Auf dem weiten Feld der Online-Vorlesungen – zum Beispiel: über Pest und Klimawandel im 14. Jahrhundert

Blick in den (virtuellen) Hörsaal, Aufzeichnung einer Tübinger Vorlesung im Sommersemester 2008: Prof. Ellen Widder über die „Krise des Spätmittelalters – 14. Jahrhundert“ (Screenshot aus: https://timms.uni-tuebingen.de/tp/UT_20080508_001_14jhd_0001)

Auf der Suche nach sinnreichen Online-Auftritten bin ich dieser Tage nicht nur auf die zeitgeschichtlich hochinteressanten TV-Interviews von Günter Gaus gestoßen, sondern habe auch – abermals – die Möglichkeit wiederentdeckt, virtuelle Hörsäle zu besuchen, will heißen: aufgezeichnete (und oft auch ausgezeichnete) Uni-Vorlesungen aus etlichen Fachbereichen anzuschauen.

Da kann man sich probehalber in Wissensgebiete „verirren“, von denen man eigentlich partout keine Ahnung hat(te)! Nehmen wir als ein herausragendes Beispiel nur die Website der Universität Tübingen, die unter dem Kürzel „Timms“ rasch zu finden und per Suchmaske aufzuschlüsseln ist. Alles ist frei zugänglich.

Da kann man sich, sofern man denn möchte, in der Fakultät für Evangelische Theologie etwa eine insgesamt 44-stündige Vorlesung über die Psalmen zu Gemüte führen. Klingt krass. Eine Einführung in die Psychologie dürfte wohl etwas alltagstauglicher sein.

Nun aber zu den „Mint“-Fächern: Experimentalchemie I ist im Angebot, außerdem stehen Physik-Grundkurse (Mechanik, Wärme, Elektromagnetismus) oder auch – verheißungsvoll benannt – „10 Perlen der Mathematik“ im Verzeichnis. Letztere habe ich (nicht nur spaßeshalber) auf meine mittelfristige To-do-Liste gesetzt, obwohl oder gerade weil ich Mathe als Schüler so gar nicht gemocht habe. Auf dieser Liste der Vorhaben steht auch eine Einführung in die Astronomie, deren Unendlichkeiten mich schon immer fasziniert haben.

Von der Unfallchirurgie bis zum Strafprozessrecht

Auch bei den Medizinern kann man sich umsehen, beispielsweise anhand der Vorlesungen Anatomie 1 und 2 oder mit einer Einführung in die Unfallchirurgie. Wahrscheinlich nichts für allzu empfindsame Seelchen. Habe mal in eine ähnliche Vorlesung hineingeschnuppert – und es zeigte sich gleich, wie sehr die Chirurgie handwerkliche Anteile hat. Jetzt aber habe ich doch erst einmal Biologie vorgezogen: „Aufbau und Funktion der Pflanzen und Tiere“. Bei der aufgefächerten Fachbegrifflichkeit wollte ich allerdings alsbald kapitulieren. Mir gemäßer fand ich anfangs eine juristische Vorlesung über die Feinheiten des Strafprozessrechts, dessen irrwitzige Winkelzüge mich auf Dauer freilich auch irritiert zurückließen. Trotzdem gilt: Man wird nicht dümmer dabei.

So richtig zu Hause fühlt sich unsereiner dann aber doch in den Geisteswissenschaften. Also dort mal kreuz und quer geschaut, zumal bei Germanistik und Geschichte. Und da wurde ich gestern so passend fündig, dass ich vorerst gar nicht mehr aufhören wollte. Es ging um die „Krise des Spätmittelalters im 14. Jahrhundert“, eine im Sommersemester 2008 gehaltene Vorlesungsreihe von Prof. Dr. Ellen Widder, hörbar aus Westfalen stammend, aber nun eben – nach mancherlei Stationen und Gastprofessuren – in Tübingen wirkend. Ich habe ihr gebannt zugehört. Denn schon im zweiten Teil ging es nicht nur historisch, sondern sozusagen auch hochaktuell zur Sache: Klimawandel, Pest und Bevölkerungsentwicklung im 14. Jahrhundert.

Die Seuche kam aus China – in 14 Jahren über die Seidenstraße

Corona hin, Corona her. Bei der Pest, die eine medizinisch kaum geschulte Menschheit traf, reden wir von Mortalitätsraten von im Schnitt 60 Prozent, die Lungenpest zog praktisch in 100 Prozent der Fälle den Tod nach sich – manchmal binnen Stunden nach der Infektion. Ganze Landstriche wurden entvölkert und blieben als „Wüstungen“ zurück.

Aus China kommend, wo die Seuche um 1333 wohl begonnen hat, gelangte sie via Fernhandel (zu Schiff und über die Seidenstraße) um 1347 nach Europa. Sie verschonte  kaum eine Gegend in Italien, nur ausgerechnet die Landstriche um Mailand, was bis heute niemand schlüssig erklären kann. In deutschen Gefilden ging es derweil für Nürnberg ähnlich staunenswert glimpflich ab.

Schon vor der Pest hatte sich das Klima gewandelt. Es häuften sich die kühlen und nassen Sommer, so dass bei der damaligen, noch nicht vollends entfalteten Produktionsweise die Ernten viel zu gering ausfielen und es zu Hungersnöten kam. Seit dem Jahr 1000 hatte sich die mittel- und westeuropäische Bevölkerung etwa verdreifacht, nun stagnierte sie oder ging sogar regional zurück. Die Pest traf also auf eine ohnehin schon geschwächte Bevölkerung mit unzureichender Immunabwehr, wie Prof. Widder schlussfolgert.

Europa in immer neuen Schüben erfasst

Die furchtbare Seuche, die Europa schon einmal vom 6. bis ins 8. Jahrhundert heimgesucht hatte, kam seit dem 14. Jahrhundert in immer neuen, wenn auch nicht mehr gar so verheerenden Schüben wieder, als Epidemie und zeitweise als Pandemie blieb sie rund 400 Jahre auf dem Kontinent. Aber die Menschen hatten auch kein taugliches Gegenmittel. Erst 1894 (!) wurde der Pesterreger (Yersinia Pestis) entdeckt.

An den Anfang ihrer Überlegungen stellte Prof. Ellen Widder übrigens einen berühmten Text der Weltliteratur, nämlich die Einleitung in den Erzählkreis des „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio, der die Pest erstaunlich detailreich beschreibt, übrigens aus der Perspektive einer außerordentlich privilegierten Gesellschaftsschicht. Aber an den Zusammenhang zwischen Epidemien und Klassenfragen wollen wir an dieser Stelle nicht auch noch rühren.

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Tausende Online-Vorlesungen in deutscher und englischer Sprache erreicht man z. B. über Links, die auf der folgenden Seite aufgeführt sind: https://www.fernstudi.net/magazin/10963




Solche Farben können einen Menschen ändern – Zur grandiosen Cézanne-Ausstellung in Tübingen

Von Bernd Berke

Tübingen. Am Ende scheint diese Frau eine wächserne Maske zu tragen. Immer mehr, von Bild zu Bild, hat sich ihr Gesicht verhärtet. Die Liebe des Malers zum Modell erkaltet zusehends. Auch als Betrachter friert man ein wenig vor diesen eisig-objektiven Porträts.

Die Schrecknisse des genauen Blicks – auch dafür steht das Lebenswerk von Paul Cézanne (1839-1906), der seine Geliebte und spätere Frau Hortense Fiquet derart ansah. In einer grandiosen Überblicksausstellung – seit Paris anno 1936 (!) ist es die umfassendste überhaupt – wird sein malerisches Oeuvre jetzt von der Kunsthalle Tübingen präsentiert.

Kunsthallen-Chef Götz Adriani hat die millionenschwere Schau auch errechnet, nicht nur finanziell: Jedes Genre (ob Landschaft, Porträt, Badeszenen oder Stilleben) ist fast exakt mit dem Prozent-Anteil vertreten, den es im Gesamtwerk einnimmt. Adriani will damit verzerrten Gesamteindrücken vorbeugen. Doch vor allem hat er, der 1978 an gleicher Stelle Cézannes Zeichnungen und 1982 die Aquarelle zeigen konnte, erneut Leihgeber aus aller Welt zu beispielloser Großzügigkeit bewegt. Die 97 Gemälde aus den Jahren 1865 bis 1906 sind fraglos die Krönung der Tübinger Cézanne-Trilogie. Viele Arbeiten waren noch nie in Deutschland zu bewundern, und Schwabens idyllische Uni-Stadt ist die einzige Station. Gründe genug, um auch von weither anzureisen.

War er im Grunde phantasielos?

Cézanne war der wohl wirksamste Geburtshelfer der Moderne überhaupt, obwohl er ein erzkonservativer Traditionalist (und sogar ein schlimmer Antisemit) gewesen ist. Manet, Renoir, Matisse und Picasso besaßen Bilder von ihm. Doch während beim unerschöpflichen Picasso plötzlicher „Wurf“ und Genieblitz kennzeichnend sind, hat sich Cézanne alles mühsam erarbeitet. Seine Bilder wirken wie erkämpft und gebändigt. Oft hat er künstliche Blumen als Vorlage benutzt, denn er malte so langsam, daß die natürlichen vor der Zeit verwelkt wären. Ohne dauerhafte Vorlage ging er selten zu Werke. Adriani: „Im Grunde war Cézanne phantasielos.“

Anfangs überwiegt noch das Erotisch-Anekdotische: Beim Nacktbaden überraschte Frauen oder jener „Nachmittag in Neapel“ – ein schwarzer Diener eilt einem lustvollen Paar zur kulinarischen Hilfe. Unschwer ist das Vorbild Delacroix („Algerische Frauen im Harem“) zu erkennen, dessen Farbskala Cézanne sich zunächst ebenso anverwandelt wie etwa die Dramatik eines Goya (im Bild „Der Mord“, sozusagen einer Vorform des Reality-Fernsehens) oder die Lichtregie eines Caravaggio.

Ein großartiges Selbstporträt von 1875 zeigt dann, wie ernst es um den Meister stand: Da ist er, jener barsche Blick, die unterkühlte Objektivität des von der Mitwelt (einschließlich des Schulfreundes Emile Zola) Enttäuschten und Verkannten. Man meint es mit Händen greifen zu können, obwohl Cèzanne überhaupt nicht psychologisiert. Es ist einfach eine Sache der Farben. Sie sprechen für sich, sie sprechen miteinander. Sie sagen viel. Der Dichter Rilke schrieb seinerzeit gar, es sei, „als ob diese Farben einem die Unentschlossenheit abnähmen ein für allemal“.

Die Gestalten sind einfach da

Auch für die anderen Porträts gilt: Die Gestalten tun oder wollen eigentlich nichts, kein Beiwerk lenkt von ihnen ab; sie sind schlicht ganz und vollends da. Und dann die Landschaften. Mal eng und dunkel unter den Gewölben von Baumkronen, mal endlos weit und ins gleißende Licht der Provence getaucht. Es ist wie Ein- und Ausatmen. Mit kurzen, quer gesetzten Pinselstrichen baut Cézanne die Naturszenen wie Puzzles oder Mosaiken auf. Das Bild erwächst aus kleinen Farbflächen. Im Detail abstrakt und wildwüchsig, sind sie im Ganzen auf wunderbare Weise „richtig“. Man denkt und fühlt: So und nicht anders.

Auch in den Stilleben gibt Cézanne Zentralperspektive und Raumflucht auf, läßt jedem Punkt des Bildes die gleiche Bedeutung angedeihen. Alles tritt rundum überdeutlich hervor und kippt gleichsam auf den Betrachter zu wie eine zweite Natur, die die erste noch überbieten will.

In den Badeszenen versuchte Cézanne eine in Wahrheit längst verlorene Einheit zwischen Mensch und Natur wieder „herbeizumalen“, sie in der Kunst zu retten. Es war eine Arbeit für Jahrzehnte, die immer nur annähernd gelingen konnte. Aber welch eine geradezu heroische Anstrengung steht dahinter!

Paul Cézanne. Gemälde. Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76. Ab sofort bis 2. Mai (tägl. außer montags 10-20 Uhr). Katalog in der Ausstellung 39 DM (im Buchhandel 86 DM).