Leise Lieder von Abschied und Vergehen – Marthalers „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ bei der Ruhrtriennale

Ein leerer Raum mit schrägen Oberlichtern, im Hintergrund ein Personenaufzug und eine hohe Flügeltür: Das könnte ein Museum sein oder eine leergezogene Fabrikhalle, auf jeden Fall ein uneingeschränkt funktionaler Ort. Hier wirkt der Mann im grauen Hausmeisterkittel, schiebt Rollwagen herein mit undefinierbarer folienverhüllter Fracht.

Was wird das werden? Mit der Antwort kann es dauern, wie stets in den Stücken Christoph Marthalers, denen viel Gemächlichkeit eigen ist. Dieses heißt „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ und war jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) als funkelndes kleines Programmglanzlicht der Ruhrtriennale zu sehen.

Letzte Arbeit für die Berliner Volksbühne

„Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ war Marthalers letzte Arbeit an der Berliner Volksbühne. Mit dem Ausscheiden des Intendanten Frank Castorf endete auch die lange währende Kooperation, die 1993 mit „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ ihren seinerzeit stark beachteten Anfang hatte. „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ ist deshalb ein Stück der Rückschau geworden, die einen natürlich schwermütig stimmen kann, auf der Bühne wie im Zuschauerraum.

Doch sie leben noch

Doch die gut verpackten Figuren leben noch, wenn man sie nur lässt! Und nichts anderes tut der Mann im grauen Kittel, als sie in des Wortes wörtlichem Sinn aus Folie und Holzkiste auszupacken und auf die Bühne zu stellen.

Dann bewegen sie sich, dann singen sie, dann spielen sie gar auf Klavier und Cembalo. Und unerwartet sportlich sind einige von ihnen, Damen zumal, und keineswegs ohne erotischen Reiz. Wenn das ganze kulminiert, formieren sich die Weggepackten gar zu einer Art erotisch-lüsterner Laokoon-Gruppe auf dem Rollwägelchen, und jeder möchte dabei sein. Dem Kittelmann wird das zu viel, er packt ein, rollt hinaus, die Erinnerungen kommen zurück ins Magazin. Doch die Personen kehren wieder.

Alles schon einmal gebraucht

Für Bühne und Kostüme griff Marthalers großartige Ausstatterin Anna Viebrock auf den Fundus zurück, verwendete also nur Dinge, die in seinen früheren Produktionen schon einmal eingesetzt waren. Und vielleicht sind auch alle Lieder dort schon einmal gesungen worden, die im weiteren Verlauf des Abends zu hören sind, wer will das so genau wissen? Händel, Satie, Mahler und Schubert nennt der blaue Programmzettel, der in Orange noch ungleich mehr, mit Bach beginnend und mit Wagner endend.

Eher gehaucht als gesungen

Musik – und da vor allem Gesang – findet in Marthalers Theater aber nicht als schmetternde Nummernrevue statt, sondern ist fein und leise in den Gang des scheinbar Bedeutungslosen hineingesetzt, das „Handlung“ zu nennen einem manchmal widerstrebt.

Leise, sehr leise erklingen viele Lieder, und viele werden auch nie lauter. Der feine Ton macht sie nur noch eindrücklicher, und manchmal erzählt er geradezu Geschichte – etwa, wenn „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ kaum wahrnehmbar, eher gehaucht als gesungen, erklingt. Ja, die donnernde Revolution ist ausgeblieben, an der Volksbühne und anderswo, und vielleicht ist es sogar gut so.

Wenn dieser vorwiegend a cappella vorgetragene Gesang in der zweiten Stückhälfte nicht so schön wäre, so filigran und sanft, dann könnte man schon trübsinnig werden ob der Inhalte, mitleiden etwa mit dem jungen Mann, dessen Freundin „In einem kühlen Grunde“ (Text von Eichendorff) die Beziehung beendet hat und der nun am liebsten tot wäre. Oder, im Kirchenlied, verzweifeln an der Aussichtslosigkeit der eigenen gottlosen Existenz.

Düsternis und Heiterkeit

Die Musikauswahl, man kann es nicht anders sagen, kreist sehr um Trennung, Verlust, Abschied, Niedergang, was nach einem Vierteljahrhundert kreativer Arbeit an der Berliner Volksbühne nicht verwundern kann. Auch das Schlussbild ist kein Trost. Alle, die auf der Bühne sind, müssen ihre Schuhe abgeben, Symbole für Leben, Beweglichkeit, Erdung, ein düsterer finaler Akt.

Heiterkeit wiederum erregten manche Personenzeichnungen – alte Männer im clownesken Altmänner-Outfit mit Hosenträgern und Pantoffeln, füllige Damen in neckischer Pose; Marthaler weiß souverän mit der Spannung zwischen ernst und lustig zu spielen, um das Bühnengeschehen dramatisch zu überhöhen. Bei ihm ist gemächlich nicht das Gegenteil von kurzweilig, eher im Gegenteil.

In der großen Halle

Wenige Tage zuvor konnten Triennale-Besucher in der Bochumer Jahrhunderthalle, ebenfalls von Marthaler inszeniert, das symphonische Fragment „Universe, Incomplete“ von Charles Ives erleben, eine theatralische Materialschlacht (siehe dazu auch Martin Schrahns ausführliche Rezension in den Revierpassagen). Der Schweizer Theatermacher kann beides, große Halle wie kleine Theaterbühne. Aber dem typischen Schaffen dieses feinnervigen Musikerzählers begegnet man sicherlich eher in Produktionen wie, eben, „Bekannte Gefühle…“.

Was wird aus der Intendantin?

Wo werden wir zukünftig dieses in seiner Art einmalige Gesangstheater erleben können? Der Stuhl von Stefanie Carp, die seit vielen Jahren Marthalers kongeniale Dramaturgin und außerdem derzeit Triennale-Intendantin ist, wackelt. Sollte sie gehen, geht Marthaler – vermutlich – auch. „Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt, man hat die Mittel“, zitiert ein Mitspieler in einer der heitereren Passagen des Stücks Wilhelm Busch. Angesichts der politischen Entwicklung ist das ein geradezu seherischer Aphorismus.

Keine weiteren Vorstellungen in Gelsenkirchen

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Wuchtige Bilder statt Zauber und Geheimnis – Krzysztof Warlikowski deutet „Pelléas et Mélisande“ bei der Triennale

Pelléas (Phillip Addis) und Mélisande (Barbara Hannigan) an der Bar, in Tristesse vereint. Foto: Ben van Duin

Draußen das gewohnte Bild des Bretterbudendorfes – einfache Bauten für Kneipe und Kunst. Hier ein Raum voller Schrott, die Hinterlassenschaften unserer Lebensart. Dort eine vergitterte Werkstatt, alle Elemente akribisch angeordnet. Doch Obacht: Das Neue, das hier geschaffen wird, sind Waffen, also Werkzeuge der Zerstörung.

„The Good, the Bad and the Ugly“ heißt diese Ansiedlung vor der Bochumer Jahrhunderthalle, wieder errichtet vom Atelier Joep van Lieshout zu Johan Simons‘ drittem und letztem Ruhrtriennale-Jahr. Auf Zerfall und Gewalt trifft der Betrachter, van Lieshout proklamierte zum Festivalbeginn das Ende von allem. Um allerdings aus dieser Art Apokalypse einen kreativen Neubeginn abzuleiten. Doch ist dem zu trauen? Drinnen jedenfalls ist es mit dem Optimismus nicht weit her. Zum Finale von Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ beherrschen Tod und Agonie die Szene.

König Arkels Versuch der Aufmunterung, sein Verweis auf die Zukunft, Mélisandes gerade geborene Tochter im Blick, geht ins Leere. Wie überhaupt diese Aufführung in der Jahrhunderthalle geprägt ist von tiefer Tristesse, vom Zerfall einer Familie, von Eifersucht und Wahn. Was fehlt, sind Zauber und Geheimnis, da muss die Regie passen. Nur die Musik spricht davon, mit ätherisch anmutenden Klanggespinsten, prächtig kolorierten Passagen oder durch den bisweilen entrückten Gesang der Mélisande.

Golaud (Leigh Melrose), zerfressen von Eifersucht. Foto: Ben van Duin

Regisseur Krzysztof Warlikowski hingegen setzt auf Spannung, jede Menge Filmbildmacht und teils rohe Gewalt. Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak hat ihm dazu eine zweiteilige Bühne konstruiert, die ebenfalls ein Draußen und Drinnen kennt, einhergehend mit verschiedenen Zeitbezügen. Hier ein großbürgerlicher Raum mit Holzvertäfelungen und einer riesigen, im Halbrund geschwungenen Treppe, dort eine neonhelle Bar, mit Hockern, Tischen, Stühlen, dahinter lauter Waschbecken. Am Tresen und im Waschraum trifft sich das Prekariat der Gegenwart, im vornehmen Haus die königliche Familie nebst Dienerschaft. Lauter einsame Menschen in zerrütteten Verhältnissen, trotz Standesunterschied. Wer mag da an eine schöne Zukunft denken.

Golaud jedenfalls, Enkel des Königs Arkel, hat es hinausgetrieben aus der Schweigsamkeit und Enge des Schlosses, hin zu jener bunten Bar, an der bereits Mélisande hockt. Sie, vom Leben gezeichnet, Kette rauchend, mit langsamen Bewegungen wie von einer Süchtigen. Mag sein, dass sie als Prostituierte arbeitet. Er, zunächst still, ein kraftvoller Typ, mit schwarzem Bart und Haar, alles unter Kontrolle. Sein Jähzorn entlädt sich erst später. Da sitzen sie, wie die verlorenen Gestalten in Edward Hoppers Gemälde „Nighthawks“. Dann nimmt die Geschichte ihren Lauf, und hauchte Mélisande gerade noch ihr waidwundes „Fass mich nicht an!“ in den Raum, verlustiert sie sich auch schon mit Golaud an den Waschtischen.

Das birgt natürlich auch Geheimnis, wirkt aber wie ein schlechter Film. Regisseur Warlikowski setzt noch eins drauf, zeigt Horror-Szenen von Schafen, die geschlachtet werden (Andrzej Wajda: Pilatus und andere) sowie eine Sequenz aus Hitchcocks „Die Vögel“. Die Stoßrichtung ist klar: Mélisande, das Opferlamm, Mélisande, das verängstigte junge Mädchen, vom großen schwarzen Vogel attackiert. Das ist eben niemand anderes als der aufbrausende, bald von Eifersucht zerfressene Golaud.

Er nämlich heiratet seine Eroberung, bringt sie zum Schloss, wo sie auf den scheuen Pelléas trifft. Schnell entwickelt sich eine Seelenverwandtschaft zwischen diesen beiden Wunderlichen. Die Liebe, die daraus erwächst, ist eine keusche zwar, doch der wilde Golaud wittert Ehebruch, demütigt und schlägt seine Frau, ersticht schließlich seinen Halbbruder Pelléas. Am Ende gar stirbt Mélisande an der Geburt ihrer Tochter. Was bleibt, ist Erstarrung.

Mélisande ganz mondän, wie eine Filmdiva. Foto: Ben van Duin

Die Regie findet dazu teils starke, teils blasse Bilder. Als Brunnen, an dem sich Pelléas und Mélisande treffen, muss der Waschraum der Bar herhalten. Die mächtige Treppe wiederum dient als Gewölbe, davor ein schwindelerregender Abgrund sich auftun soll. Beides konstruierte Szenarien ohne große Wirkmacht.

Weit spannender aber wird es, wenn Warlikowski den Blick auf seine Hauptpersonen fokussiert. Allen voran Leigh Melrose als Golaud und Barbara Hannigan als Mélisande. Dann nämlich, wenn dieses ungleiche Paar sich mit Stimmkraft und Spielfreude aufs Äußerste einbringt, entwickelt die Inszenierung ungeheure Sogkraft, wirkt Debussys Musik wie ein schweres Opiat.

Der Bariton von Melrose kann sich so bedrohlich schwarz färben wie seine Gestalt finster ist. Phillip Addis (Pelléas) hingegen geht als Sanftmut in Person durchs Leben, ebenfalls ein Bariton, aber heller timbriert, in den Höhen etwas überreizt. Er ist Opfer wie auch Mélisande, der Hannigan teils leuchtende Farben verleiht, teils sanft dahinschmelzende Leidenstöne. Sie gibt sich mondän im hochherrschaftlichen Ambiente, steht herausfordernd da wie eine stilisierte Freiheitsstatue (in Glitzerkleid, mit Feuerzeug), und bleibt doch zerbrechlich bis zum letzten Atemzug. Und ob all dieses Elends flüchtet sich selbst der gute König Arkel, dem Franz-Josef Selig teils strenge, teils wehmütige Basssolidität verleiht, an die Bar.

Dass aber Debussys Oper in ihrem sanften Fluss, durchsetzt mit mancher Raserei, uns wie ein Narkotikum umringt, in großer Transparenz aufklingend, so schmerzvoll wie schön, ist zuerst den Bochumer Symphonikern zu danken. Sie spielen unter Leitung von Sylvain Cambreling in Bestform, bieten wundersame Farben, eine fein abgestufte Dynamik vom ätherisch Zarten bis hin zum überwältigenden Rausch. Das Ensemble, durch Mikroports leicht verstärkt, fügt sich akustisch prima ein, nur selten kommt es zur Übersteuerung.

Der Beifall ist groß, wenn auch nicht enthusiastisch. Die Regie will nichts weniger als das ganz große Kino, darin die Welt am Abgrund steht. Lust auf kreativen Neubeginn macht das eher nicht.

 

 

 

 




Renaissance und Moderne auf Augenhöhe – Das Chorwerk Ruhr zelebriert bei der Ruhrtriennale die Schönheit des Klangs

Das ChorWerk Ruhr unter Leitung von Florian Helgath mit Axel Portal (Bratsche), Dirk Rothbrust (Schlagzeug) und Sebastian Breuing (Celesta). (Foto: Pedro Malinowski)

Zwischen der Musik des spanischen Renaissance-Meisters Tomás Luis de Victoria und den Werken eines John Cage oder Morton Feldman liegen vier Jahrhunderte. Doch bei aller historischen Distanz sticht ein gemeinsames Merkmal heraus: die Fokussierung auf das Phänomen des Klangs. Auf dessen Spuren hat sich nun, in der Maschinenhalle der Dortmunder Zeche Zollern, das ChorWerk Ruhr begeben; wie stets höchst professionell, intonationsstark, sensibel und äußerst differenziert. „Memoria“ ist das Konzert überschrieben, das im Rahmen der Triennale zu hören war.

Um in Klang geronnene Erinnerungen also geht es, bei de Victoria in Form eines Requiems auf den Tod der habsburgischen Kaiserin Maria (1603). Feldmans „Christian Wolff in Cambridge“ wiederum bezieht sich auf eine zwiefache Begegnung mit seinem Freund (eben Wolff) am exakt gleichen Ort, allerdings im Abstand von 15 Jahren – Feldman konstruierte daraus ein Werk, das ausgedehnte Klangfolgen wiederholt, mit nur leichten Varianten.

Cages „Four2“ mag nicht ganz ins „Memoria“-Raster passen, ist aber ebenfalls ein Stück für Chor a cappella, das zuerst aufs Erleben ruhiger, meditativ anmutender Klangflächen zielt. Der Höreffekt ist verblüffend: vermeintlich alte und neue Musik begegnen sich auf Augenhöhe.

Was nicht heißen soll, dass hier nur statische Tongebilde gewissermaßen zum Aushorchen einladen. Vielmehr liegt in all der Ruhe viel Bewegung, ein steter Fluss charakterisiert die Werke, oder, auf die Moderne bezogen, der kontinuierliche Fortgang.

Das exzellente ChorWerk Ruhr, unter Florian Helgaths umsichtiger Leitung, kostet jede Nuance aus, zelebriert die Schönheit des Klangs und manchmal sogar, bei Feldman und Cage, die tönende Stille. Das Requiem de Victorias andererseits besticht durch seine Wechsel von polyphoner Leuchtkraft und gregorianischer Schlichtheit, darüber die große Melancholie schwebt.

Arbeitet der spanische Altmeister naturgemäß mit einem vorgegebenen Text, setzen die Amerikaner lediglich auf einzelne Buchstabenlaute, oder noch puristischer, auf gesummte Vokalisen. Wie Feldman in „Rothko Chapel“, sein Versuch, mit Stimm- und Instrumentalfarben die großen, satten Farbflächen des Malers Mark Rothko in Klang zu verwandeln. Zum Chor gesellt sich dabei das dunkle Raunen der Bratsche oder die sonnenhell blinkende Celesta. Faszinierend auch die irisierenden Sopranhöhen, die sich aufs Feinste mit den Obertönen der Röhrenglocken mischen. Das mutet bisweilen ein wenig sakral an, ist indes alles andere als pathetisch. Feldmans Werk schreitet sanft, kennt aber auch den energischen Puls, am Ende gar melodisches Aufblühen.

Natürlich bedarf es in dem Riesenraum, der etwa zur Hälfte fürs Konzert genutzt wird, ein wenig der elektronisch-technischen Unterstützung. So wird das Klangerlebnis kompakter, die Atmosphäre der Kontemplation nahezu greifbar.

Ein spannender, bewegender Abend. Auch wenn draußen, von irgendwo her, stampfende, monotone Beats sich einmischen wollen – sie haben keine Chance gegen die tönende Schönheit im Innern.




Deklamationen am Rande der Kohlenhalle – Johan Simons inszeniert in Marl „Die Fremden“

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Sandra Hüller (rechts), weitere Mitwirkende (Foto: JU/Ruhrtriennale)

In seinem Roman „Der Fremde“ läßt Albert Camus den Franzosen Meursault in Algerien einen einheimischen Mann ermorden, der namenlos bleibt. Für den Gang der Geschichte ist das sinnvoll, aber etwas kränkend für die arabische Seele war es offenbar auch. Vor wenigen Jahren – auf Deutsch erschien das Buch im Februar – hat der algerische Schriftsteller Kamel Daoud seine Version der Camus-Geschichte verfaßt: „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“.

Daoud erzählt den Plot aus der Perspektive der Familie des Opfers, das hier den Namen Moussa trägt. Sein Bruder, ein alter Mann mittlerweile, erinnert sich, und Camus’ Geschichte über einen vorgeblich zufälligen Mord wird zu einem Lehrstück über Kolonialismus, Rassismus, Identität, über Verhältnisse kurzum, deren logische Folge geradezu dieser Mord war. Nun gut.

Steiniger Untergrund

Jetzt hat sich Johan Simons, Ruhrtriennale-Intendant, des Buchs von Daoud bedient, um daraus eine Bühnenproduktion zu machen. Spielort von „Die Fremden“ (!) – Bühne kann man es nicht nennen – ist die Kohlenmischhalle der kürzlich stillgelegten Zeche Auguste Victoria in Marl, ein steiniger, staubiger Untergrund, auf dem zu agieren sicher keine Freude ist.

Das Orchester Asko/Schönberg hat auf dem Spielfeld seinen Platz bezogen und intoniert während der rund 100 Minuten Spielzeit Kompositionen von Mauricio Kagel, Claude Vivier und György Ligeti. Dominiert wird die Szene von einer riesigen Maschine auf Schienen, der Kohlenmischmaschine wohl, die sich irgendwann im Mittelteil sinnfällig in Bewegung setzt und langsam und lautlos nach hinten wegfährt.

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Im Hintergrund ist die Videoarbeit von Aernout Mik zu sehen (Foto: JU/Ruhrtriennale)

Bedeutungsschwer

Die Maschine ist aber auch das Originellste an dieser Inszenierung, deren Ende man nach einiger Zeit doch sehr herbeisehnt. Wie im letzten Jahr schon in Simons’ Einrichtung von „Accattone“ nach Pasolini – in einer großen Kohlenhalle in Gladbeck – besteht der gesprochene Text fast nur aus bedeutungsschweren Deklamationen, deren akustische Verständlichkeit zudem dadurch erschwert ist, daß die Mimen vorwiegend niederländische Muttersprachler zu sein scheinen. Mit dem Deutschen und seiner richtigen Betonung tun sie sich schwer. Gerade einmal Sandra Hüller, die jüngst im Film „Toni Erdmann“ neben Peter Simonischek brillierte und die man offenbar als Star eingekauft hat, gibt manchmal eine Ahnung von dem, was Schauspielkunst (auch hier) sein könnte.

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Szenenfoto (Foto: JU/Ruhrtriennale)

Flachbild

Mit dem Spielort, ein weiteres Ärgernis, weiß Simons wenig anzufangen, sieht man einmal von der erwähnten Kohlenmischmaschine ab. Der größte Teil des riesigen, tiefen Raums bleibt für die Inszenierung praktisch ungenutzt, alles spielt sich an einem Kopfende der Halle ab, vor dem die Zuschauerränge aufgebaut sind.

Hier offenbaren sich die Grenzen eines „freien“, improvisationsfreudigen Theaters nach Simons’ Art, das fast überall Spielräume zu schaffen weiß, sich mit vorgegebenen Räumen aber schwertut. Mit einer gewissen Wehmut denkt man da an bombastische Produktionen der Ära Heiner Goebbels, die lustvoll mit der Tiefe spielten, an ausschwenkende Lichtkräne über nächtlicher Jahrhunderthalle und an bedrohliche, in das Publikum hineinrollende Dampflokomotiven. Tempi passati.

Flüchtlingslager im Video

Natürlich wurde auch das Migrationsthema nicht ausgelassen. Eine Videoinstallation von Aernout Mik zeigt die Kohlenmischhalle als Flüchtlingslager, erschöpfte Menschen, Kinder, Verwaltungsbeamte, Polizisten. Natürlich gibt da Zusammenhänge; trotzdem wirkt das Video wie der etwas ungelenke Versuch, möglichst viel Aktualität in einen Stoff zu pressen, der auch aus sich heraus bestünde.

Erwähnt sei noch, daß auch der Bundespräsident im Publikum saß. Sein Auftritt mit Gefolge und ein bißchen Händeschütteln vollzog sich glücklicherweise in wenigen Minuten, und die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen blieben erträglich. Leider konnte man ihn nicht nach seiner Meinung fragen. Wie immer sie auch ausgefallen sein mag – gewiß hätte er sie in die richtigen Worte gekleidet.




Skepsis und Erstarrung – Johan Simons deutet zum Triennale-Auftakt Glucks Oper „Alceste“

Foto: JU/Ruhrtriennale

Festhalten am Sitzmöbel: Der Chor MusicAeterna in Johan Simons‘ Gluck-Inszenierung. Foto: JU/Ruhrtriennale

Die RuhrTriennale hat begonnen, es ist die zweite, die Johan Simons verantwortet, und wie bereits im Jahr zuvor will sie dem idealistischen Motto „Seid umschlungen!“ folgen. Die Fokussierung auf diesen Appell aus Schillers „Ode an die Freude“, mithin auf des Dichters Humanismus, scheint dringlicher denn je. Krieg und Terrorismus, Hass und Extremismus – wer, wenn nicht ein Kunstfestival, sollte sich diesen schaurigen Auswüchsen des Zusammenlebens so trotzig wie mutig entgegenstellen.

Carolin Emcke jedenfalls, in ihrer beachtenswerten Rede zur Eröffnung des Festivals, sieht Musik, Theater und Tanz als geradezu prädestiniert an, in diesen „finsteren Zeiten“ ans Werk einer Re-Humanisierung zu gehen. Die Journalistin und Autorin, die in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, setzt hinter die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dicke Fragezeichen, dies durchaus im Sinne der Triennale: Diese zentralen Begriffe der Aufklärung seien nicht nur vielfach bedroht, sondern auch im Gebrauch zu Worthülsen verkommen. Es brauche, eben mit Hilfe der Künste, eine Übersetzung dieser Normen in Anwendungen, „es müssen Begriffe in Erfahrungen übersetzt werden, damit sie vorstellbar werden in ihrer Substanz, damit wieder deutlich und nachvollziehbar wird, woraus sie bestehen“. So Emcke.

Foto: Sebastian Drüben/Ruhrtriennale 2016

Die Festspielrednerin Carolin Emcke. Foto: Sebastian Drüen/Ruhrtriennale 2016

Vor diesem Hintergrund scheint es folgerichtig, die Triennale, in Bochums Jahrhunderthalle, mit Glucks „Alceste“ (nach Euripides) zu beginnen. Bestimmen doch Trotz und Mut, Zweifel und Emanzipation das Geschehen. Der Mensch fügt sich nicht mehr ergeben ins vom Orakel und den Göttern vorgegebene Schicksal. Er stellt es in Frage, er zürnt, er liebt und leidet, dass es am Ende eben jene Götter rührt. In „Alceste“ siegt die (Gatten-)Liebe über den befohlenen Opfertod, mithin die Freiheit über den Zwang. Mag auch das glückliche Ende noch eines Deus ex machina bedürfen: Es ist immerhin Apoll, der Gott des Lichtes und der Vernunft (!), der es bewirkt.

Johan Simons indes stellt in seiner Inszenierung den aufkeimenden Freiheitsdrang der Figuren, den Trotz gegen göttliches Gesetz, in Frage. Alceste ist in ihren Gefühlsturbulenzen, denen Birgitte Christensen vielschichtige Sopranfarben verleiht, eine nahezu neurotische Figur, die die Hände ringt, zittert, verunsichert wirkt. Ihr Entschluss, den dahinsiechenden Gatten Admeto, Herrscher über das Volk von Pherai, durch ihren eigenen Tod zu retten, scheint alles andere als ein überzeugendes Liebesopfer. Admeto wiederum, den Tenor Thomas Walker mit teils nur fragiler Intensität gibt, ist in seiner emotionalen Achterbahnfahrt ziemlich hilflos.

Foto: JU/Ruhrtriennale

Eine Familie in Leidensstarre: Alicia Amo, Thomas Walker, Konstantin Bader und Birgitte Christensen fremdeln (v.l.n.r.). Foto: JU/Ruhrtriennale

Und wenn Johan Simons dieses Paar mit seinen Kindern Aspasia und Eumelo (Alicia Amo und Konstantin Bader) zusammenführt, wenn sich diese Familie in all ihrer Schwachheit und Verstörung am Boden liegend umarmt, als wolle man einander gegenseitig vor dem Untergang bewahren, scheint die Szene in Künstlichkeit zu erstarren.

Mitleid vermögen die eindringlichen Worte des Librettisten Ranieri de’ Calzabigi zu erwecken und vor allem die musikalische Sprache, nicht aber die skeptische Deutung des Regisseurs. Hinzu kommt, dass die L-förmige Spielfläche von Leo de Nijs, mit ihrer ausufernden Länge, ein schwer zu beherrschendes Terrain darstellt. Vor Kopf und längs davon die Zuschauerränge, auf der Bühne viel Gerenne, nicht zuletzt wohl deshalb, um dem Publikum hier und auch da irgendwie nahe zu sein. Musikalisch funktioniert das sowieso nur per Mikroport, szenisch behilft sich die Ausstattung teils mit weißen Plastikstühlen, die der Leere dieses Laufstegs Kontur geben sollen.

Und inmitten thront, auf einem Konstrukt von Podesten, das fulminante B’Rock Orchestra, das unter René Jacobs’ kundiger, umsichtiger Leitung der Musik Zug verleiht, sie unter Spannung setzt und Glucks neuartige Klangfarben wirkmächtig auffächert. Man gibt, auf alten Instrumenten, die italienische Fassung. Das Spiel atmet Frische, alles klingt plastisch, so feinfühlig wie intensiv, so erhaben wie dramatisch. Nur hier und da trüben rhythmische Hakeleien, in Verbindung mit dem sonst hervorragenden Chor MusicAeterna, den akustischen Genuss.

Foto: -n

Triennale-Chef Johan Simons wagt den skeptischen Blick auf Glucks „Alceste“. Foto: -n

Chor, Solisten und Stühle scheinen eng miteinander verwoben. Das Sitzmobiliar gibt den Figuren haptischen Halt wie uns manch optischen. Die Menschen klammern sich daran in ihrer Angst, oder sie schleudern es in trotziger Wut weit von sich. Johan Simons sieht wohl in der aufkeimenden Aufklärung, im Wissenwollen, einen Zustand des Chaos. Wenn indes der Chor, der in Greta Goiris’ erdachten, teils antikisierend, teils bürgerlich anmutenden Gewändern wie eine Partygesellschaft aus Sommernachtstraum-Gefilden wirkt, die Genesung ihres Königs feiert, kehrt schönste Ordnung ein. Alsbald aber versinken die Fröhlichen in Agonie, wie betäubt im Gestühl hängend, Alcestes Opfertod vor Augen.

Solcherart Symbolik eines Möbels ist bisweilen stark, nicht selten aber schimmert eben die Funktion des szenischen Behelfs durch. Interessanter ist Simons’ Skepsis, wenn er Alceste und Admeto nicht auf offener Bühne vor jubelndem Volk zusammenführt, sondern augenscheinlich im Jenseits. Und zurück bleiben die Kinder, allein mit sich und einer Welt, die es zu erkunden gilt. Zu Glucks Orchesternachspiel tanzen sie munter Ringelrein. Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit? – bei Simons ein Fall für die nächste Generation?

Weitere Vorstellungen am 20., 21., 25., 27. und 28. August. www.ruhrtriennale.de

Die Festspielrede von Carolin Emcke ist hier zu finden: https://www.ruhrtriennale.de/de/blog/2016-08/vom-uebersetzen-festspielrede-von-carolin-emcke




Ab 2018: Stefanie Carp und Christoph Marthaler sollen die RuhrTriennale leiten

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Für die Kulturszene, zumal im Ruhrgebiet, ist dies eine Nachricht von größerem Kaliber: Von 2018 bis 2020 werden die Dramaturgin Stefanie Carp (Jahrgang 1956) und der Schweizer Theatermacher Christoph Marthaler (64) an der Spitze der RuhrTriennale stehen. Zwei hochkarätige Namen, fürwahr.

Die Entscheidung war gestern noch ziemlich frisch. Man hatte sie, so gut es eben ging, geheim gehalten. Und so konnte NRW-Kulturministerin Christina Kampmann in der Bochumer Jahrhunderthalle tatsächlich den allermeisten Medien eine Neuigkeit verkünden. Der zum Scherzen aufgelegte Christoph Marthaler flunkerte gar, ihm selbst sei das alles auch neu. Die Einladung nach Bochum hätte er demnach einfach mal so als schicksalhaft hingenommen…

„Das schönste aller Festivals“

Gleichfalls anwesend war der jetzige Triennale-Intendant Johan Simons, der hier – beim „schönsten aller Festivals“ (Simons) – noch zwei Spielzeiten vor sich hat. Der Niederländer versicherte glaubhaft, dass er die Entscheidung für Carp und Marthaler sehr begrüße („Eine richtig gute Wahl“), denn gerade die Mischformen zwischen Theater, Musik (und anderen Künsten), die die RuhrTriennale prägen, lägen den beiden „Neuen“ am Herzen.

Kennzeichnend für die Triennale sind auch die teilweise monumentalen Spielstätten mit industrieller Vergangenheit. „Das ist meine Welt“, rief Christoph Marthaler aus. Er habe als Künstler in Garagen und Fabriken begonnen.

Geschichte der monumentalen Räume

Marthaler schwärmt noch heute von unvergesslichen Revier-Ortsbesichtigungen im Gefolge des Triennale-Gründungsintendanten Gerard Mortier und leidet offenbar am herkömmlichen Guckkasten-Theater: „Auf Bühnen verkümmere ich.“ Neue, ungeahnte Räume erfassen und entwerfen, darum ist es ihm zu tun. Es gelte, auch die Geschichte dieser Räume aufzunehmen und fortzuführen, die nicht zuletzt eine Geschichte der Arbeit sei.

Natürlich verrät das künftige Führungs-Duo (Carp fungiert als Intendantin bzw. Direktorin, Marthaler sozusagen als „Chefregisseur“) noch nichts Konkretes über Planungen und weitere Personalien; erst recht nicht, weil Johan Simons ja noch in seiner Festivalarbeit steht, bevor er 2018 die Leitung des Bochumer Schauspielhauses übernimmt. Carp und Marthaler betonten, sie hätten bislang nicht einmal ihre engste berufliche Weggefährtin, die Regisseurin und Bühnenbildnerin Anna Viebrock, eingeweiht. Man darf aber – bei aller Vorsicht – wohl davon ausgehen, dass sie auch bei der Triennale zum engeren Kreis zählen wird.

„Zwischenzeiten“ als Leitmotiv

Stefanie Carp, die vor allem in Hamburg, Zürich, Wien (Festwochen) sowie Berlin (Castorfs Volksbühne) gewirkt hat und mehrfach als Dramaturgin des Jahres ausgezeichnet wurde, blieb also notgedrungen eher allgemein und vage, als sie „grenzgängerische und hybride“ Produktionen als Mischformen zwischen den Künsten in Aussicht stellte. Dazu gebe es schon etliche Ideen, die aber noch reifen müssten.

Jedenfalls, so Carp, vertrage gerade die RuhrTriennale kein Verharren im Konventionellen. Gefragt seien Experimente, und zwar „im großen Format“. Ein übergreifendes Motto für die Spielzeiten 2018-2020 schwebt ihr und Marthaler auch schon vor: „Zwischenzeiten“. Das Dazwischen sei nicht nur zeitlich zu verstehen, sondern beispielsweise auch kulturell. Allerdings könne sich die Leitidee in den nächsten Jahren noch wandeln.

Große Erwartungen geweckt

In einem unscheinbaren, aber vielleicht bezeichnenden Nebensatz erklärte sich Stefanie Carp vorwiegend fürs Pragmatische zuständig, während Marthaler offenbar vor allem als künstlerischer Anreger wirken soll; was aber sicherlich nicht heißt, dass sie das Kreative allein ihm überlässt. Als Leitungsteam haben sie schon gemeinsam in Zürich bewiesen, welch reiche Früchte ihre Zusammenarbeit tragen kann. Sie sind bestens aufeinander eingespielt. Und wir wagen mal die beherzte Prognose, das vom neuen Duo tatsächlich einige Großtaten zu erwarten sind.

Kurz zurück in die Niederungen. Über die finanzielle Ausstattung der RuhrTriennale und die Dotierung der Leitungsposten mochte man im Überschwang nicht reden. Kulturministerin Kampmann sagte, das sei noch kein Thema gewesen. Christoph Marthaler gab sich unterdessen zuversichtlich: „Wir werden uns schon einigen.“

Sie freue sich besonders, dass erstmals eine Frau das renommierte Festival leiten werde, befand die Direktorin des Regionalverbands Ruhr (RVR), Karola Geiß-Netthöfel. Schmerzliche Einschränkung: 2006 war Marie Zimmermann bereits als Triennale-Chefin für 2008 bis 2010 vorgestellt worden. Sie starb im Jahr 2007. Man hat also nie erfahren dürfen, was sie bewirkt hätte.




Zwischen Talkshow und Happening – die Triennale auf musikhistorischer Lesereise

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie von Strawinskys "Sacre". Foto: Christoph Sebastian

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie des  „Sacre“. Foto: Christoph Sebastian

Ach Du lieber Gott! Da hopsen und tanzen seltsame Hutzelmännchen, mit Vollbart verziert und Bärenfell behangen, wie Indianer auf dem Kriegspfad umeinander, und das zu Igor Strawinskys archaischer, brutaler, rhythmusgesättigter „Sacre“-Musik.

Es sei gestattet, ein wenig zu lachen, auch wenn hier, als filmisches Dokument, die Rekonstruktion der Uraufführungschoreographie gezeigt wird (1913 in Paris, von Waslaw Nijinsky), die immerhin einen der größten Theaterskandale des beginnenden 20. Jahrhunderts ausgelöst hat. Sodass die Musik im tumultuösen Lärm des erhitzten Publikums beinahe unterging.

Nicht zuletzt auf Eklats dieser Art hat der amerikanische Musikkritiker Alex Ross wohl bei der Titelgebung seines Buches geblickt: „The Rest is Noise“ erzählt eine Geschichte von der tönenden Moderne, die nicht wenige Zeitgenossen als Lärm abtaten, von einer Moderne, die andererseits den Lärm der Welt durchaus spiegelte. Der Autor entwirft dabei ein großformatiges Gemälde, das die musikalische Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts in Beziehung setzen will zu politischen, philosophischen, soziologischen Strömungen jener Epoche. Ein überquellendes Kompendium, nicht frei indes von steilen Thesen, „Vielleicht“- und Konjunktivsätzen, Halbwahrheiten.

Sei’s drum: Triennale-Intendant Johan Simons hat das Buch ins Herz geschlossen und schon als Chef der Münchner Kammerspiele szenische Lesungen erarbeitet. Die finden nun ihre sechsteilige Fortsetzung in Schauspielhäusern des Ruhrgebiets. Diese Kooperation mit Theatern des Reviers, anfangs vollmundig beschworen, vereinzelt realisiert, dann aber schmählich fallen gelassen, erfährt also nun eine gewisse Renaissance. Das ist nur recht und billig: dass die Triennale sich bei allen europäischen Leuchtturmprojekten noch der Leistungsfähigkeit der traditionsreichen städtischen Bühnen und ihrer Ensembles bewusst wird.

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Johan Simons’ Musikvermittlung der besonderen Art startet im Essener Grillo-Theater und verhandelt zunächst die letzte Jahrhundertwende, das Fin de Siècle, mithin die Komponisten Mahler und Strauss, um sich dann im 2. Teil hauptsächlich eben des „Sacre“ anzunehmen.

Der eingangs erwähnte Videoschnipsel bleibt alleiniger Filmbeitrag, ansonsten wird fleißig rezitiert. Doch längst nicht alles, was wir in der Lesefassung von Julia Lochte und Tobias Staab zu hören bekommen, entstammt direkt dem Buch. Manche Zitate gehen weit darüber hinaus. Ross’ Werk wird zum Steinbruch, andere Quellen (zu erschließen aus den Anmerkungen des Buches?!) kommen hinzu. Das Schöne ist: Wenn in Simons’ Inszenierung die Figuren selbst sprechen, wenn also die Zeitzeugen etwa über den „Sacre“-Skandal in Form einer aufregenden Collage berichten, gewinnt die Geschichte weit mehr Authentizität als durch die Einlassungen von Alex Ross.

Da gibt Axel Holst einen fein formulierenden Harry Graf Kessler, Stefan Diekmann einen spitzzüngigen Jean Cocteau, und die resolute Ingrid Domann zitiert im Agitpropstil harsche Kritiken aus der zeitgenössischen Weltpresse. Der wunde Punkt von Strawinskys Musik ist schnell benannt: die Dissonanz. Sie ist im übrigen in Ross’ Buch das Element, das die Entwicklung der tönenden Moderne geprägt hat. Sie emanzipiert sich indes nicht erst, das sei nur am Rande angemerkt, seit den späten Stücken eines Franz Liszt. Es gibt Werke der Renaissance, die würde der arglose Hörer im 20. Jahrhundert verorten.

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Vieles von Ross’ Text, der, wie erwähnt, mit Strauss und Mahler beginnt, wird von Stephanie Schönfeld gelesen. Sie sitzt auf der T-förmigen Bühne auf einem Drehstuhl, fungiert als Wegbereiterin für den Einsatz der jeweiligen „Zeitgenossen“. Thomas Büchel (Strauss) und Jens Winterstein (Mahler) wirken dabei eher verhalten, lümmeln sich auf ihren Plätzen, wollen hintersinnig witzig sein, verleihen dem Abend aber leichte Zähigkeit. In der hinteren Reihe weitere Akteure: etwa Axel Holst als nöliger Kaiser Wilhelm oder Jan Pröhl als teils bärbeißiger, teils gesetzter Debussy.

Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Talkshow und studentischem Happening. Es ist ein unterhaltsamer Abend mit Stärken und Schwächen. Musiker der Bochumer Symphoniker streuen hier und da klingende Beispiele ein, etwa zwei Sätze aus Debussys Streichquartett.

Über allem schwebt die Frage zur Rolle des Publikums, das einst etwa Strauss’ modernistische „Salome“ bejubelte, das „Sacre“ aber erst allmählich goutierte. Debussy und Schönberg wiederum hatten für ihre Zuhörer mitunter nur Verachtung übrig. Die Vorstellung im „Grillo“ indes wird einhellig beklatscht. Dennoch bleiben Zweifel inhaltlicher Art. Die amerikanische Sicht auf einen Teil der europäischen Musikgeschichte mutet nicht zuletzt etwas salopp an.

Die weiteren Stationen der Lesereise finden sich unter www.ruhrtriennale.de




44.000 Tickets – Intendant Johan Simons zieht positive Bilanz seiner ersten Ruhrtriennale

Pressekonferenz anlässlich der Programmvorstellung der diesjährigen Ruhrtriennale durch die Kultur Ruhr GmbH Intendant Johan Simons Bild: Stephan Glagla | pottMEDIA

Triennale-Intendant Johan Simons hat Bilanz gezogen. (Foto: Stephan Glagla/pottMEDIA/Ruhrtriennale)

Die Ruhrtriennale nähert sich ihrem Ende. Deshalb zog Intendant Johan Simons jetzt eine erste Bilanz. Wie nicht anders zu erwarten, war das Festival sehr erfolgreich, alles in allem wurden 44.000 Eintrittskarten verkauft.

Es gibt der Zahlen etliche mehr; genannt sein sollen noch die Verkäufe für Simons’ großformatige eigene Regiearbeiten „Accattone“ (6500 Karten) und „Das Rheingold“ (6020 Karten). Bemerkenswert ist die kurzfristige Vermehrung der Zeit-„Slots“ bei „Orfeo“ in der Kokerei Zollverein von 400 auf 460. Zur Erläuterung: Pro Zeitslot wandern in Viertelstundenabstand acht Zuschauer durch eine fein installierte Alltagshölle, in welcher (Haus-) Frauen mit ausdruckslosen Gummimasken ein freudloses Dasein fristen. Der Durchgang dauert rund eine Stunde, an zentraler Stelle spielt ein Orchester ebenfalls mit Gummimasken Monteverdi-Musik, und diese Installation von Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot ist für die einen banal und für die anderen ein geniales Kunstwerk. Auf jeden Fall ist es ein Kunstwerk mit arg begrenzter Kapazität.

Portale der Maschinenhalle nach der Restaurierung: Portal im Südgiebel

Spielt hier im nächsten Jahr die Ruhrtriennale? Portal der Jugendstil-Maschinenhalle auf Zeche Zollern. (Foto: Martin Holtappels/LWL)

Dortmund darf hoffen

Die nächste Triennale findet vom 12. August bis zum 25. September 2016 statt. Was Johan Simons schon in der Pipeline hat, verrät er natürlich nicht. Ein bißchen hat er aber doch gesagt, beispielsweise zu der Frage, ob es im nächsten Jahr neue Spielorte geben wird: „Ich hoffe, es wird Dortmund!“

An der Jugendstilhalle auf Zeche Zollern hatte die Triennale ja beizeiten Interesse gezeigt, letztlich wurde es 2015 aber nichts mit diesem Spielort. Jetzt scheint die Halle als markanter Dortmunder Ort wieder in der Diskussion zu sein, zusammen mit der Phoenix-Halle am Phoenixsee, die ihrer Bestimmung als Eventstandpunkt entgegendämmert.

Kein Dinslaken, kein Wagner

Zeche Lohberg in Dinslaken, das Hallenmonstrum, in dem „Accattone“ lief, hat 2016 Pause. Da derzeit aber wieder fraglich ist, was dauerhaft aus dem gigantischen Schuppen werden soll, will Simons für 2017 noch keine Prognosen wagen.

Und was macht der Triennale-Ring? Nach „Rheingold“ ließe sich doch trefflich weiter an im bosseln. Doch eine Wagner-Inszenierung sei für 2016 definitiv nicht auf dem Plan, so der Intendant.

Musikalische Lesereise durch die Theater des Ruhrgebiets

Bis zur nächsten Triennale ist jetzt bald Pause – aber doch nicht ganz. Mit einer kleinen Tournee durch die Theater des Reviers möchte Johan Simons dem Publikum in Erinnerung bleiben. Deshalb gibt es – die Termine stehen unten – musikgeschichtliche Lesungen aus dem dicken Sachbuch-Bestseller „The Rest is Noise“ des Musikkritikers Alex Ross. Lesen werden Mitglieder der jeweiligen Ensembles unter Simons’ Regie; zudem spielen Musiker der Bochumer Symphoniker unter Leitung von Carl Oesterhelt bei dieser „literarisch-musikalischen Etappenreise“. Ein Abend soll um die drei Stunden dauern, eine Pause haben und 15 Euro Eintritt kosten. Und entspannt soll es zugehen, sagt Simons, gerne mit Getränken und ein paar Tischchen im Zuschauerraum.

Wir sind gespannt. Und die Kontaktaufnahme zu den Theatern der Region, die in der Planung früherer Triennale-Intendanten schlichtweg nicht vorkamen und sich deshalb übergangen fühlten, ist eine ausgezeichnete Idee, aus der mehr werden könnte.

Hier noch die Termine von „The Rest is Noise“:

  • Schauspiel Essen 5.11.2015
  • Schloßtheater Moers 3.12.2015
  • Schauspiel Dortmund 21.01.2016
  • Theater Oberhausen 04.02.2016
  • Theater a.d. Ruhr Mülheim 17.03.2016
  • Schauspielhaus Bochum 07.04.2016

www.ruhrtriennale.de




Durch Nacht zum Licht: Die Triennale feiert Nonos „Prometeo“ in Form eines Kirchgangs

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil einer Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil der Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Der Weg ist nicht immer das Ziel. Mitunter kann er mühselig sein, uns verunsichern, ja höchst irritieren. Umso schöner, wenn es dann erreicht ist, das hehre, glänzende Ziel, auf dass wir uns denn in Seligkeit hingeben. Wie jetzt bei der Triennale. Wo das Publikum gewissermaßen durch eine nebelnasse Nacht zum Licht geführt wird. Behutsam, in kleinen Gruppen. Und am Ende einer Schleuse wartet die ultimative Symbiose von Werk und Spielstätte: Luigi Nonos „Prometeo“ in der Duisburger Kraftzentrale.

Soviel Kirchgang war nie. Denn drinnen verschachteln sich harte Holzbänke, die an Gottesdienstaskese gemahnen, zum Sitzgruppenlabyrinth. Heizstrahler an den Füßen inklusive, die indes nach und nach ihren Dienst einstellen. Dünne Platzkissen sollen das Exerzitium, das satte 140 Minuten währen wird, ein bisschen angenehmer machen. Vorn dirigieren Ingo Metzmacher und Matilda Hofman aus Partituren groß wie Folianten, die auf Pulten breit wie Altäre liegen. Sie koordinieren die Einsätze der Vokal- und Instrumentalsolisten, des Chores (Schola Heidelberg), des Ensemble Modern Orchestra und der Live-Elektronik (Experimentalstudio des SWR).

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Nono nennt sein Werk, entstanden Anfang der 1980er Jahre, tatsächlich in einer Kirche uraufgeführt, eine „Tragödie des Hörens“ Dabei bezieht sich die Tragödie durchaus auf den Prometheusstoff, die allerdings eben nur hörend erfahren werden kann. Denn Musiktheater bedeutete für den italienischen Komponisten keine Interaktion oder Szenerie im herkömmlichen Sinne. Das Publikum darf sich allein auf die Klänge konzentrieren, auf das gesprochene, gemurmelte, hervorgestoßene, auch gesungene Wort, auf die Verbreitung im Raum. Und weil diese Art der Rezeption ungemein schwierig ist, weil der Musik insgesamt ja die Linearität abgeht, heißt es immer wieder „Ascolta“! (Höre!).

Vorn musizieren Chor und Orchester, neben und hinter uns, auf kleinen Emporen, weitere Sänger sowie Streicher- und Bläsergruppen. Die Elektronik tut ein übriges, um das Wandern des Tönenden zu untermauern, arbeitet mit Hall-, Echo- und Geräuscheffekten. Solisten und Ensembles liefern Sprachfetzen, etwa aus dem „Prometheus“ des Aischylos, aus Texten von Hölderlin, Walter Benjamin oder Hesiod (Libretto von Massimo Cacciari). Zudem erklingen Melodiefragmente, rhythmische Ausbrüche, vor allem aber üppige Klangschichtungen. Und alles in gehöriger Langsamkeit, als sei das hier ein archaisches Ritual, eine Unterweisung im richtigen Hören.

Dirigent Ingo Metzmacher mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Dirigent Ingo Metzmacher (r.) und Matilda Hofman mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Nun, nach den ersten 20 Minuten tröpfelten manche dem Ausgang zu, einmal sogar eine größere Gruppe. Nonos radikaler Ansatz, so scheint’s, ist ohne weiteres kaum zu vermitteln, trägt nicht über die Zeit. Ob die intellektuell anspruchsvollen Aufsätze im Programmheftchen da weiterhelfen, bleibt eine diskutable Frage. Dass der Komponist die Mehrchörigkeit der alten Venezianer und franco-flämischen Schule genauestens studiert hatte und geschickt in die Moderne des seriellen Komponierens zu transformieren wusste, sei unbenommen. Dass zudem Chöre, Solisten und Orchester das Spiel der Klänge wirkmächtig umsetzen, sei herzlichst anerkannt. Doch Nonos Denken wirkt wie aus ferner Zeit. Sein Schüler Helmut Lachenmann jedenfalls hat mit dem Musiktheaterwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das kompositorisch die Emanzipation des Geräuschs vorantreibt, einen weit interessanteren Vorstoß gewagt.

Die Triennale aber lässt Nono feiern wie einen Heiligen. In einer „Industriekathedrale“. Und wir, die wir aus dem Dunkeln ins Helle geführt werden wie Auserwählte, sollen uns berauschen lassen, uns gleichzeitig (bewundernd?) der industriellen Vergangenheit stellen – die Zusammenhänge lernt, wer’s Programm liest. Einst hieß es für die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet: „Wandel durch Kultur“. Die Triennale weckt mit hehrer Kultur allerdings eher manch nostalgisch angehauchte Seele. Musiktheater für Sentimentale – ach, vielen Dank.

 

 




Mozarts Requiem inmitten von Klangräumen – ein Triennale-Konzert der experimentellen Art

Chor, Orchester, Solisten und Dirigent im Einsatz für den Raumklang. Foto: Pedro Malinowski

Chor, Orchester, Solisten und Dirigent im Einsatz für den Raumklang. Foto: Pedro Malinowski

Die Triennale wäre nicht sie selbst, würde auf ihren Konzertprogrammen nur das stets Gehörte, das sattsam Bekannte stehen. Und so hat sich das Festival vor allem dem Neuen in der Musik verschrieben. Kompositionen des Repertoires finden oft nur insofern Beachtung, als sie in einen ungewöhnlichen Zusammenhang gestellt werden. Dann mag sich ein anderer Blickwinkel, besser gesagt, ein veränderter Höreindruck einfinden.

Dieses andere Hören soll nicht zuletzt auf der besonderen Akustik der Industriehallen fußen, die mancher in allerernstestem Verklärungseifer als Kathedralen apostrophiert. Nun, so gesehen, passt das jüngste Triennale-Konzert namens „Klangräume“ zur riesigen Gladbecker Maschinenhalle Zweckel, bekommen wir doch überwiegend Sakrales zu hören.

Alles Klingende kreist dabei um Mozarts Requiem, das sich selbst gewissermaßen nackt präsentiert. Denn das ChorWerk Ruhr, diesen Abend maßgeblich prägend, bringt uns nur des Komponisten Fragment zu Gehör, die unvollendete Totenmesse also, mit all ihren Brüchen oder Auslassungen in der Instrumentation.

Doch der radikale Blick aufs Original ist nur die eine Seite. Weil dieses unfertige Ganze nun kombiniert wird mit „Sieben Klangräume“ von Georg Friedrich Haas – moderne Musik, zwischen einzelne Requiem-Stücke platziert. Sodass nun ein seltsames Zwitterwesen zu hören ist, ein Homunkulus einerseits der scharfen Kontraste, aber auch, zum anderen, der sinnfälligen Verstärkung von Befindlichkeiten.

Erwähnt sei nur das „Lacrimosa“ (Tag der Tränen, Tag der Wehen), von dem Mozart acht Takte nur geschrieben hat, dem der Klangraum V, „Atmung“ folgt: Erst die stockende Musik, dann ein eher unregelmäßiges Atmen, verbunden lediglich mit ein paar Geräuschen. Haas lässt des Menschen Ende auf der Intensivstation suggerieren, so eindringlich beklemmend wie des Klassikers Tonfolgen.

Einen ähnlich starken Effekt bewirkt der Klangraum II, nach Mozarts „Tuba mirum“ (Laut wird die Posaune klingen), wenn Haas’ Musik mehr und mehr in allerschwärzeste Bassregionen hinabfließt. Hinzu kommt ein weiterer Kunstgriff: Der Chor zitiert aus einem sehr weltlichen Schreiben des Wiener Magistrats an Mozart – singend, brabbelnd, flüsternd, mal nur Satzfetzen hervorstoßend, mal auf nur einem Wort beharrend – sodass bisweilen der Eindruck entsteht, hier will sich das Diesseits ins Jenseitige hineinfressen.

Florian Helgath, ein Dirigent, der so exakt wie unaufgeregt zu Werke geht. Foto: Pedro Malinowski

Florian Helgath, ein Dirigent, der so exakt wie unaufgeregt zu Werke geht. Foto: Pedro Malinowski

Eigentlich gilt die Musik des Abends aber zuerst dem Sphärischen. Wie es die beiden Stücke des Ungarn György Ligeti sehr eindringlich beweisen. „Ramifications“ für 12 Soloinstrumente steht am Beginn, ein Werk der minimalen Veränderungen, der weiträumigen Verästelungen, sehr statisch, und doch voller Bewegung. Ähnliches gilt für den himmelwärtigen Ausklang, das „Lux aeterna“ für 16 Chorstimmen, die sich in einem mikrotonalen Raum voneinander wegbewegen und wieder zueinander finden. So erleben wir ein großes klingendes Fluidum, dessen Farbspektrum unendlich scheint.

Dies zelebriert das ChorWerk Ruhr in größter Präzision, wenn auch die Soprane bisweilen leicht übersteuern. Aber welches Ensemble verfügt schon über derart schwarze Bässe, die bei Bedarf noch mühelos im Falsett glänzen. Die Bochumer Symphoniker wiederum, alle übrigens unter Leitung von Florian Helgath, glänzen bei der Klanggestaltung. In Mozarts „Requiem“ indes, das der Dirigent schlank und straff musiziert sehen will, fehlt es dem Orchester mitunter an artikulatorischer Genauigkeit. Stilsicher hingegen die vier Solisten, an erster Stelle der markige Bass von Tareq Nazmi, neben Dominik Wortig (Tenor), Ingeborg Danz (Alt) und Sibylla Rubens (Sopran).

Viel Beifall für ein Konzert, dessen experimenteller Charakter verhindert, uns ganz dem Jenseitigen hinzugeben. Hinzu kommt: Akustisch ist die Halle Zweckel für die Sphärenklänge nicht das Nonplusultra. Einst hörten wir das „Lux aeterna“ mit dem ChorWerk im Dortmunder Konzerthaus. Dort wurde das Stück zur Offenbarung.

 

 




Alte Zechen, alte Schlösser – die Ruhrtriennale im Vergleich mit anderen Sommerfestivals

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Gleich kommt Musik: Haus Bothmer ist eine Spielstätte der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. (Foto: rp)

Jene rußig-grauen Zeiten, da tief die Briketts durch das Ruhrgebiet flogen, sind bekanntlich vorbei. Die Industrie wurde etwas sauberer und viel logistischer, doch die Kultur setzt nach wie vor auf alte Werte und Orte, wirkt zwischen Hochöfen, in Gebläsehallen und gigantischen Kohlemischanlagen. Dieses Verharrungsvermögen ist eigentlich erstaunlich, denn gerade von der Kultur könnte man doch erwarten, daß sie sich neue Terrains erobert.

Doch nein, sie verharrt. Und dies keineswegs nur im Ruhrgebiet, wo das Land eher grau als grün ist, sondern stärker noch auf dem platten Land, wo in nach wie vor wachsender Zahl alte Schlösser, Güter und Ritterburgen mit Kulturveranstaltungen prunken.

Vor etlichen Jahren gab sich der Pianist und Kulturmanager Justus Frantz recht erfolgreich daran, aus Schleswig-Holstein ein einziges großes Sommerfestival zu machen, der Erste war er auch damals schon nicht, und mittlerweile festiwallt es, wohin immer man schaut. Mit klarer Wachstumstendenz – auch das Musikfestival von Mecklenburg-Vorpommern leistet sich mittlerweile eine Anne-Sophie Mutter oder einen Klaus-Maria Brandauer, und der unvermeidliche Götz Alsmann ist mit seiner Band gleich an mehreren Spielorten zu Gast.

Da reizt es natürlich schon, ein bißchen zu vergleichen zwischen dem Projekt Ruhrtriennale und dem ländlichen Kulturtreiben der Flächenländer. Und nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle, daß auch bei uns so manches Schloß musikalisch umspielt wird, Nordkirchen zum Beispiel. Aber das eine große Musikfest auf dem Lande hat NRW eben nicht.

Picknick-Laune in Mecklenburg-Vorpommern

Also schau’n wir mal. Auf dem Land, erster Eindruck, dominiert der Mainstream, das zu Herzen gehende kunstvolle Geläufige. Über die Stars freut man sich auch noch, wenn man sie wegen einer recht nachlässigen Bestuhlung kaum sieht, und wenn die Musik eher aus den Lautsprechern als von der Bühne zu kommen scheint, macht selbst das eigentlich nichts. Man ist ja, zweiter Eindruck, in entspannter Picknick-Laune und genießt die Musik eher en passant, als erbaulichen Abschluß des Tages, jedoch nicht als dessen einzigen Programmpunkt.

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Garant für Elementarkomfort: Klappstuhl auf nicht ganz ebener Wiesenfläche beim Konzert in Bothmer. (Foto: rp)

Lustige Strohhüte

Eine weise Festivalregie inszenierte im frisch renovierten Schloß Bothmer, gelegen zwischen Boltenhagen an der Ostsee und Klütz, einen Picknicknachmittag, zu dem das zahlende Publikum Tische und Stühle, Speisen und Getränke mitbringen konnte und dies in reicher Zahl tat. Manche wollten auch auf Tischschmuck und Kerzenständer nicht verzichten, und viele, viel trugen der gelassenen Tageslosung gemäß lustige Strohhüte. Ob die Leute nun, Frauen wie auch Männer, tatsächlich so entspannt waren oder sich lediglich um die angesagte entspannte Eigenoptik bemühten, fragte man sich da manchmal schon.

Wenig Gastronomie

Das Triennale-Publikum jedenfalls ist ganz anders. Hier gehen die Leute zum Konzert wie zur Schicht. Und anschließend wieder nach Hause. Die Gastronomien der Spielorte beschränken sich selbst in der Bochumer Jahrhunderthalle auf zwei Tresen, entspanntes Picknick-Geschehen nach Art der Landfestivals ist so gut wie unbekannt. (Es mag Ausnahmen geben.) Dabei wären beispielsweise die Wiese vor der Halle Zweckel in Gladbeck oder auch der neu gestaltete Grünbereich vor der Dinslakener Kohlenmischanlage keineswegs picknickungeeignet.

Auf der Wiese wird gebechert

Auf jeden Fall jedoch ist Triennale-Kultur nüchtern wahrzunehmen, was für Landfestivals offenbar nicht gilt. Hier klirren die Pappbecher, auch während der Vorstellung. Aber natürlich läßt sich nicht alles mit allem vergleichen. Ein mehr oder minder stark alkoholisiertes Triennale-Publikum wäre eine grauenhafte Vorstellung, während es bei der gut verstärkten Land-Musik zumindest nicht stört. Landfestivals finden ja per Definition in einer freudig-friedvollen Grundstimmung statt, der aggressive Elemente fremd sind.

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Beliebt bei Festvals in Ost und West ist das Feuerwerk – hier über Haus Bothmer. (Foto: rp)

Eingekaufte Produktionen

Die Künstler kann man vergleichen, die eingekauften Produktionen, die mehr oder weniger ja eigens für Festivals geschaffen werden und denen man nun landauf, landab immer wieder begegnet. Höhepunkt im Musikprogramm von Haus Bothmer in Mecklenburg-Vorpommern war der „Sommernachtstraum“ in der Vertonung Mendelssohn-Bartholdys, bei dem Klaus-Maria Brandauer den Sprecher und „Entertainer“ (könnte man vielleicht sagen) gibt. Vielerorts war diese Produktion schon zu erleben, was keine Rolle spielt, wenn man sie noch nicht kennt.

Auch die Triennale kauft ein, Auftritte des Collegium vocale aus Gent zum Beispiel. Weitaus spektakulärer jedoch waren und sind seit Mortiers Zeiten die Eigenproduktionen, von denen etwa Bernd Alois Zimmermanns revolutionäre Oper „Die Soldaten“ es als Produktion der Ruhrtriennale hinterher bis an den Broadway schaffte. Spätestens hier hören die Vergleichbarkeiten auf, es soll in diesem Aufsatz ja mehr um das Drumherum gehen.

Elende Autofahrerei

Was das elitäre Metropolenfestival Ruhrtriennale und die schwelgerischen Musikfeste auf dem Lande ganz unerwartet eint, ist die elend lange Anreise zu den Konzerten. Gerade so wie die mecklemburgischen Schlösser und Herrensitze im ganzen Land verteilt sind, verteilen sich auch die postindustriellen Spielstätten der Triennale über das westliche Revier. Das ist lästig und vom Raumangebot her nicht zwingend, doch einem Plan geschuldet. Schlösser wie Zechen sollen zumindest einige wenige Male im Jahr kultureller Mittelpunkt sein, das rechtfertigt ihre alten Funktionen längst enthobene Existenz und macht sie auf eigentümliche Art vergleichbar. Bemerkenswert ist da übrigens auch, dies aber nur ganz am Rande, oft die architektonische Ähnlichkeit der Spielstätten, die daher rührt, daß die Industriearchitektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einen ausgeprägten Retrostil pflegte und alte Burgen gern zu Vorbildern nahm (oder Malakowtürme).

Alle lieben Feuerwerk

Feuerwerk erfreut sich stets großer Beliebtheit bei Festivalmachern, weil auch das nicht zahlende Publikum etwas davon hat und man so eine gewisse Gemeinnützigkeit andeuten kann. Und auch die Pest des heutigen Kulturbetriebs hat unterschiedslos alle Festivalbühnen erreicht: Die allzu tiefe Verbeugung vor den Sponsoren aus der Industrie, für die ihr Einsatz ein (an sich nicht zu kritisierendes) Geschäft mit klarer Kosten-Nutzen-Rechnung ist.

Bei der Ruhrtriennale, auch das ein Ereignis mit starkem Zumutungscharakter, trat zudem noch die Bundeskulturstiftung auf und brüstete sich damit, die „Accattone“-Produktion mit 800 000 Euro gefördert zu haben. Niemand aber stellte sich auf die Bühne und dankte den Steuerzahlern (und Zahlerinnen natürlich), die den Löwenanteil eines jeden öffentlichen Festivals finanzieren.




Die Sinnlichkeit der Moderne – ein Konzert ehrt den Triennale-Begründer Gerard Mortier

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Johan Simons, der neue Intendant der Triennale, weiß, wem er zu Dank verpflichtet ist. Dem „Freund und Vorbild“ Gerard Mortier, der, nicht zu vergessen, auch entscheidender Wegbereiter war.

Mortier, Gründungsintendant des Ruhrgebietsfestivals (2002 bis 2004), hat den Jüngeren von Beginn an ins Regieboot geholt, auch und gerade, wenn es um die Inszenierung der neu erdachten „Kreationen“ ging. 2014 starb Mortier; ihm hat Simons nun das erste Konzert der Triennale gewidmet, mit Werken der Moderne, für die sich der Geehrte zu Lebzeiten stets eingesetzt hatte.

Moderne heißt in diesem Fall Musik des 20. Jahrhunderts, der Bogen spannt sich von Ferruccio Busoni über die Zwölftöner Berg und Webern, hin zu Messiaen und Giacinto Scelsi. Überwiegend kammermusikalisch besetzt, erweist sich dabei das Klangforum Wien als Meister farbenprächtiger Vielseitigkeit. In der Duisburger Gebläsehalle tönt es schroff und geschmeidig, dramatisch und bisweilen auch ein wenig kühl. Denn das Orchester mag das Sinnliche hervorheben, kann indes den analytischen Zugang zu dieser Musik nicht überspielen.

Das liegt nicht zuletzt an den beiden Dirigenten, die im Wechsel am Pult stehen. Sylvain Cambreling und Emilio Pomàrico bringen Klarheit ins Notengeflecht, setzen exakte Akzente. Lineare Verläufe können atmen, rhythmische Passagen sind kraftvolle Kontrapunkte, Klangfelder öffnen sich in aller Transparenz.

Entsprechend gelingt es nur bedingt, sich dem klingenden Geschehen ganz und gar hinzugeben. Am liebsten noch lassen wir uns von den süffig morbiden „Altenberg Liedern“ Alban Bergs umspülen. Rausch und Exaltation, aber auch sanfte Elegie inbegriffen. Zumal die Sopranistin Sarah Wegener mit wunderbar warmer Stimme oder geheimnisvollem Flüsterton die Texte Peter Altenbergs interpretiert. Und wenn sie die höchsten Höhen erklimmt, wähnen wir uns ohnehin ins Sphärische katapultiert.

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters.  Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Anderes wirkt bodenständiger, dafür mutet es fremd an. Was Wunder, wenn etwa Busoni in seiner Studie für Streicher, sechs Bläser und Pauke indianisches Melos einflicht. „Gesang vom Reigen der Geister“ nennt er dies, 1915 komponiert, eine Musik, die zwischen Exotismus, einem Rest Romantik und neuer Sachlichkeit pendelt. Indisches Couleur wiederum lässt Scelsi knapp 60 Jahre später in „Pranam I“ erklingen, in Form einer virtuosen Lautmalerei, die Natalia Pschenitschnikova gekonnt umsetzt, während ein Tonband percussive Akzente liefert, alles eingebettet in große Klangflächen.

Als Meister der Farbe aber erweist sich zum Schluss der große französische Mystiker Olivier Messiaen, dessen Werk Gerard Mortier immer wieder in den Mittelpunkt der Triennale stellte. In den „Couleurs de la Cité Céleste“ will der Komponist nichts weniger als die Farben des Himmels in Klang umsetzen. Mit Flöten, Trompeten, Posaunen und Tuba, mit Xylophonen und Gongs, Glocken und Klavier. Orchester und Dirigent Cambreling loten sorgsam das dynamische Spektrum aus, arbeiten rhythmisch genau. Die Musik mit ihren stilisierten Vogelgesängen und riesenhaften Spreizklängen ist überwältigend. Großer Beifall.




Passionsspiel in der großen Halle – „Accattone“ nach Pasolini bei der RuhrTriennale

„Accattone“ in der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken: die erste große Produktion der diesjährigen Ruhrtriennale, bei der Festspiel-Intendant Johan Simons Regie führt und Philippe Herreweghe das Collegium Vocale Gent dirigiert. Vorlage des Stücks ist der gleichnamige Film von Pier Paolo Pasolini aus den 60er Jahren, in dem Gewalt, Prostitution und Armut allgegenwärtig sind. Am Wochenende war Premiere: Ein großes Spektakel, das die große Wirkung indes schuldig bleibt.

Johan Simons (c) Julian Röder

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons hockt auf Schienen, die zum Bühnenbild von „Accattone“ in der Kohlenmischhalle in Dinslaken gehören. (Foto: Ruhrtriennale/Julian Röder)

Im Mittelpunkt steht der Zuhälter Accattone und sein Niedergang bis zum suizidalen Unfalltod, den er, sterbend, als seine Befreiung empfindet. Eine düstere Geschichte in Gestalt einer christlichen Passion, was anzunehmen in Sonderheit die vom Collegium Vocale vollendet schön dargebotenen Bachschen Kantaten nahelegen. Sie trösten über einen Abend hinweg, der davon abgesehen wenig Erbauliches bietet.

Zugige Kohlenmischhalle

Das Theaterspiel – zu sehen gibt es eine Fassung von Koen Tachelet – hat Johan Simons gerade so inszeniert, wie man es von ihm kennt, frontal, burlesk und mit einigen grotesk überzeichneten Charakteren ausstaffiert. Mit solchen hemdsärmelig wirkenden Stilmitteln weiß Simon erstaunlich subtile Geschichten zu erzählen, weiß bedrückend klarzumachen, wie nah sich Liebe und Gewalt, Sexualität und Einsamkeit sein können.

Doch die riesige, zugige Kohlenmischhalle mit an die 200 Metern Raumestiefe braucht er dafür nicht wirklich. Die wenigen Situationen, in denen überhaupt einmal die Tiefe des Bühnenraums für Abgänge und ähnliches genutzt wird, hätte man ohne dramatische Verluste auch anders realisieren können. Das Collegium Vocale sitzt in den ganzen zweieinhalb Stunden der quälend langsam sich voranbewegenden Inszenierung auf seinem Podest, friert (wie die zahlreichen zum Einsatz gelangenden schwarzen Schals vermuten lassen) und musiziert – wie gesagt – vorzüglich.

Ein schmutziges Spiel

Eine Bühne im eigentlichen Sinn gibt es nicht, Darstellerinnen und Darsteller müssen sich auf staubiger Schotterfläche abarbeiten, fallen, liegen, hocken auf dieser unwirtlichen Unterlage und werden im Lauf der Vorführung immer dreckiger. Man hat Mitleid mit ihnen und fragt sich immer wieder, ob das für ein vollständiges Stückverständnis wirklich sein muß. Um so anerkennenswerter indes, daß das Ensemble hier eine durchaus respektable Leistung abliefert, allen voran Steven Scharf in der Titelrolle. Nicht so schön ist, daß die Deutschkenntnisse der niederländischen Darsteller ihre Grenzen haben, was dem Fluß der Dialoge nicht eben guttut.

Das soll mal reichen. Das Collegium Vocale Gent war am 16. August noch einmal zu hören, „Ich elender Mensch“ war der Abend überschrieben, und dies ist auch der Titel der ersten Kantate in „Accattone“. Ein weiterer Auftritt des Collegiums ist am 21. August, Titel: „Ich hatte viel Bekümmernis“. Beides in der Bochumer Jahrhunderthalle.

  • Weitere Termine: 19., 20., 22., 23. August, 20 Uhr, Kohlenmischhalle, Zeche Lohberg, Dinslaken
  • www.ruhrtriennale.de



Knochenstaub für die Ruhrtriennale

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Szene aus dem Musiktheaterstück „Neither“ von Morton Feldman und Samuel Beckett (Foto: Ruhrtriennale)

Das Ballett „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinsky ist ja eigentlich ein etabliertes Stück Bühnenkunst. Deshalb erstaunt es auf den ersten Blick, daß sich der Titel unter den insgesamt vier Musiktheater-Produktionen findet, die Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels  für das Festival im Spätsommer ankündigt. 

Doch keine Angst! Dies ist keineswegs die reumütige Rückkehr zum Mainstream, wie immer der auch beschaffen sein mag. Vielmehr ist der italienische Theatermacher Romeo Castellucci, der diese Produktion zu verantworten hat, eines Tages zu der Erkenntnis gelangt, daß bei Strawinsky zweifelsfrei ein Tier geopfert werde und das Tieropfer somit auch den Kern der Handlung bilden müsse.

Über einige weitere gedankliche Kaskadensprünge gelangte Castellucci schließlich zu seiner inszenatorischen Idee: Nicht Menschen bevölkern die Bühne, sondern fein gemahlener tierischer Knochenstaub rieselt von der Decke herab, rhythmisch und motorisch ausgestoßen, herausgeblasen von einer machtvollen Maschinerie, die, wie Proben-Videos zeigten, auch dann noch in ihrer präzisen Verrichtung sichtbar bleibt, wenn der Rest des Bühnenraums im Knochenstaub versinkt. Kein Scherz, der 1. April ist schon durch. Zum Trost der zahlreichen Asthmatiker und Allergiker konnte Heiner Goebbels wenigstens verkünden, daß das Staubopfer hinter einer dichten Folie stattfinden wird, die den Bühnen- vom Zuschauerraum abtrennt. Willkommen bei der Ruhrtriennale!

Keiner seiner Vorgänger hat den Grenzbereichen der Kunst in seiner Arbeit, um es einmal mit einem letztlich unzulänglichen Begriff zu bezeichnen, so radikal und beharrlich nachgespürt wie Heiner Goebbels. Während sein Vorgänger Willy Decker sich drei Jahre lang an letzten Fragen der Religionen abarbeitete, inszeniert er die Werke vergessener Zeitgenossen, holt freakige Instrumentenbauer auf die Bühne, weitet mit beträchtlichem technischen Aufwand die Möglichkeiten der Rezeption. Feste Abgrenzungen der Bühne zur Bildenden Kunst ignoriert Goebbels, und was in den letzten beiden Jahren unter seiner Intendanz entstand, war mal atemberaubend und mal banal, manchmal auch beides. Und oft war man sich da gar nicht sicher. So mag es jetzt auch dem Tierknochenmehl ergehen. Vielleicht kommt es ja ganz groß raus, und die Menschen werden davon noch in Jahrzehnten reden, vielleicht aber auch wird es einfach weggefegt.

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Der Niederländer Louis Andriessen schrieb die monumentale Oper „De Materie“, die Heiner Goebbels jetzt für die Ruhrtriennale inszeniert hat (Foto: Ruhrtriennale)

Zu den vergleichsweise „sicheren Bänken“ des neuen Programms gehört sicherlich die Inszenierung der Oper „De Materie“ des Holländers Louis Andriessen (75) durch den Hausherrn selbst. Das Werk wurde zuvor nur ein einziges Mal auf die Bühne gebracht, Ende der 80er Jahre von Robert Wilson in Amsterdam. Somit erlebt Duisburg in der Kraftzentrale Duisburg Nord eine veritable deutsche Erstaufführung, in der es, der Titel deutet Grundlegendes ja bereits an, um Zusammenhänge von Materie, Geist und Gesellschaft gehen soll. Die niederländische Unabhängigkeitserklärung von 1581 ist ein Topos dieses Werks, religiös-erotische Visionen einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert ein anderer. Aber ebenso findet die Kunst Piet Mondrians Erwähnung, schließlich auch eine öffentliche Rede von Marie Curie. Die Musik zu dieser bunten philosophischen Mischung immerhin macht das renommierte Frankfurter Ensemble Modern.

Bei „Surrogate Cities Ruhr“ machen die Bochumer Symphoniker die Musik, Steven Sloane schwingt den Taktstock. Das Stück, erläutert Goebbels, sei eine „Bewegungsrecherche“ mit Menschen des Ruhrgebiets, mit Kindern wie auch mit Teilnehmern der Gruppe „50 plus“. Hier wird nicht Pas-de-deux gedrillt, hier lernen und integrieren Künstler die Bewegungsabläufe normaler Menschen. Für diese Produktion schrieb Goebbels die Musik, für den Fortgang des Bühnengeschehens mit seinen rund 250 Akteuren sorgt die Choreographin Mathilde Monnier.

Die Produktion „Neither“ (deutsch: weder) ist die Frucht einer gemeinsamen Antihaltung zur Oper, die Morton Feldman und Samuel Beckett pflegten. Diese hielt sie, nachdem sie sich 1976 in Berlin zum ersten Mal getroffen hatten, nicht davon ab, ein Werk zu verfassen. Beckett schrieb einen zehnzeiligen 87-Wörter-Text, den er – eben – „Neither“ nannte, Feldman die Musik dazu. Dieses Musiktheater, das sich angeblich an den „psychologischen Patterns des amerikanischen Film noir“ orientiert, hat zur Musik der Duisburger Philharmoniker wiederum Romeo Castellucci inszeniert – der mit dem Knochenmehl.

Viel schöne Musik steht auf dem Programm, auch ganz klassisch. Und natürlich bleibt vieles kryptisch, bis man es wirklich gesehen und gehört hat. Was beispielsweise tun Sarah Nicolls und Sam Beste mit den „20 Pianos“ von Matthew Herbert? „Konzert/Performance“ ist die Show überschrieben, das macht einen nicht automatisch klüger. Wer auf Nummer sicher gehen will, schaut nach bekannten Namen und findet sie auch. Es konzertieren das unvermeidliche ChorWerk Ruhr, das Royal Concertgebouw Orchestra und das hr-Sinfonieorchester, das im Vorjahr auch das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ auf seinem schweren Weg begleitete.

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Immer etwas beängstigend: Installation von Gregor Schneider, der das Lehmbruck-Museum mit „Totlast“ ausstatten wird (Foto: Ruhrtriennale)

In der Abteilung Bildende Kunst/Film/Installation schließlich springt ein bekannter Name ins Auge: Gregor Schneider aus Rheydt, der ab etwa 1985 sein Elternhaus zum schauerlich beengenden, klaustrophobische Neigungen bestens befriedigenden „Toten Haus u r“ umbaute, der mit einer Art Kopie dieser Arbeit 2001 an der Biennale in Venedig teilnahm und dort auch prompt den Goldenen Löwen gewann. Er wird im Duisburger Lehmbruck-Museum das begehbare, teilweise unterirdische Röhrensystem „Totlast“ errichten, mit wie man sicher annehmen darf starken sinnlichen Valeurs.

Eine weitere Arbeit, die ganz bestimmt zum Publikumsliebling wird, haben die Urbanen Künste Ruhr für die eigentlich eher schlichte Straße unter den Hochöfen auf dem Duisburger Gelände geplant. „Melt“ ist 70 Meter lang, besteht aus 55 glänzenden Aluminiumplatten und kann begangen werden. Die Spiegelungen ändern sich durch das Nachgeben des Materials beständig, ein „Hingucker“ im wahrsten Sinn des Wortes.

Noch viel mehr könnte (und müßte!) man aufzählen aus dem Programm der Ruhrtriennale. Tanz bei PACT Zollverein und in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck, das Jugendprogramm „No Education“ die Diskussionen „tumbletalks“ und „freitagsküche“. Genauere Programmrecherchen sind natürlich auf den Netzseiten der Ruhrtriennale möglich.

Auffällig an Heiner Goebbels’ letzter Spielzeit ist eine gewisse Verlagerung des Schwerpunkts nach Duisburg-Nord. Hier werden große Sachen wie „De Materie“ und „Le sacre du printemps“ gegeben, im Lehmbruck-Museum wühlt Gregor Schneider seine „Totlast“ ins Gelände. Bochum mit seiner Jahrhunderthalle, früher geradezu der zentrale Aufführungsort der Triennale, bleibt die Nummer zwei. In Essen findet einiges statt – so die klassische Kammermusikreihe in der Zeche Carl -, doch lediglich das Kino Lichtburg, in dem „River of Fundament – Ein sinfonischer Film von Matthew Barney und Jonathan Bepler“ gezeigt wird, ist nicht den kleineren Spielorten zuzurechen. Und Dortmund, überhaupt das östliche Revier ist gänzlich außen vor. Nun gut. Es gibt ja die B 1.

Man sollte die feingeistige Grenzgängerschaft des Heiner Goebbels noch ein letztes Mal genießen, auch wenn sie nicht immer – oder nicht sofort – ihren Zugang zu den Herzen der Menschen findet. Ab 2015 regiert Johan Siemons die Ruhrtriennale, hier seit seiner Produktion „Sentimenti“ ein alter Bekannter. Dann wird es laut und lustig und vielleicht auch etwas flach (das wissen wir natürlich nicht). Auf jeden Fall jedoch ganz anders.

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Die Duisburger Gebläsehalle ist einer der Spielorte der Ruhrtriennale (Foto: rp)

Informationen und Eintrittskarten www.ruhrtriennale.de

Karten-Telefon

+49 (0)221 / 280210)




Eine Betrachtung des Neuen: Heiner Goebbels‘ 2. Ruhrtriennale-Programm

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale. Foto:

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, setzt erneut aufs Experiment. Foto: Wonge Bergmann

Teufel: Da hat doch die Kinderjury der Triennale im vergangenen Jahr ihren Preis „Die größte Qual für die Ohren“ ausgerechnet der Lieblingsband des Intendanten Heiner Goebbels zugedacht. Und dann musste er sich von Teilen des Publikums anhören, ein Theaterabend ohne Pause sei arg gewöhnungsbedürftig. So kann es gehen, wenn der Rezipient aus den eigenen (Hör)-Ritualen heraus einem kunstsinnigen Macher begegnet, der das Experiment liebt, das Neue, eben Unerhörte. Das Triennale-Programm dieses Jahres spricht darüber, wieder einmal, Bände.

Goebbels verfasst im Editorial ein Plädoyer für die herrliche Unbefangenheit der Kinderjury, sieht die Vorstellungspause als Störung eines komplexen Wahrnehmungsprozesses. Umgekehrt heißt dies wohl, dass sich der Intendant ein ebenso offenes, dazu höchst neugieriges, intellektuelles Publikum wünscht – für all die Produktionen, die wir hier ganz unbefangen als Theater 2.0, Antitheater oder Metatheater bezeichnen wollen.

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene - wie aus dem Futuristenlabor. Foto:

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene. Foto: Klaus Grünberg

Den Beginn markiert in dieser Saison das Musiktheater des Amerikaners Harry Partch, ein Stück zwischen Traum und Wahn namens „Delusion oft he Fury“. Mit vom Komponisten eigens gebauten Instrumenten und von ihm aufgezeichneten Tonsystemen. Das Bühnenmodell, das im Programmbuch zu sehen ist, wirkt wie aus dem Baukasten eines Futuristen. Das Original gibt’s dann in Bochums Jahrhunderthalle zu bestaunen.

Das Theater 2.0 wiederum findet sich im Tanzgeschehen der Brasilianischen „Grupo de Rua“: Wie zu lesen ist, leitet sich „CRACKz“ aus choreographischem Material ab, das im Internet zu finden ist: „download, remix, share – speichern, neu zusammenfügen, teilen“ ist das Prinzip, zu erleben auf Zollverein in Essen.

Nichts weniger als den Theaterbetrieb ad absurdum führen will „Forced Entertainment“: Altvertraute Figuren und Textfragmente stehen einem Science-Fiction-Sujet gegenüber. Eine Mixtur, „Das letzte Abenteuer“ genannt (Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck). Ähnlich geheimnisvoll, märchenhaft und abenteuerlich geht es in Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zu. Abgesehen davon, dass der Komponist hier die annähernd völlige Dominanz des musikalischen Geräuschs zelebriert, wird Hans-Christian Andersens bekanntes Märchen durch weitere Texte verfremdet. Das Ergebnis kann, wie jüngst in Berlin gesehen, ein unglaubliches Erlebnis werden. Zur Triennale darf nun Robert Wilson seinen Zugang zum wuchtigen Stück, in der Jahrhunderthalle, offerieren.

Beinahe spukig soll es zudem ausschauen in „Stifters Dinge“, einer von Goebbels selbst verantworteten Performance im Duisburger Landschaftspark. Fünf Klaviere erklingen, ohne Hilfe eines Pianisten, es gibt keine Akteure, nur Töne und Bilder. Ein Theater über das Theater: Im Zentrum stehen Bühnenbestandteile (Vorhang), Mittel für szenische Tricks wie Eis oder Nebel.

Die einzige Konstante bei all diesem avantgardistischen Vorpreschen ist das Publikum. Es darf  rätseln, entschlüsseln, sich wundern oder ärgern, debattieren, vielleicht sogar still genießen. Es darf im übrigen auch mitmachen: In William Forsythes großflächigem Labyrinth, einem Raum mit 400 Pendeln, die sich in variablen Tempi bewegen, sollen geneigte Betrachter lustvoll umherschweifen. Oder eher schlangengleich: Denn eine Berührung des Instrumentariums im Essener Museum Folkwang sei zu vermeiden, heißt es im Programm. Ja, wo die Kunst ihre Ordnung hat, ist im Zweifel der Mensch für das Chaos verantwortlich.

„Habt Mut !“ wollen wir den Besucherscharen zurufen. Denn schon manche Theaterrevolution hat sich im Nachhinein als Spiel auf der Bühne vor Publikum entpuppt. Wie in hunderten von Jahren zuvor. Auch Heiner Goebbels und seine Mitstreiter werden das Rad nicht neu erfinden können. Vielleicht sieht’s nur ein bisschen peppiger aus.

Im Internet (www.ruhrtriennale.de) stehen alle weiteren Informationen, im übrigen auch über sämtliche Produktionen der vorherigen Festival-Jahrgänge. Der Vergleich lohnt sich.