran Fontane, sodann Turgenjew und Herman Bang. Wahrlich eine würdige Reihe. Und was schrieb der wunderbare Robert Walser über Keyserling? Diese Zeilen: „Er kam mir vor wie das Prachtexemplar eines Löwen… Der Löwe ist doch König in seinem Reich. Ein aussterbender König. Ein solcher war auch Eduard von Keyserling.“

Eduard von Keyserling: „Feiertagskinder“. Späte Romane (Hrsg.: Horst Lauinger). 720 Seiten, 28 Euro.

_______________________________________

Gleich eine ganze Himmelsrichtung hat sich Bernd Brunner vorgenommen. Sein neues Buch „Die Erfindung des Nordens“ firmiert laut Untertitel als „Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung“. Gut möglich, aber nicht wesentlich, dass Brunner beim Verfassen eines früheren Buches („Als die Winter noch Winter waren“) auf die nördliche Idee verfallen ist.

Der Autor beleuchtet das Thema von allen Seiten her. Da kommt etwa der Norden als Phantom früherer Zeiten in Betracht, als die Erde noch nicht „entschleiert“ war und jene Terra incognita dort droben mancherlei Phantasien beflügelte. Es geht um Grundsatzfragen wie die, was und wo überhaupt der Norden sei. Für Goethe hat er bereits nördlich des Brenners begonnen, andere siedeln ihn viel näher am Nordpol an. Die geistigen und geographischen Grenzen sind allemal fließend.

Ferner erfahren wir, wie sich die Idee vom Norden u. a. in Opposition zu den Vorstellungen vom Süden konstituiert und entwickelt hat. Selbstverständlich spielt auch die fatale Ideologie vom „Nordischen“ eine Rolle, die von den Nazis auf die Spitze getrieben wurde. Und schließlich reicht das Spektrum bis hin zum herzzerreißend aufrüttelnden Klimawandel-Inbild aus unseren Tagen: dem Eisbären auf schmelzender Scholle.

Eine Charakteristik der im Norden lebenden Menschen gehört überdies ebenso zum üppigen Lieferumfang wie die Ansichten von Philosophen und Schriftstellern, die sich zum Norden geäußert haben.

Ein äußerst weites Feld also – und ein kundiger Autor mit weitem Horizont, der ähnlich spannende Bücher schreibt wie einst der Historiker Wolfgang Schivelbusch, der beispielsweise bahnbrechende Studien zur Geschichte der Eisenbahnreise, der künstlichen Helligkeit und der Genussmittel verfasst hat.

„Die Erfindung des Nordens“. Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung. Verlag Galiani Berlin. 240 Seiten mit Bildteil. 24 Euro.

_______________________________________

Karl Heinz Bohrer dürfte einer der profiliertesten Intellektuellen der Republik sein. Wenn sich dieser Homme de Lettres ein Thema vornimmt, gewinnt es sozusagen wie von selbst Dringlichkeit und Dignität. Sein jüngstes Werk heißt „Mit Dolchen sprechen“ und handelt vom literarischen Hass-Effekt. Der Dolch-Titel leitet sich übrigens von einer Szene in Shakespeares „Hamlet“ her.

In Zeiten des allgegenwärtigen Hate Speech – nicht nur, aber besonders im Internet – kann Bohrers Untersuchung erst recht Aufmerksamkeit beanspruchen. Der Autor geht gleichermaßen mit Inspiration und Gründlichkeit vor. Die Entfaltung der literarischen Hassrede wird von Marlowe und Shakespeare über Baudelaire, Strindberg, Céline und Sartre bis hin zu Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und zum aktuellen Literaturnobelpreisträger Peter Handke verfolgt.

Man ahnt bei dieser Aufzählung schon, dass zumal die neuere österreichische Literatur hier einiges zu bieten hat. Mit Michel Houellebecq schließlich gelangt, wie Bohrer darlegt, das von Hass getriebene Schreiben an einen (vorläufigen) End- oder Wendepunkt.

Man fragt sich, wieso bisher noch niemand dieses zentrale Thema dermaßen genau in den Blick genommen hat. Es wird deutlich, dass der Hass geradezu ein grundlegendes Element des Literarischen ist, welches die Sprache überhaupt (ver)formt und verwandelt. Und immer wieder war zu sehen: Wer sich in einen Hass hineinsteigert, ist auf dem Wege, auch die Ausdruckskraft seiner Sprache zu steigern. Allerdings bedarf es dazu sprachlichen Könnens auf hohem Niveau. Einer, dem nur dumpfe Kraft- und Schimpfworte zu Gebote stünden, der gehörte ganz und gar nicht in solche Zusammenhänge. Fluchen reicht nicht.

Karl Heinz Bohrer: „Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt“. Suhrkamp Verlag, 493 Seiten, 28 Euro.

 




„…in der Erde wühlen, die Wolken anglotzen“: Der große Minimierer – Samuel Becketts Briefe 1941–1956

In dem Zeitraum zwischen 1941 und 1956, den der zweite Band der Briefausgabe umfasst, schrieb Samuel Beckett seine bekanntesten Romane und Theaterstücke. In schneller Folge erschien die Romantrilogie mit Molloy (1951), Malone stirbt (1951) und Der Namenlose (1953), und dazwischen, 1952, die Druckfassung von Warten auf Godot – das Stück, das ihn schon bald nach seiner Uraufführung im Januar 1953 berühmt machen sollte.

Jedoch kamen solche Erfolge keinesfalls aus dem Nichts; und auch, was als Erfolg anzusehen ist und was nicht, stellt sich in seinen Briefen – nicht anders als in Becketts gesamtem literarischen Werk – als etwas Relatives dar.

Cover Beckett Briefe 1941 bis 1956

Die Geldsorgen seiner jungen Jahre haben nun neuen Nöten Platz gemacht. Auskunftsbegehren von Literaturwissenschaftlern, Übersetzern, Verlegern und Verehrern lassen die Korrespondenz mit Jugendfreunden, die den ersten Band der Beckett-Briefe prägten, in den Hintergrund treten. Kein ausgedehntes Umherschweifen von Museum zu Museum wie in der Vorkriegszeit; stattdessen nur wenige notwendige Reisen, meistens nach Irland.

Es ist auch der Zeitraum, in dem die beiden engsten ihm verbliebenen Angehörigen sterben, seine Mutter (1950) und sein Bruder Frank (1954). Vor allem aber liegt zwischen den Briefen aus Band 1 und denen des zweiten Bandes der Krieg, der ihn einiger seiner Freunde und Mitstreiter aus der Résistance beraubte – wie Alfred Péron, der ihm bei der Übersetzung seines ersten Romans Murphy (1938) ins Französische geholfen hatte.

Alfred Pérons Frau Maria, genannt Mania, konnte den Autor und seine Lebensgefährtin Suzanne Deschevaux-Dumesnil noch rechtzeitig mit einem Telegramm vor der Verhaftung durch die Nazis warnen. Die beiden versteckten sich daraufhin in Rousillon, einem abgelegenen Ort in der Vaucluse. Um 1943 füllte Beckett dort mehrere Notizbücher mit seinem letzten in englischer Sprache entstehenden Roman, Watt, der erst zehn Jahre später veröffentlicht wurde. Im Januar 1945 sandte Beckett ein Lebenszeichen an seinen Bruder Frank in Irland; die umfangreiche Korrespondenz sollte jedoch erst nach Kriegsende wieder einsetzen.

Das Haus in Rousillon (Vaucluse), in dem Beckett und Suzanne Deschevaux-Dumesnil von Oktober 1942 bis Oktober 1944 wohnten; Foto: Wolfgang Cziesla, März 2015

Das Haus in Rousillon (Vaucluse), in dem Beckett und Suzanne Deschevaux-Dumesnil von Oktober 1942 bis Oktober 1944 wohnten; Foto: Wolfgang Cziesla, März 2015

Nicht von sich selbst absehen können

Einen Höhepunkt der Briefkunst dieser Jahre stellt die Korrespondenz mit dem Kunsthistoriker Georges Duthuit dar. Hier bilden sich die Formulierungen heraus, die 1949 als „Drei Dialoge“ (über Tal Coat, André Masson und Bram van Velde) in der von Duthuit mitherausgegebenen englischsprachigen Zeitschrift Transition veröffentlicht wurden und 1967 erstmals auf Deutsch in einem Auswahlband erschienen sind.

Zugleich wird ablesbar, wie Beckett in der Auseinandersetzung mit den Künstlerfreunden sich selbst auf die Spur kommen möchte. „Nur weil ich davon besessen bin, mich in eine Situation zu begeben, die buchstäblich unmöglich ist und die Du das Absolute nennst, hefte ich ihn [Bram van Velde] mir an meine Seite.“ Dabei äußert er auch Skrupel, dem Maler nicht gerecht geworden sein.

Die Frage nach Erlebtem und Fiktion in seinem Werk beantwortet Beckett in einem Brief an Georges Duthuit vom März 1949: „Aber bedenke, dass ich, der ich fast nie über mich spreche, fast nie über etwas anderes spreche.“ Jemand wie Beckett tut sich schwer mit Erwartungen, die an ihn herangetragen werden – auch dann, wenn er sich selbst zu etwas verpflichtet fühlt. Die Verehrung für den Maler Jack B. Yeats (den Bruder des Dichters William Butler Yeats) ging bereits in Becketts bitterarmen Jugendjahren so weit, dass er lieber mit verschlissenen, regenuntauglichen Schuhen herumlief, als auf das kleine Gemälde, das Yeats ihm zu einem Freundschaftspreis zu überlassen bereit war, zu verzichten.

Nach seinen ersten größeren Erfolgen vermittelte Beckett dem älteren Freund eine Ausstellung in Paris und kümmerte sich um positive Besprechungen. Über seinen eigenen Beitrag zu einer Würdigung in der Literaturzeitschrift Les Lettres Nouvelles äußert er sich in einem Brief: „Zu Yeats brachte ich nach Stunden und Tagen buchstäblicher Folterqualen eine kurze Seite der jämmerlichsten Art zustande, die, irritiert und müde, das genaue Gegenteil dessen ist, was ich so gern gewollt hätte. Selbst für diesen großen alten Mann, den ich liebe und verehre, war ich nicht imstande, ein wenig von mir abzusehen.“ (Samuel Beckett an Georges Duthuit am 2. März 1954)

Sein expressives Bedürfnis ist gleichzeitig von dem Bewusstsein beherrscht, dass die Mittel des Expressiven bereits ausgeschöpft sind. Er fühlt sich kraftlos und müde. Was Beckett im Januar 1949 an Bram van Velde schrieb – er „suche nach einem Weg, zu kapitulieren, ohne ganz und gar zu verstummen“ – könnte auch als Motto über seinem Gesamtwerk stehen.

Das Erzählen an einen Endpunkt geführt

In Becketts Romanen lässt sich von Murphy über Watt und dann vor allem in der Trilogie MolloyMalone stirbtDer Namenlose eine Entwicklung zum Immer-weniger nachvollziehen. Über den letzten Teil der Trilogie schreibt er im Februar 1952: „Das dritte, L’Innommable, kommt wahrscheinlich im Frühjahr und ist wohl das Ende der Partie, soweit es mich betrifft, da niemand mehr da ist, der spricht und, unabhängig davon vielleicht und ohnehin überflüssigerweise, nichts, wovon zu sprechen wäre.“

Durch immer radikalere Reduktion hat sich Beckett Schritt für Schritt in die Ausweglosigkeit geschrieben. Seine Protagonisten geben nach und nach alles auf: ihren Besitz, ihren Körper, bis in Der Namenlose nur noch die Sprache selbst übrigbleibt, ohne einen Sprechenden. „Was liegt daran wer spricht, jemand hat gesagt, was liegt daran wer spricht“, heißt es im dritten der Texte um Nichts (Nouvelles et Textes pour rien; 1955 veröffentlicht) – ein Satz, den nicht zuletzt Michel Foucault in seinem kanonischen Text Was ist ein Autor? aufgegriffen hat.

„Absurder- und blöderweise bin ich die Kreatur meiner Bücher, und L’Innommable ist schuldiger an meiner gegenwärtigen Misere als alle anderen guten Gründe zusammengenommen“, teilt er am 27. Dezember 1954 seiner Freundin Pamela Mitchell mit. Und an Jacoba, die jüngere Schwester von Bram van Velde, schreibt er: „Nach L’Innommable habe ich nichts mehr zustande gebracht, das ist das Ende der Fahnenstange. Wenn Du es liest, verstehst Du vielleicht, warum. Ich zucke noch, aber ohne Resultat. Es wäre besser, ich könnte mich zum Aufgeben entschließen. Vielleicht komme ich noch dahin.“

Mit dem „Zucken“ sind die kurzen Texte um Nichts gemeint, Schritte auf dem langen Weg kunstvollen Verstummens. „Und ich habe in letzter Zeit etwa zehn kleine Texte geschrieben. Nachgeburten des L’Innommable und auf direktem Wege unzugänglich.“ Drastischer noch drückt er sich im April 1951 gegenüber Mania Péron aus: „In Paris muss ich Dir noch ein paar kleine Scheißtexte zeigen, von der Art wie die zwei, die Du gesehen hast.“

Das Herabwürdigen des eigenen Tuns bildet einen wiederkehrenden Kontrast zu seinem ausgeprägten Perfektionismus, der zum Beispiel deutlich wird, wenn er bei den Theaterproben penibel auf jedes Detail achtet oder wenn er gegenüber Herausgebern, die seine Texte eigenmächtig kürzen, seinem Ärger in schärfsten, den Eklat riskierenden, Worten Luft macht – wie etwa in den Auseinandersetzungen mit Jean Paulhan oder mit Simone de Beauvoir.

Um auch bei den Übersetzungen seiner Werke die Kontrolle zu behalten, übersetzt er vieles aus dem Französischen ins Englische selbst, oder arbeitet mit seinen deutschen Übersetzern eng zusammen, zunächst mit Erich Franzen, später vor allem mit Elmar Tophoven.

Auch auf dem Theater fast alles abschaffen

Beckett, der das Theater revolutionieren sollte wie kein anderer, schrieb noch im Januar 1952, während der Schauspieler und Regisseur Roger Blin nach einem geeigneten Aufführungssaal für Warten auf Godot suchte: „Ich habe keine Ansichten zum Theater. Ich weiß nichts vom Theater. Ich gehe nicht hin. Das ist verzeihlich.“

Im Theater reduziert er die Bewegungsmöglichkeiten seiner Figuren, steckt sie bis zum Hals in Sandhügel, minimiert die Kulisse zunächst auf einen einzigen Baum, um in späteren Stücken auch auf das letzte Requisit zu verzichten. Er schafft den Regisseur ab, indem der Autor jedes Detail selbst bestimmt; er wird später auch die Schauspieler abschaffen und nur noch einen sprechenden Mund auf die Bühne stellen (Not I, 1972), oder er lässt den Text vom Tonband einspielen. Vorhang auf, ein kurzer Schrei vom Band, Einatmen, Ausatmen, ein zweiter Schrei vom Band, Vorhang zu, alles zusammen in 35 Sekunden (Atem, 1969) – weniger Handlung geht nicht, um nicht auch noch das Publikum abzuschaffen. Das erledigt Beckett schließlich, indem er gar nicht mehr für das Theater schreibt. Er wendet sich Hörspiel, Pantomime, Ballett und Film zu, freilich nur, um auch hier jeweils auszukundschaften, mit wie wenig die einzelnen Künste auszukommen in der Lage sind.

Aber ganz so weit sind wir am Ende von Band 2 der Briefausgabe noch nicht. Die letzten Briefe zeugen von seiner Arbeit am Endspiel (Fin de Partie; von ihm selbst ins Englische übersetzt als Endgame), das 1957 uraufgeführt werden sollte.

„Ich bin darauf gespannt, mein Stück zu sehen, damit ich ein bisschen genauer weiß, ob ich in dieser Richtung weitergehen kann oder ob ich völlig auf dem Holzweg bin“, schreibt er im Dezember 1956 an Jacoba van Velde. „Weder das eine noch das andere, scheint mir schon jetzt, das kann heiter werden.“ Wobei wir auch das Wort „heiter“ wörtlich nehmen dürfen. Es ist ein richtiger, ein konsequenter Weg, kein Holzweg, der in die Ausweglosigkeit führt.

Alle Gedanken scheinen in Sackgassen zu münden, in Aporien, so wie der Philosoph Sextus Empiricus (2. Jh. n. Chr.) es in umfassender Weise vorgeführt hatte. Dem radikalen pyrrhonischen Skeptiker dürfte Beckett auch bei der Lektüre Fritz Mauthners begegnet sein, dessen „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ er, wie er Hans Naumann berichtet, seinerzeit für James Joyce gelesen hatte. Ebenfalls an Naumann schreibt er: „Sie dürfen mich in die traurige Kategorie derer einordnen, die, wenn sie mit vollem Bewusstsein handeln müssten, überhaupt nicht handeln würden.“ (17. Februar 1954)

Nicht mehr handeln

In Ussy-sur-Marne, östlich von Paris, findet Beckett ein kleines Haus, in dem er sich aus dem Trubel der Großstadt zurückziehen kann. „Ich werkele missmutig vor mich hin. Heute einen Tisch aus Eichenabfällen zusammengebastelt. Noch steht er. Für meine Arbeit kann ich mich nicht erwärmen, ob Altes, Gegenwärtiges, Künftiges. Ich will nichts weiter als mich in diesem Rübenkaff vergraben, in der Erde wühlen, die Wolken anglotzen. Umschlossen von dicken Mauern.“

Becketts Haus in Ussy-sur-Marne – sein Rückzugsort vom Pariser Großstadtrummel ab 1953; Foto: Wolfgang Cziesla, April 2014

Becketts Haus in Ussy-sur-Marne – sein Rückzugsort vom Pariser Großstadtrummel ab 1953; Foto: Wolfgang Cziesla, April 2014

Vom Graben ist in diesen Briefen oft die Rede, eingraben, umgraben, und von Müdigkeit in allen ihren Facetten. „Ich bin regelrecht angewidert vom Schreiben, davon, wie ich schreibe“ – im September 1951 an Mania Péron, und im gleichen Brief, fünf Zeilen darunter: „Ein Stimmungstief, allerdings. Aber ich kenne nichts anderes.“

Als Akt ohne Worte I auf dem Marseille Festival d’Avant-Garde aufgeführt werden soll – seine erste Pantomime, mit der Musik seines Cousins John S. Beckett – schreibt er im Juni 1956 an seinen alten Freund Thomas MacGreevy: „[…] ich habe ziemlichen Horror vor den nächsten Monaten. Aber ich sage mir auch, dass ich sehr schnell in eine Art vertrödelte Trägheit verfalle, wenn es nicht diese Dinge gibt, die mich anstacheln.“

Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muss – den glücklich gewählten Titel der Briefausgabe, Band 2, hat der Suhrkamp Verlag einem Brief Becketts an Simone de Beauvoir aus dem September 1946 entnommen. Wobei man sich bei Beckett auch das „Verteidigen“ nicht allzu martialisch vorstellen darf. „Ich bin ein schlechter Kämpfer“, schrieb er im August 1948 an Georges Duthuit. „Vielleicht erreichen wir etwas mit Nichtkämpfenkönnen.“

Das „Bedürfnis, schlecht gerüstet zu sein“ (Le besoin d’être mal armé) gibt er gegenüber Hans Naumann als einen der Gründe an, warum er seine literarischen Werke nicht länger in seiner Muttersprache verfasst, sondern ins Französische wechselt, eine Sprache, in der er sich (zunächst) weniger sicher fühlte.

In frühen Jahren mochte Beckett als Sekretär und Mitarbeiter von James Joyce erfahren haben, dass das Idol seiner Jugend an Sprachmächtigkeit kaum überboten werden konnte. Womöglich lag ihm einiges daran, sich literarisch in eine Position zu bringen, die ihn vor Eitelkeit schützte.

Zwei weitere Bände wie den vorliegenden (von Chris Hirte mit sensiblem Sprachgefühl und profunder Sachkenntnis übersetzten) aus der sorgfältig editierten Cambridge-Ausgabe der Briefe Samuel Becketts dürfen wir noch erwarten – Band 3, wenn wir Glück haben, bereits in diesem Herbst.

Samuel Beckett: „Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muß. Briefe 1941–1956“. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Suhrkamp Verlag. 819 Seiten, 45 Euro.




Vom Rückfall in die Barbarei – Heinz Helles Endzeit-Roman „Eigentlich müssten wir tanzen“

In eine verstörende Endzeit-Situation zieht der Schweizer Autor Heinz Helle die Leser in seinem zweiten Roman „Eigentlich müssten wir tanzen“, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war und diese Auszeichnung durchaus verdient gehabt hätte.

Eine Gruppe von fünf Freunden, eine typische Männerrunde, verabredet sich zu einem Wochenende in einer abgelegenen Berghütte, und als sie wieder zurück wollen in ihren Alltag, finden Sie eine zerstörte Welt vor. Abgebrannte Häuser und Wälder, Leichen überall, kein Trinkwasser und keine Lebensmittel.

HeinzHelle

Durch diese Endzeit-Welt versuchen sich die Männer durchzuschlagen – aber wohin?

Nach und nach geht die Hoffnung verloren, nach und nach verschwinden die Reste der Zivilisation im Verhalten der nun ehemaligen Freunde, ohne moralische Skrupel liefern sie den jeweils anderen seinem Sterben aus.

In 69 kurzen Kapiteln berichtet der 37jährige Autor sachlich und ohne Belehrung oder Wertung, was Menschen in einer solchen Situation erlebt und gedacht haben könnten. Zum Schluss bleibt dem Erzähler – einem nicht näher Benannten aus der Gruppe – nur der hypothetische Ausblick auf ein Leben in Sicherheit, wie es ohne diesen Zusammenbruch hätte gelebt worden sein können.

Ein hoffnungsloses Buch? Zum einen sehr wohl, denn es zeigt, dass ohne die kulturellen Errungenschaften unserer Gesellschaft der Mensch nichts ist, dass wir zurückfallen können in die Barbarei, in eine Welt, in der alle einsam und ohne Sinn vor sich hin vegetieren. Andererseits will Heinz Helle uns wohl auch Mut machen, uns auf das zu konzentrieren, was in unserer heilen Welt an Glück oder Sinn möglich sein kann, auch wenn wir letztlich alle sterben müssen.

Heinz Helle: „Eigentlich müssten wir tanzen“. Roman, Suhrkamp, 173 Seiten, 19,95 €.




„Schmidts Einsicht“ kommt nicht zu spät

Drei Romane mit der Titelfigur Albert Schmidt hat der in Polen geborene amerikanische Autor Louis Begley geschrieben. Den letzten mit dem deutschen Titel „Schmidts Einsicht“ gibt es zunächst sogar nur bei uns – in den USA erscheint die Originalausgabe erst im März als „Schmidts Steps Back“.

Viele erinnern sich bestimmt an Jack Nicholson, der 1997 den alternden Anwalt Schmidt aus New York im Kino verkörperte. Dieser etwas verschrobene Witwer mit dem hohen Einkommen hat ständig Zoff mit seiner Tochter Charlotte und eine ausgelassene Liebesaffäre mit einer jungen Kellnerin seines Lieblingslokals auf Long Island.

Im abschließenden dritten Band, der am Silvestermorgen 2009 beginnt und zwischen verschiedenen Rückblenden pendelt, ist diese Affäre beendet. Stattdessen knüpft die Handlung an den Schluss des zweiten Teils an, in dem Schmidt in Paris vor dem Haus einer früheren Geliebten steht und unentschlossen überlegt, ob er klingeln soll. Er hat tatsächlich diese hübsche Französin – inzwischen ebenfalls Witwe – wieder für sich gewinnen können. An jenem Silvestertag wartet er in seiner Villa auf ihren Besuch und die Antwort auf die Frage, ob sie bei ihm bleiben möchte. In der Zwischenzeit sind jedoch so dramatische Dinge geschehen, dass Schmidt seine Einstellung zum Leben ändert, er kommt im Sinnes des Buchtitels zur „Einsicht“, er kommt gewissermaßen zur Ruhe, und die Trilogie des Autors findet ein altersweises Ende.

Louis Begley, das zeigen alle seine Bücher, ist ein hervorragender Menschenkenner mit großem Einfühlungsvermögen. Auch sein Held Schmidtie, der durch seinen Sexismus und den unbewussten Antisemitismus eigentlich etwas abstoßend wirken soll, wird nie vollständig in ein Schwarz-Weiß-Schema gepresst, so dass man letztlich so etwas wie Mitleid mit einem alten Mann empfindet, dem das Schicksal große Glücksmomente und ebenso hartes Leid bescherte. Aus der Angst vor dem Tod gewinnt Schmidt zum Schluss jedoch noch einmal die Hoffnung, dass Liebe allem einen Sinn geben kann – ganz ohne den Zynismus, an den er sich so gewöhnt zu haben glaubte.

Louis Begley: Schmidts Einsicht. Roman, Suhrkamp Verlag, 416 Seiten, 22,90 Euro.




Suhrkamp – verhext?

Der traditionsreiche Suhrkamp-Verlag zieht von Frankfurt nach Berlin um. Mit diesem Entschluss hat sich Siegfried Unselds Witwe Ulla Berkéwicz nicht nur über den Willen von 80 Prozent der Verlagsmitarbeiter hinweggesetzt, sondern auch über die (geistige) Verwurzelung dieses Verlages im Umkreis der „Frankfurter Schule“. Ob sich Adorno nun im Grabe umdreht?

Wie der Süddeutschen Zeitung (heutige Ausgabe) zu entnehmen ist, hat Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit offenbar seit langem heftig gelockt, dass Suhrkamp an die Spree kommen möge. Wer weiß, ob und aus welchen Töpfen da womöglich noch Subventionen / Ansiedlungs-Prämien fließen. Falls es so wäre, könnte man von einem handfesten Skandal sprechen. Wie gleichfalls in der SZ von heute steht, ist just Hessen einer der größten Geber beim Länderfinanzausgleich, Berlin hingegen das Empfängerland mit den meisten Ansprüchen. Somit hätte es Hessen den Berlinern ermöglicht, etwaige Subventionen überhaupt erst aufzubringen, um einen der wichtigsten deutschen Verlage abzuwerben, ihn von Hessen nach Berlin zu holen.

Das Satireblatt „Titanic“ hat die Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz einst als „schwarze Witwe“ und als „die neue Yoko Ono der deutschen Schriftkultur“ bezeichnet. Beatles-Kenner wissen, was damit gemeint sein könnte. U. B. gibt offenbar ohnehin ein geradezu hexenhaftes Feindbild ab. Auch mit dem Umzugsbeschluss (oder besser: Umzugsbefehl) hat sie sich außerhalb Berlins wohl keine neuen Freunde gemacht.




„Herrgott“ auf dem Verlegersessel – TV-Porträt des Siegfried Unseld

Von Bernd Berke

Der Schriftsteller Martin Walser schüttelt den Kopf. Wieder einmal mattgesetzt! Gegen seinen Freund und Verleger Siegfried Unseld, den Chef des Frankfurter Nobelhauses Suhrkamp, kann er im Schach fast nie gewinnen. Walser: „Nur nach Mitternacht, da ist er schlagbar.“

So war denn Unseld in dem Porträt „Der Verleger und die Lust am Buch“ (ARD) gleich als Gewinnertyp eingeführt. In diesem Stile ging es in dem Film von Hilde Bechert und Klaus Dexel weiter: Unseld, „ins Gelingen verliebt“; Unseld, der Mann auf der Sonnenseite des Lebens; Unseld, der kraftvoll „Ja“ sagt zu Dasein und Erfolg. Ein typischer Vertreter der „Wende-Zeit“, könnte man argwöhnen, wäre da nicht sein Buchprogramm, einst zu großen Teilen Pflichtlektüre der „APO“ – und auch heute noch eins der besten und profiliertesten im Lande.

Unseld ließ sich und seinen „Riecher“ gebührend bewundem, aber nicht in die Karten blicken. Mit gepreßter Stimme gab er abgewogene Auskunft, als halte er immer noch etwas Entscheidendes zurück. Welch ein Gegensatz zum „Kritikerpapst“ Marcel Reich-Ranicki, der hier als „Zeuge“ angerufen wurde: Mit ein, zwei Sätzen gab Reich-Ranicki mehr preis als Unseld in einer Stunde. Was etwa Reich-Ranicki offen als Macht des Verlegers bezeichnete, nannte Unseld vornehm eine gewisse „Entscheidungsbefugnis“. In Unselds Augen blitzte es am hellsten auf, als er sich ausmalte, wie der spanische Markt für Brecht geöffnet werden könne. Mit Geist Geld zu machen, das ist seine Leidenschaft.

Die Aussagen der Suhrkamp-Autoren (Martin Walser, Max Frisch, Thomas Bernhard) ließen ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zum Literatur-Markt und seinen Machern erkennen. Zwar kamen höflicherweise keine Schriftsteller zu Wort, die Unseld abgelehnt hatte, doch greinte Thomas Bernhard: Er hänge vom Verleger ab „wie a Bauer von d’r Ernte“; der Verleger sei halt ein „Herrgott“.




Neue Suhrkamp-Titel nur noch als Paperback – Verlag bestreitet Hardcover-Programm aus dem Archiv

Von Bernd Berke

Frankfurt. „Tragisch und unerfreulich“ findet Franz Xaver Kroetz die ganze Angelegenheit, doch er resigniert: „Ich muß mich wohl fügen.“ Grund für das Stimmungstief des bekannten Dramatikers („Stallerhof, „Wildwechsel“) ist eine Hiobsbotschaft aus dem Frankfurter Suhrkamp-Verlag. Erstmals in seiner 33jährigen Geschichte will das renommierte Haus im Frühjahr 1983 keine Neuerscheinungen in Hardcover-Ausstattung (fester Einband) herausbringen.

Stattdessen grub man vergriffene Bande aus der Zeit seit Verlagsgründung aus, um sie dem Leservolk wieder zugänglich zu machen. Dazu äußerte sich Siegfried Unseld, Leiter des Verlags, in wohltönender Beschönigung schon schriftlich: „Der Suhrkamp-Verlag hat sich mit diesem ,Weißen Programm‘ zu einem Experiment entschlossen. Es soll… Autoren wie Lesern dienen.“

Ob sich freilich die Autoren, die gerade an neuen Werken arbeiten, mit dem Nostalgie-Programm anfreunden können, darf bezweifelt werden. Immerhin ist Suhrkamp einer der ganz wenigen Verlage in der Bundesrepublik, die den Mut aufbrachten, auch neuere, experimentelle Literatur zu verlegen. Zu den Autoren des Frankfurter Unternehmens zählen Peter Handke, Thomas Bernhard, Franz Xaver Kroetz, Thomas Brasch, Martin Walser und Herbert Achternbusch – mithin ein Großteil der bundesdeutschen Schriftsteller-Elite.

Beispiel Franz Xaver Kroetz, der soeben den zweiten Teil einer Romantrilogie abgeschlossen hat. Kroetz, quasi beim Leser „im Wort“, dem ersten Teil („Der Mondscheinknecht“) eine Fortführung folgen zu lassen, zur WR: „Ich hatte mich schon so darauf gefreut, daß der Band im nächsten Frühjahr bei Suhrkamp erscheint. Daraus wird jetzt wohl nichts.“ Kroetz denkt trotzdem, nicht daran, sein Buch einem anderen Verleger anzubieten, denn bislang habe er mit der Verlagspolitik von Suhrkamp gute Erfahrungen gemacht: „Meine Bücher sind ständig im Buchhandel vorrätig und werden oft neu aufgelegt.“ Auch die Auflagenhöhen könnten sich sehen lassen.

Nachfragen bei Franz Xaver Kroetz und Karin Struck

Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld, der seinen Rückgriff auf ältere Werke von Oskar Loerke, Hermann Hesse und Wolfgang Koeppen schon vorab werbewirksam darzustellen versuchte, war nicht zu sprechen. Er befinde sich auf einer USA-Reise, hieß es. Auch sein Stellvertreter war nicht erreichbar. In „unteren“ Verlagsetagen gab man sich äußerst wortkarg. Immerhin; Der bereits von der „Frankfurter Rundschau“ erhobene Vorwurf des „künstlerischen Offenbarungseides“ sei „Quatsch“, im übrigen seien die Autoren vorher informiert worden und einverstanden gewesen. Nachfragen der WR ergaben: Franz Xaver Kroetz und Karin Struck („Klassenliebe“, „Die Mutter“) waren zum Beispiel nicht unterrichtet. Kroetz wußte nur vom Hörensagen von den Verlagsplänen, Karin Struck erfuhr es erst durch die WR („Da muß ich gleich mal meinen Lektor anrufen.“) Kroetz und Struck sind seit Jahren Suhrkamp-Autoren.

Ein Suhrkamp-Verlagsmitarbeiter salopp: „Wenn uns jetzt das ,Werk des Jahrhunderts‘ auf den Tisch flattert, werden wir es wohl doch als Hardcover veröffentlichen.“ Schließlich hoffe man, mit dem „Weißen Programm“ einen höheren Umsatz zu erzielen, als mit ehrgeizigen Neuerscheinungen. KeinWunder: Schließlich lassen sich auf diese Weise erkleckliche Autoren-Honorare einsparen.

Franz Xaver Kroetz, dessen Romanteil dem harten Kalkül zum Opfer fallen wird: „In meinern Fall hält sich aber der finanzielle Verlust in Grenzen, weil ich am meisten durch Aufführungen meiner Theaterstücke verdiene.“ Mit Galgenhumor kann Kroetz der farbloseren Neuerscheinungspalette gar noch positive Seiten abgewinnen: „Vielleicht bin ich selbst mal froh, wenn meine Bücher 20 Jahre nach Erscheinen plötzliche Neuauflagen erleben.“ Härtere Worte fallen derweil bei der Bundesgeschäftsstelle des Schriftstellerverbands (VS) in Stuttgart: „Da bekommt der Suhrkamp-Verlag wieder unverdiente Publizität.“