Zum Tod von Claus Peymann – ein paar Worte von „damals“

Claus Peymann, seinerzeit Intendant des Berliner Ensembles, im Mai 2013 bei der Berliner Konferenz „Theater und Netz“ der Heinrich-Böll-Stiftung. (Wikimedia Commons, Foto Stephan Röhl) – Link zur Lizenz:
https://www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Mit Claus Peymann (geb. 7. Juni 1937 in Bremen, gest. 16. Juli 2025 in Berlin-Köpenick) ist einer der wirkmächtigsten deutschsprachigen Theatermacher der letzten 60 Jahre gestorben. Hier noch einmal eine kurze Würdigung zu seinem 60. Geburtstag, erschienen in der Westfälischen Rundschau und eben auch schon 28 Jahre her. Um jetzt spontan einen Nachruf zu schreiben, wenn nichts von langer Hand Vorbereitetes in der Schublade (sprich: Festplatte) schlummert, ist „man“ denn doch zu bewegt. Auch darum dieser Rückgriff:

Von Bernd Berke

Es war die „Publikumsbeschimpfung“, mit der Claus Peymann erstmals weithin Aufsehen erregte. Doch der Regisseur, der 1966 Peter Handkes Stück im Frankfurter Theater am Turm uraufführte, hat sich eigentlich nie mit den Zuschauern, sondern viel lieber mit Politikern angelegt. Morgen wird Peymann, noch Intendant der Wiener „Burg“, ab 1999 dann Chef des Berliner Ensembles, 60 Jahre alt.

Theaterkundige Revierbewohner trauern natürlich besonders Peymanns Bochumer Ära (1979 bis 1986) nach. Als er nach Wien wechselte, gab es sogar Leute, die für seine Premieren bis an die Donau pilgerten – ganz ähnlich, wie ihm Anhänger aus Stuttgart (wo er von 1974 bis 1979 als Schauspieldirektor arbeitete) nach Bochum nachgereist waren.

Peymann hat vermeintlich staubtrockenen Klassikern wie Goethes „Iphigenie“ frisches Leben eingehaucht. Stücke, die man für gar nicht mehr spielbar hielt, etwa Kleists „Hermannsschlacht“, gerieten unter seiner Ägide zu aufregenden Abenteuern. Doch das Theater verdankt Peymann auch wegweisende Uraufführungen, zumal der Stücke von Thomas Bernhard („Vor dem Ruhestand“, „Minetti“ , „Ritter, Dene, Voss“) und Peter Handke („Der Ritt über den Bodensee“, „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“).

Trunken vor lauter Spielfreude

Ohne grandiose Schauspieler wie Gert Voss, Kirsten Dene, Traugott Buhre oder Martin Schwab, wäre Peymann wohl nicht erklärter Favorit der Feuilletons geworden. Doch eine seiner größten Leistungen besteht ja just darin, hochkarätige Ensembles zusammengeführt, inspiriert und lange beieinander gehalten zu haben. Peymanns oft herrlich spieltrunkener Inszenierungsstil war nie „Regietheater“ in dem Sinne, daß die Darsteller durch starre Konzepte an den Rand gedrängt worden wären.

Feinde hat er sich auch gemacht. Als er in Stuttgart Spenden für die zahnärztliche Behandlung der inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin sammelte, kam es zum politischen Eklat. Mißtrauisch empfing man ihn später auch in Wien. Österreichs Kulturkonservative fürchteten, der „Piefke“ Peymann (Sohn eines Bremer Studienrats) werde die Traditionen am Burgtheater gefährden.

Wie er auch das Burgtheater eroberte

Immerhin: Er hob die Preise für bessere Plätze drastisch an und verbilligte die anderen. Das galt besonders der giftigen Wiener Presse schon als sozialistische Untat. Doch als Peymann das Publikum mit grandiosen Inszenierungen wie „Richard III.“ von Shakespeare auf seine Seite zog, konnte man ihm nicht mehr so viel anhaben. Nun wagte er es auch, im November 1988 (zum 100jährigen Bestehen des Burgtheaters) Thomas Bernhards „Heldenplatz“ auf die Bühne zu bringen, jenes Stück, in dem die NS-lastige Historie des Hauses bohrend zur Sprache kam.

Im „Heldenplatz“-Umfeld kam es gar zu einer Art Regierungskrise in Wien. So etwas gibt es eben nur in Österreich, wo Theater und Oper eine geradezu staatsbildende Rolle spielen wie sonst wohl nirgendwo auf der Welt. Vielleicht wird Peymann einen Hauch dieser Atmosphäre im nüchternen Berlin vermissen.




Zum Tod von Marianne Faithfull – Rückblick auf ein Konzert von 1999

Marianne Faithfull 1966 in der niederländischen TV-Sendung „Fanclub“. (Foto: A. Vente / Lizenz: Wikimedia Commons – https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)

Es ist wieder eine dieser ganz und gar traurigen Nachrichten, mit denen man stückweise selbst vergeht: Mit 78 Jahren ist die charismatische Sängerin Marianne Faithfull gestorben. Ihre Bedeutung geht weit über ihre anfängliche Rolle als „Muse der Rolling Stones“ (schon diese altbackene Bezeichnung!) hinaus. 1999 durfte ich sie bei einem Konzert in Köln erleben. Hier noch einmal der damalige Text, auch schon rund ein Vierteljahrhundert alt:

Köln. Ganz in Schwarz gekleidet, betritt sie die Bühne. Seht her, eine Dame! Man könnte sie sich gut in einer distinguierten Hotel-Lobby vorstellen, wartend. Doch schon die Art, wie sie Mikrofon und Zigarette hält, lässt ahnen, dass sie nicht „damenhaft“, sondern glühend, verlangend und oft tragisch gelebt hat: Wir reden von Marianne Faithfull.

Die britische Sängerin, die jetzt im Kölner „E-Werk“ zumeist Songs ihrer neuen CD „Vagabond Ways“ vorstellte, ist eine Frau mit bitteren Erfahrungen. 1964, damals gerade 17 Jahre alt, war sie die Freundin von Mick Jagger und wurde unter den rüden „Rolling Stones“ als sexuelle Trophäe herumgereicht. Immer wieder verfiel sie seither der Drogensucht, doch sie kämpfte sich auch daraus hervor. Sie gehört wohl zu jenen, die eher vor Leidenschaft „verbrennen“ als sich zu bewahren.

All das klingt in ihrer rauchigen, brüchigen, oft aufgewühlten Stimme mit. Wenn sie von den „Wilder Shores of Love“ (Wildere Gestade der Liebe) erzählt, so ist bedrohliche Brandung zu spüren; wenn sie „I Feel Guilt“ (Ich fühle Schuld) haucht, so scheint sie tatsächlich tief verstrickt zu sein.

Die Begleitband arbeitet grundsolide und stellt sich ganz in den Dienste der Sängerin. Wie einfach die Harmonien der Titel auch gelegentlich klingen mögen, Marianne Faithfull macht stets das Besondere, von Erfahrung beglaubigte und Ungeglättete daraus.

Sie singt sozusagen an den Bruchlinien des Lebens entlang – von zerbrochener Liebe, geknickten Flügeln der Hoffnung, brüchiger Welt und letztlich auch von Fragmenten jener Freiheits-Wunschträume der 68er-Generation.

„Broken English“ heißt – gewiss nicht nur zufällig – einer ihrer besten Songs. Und es gibt diese starken Momente zwischen überfallartiger Traurigkeit, Aufbegehren, Trotz, Tapferkeit und plötzlichem Triumph. Beispielsweise, wenn sie die Fäuste ballt zu „Working Class Hero“.

Mit dem Publikum stellt sie sogleich eine vertraute, ja fast schon intime Beziehung her. „We love you, dear!“ ruft einer ihr spontan zu und spricht damit manchen aus der Seele. Ein Konzert kann wie eine Affäre sein. Doch diese hier ist denn doch ein wenig flüchtig, nicht unvergesslich. Dazu sind die ganz und gar innigen Momente etwas zu rar. Etliche Feinheiten ertrinken im Grundrauschen des Rock.

Gegen Schluss stimmt Marianne Faithfull den Stones-Klassiker „As Tears Go By“ an. Es werden nicht die letzten Tränen gewesen sein.




„Sprache lässt sich nicht mit Normen lenken“ – Zum Tod von Martin Walser: Erinnerung an zwei Gespräche mit dem Schriftsteller

Martin Walser am 10. Oktober 2013, Frankfurter Buchmesse. (Foto: Wikimedia Commons / Lesekreis, Heike Huslage-Koch). Lizenz: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en

Schon seit seinem Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957), der die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1950er Jahre auf den Begriff brachte wie kein anderer, war der Schriftsteller Martin Walser einer der wichtigsten Protagonisten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Jetzt ist er ist mit 96 Jahren in seinem Haus am Bodensee gestorben. Aus diesem traurigen Anlass hier noch einmal der Wortlaut zweier Gespräche, die ich 1996 und 1998 mit ihm führen durfte. Zunächst der Text von 1996:

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Dortmund. Mit seinem Roman „Finks Krieg“ hat Martin Walser (69) tiefen Einblick ins Innenleben eines Ministerialbeamten gegeben, der im Zuge eines Regierungswechsels auf einen minderen Posten abgeschoben wird. Dieser Fink, einer wirklichen Person nachgebildet, aber literarisch zur Kenntlichkeit gebracht, wird zum angstgepeinigten Kämpfer für sein Recht. Walser stellte das bei Suhrkamp erschienene Buch jetzt mit einer Lesung im Dortmunder Harenberg City-Center vor. Dort traf ihn die Westfälische Rundschau zum Gespräch.

Sie haben die vor wenigen Tagen publizierte „Frankfurter Erklärung“ mitunterzeichnet, einen entschiedenen Protest vieler Autoren gegen die Rechtschreibreform. Kommt das nicht zu spät?

Martin Walser: Ich hatte immer mein Leid mit dem Duden und mußte mich immer gegen Lektoren durchsetzen, die unter Duden-Diktat meine Manuskripte korrigiert haben. Mit nachlassender Energie habe ich immer auf meinen Schreibungen beharrt.

Nennen Sie uns ein Beispiel?

Walser: Mein Paradebeispiel ist „eine Zeitlang“. Ich hab‘ stets „eine Zeit lang“ in zwei Wörtern geschrieben. Der Duden verlangt es in einem Wort, was ja völlig unsinnig ist. Es stimmt weder historisch noch rational. Nach der neuen Rechtschreibung dürfte ich’s auseinander schreiben. Das ist für mich ein Fortschritt. Nur: Es ist eine autoritär ausgestattete Reform. Sie behebt einige Idiotien und installiert dafür andere. „Rau“ ohne „h“, da möcht‘ ich mal wissen, wer sich das ausgedacht hat…

Und wieso erheben Sie erst jetzt Einspruch?

Walser: Nun, weil Friedrich Denk (Deutschlehrer und Literatur-Veranstalter in Weilheim, d. Red.), der die Sache angeregt hat, mich jetzt befragt hat. Ich selbst hätte gedacht: Na, schön. Das ist gut, das ist blödsinnig – und hätte es dabei belassen. Weil ich sowieso nicht praktiziere, was im Duden steht. Schauen Sie: In meinem Roman „Brandung“ steht die Wortfolge „zusammenstürzender Kristallpalast“. Das müßte ich in Zukunft auseinander schreiben: „zusammen stürzender“.

Eine Sinnverfälschung?

Walser: So ist es. Hoffentlich sehen die Leute nun, daß solche Sprachnormen relativ sind. Vielleicht bildet sich gerade dann ein bißchen mehr Freiheit gegenüber den Regeln. Denn Sprache ist doch Natur – und sie ist Geschichte. Beides läßt sich nicht mit Normen lenken. Ich schreibe ja mit der Hand, folge einem rein akustischen Diktat in meinem Kopf. Wenn ich das nachher lese: Das ist so unorthographisch, so grotesk. Wenn ich Ihnen das zeigen würde, würden Sie sagen: „Das ist ein Analphabet.“ V und F geht da durcheinander wie „Fogel und Visch“. Schreibend ist man eben nicht auf Duden-Niveau.

Mal abgesehen von der Rechtschreib-Debatte: Ansonsten hat sich – Stichwort: Deutsche Einheit, die Sie früh und vehement befürwortet haben – die Aufregung um Sie ein wenig gelegt.

Walser: Zum Glück. Aber ich krieg‘ immer noch genug ab. Ein Rezensent hat geschrieben, er höre in „Finks Krieg“, in der politischen Tendenz „Marschmusik“. Seit der Diskussion um die Einheit haben die mich in diese Richtung geschickt, diese Arschlöcher! Der Peter Glotz empfindet in meinem Roman „dumpf-deutsche Fieberphantasien“. Ein anderer hat sinngemäß geschrieben: „Der Walser hat sich vom linken Kämpfer zum CSU-Festredner der deutschen Einheit entwickelt.“ Und das in einer Buchbesprechung.

Worte, die sich in Sie hineinfressen?

Walser: Ja, ja, ja. Ich wandere geistig aus d i e s e r Art von Gesellschaft aus. Ich will damit nichts zu tun haben, mit diesen Einteilungen – links, rechts. Mein Hausspruch lautet: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ In mir hat mehr als eine Meinung Platz. Ich hab‘ in den 70er Jahren erfahren, wie die Konservativen mit mir umgegangen sind. Damals hieß es: „Du bist ein Kommunist.“ Jetzt weiß ich, wie die Linken mit Andersdenkenden umgehen. Es ist noch verletzender. Und ich meine nach wie vor: Das größte politische Glück, das die Deutschen in diesem Jahrhundert hatten, ist diese Einheit. Die Misere steht auf einem anderen Blatt, aber sie hat Aussicht auf Behebung. Die Misere vorher war aussichtslos.

Und „Finks Krieg“, ist das der Roman über unsere politische Klasse?

Walser: Für mich ist es der Roman über einen leidenden Menschen. Übrigens war die Vorarbeit sehr quälend. Ich habe zwei volle Jahre Material studiert. Furchtbar. Immer nur notieren ist entsetzlich. Ein unguter Zwang. Ich bin auch nicht ganz gesund geblieben dabei. Ich habe manchmal gedacht: Vielleicht hört es überhaupt nicht mehr auf, vielleicht wirst du nie Herr des Verfahrens, vielleicht bist du nie imstande, frei zu schreiben. Mein neues Projekt hat deswegen gar nichts mehr mit Quellen und Recherchen zu tun. Es wird ein Buch über meine Kindheit – so, wie sie mir heute vorkommen möchte.

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…und hier der Text vom Oktober 1998:

Dortmund. Mit seinem Roman „Ein springender Brunnen“ hat Martin Walser (71) einen grandiosen Erfolg erzielt. Lesepublikum und Presse waren beeindruckt von dieser stark autobiographisch geprägten Geschichte einer Dorf-Kindheit in der NS-Zeit.

In die politische Diskussion geriet Walser durch seine am 11. Oktober gehaltene Frankfurter Rede zur Friedenspreisverleihung des Deutschen Buchhandels, in der er sich gegen allzu eingefahrene Wege der „Vergangenheitsbewältigung“ und gegen die „Instrumentalisierung von Auschwitz für gegenwärtige Zwecke“ wandte. Daraufhin warf ihm Ignatz Bubis (Zentralrat der Juden in Deutschland) „geistige Brandstiftung“ vor. Jetzt las Walser im Dortmunder Harenberg City-Center (Mitveranstalter: Westfälische Rundschau und Buchhandlung Krüger) aus seinem Roman. Bei dieser Gelegenheit sprach die WR mit ihm.

Haben Sie mit derart barschen Reaktionen auf Ihre Frankfurter Friedenspreis-Rede gerechnet?

Martin Walser: Natürlich nicht. Mit so etwas kann man nicht rechnen. Solche Wörter können einem ja vorher nicht einfallen, mit denen man da beworfen wird. Wenn mich jemand als „geistiger Brandstifter“ bezeichnet, dann ist das seine Sache. Ich kann das gar nicht kommentieren, weil ich es auch nicht verstehen kann. Und mich mit Rechtsradikalen wie Frey und Schönhuber zu vergleichen, weil die angeblich „auch nichts anderes sagen“… Da habe ich ein anderes Sprachverständnis.

Sind Sie verbittert?

Walser: Verbittert nicht, aber entsetzt. Ich bin doch kein Dauerobjekt für Beleidigungen! Zum Glück gab es ja auch unendlich viele andere Reaktionen, so wie noch nie. Das Thema hat sich noch lange nicht erledigt. Die Affäre wird in der Entwicklung dieses Themas in diesem Land eine Wirkung haben – welche, das bleibt abzuwarten.

Ihr Roman ist fast durchweg begeistert aufgenommen worden. Waren Sie erstaunt?

Walser: Mh. Das darf mich nicht erstaunen. Es hat mich unheimlich gefreut. Ich habe noch nie so rasch so viele briefliche Leser-Reaktionen bekommen. Ich war mir ja beim Schreiben des Romans eines gewissen Risikos bewußt. Es hat mich gerührt, daß die meisten meine Auffassung teilen, daß man auf diese Art über „damals“ schreiben kann.

Ein paar wenige Rezensenten haben moniert, Sie hätten die Schrecken des NS-Regimes nicht erwähnt.

Walser: Ja. Das ist absurd. Dieses NS-Regime kann auch auf andere Weise vorkommen, ohne daß das Stichwort „Auschwitz“ fallen muß. Wer das zu einem Pensum macht, zu einer Pflichtaufgabe, der muß damit rechnen, daß er nur Lippenbekenntnisse bekommt. Die meisten haben aber begriffen, daß in meinem Text die NS-Zeit präsent ist, so wie sie aus der Perspektive des Kindes Johann präsent sein konnte.

Was bedeuten Lesereisen für Sie? Eher eine Last oder eine Chance, vom Publikum etwas zu bekommen?

Walser: Ich mache solche Reisen vielleicht zu oft. Ich werd s sicher nicht mehr sehr lange machen, aber diesmal schon noch. Ich probiere den Text eben gerne in Sälen. Man weiß ja nie so genau, wie die Leute reagieren. Ich hatte es mir diesmal sehr schwer vorgestellt. Meine bisherigen, oft neurotischen Romanhelden habe ich pointiert dargeboten. Das hat den Leuten eingeleuchtet, da haben sie sich wiedererkannt. Jetzt hab ich diesen fünfjährigen Johann im Jahr 1932. Da war ich nicht so sicher, ob das überhaupt vorzulesen ist. Doch es geht, sehr gut sogar. Ich muß sagen: Die Leute in diesem Land sind einfach fabelhaft. Da redet man immer vom Fernsehen – und dann kommen Abend für Abend viele hundert Menschen zu den Lesungen und hören zu und reagieren unheimlich lebendig. Toll! Es gibt noch eine literarische Gesellschaft. Das hat kein bißchen abgenommen. Wer das Gegenteil behauptet, hat keinen Kontakt mit der Wirklichkeit.

Vielleicht sind Sie eine rühmliche Ausnahme?

Walser: Nein, nein. Drei meiner vier Töchter schreiben ja auch. Sehr verschieden voneinander – und keine wie ich. Eine von ihnen schreibt sogar viel schöner, poetischer und schwieriger als ich. Und doch macht sie bei Lesungen ähnlich gute Erfahrungen.

Eine erstaunliche Familie. Haben Sie Ihre Töchter Johanna, Alissa und Theresia als Kinder zum Schreiben angehalten?

Walser: Um Gottes Willen, nein. Nicht einmal zum Lesen. Es ist halt so gekommen. Außerdem ist die Sache nicht so heiter, wie sie klingt: Ich kenne den Preis des Schreibens. Man schreibt nicht, weil es einem gut geht. Im Gegenteil.

Eigentlich wollten Sie ja keine Interviews mehr geben.

Walser: Nun ja, diese Kommentierungs-Funktion wird einem „über“ – daß man immer seine eigenen Sachen auslegen soll. Im Gegensatz zum Interview kommt beim Roman keine bestimmte Meinung heraus. Ein Roman bewegt sich schwebend und landungsscheu…




Zum Tod von Brigitte Kronauer – eine Impression aus dem Herbst 2005

Ein großer Verlust für die deutsche Gegenwarts-Literatur: Die in Essen geborene Schriftstellerin Brigitte Kronauer ist mit 78 Jahren gestorben. Hier noch einmal eine kurze Impression von einer Lesung in Dortmund. Es war im November 2005. Brigitte Kronauer hatte kurz vorher den Büchner-Preis erhalten:

Brigitte Kronauer im November 2013 im Düsseldorfer Heine-Haus. (Wikimedia Commons: Udoweier / Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Brigitte Kronauer am 13. November 2013 im Düsseldorfer Heine-Haus. (Wikimedia Commons: Udoweier / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Von Bernd Berke

Dortmund. Erst seit wenigen Tagen ist Brigitte Kronauer (64) Trägerin des Büchner-Preises. Mit derlei höchsten Weihen versehen, war sie jetzt zu einer Lesung der Dortmunder Reihe „Kultur im Tortenstück“ zu Gast.

Man darf die Veranstaltung im Harenberg City-Center getrost als Rarität bezeichnen. Wie die Autorin im persönlichen Gespräch sagt, scheut sie vor längeren Lesereisen aus guten Gründen zurück. Sich dermaßen öffentlich preiszugeben, vertrüge sich nicht mit dem innigen Wunsch, die eigene Wahrnehmung der Welt in Ruhe reifen zu lassen.

Kronauer liest u. a. aus dem soeben bei Klett-Cotta erschienenen Sammelband „Feuer und Skepsis – Einlesebuch“. Auch hat sie ihr Reclam-Bändchen „Die Tricks der Diva“ bei sich. Dass sie in dieser gelben Heftreihe erscheint, ist ein Signal: Achtung, Klassikerin der Gegenwart! Sehr gepflegte Sprache! Bei ihrem Vortrag scheint hin und wieder die Lehrerin durchzuschimmern, die die gebürtige Essenerin einst (bis 1974) gewesen ist. Also lauscht man brav.

Deuten auf eine Art Klassikerstatus hin: Texte im Reclamheft. (© Reclam)

Deuten auf eine Art Klassikerstatus hin: Texte im Reclamheft. (© Reclam)

Manchen Kritikern galt sie zu Zeiten als „abgehoben“ und weltabgewandt. So ziemlich das Gegenteil ist der Fall. Alltägliches Frauendasein, Tiere, Natur, Kinder – sind das etwa entlegene Sujets? Sie greift zunächst mitten ins Leben hinein, wendet es freilich um und um, legt feinmaschige Sprachnetze darüber.

Es öffnen sich somit Blicke in andere Sphären des Bewusstseins, durch die Ritzen gewohnter „Wirklichkeit“ hindurch: Man vernimmt in Dortmund eine schwermütige und doch trostreiche Kindheitserinnerung über existenzielle Hilflosigkeit vor einer allzu üppigen Portion Griesbrei. Eine Kindergarten-Geschichte handelt von verwöhnten, sündhaft teuer herausgeputzten Sprösslingen piekfeiner Mütter. Gleichsam als „Untote“ geistern die vordem so goldigen Kleinen schließlich umher. Ein nobles Viertel in Kronauers Wohnort Hamburg bildet hierfür die Folie.

Eine weitere Passage spielt auf der Frankfurter Buchmesse, wo eine glamouröse Filmschönheit ihre gehabten Liebschaften öffentlich ausbreitet. Hier gleitet die Perspektive aus der vermeintlich banalen Außenansicht ins Innenleben. Aber geht es dort wesentlich reicher zu? Ein kurzer Absatz der Natur-Ekstase, für den Kronauer sich beim Dortmunder Publikum vorab entschuldigt („Es dauert auch nur eineinhalb Minuten“), klingt denn doch gar nicht so exzessiv. Nein, abgehoben schreibt sie nicht, sondern durchaus erdnah; behutsames Entschweben inbegriffen.

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Der Text stand am 14. November 2005 in der Westfälischen Rundschau.




„Wie sich die Welt von uns entfernt“ – die Kunst des Sterbens in Alban Nikolai Herbsts Roman „Traumschiff“

Zu den Heterotopien – den Orten, an denen abweichende Regeln gelten – zählte der Philosoph Michel Foucault neben Psychiatrien, Gefängnissen, Bibliotheken, Museen, Friedhöfen und anderen dem Alltag enthobenen Einrichtungen ganz besonders das Schiff. Das von Alban Nikolai Herbst beschriebene „Traumschiff“ kann man sich neben all dem Remmidemmi, der unentwegt für die vergnügungsfreudigen Luxuspassagiere veranstaltet wird, in etwa wie ein schwimmendes Altenheim vorstellen, inklusive Pflegestation und einiger Kühlkammern für die Leichen der unterwegs Verstorbenen.

Traumschiff Cover von der Verlagsseite

Nicht alle der mehr als 500 Passagiere und 278 Besatzungsmitglieder sind einem baldigen Tod geweiht, sondern lediglich jene 144, die „das Bewusstsein“ haben. 144 ist auch die Anzahl der Spielsteine im Mah-Jongg, dem chinesischen Sperlingsspiel, von dem der Ich-Erzähler ein schönes Exemplar in seiner Kabine aufbewahrt. Gregor Lanmeister hat „das Bewusstsein“ seit Barcelona. Doch die Handlung setzt nicht in Europa, sondern im Südatlantik, westlich von Südafrika ein, genau gesagt auf hoher See bei 33° 14‘ S / 13° 20‘ O. Von dort aus geht es nordwärts über Sankt Helena, die Kapverden, die Kanaren, Lissabon und den Golf von Biskaya in den Ärmelkanal.

Heterotopien im Sinne Foucaults repräsentieren gesellschaftliche Verhältnisse in besonderer Weise, reflektieren sie, negieren sie oder kehren sie um. Das Schiff stellt ein Modell der Gesellschaft dar, zwar mit überwiegend zahlungskräftigen Teilnehmern, dennoch mit allen Verhaltensmustern der Welt. Ein Heer schlecht bezahlter Servicekräfte hält die Sache am Laufen.

Rituale am nicht alltäglichen Ort

Was das Schiff zu einem nicht alltäglichen Ort macht, sind seine Ein- und Ausgangsrituale, das Esskontinuum, die fortwährende Musikberieselung, die Kapitänsdinner, die Spielbank, der Klabautermann, die Äquatortaufe und so weiter. Die Passagiere können und möchten sich nicht alle gegenseitig kennenlernen. „Sondern sie finden sich, dem Charakter von Spatzen völlig gemäß, in Gruppen zusammen. Die sind es, die sich erkennen. Das war zum Beispiel die Erklärung für den Rauchertisch oder die Raucherecke ein Deck höher. Es erkennen sich nicht alle untereinander, sondern immer nur einige. Die eben zueinander passen.“

Folglich werden nur wenige Mitreisende dem Leser näher beschrieben, ein Club von Auserwählten, eine „Gemeinschaft von Sterbenden“. Sie alle wissen auf eine nicht näher beschriebene Weise voneinander, wer „das Bewusstsein“ hat und wer nicht. Auf dem Weg in die große Auslöschung begegnen dem Erzähler einige Mentoren, die nicht möchten, dass er „falsch sterbe“. Eine Ars moriendi scheint auf, die teilweise durch den Schiffsarzt, Dr. Samir, oder auch mit der Stimme der Senhora Gailint spricht: „Merken Sie nicht, wie Wahrheit und Lüge uns manchmal verschmelzen? Nein, Wahrheit und Märchen hat sie gesagt. Es ist unser größtes Vermögen, sagte sie, jede Lüge in Wahrheit zu verwandeln.“ Oder: „Denn welch eine Rolle spielt es noch, wo einer überhaupt ist.“

Damit ist zugleich ein poetologisches Konzept benannt, das der Autor sowohl theoretisch ausgeführt als auch in seiner 2.000 Seiten umfassenden „Anderswelt“-Trilogie angewandt hat. Eine Synthese aus Fiktivem und Erlebtem, Alban Nikolai Herbst spricht von einem „kybernetischen Realismus“.

Indem er mit seinem Ich-Erzähler Gregor Lanmeister einen Sterbenden erzählen lässt und die Altersdemenz gleichsam von innen beleuchtet, entfaltet der Autor eine Heterotopie – in des Autors eigener Sprache: eine Anderswelt – im doppelten Sinne. Das Schiff, der in den Weiten des Meeres sich verlierende schwimmende Raum, ein Ort ohne festen Ort, in sich geschlossen, autark und den Naturgewalten ausgeliefert, ist bereits eine Anderswelt par excellence.

Kathedrale des Schweigens

Aber auch die schiffseigenen Regeln werden konsequent durchbrochen durch die körperliche und geistige Hinfälligkeit des räumlich und zeitlich desorientierten Protagonisten, der in einer Kathedrale des Schweigens das für ihn Festhaltenswerte mit den jeweiligen geographischen Koordinaten in 17 Kladden einträgt, die allesamt verschwinden – bis auf die letzte, oder war es immer nur die eine? Die Einträge sind eine lange Ansprache an seine imaginäre Geliebte, die er nach den im Südatlantik beobachteten Feenseeschwalben zärtlich Lastotschka nennt und die ihr lebendes Vorbild in der ukrainischen Bord-Pianistin hat.

Seine Einträge, aus denen sich der Roman zusammensetzt, sind eine ständige Selbstvergewisserung und Infragestellung des (scheinbar?) Erlebten. „Zeitgitterstörungen“ wäre wohl der medizinische Befund, doch den Literaten interessiert mehr das phantastische Potential. „Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“, schrieb Foucault. Gregor Lanmeister – verlieh sein Schöpfer ihm diesen Vornamen nach dem Papst, der den inzwischen weltweit gültigen Kalender zu verantworten hat? – wähnt sich womöglich seit Ewigkeiten auf dem Traumschiff. Seefahrergeschichten aus früheren Jahrhunderten erscheinen ihm wie selbst erlebt. „Gibt es nicht, Lastotschka, Legenden von Menschen, die verdammt dazu sind, ihre Leben über ihr Leben hinaus und über das aller anderen Menschen immer weiterzuleben?“

Der vermeintliche Dämmerzustand ist voller luzider Momente, und auch in den für den Leser offensichtlichen Selbsttäuschungen liegen tiefe Erkenntnisse. Gregor Lanmeister kommt zur Auffassung einer statischen Zeit, die zugleich der Tod ist. „Was wir den Tod nennen, steht einfach still. Das genau ist sein Wesen. Nur wir sind unterwegs. Er bleibt, wo er ist, und das Traumschiff schiebt sich ihm Raumsekunde für Raumsekunde entgegen. Das ist es, was wir das Sterben nennen. Wenn wir an Bord gekommen sind.“

Wortfindungsschwierigkeiten

Alban Nikolai Herbst schafft mit „Traumschiff“ eine Allegorie des Lebens und des Sterbens, eine Allegorie des Übergangs. „Das Bewusstsein“ – so viel wird klar – hat auch damit zu tun, sein Ziel zu kennen. „Aber vielleicht sind es verschiedene Ziele, für jeden Menschen ein anderes, oder sogar mehrere. Manche, habe ich den Eindruck, kennen es bereits vor dem Bewusstsein, haben es im Blut. Ich stelle mir das vor wie bei den Tieren den Instinkt.“ Sein Ziel in sich haben. So streift der Autor elegant den schönen aristotelischen Gedanken der Entelechie – heute würde man von Selbstverwirklichung sprechen.

Die Dinge werden für ihn transparent, wie in Vladimir Nabokovs spätem Roman Durchsichtige Dinge, der aus der Perspektive eines bereits Gestorbenen erzählt ist. „Darum schauen wir durch die Dinge hindurch, durch den Topf und den Holzlöffel und die Binde vor den Augen. Wir durchschauen die Dinge und Euch. Aber wir lassen es Euch nicht merken, damit nicht Ihr wie kleine Kinder dasteht. Sondern wir leiten es um auf uns.“

Der im Gehen bereits eingeschränkte Herr Lanmeister mutet sich zu viel zu und stürzt. Er hört den Schiffsarzt etwas von einem „zweiten Schlaganfall“ murmeln; sonst aber hält sich der Autor mit der Benennung von Diagnosen zurück. In der Darstellung des Funktionierens beziehungsweise Nicht-Funktionierens menschlichen Denkens dürfte der Autor auf der Höhe der gegenwärtigen Gehirn- und Gedächtnisforschung sein. In seinen Wortfindungsschwierigkeiten fallen Lanmeister immer wieder Wörter ein, die seine Großmutter benutzt hätte, die Frau, bei der er aufwuchs, weil seine Mutter, ihn, das „Russenkind“, nicht wollte – „liederlich“, „bedröppelt“, „betüdeln“ – der Autor bewahrt sie vor ihrem allzu schnellen Verschwinden.

Fließender Übergang vom Erlebten zum Ausgedachten

Durch die fortlaufende Mitschrift seines Lebens, dem Blog Die Dschungel. Anderswelt ließ Alban Nikolai Herbst seine Leser von April bis Juni 2014 das Logbuch seiner Reise, das auch zahlreiche Fotos enthält, in Echtzeit miterleben. Der WDR sendete außerdem eine vom Autor vorgenommene Zusammenstellung von O-Tönen und vorgelesenen Texten als Hörstück unter dem Titel „Eine akustische Kreuzfahrt“, die weiterhin im Internet verfügbar ist. Auf der Website der Reederei ist unter anderem der Deckplan der MS Astor als detaillierte Risszeichnung einsehbar.

Die Kapitel des Romans sind nach exakten geographischen Koordinaten benannt. Von der Lage seiner Kabine über die Wege des Autors bis zu den lebenden Vorlagen seiner Geschichte lassen sich alle möglichen Einzelheiten des Romans im „wirklichen“ Leben nachverfolgen. Und doch handelt es sich bei „Traumschiff“ großenteils um einen phantastischen Roman – eine Seltenheit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bei nachträglicher Lektüre des minutiös Dokumentierten wird deutlich: der Anteil an Erfindung ist immens. Doch im Unterschied zur Anderswelt-Trilogie, deren Teile 1998, 2001 und 2013 erschienen sind, und zum Blog „Die Dschungel. Anderswelt“, in dem auch hartgesottene A.N.H.-Fans den Überblick verlieren können, macht es der Autor mit dem übersichtlichen Roman „Traumschiff“ (320 Seiten) seinen Lesern leicht. Und schön.

Mit der Wahl eines in der Zuverlässigkeit seiner Äußerungen fragwürdigen Protagonisten hat der Autor alle Möglichkeiten, auch das Unwahrscheinlichste überzeugend vorzuführen. Ob es sich bei den unvermittelt in seiner Kabine auftauchenden Spatzen um die verwandelten Ziegel des chinesischen Sperlingsspiels handelt; ob sich mitten auf dem Meer tatsächlich Zikaden auf dem oberen Deck niedergelassen haben; ob die Mantarochen fliegen können – wenn nicht real, so empfindet der Erzähler diese Phänomene als von einer die Wirklichkeit übersteigenden Schönheit. „Wir sind sowieso, Lastotschka, längst dreiviertel drüben. Nur ist dieses Drüben ein Teil dieser Welt. Jede ihrer Fasern wurzelt im Drüben. Aus dem saugt sie Nahrung herauf.“

Eine Art Lebensbeichte

Wohl sämtliche mythologischen und kulturgeschichtlich überlieferten Konzepte vom Sterben und vom Tod werden im Vorbeifahren aufgegriffen, und der Autor lanciert dabei auch manche Spitze gegen allzu esoterische Vorstellungen. Sie alle haben den Makel, dass sie lediglich aus diesseitiger Perspektive entwickelt wurden.

Zwischendurch tauchen Erinnerungen auf, die den Sterbenden peu à peu zu einer Art Lebensbeichte veranlassen. Lanmeister hat bei weitem nicht alles richtig gemacht, als Geschäftsmann im zwielichtigen Handel mit Halbleitern, im Umgang mit Frauen, und vor allem reut es ihn, sich zu wenig um seinen Sohn gekümmert zu haben, der nach einer unschönen Scheidung den Kontakt zum Vater abbrach. Auch sentimentales Abschiednehmen auf seiner letzten Fahrt wird – zum Beispiel vor Ascension – deutlich, der kleinen tropischen Insel im Südatlantik, 1297 km nordwestlich von St. Helena: „Nie käme ich hier wieder hin. Weil ich das wusste, stieg Wehmut in mir hoch.“ Ihn tröstet, dass alles Gewesene eine Spur hinterlässt. Über den körperlichen Schmerz will Lanmeister nichts zu Papier bringen. Eher über seine Dankbarkeit. „Mit jedem Tag nimmt unsere Dankbarkeit zu. Wie sich die Welt von uns entfernt. Dann wird alles zur Meeresglut. Was aber ein Glühen der, wie ich Dir schon geschrieben habe, Zeit ist. Indem sich an ihr der Abend entzündet.“

Ein mystisches Verschmelzen mit allem und jedem? Das einmalige Erreichen von Allwissenheit? Ein kurzer posthumer Nachsatz stellt klar, dass es so nicht ist. Dennoch: Die dem Protagonisten vergönnte Art des Sterbens ist – ohne es zynisch zu meinen – vergleichsweise privilegiert.

Die MS Astor, auf der Alban Nikolai Herbst den Südatlantik bereiste, übertrifft die ähnlich gebaute „Astor“ aus der Fernsehserie „Traumschiff“ an Länge lediglich um zwölf Meter; der Roman als Kunstwerk aber unterscheidet sich von der ehemals wöchentlichen Soap fundamental. Alban Nikolai Herbsts „Traumschiff“ ist ein meisterhaft ausgedachter Roman, mutig, voller weiser Worte und pure Poesie obendrein. Das richtige Buch für alle, die irgendwann einmal älter werden und sterben müssen.

Alban Nikolai Herbst: „Traumschiff“. Roman. Mare Verlag, Hamburg. 320 Seiten, 22,00 Euro.




Familienfreuden XIX: Von endgültigen Abschieden

Heute wird es nicht ganz so freudig in den Familienfreuden. Es geht um den Tod. Fiona ist noch nicht ganz drei Jahre alt – aber das Thema Sterben ist für sie schon präsent.

Abschiede werfen Fragen auf. (Bild: Albach)

Abschiede werfen Fragen auf. (Bild: Albach)

Es gibt viele wunderschöne Momente, unbezahlbare, leuchtende, die wir mit Fiona erleben. Dann auch nervige. Ärgerliche. Traurige. Aber bei dem Thema Tod merke ich, dass ich vor allem eins bin: verunsichert. Wie soll man mit einem kleinen Kind darüber reden? Was kann man ihm zumuten – und was nicht?

Als ein lieber Mensch letztens schwer krank im Krankenhaus lag, fand ich eine Broschüre. Dort stand klar, man solle Kindern sagen, was los sei – egal, wie alt sie sind. Ihnen erklären, dass XY sehr krank ist, aber die Ärzte sich gut um XY kümmern. Also fasste ich mir ein Herz und erklärte Fiona genau das. Sie hörte sich alles mit großen Augen an und es schien zunächst, als habe das Gesagte sie nicht sonderlich beeindruckt. Wenige Stunden später aber wirkte sie völlig verstört, ganz anders als sonst, in sich gekehrt und bedrückt. Als ich sie fragte, was los sei, antwortete sie, dass sie Angst hätte – vor einem Mann, der immer so traurig sei.

Ich beschloss: Uneingeschränkt sagen, was los ist, ist zumindest für unsere Tochter keine gute Idee.

Ich merkte aber auch, wie schwierig der Umgang mit dem Thema Tod und Sterben ist, weil er es auch für mich ist. Das klingt erst einmal banal. Es hat mir aber doch deutlich gezeigt, wie weit weg ich dieses Thema bisher aus meinem Leben gehalten habe. Wie also erklärt man einem Kind, was einen selbst beunruhigt?

Ich recherchierte viel. Und fand Internetseiten von Trauerberatern. Auch dort hieß es, man solle möglichst offen mit den Kindern reden. Bei einem Fallbeispiel lag der tote Vater sogar tagelang in der Wohnung der Familie, damit seine Kinder sich von ihm verabschieden konnten.

Ich bekam zunehmend das Gefühl, das keiner dieser Ratschläge sich wirklich an der Lebensrealität einer nicht ganz Dreijährigen orientierte – zumindest nicht an der unserer Tochter. Das Krankheit auch zum Tod führen kann, ist für sie unvorstellbar: Sie nimmt bei Husten ihren Saft und ist nach ein paar Tagen wieder gesund.

Vor wenigen Wochen ist ein guter Bekannter sehr plötzlich gestorben. Fiona war einige Zeit danach bei seiner Frau zu Besuch. Hinterher fragte sie mich: „Wo war der Mann?“ „Er ist gestorben. Das heißt, er ist nicht mehr da und er kommt leider auch nicht mehr wieder“, sagte ich, um Ehrlichkeit bemüht. „Warum?“ kam unausweichlich die Nachfrage. Ich atmete tief ein. Und griff auf den einzigen Ratschlag zurück, den ich bei meiner Recherche für annehmbar gehalten hatte: Ich suchte nach einem Bild, das für sie ansatzweise vertraut ist. „Er ist jetzt ein Stern. Und immer, wenn wir abends in den Himmel schauen, können wir ihn sehen und ihm winken.“ Fiona schaute mich nachdenklich an. „Schläft er auf einer Wolke?“ „Ja.“ „Auf einer blauen!“, beschloss sie – und schlief ein.

Am nächsten Morgen beim Frühstück spukte ihr das Gespräch noch im Kopf rum. Sie ging alle Menschen durch, die ihr nahe stehen, und fragte, ob sie gestorben seien. Wir schluckten ein bisschen und sagten, dass sie alle leben. Fiona aß ihr Brötchen weiter.

Als wir später zum Spielplatz liefen, lag eine tote Hummel gekrümmt auf dem Boden. Fiona und ich schauten sie genau an. Dann nahmen wir eine ihrer Schaufeln und schoben die Hummel darauf. Fiona trug das kleine Tier zu den Beeten und legte es zu den Blumen.




„Jeder soll leben, für immer“ – „Das Buch gegen den Tod“ aus dem Nachlass von Elias Canetti

Es ist kein erzählendes Werk, auch keine Lyrik, kein Tagebuch und keine philosophische Abhandlung. Was aber ist Elias Canettis „Buch gegen den Tod“?

Schwer zu sagen. Man liest zahllose einzelne Sätze und Absätze, oft in Paradoxien zugespitzt, vielfach in aphoristisch vollendeter Form. Bruchstücke einer großen Konfession. Eine imponierende, sprachlich und gedanklich funkelnde Materialsammlung – wider den Tod. Ein „unmögliches“ Unterfangen also? Doch genau solche verzagten, schicksalsergebenen Gedanken hätte Canetti nicht gelten lassen. Obwohl auch er gelegentlich solche Anwandlungen hatte. So bezichtigt er seine eigenen Mühen einmal mit diesen Worten: „…nichts als ein Prahlen und von Anfang zu Ende so hilflos wie jeder andere.“

Zeitlebens hat Elias Canetti („Die Blendung“, „Masse und Macht“) Sätze und Gedanken aufgehoben, die sich dem Tod widersetzen, die ihn weder bejahen noch hinnehmen. Das stetig anwachsende Werk ist fragmentarisch geblieben. Canetti selbst hat vorgeschlagen, dass andere daraus ein Buch machen sollten. Ohne sein weiteres Zutun.

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Nun liegt ein solcher Versuch vor. Für den Hanser-Verlag haben Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger sich der Aufgabe gestellt, Canettis Aufzeichnungen über den Tod in einen Zusammenhang zu bringen. Sie haben sich vor allem an eine zeitliche Abfolge gehalten, was Canetti zu Lebzeiten selbst erwogen hat: „Vielleicht würde es genügen, alle noch unpublizierten Aufzeichnungen über den Tod in chronologischer Folge aneinanderzureihen.“ Einen systematischen Plan fürs große Ganze hatte der vom Thema Besessene offenbar nicht. Er stürzte sich immer wieder hinein und schreckte doch davor zurück.

Zwar ist manches schon andernorts erschienen, doch rund zwei Drittel der Texte liegen erstmals gedruckt vor – und das trotz strenger Auswahl aus dem Nachlass. Die wesentlichen Aufzeichnungen reichen von 1942 bis in Canettis Todesjahr 1994.

Die Anfänge liegen also mitten im Zweiten Weltkrieg, woraus sich schon ein Antrieb herleiten lässt: der Protest, der Aufschrei gegen das allgegenwärtige Töten und Sterben. Schon das Zählen der Toten im Kriege raubt Canetti zufolge dem Einzelnen alle Würde. Hinzu kommen traurige Anlässe wie der frühe Tod des Vaters und später der Mutter, die Canetti niemals verwinden kann. Dies drängt ihn gleichfalls zum Schreiben.

„Der Gedanke an einen einzigen Menschen, den man verloren hat, kann einem Liebe zu allen anderen geben.“ Und also soll niemand sterben. Notiz von 1993: „Nicht einer, nicht ein einziger darf verlorengehen, jeder soll leben, für immer.“ Ein ungeheuerlicher Anspruch.

Canetti postuliert „ein allmächtiges Gefühl von der Heiligkeit jedes, aber auch wirklich jedes Lebens“. Seine Schlussfolgerung: „Ich anerkenne k e i n e n Tod.“ Oder auch: „Der Tod soll – ohne billigen Betrug – sein Ansehen verlieren. Der Tod ist falsch. Es ist unser Sinn, ihn falsch zu finden.“ Und so fort, in Hunderten von Formulierungen, die den Tod umkreisen und geradezu belauern; mal zornig und mal fintenreich.

Natürlich weiß ein scharfsinniger, freilich oft genug ins Surreale ausgreifender Denker wie Canetti, dass man es sich mit der Ablehnung des Todes nicht leicht machen darf – im Gegenteil. Dem Tod zu widersagen, bleibt seine lebenslange, sozusagen heroische Aufgabe. Also sucht er den Tod von allen Seiten her zu stellen und zu fassen, wie in einem unaufhörlichen Kampfgetümmel.

Dabei verwirft er harsch die Haltung anderer Schriftsteller. T. S. Eliot, der tote Dichter abqualifiziert, wird ebenso gescholten wie Hemingway mit seinem Kult des Tötens. Auch Thomas Bernhard, den Canetti zunächst als seinen Schüler schätzt, gebe – ähnlich wie Samuel Beckett – dem Tod nach.

Lodernd gegenwärtig muten die Äußerungen zum israelisch-arabischen Sechstagekrieg im Juni 1967 an. Canetti, der Mann jüdischer Herkunft, fühlt sich nach eigenem Bekunden vom Bild toter ägyptischer Soldaten so sehr verfolgt wie von Auschwitz: „Ich kann zwischen Toten keine Unterschiede machen.“ 1991 wird er dann vehement ein entschiedenes Einschreiten gegen Saddam Husseins Größenwahn fordern.

Rastlos sucht Canetti nach Mitteln der Gegenwehr (als wolle er eine neue Religion über alle Religionen hinaus stiften): ob nun in der Bibel (anfängliche Unsterblichkeit Adams, bis er vom Apfel aß), in den Mythen der Aborigines oder in Lehren von der Wiedergeburt, selbst in der am Horizont aufscheinenden technischen Möglichkeit, sich für kommende Zeiten einfrieren und eines Tages auftauen zu lassen. Auch Zeugungskräfte werden vom virilen Canetti, der noch mit 66 Jahren Vater einer Tochter geworden ist, als hoffnungsvolles Zeichen der Wiedergeburt aufgerufen.

Elias Canetti hat das Arsenal wider den Tod reichhaltig angefüllt, die Formulierungen liegen bereit. Was künftige Menschen daraus machen werden, können wir nicht wissen.

Und wer weiß, was uns von Canetti selbst noch erwartet. Er hat verfügt, dass seine Tagebücher und Briefe bis ins Jahr 2024 nicht publiziert werden dürfen. Ob sein Oeuvre danach noch einmal eine andere Dimension bekommt?

Elias Canetti: „Das Buch gegen den Tod“ (aus dem Nachlaß herausgegeben von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz). Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Carl Hanser Verlag, München. 352 Seiten. 24,90 Euro.




Nur ein Ausruf statt eines vierfachen Nachrufs: Verfluchter Tod!

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Die Einschläge kommen näher? Nein, mit diesem billigen Schauder-Scherzchen kommen wir nicht davon, wenn – wie dieser Tage – kulturelle Vorbilder in rasend kurzer Abfolge sterben.

Man verzeihe die in der Summe beinahe lieblos wirkende Aufzählung, doch sie alle haben in den letzten Tagen die Welt verlassen: der Dirigent Lorin Maazel, der Schauspieler Gert Voss, die Schriftstellerin Nadine Gordimer und der Rockgitarrist Johnny Winter.

Ganz verschiedene Gestalten der Künste, fürwahr. Doch jede(r) eine große Schöpferkraft auf seinen Feldern. Menschen, die in beispielhafter Weise verwirklicht haben, was ihnen gegeben war.

Dies ist kein Nachruf. Erst recht kein vierfacher. Ich kann wahrlich nicht behaupten, dass ich von allen vier Werken gleich viel verstünde. Wer könnte das schon? Aber man ist – mehr oder weniger – von diesen immensen Lebensleistungen berührt worden.

Gewiss: Auch mit jeder armen, unscheinbaren Seele schwindet ein Stück Welt. Doch in den genannten Fällen gehen zudem ganze Welten dahin, die viele Menschen miteinander verbunden haben.

Man möchte stets wieder „Oh nein!“ ausrufen, wenn man solche Nachrichten hört. Man möchte dem elenden Tod noch und noch widerstehen. Erhellendes dazu lese man beim heroischen Todes-Widersacher Elias Canetti nach.

Man verliert auch etwas von sich, wenn solche Künstler gehen. Allein das Bewusstsein, dass von ihnen nichts Neues mehr kommen wird, lässt uns wieder ein wenig altern. Auch die Erwartung und die Ausrichtung auf Zukunft sterben stückweise. Wir werden es weiterhin erleben – und ersterben.




Zum Tod von Christian Tasche

Gestern kam mein Mann die Treppe runter, ganz blass, und fragte: „Du kennst doch Christian Tasche, oder?“ Ich nickte. „Er ist tot.“

Das hier wird kein Nachruf, keine Ansammlung von Daten und Fakten. Ganz sicher gibt es Menschen, die Christian Tasche sehr viel besser und enger kannten. Das hier ist eine Sammlung persönlicher Erinnerungen, ein Fluss von Gedanken, es ist das Mindeste, was ich jetzt für Christian tun kann und es ist auch der ganz persönliche Versuch, diesem Gefühl von Irrealität zu begegnen, das ich seit gestern habe. Vor anderthalb Wochen habe ich noch mit Christian Tasche telefoniert – und jetzt ist er gestorben, am letzten Donnerstag, 7. November, „plötzlich und unerwartet“, wie es der WDR schreibt.

Hüftschwung

Viele kennen Christian Tasche als Staatsanwalt Wolfgang von Prinz im Kölner Tatort, an der Seite der Kommissare Ballauf und Schenk. Ich habe ihn in einer weitaus weniger knorrigen, sehr viel schillernderen Rolle kennengelernt – als Dortmunder Ensemble-Mitglied bei den „Liebesperlen“. Als ich als Kulturredakteurin in Dortmund anfing, kannte ich die Kult-Revue nicht. Aber als Elvis-Fan fielen mir sein Hüftschwung und sein Timbre natürlich direkt auf. In dieser bunten Sammlung von Akteuren aufzufallen, ist nicht einfach – Christian Tasche hat es immer geschafft.

Christian Tasche in einem Kölner "Tatort" (© WDR/Uwe Stratmann)

Christian Tasche in einem Kölner „Tatort“ (© WDR/Uwe Stratmann)

Und das gilt für ihn auch neben der Bühne. Als Journalist kommt es häufig vor, dass man für Andere vor allem für einen bestimmten Zweck wichtig ist. Christian Tasche begrüßte mich schon nach der zweiten Begegnung mit Namen, ganz ohne Allüren. Er fragte nach, er interessierte sich für Menschen, nicht allein für ihre Funktion.

Von Herzen

Ich habe Christian Tasche als jemanden kennengelernt, der sagte, was er dachte – und gleichzeitig stets Humor zeigte. Selbst, als er einmal bei einer Probe ein wenig grummelte, weil die Choreographie nicht passte, trällerte er im nächsten Moment gut gelaunt ein von Herzen kommendes „Viiiiita bella!“

Apropos Herz. Christian Tasche hatte ein ganz großes. Das habe ich persönlich erlebt, als die Redaktion der Westfälischen Rundschau schloss und er mich sofort empört anrief. Das hat aber auch sein Handeln allgemein bestimmt – im Großen wie im Kleinen: Er hat sich mit dem Verein „Tatort – Straßen der Welt“ für benachteiligte Kinder engagiert. Und das Festival „FatPigtures“ in Unna zur Förderung des Filmnachwuchses zur Herzensangelegenheit gemacht.

Ungerechtigkeit trieb ihn zur Weißglut. Um einer Freundin in Not jüngst zu helfen, lotete er jede Möglichkeit aus, telefonierte, fragte, bat.

„Nur Mut“

Wenn ich mit ihm sprach, schien vieles aus seinem Mund leicht – ohne oberflächlich zu sein. Als ich ihm erzählte, dass meine Tochter sieben Wochen zu früh zur Welt gekommen war, meinte er: „Nur Mut, die Kleinen werden später mal ganz groß!“

Sein sonores Lachen habe ich immer noch im Ohr.

„Möge Euch 2013 alles gelingen“ schrieb er in einer Mail zum neuen Jahr. Das geht jetzt nicht mehr.

 




Gedanken zum Tod von Otto Sander

Otto Sander ist tot. Ein Schlag in die Magengrube, als ich das gelesen habe. Otto Sander, dieses Gesicht, diese Stimme.

Otto Sander hat mir bewiesen, dass man sich auch in eine Stimme verlieben kann. Als ich damals Oscar Wildes „Das Gespenst von Canterville“ hörte, da wusste ich zunächst nicht, dass ich Otto Sander lauschte. Ich war einfach verzaubert, von dem Kratzen, der Tiefe, diesem einzigartigen Klang, der die Geschichte zu Bildern formte. Otto Sander war schon mit seiner Stimme ein Schauspieler. „Das Gespenst von Canterville“ gehört seitdem für mich zu den Klängen, die Weihnachten einläuten.

Wirkung

Ich will hier nichts schreiben von Otto Sanders Biographie, seinen vielen Auftritten, mit wem und wann er gearbeitet hat – das können andere viel besser, das wäre anmaßend von mir. Ich kann nur schreiben über die Wirkung, die Otto Sander auf mich hatte.

Da gibt es zwei Worte, die für mich unbedingt zu ihm gehören: Tiefe und Authentizität. Otto Sander konnte selbst den kleinsten Dingen Bedeutung geben, nichts an ihm erschien banal oder oberflächlich. Das Gesicht, so voller Furchen, jede einzelne die Verheißung einer Geschichte, die Augen, so bodenlos. Das ist es, was ich nicht vergessen werde, die Stimme, das Gesicht.

An der Bar

Dann gab es noch diesen Abend, eine Lesung mit Benjamin von Stuckrad-Barre im Schauspielhaus Bochum. Er habe, erzählte der Autor, Otto Sander gerade an der Bar gesehen – vielleicht käme er ja später noch dazu. Immer wieder an diesem Abend erwähnte Stuckrad-Barre Otto Sander. Ich weiß gar nicht, ob er schlussendlich wirklich in den Saal, auf die Bühne kam, so lange ist das schon her. Aber im Grunde war das auch unnötig. Es war einfach dieses Bild, das blieb: Otto Sander, an der Bar, vielleicht rauchend, vielleicht ein Glas vor sich, vielleicht allein.

Danke für viele unvergessliche Momente.




Von der Zeugung bis zum Tod – umstrittene „Körperwelten“ bald in Bochum

„Das wird auch für das Ruhrgebiet ein Knaller.“ – So volltönend zitiert die WAZ in ihrem Online-Auftritt Michael Scholz, den Sprecher der Event-Agentur „All in one“.

Worum geht es da wohl? Rock und Pop der Weltklasse? Spitzensport? Anderweitige Rekordversuche? Was soll so spektakulär sein, dass der PR-Mann es so lautstark anpreist wie ein Marktschreier?

Nüchtern gesagt: Es geht um öffentlich gegen Eintrittsgeld präsentierte Leichen. Aber natürlich nicht um ganz gewöhnliche, sondern um solche, die nach der patentierten Methode des Gunther von Hagens „plastiniert“, also derart konserviert wurden, so dass sie zu Schaustücken für „Körperwelten“-Ausstellungen taugen.

Vom 30. August 2013 bis zum 19. Januar 2014 wird der offenkundig außerordentlich populäre Wanderzirkus (insgesamt an etlichen Orten schon über 36 Millionen Besuche seit 1996) in Bochum gastieren. Die Stücke kommen direkt aus Wien, der Stadt also, der man ohnehin einen speziellen Hang zum Morbiden nachsagt.

(Nicht)-Bebilderung zu diesem Beitrag

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Was hat man Gunther von Hagens (68), der inzwischen an der Parkinson-Krankheit leidet und die Regie zeitig in andere Hände gelegt hat, nicht alles vorgeworfen – vor allem Störung der Totenruhe, Verletzung der Menschenwürde, Bedienung niederer Schaulust. Wollte man mich fragen, so würde ich nicht verhehlen, dass ich dieser Auffassung zuneige.

Gegen andere Vorwürfe hat sich von Hagens erfolgreich gerichtlich gewehrt, wir wollen sie daher nicht mehr aufgreifen. Wer will, lese es andernorts nach.

Man kann freilich schaudern, wenn man sich die Exponate vorstellt, die nun auch das Ruhrgebiet ereilen sollen. „Die Schau gibt Einblicke, die unter die Haut gehen“, gibt der idr-Nachrichtendienst des Regionalverbands Ruhr (RVR) formelhaft kund. Man kann das so und so verstehen.

Für manche mag es ein Kitzel sein, andere graust es vorm Gruselkabinett. „Die Zyklen des Lebens“ (Titel der Ausstellung) sollen den menschlichen Daseinskreislauf von der Zeugung bis zum hohen Alter und zum Tod darstellen. In unguter Erinnerung ist noch der Augsburger Streit um präparierte Leichen, die so arrangiert wurden, als hätten sie Geschlechtsverkehr. Dieses zuweilen fruchtbringende Tun an sich ist unter Lebendigen beileibe nicht obszön, im Gegenteil; aber es gibt Formen und Zusammenhänge, in denen es widerlich werden kann.

Umsonst ist der Tod? Nun, wie man’s nimmt. Der Eintritt in Bochum kostet für Erwachsene immerhin 18 Euro, für Kinder müssen auch schon 13 Euro berappt werden. Schauplatz ist übrigens eine angemietete Halle des Mercedes-Händlers Lueg an der Hermannshöhe. Nein, da möchte man lieber keine assoziativen Querverbindungen zwischen Ausstellung und Markenimage herstellen.

Infos: http://www.koerperwelten.com/de/bochum




Soziale Miniaturen (13): Ein Nachruf im bleibenden Zorn

 

 

 

 

 

 

 

Es ist einer gestorben, um den ich nicht richtig trauern mag.

Wie man hört, muss sein Sterben qualvoll gewesen sein. Kann man hier jegliches Mitleid verweigern? Eigentlich nicht. Sicherlich nicht.

Doch zu seinen Lebzeiten habe ich ihn als ein Charakterschwein hassen gelernt. Ja, ich schreibe diese furchtbaren Worte ganz bewusst hin und weiß, dass nicht wenige diese Zeilen unterschreiben würden. Mir ist schon geläufig, dass Hass und Feindschaft schlechteste Ratgeber sind. Auch verraten derlei entschiedene Abneigungen viel über einen selbst. Geschenkt.

Und überhaupt: Über die Toten darf nur Gutes gesagt werden. Es wäre in diesem Falle gar selbstlos. Eher schon neige ich zu einem Nachruf im bleibenden Zorn. Ich will nicht daran ersticken.

Meine nicht allzu tiefe Trauer betrifft denn auch eher allgemeine Sphären. Das Leiden an sich. Die Conditio humana. Hier ist ja ein Mitmensch verstorben. Auch mit ihm ist eine ganz eigene Weltsicht hinweg – wie krude auch immer. Auch er hat sein Innenleben gehabt. Nur hat er es niemals offen gezeigt, sondern mit aller Machtanstrengung einen Kraftkult der Unangreifbarkeit verkörpern wollen. Wie der sich immer über alle Alten und Schwachen lustig gemacht hat! Wie überaus dumm und kurzsichtig das gewesen ist. Es ist, als hätte er nun den allerhöchsten Preis für seinen Zynismus entrichtet.

Er wurde mitten im Weltkrieg geboren, wahrscheinlich hat man ihm in aller Kindesfrühe unerbittliche Härte eingepflanzt. Ebenso wahrscheinlich ist er im Innersten ein armes Würstchen gewesen, insgeheim um ein Zipfelchen Zuneigung bettelnd, freilich ringsum gepanzert. Solch einer wird dann unter gewissen Umständen zum gnadenlosen Schleifer und Galeeren-Einpeitscher, was elend sentimentale Anwandlungen vor hohen Feiertagen und im allfälligen Alkoholnebel nicht ausschließt.

Er hatte sich eine tigerhaft gefährlich klingende Stimmlage antrainiert, er hat sich – völlig ungebrochen, daher zunehmend lächerlich – als Alphamann geriert, hat dabei vielen die Motivation geraubt, sie erdrückt, vor den Kopf gestoßen oder gedemütigt. Etlicher Groll und unterdrückte Wut haben sich gegen ihn angesammelt. Umso betrüblicher, dass er höchst selten wirklichen Widerstand erfahren hat. Ein diktatorisches Lehrstück.

Für seine dumpfen Scherze aus dem Ungeist gesammelter Vorurteile hat er lachbereite Hilfstruppen gefunden, die sich wohl Vorzugsbehandlung oder wenigstens Schonung erhofften. Er hat sich sehr genau gemerkt, wer da nicht aus vollem Halse mittun wollte. Doch nie, nie hat man erlebt, dass er selbst wohlwollend oder gar herzlich über den Scherz irgend eines anderen gelacht hätte. Das hätte er sich selbst als Schwäche angerechnet.

Seine sterblichen Überreste sollen in Frieden ruhen, den er manchem Lebendigen nicht gelassen hat. Und damit gut.




Soziale Miniaturen (10): Am Friedhofstor

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof (Bild: Bernd Berke)

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof (Bild: Bernd Berke)

Vier Rentnerinnen am schmiedeeisernen Tor zum Friedhof. Trautes Tratschen im Vorfeld der letzten Dinge.

Auf einmal kommt Bewegung in das Grüppchen. Schräg gegenüber, nah beim Hospiz, haben sie ein noch älteres Paar erblickt, vielleicht um die 85 Jahre. Es sind zwei, die innig zueinander gehören. Jetzt und für immerdar. Das sieht man sofort, wenn man es sehen will. Sie sind rührend umeinander bemüht. Die Erde wird ihnen daher so leicht, wie es noch irgend geht. Man mag an den Mythos von Philemon und Baucis denken. Aber diese beiden hier machen den Eindruck, als hätten sie sich erst kürzlich kennen gelernt. Etwas Neues, wie frisch Verliebtes ist in ihrem Tun, in ihrer ganzen Haltung, so gebeugt sie auch zwangsläufig sei.

Und die vier am Friedhofstor? „Ach, guckt mal da, unser Pärchen“, zischelt eine. Gelächter. Das steigert sich noch, denn eine andere ergänzt: „Unser Pärchen / wie Hans und Clärchen…“ Falscher Reim aufs Leben.




In schweren Zeiten – Nach dem Tod von Papst Johannes Paul II.

Ganz gleich, ob man die Ansichten des Papstes geteilt hat oder nicht: Seinen irdischen Tod hat Johannes Paul II. mit einer Fassung und Würde auf sich genommen, die wohl nur aus tiefstem Glauben heraus zu verstehen ist. Vor dieser Haltung müssten sich selbst hartgesottene Atheisten verneigen und sich fragen, wie es denn um ihre eigenen „Gewissheiten“ bestellt ist – jetzt und in der Stunde des Todes.

Es ist abermals Zeit, das große Wort zu zitieren, mit dem Papst Johannes Paul II. 1978 zu Beginn seiner Amtszeit ein Signal setzen wollte: „Habt keine Angst!“ Denn es kommen wahrlich schwere Jahre auf die katholische Kirche und auf ihren künftigen Oberhirten zu.

Große Aufgaben für den Nachfolger

Es wird für jeden Nachfolger eine ungeheure Aufgabe sein, aus dem Schatten des verstorbenen Pontifex herauszutreten. Karol Wojtylas historischer Einfluss ist unbestreitbar. Gewiss, nicht nur einzelne Persönlichkeiten machen Geschichte. Doch hätte der Papst seinerzeit nicht die polnische Oppositionsbewegung Solidarnosc auf so kluge Weise (ebenso behutsam wie wirksam) ermutigt, so gäbe es vielleicht heute noch eine Sowjetunion und eine DDR.

Auch stand Johannes Paul II. für Schritte zur Versöhnung mit den anderen Weltreligionen und für eine entschiedene Friedenspolitik ein. Wichtig war vor allem sein Einspruch gegen den Irak-Krieg. Andernfalls hätten fundamentalistische Kräfte der islamischen Welt mit noch mehr Furor vom „Kreuzzug“ reden können. Zudem wäre seine unbedingte Parteinahme für das werdende Leben in ein ungutes Zwielicht geraten. So aber verdient sie – über allen Streit hinaus – tiefen Respekt.

Wie ein Pop-Star, aber auch ein strenger Geist

Zuweilen gab sich dieser Papst wie ein Pop-Star, dessen Charisma auch junge Leute faszinierte. Er konnte allerdings auch ein äußerst strenger Mahner sein, der etwa in Nicaragua dem kritischen Katholiken und Sozialisten Ernesto Cardenal den Segen verweigerte und dem Schriftsteller stattdessen eine barsche Strafpredigt hielt. Doch auch der Materialismus und die Gier der westlichen Welt waren ihm zuwider. Erst recht, als sie auch in reinem Heimatland Polen Einzug hielten und die Menschen vor den neuen Super.“ märkten statt vor den Kirchen Schlange standen.

Sein Nachfolger wird Felder vorfinden, die Johannes Paul II. als Ödland hinterlässt. So gilt es, endlich die erstarrten oder ausgesetzten Reformen des II. Vatikanischen Konzils fortzuführen. Manche sprechen gar von einer „Gegenreformation“, die der polnische Papst im Sinn gehabt habe. Hier haben sich Konflikte angestaut, die nichts Gutes verheißen, ja eine Kirchenkrise größeren Ausmaßes befürchten lassen.

Bleibende Kraft des Glaubens

So muss der katholische Klerus ganz dringlich das Verhältnis zu den weiblichen Gläubigen klären. Fragen zur Empfängnisverhütung, zur Abtreibung und zum Zölibat sollten neu erwogen werden. Mehr noch: Die Gesten in Richtung anderer Religionen waren wertvoll, letztlich aber nur halbherzig. Nach wie vor verneint der Vatikan das gemeinsame Abendmahl mit protestantischen Christen.

Karol Wojtyla hat geradezu übermenschliche Anstrengungen unternommen, um die katholische Kirche nicht einer modernistischen Beliebigkeit auszuliefern. Unter seinem Pontifikat haben Geheimnisse und Mysterien des Glaubens wieder einen höheren Stellenwert erhalten. Tatsächlich kann man sich fragen, ob eine allzu bereitwillige Weltläufigkeit nicht zwangsläufig in Widerspruch zum Kern der Religiosität, zu Andacht, Einkehr und Jenseitigkeit geraten muss.

Wie immer ein neuer Papst und die Kurie sich hierzu stellen mögen: Es bleibt eine Gratwanderung. Wie weit kann und darf die Kirche den Menschen in ihrem Alltag entgegenkommen? Andererseits: Wie sehr muss sie es tun, damit die Kirche eine lebendige Gemeinschaft bleibt oder wieder wird?

Auch und gerade in der Amtszeit Wojtylas hat sich der Erosionsprozess zumindest in Europa beschleunigt. Viele Gotteshäuser stehen nahezu leer, manche müssen deshalb geschlossen, verkauft oder sogar abgerissen werden.

Hingegen zeugen wachsende Gemeinden in Südamerika, Asien und Afrika von bleibender Kraft des Glaubens und der Hoffnung. Ist es undenkbar, dass der nächste Papst aus den südlichen Breiten kommt?

                                                                                                           Bernd Berke




Sex wie aus dem Supermarkt – Tom Wesselmann, eine Leitfigur der Pop-Art, ist mit 73 Jahren gestorben

Von Bernd Berke

Zu Beginn der 60er Jahre sind die Bilder des Tom Wesselmann grelle Schocks: Nackte, laszive Frauengestalten rekeln sich da – ohne Gesichter, ohne persönlichen Umriss. Als grellrotes Signal lockt zwischen großflächigen Fleischfarben oft nur ein sinnlich geöffneter Mund.

Die Kunstwelt trauert um den Mann, der mit solchen Visionen Zeiterscheinungen auf den bildlichen Begriff gebracht hat: Tom Wesselmann ist, wie jetzt bekannt wurde, am letzten Freitag mit 73 Jahren nach einer Herzoperation in einer New Yorker Klinik gestorben.

Die anonymen Leiber, die er malte, bleiben reduziert auf sexuelle Merkmale und sind zu jeder lüsternen Tat bereit. Diese „Great American Nudes“ verheißen Genuss ohne Reue. Ein offensiver Appell wie aus dem Supermarkt: Alles ist vorhanden, greif sofort zu. Längst erkennen wir darin typische Embleme der 1960er, die sich so freizügig gaben und verdünnt bis heute wirken.

Der Körper als Angebot in der Warenwelt

Solche Gemälde sind „Klassiker“ mit seherisch-diagnostischer Kraft. Der zunehmende Warencharakter der Sexualität leuchtet bereits auf, die allseitige Verfügbarkeit des Körpers als eines unter vielen „Angeboten“. Weibliche Brüste etwa, zumeist im sichtlich erregten Zustand, konkurrieren auf Wesselmanns collagierten, geradezu schaufensterhaften Bildern mit allerlei Botschaften der Reklamewelt.

Nicht so glamourös wie der Medienstar Andy Warhol und weniger auf ein Markenzeichen (Comic-Adaptionen) fixiert als Roy Lichtenstein, gilt Wesselmann als ein weiterer Pionier der Pop-Art. Er selbst mochte sich ungern einsortieren lassen. Welcher Künstler will schon einem „Verein“ angehören?

Anfangs auf Pollocks Spuren

In den 50er Jahren malt Wesselmann, wie damals in den USA üblich, auf Jackson Pollocks Spuren im heftig gestischen Geiste des abstrakten Expressionismus. Auf diesem Felde lassen sich allerdings bald kaum noch individuelle Besonderheiten schärfen. Schon deshalb ist es wohl folgerichtig, sich dem Gegenständlichen zuzuwenden. Vielleicht hilft Wesselmann dabei eine vorübergehende Tätigkeit als Cartoon-Zeichner.

Als treibende Kräfte kommen zudem eine neue, dauerhafte Liebesbeziehung (mit seiner späteren Frau Claire) und eine langwierige Psychoanalyse mit offenbar befreiender Wirkung in Betracht. Sie geben seinem Leben wohl neue Richtung und Halt. Und die ausgiebige Seelenschau schmälert durch „Heilung“ nicht etwa die kreativen Impulse. Trostreiche Erkenntnis gegen das Klischee: Er muss keine „Macken“ hegen und pflegen, um Gültiges auszudrücken.

Kunst soll in den Alltag ragen

Etwa seit 1959 verschreibt sich der allzeit diszipliniert arbeitende Wesselmann (keine Bohème-Attititüden, nahezu bürgerliches Familienleben, mindestens Achtstunden-Tag im Atelier) der europäischen Genre-Tradition, es entstehen zunächst vor allem Stillleben und Akte. Die flächig fragmentierte Sehweise steht in der Überlieferung von Matisse und Modigliani. Doch Wesselmann füllt die Kompositionen mit ausgesprochen amerikanischen Motiven aus Werbung und Warenwelt.

Später fügt er reale Objekte wie Radios, Uhren, Kühlschranktüren oder Handtuchhalter ein, er dringt somit vor in die dritte Dimension. Mit ganz banalen Dingen will seine Kunst ins alltägliche Leben hinein ragen und entschieden auf den Betrachter zukommen. Der wiederum ertappt sich selbst als Voyeur der verführerischen Oberflächen.