Von der Kunst der Übergänge: Festival NOW! in Essen mit 15 Uraufführungen und einem faszinierenden Analog-Synthesizer

„Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung … Es erklärt, wie alles später so kommen musste“, schreibt Arnold Schönberg über seine „Gurre-Lieder“, die am 24. und 25. Oktober in der Philharmonie Essen erklingen.

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Entstanden zwischen 1900 und 1911, ist in dem riesigen Werk der Übergang vom spätromantischen zur modernen Stil in Schönbergs Komponieren zu verfolgen. Ein passender Auftakt also für das Festival NOW! für neue Musik, das am Donnerstag mit Schönbergs epochalem Werk eröffnet wird. Bis 3. November geht das Festival in 25 Veranstaltungen unter dem Motto „Transit“ den vielfältigen Formen des Übergangs in der Musik nach.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Die Gurre-Lieder erklingen in den beiden Symphoniekonzerten mit den Essener Philharmonikern unter Leitung von Tomáš Netopil. Der WDR Rundfunkchor, der Opernchor des Aalto-Theaters und der Philharmonische Chor Essen stellen die Sängerinnen und Sänger für den kolossalen Klangapparat aus drei vierstimmigen Männerchören und einem achtstimmigen gemischten Chor. Unter den fünf Solisten ist der Tenor Torsten Kerl, der in Gelsenkirchen geboren ist und dort seine internationale Karriere begonnen hat.

Das mittlerweile neunte Festival NOW! hat sich zu einem Schwerpunkt für zeitgenössische Musik in Nordrhein-Westfalen entwickelt und vereint als Projekt inzwischen die Philharmonie Essen mit Partnern wie der Stiftung Zollverein, PACT Zollverein, den Landesmusikrat NRW und vor allem die Folkwang Universität der Künste. Diese bringt sich mit ungewöhnlichen Veranstaltungen ein und zeigt zum Beispiel, wie sich Komponieren – und damit die Musik – auch durch die zur Verfügung stehenden technischen Mittel verändert. So ist der Transit von der Analog- zur Digitaltechnik ein Thema, das an einem „Synthesizer-Wochenende“ auf PACT Zollverein vom 25. bis 27. Oktober in Live-Aufführungen, einem Gesprächskonzert und einem Workshop sinnlich erfahrbar wird.

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

Eine Rolle spielt dabei auch der legendäre analoge Groß-Synthesizer Synlab, der in den siebziger Jahren in Kooperation mit Dirk Reith von der Folkwang Hochschule entwickelt wurde. Die Anlage, eine der größten noch funktionierenden analogen Synthesizer der Welt, wird extra in aufwändiger Arbeit auf der Bühne von PACT Zollverein aufgestellt. Dort beginnt das NOW!-Programm am Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr mit der Uraufführung mehrerer Stücke von Dirk Reith, Florian Zwißler und Oxana Omelchuk. Zu erleben ist „Funktion Blau“ von Gottfried Michael Koenig, dem 1926 geborenen „Großvater der elektronischen Musik“, der zehn Jahre lang am Studio für Elektronische Musik des NWDR u. a. mit Karlheinz Stockhausen gearbeitet hat. Von dem 1966 in Essen geborenen Achim Bornhöft, Leiter des Studios für Elektronische Musik am Mozarteum Salzburg, gibt es ein 1991 entstandenes Stück, das dem Konzert den Titel gibt: „Artificial Clichés“.

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Eine andere Art von Transit wird im RWE Pavillon der Philharmonie demonstriert: Eine Installation mit vier selbstspielenden MIDI-Klavieren lässt neue Werke von Günter Steinke, Michael Edwards, Thomas Neuhaus und Dirk Reith erklingen. Hier spielt der Mensch nicht mehr ein Instrument, sondern das „Medium“ verselbständigt sich: Algorithmen generieren musikalische Sätze und zeigen, wo der Computer bereits in den Bereich der Kreativität vorgedrungen ist, die nur noch weit im Hintergrund des Menschen bedarf. Die Installation ist bereits am Mittwoch, 23. Oktober, 18 Uhr, zu erleben; weitere Termine sind am 24. und 25. Oktober, jeweils 19 Uhr, und am Sonntag, 27. Oktober, 19 Uhr.

Zeitgenössische Musik, die ganz „analog“ mit klassischen Instrumenten aufgeführt wird, kommt nicht zu kurz: Am Samstag, 26. Oktober, 19 Uhr, spielt das Ensemble folkwang modern im RWE Pavillon Musik von Karlheinz Stockhausen, Mark Andre und – als Uraufführungen – zwei Auftragswerke der Philharmonie Essen von Michael Edwards und Tamon Yashima. Das JACK Quartet stellt am Sonntag, 27. Oktober, 11 Uhr, im RWE Pavillon Streichquartette von Helmut Lachenmann, Iannis Xenakis und Luca Francesconi vor. Und am Abend um 19.30 Uhr bringt das WDR Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling Bruno Madernas „Aura“ und Gérard Griseys „L’icône paradoxale – Hommage à Piero della Francesca“ in den Großen Saal der Philharmonie. Im Zentrum des Abends steht das Flötenkonzert von Francesco Filidei, einem 1973 geborenen Italiener und Schüler von Salvatore Sciarrino, von dem erst im September an der Pariser Opéra comique die erste Oper „L’Inondation“ aufgeführt wurde.

Am Dienstag, 29. Oktober, 20 Uhr, wird dann in einem Konzert mit der Pianistin Susanne Achilles die Orgel des Alfried Krupp Saales erstmals computergesteuert erklingen – in drei neuen Interludien von Roman Pfeifer, Florian Zwißler und Jagyeong Ryu. Der Bogen des Programms spannt sich von „Studies for Player Piano“ von Conlon Nancarrow, der Ende des 19. Jahrhunderts an den Anfängen der selbstspielenden Klaviere steht, bis hin zu einem neuen Werk für vier selbstspielende MIDI-Klaviere von Ludger Brümmer.

Das Abschluss-Wochenende gestaltet unter anderem das erstmals am NOW!-Festival beteiligte Folkwang Kammerorchester auf Zeche Zollverein mit der Uraufführung eines Konzerts für Violine und Streichorchester mit Akkordeon von Karin Haußmann, gespielt von Liza Ferschtman, am Freitag, 1. November. Am Samstag, 2. November, bringt das SWR Symphonieorchester zwei brandneue Stücke in die Philharmonie Essen mit, die es im Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage am 20. Oktober uraufgeführt hatte: „Melancholie“ für chromatische Mundharmonika und Orchester von Saed Haddad und „Elementar Realities“ von Jürg Frey. Am Sonntag, 3. November, spielt dann das Ensemble Modern unter Enno Poppe Musik von Morton Feldman („Coptic Light“), Anton Webern (Variationen für Orchester op. 30) und Matthias Spahlinger („passage/paysage“ für Orchester).

Für die Veranstaltungen des Festivals NOW! gibt es Karten unter Tel.: (0201) 81 22 200 oder www.philharmonie-essen.de. Mit einem Festivalpass zu 55 Euro können alle Veranstaltungen besucht werden. Tickets für Veranstaltungen an der Folkwang Universität der Künste unter Tel.: (0201) 49 03 231.

 




Zwischen Abstraktion und „Was wäre wenn“: Gelsenkirchen stemmt „Tristan und Isolde“ mehr als achtbar

Liebeserkenntnis vor Schiffssegel: Szene aus dem 1. Akt „Tristan und Isolde“. (Foto: Karl Forster)

Bei „Tristan und Isolde“ sitzen wir in der ersten Reihe. Das ist mal eine ganz neue Erfahrung. Weil die Dynamik der Musik, sei es in Form des Orchesterklangs oder der sängerischen Gestaltungskraft, sich doch sehr unmittelbar entfaltet. Und weil der Blick für mimische Details, für Facetten der Bühnengestaltung, ein schärferer ist. So entpuppt sich der Platz hier, im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR), als keineswegs schlechtes Zugeständnis. Fast wähnen wir uns inmitten des Geschehens – still beobachtend, vor allem aber gepackt von der Sogkraft des oft ungezähmten wagnerschen Sehnsuchtstons.

Im Vorspiel entwickelt sich das langsam; unaufgelöste Dissonanzen, schwebende Harmonien gehen erst nach und nach in melodischen Fluss über. Schon hier stellt sich die Frage nach der Intensität, und für die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann gilt, dass sie sich etwas gemächlich einschwingt, das Farbspiel der Streicher dabei genussvoll auffächert, um schließlich zu hoher Expressivität zu gelangen.

Später dann, wenn sich dieses Drama der Liebe, des Verrats und der Todessehnsucht verdichtet, wenn die Musik in Ekstase gerät, gibt sich das Orchester diesem Taumel nahezu hemmungslos hin. Im 3. Akt hingegen, wo zunächst die dunkel-schroffen, ja schrundigen Töne herrschen, Ödnis und Leere illustrierend, bleibt die hypnotische Wirkung eher aus, wenn auch die Hirtenklage des Englisch Horns die Szenerie wirkmächtig unterstreicht.

Dennoch: Mitgerissen werden wir allemal. Am stärksten sogar vom Orchesterklang, aber auch von den Solisten. Hier darf das MiR durchaus stolz sein. Mit Torsten Kerl, ein Gelsenkirchener Junge, und der Britin Catherine Foster als Tristan und Isolde wurden international erfolgreiche Solisten verpflichtet, die nicht zuletzt in Bayreuth reüssieren. Beide singen bewegend, überwiegend klar in der Diktion, geschickt haushaltend mit ihren Kräften über die drei Akte hinweg, ohne Scheu, sich zu entäußern, aber auch in lyrisch zartem Ton. Kerl gestaltet mit seinem tief timbrierten Tenor die Mezzopianopartien allerdings ein wenig brüchig, unbestechlich dagegen die leidenschaftlichen Höhen seiner metallglänzenden Stimme. Lust und Schmerz, Eros und Thanatos liegen da ganz eng beieinander, gleißend hell sind bisweilen seine Fiebertöne im 3. Akt.

Selbstbefragung eines liebenden Paares im Spiegel. Torsten Kerl und Catherine Foster im 2. „Tristan“-Akt. (Foto: Karl Forster)

Foster wiederum wirkt insgesamt kontrollierter, in der tiefen Lage muss sie sich erst freisingen, sonst aber leuchtet diese Isolden-Stimme in schönstem Glanz. Nur am Ende, im berühmten Liebestod, bleibt sie uns manches an Transzendenz schuldig. Ja, wir sind geneigt zu sagen „Plötzlich geht alles ganz schnell“. Was wohl daher kommt, dass anderes ungemein statisch wirkt. Dies aber führt uns auf die Spur der Inszenierung, die MiR-Intendant Michael Schulz verantwortet. Sie ist offenbar geprägt von der Idee, dass Wagners Etikett „Handlung mit Musik“ nicht wirklich zutrifft. Weil das Changieren und Reflektieren seelischer Befindlichkeiten den dürren Fortgang des Geschehens bei weitem überstrahlt.

Zum anderen aber scheint sich die Regie der Überlegung „Was wären wenn…“ hinzugeben: Tristan und Isolde als rechtmäßiges Paar. Beide Ansätze haben Konsequenzen für die Bühnengestaltung und Personenführung – letzthin stehen diese Sichtweisen sich im Weg. Und sollen doch im Liebestod verschmelzen – Isolde, im weißen Gewand wie eine würdevolle Priesterin, Isolde aber auch, eine Frau, die verzweifelt und fast appellativ ihr „…wie er lächelt…Freunde…seht ihr es nicht?“ an uns richtet. Diesem Ende wohnt kein Zauber inne.

Wie auch die groß angelegte Liebesnacht-Szene des 2. Aktes ihre Wunderkraft verliert, weil eben hier der Regisseur das „Was wäre wenn…“ optisch ausreizt, indem er Tristan und Isolde in ein Haus schickt, dessen Zimmer sich labyrinthisch verzweigen. Kathrin-Susann Brose hat das Gebäude auf die Drehbühne gestellt – nicht der unendliche Raum einer Liebe bis zum Tod wird vermessen, sondern das Paar begegnet sich selbst als real Liebende. Und nebenan spielen die Kinderlein mit Plüschtieren.

Isolde als Fantasiebild des tödlich verwundeten Tristan. Szene aus dem 3. Akt. (Foto: Karl Forster)

Solcherart Umdeutung ist gewagt und wirkt auch nicht zwingend. Doch Schulz und seine Ausstatterin bevorzugen offenbar das (groß)-bürgerliche Milieu, davon zeugt auch der Raum im Schiffsbau des 1. Aktes mit seinen Kolonialstil-Intarsien, sehr detailverliebt eingerichtet.

Erst am Schluss, wenn der totverwundete Tristan auf einem riesigen, kunstvoll drapierten Stoff dahinsiecht, ist, als krasser Gegensatz, die totale Abstraktion erreicht. Folgerichtig gerinnt der Kampf zwischen Tristans Getreuen und dem Gefolge des betrogenen Königs Marke zu einem stilisierten Schattenspiel. Es ist im Grunde die stärkste Szene dieser Inszenierung.

Nicht zuletzt sei gesagt, dass neben Torsten Kerl und Catherine Foster das hauseigene Ensemble nebst Chor oft zu beeindrucken versteht. Almuth Herbst (Brangäne) als sanft sich sorgende Vertraute der Isolde, die in lyrischer Emphase sehr ausgeglichen singt, ist eine Entdeckung für die Rolle. Urban Malmberg (Kurwenal) aber gestaltet die Partie bisweilen gewollt kraftvoll, nicht ohne raue Untertöne. Und Phillip Ens’ König Marke hat oft Probleme mit der Fokussierung.

„Nehmt alles nur in allem“: Das MiR hat sich einer großen Herausforderung, das sind Wagneropern immer, mehr als achtbar gestellt. Die Karten für diesen „Tristan“ sind äußerst gefragt, für manche Vorstellung gibt’s nur noch freie Plätze unterm Dach.

Das Gelsenkirchener Haus ist in der Stadtgesellschaft und in der Politik wunderbar verankert, nicht zuletzt dank der interessanten Repertoireauswahl des Intendanten Michael Schulz. Wo sonst sitzt der Oberbürgermeister, wie hier Frank Baranowski, in jeder Premiere des Theaters? Es muss auch gar nicht die erste Reihe sein.

Infos: https://musiktheater-im-revier.de/Start/#!/de/