So einzigartig wie ein Fingerabdruck – Alina Bronskys Buch über das Essen

Vorlieben und Abneigungen beim Essen sind so individuell wie ein Fingerabdruck. Fast immer gehen sie auf Geschmacks-Erlebnisse der Kindheit zurück. Mit solchen, stets persönlich beglaubigten Einsichten lockt einen die Schriftstellerin Alina Bronsky geschickt in ihr Buch übers Essen hinein. Auch nach dem Intro breitet sie ihren Erzählstoff sehr kurzweilig aus.

Der kompakte Band fügt sich bei Hanser Berlin ein in die zehnteilige Reihe zu den „10 wichtigsten Themen des Lebens“, als da außer dem Essen noch wären: das Altern, Schlafen, Lieben, Streiten, Wohnen, Arbeiten, Spielen (alle bereits erschienen), Sprechen und Reisen (kommen 2026 heraus). Übrigens stammen alle zehn Bücher von Frauen.

Deutscher Irrweg des „Trockenfutters“

Zurück zu Alina Bronsky. Sie kam als Kind aus der in letzten Zuckungen darnieder liegenden Sowjetunion nach Deutschland und vermisste so manche liebgewordene Essens-Gewohnheit, obwohl hier doch eigentlich alle Zutaten im Überfluss vorhanden waren. Präferenzen beim Essen sind eben nicht nur individuell, sondern auch kulturell bedingt. Vor allem verstand sie anfangs lange nicht, warum die Deutschen ständig kaltes „Abendbrot“ verzehren. Das Russische halte dafür den schwer übersetzbaren Begriff Suchomjatka bereit, der jedenfalls die ablehnende Haltung zum Irrweg solchen „Trockenfutters“ in sich birgt. Ungleich besser sei es doch, etwas wohlig Warmes wie Porridge, Getreide- oder Kartoffelbrei zu sich zu nehmen. Und überhaupt: Wie könne man denn regelmäßig Dinge essen, für die man kein Besteck benötigt? Nun ja, gemach! Später hat Bronsky in Berlin sogar die Vorzüge der „Stulle“ schätzen gelernt.

Die Entdeckung der Grünen Soße

Alina Bronsky wurde 1978 in Jekaterinburg geboren. Dort dauert der oft bitterkalte Winter mindestens ein halbes Jahr, so dass man ihre innige Neigung zu warmen Mahlzeiten oder Vitamin-Speichern wie schwarzen Johannisbeeren oder Walderdbeeren (viel schmackhafter als Gartenerdbeeren) ebenso versteht wie das kalte Grausen vor Eiswürfeln. Solche Prägungen verschwinden nicht so leicht. Allerdings hat sie sich in der hessischen Provinz bereitwillig integriert und so etwa auch die rund um Frankfurt übliche „Grüne Soße“ für sich entdeckt, die schon Goethe gemundet haben soll.

Nebenbei spendet Bronsky auch noch Rat für (angehende) Schriftsteller: Essen sei ein idealer Einstieg ins Erzählen, man solle es nur probieren. Folgt ein Exkurs über allfällige kulinarische Themen in Literatur, Malerei und Kino. Auch geht es zwischendurch darum, was Kochen und Bekochtwerden für zwischenmenschliche Beziehungen bedeuten. Die Erwägungen reichen bis hin zu diplomatischen Verhandlungen, die mit Mahlzeiten erfahrungsgemäß besser gedeihen.

Als Krönung eine „Napoleon-Torte“

Zu jedem Kapitel bietet Bronsky neben ihren Geschichten ein einschlägiges Rezept an, so dass nach der Lektüre beispielsweise folgende Speisen nach ihrer Art zubereitet werden können: Borschtsch, Schokoküsse (von einer gewissen Frau Müller z. B. mit Gummibärchen und Smarties vermengt, ein seltsam reizvolles Unding), Frikadellen, spezieller Kaffee, Quarkauflauf, Haferplätzchen und Früchtebrot. Hinzu kommen die bereits erwähnten Stullen, Johannisbeeren, Porridge und Grüne Soße. Krönung des Ganzen ist aber wohl die in Russland offenbar überaus beliebte „Napoleon-Torte“. Aber lesen und schmecken Sie selbst!

Alina Bronsky: „Essen“. Hanser Berlin, 112 Seiten, 20 Euro.

P. S.: Kleiner Hinweis ans Lektorat für etwaige weitere Auflagen, die dem entspannten Buch zu wünschen sind: Auf Seite 81, Zeile 9, muss es Märchen und nicht Mädchen heißen. Gern geschehen.

 




Bundestreffen in Dortmund: Was Tierärzte regulieren wollen

Florianturm, Zeche, Dortmunder U und Reinoldikirche als Dortmunder Wahrzeichen – auf Unterlagen der Bundestierärztekammer.

Quizfrage: Wie wird das Deutsche Tierärzteblatt in Fachkreisen liebevoll genannt? Nun, die Lösung lautet: „Grüner Heinrich“. Wenn Gottfried Keller das geahnt hätte… Derlei – für die Allgemeinheit – unnützes Wissen nennt man heute wohl Fun Fact.

Scherz beiseite. Warum mich eine Einladung zur Pressekonferenz (PK) der Bundestierärztekammer ereilt hat, weiß ich wirklich nicht. Noch nie habe ich über dieses Fachgebiet geschrieben. Immerhin findet jetzt der 30. Deutsche Tierärztetag hier in Dortmund statt. Also habe ich mich mal (online) zur PK bemüht und wage es, ziemlich fachfremd zu berichten.

Ich habe ja so gut wie keine Ahnung vom tierärztlichen Metier (außer ein paar bleibenden Eindrücken, wenn wir mit unserem Kater die Tierarztpraxis aufsuchen mussten), dafür haben viele Tierärzte aber auch kaum Ahnung von Dortmund, schmücken sie doch ihre Tagungsunterlagen u. a. mit einer Zechen-Silhouette. Der letzte Schacht in dieser Stadt wurde 1987 geschlossen. Ich übertreibe mal leicht: Wir glauben ja auch nicht, dass Tierärzte sich immer noch vorrangig mit Mammuts und Sauriern befassen.

Nun aber wirklich zur Sache. „Tierschutz im tierärztlichen Alltag“ lautet das zentrale Thema des Bundestreffens im Kongresszentrum der Westfalenhallen. Vier Fachleute berichteten in der Pressekonferenz aus den Arbeitsgruppen. Da ging es um Tierschutz im Pferdesport, in der Kleintierpraxis, bei Behörden und in der Nutztierhaltung – unter besonderer Berücksichtigung der „kleinen Wiederkäuer“ (Schafe und Ziegen).

Da wurden vor allem (weit überwiegend berechtigte) Forderungen gestellt, die jedoch insgesamt einen Wust von Regelungen und wuchernde Bürokratie nach sich ziehen könnten, abgesehen vom wachsenden Personalbedarf und Kostensteigerungen. Nur mal einige Beispiele, der Einfachheit halber ungegendert:

  • Es sollten möglichst alle Heimtierhalter auf Eignung geprüft werden.
  • Pferdehalterinnen und Pferdehalter sollen ihre Sachkunde zertifizieren lassen.
  • Bei allen Reitveranstaltungen sollte mindestens ein Tierarzt dauerhaft anwesend und mit weit reichenden Befugnissen ausgestattet sein.
  • Alle Ausrüstungs-Gegenstände in Pferdesport und sonstiger Pferdehaltung sollen auf Tauglichkeit überprüft werden – ungefähr wie Autos beim TÜV.
  • Hundetrainer sollen u. a. durch Tierärzte ausgebildet werden.
  • Angehende Juristen sollen in ihrem Studium mehr zum Tierschutzrecht lernen.
  • Bestimmte Tiere („Defektzuchten“, Qualzuchten) sollen z. B. auch in Werbung und Mode strikt  verboten werden.
  • Ein europaweites Register für Hunde und Katzen muss eingerichtet werden.
  • Tierärzte sollen in Ausübung ihrer Tätigkeit bei etwaigen Konflikten geschützt werden, darin attackierten Rettungskräften vergleichbar.
  • Es fehlt eine „Heimtierverordnung“.
  • Es fehlt eine zentrale Tiergesundheits-Datenbank.
  • Es fehlt eine Datenbank zu Tierhalte-Verboten.
  • Tierärztliche Ämter brauchen mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen.
  • Es gibt zu viele Einschränkungen bei medikamentösen Behandlungen von Tieren.
  • Viele Regelungen müssen bundesweit vereinheitlicht werden.

Und so weiter. Richtig „viel Holz“. Dazu hieß es auf dem Podium: „Wer nicht fordert, bekommt auch nichts.“ Schon richtig. Wie soll es sonst gehen? Aber in der Summe wirkte es denn doch ein wenig begehrlich – wie halt bei allen Interessenverbänden.

Was außerdem auffiel: Es war eine Pressekonferenz, doch mit Fragen und Statements meldeten sich praktisch ausschließlich Kongressteilnehmer, also tierärztliche Fachleute zu Wort. Am Ende war ich vielleicht der einzige Medienvertreter, der eine Frage gestellt hat. Das wäre mir unangenehm. Soll man daraus etwa schließen, dass die Standesorganisation der Veterinäre im eigenen Saft schmort? Oder zeugt es eben von besonderem, manchmal geradezu hitzigem Engagement? Oder mangelt es den Medien schlichtweg an Interesse?




Als man sich noch für „richtig links“ halten wollte

Kinners, heute erzählt Euch der Boomer-Opa ein klitzekleines bisschen von früher. Keine Angst, es werden nur ein paar Schlaglichter sein. Und nur die fernen Echos wahrer Klassenkämpfe. Wie denn damals im Revier überhaupt nur der Widerhall aus den wirklichen Metropolen zu vernehmen war.

Icke, wa?! Wie man halt „damals“ aussah. (Foto: Norbert Hell)

Als ich studiert habe, hatte man gefälligst „links“ zu sein, was immer das wirklich heißen mochte. Wir waren uns jedenfalls fraglos sicher – und es schien ja in dieser Hinsicht auch noch wesentlich übersichtlicher zu sein als heute. Freilich sinnierte schon damals Botho Strauß in Gestalt seiner Lotte im Stück „Groß und klein“: „In den 70er Jahren finde sich einer zurecht…“

Bevorzugte „Quelle“ bzw. Hilfsmittel für jegliche Interpretation waren jedenfalls damals bei den Bochumer Historikern die blauen Bände der Marx-Engels-Ausgabe. Es herrschte unter den Studierenden (die damals noch Studenten geheißen wurden) weithin die Auffassung, alle geschichtlichen Geschehnisse jedweder Epoche müssten damit abgeglichen werden. Umso pikierter war ich, als ich eines Tages einen Brief von Karl Marx an seine Geliebte zu lesen bekam, der mit dieser Anrede begann: „Viellieb!“ Das wollte mir süßlich-kitschig vorkommen und sich so gar nicht zu seinen politischen Einsichten fügen. Ach, Gottchen!

Ein unerbittlicher „Anarchist“

In jenen seltsamen Zeiten gerierte sich ein Altersgenosse vehement als „Anarchist“. In einer stundenlangen hitzigen Wohnzimmer-Debatte ließ er sich nicht erweichen. Er hätte am liebsten alles in die Luft gesprengt, wie er posaunte. Wir anderen waren hingegen der Ansicht, dass er damit erst recht die volle Staatsgewalt gegen uns alle entfessele. Schließlich suchte ich den Kompromisslosen zu besänftigen, indem ich ihn zum Abschied herzhaft mit „Rot Front!“ grüßte. Er aber dröhnte, vollends unversöhnlich: „Schwarz Front!“ Wüsste gerne, was später aus ihm geworden ist. Vielleicht denn doch noch eine Gestalt auf der allseits abgesicherten Beamtenlaufbahn? Ist aber auch piepegal. Kaum jemand, der sich nicht angepasst hätte.

Den Hass auf die Bourgeoisie fühlen

Unwesentlich später war man schon auf die damals so genannte „Neue Sensibilität“ verfallen, die längst nicht mehr so harsch politisierte, sondern in Sanftmut und Milde daherkam, gleichsam auf Samtpfoten. Dennoch ließ ich mich bei irgend einer obskuren Splittergruppe für ein ganzes Wochenende auf eine „trotzkistische Schulung“ ein. Es blieb beim einmaligen Besuch, wie ich denn überhaupt nie dauerhaft Partei ergreifen mochte. Wer zweimal bei denselben sitzt, bekommt schnell den Verstand stibitzt. Gut, wa? Von mir. Ganz spontan.

Dem unerträglichen Trotzkisten-Präzeptor, der keinen Widerspruch duldete, sondern nur von oben herab dozierte, wagte ich die Frage zu stellen, ob denn bei ihnen alles nur rational vonstatten gehe oder ob man irgendwann auch Gefühle zeigen dürfe. Er, vollends am Sinn der Frage vorbei: „Ja klar, den Hass auf die Bourgeoisie!“ Aha. Zur Erholung vom stundenlangen Gefasel durften wir dann nachmittags Fußball spielen. Immerhin. Man war nicht nur ein Tor, man schoss auch eins. Harr, harr.

Durften die Beatles Mao schmähen?

Man war, so cirka zwischen 16 und 24 Jahren, dermaßen verblendet, dass man die Mao-Bibel reichlich unkritisch memoriert hat. Sogar den vor- und nachmals so verehrten Beatles nahm man die Zeilen aus dem Song „Revolution“ übel: „But if you go carrying pictures of chairman Mao, you ain’t gonna make it with anyone anyhow…“ Wie? Was? Nö, die Stones waren auch nicht viel mutiger, siehe ihren resignativen Text über den „Street Fighting Man“: „But what can a poor boy do except to sing for a Rock’nRoll Band, cause in sleepy London town there’s just no place for a street fighting man, no!…“

Jetzt mal gar nicht zu reden von Bettina Soundso, in die ich mich für einige Monate verguckte, weil sie (die es mit dem MSB Spartacus hielt) mir so heroisch wie eine zweite Rosa Luxemburg vorkam. Hach. Später ward sie wahrhaftig Geschichts-Professorin. Aber wie sie damals ihren Haarvorhang herunterlassen konnte, um dahinter gewichtig zu reflektieren! Überhaupt erwies sich das unentwegte Politisieren gelegentlich als „Liebes“-Beschleuniger, wahrscheinlich aber auf längere Sicht noch öfter als zerstörerisch.

„Deutscher Herbst“: Polizei in der Pizzeria

Zeitsprung: Aus dem „Deutschen Herbst“ um 1977 habe ich unter anderem in Erinnerung, wie die Polizei mit Maschinenpistolen im Anschlag eine Pizzeria enterte, in der wir friedlich beisammen saßen. Wiederum einige Jahre später suchte mich ein Mann vom Verfassungsschutz zu Hause in meiner kurzzeitigen WG auf, um mich nach einem Schulfreund auszufragen, der die Beamtenlaufbahn einschlagen wollte. Aber da waren wir schon in den öden 1980ern gestrandet. Und es gab überhaupt nichts zu beichten.

 




Bis die Kriegsgewalt bröckelt – Alexander Kluges Bilderatlas „Sand und Zeit“

Da haben wir also wieder ein Buch vom inzwischen 93-jährigen Polyhistor Alexander Kluge, der stets die entferntesten Dinge produktiv zusammen bringt und hellsichtig Funken aus seinen Blickwechseln schlägt.

Diesmal beginnt die fruchtbringende Gedankenreise bei den akuten Verheerungen im Gazastreifen, wo vieles nicht einfach „nur“ zerstört wurde, sondern schier zu Sandkörnern zerriebene Wüstenei geworden ist. Vielfach erwogen wird in der Folge, ob dem allfälligen Krieg und der Gewalt Einhalt zu gebieten sei – ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort des geschundenen Erdenrunds.

Damit wären die beiden Pole des Bandes „Sand und Zeit“ schon einmal benannt. Das zu Sand zermalmte Land kehrt später – gründlich verwandelt – im Kinder-Sandkasten und sodann in „Sandkasten-Spielen“ der Militärstrategen wieder. Auch werden einzelne Sandkörner physikalisch vermessen und mikroskopisch betrachtet. All das gipfelt in einem wesentlich aus Sand bestehenden Kunstwerk von Anselm Kiefer, das wiederum Ingeborg Bachmann seine Inspiration verdankt. Alles kann mit allem zusammenhängen, wenn man es denn recht zu betrachten weiß.

Auf der Suche nach Gegenkräften

Gewisse Gegenkräfte zur Kriegsgewalt, so scheint sich ahnungsvoll zu zeigen, dürften beispielsweise in dennoch abgetrotzten glücklichen Augenblicken liegen. Während der altgriechische Zeitgott Kronos alles fressen will (sogar die eigenen Kinder), verkörpert Kairos den geglückten Moment als kaum minder scharfes Gegengift. Eine vage, aber immer neu mit Zuversicht zu nährende Hoffnung kennzeichnet dieses Motto zu Beginn: „Die einzige Verlässlichkeit in zerrissener Zeit beruht auf der Beobachtung, dass auch die kriegerische Macht stolpert…“ Alle noch so imposanten Imperien der Geschichte, so ein zentraler Befund, stürzen irgendwann, nichts ist von ewiger Dauer. Ein Gedanke, bei dem einem – allem waltenden Elend zum Widerspruch – warm ums Herz werden könnte.

Kluge ruft kreuz und quer verschiedenste historische Szenarien auf – von der deutschen Nachkriegs-Trümmerzeit samt Wiederaufbau über altägyptische und altrömische Verhältnisse (Punische Kriege = Rom vs. Karthago), den jetzigen Ukraine-Krieg, die Kreuzzüge, den Krimkrieg (ab 1853), die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs und den (wenn überhaupt möglich) noch schlimmer wütenden Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, die Religionskriege, die in den Westfälischen Frieden von 1648 mündeten… Die Phänomenologie so vieler Waffengänge umfasst auch die seltene, vorbildliche Großzügigkeit generöser Sieger, die den Besiegten nach deren Kapitulation zunächst freies Geleit und fortan freie Entfaltung gewähren – beispielhaft erfasst in Velázquez‘ berühmtem Gemälde „Die Übergabe von Breda“.

Immer wieder neue Perspektiven

Geschildert und ausgiebig bildlich dargestellt (auch mit „virtuellen Kameras“, also KI-Hilfe) werden sowohl das große Ganze als auch gleichsam herangezoomte Nahansichten. Da gibt es erschütternde Bilder, die die brüllende Maschinerie des Krieges so vergegenwärtigen, wie es eben geht. Beim Lesen sollte man diese Illustrationen keinesfalls schnell überblättern, sie erheischen nachdrücklich Aufmerksamkeit. Derlei rasche und harsche Perspektivenwechsel, so Kluge im vorsichtig bilanzierenden Nachwort, können die Kontraste der Zeitläufte besser erfassen als reine Texte. Daher nennt er sein Buch im Untertitel „Bilderatlas“. Ein anregendes Vorbild ist ausdrücklich Aby Warburgs legendäre, größtenteils verschollene „Kriegskartothek“ zum Ersten Weltkrieg gewesen. Technisch auf der Höhe, bietet Kluges Buch übrigens auch (teilweise filmische) Ergänzungen an, die man mit Hilfe abgedruckter QR-Codes ansteuern kann.

Einen freien Erzählraum erzeugen

Alexander Kluge muss nicht nur über eine riesige Bibliothek und die Erfahrungen eines langen Lebens, sondern auch unendlich viele „Zettelkästen“ oder eben Datensammlungen verfügen, denen er immer wieder entlegene (und gleichzeitig prägnante) Beispiele entnimmt, so etwa, wenn es um die letzten Kriegstage rund um das Volkswagenwerk oder die zeitgleiche Kapitulation einer deutschen Munitionsfabrik geht.

Es ist Kluge um die Schaffung eines „freien Erzählraumes“ zu tun, um den Konjunktiv als Möglichkeitsraum. Erst im beherzten Sprung auf die andere Seite, in eine andere Zeit, sei es denkbar, die tendenziell verarmten Ausdrucksweisen unserer Tage zu überwinden. Bei Beschwörung des Überblicks kehrt Kluge verbal zu seiner Frühzeit zurück, indem er die hohe Zirkuskuppel als Bild aufruft. Wir erinnern uns an seinen Filmtitel „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. Gegen alle Ratlosigkeit geht er im gesegnet hohen Alter immer noch und erst recht an – wie einst Elias Canetti unverdrossen gegen den Tod focht. Das darf und muss man heldenhaft nennen.

Alexander Kluge: „Sand und Zeit“. Bilderatlas. Suhrkamp, 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 25 Euro.

 




Hinüber ins Ungewisse – Mariette Navarros Roman „Am Grund des Himmels“

Zu (beinahe) 100 Prozent und viele Jahre lang hat die Erzählerin „funktioniert“, in der gläsernen Karrierewelt der globalen Hochhäuser, hier wahrscheinlich in einem ziemlich degenerierten Viertel von Paris. Nun aber will sie ein für allemal ausbrechen aus diesem sterilen Irrsinn mit seinen Mechanismen des kläglichen Dazugehörens.

Durch eine Dachluke begibt sich Claire eins Abends – „nach Dienstschluss“ – in gefährlich schwankende Höhen über der Stadt, wo starke Winde wehen und der Abgrund erschreckend nah ist. Desertieren aus all dem Gewöhnlichen, gut und schön. Aber was geschieht danach, wie kann man sich droben und außerhalb halten? Und überhaupt.

Ihre bescheiden und sparsam gebliebenen Eltern haben gefragt: Denkt ihr da oben auch an Leute wie uns? Bisher gewiss nicht. Claire hat sich als einfaches Mädchen vom Land bis in die Höhen der Metropole hochgearbeitet, hat Körper und Seele verleugnet. Doch wozu? Damit soll nun Schluss sein.

Ist es nicht eine etwas banale Frontstellung, die Mariette Navarro da aufruft? Freiheits-Vorstellungen mit Phantasien vom Fliegen und Tanzen. Klischees vom Aussteigen. Zuletzt hat diese Autorin (in „Über die See“) literarisch die aufwühlenden Untiefen des Meeres erkundet, jetzt ist sie – nicht minder bedrohlich – „Am Grund des Himmels“ angelangt. Aber wächst dort nicht auch Hoffnung?

Die Nacht vergeht. Anderntags sind die Etagen des Hochhauses seltsam leer. Ist eine Katastrophe passiert, hat es eine Feuersbrunst gegeben, ist Claire vom Dach gestürzt, ist sie selbst hinunter gesprungen? Alles ist Spekulation, bloße Mutmaßung.

Ihr plötzlich so entschiedenes Handeln steht vollends quer zur aller vermeintlichen Ordnung, allem angeblichen Fortschritt. Dazu dauernd diese Menetekel an den Wänden und ins Glas geritzte Zeichen!

Einem Mann namens Marc, der in der namenlosen Organisation nicht mehr mitmachen mochte, hatte man ein ganzes Stockwerk überlassen, wo er verzweifelt ins Nichts arbeitete. Es war nicht zum Aushalten.

Schließlich bewegen sich Claire und etliche andere (es werden immer mehr) in Taucheranzügen zum reißenden Fluß. Wo soll das enden? Ein Losschwimmen ins Ungewisse, ins gänzlich andere Sein, woanders hin. Wird es jemals ein Ankommen geben?

Mariette Navarro: „Am Grund des Himmels“. Roman. Kunstmann Verlag, 160 Seiten, 22 Euro.




Köstlich ohne Wenn und Aber – Gesammelte Kolumnen von Max Goldt

Gar manches in Max Goldts neuem Buch „ABER?“ kommt einem, sofern man seine Schöpfungen öfter goutiert, womöglich bekannt vor – sei’s aus Hörbüchern (Live- und Studio-Mitschnitte) oder aus den irrwitzigen Cartoons und Comics, die das Duo Katz & Goldt reihenweise hervorbringt.  Hier kann man es in anderer Form nachschmecken. Und es bleibt köstlich.

Hohe Auszeichnung schon, dass die Testimonials, die Goldts Kolumnen-Schaffen auf dem Umschlag preisen, von Daniel Kehlmann und Durs Grünbein stammen, also aus der allerersten Garde der kunstreich auf Deutsch Schreibenden. Kehlmann fühlt sich durch Goldts perfekte Syntax mitsamt der feinsinnigen Ironie an Thomas Mann erinnert. Hört, hört!

Nun denn: Auf solch erhellende Weise Frauenfußball und „Ehe für alle“ oder auch Frisösen, Lesben und Tierpflegerinnen zu einem herzhaften Amalgam zu verarbeiten, das gelingt den Wenigsten. Zwischendurch geht’s auch schon mal auf die Meta-Ebene, etwa indem Max Goldt erwägt, was denn eigentlich Humor und wie er von Witz und Komik abzugrenzen sei. Da kann man wirklich was lernen.

Herrlich sodann die fiktive, aber im Grunde glaubhafte Szenenfolge von der Gala zum „Unwort des Jahres“. Dazu sei nur verraten, dass am Ende alle Beteiligten „knülle“ sind. Auch die Bedeutung des Einwort-Buchtitels soll hier nicht erläutert werden, dazu nur eine Reminiszenz: Zuletzt ist mir das Wort derart prägnant in einer Kita begegnet, wo die Fachkräfte kindliche Einwände jeder Sorte stets mit dem Satz zu entkräften suchten: „ABER ist nach Hause gegangen!“

Doch verzetteln wir uns nicht, schauen wir lieber weiter ins Buch – etwa auf diese Kardinalfrage: Wenn es so viele Hurensöhne gibt, wie steht’s dann um die Strichjungentöchter? Auch dürfen wir eine Kinderführung im Museum belauschen – mit furchtbar abgebrühten „Know-it-all-Kids“ aus saturierten Mittelschichtskreisen.

Goldt parliert auch über Fährnisse aus seinem Berufsleben, schildert Vorfälle bei Lesereisen und ruchlos ihm untergeschobene Zitate, die für den einen oder anderen Shitstorm gesorgt haben. Ein besonders feines Stück sind seine Erinnerungen an den früh verstorbenen Wiglaf Droste, mit dem er in den frühen 1990ern eine teilweise etwas chaotische Lesetournee bestritten hat. Keine kollegiale Lobhudelei wird daraus, sondern ein grundehrlicher Bericht, der Drostes Macken und Marotten nicht verschweigt.

Durchaus zu beherzigende Medienkritik kommt erheiternd hinzu – am ZDF in Sachen Schwachsinns-Nachruffloskeln auf David Bowie, am „Spiegel“ wegen eines unfassbar naiven Interviews mit der Indie-Popgröße Morrissey. Schon legendär der folgende Satz, der abgewandelt auch als T-Shirt-Aufdruck existiert: „So einen Käse können Sie der Funke-Mediengruppe erzählen, aber nicht mir!“

Und immer wieder bewundert man den bestens geeichten Kompass des Max Goldt, der zu allermeist weiß, wo es gesellschaftlich langgehen sollte. Doch daraus macht er kein Aufhebens. Er wird das vielleicht nicht gern hören, aber neben allen Lachanreizen bietet er mit seinen Texten auch Orientierung.

Ach, man möchte am liebsten noch und noch das Weitere erwähnen, aber das wäre unsinnig. Lest doch gefälligst selbst! Aber ein bisschen plötzlich! Oder auch – besser noch – geruhsam und gelassen genießend.

Max Gold: „ABER?“ dtv (Hardcover), 158 Seiten, 24 Euro. 

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P. S.: Das erste Päckchen der Verlagsauslieferung hat nur den Lieferzettel enthalten, aber kein Buch. Im zweiten Anlauf lag das willkommene Rezensionsexemplar bei. Was dieser Zweischritt wohl wieder zu bedeuten hat?




Die Sache mit den zwei roten Kühlschränken

Steht der da einfach so auf der Straße herum….

Hin und wieder macht sich der Mensch Gedanken über den Zufall, fühle er sich nun vom selbigen begünstigt oder nicht. Mir ist gestern etwas „zugefallen“, was in der Wahrscheinlichkeitsrechnung wohl einem ordentlichen Lotterie-Gewinn gleichkäme.

Der Reihe nach: Nach etlichen Jahren musste ein neuer Kühlschrank her. Das alte Gerät (Retro-Look, kirschrot) wurde bei der Lieferung des neuen zur fachgerechten Entsorgung mitgenommen. Über Nacht stand es abholbereit und aufgetaut in der Küche, anderntags habe ich es noch einmal schnell fotografiert. Man hat ja so manchen Einkauf und manche Mahlzeit miteinander zugebracht. Kein Wunder, dass einst Axel Hacke eine veritable Beziehung zu seinem Kühlschrank namens Bosch gepflegt hat.

…und erinnert einen an den eigenen, der Stunden zuvor geholt wurde. (Fotos: Bernd Berke)

So weit, so alltäglich. Nachmittags hatte ich einen Termin in der Innenstadt. Auf dem Fußweg zur S-Bahn stand vor einer Haustür ein abholbereiter Kühlschrank – und siehe da: ebenso im Nostalgie-Design und ebenso kirschrot, allerdings ein anderes Fabrikat. Und Türanschlag rechts statt links. Aber das sind nur Petitessen.

Welch ein unwahrscheinlicher Zufall! Nie zuvor im Leben habe ich einen roten Vintage-Kühlschrank vor einem Haus stehen sehen, ich schwör‘. Nur jetzt, am Tage, da wir selbst einen solchen abholen ließen. Da steht der andere auf einmal (einige Kilometer entfernt) da wie ein Mahnmal des Zufalls. Was will er mir wohl bedeuten?

Oder sollte es sich etwa so verhalten, dass ich vormals nie auf derlei Kühlschränke geachtet habe, die im Laufe der Jahre dutzendweise herumgestanden hätten? Dass es nur eine Frage der anders gelenkten Aufmerksamkeit war? Wechselst Du selbst einen Kühlschrank, nimmst du eher andere Kühlschränke wahr. Das mag ja sein. Aber Retro und von derselben Farbe? Nein, nein, kommt mir bloß nicht pragmatisch und prosaisch!

Schade eigentlich, dass es – aus unerfindlichen Gründen – kein Kühlschrank-Lotto gibt. Unter notarieller Aufsicht, versteht sich. Ich würde jetzt zu den Hauptgewinnern gehören.* Zahlbar per sofort ohne Abzug.

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*Würde, würde Fahrradkette




…und wieder wird die angebliche Jugendsprache totgeritten

Blick ins heimische Bücherregal: Produkte aus dem Langenscheidt-Kerngeschäft sind mir irgendwie weitaus lieber als die PR-Masche mit den Jugendwörtern. (Foto: Bernd Berke)

Schon seit 2019 gehört der Wörterbuchverlag Langenscheidt – unter Beibehaltung der Marke – zum einstigen Konkurrenten Pons. Rasch war das Kartellamt damals mit der Fusion einverstanden, weil es sich bei Wörterbüchern und Sprachführern um einen „Bagatellmarkt“ (!) handele.

Trotzdem (oder gerade deshalb?) mag man es bei Langenscheidt partout nicht aufgeben, alljährlich wiederkehrend das „Jugendwort des Jahres“ wählen zu lassen. Ein Vorgang, den man eigentlich bei der Gesellschaft für Deutsche Sprache ansiedeln würde. So aber haben es (bereits 2008) ein paar Verlagsleute privatisiert und hauen darob bis heute eminent wichtig auf die Pauke. Ob es ihren Ruf gesteigert oder gemindert hat? Tja.

Bis zum 17. Juli konnten diesmal Vorschläge eingereicht werden, jetzt wurden schon mal – mehr oder weniger medienwirksam – die Top Ten verkündet. Man fragt sich demnach wieder, wer da eigentlich Vorschläge einreicht. Ob es wirklich mehrheitlich Jugendliche sind, möchte man bezweifeln, denn wie üblich hinkt man der mutmaßlichen Sprach-Realität teilweise um Jahre hinterher. Befragt man echte Jugendliche nach der „Shortlist“, schütteln sie nur die Köpfe. Auch diese Diskrepanz ist schon ein alter Hut.

Bringen wir’s hinter uns. Hier sind die zehn Favoriten für 2025:

„Checkst Du“ (kapierst du’s), „Das crazy“ (entspricht annähernd dem Loriotschen „ach was“), „Digga(h)“, „goonen“ (onanieren), „lowkey“ (etwa: „ganz nebenbei“), „Rede“ (ungefähr: Da sagst du was Wahres, das kannst du laut sagen), „Schere“ (meine Schuld), „Sybau“ (Abkürzung für „Shut your bitch ass up“ = Halt’s Maul), „tot“ (furchtbar langweilig oder peinlich) und „tuff“ (krass, cool etc.).

So. Genug gegrinst oder gegähnt. Insbesondere „Digga“ klingt inzwischen dermaßen klischeehaft altbacken, dass die Anrede beinahe als Boomer-Wendung durchgehen könnte. Niemand sollte auch nur auf die Idee kommen, sich an Jugendliche (erst recht nicht an Gruppen) mit einem dieser vermeintlichen Jugendworte heranzuwanzen. Mindestens Ignoranz oder Spott, vielleicht auch Verachtung wären einem als verdienter Lohn zuteil. Wer lässt sich schon gerne unberufen dilettantisch in seine Ausdrucksweise hineinpfuschen?

Langenscheidt aber lässt und lässt nicht locker und verkündet schon mal den weiteren Fahrplan: Vom 29. Juli (also heute) bis zum 2. September erfolgt demnach das Top-10-Voting, vom 9. September bis zum 8. Oktober folgt das Top-3-Voting. Schließlich gibt’s am 18. Oktober die Bekanntgabe des Gewinner-Wortes auf der Frankfurter Buchmesse. Zu fürchten steht freilich, das alles sei nicht tuff, sondern tot.




Gnadenlos hinsehen: Heinz Strunks Geschichten ohne Geld, Glück und Sprit

In diesem Buch begegnen wir wahrlich bizarren Personen und Zuständen. Vielfach stehen Fäulnis und Verfall menschlichen Lebens im Brennpunkt der Kurzgeschichten (besser noch: Miniaturen), die Heinz Strunk mit einer Mischung aus Abscheu und diabolischem Vergnügen schildert. Der Mann redet nicht um den heißen Brei herum, sondern steuert geradewegs drauflos und hat sich damit eine treue Anhängerschaft erschrieben.

„Kein Geld Kein Glück Kein Sprit“ steht als Titelschriftzug mit Durchstreichungen auf dem Cover. Warum nur habe ich statt Sprit zuerst immer Spirit gelesen? Naja, egal. Muss ich mit mir selbst ausmachen. Wobei Sprit ja Benzin oder Schnaps bedeuten kann. Der Titel wird jedenfalls in diversen Storys wortwörtlich und fast wie nebenbei aufgegriffen.

Schauen wir aufs Figureninventar:

Ein offenbar linkischer Nerd bewundert im Berliner Szenecafé zwei Frauen aus scheuer Distanz. Überraschend erweist sich später, dass er ein weltweit tätiger Dirigent ist. Alles eine Frage von Perspektive und Kontext? Ein einstiger Hörbuch-Sprecherkönig, ehedem allgegenwärtig, gerät nach und nach überall in fürchterliche Ungnade. Ähnlich abschüssig diese Story: Gealterter Filmstar wird von einer genusssüchtigen „Crew“ ins Luxushotel eingeladen, benimmt sich dort aber komplett daneben. Statt die Clique geistreich zu amüsieren, wie man es nach seinen medialen Auftritten zu hoffen wagte, sondert der Suffkopp allenfalls öde Peinlichkeiten ab.

Eine Frau hat permanenten Schluckauf und sinnt auf Suizid. Ein Rockstar trifft beim Festival die völlig abgehalfterte Lieblings-Band seiner Jugend – welch‘ hochnotpeinliches Backstage-Erlebnis. Sodann die Leiden eines früher dicklich-verweichlichten Jungen, der sich irgendwann brachial ermannen will und schließlich doch wieder in einer Hundehütte vegetiert.

Fragen sondergleichen: Wie empfindet jemand seinen ersten Tag unten im Grab, den ersten von so endlos vielen? Wie ergeht es einem 2,11 Meter langen Mann mit Glasknochen, der einen vierstündigen Flug auf viel zu beengtem Sitz absolviert? Es ist dies – unter gar manchen – wohl eine der verstörendsten Phantasien des Bandes. Obwohl: Da ist ja z. B. auch das greise Ehepaar, das (ohne jeden Bezug zur Außenwelt) in seiner einst prächtigen, nun aber schimmelig verfallenen Villa verfault. „Shit happens“ lautet der lapidare Befund des Erzählers.

So viele zu Tode Entkräftete finden sich hier, die einfach nicht ihrer fatalen „Bestimmung“ und misslichen Verhältnissen entkommen oder gar elendiglich aus besseren Zeiten abrutschen. Aufstiege gibt es hier nicht, etwaige Aufbrüche sind zweckloses Gezappel, letztlich geht es immerzu abwärts. Welch eine deprimierende Lektüre! Heinz Strunk beschönigt nichts, er beschreibt all die Not gnadenlos hinsehend, mit „bösem Blick“, abermals gewohnt schnoddrig und hart am Rande des Zynismus.

Etwas läppisch und albern erscheint nur die Geschichte, in der ein Mann im Yoga-Kurs unablässig furzen muss. Das scheint denn doch „Pennäler-Humor“ zu sein, wie man es früher zu nennen pflegte. Ansonsten gilt immer wieder: Bei Strunk unterhält man sich bestens, allen Abgründen zum Trotz.

Heinz Strunk: „Kein Geld Kein Glück Kein Sprit„. Rowohlt. 192 Seiten, 23 Euro.

 




Zum Tod von Claus Peymann – ein paar Worte von „damals“

Claus Peymann, seinerzeit Intendant des Berliner Ensembles, im Mai 2013 bei der Berliner Konferenz „Theater und Netz“ der Heinrich-Böll-Stiftung. (Wikimedia Commons, Foto Stephan Röhl) – Link zur Lizenz:
https://www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Mit Claus Peymann (geb. 7. Juni 1937 in Bremen, gest. 16. Juli 2025 in Berlin-Köpenick) ist einer der wirkmächtigsten deutschsprachigen Theatermacher der letzten 60 Jahre gestorben. Hier noch einmal eine kurze Würdigung zu seinem 60. Geburtstag, erschienen in der Westfälischen Rundschau und eben auch schon 28 Jahre her. Um jetzt spontan einen Nachruf zu schreiben, wenn nichts von langer Hand Vorbereitetes in der Schublade (sprich: Festplatte) schlummert, ist „man“ denn doch zu bewegt. Auch darum dieser Rückgriff:

Von Bernd Berke

Es war die „Publikumsbeschimpfung“, mit der Claus Peymann erstmals weithin Aufsehen erregte. Doch der Regisseur, der 1966 Peter Handkes Stück im Frankfurter Theater am Turm uraufführte, hat sich eigentlich nie mit den Zuschauern, sondern viel lieber mit Politikern angelegt. Morgen wird Peymann, noch Intendant der Wiener „Burg“, ab 1999 dann Chef des Berliner Ensembles, 60 Jahre alt.

Theaterkundige Revierbewohner trauern natürlich besonders Peymanns Bochumer Ära (1979 bis 1986) nach. Als er nach Wien wechselte, gab es sogar Leute, die für seine Premieren bis an die Donau pilgerten – ganz ähnlich, wie ihm Anhänger aus Stuttgart (wo er von 1974 bis 1979 als Schauspieldirektor arbeitete) nach Bochum nachgereist waren.

Peymann hat vermeintlich staubtrockenen Klassikern wie Goethes „Iphigenie“ frisches Leben eingehaucht. Stücke, die man für gar nicht mehr spielbar hielt, etwa Kleists „Hermannsschlacht“, gerieten unter seiner Ägide zu aufregenden Abenteuern. Doch das Theater verdankt Peymann auch wegweisende Uraufführungen, zumal der Stücke von Thomas Bernhard („Vor dem Ruhestand“, „Minetti“ , „Ritter, Dene, Voss“) und Peter Handke („Der Ritt über den Bodensee“, „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“).

Trunken vor lauter Spielfreude

Ohne grandiose Schauspieler wie Gert Voss, Kirsten Dene, Traugott Buhre oder Martin Schwab, wäre Peymann wohl nicht erklärter Favorit der Feuilletons geworden. Doch eine seiner größten Leistungen besteht ja just darin, hochkarätige Ensembles zusammengeführt, inspiriert und lange beieinander gehalten zu haben. Peymanns oft herrlich spieltrunkener Inszenierungsstil war nie „Regietheater“ in dem Sinne, daß die Darsteller durch starre Konzepte an den Rand gedrängt worden wären.

Feinde hat er sich auch gemacht. Als er in Stuttgart Spenden für die zahnärztliche Behandlung der inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin sammelte, kam es zum politischen Eklat. Mißtrauisch empfing man ihn später auch in Wien. Österreichs Kulturkonservative fürchteten, der „Piefke“ Peymann (Sohn eines Bremer Studienrats) werde die Traditionen am Burgtheater gefährden.

Wie er auch das Burgtheater eroberte

Immerhin: Er hob die Preise für bessere Plätze drastisch an und verbilligte die anderen. Das galt besonders der giftigen Wiener Presse schon als sozialistische Untat. Doch als Peymann das Publikum mit grandiosen Inszenierungen wie „Richard III.“ von Shakespeare auf seine Seite zog, konnte man ihm nicht mehr so viel anhaben. Nun wagte er es auch, im November 1988 (zum 100jährigen Bestehen des Burgtheaters) Thomas Bernhards „Heldenplatz“ auf die Bühne zu bringen, jenes Stück, in dem die NS-lastige Historie des Hauses bohrend zur Sprache kam.

Im „Heldenplatz“-Umfeld kam es gar zu einer Art Regierungskrise in Wien. So etwas gibt es eben nur in Österreich, wo Theater und Oper eine geradezu staatsbildende Rolle spielen wie sonst wohl nirgendwo auf der Welt. Vielleicht wird Peymann einen Hauch dieser Atmosphäre im nüchternen Berlin vermissen.




Sinnlich, saftig, manchmal faulig: Ahlen zeigt „Früchte in der Kunst“

Pierre-Auguste Renoir: „Nature morte aux pommes et grenades“ (Stillleben mit Granatäpfeln), um 1910, Öl auf Leinwand (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Es dürfte sozusagen die saftigste Ausstellung des Jahres sein, auf jeden Fall ist es die fruchtigste: Mit „Ein Genuss! Früchte in der Kunst“ präsentiert das Kunstmuseum Ahlen – erstmals in NRW – Ausschnitte der einzigartigen Sammlung des Heidelberger Unternehmers und Wissenschaftlers Prof. Rainer Wild, der sich just auf künstlerische Darstellungen von Früchten spezialisiert hat. Eigentlich kein Wunder, importiert und verarbeitet seine Firma doch Früchte aus aller Welt.

Über 100 Arbeiten von 77 Kunstschaffenden des 20. und 21. Jahrhunderts sind in Ahlen zu sehen. Da finden sich reihenweise große Namen aus der neueren Kunstgeschichte, beispielsweise (alphabetisch sortiert): Giorgio de Chirico, Lovis Corinth, André Derain, Rainer Fetting, Jörg Immendorff, Alexej von Jawlensky, Anselm Kiefer, Paul Klee, Markus Lüpertz, Pablo Picasso, Pierre-Auguste Renoir, Andy Warhol. Für ein solches Kunst-Aufkommen hat man wohlweislich die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Keine sonderliche prophetische Gabe ist nötig, um einen regen Publikumsandrang vorherzusagen. In solcher Erwartung öffnet das Haus samstags früher als sonst.

Rainer Fetting: „Äpfel aus Karwe I“, 1993, Öl auf Leinwand (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg © Rainer Fetting)

Gemalte Früchte haben eine lange Tradition. So wird denn auch in der Gegenwartskunst häufig aus dem historischen Fundus zitiert: Mal scheint ein berühmtes Bild von Caravaggio, bewusst unscharf gehalten, hindurch (bei Slawomir Elser), mal wird rückblickend auf die berühmten Frucht-Gesichter von Arcimboldo (goldene Skulptur von Miguel Berrocal) verwiesen – oder auf die Machart famoser Trompe-l’œil-Schöpfungen niederländischer Barockmeister. In all diesen Kontexten sind Früchte symbolisch „aufgeladen“. Oft stehen sie für schiere Lebenslust und Luxus, nicht selten aber auch für Vergänglichkeit und Verfall. Reife, sinnlich pralle und sodann allmählich verfaulende Früchte (prototypisch in Cony Theis‘ „Bananenzyklus“, 1992) deuten auf Phasen des Daseins hin, mit denen sich natürlich auch der Mensch gemeint fühlen sollte. So lässt sich denn in dieser Schau zwar vielfach schwelgen, doch hält sie ebenso viele nachdenklich oder melancholisch stimmende Momente bereit.

Karin Kneffel: „Ohne Titel (Goldene Trauben)“, 1998, Öl auf Leinwand (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Ahlens Museumsleiterin Martina Padberg macht beim Rundgang zudem darauf aufmerksam, dass Stillleben ein besonderes Genre der Kunst seien – schon weil hierfür kein Modell stillsitzen musste, sondern das Arrangement (Obstkorb und dergleichen) für lange Zeit unverändert vor Augen stehen konnte. So kommt es, dass manche Künstler gerade im Spätwerk zum Motiv der Früchte zurückkehrten, sich damit gleichsam „die Ruhe antaten“ und innere Einkehr hielten. Wunderbare Beispiele hierfür sind etwa Bilder von Giorgio de Chirico oder Auguste Renoir.

Vielfältig sind die Zugriffe aufs Thema. Als sinnvoll erweist sich in Ahlen die Abfolge von Räumen, die je einer Frucht gewidmet sind (Äpfel, Bananen, Trauben, Zitronen etc.), so dass der vergleichende Blick sich auf künstlerische Details richten kann. Gerade die hie und da angewandte „Petersburger Hängung“ (Bilder dicht an dicht beisammen) bewirkt solche Konzentration. Abgesehen von individuellen Eigenheiten, ist es schon ein wesentlicher Unterschied, ob es sich z. B. um Arbeiten aus dem Geiste des Impressionismus, der Neuen Sachlichkeit oder aus dem Umkreis der Pop-Art handelt.

Ganz nebenbei geben einzelne Werke auch sachliche Rätsel auf: Auf welcher Grundlage konnte Christian Rohlfs schon 1903 ein „Stillleben mit Ananas“ anfertigen? War ihm die damals noch sehr exotische Fruchtsorte bereits zur Hand? Zumindest erhob sich diese Frage während der Pressevorbesichtigung (Lösungsansatz siehe am Ende des Beitrags).

Hans Op de Beeck: „Vanitas (variation) 1″, 2015, Holz, Gips, bemalt (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg @ Hans Op de Beeck and Courtesy Galerie Krinzinger, Wien)

Nun noch ein paar willkürliche Schlaglichter auf weitere Einzelheiten: Max Kaminskis Triptychon „Garten der Lüste“ (2004) zeigt gleich eingangs die katastrophal bedrohte Umwelt, in der auch einstmals paradiesische Früchte zu vergehen drohen – wie denn überhaupt die biblische Apfelszene mit Adam und Eva zu den dauerhaftesten Überlieferungen zählt. Stephan Balkenhols schrundige Skulptur eines nackten Mannes mit Weinkrug und Trauben („Bacchus“, 2011) macht derweil aus dem Gott der rauschhaften Fruchtbarkeit ein reichlich normales, bodenständiges, ja etwas unberaten wirkendes Wesen. Karin Kneffels Bild „Ohne Titel (Goldene Trauben“, 1998) changiert unterdessen zwischen fotorealistischer Anmutung und genuin malerischer Behandlung.

Hans Op de Beeck stellt, nahezu raumfüllend, das riesige, Grau in Grau überzogene Blow-up-Abbild dreier Brombeeren dreidimensional vor Augen – ein Kunstwerk, um das man buchstäblich kaum herumkommt. Die Anregung sollen Geschmacks- und Geruchs-Erinnerungen aus der Kindheit gegeben haben – fast wie einst jene berühmten Madeleine-Kekse, mit denen sich Marcel Proust auf die folgenreiche „Suche nach der verlorenen Zeit“ begeben hat.

Damit an dieser Stelle genug! In einer Ausstellung, in der Ernst Barlachs Skulptur „Melonenesser“ (1906) im Jahrhundert-Abstand auf Ai Weiweis Wassermelone trifft (Auflagenstück aus Porzellan, 2006), herrscht an vielfältigen Anstößen zu eigenen Entdeckungen wahrlich kein Mangel.

„Ein Genuss! Früchte in der Kunst von Renoir bis Ai Weiwei“. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1, 59227 Ahlen. Vom 6. Juli bis 26. Oktober 2025. Öffnungszeiten: Mi-Fr 15-18 Uhr, Sa, So und feiertags 11-18 Uhr. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 5 Euro, Kinder/Jugendliche bis 18 Jahre frei. Kleinformatiges Katalogbuch (144 Seiten) 12 Euro.

Weitere Infos: www.kunstmuseum-ahlen.de

P. S.: Vielversprechend auch das Begleitprogramm. Da geht es etwa um die Verhältnisse im globalen Früchtehandel oder um die erbärmlichen Bedingungen für Erntehelfer im Süden Europas. Früchte können eben auch „politisch“ sein.

P. P. S.: Zur Ananas-Frage: Der rasch aufgerufene KI-Auszug der Suchmaschine ergibt, dass die Ananas bereits seit dem 17. Jahrhundert in deutschen Gegenden bekannt gewesen sei, zunächst „als exotische Delikatesse in herrschaftlichen Gärten und später als Importware“. Bereits ums Jahr 1700 gelang demnach ein Ananas-Anbau in Potsdam. Anno 1779 sollen dort 400 Früchte geerntet worden sein. Bis ins 20. Jahrhundert seien diese Früchte sehr teuer und nur begrenzt verfügbar gewesen.




Zehn Jahre nach dem Weltkrieg: Als deutsche Abstrakte in Paris reüssierten

Karl Otto Götz: Ohne Titel (9.9.1954) (Drouin-Bild, 1954) / Sammlung von Morgen, Berlin (Foto: Oskar Lee / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Abstrakte deutsche Kunst in Paris zeigen – nur zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs? Das muss ein heikles Unterfangen gewesen sein. 1955 sah man darin von Staats wegen auch eine diplomatische Mission zur Annäherung ans vormals befeindete Nachbarland. Trotz vieler Streitigkeiten im Vorfeld wurde die Schau ein Erfolg und brachte manchen Künstlern den Durchbruch. Wer es in Paris geschafft hat, der damaligen Welthauptstadt der Kunst, konnte es überall vollbringen.

Jetzt, 70 Jahre später, ist die legendäre Ausstellung fürs Hagener Emil Schumacher Museum (ESMH) zu wesentlichen Teilen rekonstruiert worden. Sie führt auf eine Zeitreise in ästhetische Gefilde der 50er Jahre. Es gibt wenige Fotos vom Pariser Ereignis und Schnipsel eines Kino-Wochenschau-Berichts („Blick in die Welt“, dem feinsinnigen Thema zum Trotz im schnarrenden Stil jener Zeit kommentiert). Solche Aufnahmen empfangen einen wandfüllend zu Beginn des Rundgangs in Hagen. Schon ist man eingestimmt.

Möglichst viele Bilder und Skulpturen von damals aufzutreiben, erforderte eine Menge Fahndungsarbeit. 98 Arbeiten von 37 Urhebern (kaum Frauen dabei) wurden 1955 in Paris gezeigt, 56 Exponate konnte Gastkuratorin Anne-Kathrin Hinz von der Bonner Uni-Forschungsstelle Informelle Kunst ausfindig machen, 41 können in Hagen gezeigt werden. Einige Werke sind nicht mehr transportfähig, andere werden aus diversen Gründen nicht verliehen. Schon bald dürfte eine solche Zusammenstellung gar nicht mehr möglich sein. Überhaupt war die Vorarbeit (sowohl 1955 als auch diesmal) fast ebenso spannend wie die schließlich gezeigte Kunst.

Ernst Wilhelm Nay: „Instrumentation“, 1952. Öl auf Leinwand. MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher (Foto: Olaf Bergmann, Witten)

Ganz anders als 1955, als die vielfach frisch aus den Ateliers kommenden Kunstwerke im Cercle Volney (nahe der Pariser Oper) dicht an dicht präsentiert wurden, können sie in Hagen auf größerer Fläche weitaus luftiger ausgestellt werden. 1955 war dem auf deutscher Seite organisatorisch federführenden Iserlohner Künstler Wilhelm Wessel sehr daran gelegen, auch die allerneuesten, noch nicht etablierten Positionen zu zeigen, zu deren Protagonisten z. B. just der Hagener Emil Schumacher oder Karl Otto Götz zählten. Deren frühe, teilweise noch nicht ausgereifte Schöpfungen – Schumacher fand recht spät zu seiner ureigenen Bildsprache – hingen unmittelbar neben denen bereits bekannter Künstler wie Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay oder Fritz Winter.

Gegen dieses anti-hierarchische Konzept regten sich damals starke Widerstände – einerseits aus den Reihen der arrivierten Künstler, die eine Abwertung ihrer Oeuvres fürchteten, vor allem aber vom eher konservativen „Deutschen Kunstrat“, der dem Außenministerium angegliedert war und nur längst anerkannte Spitzenkunst zulassen mochte. Doch Wilhelm Wessel, damals Vorsitzender des Westdeutschen Künstlerbundes, und sein französischer Mitstreiter, der Galerist René Drouin, setzten sich durch.

Die Presse war vom Ergebnis überwiegend angetan bis begeistert, was man auf der Gegenseite nicht wahrhaben wollte. Auch Rezeption und Folgen der Pariser Ausstellung werden nun dokumentiert, sogar Seiten aus dem Gästebuch von damals sind zu sehen. Wie kühn die Schau war, lässt sich ermessen, wenn man bedenkt, dass kurz darauf die allererste Kasseler documenta eröffnet wurde, die noch weitgehend an die klassische Moderne aus Vorkriegszeiten anknüpfte.

Rupprecht Geiger: „Wjasma“ (1955), Eitempera auf Leinwand. (Archiv Geiger, München / Foto: Nikolaus Steglich, Starnberg)

In Hagen erweist sich, dass es etliche abstrakte Wege der Kunst gibt und eben auch schon 1955 gegeben hat. Die oftmals spontanen Prozesse der Gegenstandsferne weisen in verschiedene Richtungen. Von den vielfach düster vergitterten Nachkriegsbildern hebt sich vor allem das frühvollendete, farbintensive Schaffen eines Rupprecht Geiger ab, dem eine singuläre Stellung im Kontext dieser Ausstellung zukommt. Auch die filigranen Skulpturen von Norbert Kricke fanden erst später breiteren Zuspruch.

Man ahmt in Hagen nicht die ursprüngliche Sortierung nach, die etablierte und unbekannte Künstler nach Kräften mischte. Ordnungsprinzip sind vielmehr die Arbeitsorte der Künstler, z. B. Frankfurt (K. O. Götz, Bernard Schultze u. a.), das Rheinland (Georg Meistermann, Hann Trier, Hubert Berke u. a.) oder München (Rupprecht Geiger, Fred Thieler u. a.). Westfalen ist mit Emil Schumacher und Wilhelm Wessel vertreten. Diese Abfolge hat etwas für sich: Jeweils in räumlicher Nähe wirkend, haben sie einander wohl verstärkt beeinflusst. Der Genius Loci scheint immer noch lebendig zu sein.

Die Hagener Rekonstruktion lässt es ahnen: Im Rückblick ist es kaum zu überschätzen, was die Ausstellung 1955 und danach für den deutsch-französischen Kulturaustausch bewirkt hat. ESMH-Direktor Rouven Lotz hält es für denkbar, dass auch die jetzige Schau Folgen hat – wenn etwa Nachfahren der damaligen Künstler aufmerksam werden und auf weitere Werke hinweisen. So entstehen womöglich ungeahnte Zusammmenhänge.

„Paris 1955. Deutsche Abstrakte im Zentrum der Moderne“. Noch bis zum 3. August 2025. www.esmh.de

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Wenn die Dinge immer schlechter werden: „Die Verkrempelung der Welt“

Der Titel dieses silbrig glitzernden Buches aus der ehrwürdigen edition suhrkamp ist ein Coup. Hätte der Band „Kritik der überflüssigen Dinge“ oder ähnlich betulich geheißen, hätte wohl kaum ein Hahn danach gekräht. So aber nennt er sich „Die Verkrempelung der Welt“. Da horcht man auf, da will man Näheres wissen.

Nicht alle Befunde des Autors Gabriel Yoran (umtriebiger, mehrfacher Startup-Gründer mit eher „links“ anmutendem geistigen Rüstzeug) sind brandneu, aber schon der Einstieg ist hübsch: Er dreht sich um einstmals bewährte Dinge wie Herdknebel (früher übliche Bedienknöpfe) und konventionell sinnreiche Duschschläuche. Heute muss oft für einfachste Verrichtungen ein komplizierter Touchscreen mit allerlei irrwitzig verzweigten Optionen herhalten.

Erstes Zwischenfazit: Um noch mehr Gewinn zu generieren, nehmen Konzerne ihren jeweils neuesten Produkten gute und vernünftige Eigenschaften weg, um diese hernach als Premium-Features deutlich zu teurer zu verkaufen. Anders gesagt: Statt vormals guter oder wenigstens passabler Sachen erhalten wir vielfach „Krempel“; es sei denn, wir bezahlen enorme Aufpreise.

Die früher prägende „Fortschritts-Erzählung“ des Immer-besser-Werdens, so Yoran weiter, sei kurzatmig geworden, überhaupt sei der bis dahin im Westen recht unerschütterliche Fortschrittsglaube mit dem 11. September 2001 (für Jüngere: Terroranschlag aufs World Trade Center) kollabiert. In diesem Zeitklima falle es gar nicht mehr so sehr auf, wenn Produkte sich permanent verschlechtern. Sollten wir uns etwa an all den Krempel gewöhnt haben?

In der verqueren kapitalistischen „Logik“ liegen zudem immer kürzere Verfallszeiten der Produkte. Früher hielten bessere Waschmaschinen 30 Jahre lang, heute sind es allenfalls 10 Jahre. Dieser mäßige Wert reicht inzwischen schon als erfülltes Kriterium fürs Warentest-Urteil „Sehr gut“. Nachhaltiges Wirtschaften sähe wahrlich anders aus. Als Gegenbeispiel wird das legendäre DDR-Handrührgerät RG 28 aus Suhl aufgeführt, das über Jahrzehnte hinweg unverändert zuverlässig blieb. Tempi passati.

Das Buch scheint nun den anfangs gesponnenen Faden etwas zu verlieren, es gerät mehr und mehr zum Grundkurs in Warenkunde, ohne die wir Konsumenten ziemlich aufgeschmissen seien. Vom kostspieligen und in rechtsextremen Ruch geratenen Sonderweg von Manufactum ist die Rede. Ein solcher Satz lockt ein Grinsen hervor: „Die Manufactum-Katalogprosa wimmelt nur so vor letzten sorbischen Muhmen, die dank des Versandhändlers wieder Bierdeckel handfilzen.“ Inzwischen ist die Edel-Klitsche an Otto verkauft worden – und der Manufactum-Gründer hat Zeit genug, höchst zweifelhafte Bücher auf den Markt zu werfen.

Der geschichtliche Rückgriff führt bis zum Deutschen Werkbund, in dem auch Künstler eine „Moral der Dinge“ etablieren wollten, und zu den Ursprüngen des zunehmend autoritären Funktionalismus, der sich in Gestalt von Adolf Loos zum Lehrsatz verstieg, jedes Ornament sei ein Verbrechen. In der Gegenwart wird die krempelhafte, unnötig Aufmerksamkeit fressende Computer- und Online-Kommunikation gegeißelt.

Schließlich verbeißt sich der Autor geradezu in ein Thema, das ihm wohl speziell am Herzen liegt: die Entwicklung der Kaffee-Zubereitung im Spannungsfeld zwischen Vollautomaten und Siebträger-Maschinen. Auch aus persönlichen Gründen fand ich ein Kapitel interessant, das davon handelt, welche Dinge in anderen Ländern womöglich besser sind als bei uns. Ein Beispiel: Türen und Fenster in Dänemark, die sich nach außen hin öffnen. Warum haben wir nicht die Wahl?

Eine aufs große Ganze zielende Schlussfolgerung steht in den letzten Sätzen, die bedeutsam, ja beinahe gravitätisch ausschwingen, als hätte ein Adorno das Wort:

„Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander, nach den legitimen Bedürfnissen.

Noch die progressivste Warenkunde wäre nur der Schein der Laterne – der Schlüssel liegt anderswo. Es ist nur sehr unbequem, dort zu suchen“. 

Gabriel Yoran: „Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)“. edition suhrkamp. 186 Seiten, 22 Euro.

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P. S.: Im werblichen Anhang des vorliegenden Bandes habe ich eine unverhoffte Wiederentdeckung gemacht. Dort wird eine Fortschreibung von Wolfgang Fritz Haugs „Kritik der Warenästhetik“ (1971) angepriesen, die wir zu Studentenzeiten in den 1970er Jahren zustimmend goutiert haben. Angefügt sind neue Erkenntnisse zur „Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus“. Das Buch erscheint für 19 Euro als Print on demand-Ausgabe. So ändern sich die Zeiten.




Salz im Nudelwasser und viele andere Küchenfragen

Gewichtige Frage, fürwahr: „Wann kommt das Salz ins Nudelwasser?“ Sofort oder etwas später? Das Magazin der Süddeutschen Zeitung (SZ) hat nach und nach eine Menge Fachleute (beileibe nicht nur mit professoralen Weihen) aufgeboten, um bei solcherlei Problemen Klarheit zu schaffen. Nun liegen die gesammelten Resultate in Buchform vor.

„Ein für alle Mal“ sollen hier – laut Untertitel – die wichtigsten Küchenfragen geklärt werden. Dabei zeigt sich doch rückblickend an etlichen Stellen, wie sehr solche Abwägungen zeitbedingt und dem Wandel unterworfen sind. Und gar manches Mal heißt es: „Die Antwort lautet Jein.“ Es lebe die feine Differenzierung.

Um den Titel gleich aufzugreifen: Das Salz gehört erst dann ins Nudelwasser, wenn Letzteres schon zu kochen beginnt. Es hat mit dem Siedepunkt zu tun, der sich bei vorschneller Dreingabe energetisch ungünstig darstellt. Tja.

Sodann geht es Schlag auf Schlag, so ungefähr nach der Parole: „Was Sie schon immer wissen wollten, aber kaum zu fragen wagten“. Wohlan denn, beispielsweise:

Alkohol verdampft beim Kochen eben n i c h t vollständig, also Vorsicht. Kartoffeln und Zwiebeln sollten in Papiertüten und/oder Pappschachteln gelagert werden, dunkel und trocken sowieso. In der Regel ist Ober-Unterhitze besser als Umluft, ein Air-Fryer ist der Fritteuse vorzuziehen, Gas u n d Induktion sind die Mittel der Wahl am Herd. Ein gekochtes Ei hält sich zwischen 2 und 4 Wochen lang. Angeschimmeltes aller Art (auch schon vor dem „Schimmelrasen“) sollte stets entsorgt werden, da ist einfach nichts mehr zu retten. Oder die richtige Reihenfolge beim Salatdressing: erst Gewürze, dann Essig, schließlich Öl.

Und weiter, Frage um Frage: Dürfen Pilze gewaschen werden? Deuten Schraubverschlüsse auf minderwertige Weine hin? Warum werden Bananen so schnell braun? Ist Butter gesünder als Margarine – oder gibt es da vielleicht einen Mittelweg? Wie reklamiere ich im Restaurant? Wie sieht die ideale Sitzordnung beim mehr oder weniger festlichen Essen aus? (Bloß nicht den immerzu nörgelnden Miesepeter neben Seinesgleichen setzen, auch nicht zwei Kasper zueinander).

Genug! Lest selbst mehr davon. Und haltet euch dran. Aber nicht sklavisch.

Süddeutsche Zeitung Magazin: „Wann kommt das Salz ins Nudelwasser?“ Die wichtigsten Küchenfragen ein für alle Mal geklärt – Expertenwissen kurz und knapp. DuMont Verlag, 176 Seiten, 20 Euro.




Peppa Pig, die KI und der Rest

Familienaufstellung der kunterbunten Schweinchenfamilie, wie sie von der Firma Simba Toys hergestellt wird (von links): Mama Pig, Peppa Pig, George, Papa Pig. Mittlerweile ist noch das Baby Evie hinzu gekommen. (Foto: Bernd Berke)

Alle Welt schreibt und/oder podcastet über Künstliche Intelligenz (KI, anglophon bekanntlich AI abgekürzt). Jetzt hatte ich auch so ein kleines, aber bezeichnendes Erlebnis damit. Wie auf diesem Felde üblich, war es gleichermaßen faszinierend und erschreckend.

Es ging mir darum, eine bestimmte Szene (fröhliches Mädchen auf der Waage bei der Kinderärztin) mit dem berühmten Comic-Schweinchen Peppa Pig („Peppa Wutz“) darzustellen. Meines Wissens existierte eine solche Szene im Peppa-Kosmos noch nicht. Also habe ich mal bei ChatGPT angefragt, ob sich da was machen ließe…

Frau Mümmel als Kinderärztin

Und siehe da: Die wohl bekannteste aller KI-Apps ließ sich nicht lange lumpen. Zwar bat sie um ein paar Minuten „Bedenkzeit“, weil es gerade eben so viele Bildanfragen gebe. Doch nach ca. 3 Minuten hatte sie es und legte eine Zeichnung vor, die man kaum oder gar nicht von anderen, originalen Peppa-Kreationen unterscheiden konnte. Tatsächlich stand Peppa frohgemut auf der Waage – und neben ihr die zünftig mit Stethoskop und anderen Insignien ausgerüstete Kinderärztin, verkörpert von „Frau Mümmel“, der stets in mancherlei Rollen schlüpfenden Häsin.

Was würde Boris Johnson sagen?

Selbstverständlich werde ich das erstaunliche Resultat hier nicht ausbreiten, denn ich möchte – anders als offenbar die KI-Betreiber – partout nicht mit dem bislang üblichen Urheberrecht in Konflikt geraten. Täuschend ähnlich das Personal, täuschend ähnlich (oder vielmehr: frappierend gleich) der Stil. Selbst für kleine und große Fachleute absolut verwechselbar. Keine nennenswerte Distanz oder eigene „Schöpfungshöhe“, wie die Juristen sagen. Was wohl der erklärte Peppa-Fan Boris Johnson, Ex-Premierminister von Großbritannien, dazu sagen würde? Vermutlich ließe sich der Politclown etwas immens Schnoddriges, halbwegs Witziges einfallen. Doch was hülfe es?

Urheberrecht? Muhahaha!

In ähnlicher Weise, wenn auch jeweils mit etwas anderem Drall, hätte sich die besagte Szene nach Art anderer Figuren nachbilden lassen, beispielsweise mit Loriotschen Knollennasenmenschen, nach Asterix-Art, nach „Peanuts“-Vorbild oder im Stile eines US-Undergroundzeichners wie Robert Crumb oder Gilbert Shelton. In allen Fällen wären Urheberrechte eklatant verletzt worden.

Es scheint so, als hätte sich schon der bloße Gedanke des Urheberrechts weitgehend erledigt; ganz gleich, ob Text, Bild oder Video betreffend. Wie will man das jemals wieder einfangen und zurückholen? Überdies ist vermutlich auch die einstmals bedeutsame Unterscheidung zwischen echt und unecht, zwischen wahr und falsch obsolet. Längst schon eine Binse, ich weiß. Aber wenn jetzt schon die niedlichen Schweinchen gefälscht werden…




Erfolgreiche Spenden-Aktion: Münter-Gemälde kann für Dortmund angekauft werden

Um dieses Bild geht es in Dortmund: Gabriele Münter „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris“), 1930 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Weiterer Nachtrag als neuer Vorspann, weil es einen entscheidend anderen, durchaus erfreulichen Sachverhalt gibt: Gabriele Münters Gemälde „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris) von 1930 kann fürs Museum Ostwall im Dortmunder U angekauft werden. Das entsprechende Crowdfunding-Projekt hatte – nach zögerlichem Beginn – doch noch Erfolg. Es wurden sogar etwas mehr Mittel als die benötigten 75000 Euro eingeworben, nämlich 77620 Euro = 103% (Stand vom 2. Juni, 14 Uhr).

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Blick zurück ohne Zorn: Anfangs hatte es nicht so rosig ausgesehen. Am 29. März hieß es (eher missmutig) bei den Revierpassagen:

Bleiben wir zunächst einmal trocken sachlich und regen uns (noch) nicht gleich auf. Das Dortmunder Museum Ostwall, für die bildende Kunst bei weitem das erste Haus am Platze, wird in diesem Jahr 75 Jahre alt. Die vereinigten „Freunde des Museums Ostwall“ (Freundinnen sind natürlich auch dabei) wollen dem im „Dortmunder U“ ansässigen Institut zum Jubiläum ein Bild schenken, das sich zum Sammelschwerpunkt Expressionismus fügt und von einer sehr bekannten Künstlerin stammt: „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris)“, 1930 von Gabriele Münter gemalt. Ganz bewusst wurde das Bild einer Künstlerin ausgewählt, denn Frauen sind bislang im Museumsbestand stark unterrepräsentiert.

Die „Freunde des Museums Ostwall“ geben für den Ankauf 30000 Euro, hinzu kommt „eine bedeutende Summe“ der Dortmunder Kulturbetriebe und ein Beitrag des Museums selbst. Um weitere 75000 Euro für den Kaufpreis aufzubringen, wurde – mit Unterstützung der örtlichen Volksbank – am 3. März ein Crowdfunding-Projekt gestartet. „Viele schaffen mehr“ heißt die Plattform, auf der sich das Geldsammeln abspielt. Bis zum 1. Juni soll der Betrag beisammen sein. So weit, so gut.

Von 75000 Euro noch ganz weit entfernt

Doch jetzt kommt’s, jetzt wird’s betrüblich bis beschämend: In der eh nicht sonderlich als Heimstatt der Kunst glänzenden Stadt mit ihren rund 600000 Einwohnern haben sich bislang (Stand 29. März mittags, also nach immerhin 26 Tagen) gerade einmal 19 Spenderinnen und Spender gefunden, die insgesamt 1575 Euro aufgebracht haben. Das sind gerade einmal knapp 2 Prozent der angestrebten Summe. Es ist also wahrlich noch ein weiter Weg bis zu den benötigten 75000. Dabei wurden Informationen über  das Sammelprojekt inzwischen an die regionalen Medien gereicht, die auch etwas dazu veröffentlicht haben. Zu vermuten steht, dass einige große Firmen der Stadt (Namen bitte hinzudenken) offenbar lieber – derzeit auch nicht eben fruchtbringende – Sponsoren-Millionen in Richtung Borussia Dortmund werfen, während das kulturelle Leben beiseite steht. Gern ließen wir uns eines Besseren belehren.

Nur der Schatten einer vitalen Stadtgesellschaft

Mehr noch: Unter den bisherigen Spendern finden sich Leute, die anonym bleiben möchten. Andere hingegen sind eindeutig zu identifizieren als Menschen, die dem Museum beruflich eng verbunden sind. Ein Nachname taucht allein dreifach auf, da hat sich offenbar die halbe Familie eingebracht. Aus der oftmals beschworenen „Stadtgesellschaft“ (aka Zivilgesellschaft), die hier eh nicht gerade imponierend breit gefächert ist, ist kein wesentlicher, zählbarer Zuspruch zu vernehmen.

Man stelle sich vor: Nähme man die Dortmunder „19″ zum Maßstab, kämen im ungefähr doppelt so großen München (was die Einwohnerzahl betrifft) dementsprechend nur 38 Spendenbeiträge zusammen, im etwa dreimal so großen Hamburg lediglich 57. Eigentlich undenkbar. Dort würden die privaten Finanzquellen gewiss ungleich reichlicher sprudeln. Das bürgerschaftliche Engagement ist in Dortmund, allem Strukturwandel des Reviers zum Trotz, immer noch vergleichsweise unterbelichtet. Wir haben es ja geahnt, doch jetzt haben wir wohl ein weiteres Indiz.

Hier der Link zur Crowdfunding-Plattform: https://www.viele-schaffen-mehr.de/projekte/expressionistin-fuer-museum-ostwall

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Nachtrag am 1.4.2025: Na, da schau her! Stand 1. April (ca. 11.30 Uhr) sind es nunmehr 25 Spenden mit einem Gesamtbetrag von immerhin 9575 Euro, was rund 12 Prozent der erstrebten 75000 Euro entspricht.

Nachtrag am 10.4.2025, abends: Nun, es läppert sich offenbar doch noch. Jetzt sind es 45 Unterstützerinnen und Unterstützer, die insgesamt 22730 Euro beigesteuert haben, also rund 30 Prozent der angepeilten Summe.

Nachtrag am 7.5.2025, abends: Rund 80 Spenden summieren sich nun zu 49790 Euro, etwa 66% der Zielsumme. Wie heißt es in derlei Fällen so schön: „Da geht noch was“.




Hol dir, gönn dir!

 

Genau! Alles, und zwar jetzt. Sofort! (Foto: Bernd Berke)

Wie war das noch, vor soundsovielen Jahren, als im 68er-Umfeld der „Konsumterror“ lauthals angeprangert wurde?

Damals lösten gerade erst einige Supermärkte die bis dahin gängigen „Tante-Emma-Läden“ ab. Welche eine vergleichsweise beschauliche Verbraucherwelt das noch gewesen ist! Was hätte man bloß gesagt, hätte man kommen sehen, was wir heute haben – mit allseits in letzte Winkel und Ritzen dringendem Internet-Wahnwitz und obenauf gesetzter „Künstlicher Intelligenz“, die sich in alles hineinfrisst und sich alles einverleibt. Nun, da man gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht und wo es noch Restbestände von vermeintlicher Wirklichkeit gibt.

Allüberall wird man verbal, bildlich und medial verfolgt, gnadenlos, ohne Unterlass: „Hol dir“, „Gönn dir“, „Sichere dir“. Versäume nicht, zögere nicht, ergreife den Vorteil, sichere dir Premium, Premium Plus oder Pro. „Ergattere“ dies und jenes, schlage anderen ein Schnippchen, hol dir das Schnäppchen, den Schnapper. Exklusiv. Nur für Dich! Das große Gelingen. Eigentlich kein übles Wort, jedoch dem verbalen Missbrauch preisgegeben.

Immerzu ist Sale, Angebote und Preise sind mega, ja giga. Alles ist Hammer! Geiz ist geil, immer noch, obwohl dieser Spruch schon älter ist. Und ständig herrscht Beben. Mark(t)erschütternd. Schon morgen kann es zu spät sein, vielleicht hört die Gelegenheit schon gleich auf. Carpe diem! Yolo! Du lebst nur einmal. Hau rein. Deal!

Und wenn nicht? Dann Apokalypse. Dann Doomsday. Dann Untergang. Finale Finsternis. Und damit Tschüss, nech?!




Trunk, Zeitreise, Einsamkeit und mehr – ein Stapel mit neuen Büchern

Was die Dichter im Glase hatten

Welch eine Idee, gegenläufig zum oft eher abstinenten Zeitgeist: vorwiegend alkoholische Lieblings-Drinks ruhmreicher Schriftsteller, wie sie in ihren Werken vorkommen, als Rezepte herauszubringen und mit anekdotischen Anmerkungen zu versehen. Das Resultat, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch: „Trinken wie ein Dichter. 99 Drinks mit Jane Austen, Ernest Hemingway & Co.“ (Klett-Cotta, 217 Seiten, 24 Euro). Die größten Fraktionen bevorzugen – in allerlei Formen und Kombinationen – entweder Gin oder Whisky, dahinter folgen die Anhänger von Rum und Wodka. Einige Beispiele: Edgar Allan Poe hielt es mit Brandy, Rum und Schlagsahne. Gustave Flaubert bevorzugte Apfelcider mit Calvados und Aprikosenbrand. James Joyce nahm – wenig überraschend – gern Kaffee mit irischem Whisky zu sich. E. T. A. Hoffmann mixte sich sozusagen „Elixiere des Teufels“, z. B. aus Lipari-Wein, Kirschwasser und Champagner. Novalis fand die „Blaue Blume“ mit Hilfe von Bittermandel-Schnaps, Kirschsaft und – Mohnsirup. Pablo Neruda goss vorzugsweise Cognac und Cointreau ins Glas, Sylvia Plath hingegen Wodka und Martini, der notorische Trinker Joseph Roth schlichtweg am liebsten Pernod, während Friedrich Dürrenmatt Bordeaux-Wein mit Rum zusammenbrachte. Und Goethe? Verkostete schon mal das eine oder andere Glas fränkischen Weines. Prosit!

Ein Frauenleben im Rausch

Wir schließen thematisch ans vorherige Buch an: Wohin verschärfter Alkoholkonsum führen kann, schilderte anno 1929 Colette Andris (Pseudonym für Pauline Totey) in ihrem Debütroman „Eine Frau, die trinkt“ (Aus dem Französischen von Jan Rhein, Wagenbach, 156 Seiten, 22 Euro), der als lohnende Wiederentdeckung erschienen ist. Die Autorin führte in den „wilden Zwanzigern“ – also vor rund 100 Jahren – ein bewegtes Leben mit allen Höhen und vor allem Tiefen. Sie war eine der allerersten Nackttänzerinnen, wurde hernach Schauspielerin und eben Autorin. Eine durchaus mögliche Professorinnen-Karriere hatte sie zuvor in den Wind geschlagen. Bereits mit 8 Jahren war sie das erste Mal betrunken, um die Eltern gezielt zu schockieren. Der Suff wurde später ihr täglicher Begleiter. Nur im Rausch glaubte sie, gewisse Männer ertragen zu können. Ein Inferno aus Lebensdurst und Abstürzen, trotz der historischen Distanz ungemein gegenwärtig.

Auf eine Zeitreise geschleudert

Der Schweizer Christian Kracht war vor allem zu Zeiten seines Romans „Faserland“ enorm „angesagt“ und galt als große literarische Hoffnung seiner Generation. Nun hat er mit „Air“ (Kiepenheuer & Witsch, 215 Seiten, 25 Euro) erneut die literarische Szene betreten und sogleich wieder Scharen von Rezensenten auf den Plan gerufen. Erlesen schon die bloßen Orte der weit ausgreifenden Handlung: Paul, ein Schweizer Innenarchitekt, lebt auf den abgelegenen schottischen Orkney-Inseln und erhält einen rätselhaften Auftrag aus Norwegen, er soll den perfekten White Cube erschaffen. Durch eine Sonneneruption wird er freilich auf eine Zeitreise geschleudert, die ihn u. a. in eine mittelalterlich anmutende Welt führt. Wer will, kann nun am großen Motiv-Entschlüsselungs-Wettstreit teilnehmen – zwischen germanischen Mythen, KI-Phantasien, Dichtung und Philosophie. Wahrhaft gehobene Fantasy, zuweilen poliert wie ein Design-Produkt erscheinend, doch staunenswert reichhaltig und nicht nur ästhetisch überzeugend.

Ein allgegenwärtiges Gefühl

In letzter Zeit haben manche Politiker das Thema Einsamkeit als eines entdeckt, das sie mit ihren begrenzten Mitteln bekämpfen wollen. Die Erfolgsaussichten sind freilich fraglich, denn Einsamkeit könnte ja vielleicht als Konstante zur universellen Conditio humana gehören. Allerdings sollte man sich nicht einfach damit abfinden, und man darf auch die jeweiligen Ursachen und Beweggründe nicht verkennen. Der in Kassel lebende Janosch Schobin, studierter Soziologe, Hispanist u n d Mathematiker (!), legt mit „Zeiten der Einsamkeit. Erkundungen eines universellen Gefühls“ (Hanser, 224 Seiten, 24 Euro) ein Standardwerk zum Thema vor, das so ziemlich alle Ausfaltungen des Phänomens in Historie und vor allem Moderne erkundet. Einsamkeit zeigt sich dabei keineswegs nur als individuelles, sondern als kollektives, gesellschaftliches Problem. Für solche Bücher werden am besten feste Plätze im Regal reserviert – zur ständigen „Wiedervorlage“.

Bis in die Bochumer Discos

Maja aus Montenegro wird in Deutschland aufwachsen. Die Geschichte ihres spurlos verschwundenen Vaters Miko und seiner Familie kennt sie noch nicht. Ihre Mutter wird sie ihr erzählen. Es ist eine rasante, ziemlich abenteuerliche Migrations-Geschichte, die in den 1980er Jahren aus einem montenegrinischen Dorf bis nach Bochum und in die dortigen Discos führt. Die 1978 in Gelsenkirchen geborene Ines Habich-Milović, auch als Theatermacherin und Theaterautorin tätig, kündet davon in ihrem Romandebüt „Dein Vater hat die Taschen voller Kirschen“ (Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 24 Euro). Der Titel bezieht sich auf einen Kirschenklau in Nachbars Garten, der hier eine treibende Rolle spielt. In mancherlei Facetten geht es darum, wie kulturelle Identitäten überhaupt entstehen. Dieses Buch beweist, dass Unterhaltsamkeit und Anstöße zur Nachdenklichkeit durchaus miteinander einhergehen können.

Neue Rock- und Pop-Geschichten

Wir bleiben in Bochum: Der aus dieser Stadt stammende Ulli Engelbrecht ist ein Kenner und emsiger Sammler von Rock- und Popmusik. Zudem häuft er allerlei Geschichten rund um Songs und Sounds an, die gewiss einen wesentlichen Teil seines Lebens und des Lebensgefühls seiner Altersgenossen ausmachen. Man tritt ihm sicherlich nicht zu nahe, wenn man Leute wie den Mit-Bochumer Frank Goosen und den Briten Nick Hornby zu seinen Anregern zählt. Auch im neuen Buch mit dem zunächst seltsam klingenden Titel „Klaus Nomi war ja eigentlich Konditor“ (BoD / Books on Demand, Paperback, 180 Seiten, 13 Euro) erzählt Engelbrecht wieder amüsante Rock- und Popgeschichten, vornehmlich gespeist aus den 70er- und 80er Jahren. Er scheint auf ein schier unerschöpfliches Reservoir an solchen Stories zurückgreifen zu können. Bisher lagen aus diesem Themenkreis bereits vor: „Mir brennen die Schläfen“, „Klingende Wunder“ und „Runde Dinger“. Wohl dem, der ein dermaßen gut sortiertes Archiv hat und es so launig ausbreiten kann!

Lektüre vorzeitig abgebrochen

Dass der Franken Verlag als ambitioniertes Projekt in Dortmund an den Start geht, hat sich verheißungsvoll angehört. Gleich mit der ersten Publikation wird die Vorfreude etwas gedämpft. Die aufs Jahr 1992 und die Folgezeit bezogene, nacholympische Stadterkundung „Feinschnitt Barcelona“ von Adrià Pujol Cruells (Aus dem Katalanischen von Matthias Friedrich, Franken Verlag, Dortmund, 256 Seiten, 24 Euro) mag im Original ein großer Wurf sein, doch das teilt sich in der deutschen Übertragung nur bedingt mit. Der Franken Verlag will Übersetzerinnen und Übersetzer durch Namensnennung auf dem Cover eigens würdigen. Gut so. Auch gebührt prinzipiell allen Respekt, die sich übersetzend ans Katalanische begeben. Nun kann ich mangels Kenntnis dieser Sprache nicht beurteilen, inwieweit die vorliegende Übersetzung gelungen ist. Ich nehme allerdings wahr, dass das Resultat im Deutschen gewöhnungsbedürftig klingt. Gleich die ersten Sätze lauten so: „Aus den Laternen auf der Plaça del Sortidor rinnsalt kränkliches Licht… Die Stadtreinigung hat die Pflastersteine mit phreatischem Wasser begossen…“ – „Rinnsalt“, „phreatisch“. Das sind einfach hinderliche Lesebremsen. In ähnlichem Duktus geht es vielfach weiter. Ich gestehe freimütig, die Lektüre vorzeitig abgebrochen zu haben. Vielleicht passe ich ja einfach nicht zu diesem Buch.




Landschaft mit Goldrand: Ausstellung zelebriert „1250 Jahre Westfalen“

Der vergoldete Silberschrein des heiligen Liborius, des Paderborner Dom- und Bistumspatrons, sonst im benachbarten Diözesanmuseum beheimatet, gehört zu den prachtvollsten Schaustücken der Westfalen-Ausstellung des Museums in der Kaiserpfalz. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Welcher Gedanke liegt wohl nahe, wenn eine große Ausstellung „775 – Westfalen“ heißt? Nun, dann wird der Landesteil wohl 775 Jahre alt werden? Weit, weit gefehlt: Er wird vielmehr stolze 1250 Jahre alt.

Die „775″ steht dabei für die Jahreszahl der allerersten Erwähnung des Namens in einer Urkunde, etwas genauer: in den Reichsannalen jener Zeit, verfasst am Hofe Karls des Großen. Nun ist das unschätzbar wertvolle Zeitdokument in einer frühen, aus der Pariser Nationalbibliothek geliehenen Abschrift (entstanden um 820, in einer Abtei bei Lüttich) im Paderborner LWL-Museum in der Kaiserpfalz zu sehen.

Ankerprojekt eines weit ausgreifenden Themenjahres

Wir reden vom zentralen Ankerprojekt eines ganzen Themenjahres, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ausgerufen hat und das 44 größere Maßnahmen umfasst, die sich zu weit über 300 Einzelveranstaltungen verzweigen. Rund 3 Millionen Euro beträgt die gesamte Fördersumme der LWL-Kulturstiftung. An der heutigen Ausstellungseröffnung in Paderborn hat auch der Schirmherr, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, teilgenommen, u. a. flankiert vom NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Die Schau macht einen streckenweise hochveredelten Eindruck, mit geradezu feierlicher Illumination und zahlreich schimmernden Goldtönen. LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger hofft auf rund 60000 bis 80000 Ausstellungs-Besuche. Solche Zahlen wären auch finanziell hilfreich.

Von den Franken besiegt und erstmals erwähnt

Kurz zurück zur erwähnten karolingischen Urkunde. „Die“ Westfalen (also nicht der noch gar nicht definierte Landesteil, sondern die Leute) fanden nebst anderen Volksstämmen – Ostfalen und Engern – Erwähnung als durch die Franken Besiegte. Damit war der Begriff schriftlich in der Welt und konnte sich durch die Epochen realiter vielfach entfalten – etwa als Herzogtum Westfalen um 1180, mit einem klimatisch bedingten, für Getreideanbau günstigen Boom um 1200 und einem ebenfalls klimatisch eingeleiteten Niedergang im 14. Jahrhundert (Stichwort „Wüstungen“), viel später dann als Schauplatz des Westfälischen Friedens (Münster/Osnabrück) anno 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete.

Wiederum ein ganz anders geartetes Land war sodann ab 1807 das französisch regierte „Königreich Westphalen“ unter Jérôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleons. Seinerzeit zählten übrigens weder Münster noch Dortmund hinzu, die wir heute als die westfälischen Metropolen betrachten. Westfalens Hauptstadt hieß damals Kassel. Gar manche Westfalen begrüßten die gewachsenen bürgerlichen Freiheiten unter französischer Herrschaft, doch bald regte sich Unmut, weil Napoleon westfälische „Landeskinder“ als Soldaten für seinen Russlandfeldzug rekrutieren ließ.

Die Schau endet mit den Folgen des Wiener Kongresses von 1815, mit dem die napoleonische Ära endete und Preußen die Grenzen seiner Provinz Westfalen neu und dauerhaft festlegte. Damit wurden auch bis heute prägende Grundmuster der Infrastruktur geschaffen.

Ein „Wanderweg“ durch die Lande und Zeiten

Die Ausstellung breitet ihre Schätze (etwa 500 Exponate) auf rund 1000 Quadratmetern in Form eines „Wanderweges“ durch Lande und Zeiten aus. Ein Epilog, basierend auf Umfragen unter westfälischen Bürgern der Gegenwart, zeichnet schließlich Zukunfts-Perspektiven – nicht zuletzt visualisiert mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI), die heute ja nirgendwo fehlen darf.

Eine Leitfrage der gesamten Unternehmung lautet: Was macht denn eigentlich Westfalen aus? LWL-Landesdirektor Georg Lunemann ist überzeugt, dass die heutige Heimat von rund 8,3 Millionen Menschen schon immer ein gesellschaftliches „Versuchslabor“ gewesen sei. Ein Menschenschlag habe diese Landschaft geprägt, der zwar zurückhaltend und bodenständig, aber auch stets prinzipiell offen (gewesen) sei. Hier wolle man die Probleme anpacken statt sie nur zu verwalten oder zu vertagen. Nun ja, so oder ähnlich muss man es als LWL-Chef wohl sagen. Westfalen war und ist im Vergleich zum Rheinland jedenfalls ländlicher geprägt und hat auf deutlich mehr Fläche weniger Einwohner. Selbst die westfälischen Ruhrgebietsstädte entstanden auf vormals ländlichen Arealen erst spät und dafür umso rasanter.

Ein Tragaltar für den Paderborner Bischof aus dem 12. Jahrhundert, gefertigt aus Eichenholz, vergoldetem Silberblech, Steinschmuck und Perlen. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Als die Region bis zur Ostsee reichte

Martin Kroker, Leiter des Paderborner Museums in der Kaiserpfalz, legt Wert auf die Feststellung, dass es keineswegs eine klare, durchgehende Linie von 775 bis 1815 oder gar bis heute gebe, was Westfalen anbelangt. Größere Eindeutigkeit entstand erst mit der preußischen Ordnung im 19. Jahrhundert, namentlich unter Ägide des Freiherrn vom Stein. Zuvor hatten die als „westfälisch“ wahrgenommenen Ländereien zeitweise bis zur Ostsee gereicht, die eingangs der Ausstellung gezeigten alten Karten sind für heutige Begriffe geradezu verwirrend.

Die jetzige Gestalt ist eben erst nach und nach entstanden. Westfalen, wie wir es kennen (oder zu kennen glauben), konkretisierte sich erst allmählich im 19. Jahrhundert, damals entstanden zahlreiche Heimatvereine, einschlägige Denkmäler wurden errichtet und das treuherzige „Westfalenlied“ (1868/69) ward komponiert. Aus all dem leitet sich die generelle Erkenntnis her, dass Westfalen – wie so vieles, ja eigentlich alles – eine dem historischem Wandel unterworfene „Konstruktion“ ist, mit der sich die Menschen dann freilich im Idealfalle identifizieren können. Und überhaupt: Was Westfalen bedeutet, wird stets von Menschen bewirkt.

Die Ausstellung sucht den schier unerschöpflichen Themenkreis vor allem mit archäologischen Funden und markanten Schriftstücken zu fassen. Der Wanderweg wird freilich auch von in Westfalen gewachsenen Pflanzen begleitet, was den Museumsleiter Martin Kroker zunächst beunruhigt hat. Pflanzen neben uralten Schriften? Und was war mit womöglich schädlichen, feuchten Ausdünstungen? Nun, die begleitende Vegetation gedeiht hier völlig ohne Wasser, sie wird aber bis zum Ende der Ausstellung u. a. mit Glycerin konserviert. Gewusst wie! Jedenfalls ist man dank Pollenanalysen heute in der Lage, die westfälische Pflanzenwelt seit der Karolingerzeit im Wesentlichen zu bestimmen.

Abendmahls-Gemälde mit westfälischem Schinken

Und so schreitet man entlang früher Waffenfunde aus kriegerischen Zeiten, bestaunt Zeugnisse der Christianisierung, die mit etlichen Klostergründungen als „Erfolgsmodell“ dargestellt wird, belegt auch durch prachtvolle Altarbilder westfälischer Provenienz. Eine Abendmahls-Darstellung enthält gar typisch westfälischen Schinken als kulinarische Dreingabe. Weitere Höhepunkte sind etwa der kostbar vergoldete Paderborner Libori-Schrein, die penibel ausgetüftelte Sitzordnung zu den Verhandlungen über den Westfälischen Frieden oder die barocke Pracht westfälischer Fürstbischöfe.

Kritische Seitenblicke bleiben nicht aus. So gab es im Gefolge der Befreiungskriege auch in Westfalen nach 1815 nicht nur romantische Verklärungen der Region, sondern auch nationalistisch gewendete Überhöhungen. Manche Westfalen verstanden und gerierten sich nun als die allerbesten und echtesten Deutschen. Da sind einem die „sentimentalen Eichen“, die Heinrich Heine in Westfalen als knorrig-liebenswerten Menschentypus erlebte und bedichtete, doch allemal lieber.

„775 – Westfalen. 1250 Jahre Westfalen“. Paderborn, Museum in der Kaiserpfalz, Am Ikenberg 1 (neben dem Dom). Vom 16. Mai 2025 bis 1. März 2026. Täglich außer montags 10-18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat 10-20 Uhr. Eintritt 11 Euro, ermäßigt 6 Euro, Kinder/Jugendliche unter 18 Jahren kostenlos. Katalogbuch (352 Seiten) 35 Euro.

 

 




Der Maler, der die Frauen zerstört – Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“

Louis Creutz ist ein Maler, der nach anfänglicher Mühsal längst internationalen Erfolg hat. Er lässt nur noch eigene Maßstäbe und Perspektiven gelten, die er häufig dozierend in gewundenen Sentenzen ausbreitet. Überdies betrachtet er sich selbst in jeglicher Hinsicht als unabhängig. Etliche Frauen zeigen sich davon beeindruckt.

Seine langjährig treuesten Käufer und Mäzene heißen Beate und Rudolf, Letzterer ist Mitinhaber einer weltweit operierenden Hydraulik-Firma. Deren Geschäfte führt vor allem sein Bruder Dietrich, ein unscheinbarer Mensch, der jedoch durch Beständigkeit und Verlässlichkeit ungemein gewinnt. Seine Abgründe, die es durchaus zu geben scheint, werden durch bescheidene Liebenswürdigkeit ausbalanciert.

Damit hätten wir bereits wesentliches Personal aus Martin Mosebachs neuem Roman „Die Richtige“ beisammen. Die den Titel inspirierende Frau kommt hinzu: Es ist jene, vermeintlich etwas naive, jedenfalls ausnehmend hübsche, munter plaudernde und bis dato grundsätzlich lebensfrohe Halbschwedin Astrid, die eines Tages in diese begüterten Kreise gerät. Opernsängerin hat sie einst werden wollen. Nun arbeitet sie in einem Intendanten-Büro. Aber das nur nebenbei.

Zunächst langsam, dann aber fatal gerät die Handlung in Gang, als der Künstler jenen Dietrich und Astrid in einem abgekarteten Spiel zusammenbringt, bis sie tatsächlich zueinander finden und heiraten. Eine ungleiche Allianz? Nein, es scheint sich wundersam zu fügen. Doch dann die Versuchung und Verstrickung, die Gift ins scheinbar beruhigte Glück träufelt: Während Dietrich wochenlang geschäftlich in China unterwegs ist, kann Louis Creutz nicht widerstehen und will – uraltes Motiv der Künste – Astrid als ideales Aktmodell recht eigentlich „besitzen“. Das Widerstreben währt nicht lange, sie lässt sich darauf ein. Sitzung folgt auf Sitzung, bis das offenbar „Unvermeidliche“ geschieht. Aus der Gemengelage zwischen Maler und Modell erwächst dann freilich unversöhnlicher Streit, der schließlich in eine Tragödie von zermalmender Wucht mündet.

Rückblicke offenbaren des Künstlers seit jeher zerstörerische Wirkung. Seine rasend eifersüchtige Ex-Frau Ira ist erloschen auf der Strecke geblieben, sein langjähriges Modell Flora Ortiz ist vollends entgleist und geistert vogelfrei als obdachlose „Ver-rückte“ durch die Stadtlandschaft. Zerstörerisch auch die Auswirkungen auf Astrid. Details dazu seien hier verschwiegen, sie würden den Spannungsbogen bei der Lektüre erheblich mindern.

Derweil leugnet Creutz jeden Zusammenhang zwischen seinem Leben und den künstlerischen Resultaten, die angeblich den Niederungen des Alltags enthoben sind und nur den ewigen Gesetzen der Kunst gehorchen. An biographischen Nachforschungen eines Galerie-Mitarbeiters namens Rucktäschel mag er denn auch nicht mitwirken, er nennt ihn eine „Archivwanze“. Wo käme der selbstgerechte Malerfürst denn hin, wenn er sich schnöden Ursachen oder womöglich gar einer Verantwortung stellen müsste! Ja, man könnte diesen Louis Creutz von Herzen verachten, doch man hüte sich vor Eindeutigkeit. Von Zeit zu Zeit erlaubt sich der Künstler – im Gefolge seines Schulfreundes Ed Weiss – Ausflüge ins klein- bis mittelkriminelle Milieu. Es könnte ja einmal nützlich sein…

Martin Mosebach erzählt abermals ausgesprochen gediegen, meisterlich gliedernd und zergliedernd, vergleichsweise konventionell bis konservativ, stets hochkulturell grundiert. Es ist sozusagen Bildungsliteratur, die mal an die Übergröße Thomas Mann, mal auch an Martin Walser zu dessen besten Zeiten gemahnt. Auch dürfte etwas von Goethes „Wahlverwandtschaften“ als Muster durchscheinen. Auf viel geringeren Höhen sollte man nicht über Mosebach reden. Seinem Duktus kann man sich lesend gut und gerne anvertrauen. Er geleitet uns trittsicher, sprachmächtig u n d mit angenehmer Diskretion durch die Kältezonen der Kunstwelt ebenso wie durch Brutalitäten im Jagdrevier oder Abgründe des Begehrens.

Martin Mosbach: „Die Richtige“. Roman. dtv. 348 Seiten. 26 Euro.




Erst Rocksängerin, dann Bildhauerin – Pia Bohr: „In der Kultur haben es Frauen immer noch schwerer“

Im Atelier: Pia Bohr mit ihrer Skulptur „Big Engel“. (© Foto: Melanie Hoessel)

Geht’s um Frauen im Kulturbetrieb, so kann Pia Bohr (61) fundierte Auskunft geben. Zuerst hat die Dortmunderin sich über 25 Jahre lang als Sängerin der international gefeierten Kultband „Phillip Boa & the Voodooclub“ verdingt, dann ist sie nach und nach in die Kunstszene gewechselt und hat sich als Bildhauerin etabliert – zuerst mit Holzskulpturen, seit einiger Zeit mit ebenso organischen und biomorphen Schöpfungen in Bronze, weil die Arbeit mit diesem Material körperlich weniger aufreibend ist.

Besuch in ihrer Werkstatt im Dortmunder Klinikviertel, Dudenstraße 4. Hier blüht buntes Leben: Im selben Hinterhof befinden sich eine Kita und das BVB-Fanprojekt. Wir sitzen inmitten einiger ihrer neueren Arbeiten. Ihr Werkstatt-Raum atmet die angenehme Atmosphäre früherer Zeiten, hat gleichsam Patina – bis hin zum nostalgischen Radio aus den 1960er Jahren. Es funktioniert noch einwandfrei. Auch ihre Bronze-Skulpturen, so Pia Bohr, „werden so ziemlich alles überdauern. Sie schmelzen erst bei 1100 Grad.“ Bei dieser Temperatur entstehen sie auch – in einer hochspezialisierten Gießerei im münsterländischen Drensteinfurt. Bundesweit gibt es nur noch ganz wenige vergleichbare Betriebe. Veredeltes Handwerk.

Ja, für Frauen sei es in der Kultur immer schwieriger als für Männer, auch heute noch. Als Sängerin habe sie vielen Fans und Kollegen bloß als „blondes Schätzchen“ gegolten, dabei habe sie selbst etliche Songs für Phillip Boa geschrieben. Gut, dafür fließen (oder rinnen) immer noch ein paar Tantiemen, aber die Anerkennung hielt sich in Grenzen. Überdies gab es abstrusen Rechtsstreit: Als Sängerin hieß sie Pia Lund, doch wurde ihr juristisch untersagt, diesen Namen auch als Bildhauerin zu tragen. Dann halt Pia Bohr. Zur Bandgeschichte gehört schließlich auch, dass ihre damalige Ehe zerbrochen ist. Eine tolle Zeit war es gleichwohl, als die Gruppe beispielsweise mit dem Produzenten von David Bowie arbeiten konnte.

Wie war es dann als Künstlerin? Auch da habe sie kämpfen müssen. Nun nicht mehr in konfliktreicher Gruppendynamik, sondern als Einzelne – mit größeren Freiheiten, aber auch gewachsenen Risiken. Ein männlich dominierter Künstlerbund habe sie partout nicht aufnehmen wollen. Es gab gar Kollegen, die ihr ausreden wollten, Skulpturen mit glatten Oberflächen zu gestalten. Warum? Tja. Einfach mal so. Bestimmen wollen. Herrschaft ausüben. Überdies hatte sie kein Kunststudium vorzuweisen, erst recht nicht bei einem prominenten Professor. Als käme es im Schaffensprozess nicht auf andere Dinge an. Auf Liebe zum Material und Beseelung des Stoffes. Auf Formfindung und Proportionen. Auf innere Wahrhaftigkeit. Und dergleichen mehr. Als Bezugsgrößen für ihr Schaffen nennt Pia Bohr die Oeuvres von Hans Arp, Francis Bacon und Louise Bourgeois.

Vor Relikten des früheren Hoesch-Stahlwerks: Pia Bohrs Arbeit „Die Spionin“. (© Foto: Bruno de Piero)

Und die Zukunft? Scheint, gerade für Frauen, nicht eben rosig zu werden. Pia Bohr beobachtet vielfach eine Wendung rückwärts. Mühsam erstrittene Frauenrechte seien zunehmend bedroht, sagt sie. Im Gefolge des Rechtspopulismus machten sich sogenannte „Trad Wives“ (etwa: Traditionsweibchen) breit, die vorzugsweise mit Trachten oder Schürzen dienende Rollen annähmen, fast wie die „braven Muttis“ in den 1950er Jahren. Dementsprechend erstarke auch der Machismo, keineswegs „nur“ in der kulturellen Sphäre. Wehmütig lächelnd erinnert sich Pia Bohr des Titels ihrer digitalen Graphik: „Das Ende des Patriarchats“. Schön wär’s ja…

Als Ur-Dortmunderin hadert sie, wie so viele, gelegentlich mit dieser Stadt: „Dortmund ist kulturelle Provinz.“ Und nebenan? Nun, schon in der Unistadt Bochum sehe es besser aus. Ungleich lebendiger sei es in Berlin, wie sie kürzlich wieder erleben durfte. Doch da wolle sie nicht dauerhaft hin. „Da gibt es schon so viele Künstlerinnen und Künstler.“

Von Selbstverwirklichung in den Künsten redet sie nicht gern. Noch weniger mag sie die Redensart, jemand mache „das Hobby zum Beruf“. Nein, kulturelles Schaffen sei vor allem harte Arbeit. Es sei freilich wunderbar, wenn sie sehe, wie Leute ihre Skulpturen liebevoll berühren. Dabei werden, neben geglätteten Partien, auch Narben und Verletzungen in Holz oder Bronze spürbar. Schmerzliche Schönheit. Frauen riskierten derlei haptische Annäherung übrigens eher und inniger als Männer. Woran es wohl liegt?

Über all die Jahre hinweg macht Pia Bohr dieselbe Erfahrung: Oft ist unklar, wann der nächste Gig (Auftritt) oder Kunstkauf ansteht. Daraus folgt permanenter Druck. Zwar kann sie inzwischen von der Bildhauerei leben, doch haben ihr die Zeiten der freischaffenden Existenz nur einen kümmerlichen Rentenanspruch eingebracht. Wir nennen den Betrag hier nicht, es könnten einem schier die Tränen kommen. In wilder bewegten Jahren macht man sich ja auch wenig Gedanken über Einkünfte im „Ruhestand“. Auch so ein Wort, das ihr widerstrebt.

„Frauen in der Kunst“ – das Thema findet Pia Bohr wichtig. Aber: „Dass es eigens hervorgehoben wird, zeigt auch, dass es leider immer noch nicht selbstverständlich ist.“ Wo sie recht hat…

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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (Münster) erschienen: www.westfalenspiegel.de

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Vom 10. Mai bis zum 8. Juni 2025 ist unter dem Titel „helle wachträume“ eine gemeinsame Ausstellung von Pia Bohr und Sonia Ruskov zu sehen, und zwar in der Produzentengalerie „Friedrich 7″ (Friedrich-Ebert-Straße 7, 44263 Dortmund). Öffnungszeiten: Mittwoch 16-18 Uhr, Samstag/Sonntag 14-17 Uhr.

Weitere Infos über die Künstlerin: www.bohrskulpturen.de




Fünfmal glimpflich ausgegangen – und jetzt?

Aus der allzeit beliebten Reihe „Bebilderte Redensarten“: nur nicht gleich „auf die Palme bringen“ lassen, vieles erledigt sich wie von selbst. (Foto: Bernd Berke)

Seltsam: In den letzten Tagen hat sich manches „in Wohlgefallen aufgelöst“, wie man einst zu sagen pflegte. Dies und jenes ist glimpflich ausgegangen, keine Befürchtung hat sich bewahrheitet. Sollte es sich um eine Glückssträhne handeln? Oder soll man sich in Sicherheit wiegen, während hinter all den Kleinigkeiten insgeheim etwas weitaus Größeres lauert? Auch kommt einem vielleicht Goethes berühmtes Diktum in den Sinn, nichts sei schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.

Doch der Reihe nach: Auf einer ohnehin schon elend langen Autofahrt (ca. 1300 km) drohte ganz am Schluss noch eine Straßensperrung in Richtung Dortmund, die weitere Verzögerung bedeutet hätte. Überall war sie bedrohlich ausgeschildert. Dennoch der kühne Entschluss, nicht die empfohlene Umleitung zu nehmen (wie es Tausende taten), sondern auf der angeblich im weiteren Verlauf gesperrten Strecke zu bleiben. Und siehe da: Die Sperrung existierte gar nicht. Offenbar hatten sie nur versäumt, die Warnschilder abzubauen. Ha!

Sodann funktionierte die Übertragung der Navigation via CarPlay plötzlich nicht mehr. Nur noch dürre Ansagen mit teilweise fürchterlicher Aussprache, jedoch keine Kartenanzeige mehr. Viele Versuche, aber nichts zu machen. Anderntags die unscheinbare, aber rettende Idee: nur einmal kurz die Enden der Kabelverbindung durchpusten. Ffffft! Ffffft! Und schon ging alles wie gewohnt. Offenbar hatte es an ein paar Staubkörnchen oder einer winzigen „Wollmaus“ gelegen.

Drittens: Für auch nicht gerade geringfügige 96,52 Euro in südfranzösischer Gottseinsamkeit getankt, an einer unbemannten („unbemenschten“) Zapfsäule. Auf dem Kontoauszug wurden jedoch anschließend saftige 200 Euro Abbuchung angekündigt. Ein gewisser Schock. Sollte etwa Kriminelle Zugriff gehabt haben? Zuerst ließ es sich gar nicht zuordnen, auf den Tankvorgang musste man erst einmal kommen. Was mir zuvor nicht bekannt war: Beim vollautomatischen Tanken werden zunächst oft Quasi-Beträge aufgerufen, die hernach – bei der wirklichen Abbuchung – nach unten korrigiert werden. So war es dann auch in diesem Falle. Alles korrekt. Also abermals „davongekommen“.

Fehleranzeige der Waschmaschine: Auch hier trog der Schein. (Foto: BB)

Auch nach der Rückkehr aus Frankreich hörte es noch nicht auf: Angesichts der aufgetürmten Urlaubswäsche streikte die Waschmaschine, zeigte die kryptische Fehlermeldung „F9″ und dazu einen rot leuchtenden Schraubenschlüssel, als müssten nun ganze Kohorten von Handwerkern anrücken. Auch hier verliefest freilich harmlos. Es musste lediglich ein Flusensieb gereinigt werden – und schon war wieder alles in Ordnung.

Habe ich noch etwas vergessen? Richtig, eine Petitesse: Habe nach längerer Abstinenz versucht, mich zur Entspannung bei einem Streamingdienst einzuloggen. Nix ging. Zwecklos. Später zeigte sich: Der Druck auf eine einzige Fernbedienungstaste beseitigte das Malheur.

Gibt es etwas zu lernen? Vielleicht von Anfang an gelassener an die Dinge heranzugehen und nicht gleich in panische Zustände zu verfallen? Aber nicht, dass wir hier noch in einen Psycho-Jargon abrutschen oder die üblichen Ratgeber-Formeln der „Lebenshilfe“ nachstottern! Drum Schluss jetzt.




Im Bann der miesen Machenschaften – Andreas Maiers Roman „Der Teufel“

Eine Kindheit in den frühen 1970er Jahren, vermeintlich recht speziell und doch wohl typisch. Da wird der kleine Junge dauernd vor dem Fernsehgerät „geparkt“ und guckt schier alles weg – von der Sesamstraße bis zum „Blauen Bock“. Bald darauf bemisst sich die soziale Stellung unter Schulfreunden danach, ob jemand eine Carrera-Bahn hat oder nicht. Kommt einem irgendwie bekannt vor, wenn man ein paar Jährchen auf dem Buckel hat, nicht wahr?

Immer wieder lesenswert sind all die Episoden, die Andreas Maier so unprätentiös aus seiner Kindheit und Jugend hervorholt. Was muss der Mann für einen Schatz an Notizen und Tagebüchern haben! Oder ein untrügliches Gedächtnis, gepaart mir ausschmückender Phantasie… Jedenfalls hat er Friedberg, die Wetterau, Bad Nauheim und angrenzende Gebiete nachhaltig der literarischen Landkarte einbeschrieben. Er entwirft keine großen Geschichten und erfasst doch – von unscheinbaren Rändern her – abermals einige Essenzen der 70er und 80er Jahre. Auch dieser Band ist wieder Teil seines fortwährenden Projekts der Vergegenwärtigung.

In Maiers neuem Buch „Der Teufel“ geht es wiederholt um heftig gewollte, bewusst lancierte Zuschreibungen guter und vor allem böser Eigenschaften, nicht zuletzt in den Fernsehnachrichten. Alle paar Jahre wurden dort neue „Teufel“ ausgerufen und hernach vorzugsweise flugs mit Hitler verglichen, die man bis dahin nicht einmal namentlich gekannt hatte. Beispielsweise in Panama, in Rumänien, im Irak, in Serbien (Noriega, Ceausescu, Saddam, Milosevic). Wie da auf einmal der vormals so nette und gastfreundliche Dragoslaw vom örtlichen Jugo-Grill misstrauisch beäugt wurde! Und so weiter, immer fort. Mehrfach taucht zwischendurch und gegen Ende hin der gemalte „Friedberger Teufel“ auf, wie er offenbar in der örtlichen Stadtkirche vorgefunden werden konnte, die – allen linken Umtrieben zum Trotz – eine seltsame Anziehungskraft auf den Heranwachsenden ausübt. Oder sollte dieser Teufel schließlich unversehens verschwunden sein, wie so vieles aus der Vergangenheit?

Jene Zeiten waren ein vielfaches Entweder-Oder: entweder katholisch oder evangelisch, entweder CDU oder SPD, entweder Fleischmann oder Märklin, entweder links oder spießig und (schon etwas feiner justiert): entweder Led Zeppelin oder Roxy Music. Es waren jene Jahre, als man in links sich wähnenden Kreisen Svende Merians sensibilistisch frauenbewegtes Buch „Der Tod des Märchenprinzen“ las. Um es mit einem Titel von Peter Rühmkorf zu sagen: „Die Jahre, die ihr kennt“. Im Gefolge Merians hat sich der jugendliche Erzähler fest vorgenommen, beim Debüt mit der neuen Freundin bloß nicht machomäßig zu ejakulieren. Und so sehr betont er im Nachhinein, man sei damals keinesfalls „uniformiert“ herumgelaufen, dass das Dementi geradezu eine Bekräftigung ist.

Prägnant auch jene eingestreuten Skizzen, etwa vom grotesken Tanzlehrer, vom allfälligen kollektiven Abhängen in Jugendjahren, vom geistig geschwächten Onkel, der sich in ängstlicher Beflissenheit an den schütteren Meinungsfragmenten seines Bruders (Vater des Erzählers) zu orientieren sucht, wenn sie gemeinsam Tagesschau gucken. Auch die gleichförmigen Tage der Oma, die zusehends auf den Tod zulebt, verdichten sich ebenso qualvoll wie anrührend von Zeile zu Zeile. Sodann 1989 und die Folgen: die lästigen „Ossis“, die nun auch in Hessen penetrant auftauchten und z. B. in HiFi-Geschäften begehrlich Bauklötze staunten.

Andreas Maier lotet das Verhältnis des privaten Nahbereichs zu den großen Polit-Machenschaften der Zeit aus. Die Letzteren erweisen sich als üble Kulissenschieberei, während es doch für die Einzelwesen aufs Privatleben ankommen sollte. Verfeindet sind freilich auch Zweige der Familie, die einander wiederum teuflische Eigenschaften zuschreiben. Allenthalben werden Teufel an die Wand gemalt. Fast möchte man meinen, es sei hohe Zeit für eine Teufelsaustreibung. Aber wie? Doch nicht etwa wie gehabt?

Andreas Maier: „Der Teufel“. Roman. Suhrkamp Verlag, 248 Seiten, 25 Euro.

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P. S.: Hier noch ein krittelnder Hinweis auf Seite 62, zur Nachbearbeitung empfohlen: „…und schindeten dadurch Eindruck bei den Frauen…“ ist einfach kein herkömmlich korrektes Deutsch. Oder lässt der Duden auch das schon wieder gelten?

 

 




Wunderbare Welt der Waldameisen – Fotografien im Dortmunder Naturmuseum

In Hessen aufgenommene Fotografie einer roten Waldameise (Arbeiterin), die wissenschaftlich Formica polyctena heißt und in Lebensgröße etwa 7 Millimeter misst. (Foto: © Ingo Arndt)

Es sind phänomenale Bilder, die der international renommierte Tierfotograf Ingo Arndt von seinen Expeditionen in die Welt der Waldameisen mitgebracht hat. Da sieht man etwa eine größere Gruppe dieser Tiere, die Ameisensäure versprüht, als sei’s ein prächtiges Silvesterfeuerwerk. Oder man beobachtet – weit, weit überlebensgroß – wie eine Ameisenkönigin Eier legt. Einen solchen Moment muss man erst einmal erhaschen und sodann adäquat ins Bild setzen.

Derlei fotografische Kunststücke sind jetzt im Dortmunder Naturmuseum zu sehen. „Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“ heißt die neue, in sieben Kapitel unterteilte Sonderausstellung.  Rund 41 großformatige Fotografien geben erstaunliche Einblicke in die wunderbare Welt der Ameisen. Manche Bilder sind sorgsam aus Hunderten von Einzelstücken zusammengesetzt: Nur auf diese Weise sind Größe und Schärfe vereinbar. Andernfalls wären sie so „verpixelt“, dass nichts mehr zu erkennen wäre.

Matriarchat mit alsbald „nutzlosen“ Männchen

Noch wunderbarer als die fotografischen Künste stellen sich Leben und Alltag der Ameisen dar. Auf Ingo Arndts Fotos erscheinen die Ameisen z. B. als Architektinnen, Jägerinnen, Gärtnerinnen und Viehhalterinnen. Museums-Mitarbeiter Dr. Oliver Adrian erläutert, dass die Gesellschaft der Waldameisen ein striktes Matriarchat sei, daher auch die feminine Titel-Bezeichnung „Superheldinnen“. Die Königin und Millionen dienstbarer Arbeiterinnen (gleichsam aufgeteilt in „Innen- und Außendienst“ für Materialbeschaffung, Brutpflege etc.) haben eindeutig Vorrang und leben ungleich länger als die nach Begattung und Befruchtung quasi „nutzlosen“ Männchen, die nur wenige Wochen überstehen, während die weiblichen Exemplare der Gattung 6 bis 20 Jahre alt werden können.

Heizen der Hügelbauten mit Körperwärme

Bevor Ingo Arndt seine Ameisen-Fotografien überhaupt anfertigen konnte, musste er sich erst einmal solides Wissen über diese Tiere aneignen. Dazu arbeitet er – auch bei sonstigen Projekten – eng mit Fachwissenschaftlern zusammen. Was sich dabei im Falle der Ameisen zeigt, ist wahrlich spektakulär: Wenn Waldameisen in ihren ausgeklügelten, bis zu 2 Meter hohen Hügelbauten aus der Winterstarre erwachen, drängen sie millionenfach zum Sonnenlicht. Die dabei entstehende Körperwärme nutzen sie, um anschließend das Innere des Baus zu „heizen“ – hinein und hinaus, immer und immer wieder, bis die Innentemperatur der Behausung stimmt. Sie kommunizieren übrigens vorwiegend über Duftdrüsen und durch Berührung mit ihren Fühlern.

Nein, die Waldameise reitet nicht auf dem glänzend blauen Laufkäfer, sondern sie zerlegt das tote Geschöpf  zwecks Nestbau. (Foto: © Ingo Arndt)

„Umzüge“ im Gefolge des Klimawandels

Nicht genug mit der Heizperiode im Frühjahr: In die Hügel haben die Ameisen zuvor ein System von Lüftungsschächten eingebaut, die für ausgeglichene Klimatisierung sorgen sollen – wie die Ameisen denn generell ein sehr empfindliches Gespür für klimatische Feinheiten und Temperaturschwankungen haben. Im Falle zu starker Veränderungen wechseln sie zunächst die „Etagen“ im Hügel oder ziehen mit Sack und Pack gänzlich um. So sind im Gefolge des Klimawandels schon massenhafte Ameisen-Wanderungen beobachtet worden. Zu kleinteilig darf man sich das nicht vorstellen: In Argentinien soll gar eine über rund 6000 Kilometer sich erstreckende, vielfach vernetzte Superkolonie von Ameisen existieren.

Vorbildlicher Straßenbau und Verkehrsführung

Der Mensch kann von den perfekt organisierten Ameisen-„Staaten“ offenbar eine Menge lernen. So gibt es inzwischen Verkehrsprojekte, die in manchen Punkten den vorbildlich effektiven „Straßenbau“ der Ameisen nachzuahmen suchen. Geradezu irrwitzig mutet es allein schon an, dass und wie das immens dichte Gewimmel der Ameisen dennoch „unfallfrei funktioniert“. Sollten sich da etwa auch wertvolle Hinweise auf Stau- und Karambolagen-Vermeidung in unseren Städten finden?

Ein Naturmittel gegen Bakterien

Bei einem kundig angeleiteten Rundgang (den die Bildtexte in der Schau nur ansatzweise ersetzen können) kommt man aus dem Staunen kaum heraus. So nutzen Waldameisen Baumharz als antibakterielle Barriere, sprich: Sie postieren die Substanz so, dass alle Artgenossen auf ihren Wegen in den Ameisenbau hinüber müssen und somit besser gegen Bakterien gefeit sind. Zu vermuten steht, dass sich auch die Pharma-Industrie einen solchen Effekt zunutze gemacht hat. Auch haben die ungemein feingliedrigen Greifwerkzeuge der Ameisen bionische Entwicklungen angeregt, die zunehmend in der (Roboter)-Chirurgie Verwendung finden dürften.

Freundliche Symbiose mit Blattläusen

Die Arbeiterinnen tun alles Erdenkliche, um ihre Königin vor Unbill zu schützen. Gelegentlich kommt es vor, dass ganze Ameisenvölker einander bekriegen, dass es veritable Invasionen in „feindliche“ Ameisenhügel gibt. Hauptfeinde sind jedoch einige Vogelarten, bestimmte Käfer, Spinnen und manchmal Wildschweine. Nicht ganz ohne Eigennutz „befreundet“ sind die Ameisen hingegen mit den Blattläusen, an deren Sekret (Honigtau) sie sich laben. Daher verteidigen die Ameisen sie auch gegen Marienkäfer. Mehr noch: Sind die Pflanzen, auf denen sich Blattläuse tummeln, nicht mehr so ergiebig, tragen die Ameisen sie bereitwillig zu vitaleren Gewächsen.

Die Biologie und das Soziale

Nicht zuletzt Beobachtungen des Ameisendaseins haben die Soziobiologie hervorgebracht, welche das soziale Leben dieser und anderer Wesen erforscht. Auch in Deutschland gibt es einige Lehrstühle der sicherlich spannenden Fachrichtung. Apropos Forschung: Es gibt Experten, die Ameisenhügel Schicht für Schicht fachgerecht abtragen, sie zeitweilig ins Labor bringen und die (schon seit rund 200 Jahren unter Naturschutz stehenden) Tiere mitsamt Hügel nach vollbrachten Experimenten wieder genau so in den Wald setzen, wie sie sie abgeholt haben. Bei Robert Lembkes heiterem Beruferaten („Was bin ich?“) wäre damals wohl niemand auf diesen Spezialisten-Job gekommen.

Der vielfach preisgekrönte Fotograf Ingo Arndt, ständig weltweit (u. a. für Zeitschriften wie Geo oder National Geographic und zahlreiche Buchprojekte) unterwegs, ist derzeit in Chile tätig und konnte daher nicht zur Eröffnung seiner Ausstellung nach Dortmund kommen. Am 2. Juli (19 Uhr) aber wird er das Museum besuchen, einen Vortrag und eine Führung absolvieren. Naturinteressierte sollten sich das nicht entgehen lassen.

„Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“. Naturmuseum Dortmund (Münsterstraße 271). Bis 28. September 2025, Eintritt Sonderausstellung 4 Euro (ermäßigt 2 Euro), ständige Sammlung kostenlos. Öffnungszeiten Di bis So 10-18 Uhr, Mo geschlossen.
dortmund.de/naturmuseum
Mail: naturmuseum@stadtdo.de / Tel.: 0231/50-24 856.

P. S.: Zur Ausstellung gehört auch ein Kinderbereich, in dem Ameisen aus Pfeifenputzern und Bleistiften gebastelt oder gemalt werden können.




„Interventionen aus dem Ruhrgebiet“: Gerd Herholz stellt sein Buch „Gespenster GmbH“ in Dortmund vor

Autor Gerd Herholz auf dem Podium einer anderen Veranstaltung. Das Namensschild auf dem Tisch vor ihm enthält leider einen Lapsus. (Foto: © Friedhelm Krischer)

Sonst haben wir’s ja nicht so mit bloßen Termin-Ankündigungen. Diesen kündigen wir aber gern an: Gerd Herholz, bis 2018 langjähriger Literaturvermittler beim Literaturbüro Ruhr (Gladbeck), zudem freier Autor und Journalist, kommt am nächsten Dienstag, 8. April (19.30 Uhr), nach Dortmund, um aus seinem Buch „Gespenster GmbH“ zu lesen, und zwar im Dortmunder Literaturhaus am Neuen Graben 78.

Gerd Herholz zählt dankenswerterweise auch zu den Autoren dieses Revierpassagen-Blogs. Noch besser und passender: Der Band „Gespenster GmbH“ (Untertitel: „Interventionen aus dem Ruhrgebiet“) enthält auch einige Texte, die Herholz ursprünglich just für die Revierpassagen verfasst und fürs Buch überarbeitet hat. Der Einfachheit halber verlinken wir hier noch einmal die Rezension, die an dieser Stelle erschienen ist. Wir haben das Buch empfohlen, also empfehlen wir auch die Lesung. So einfach ist das. Nicht nur pro domo, sondern aus Überzeugung.

Ergänzend sei aus einer Pressemeldung der Stadt Dortmund zitiert: „Neben polemischen Betrachtungen versammelt der Band Begegnungen, engagierte Plädoyers und kritisch würdigende Porträts einzelner Autorinnen und Autoren für eine Literatur, die beharrlich gegen ,Gespenster‘ anschreibt. In seinen Beiträgen und Essays spießt Herholz spöttisch die Blähvokabeln eines Kulturbetriebs auf.“ Nun ja, so gänzlich frei vom üblichen Kulturjargon ist diese städtische Anpreisung auch nicht. Aber sei’s drum, wenn’s doch für die lesens- und hörenswerte Sache ist.

Zur Lesung im Literaturhaus lädt jedenfalls das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt ein. Arnold Maxwill vom Hüser-Institut, auch Herausgeber des Buches, wird den Abend moderieren. Sportliche Ausflüchte gelten übrigens nicht: Das Spiel Barcelona vs. BVB findet erst am folgenden Abend (9. April) statt…

Gerd Herholz: „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“. Aisthesis Verlag, Bielefeld (Reihe Nyland Dokumente), 240 Seiten, 25 Euro. 

 

 




Diese ungeheure, schöpferische Wut – Biographie über Rolf Dieter Brinkmann

Eigentlich kommt sie reichlich spät auf den Markt, diese Biographie des – je nach Observanz – genialen oder genialischen Dichters Rolf Dieter Brinkmann. Der Mann starb bereits am 23. April 1975, als er in London von einem Auto erfasst wurde. Seither hat das Mythenwesen um seine Person unter mehr oder weniger Kundigen kaum abgenommen, ja, es hat mitunter kultische Züge getragen.

Die Lebensbeschreibung, die Michael Töteberg und Alexandra Vasa jetzt vorlegen, ist recht ausführlich geraten, sie geht in manchen Passagen gar sehr ins Detail und zitiert seitenweise aus Notizen, Briefen und sonstigem Nachlass, dessen Inhalt bislang noch weitgehend unbekannt war. Es gilt eben, manch Versäumtes nachzuholen und verborgene Quellen zu öffnen. Brinkmanns Lebensgefährtin Maleen und der langjährige Wegbegleiter Ralf-Rainer Rygulla haben unschätzbar wertvolle Einblicke ermöglicht.

Es beginnt mit Brinkmanns Kindheit, aus der ein fortwährendes Kriegstrauma erwuchs. Brinkmann wurde am 16. April 1940 im späterhin hassgeliebten, ausgesprochen provinziellen Vechta (Niedersachsen) geboren. In seinen frühen Lebensjahren hat er kriegerische Zeiten miterlebt, ohne etwas davon begreifen zu können. Da dürfte einiges flackernd nachgewirkt haben.

Viele fürchteten sich vor ihm

Mit Worten, die heute korrekterweise nicht mehr verwendet werden, beschrieb er hernach seine Schulzeit: „Ich bin von Krüppeln erzogen worden mit Krüppelvorstellungen!“ Auf „Korrektheiten“ hat er eh nie etwas gegeben, oft hat er sich wie ein unerbittlicher Berserker oder auch (Zitat) „Kotzbrocken“ aufgeführt. Er sorgte für manchen Skandal, ließ manche Veranstaltung entgleisen. Er war einer, vor dessen Zorn viele sich fürchteten – ob nun im alltäglichen Umgang oder in literarischen Debatten. Schon Leute, die ihn ungefragt „duzten“, mussten sich auf Tiraden gefasst machen.

Bereits mit 16 Jahren hatte er Schreibversuche an diverse Verlage geschickt – zunächst vergebens. Es war die Zeit der notdürftig hektographierten Blätter. Immerhin gab es bald knappe (ziemlich negative) Gutachten von Größen wie Enzensberger und Rühmkorf oder auch Dieter Wellershoff, der anfangs sehr skeptisch war, sich aber irgendwann als Lektor bei Kiepenheuer & Witsch für den jungen Autor einsetzte – bis der allzeit reizbare Brinkmann auch ihn vor den Kopf stieß.

Finanziell äußerst prekäres Dasein

Nach einigen Umwegen (u. a. Buchhandels-Lehre in Essen) war Brinkmann nach Köln gezogen, wo er – ungeachtet gewisser Erfolge – über Jahre hinweg ein finanziell äußerst prekäres Dasein fristete; an seiner Seite: die Gefährtin Maleen und der geistig behinderte Sohn Robert. Lastender Alltag, fürwahr, dessen Niederungen wohl vor allem Maleen zu bewältigen hatte.

Von den wenigen Buchpublikationen (Roman „Keiner weiß mehr“) konnten sie jedenfalls kaum leben, sie darbten immerzu auf Pump. Nur die Arbeit für Rundfunkanstalten (zumal Hörspiele, wobei er sich etwa für Schmerzensschreie authentische Anlässe wie unverhoffte Ohrfeigen für die Sprecher wünschte) hielt die Kleinfamilie halbwegs über Wasser. Es gibt in allen Künsten so viele dieser betrüblichen Geschichten.

Mit ihm dämmerte Künftiges herauf

Zusammen mit (und doch zutiefst getrennt von) schreibenden Kollegen wie z. B. Nicolas Born, H. P. Piwitt, Hans Christoph Buch, Peter O. Chotjewitz und schließlich Jürgen Theobaldy verkörperte Brinkmann so etwas wie die anfängliche Aufbruchstimmung, aber auch die baldige Verzweiflung und Resignation der 1960er und frühen 70er Jahre. Wer immer damals ins vertiefte Lesen gefunden hat, wird eine solch exemplarische und zugleich außerordentliche Biographie gewiss mit besonderem Interesse goutieren. An einem wie Brinkmann kam man damals schwerlich vorbei. So grundverschiedene Zeitgenossen wie Peter Handke und Marcel Reich-Ranicki sahen mit ihm schlichtweg Zukunft heraufdämmern.

Angewidert vom verfallenden Rom

Ausgiebig nachgezeichnet werden Phasen wie Brinkmanns Stipendiaten-Aufenthalt in der Villa Massimo zu Rom (literarische Frucht: „Rom, Blicke“), wo er sich von allen anderen Stipendiaten, deren Kunstanstrengungen und geldversessene Gelegenheitenmacherei er verachtete, entschieden unfreundlich absetzte. Die „ewige Stadt“ bestand nach seinem Empfinden ohnehin nur aus Schmutz und Verfall. Man liest es mit Befremden, auch Töteberg und Vasa kommentieren es sehr distanziert. Es war das Gegenteil von Goethes verzücktem Italien-Erleben. Und doch ist zu ahnen, dass auch Brinkmanns monströse Wut ungeahnte Energien freigesetzt haben muss, deren Furor sich nicht zuletzt gegen die konsumistische Zurichtung der „westlichen“ Lebenswelt richtete. Was hätte Brinkmann wohl zu vollends entfesselten Zuständen im Zeichen von Internet und KI gesagt?

Näher beschrieben wird auch Brinkmanns Gastdozentur in Austin (Texas/USA), wo er den Germanistik-Studenten von jederlei öder Sekundärliteratur abriet und statt dessen ureigene, möglichst kreative Ansätze im Umgang mit Literatur empfahl. In diesem Sinne steht zu vermuten, dass Brinkmann eine Biographie über sein gelegentlich wüstes Erdenwallen (Suff und gezielter, nicht grenzenloser Drogenseinsatz inklusive) wohl in Bausch und Bogen verworfen hätte. Allerdings entflammte er in Austin auch für Ideen zu einem ganz anderen Grundschul-Unterricht, was so gar nicht zum unversöhnlichen Wutschreiber zu passen scheint.

Leitfiguren Jahnn, Benn und Arno Schmidt

Gegen Ende hin geht es noch um die Geburtswehen seines literarischen Vermächtnisses, des ungemein komplexen Gedichtbandes „Westwärts 1 & 2″, der heute zu den wahrhaft unklassischen „Klassikern“ aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt. Tatsächlich sollte man sich diesen Band nach Kräften intensiv erschließen. Eine biographische Annäherung mag hilfreich hinzukommen, reicht aber bei weitem nicht an sein Werk heran. Welche Dimension es haben könnte, deutet ein Zitat von Heiner Müller auf dem Buchumschlag an: Brinkmann sei „Vielleicht das einzige Genie der westdeutschen Nachkriegsliteratur“.

Zwischendurch ist man geradezu froh und erleichtert, wenn man erfährt, dass Brinkmann auch ein paar wenige Schaffende gelten ließ: Hans Henny Jahnn allen voran. Gottfried Benn. Arno Schmidt. Die Filmemacher der Nouvelle Vague (Truffaut, Godard etc.). Und natürlich US-amerikanische Beatpoeten und Pop-Dichter wie Burroughs, die ihn auf seine spezielle Spur brachten. Im deutschsprachigen Raum war es beispiellos, wie Brinkmann Gedichte mit Alltagsfetzen, Popsongs, Kinoschnipseln und spontan fotografierten Bildern collagierte. Die Verlage kapitulierten beinahe vor seinen formalen und inhaltlichen Ansprüchen. Hätten sie in allen Punkten nachgegeben, wären die Bücher schier unbezahlbar geworden. So aber ist es immer noch auf- und anregend, dass es sie gibt.

Michael Töteberg / Alexandra Vaasa: „Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biographie“. Rowohlt, 398 Seiten mit einigen Bildtafeln, Fundstellen- und Literatur-Verzeichnis. 35 Euro.

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P. S. Hinweis für etwaige weitere Auflagen: Der denn doch sehr bekannte Künstler, der auf Seite 285 „Emil Schuhmacher“ genannt wird, schreibt sich ohne „h“, also Schumacher.




Humor mit Fleiß und Akribie: Loriot-Werkschau in Oberhausen

Na, wenn das keine typische Loriot-Figur ist…. (© Studio Loriot)

In der etwas älteren Generation, so ungefähr ab 45 oder 50 Jahren, können eigentlich alle Leute aus Sketchen von Loriot herauf und herunter zitieren. Es reichen schon kleine Anspielungen auf Jodeldiplom oder Kosakenzipfel, auf die hochnotpeinliche Nudel im Gesicht, zwei Herren in derselben Badewanne („Die Ente bleibt draußen!“) oder ein schief hängendes Bild als Chaos-Auslöser – und schon ist man mittendrin im Schwelgen und Schmunzeln. Da könnte man glatt von einer „Generation Loriot“ sprechen.

Unter dem lakonischen Titel „Ach was“ (auch so ein unvergänglicher Loriot-Ausspruch) zeigt die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen eine umfassende Werkschau dieses Großmeisters des feinsinnig distinguierten Humors, der 1923 als Vicco von Bülow in Brandenburg an der Havel geboren wurde und 2011 in Ammerland (Starnberger See/Bayern) gestorben ist. Der Pirol (französisch: Loriot) war übrigens das Wappentier der altehrwürdigen Familie. Womit das auch geklärt wäre.

Groteske Liebeserklärung: legendäre Nudel-Szene mit Loriot und Evelyn Hamann. (© Radio Bremen – Do Leibgirries)

Frühe Bilder im Stile Albrecht Dürers

Ganz anders als bei vielen Künstlern, die von den Eltern zu einträglichen „Brotberufen“ gedrängt wurden, hat Loriots Vater den anfangs noch zaudernden Sohn vom Kunststudium überzeugt. In Hamburg lernte Loriot die Kunst auf geradezu altmeisterliche Art. Es sind aus jenen Jahren gar Bilder im Stile eines Albrecht Dürer erhalten. Im Spätwerk hat Loriot wiederum „Große Deutsche“ wie Goethe, Richard Wagner, Nietzsche oder Thomas Mann durchaus liebevoll mit seinem mittlerweile längst etablierten Markenzeichnen, der Knollennase, versehen und ansonsten klassisch porträtiert. So ikonisch waren solche Nasen, dass sie bereits Merchandising-Figürchen inspiriert haben. Loriot hatte eben auch ein Gespür für geldwerte Trends.

Aus dem Spätwerk: Loriots Dürer-Porträt mit Knollennase (© Studio Loriot)

Die Exponate stammen zu wesentlichen Teilen aus einer Schau des Frankfurter Caricatura Museums, die für Oberhausen nochmals erweitert wurde, u. a. um eine interessante Dokumentation zu Loriots erster Ausstellung in der DDR (anno 1985, just in Brandenburg), auf die SED und Stasi erst im Nachhinein grollend aufmerksam wurden.

Werbegraphiker und Opern-Liebhaber

Vor allem mit rund 350 Original-Zeichnungen sowie Szenenbildern aus Film und Fernsehen ergibt sich eine frappierende Vielfalt, die auch Kennern von Loriots Schaffen noch etliche Neuigkeiten bieten dürfte. Nicht alle wissen beispielsweise, dass Loriot in seiner Frühzeit oft als Werbegraphiker tätig war (z. B. mit pfiffiger Reklame für Fiat-Automobile, Zigaretten oder strapazierfähige Bodenbeläge). Außerdem hat der leidenschaftliche Musikliebhaber zuweilen Opern inszeniert und dafür auch Bühnenbilder und Kostüme entworfen. Zwei seiner Szenenmodelle sind in Oberhausen zu bestaunen. Ja, sogar das nahezu niedliche Originalmodell jenes Atomkraftwerks, das bei „Familie Hoppenstedt“ in einem legendären Weihnachts-Sketch unterm Tannenbaum explodierte, ist hier zu sehen.

Doch keine „Wirtschaftswunder-Mutti“

Bemerkenswert auch die Geschichte zu Loriots langjähriger Sketchpartnerin Evelyn Hamann. Eigentlich hatte Loriot eine dralle Wirtschaftswunder-Mutti gesucht, doch dann überzeugte ihn die so ganz anders auftretende Hamann mit ihrer kongenialen Schauspielkunst. Weiterer Wissenszuwachs: Loriots berühmtes altes Sofa (in Oberhausen als halbwegs ähnliches Exemplar vorhanden) war zunächst knallrot, weil man das Potenzial des damals gerade eingeführten Farb-Fernsehens ausreizen wollte. Als derlei Effekte nicht mehr so gefragt waren, nahm man ein vergleichsweise dezentes Sitzmöbel in Grün.

Loriots Touristen-Verulkung, die beinahe schon auf Smartphone-Gepflogenheiten vorauszudeuten scheint. (@ Studio Loriot)

Beim Rundgang durch die Ludwiggalerie finden sich viele herrliche Beispiele für Loriots Sprachkunst der erzkomisch misslingenden Kommunikation, die seiner bildnerischen Hochbegabung kaum nachsteht. Überhaupt hat Loriot – auf der Basis ausgefeilter handwerklicher Fähigkeiten – die Arbeit am Humor mit geradezu „preußischer“ Akribie und unermüdlichem Fleiß betrieben. Das Leichte, das bekanntlich schwer zu machen ist… Wie es heißt, ruhte Loriot auch an Wochenenden und zu Ferienzeiten nicht. Zudem soll er an Schlaflosigkeit gelitten und zahlreiche Nachtstunden mit Texten und Zeichnen zugebracht haben. Womöglich sind dabei auch so langlebige Serien wie die über 17 Jahre im „Stern“ allwöchentlich fortgesetzten Bildergeschichten über „Reinhold das Nashorn“ entstanden.

Loriot, sozusagen mit Hunden (Möpsen) „im Handgepäck“. (© Holger Jacobs)

Mit feinem Florett gefochten

Trefflich lässt sich darüber debattieren, ob Loriots Komik recht eigentlich „harmlos“ sei. Sie ist tatsächlich niemals gemein und verletzend, sehr wohl aber hintersinnig und tiefgründig zielsicher. Sie zündet nicht sofort und direkt, dafür aber umso nachdrücklicher. Er focht filigran mit dem Florett, nicht mit dem Degen.

Während Loriots Lebenswerk aus dem Frankfurter Caricatura Museum nach Oberhausen kommt, gastiert die vorherige Oberhausener Schau über Walter Moers in der Mainmetropole. Fürwahr ein hochkarätiger Austausch. Apropos: Die „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors (Robert Gernhardt, F. K. Waechter, F. W. Bernstein usw.) zählte zu den Bewunderern Loriots. Dass dies wohl für eine Mehrheit der Cartoon-Zunft gilt, belegt eine kleine Abteilung mit Hommage-Arbeiten jüngerer Adepten, sprich: Die „Generation Loriot“ hat ihre Erben.

Loriot – Künstler, Kritiker und Karikaturist. Noch bis 18. Mai 2025.

Neu: verlängert bis 15. Juni! Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 12 Euro,ermäßigt 6 Euro. Kinder/Jugendliche bis 17 Jahre Eintritt frei. Kein Katalog, aber zwei begleitende Booklets mit je 16 Seiten zu je 5 Euro. Infos/Buchungen (Führungen) Tel. 0208 / 41 249 28. www.ludwiggalerie.de

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Der Text ist in ähnlicher Form erstmals im Kulturmagazin Westfalenspiegel (Münster) erschienen: www.westfalenspiegel.de




O Kragenbär, o Elchin! Jetzt gibt es „feministische Tiergedichte“

Geht’s um neuere Tiergedichte, so denkt man vor allem an den unvergleichlichen Robert Gernhardt (Stichwort „Kragenbär“) oder auch den Vorläufer Heinz Erhardt (Kennwort „Made“). Nun schickt sich Ella Carina Werner an, solche Traditionslinien beherzt ins Feministische zu wenden. Sie ist übrigens langjährige Redakteurin des qualitativ arg schlingernden Satire-Magazins „Titanic“.

Verlagswerbung und Klappentext greifen in die Harfe des Lobpreisens: Die anglophile Verzückung kündet vorab von weiblichem „Empowerment“ und harscher, wenn auch humoriger Kritik an „Mansplaining“ oder „gender pay gap“. Zur Übersetzung, falls nötig, bitte fleißig die Suchmaschinen anwerfen.

In einer rasch rausgehauenen Rezension stand sinngemäß zu lesen, Werner stecke mit ihren Reimen Gernhardt locker „in die Tasche“. Nein, nein und nochmals nein! Das stimmt einfach nicht. Diese zuweilen recht bemühten Verse klappern und rattern, holpern und stolpern vielfach daher. Gernhardt hätte sich dergleichen niemals durchgehen lassen.

Schon eines der ersten Gedichte, das ja (wie z. B. auf Rock-Alben üblich) eingangs besonders fetzen sollte, lautet so und lässt Lesende vielleicht etwas ratlos zurück:

„Hunderttausend
Schildkrötinnen
sind zahm außen
und wild innen.“

Ja, das war’s in diesem Falle schon.

Auf ganzer Strecke überwiegt die stramme Haltung und Parteinahme. Merke, anhand dieser Gedichte: Die tierisch verkörperten Männer sind grundsätzlich blöd, sollten rechtmäßig ängstliche Untergebene der Frauen sein, sind sie doch allesamt Schlappschwänze und/oder Trottel. Menstruation finden die Deppen ebenso widerlich wie weibliche Achselbehaarung. Drum müssen sie von nun an jegliche Hausarbeit allein verrichten. So ungefähr. Wobei die Beweggründe für solche rachedurstigen Phantasien ja durchaus nachzuvollziehen sind. Folglich erscheinen männliche Wesen generell als verzichtbar:

„Beim Rammeln grunzt die Sau verächtlich:
,Spannender wär’s gleichgeschlechtlich.'“

Frauen gebührt demgemäß jedenfalls das verbriefte Recht, ein hartes Regiment zur Unterdrückung des Männlichen zu führen, nach Belieben kreuz und quer zu vögeln (gern auch queer und trans), endlos zu chillen (vulgo: dem Nichtstun zu frönen) oder ihrerseits (Gegen)-Gewalt auszuüben. Im Original in Versalien (durchgehenden Großbuchstaben) flott und aggressiv hingedichtet:

„Am Samstagabend
hat Frau Rochen
dem Ehemann das Herz
gebrochen. Und den Kiefer.
Aus Versehen, genau wie
sieben Flossenzehen
Kiemen, Schultergürtel,
Nieren…
Ja, kann beim Zanken
mal passieren.
Und später, at the end
of story, Schwanz
und Vorderzähne,
Sorry!“

Tja, wenn das denn Feminismus sein soll…

Mehrfach knüpft Ella Carina Werner bei den erwähnten Gernhardt (Kragenbär und Schnabeltier revisited) und Erhardt an und versucht, deren Einfällen anderen, womöglich gegenläufigen Sinn abzugewinnen – allein: Es bleibt beim eher hilflosen Hinterherschreiben. Geradezu dürftig gerät es, wenn F. W. Bernsteins unsterblicher Reim aufgegriffen wird: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“ Da tapert Werner so hinterdrein:

„Der Ruhms des Elchs
erfreut die Elchin,
doch lieber hat sie
selber welchen.“

Und so bleibt der titelgebende Reim noch einer der besten:

„Der Hahn erläutert unentwegt
der Henne, wie man Eier legt.“

Gar nicht vergessen werden darf die Illustration, die recht eigentlich den Hauptteil des Bandes ausmacht. Juliane Pieper hat sich wirklich sehr hübsche Szenen zu Werners lyrischen Anstrengungen einfallen lassen, die jeweils auf Doppelseiten ausgebreitet werden, so dass die Bildnerei ungleich mehr Zeit gekostet haben dürfte als das Verfassen der Kurzgedichte. Kein Wunder also, dass eine Zeitschrift zu diesem Buch eine mehrseitige Bilderstrecke publiziert hat. Nehmen wir’s also als Bilderbuch mit Textbeigabe, vorzugsweise geeignet zum Verschenken unter Freundinnen.

Ella Carina Werner: „Der Hahn erläutert unentwegt der Henne, wie man Eier legt“. Feministische Tiergedichte. Illustriert von Juliane Pieper. Verlag Antje Kunstmann, ohne Paginierung (ca. 160 Seiten). 22 Euro.




Das Böse hat Lust auf sich selbst – Michael Köhlmeiers Roman „Die Verdorbenen“

In diesem Roman mag man sich sogleich unheimlich heimisch fühlen, sofern man mit einer ähnlichen Biographie gesegnet (gepeinigt) ist und z. B. in den 1970er Jahren studiert hat.

Der Student Johann, Michael Köhlmeiers Hauptfigur und Ich-Erzähler in „Die Verdorbenen“, verdingt sich zu jenen Zeiten in Marburg nebenher als Tutor, Kneipenhelfer, Songschreiber und Zeitungskolumnist. Aufregend ist sein Leben freilich nicht, zumal in erotischer Hinsicht ist er ein blutiger Anfänger. Überhaupt weiß er nicht, was werden soll.

Allerdings hat der (wie Autor Köhlmeier) aus Österreich stammende Johann schon mit zarten 6 Jahren auf die Zukunftsfrage seines Vaters (Feuilleton-Journalist in der Provinz, glücklich-weltoffen liiert) geantwortet, er wolle einmal im Leben einen Mann töten. Daraus leitet sich der Spannungsbogen des Romans her: Ob er es als Erwachsener tatsächlich vollziehen wird?

Dieser Johann will nun, mit knapp über 20 Jahren, Schriftsteller werden. Er fristet seine banalen, oft langweiligen Tage mit Schreibübungen auf den Spuren Tschechows und Hemingways. Auch Köhlmeier pflanzt mitunter diese knappen, lakonischen Tatsachen-Sätze mit dem „Es-ist-wie-es-ist“-Gestus. Bloß keine Illusionen, bloß keine Ideologie – und das im aufsässig linken Zeitgeist der frühen 70er. Kurzes Textbeispiel: „Das Café hatte geschlossen. Mein Rucksack stand neben der Tür. Ich hängte ihn mir über die gute Schulter. Ich wusste nicht, wie ich aussah…“

Beim Tutorium hat Johann ein scheinbar unzertrennliches Studi-Paar kennen gelernt: Tommi und Christiane, die einander seit Kindertagen zugetan sind. Zwischen den dreien herrschen bald seltsam verschrobene Anziehungs- und Abstoßungs-Kräfte, die anfangs insgeheim, doch zunehmend dringlich etwas Zerstörerisches freisetzen. Ein armseligeres Kerlchen als Tommi, der phasenweise zu Füßen von Christiane und Johann übernachtet und ansonsten emsig putzige Dinge bastelt, ward selten gesehen.

Auf zielloser Flucht vor sich selbst trampt (70er Jahre!) Johann bis Ostende, wo er brutal überfallen wird und sich ebenso brachial wehrt. Zurück in Marburg, findet er den erstochenen Tommi vor. Sollte etwa Christiane…? Bezeichnendes Zitat: „Das Böse hat Lust auf sich selbst, darum kommt es nicht selten zweimal und gleich schnell hintereinander.“ Sage niemand, wir hätten in diesen Zeiten keinen Anlass, über „das Böse an sich“ nachzusinnen.

Gleichsam tonlos, wie Christiane immer zu reden pflegt, klingt der Roman aus. Aus vierzigjähriger Distanz zum vorher geschilderten Geschehen, ein halbes Leben mit Ehen, Kindern und Trennungen später, trifft Johann noch einmal auf Christiane. Wie wichtig ist es denn wohl noch, ob sie in all der Zwischenzeit aneinander gedacht haben?

Michael Köhlmeier: „Die Verdorbenen“. Roman. Hanser. 158 Seiten. 23 Euro.

 

 




Zum Tod von Marianne Faithfull – Rückblick auf ein Konzert von 1999

Marianne Faithfull 1966 in der niederländischen TV-Sendung „Fanclub“. (Foto: A. Vente / Lizenz: Wikimedia Commons – https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)

Es ist wieder eine dieser ganz und gar traurigen Nachrichten, mit denen man stückweise selbst vergeht: Mit 78 Jahren ist die charismatische Sängerin Marianne Faithfull gestorben. Ihre Bedeutung geht weit über ihre anfängliche Rolle als „Muse der Rolling Stones“ (schon diese altbackene Bezeichnung!) hinaus. 1999 durfte ich sie bei einem Konzert in Köln erleben. Hier noch einmal der damalige Text, auch schon rund ein Vierteljahrhundert alt:

Köln. Ganz in Schwarz gekleidet, betritt sie die Bühne. Seht her, eine Dame! Man könnte sie sich gut in einer distinguierten Hotel-Lobby vorstellen, wartend. Doch schon die Art, wie sie Mikrofon und Zigarette hält, lässt ahnen, dass sie nicht „damenhaft“, sondern glühend, verlangend und oft tragisch gelebt hat: Wir reden von Marianne Faithfull.

Die britische Sängerin, die jetzt im Kölner „E-Werk“ zumeist Songs ihrer neuen CD „Vagabond Ways“ vorstellte, ist eine Frau mit bitteren Erfahrungen. 1964, damals gerade 17 Jahre alt, war sie die Freundin von Mick Jagger und wurde unter den rüden „Rolling Stones“ als sexuelle Trophäe herumgereicht. Immer wieder verfiel sie seither der Drogensucht, doch sie kämpfte sich auch daraus hervor. Sie gehört wohl zu jenen, die eher vor Leidenschaft „verbrennen“ als sich zu bewahren.

All das klingt in ihrer rauchigen, brüchigen, oft aufgewühlten Stimme mit. Wenn sie von den „Wilder Shores of Love“ (Wildere Gestade der Liebe) erzählt, so ist bedrohliche Brandung zu spüren; wenn sie „I Feel Guilt“ (Ich fühle Schuld) haucht, so scheint sie tatsächlich tief verstrickt zu sein.

Die Begleitband arbeitet grundsolide und stellt sich ganz in den Dienste der Sängerin. Wie einfach die Harmonien der Titel auch gelegentlich klingen mögen, Marianne Faithfull macht stets das Besondere, von Erfahrung beglaubigte und Ungeglättete daraus.

Sie singt sozusagen an den Bruchlinien des Lebens entlang – von zerbrochener Liebe, geknickten Flügeln der Hoffnung, brüchiger Welt und letztlich auch von Fragmenten jener Freiheits-Wunschträume der 68er-Generation.

„Broken English“ heißt – gewiss nicht nur zufällig – einer ihrer besten Songs. Und es gibt diese starken Momente zwischen überfallartiger Traurigkeit, Aufbegehren, Trotz, Tapferkeit und plötzlichem Triumph. Beispielsweise, wenn sie die Fäuste ballt zu „Working Class Hero“.

Mit dem Publikum stellt sie sogleich eine vertraute, ja fast schon intime Beziehung her. „We love you, dear!“ ruft einer ihr spontan zu und spricht damit manchen aus der Seele. Ein Konzert kann wie eine Affäre sein. Doch diese hier ist denn doch ein wenig flüchtig, nicht unvergesslich. Dazu sind die ganz und gar innigen Momente etwas zu rar. Etliche Feinheiten ertrinken im Grundrauschen des Rock.

Gegen Schluss stimmt Marianne Faithfull den Stones-Klassiker „As Tears Go By“ an. Es werden nicht die letzten Tränen gewesen sein.




Alles auf die Goldwaage: Peter Handkes Halbschlafprosa „Schnee von gestern, Schnee von morgen“

Peter Handke (82) war immer schon ein großer, unermüdlich Gehender in der weiten Welt und in der Literatur. Wo ist er nicht überall ausgeschritten? Auch sein neues, diesmal recht schmal geratenes Buch „Schnee von gestern, Schnee von morgen“ kreist um dieses stetige, langsame Unterwegssein. Doch wohin hat ihn und seine Protagonisten das alles geführt? Doch nicht etwa in ein Niemandsland?

Es ist wahrlich nicht leicht, sich hineinzufinden in diese fortwährende (Sprach)-Bezweiflung. Ein Wort reibt sich am anderen, ein jedes wird zergliedert – oft tiefgründig (oder gründelnd?), zuweilen aber auch geradezu flapsig oder beinahe albern. Jegliches Wort kommt allerdings auf die buchstäbliche Goldwaage. Soll man gar von Wortklauberei reden? Oder ist es nicht doch entscheidend, wenn es heißt, man solle sagen „Mir ist Zeit!“ statt „Ich habe Zeit.“?

„In Zungen reden“

Insgesamt scheint das Fortkommen des Textes vielfach in einer Art Gestammel zu bestehen, in einer schlaf- und traumwandelnden Sprache, die sich in ihren logischen und etymologischen Widersprüchen schier zu verheddern droht. Tagtraumprosa und Halbschlafprosa nennt es Handke selbst. Immer wieder hebt er mehr oder minder vage Behauptungen mit der Fügung „oder auch nicht“ auf, macht sie auf diese Weise gleichsam ungeschehen. Oder eben auch nicht. Da kenne sich einer aus. Dialektik ist das jedenfalls nicht. Weitaus eher schon der Duktus eines Wesens, das „in Zungen redet“.

Jenseits aller Ideale und Hoffnungen

Ein verbliebenes Ziel ist offenbar die Absichtslosigkeit, ja notfalls das Unnütze. Zitat: „Und wieder so ein elftes Gebot: Unwillkürlich beteiligt sein.“ Da hat einer sprichwörtlich sein‘ „Sach` auf nichts gestellt“, lebt „aufs Geratewohl“, will das Weghören und Übersehen lernen, erwartet vom Dasein rein gar nichts mehr, verortet sich jenseits aller Ideale, Hoffnungen, Theorien, erst recht fern von Meinungen. Die Wette aufs geglückte Leben gehe notwendig verloren, heißt es mehrmals. Sodann ein Summen im Gefolge der Beatles, die bei Handke seit jeher viel gegolten haben: „There will be no answer, let it be…“ Bei den Beatles hieß es freilich noch: „There will be an answer…“ Zwischendurch werden auch noch seltsame Prophezeiungen gestellt: „Mein Tageshoroskop: Sie haben sich heute verirrt auf dem Mond, aber bemühen Sie sich dabei, das, was wahrhaft zählt, im Gedächtnis zu behalten.“ Ach.

Von Schiller bis zu Siw Malmkvist

Zum Ende hin gibt es eine Passage, in der Handke alte Zitat-„Schlachtrösser“ der Geistesgeschichte aufgaloppieren lässt, von Schillers „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“ übers biblische „Tod, wo ist dein Stachel?“ – und dann bis hin zu Siw Malmkvists Schlagerzeile „Liebeskummer lohnt sich nicht, my Darling“ oder Jacques Dutroncs wunderbar simplem Refrain „Et moi, et moi, et moi“. Man könnte mit Ratespielen zur jeweiligen Herkunft der Aussprüche anknüpfen. Doch hier ist das Leben kein Quiz. Hier geht es um die beispielhafte Bilanz eines Lebens.

Rare Momente mit Kindern und Tieren lassen denn doch noch die (schwindende) Ahnung einer anderen Welt aufscheinen. Und der Gehende gerät schließlich – ausgerechnet am Rande einer fürchterlich lärmenden Straße – nicht nur an den bedeutsamen Rand eines Waldes, sondern auch in Erinnerungs-Gefilde seiner Kinderzeit. Sollte das der Beginn einer Rettung sein? Niemand wird es erfahren, weil jener vorangehende Mensch offenkundig spurlos verschwunden ist. Geheimnisvoller Schlusssatz: „…aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging.“

Peter Handke: „Schnee von gestern, Schnee von morgen. Das Lautwerden des einen Kreuz- und Quer-Gehenden zeit seines jeweiligen Innehaltens“. Suhrkamp Verlag, 74 Seiten, 20 Euro.




Zukunft noch im Nebel: Die Revierpassagen wünschen alles Gute für 2025!

Dortmund Hauptfriedhof, 27. Dezember 2024, zur Mittagszeit. (Foto: Bernd Berke)

Noch liegt im Nebel, was das neue Jahr bringen wird. Aber bald wird sich der Dunst ein wenig lichten – und wir werden schon sehen (hoffentlich auch einige Verheißungen).

Eins steht jetzt schon fest: Wir sind auf dem besten Wege, das erste Viertel des 21. Jahrhunderts hinter uns zu bringen. So oder so.




Förmlich oder nüchtern? Dankesbekundungen gestern und heute

Gängiges Emoji für Dankesbekundungen (© EmojiTerra.com /  „Emojis zum Kopieren und Einfügen“)

Vor geraumer Zeit war hier von gängigen Grußformeln die Rede, jetzt geht es mal eben kurz um Dankesformeln. Bitte hier entlang:

Wir vergewissern uns rasch: „Vielen Dank“, „Lieben Dank“ oder – leicht gesteigert – „Vielen lieben Dank“ lauten die vielleicht meistgebrauchten Dankesbekundungen dieser Tage. Manche lassen es auch beim Emoji mit den dankbar aneinander gepressten Händen bewenden. Das erscheint freilich wie ein arg flüchtiger Dank auf bloßen Klick.

Und sonst? Ein schlichtes „Danke“ ist beinahe schon verpönt, weil es nichts hermacht. Es sollte, nach allgemeinem Empfinden, schon wenigstens „Herzlichen Dank“ oder (etwas geschäftsmäßiger) „Besten Dank“ heißen. „Heißen Dank“ entbietet man wohl nur, wenn man es ironisch meint und gar nicht wirklich Dankbarkeit erweisen möchte. Ähnliches gilt für die geflissentlich zelebrierte Wiederholung: „Danke, danke, danke!“ oder fürs multiple „Tausend Dank!“ Vollends abgehoben erscheint das sentimental triefende Liedlein von 1961, dessen (an Gott adressierte) erste von sechs Strophen da lautet: „Danke für diesen guten Morgen / Danke für jeden neuen Tag / Danke, dass ich all meine Sorgen / Auf dich werfen mag.“ Auf dich werfen… Ja, wenn das s o ist.

In Zeiten, da das Wort „Demut“ inflationär gerade bei jenen grassiert, die gar nicht so recht wissen, wie sich Demut überhaupt anfühlt, sind auch schwer veraltete Formulierungen wie „Untertänigsten Dank“ längst nicht mehr „angesagt“. Apropos: Erinnert sich noch jemand an jene Jahre, als immerzu dankbare Buben einen „Diener“ (aka Bückling oder Kotau) machen sollten und dito Mädels einen „Knicks“? Bis ungefähr zur Mitte der 1960er Jahre waren solcherlei Zumutungen üblich.

Nebenformen wie das sarkastische „Danke auch“ (empörte Betonung auf „auch“) klingen unterdessen ebenso selbstgefällig wie das vor allem online weithin verwendete „Danke für nichts“ oder unfassbar scherzhafte Verballhornungen wie „Danke, Anke!“

Nicht allzu glaubhaft hört es sich an, wenn jemand behauptet, „unendlich dankbar“ zu sein oder wenn jemand sich präsidial hierzu versteigt: „Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet!“ Wer sich so äußert, wird vielleicht auch schwülstig von „Dankesschuld“ und „Dankesbezeugung“ reden. Dankenswerterweise sind solche Wallungen aus der Mode gekommen.

Gar zu förmlich darf es also nicht mehr sein, allzu nüchtern freilich auch nicht.

Da fällt mir gerade noch ein, was noch heute so oft zu Kindern gesagt wird, die einfach unumwunden etwas haben wollen: „Wie heißt das Zauberwort?“ Eigentlich sind es ja zwei: Bitte und Danke. Viel mehr braucht es doch auch nicht, oder?

 




Heillose Heilanstalt: Heinz Strunks Roman „Zauberberg 2″

Welch ein tollkühnes Unterfangen, schon mit dem Romantitel und sodann mit der Handlung in einen Vergleich mit Thomas Mann einzutreten! Mit „Zauberberg 2″ nimmt Heinz Strunk wie selbstverständlich Bezug auf Manns großen, just vor 100 Jahren erschienenen Roman „Der Zauberberg“, der bekanntlich hauptsächlich in einem Sanatorium zu Davos spielte und wortmächtig aus einem gewaltigen Gedanken- und Bildervorrat schöpfte.

Strunks Protagonist namens  Jonas Heidbrink macht sich hingegen mit dem eigenen Fahrzeug in den abgelegenen und untervölkerten deutschen Nordosten auf. Der Aufenthalt in der Heilanstalt, in die er sich begibt, kostet pro Nacht exorbitante 823 Euro. Selbstzahler sind gern gesehen. Heidbrink, der sich ein Start-up mit Hightech-Idee hat abkaufen lassen, verfügt fraglos über das Geld, ist aber seelisch ein armer Tropf, schon längst zu Tode betrübt. So drastisch erinnert er sich bei Strunk an seine Jugendjahre: „Bei jeder Gelegenheit hatte Heidbrink seine Verzweiflung wegzuonanieren versucht – seine Wichsdichte war wirklich schwindelerregend hoch gewesen. Not in Wichse verwandeln.“ Das ist fürwahr ein anderer Sound als bei Thomas Mann, der in seinen Tagebüchern höchstens verdruckst eine „Niederlage“ eingestand, wenn es ihn über-mannt hatte.

„Böser Blick“ und Lachnummern

Heinz Strunk erweist sich erneut als Meister der wirksamen, zuweilen fuchsfrechen Zuspitzung, der seine Figuren mit „bösem Blick“ betrachtet und zu Karikaturen ihrer selbst gerinnen lässt. Ärzte, Psychiater, Psychologen und sonstige Therapie-Fachkräfte geraten so reihenweise zu Lachnummern, diverse Maßnahmen (Musiktherapie, Kunsttherapie, Fototherapie, Biblio-Therapie, Tanz und Bewegung et cetera pp.) erscheinen als ebenso sterbenslangweilige wie groteske Zusammenkünfte, unterfüttert mit schwer erträglichem Psycho-Kauderwelsch. Die „Kulturabende“ des nur äußerlich noblen, schlossartigen Hauses sind unterdessen gottserbärmlicher Schmock. Nicht nur bestens vorstellbar, sondern höchst wahrscheinlich, dass derlei Befunde in vielen Punkten der traurigen Wirklichkeit entsprechen.

Zu allem Überfluss teilt man Heidbrink auch noch – gleich nach der Aufnahme – Verdachtsmomente für ein Melanom (Hautkrebs) und einen Nierentumor mit. Eine Folge: Ständig werden uns fortan seine „Vitaldaten“ (Laborwerte) mitgeteilt. Wie sehr wir um ihn bangen, sei dahingestellt. Nicht, dass auch wir in der Lektüre noch dem bösen Blick verfallen sind… Oder verbirgt sich hinter all der Spottlust doch heimliche, sozusagen verschämte Empathie?

Quälende Schweiger und Schwätzer

Lauter desolate Existenzen fristen in der Klinik ihr Leben – bei langsamst dahinkriechender Zeit; Tag um Tag, Monat für Monat, ohne wesentliche Veränderungen. Wir begegnen gleichermaßen quälenden Schweigern und Schwätzern am abendlichen Esstisch. Da ist etwa ein heilloser, reichlich prolliger Säufer namens Klaus oder jener Pseudo-Philosoph Zeissner, der so manche Suada absondert. Dazu die zerbrechliche, durchaus vorgestrige Fabrikerbin Margot oder eine seltsam unzertrennliche Zweiheit: Eddy und Pia, denen gleichfalls auf Erden nicht zu helfen ist. Wer daran Vergnügen findet, mag die Bezüge zu Thomas Manns Figureninventar herstellen. Demnächst werden sich Doktorierende damit befassen.

Diese Beschreibung der Klinik mutet schließlich an wie die generelle Bestandsaufnahme einer miserablen Welt: „Übrig bleibt ein Haufen Irrer und Bedürftiger, Verbrauchter und Versehrter, Belämmerter und Benommener, Hinkender und Humpelnder.“

Welch ein Jahrhundert-Abstand zu Thomas Mann!

Heinz Strunk gelingen rasante und prägnante Charakterisierungen zwischen Gelächter und Depression. Unterhaltsamkeit kann man diesem Schriftsteller (einst Musiker und Comedian) gewiss nicht absprechen, sein Roman liest sich weg wie sonst was. Aber sind es nicht manchmal doch etwas herabgedimmte Thomas-Mann-Anklänge, die er uns auftischt? Andererseits: Soll er denn den ichzentrierten Großbürger Thomas Mann nachahmen oder paraphrasieren? Das geht ja nun auch nicht. Auf sprachlichen Höhen (und in Untiefen) bewegt sich Strunk mitunter gleichfalls, wenn auch nicht in Sphären des Altvorderen.

Der vierte und letzte Teil des Romans handelt vom Verfall der Klinik, deren Schließung so unvermeidlich ist wie das finale Schicksal von Jonas Heidkamp. Ins Kapitel „Kirgisenträume“ fließen etliche Originalzitate aus Thomas Manns „Zauberberg“-Roman ein, die man sogleich am hohen Ton erkennt und die im Anhang penibel aufgeführt werden. Welch ein Abstand zu jenen Zeiten und jener Sprache! Wahrlich ein ganzes Jahrhundert, in dem sich die Gattung jedoch gar nicht so sehr verändert hat.

Heinz Strunk: „Zauberberg 2″. Roman. Rowohlt Verlag. 288 Seiten, 25 Euro.

 

 




Spinnenwelt, Kunstbetrieb, Getuschel – Buchtipps vor dem Fest

Es ist mal wieder an der Zeit, in vorweihnachtlichen Tagen ein paar gesammelte Hinweise auf neue Bücher zu geben.

Das große Krabbeln

Zunächst ein Sachbuch-Thema, das viele Leute weniger erquicklich finden dürften. Jan Mohnhaupt, übrigens gebürtiger „Ruhri“ vom Jahrgang 1983, legt sein Buch „Von Spinnen und Menschen. Eine verwobene Beziehung“ (Hanser, 255 Seiten, 24 Euro) vor. Schon beim bloßen Titel könnte manche(n) das Gruseln anfassen. Doch nach der Lektüre mögen sich vielleicht etliche Arachnophobiker ein wenig kuriert fühlen. Mohnhaupt hat nicht weniger als eine Kulturgeschichte der Spinnenwesen verfasst, wie sie sich auf vielfältige Weise in die Geschichte der Menschheit einbeschrieben hat, so u. a. auch ins Christentum und in verschiedene Epochen, beispielsweise die napoleonische Zeit. Unsere Spezies hatte und hat demnach – auch im positiven Sinne – viel mehr mit den Spinnen zu tun, als wir es uns haben träumen lassen. Der Autor, der zuvor u. a. mit „Tiere im Nationalsozialismus“ aufhorchen ließ, leuchtet so ziemlich alle Aspekte seines Themas gründlich aus – oder soll man sachgerecht und wohlmeinend sagen: er spinnt sie weiter und weiter fort? Schon die reichhaltigen Anmerkungen lassen ahnen, wie intensiv Mohnhaupt recherchiert hat.

Künstler unter Einfluss

 

 

 

 

 

 

 

Dies ist ein zeitgenössischer Roman von einigem Kaliber. Als die Handlung einsetzt, ist es November im Jahr 2022. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bestimmt fast alle Debatten. Christoph Peters bricht in seinem Buch „Innerstädtischer Tod“ (Luchterhand, 302 Seiten, 24 Euro) diese weltpolitische Lage höchst plausibel auf die Befindlichkeiten seiner Figuren herunter, besonders auf den Künstler Fabian Kalb, der just seine erste Einzelausstellung in Berlin bekommt und dessen Verwandtschaft dazu aus Krefeld anreist. Kurz vor der Vernissage wird der Onkel des Künstlers, ein Protagonist der „Neuen Rechten“, unangenehm aktiv. Der Vater sucht unterdessen nach Winkelzügen, um weiterhin seine Krawatten nach Russland exportieren zu können. Und der Galerist? Hat offenbar Frauen belästigt. All das überschattet die Karriere-Hoffnungen Fabian Kalbs. Alsbald geht es längst nicht mehr nur um die hehre Kunst, sondern um Untiefen (nicht nur) des Kunstbetriebs. Ein dicht und spannend, dringlich und durchdringend erzählter Roman. Übrigens: Christoph Peters bewegt sich ein- und ausdrücklich auf den literarischen Spuren von Wolfgang Koeppen (siehe weiter unten).

Bauen für die Zukunft

 

 

 

 

 

 

 

Für Architektur sollten wir uns mehr interessieren, um laufende Planungen kritisch bewerten zu können – erst recht im regionalen und lokalen Umfeld. Dabei könnte jetzt ein neuer Band aus dem Dortmunder Kettler Verlag helfen: Der Titel „Atlas Ruhrgebiet“ (Kettler Verlag, 264 Seiten, Katalogformat, 48 Euro) führt womöglich etwas in die Irre, handelt der Band doch nicht so sehr von der allgemeinen städtischen Topographie, sondern eben von beispielhaften Bauten. Der Untertitel klärt bereits ein wenig den Ansatz: „Von der Arbeitersiedlung bis zum experimentellen Wohnungsbau“. Es geht nicht um anheimelnde Nostalgie, sondern vorwiegend um (einstmals) zukunftsweisende Bauformen. Verantwortlich zeichnen Moritz Henk, Anna Jessen und Ingmar Vollenweider vom Lehrstuhl Städtebau an der TU Dortmund. Tatsächlich ist dies ein fachwissenschaftlich ausgearbeiteter Band, der sehr ins Detail geht – auch mit exakten Planzeichnungen, Grundrissen und Schnitten. Einige Projekte würde man spontan dem Beton-„Brutalismus“ zuordnen wollen, doch wird hier wohl eine Ehrenrettung oder zumindest sachlich-nüchterne Beurteilung solchen Bauens angestrebt, übrigens auch mit Beispielen aus kleineren Revierstädten wie Dorsten und Marl.

Den „anderen“ Koeppen entdecken


Legendär sind die Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen (1906-1996 – „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“, „Der Tod in Rom“) und dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Immer und immer wieder musste Koeppen den Verleger vertrösten und in andauernder Schreibkrise um Vorschüsse bitten. Doch den großen Roman, den sich die literarische Republik gerade von ihm erwartete, hat er nach den drei oben erwähnten Titeln gleichwohl nicht mehr hervorgebracht. Das heißt aber keineswegs, dass er gar nichts mehr geschrieben hätte.

Zwei weitere Bände der sehr verdienstvollen (von Hans-Ulrich Treichel herausgegebenen) 16bändigen Koeppen-Ausgabe bei Suhrkamp versammeln nun Romanfragmente und Feuilletons. Der Feuilleton-Band enthält Arbeiten von 1923 bis 1948, also nicht die späteren Zeitungsbeiträge, die Koeppen als bereits arrivierter Schriftsteller verfasst hat. Diese finden sich in anderen Bänden der Werkausgabe. Wie sich Koeppen zumal die 30er Jahre erschrieben hat, ist allerdings aufregend genug.

Bei den Romanfragmenten aus einer Zeitspanne von rund 60 Jahren (u. a. „Die Jawang-Gesellschaft“, „Ein Maskenball“, „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“) handelt es sich um Projekte, die eine beabsichtigte Vollendung zumindest erahnen lassen, aber bislang weitgehend ungedruckt geblieben sind. Auch zahlreiche Notizen und Vorüberlegungen gehören hinzu. Mithin haben wir hier auch sorgsam rekonstruierte Werkstatt-Einblicke, wie es sich bei einem Autor von Koeppens Format gehört.

Die Texte beider Bände werden durch umfangreiche Anmerkungs-Apparate erschlossen. Es sind editorische Glücksfälle für eine fortgeschrittene Leserschaft.
Wolfgang Koeppen: Romanfragmente (Werke, Band 11, 695 Seiten, 58 Euro)
Wolfgang Koeppen: Feuilletons (Werke, Band 13, 721 Seiten, 58 Euro), beide im Suhrkamp Verlag.

Botho Strauß, Tag für Tag

 

 

 

 

 

 

 

„Wenn er es schon nicht mehr versteht, so sucht er es durch lückenlose Beschreibung zu bannen.“ Das ebenso hermetisch wie kostbar anmutende Zitat, eines unter vielen von ähnlicher Art, stammt von Botho Strauß, der vor wenigen Tagen (2. Dezember) 80 Jahre alt geworden ist. Im Vorfeld dieses Datums ist sein neues Buch „Das Schattengetuschel“ (Hanser, 230 Seiten, 26 Euro) erschienen. Die Texte des Bandes mäandern durch vielerlei Vorfälle und Zustände, Strauß beginnt mit einer Episode aus dem Leben August Strindbergs (Vater wartet schmerzlich vergebens auf seinen Sohn), blickt zurück aufs alte West-Berlin der 70er Jahre, kündet von Altern, Vergeblichkeit, Entkräftung.

Diese hochreflektierte, zuallermeist ungemein präzise Prosa, durchwirkt mit Partikeln des Theaters und der Mythologie, wird man vielleicht gar nicht in einem Zug durchlesen wollen, obwohl sie einen nicht so leicht loslässt. Denkbar wäre es, dass man das Buch nutzt wie ein Brevier, welches man regelmäßig Tag für Tag aufschlägt und in dosierter Form zu sich nimmt, um etwa die eine oder andere Losung (nicht: Lösung) zu finden. Es sind überwiegend kurze Passagen, ja Miniaturen, die sich zum Schluss aphoristisch verdichten, bis zur Grenze des Verstummens. In diesem Sinne noch ein bezeichnendes Zitat, das offenbar auf ungeahnte „Erleuchtung“ aus ist: „Es muß etwas geben jenseits von Irrationalismus und Intelligenz – ein drittes Geschlcht des Geistes, die Luziden. Aufklärung brachte nicht genug Licht“. Derlei Sätze werden wahrscheinlich wieder Ärger mit „woken“ Zeitgenossen hervorrufen; wenn die den konservativ gebliebenen, freilich hie und da geläutert erscheinenden Botho Strauß überhaupt noch zur Kenntnis nehmen wollen.

 

 




Goethe-Institut: Harte Jahre, schmale Mittel

Es sind harte Jahre – auch fürs weltweit aufgestellte Goethe-Institut, das deutsche Sprache und Kultur möglichst global vermitteln soll. Gesche Joost, erst seit 19. November neue Präsidentin des dem Außenministerium angegliederten Instituts, spricht von einer „Welt der neuen Rauheit“, in der man umso dringlicher für demokratische Werte einstehen wolle.

Gesche Joost, seit gerade mal zwei Wochen Präsidentin des Goethe-Instituts. (Foto: © Loredana La Rocca / Goethe-Institut)

In Zeiten des erstarkten Rechtspopulismus, so Joost auf der Jahrespressekonferenz weiter, müsse man sich auf die zweite Amtszeit von Donald Trump und auf den Fortgang kriegerischer Krisen (Ukraine, Nahost etc.) einstellen. In diesem Umfeld gelte es, dem Institut und seinen Anliegen mehr „Sichtbarkeit“ zu verschaffen und „Resilienz“ (Widerstandskraft) zu entwickeln. Gängige Schlagworte, die wohl nicht fehlen dürfen.

Etat erneut gekürzt

All das muss jedenfalls auch noch mit schmalen Finanzen bewirkt werden: Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, stellte klar, dass man nach dem Aus der „Ampel“-Koalition nur mit einem vorläufigen Haushalt wirtschaften könne. Der aktuelle Regierungsentwurf sehe abermals Kürzungen beim Goethe-Institut vor – um 4,1 Mio. Euro (rund 2,8 Prozentpunkte) auf 226,2 Mio. Euro; dies wiederum bei allseits steigenden Kosten, die sich besonders international bemerkbar machen. Inzwischen sei man durch ständige Einsparungen (etwa 10% seit der Corona-Pandemie) wieder auf dem Niveau von 2017 angelangt. Ob man bei einer neuen Regierung mehr Gehör finden wird, steht wahrlich dahin. Die Hoffnung stirbt auch hier zuletzt.

Rekordeinnahmen durch Sprachkurse

Unterdessen wird gezwungenermaßen eine „Transformation“ des Instituts vorangetrieben, worunter vor allem eine Verschlankung zu verstehen ist. Struktur- und Verwaltungskosten sollen im größeren Stil reduziert werden. Eine Reihe von Instituts-Schließungen (u. a. in Bordeaux, Genua, Turin, Rotterdam, Osaka, Washington) ist weitgehend über die Bühne gegangen, die Zentrale muss derweil mit 27 Stellen (7,5%) weniger auskommen. Dadurch frei werdende Mittel sollen verstärkt für Sprachvermittlung eingesetzt werden. In diesem Bereich hat man ohnehin schon einen neuen Rekord aufgestellt. Bereits im Oktober verzeichnete das Institut für 2024 weltweit über 1 Million abgenommene Deutsch-Prüfungen und Einnahmen von 152 Millionen Euro. Angesichts der seit Jahren sinkenden staatlichen Förderung bedeutet dies freilich nur eine Teilentlastung.

Moskauer Niederlassung radikal geschrumpft

Neben einigen schmerzlichen Schließungen gab es vereinzelt auch ein paar Neueinstiege mit anderen Schwerpunkten – in Jerewan (Armenien) und Bischkek (Kirgisistan), dazu kommen Präsenzen in Chisinau (Republik Moldau) und Houston (USA). Moskau, mit einst 180 Mitarbeitern weltweit größtes Goethe-Institut, ist jedoch unterm Druck der Verhältnisse vehement auf 12 Leute geschrumpft (plus 3 in St. Petersburg). Dennoch wird versucht, den Betrieb notdürftig aufrecht zu erhalten. Bloß nicht alle Fäden abreißen lassen, heißt die Devise.

Fachkräfte auf Deutschland vorbereiten

Eine seiner Hauptaufgaben sieht das Goethe-Institut darin, dringend benötigte Fachkräfte nach Deutschland zu holen und diese mit Spracherwerb und nachhaltigen Integrations-Angeboten auf die neue Umgebung vorzubereiten. Hierbei konkurriert man mit Ländern wie Japan, Kanada oder den USA. Immerhin: Erste Erfolge zeigen sich offenbar bei Anwerbungen in Indien oder Vietnam. Wie Goethe-Generalsekretär Ebert ausführte, gibt es seit den AfD-Wahlerfolgen allerdings viele bange Nachfragen, ob man denn in Deutschland auch willkommen sei.

Die beste Bratwurst von Hanoi

Goethe-Präsidentin Joost (ansonsten Professorin für Designforschung an der Berliner Hochschule der Künste – HdK) versicherte, sie werde in ihrer Amtszeit nicht nur auf hehre Hochkultur achten, sondern auch auf alltägliche Dinge des niedrigschwelligen Zugangs. Beispiel? Sie habe kürzlich das Goethe-Institut in Hanoi (Vietnam) besucht. Es habe sich herumgesprochen, dass es dort nicht nur gute Sprachkurse gebe, sondern auch „die beste Bratwurst“ weit und breit.

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P. S. Die Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts hat heute in Berlin stattgefunden. Ich war online via Zoom dabei.




Was bringt das Netzwerk Bluesky?

Um es gleich vorwegzunehmen: So richtig zufrieden bin ich mit dem sozialen Netzwerk Bluesky noch nicht. Die unsägliche Dreckschleuder X (ehemals Twitter) von Elon Musk habe ich vor einiger Zeit leichten Herzens verlassen. Der Kerl wird den einen oder anderen Abgang sicherlich verschmerzen, aber wenn es in die Millionen ginge, wenn Deppen und Despoten der Dekade dort unter sich blieben…

Screenshot einer Bluesky-Einstiegsseite

Ach, wenn doch nur mehr globale Hochkaräter wie der britische „Guardian“ sich dort verabschiedeten! Doch man freut sich auch schon, dass Fußballclubs wie der FC St. Pauli, Werder Bremen oder der SC Freiburg jüngst X den Rücken gekehrt haben (Wann folgt endlich Borussia Dortmund – oder hat Rheinmetall Einwände dagegen vorgebracht?), oder wenn der Deutsche Journalistenverband (DJV) sich abwendet. Ein Effekt beim „X-odus“: Immerhin hat Bluesky mittlerweile die 20-Millionen-Marke deutlich überschritten, zeitweise sind täglich rund 1 Million Accounts hinzu gekommen. Da scheint ein Sog zu wirken.

Lassen wir X auch in diesem Text hinter uns. Bluesky (weitere Alternativen: Mastodon, Threads) scheint mir einstweilen recht unstrukturiert und dem Zufall unterworfen zu sein. Einen nennenswerten Überblick über das, was vorgeht, kann man sich zwar verschaffen, aber eigentlich nur, wenn man den Auftritten diverser klassischer Medien (vulgo Qualitätszeitungen) folgt. Das kann man aber auch auf anderen Wegen haben. Dazu bräuchte es kein weiteres Netzwerk.

Spaßeshalber habe ich gleich mal den Bluesky-Account des frischgebackenen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz aufgerufen. Zum nämlichen Zeitpunkt hatte er erbärmlich wenig Follower, gerade mal 190 an der Zahl, heute (28. November, 12.42 Uhr mittags MEZ) sind es 432. Ähnlich wie schon bei TikTok (das ich konsequent meide), ist Scholz bzw. sind seine Ghostwriter offenbar sehr spät beigetreten, es liegen bis jetzt lediglich vier läppische Beiträge vor. Verschnarchte SPD halt. Oder wie soll man das sonst deuten? Wobei ich die parteifrommen Äußerungen, die in Scholzens Namen gepostet werden, nicht allzu schmerzlich vermissen würde.

Vollends rätselhaft ist mir, wer meiner Wenigkeit zu folgen beliebt. Es sind überwiegend Leute aus fernen Weltgegenden, mit denen ich niemals auch nur im Geringsten zu tun hatte, auch nicht virtuell. Ausweislich ihrer bisherigen Beiträge sind sie mental auch vollkommen anders unterwegs. Wie kommen sie auf mich? Was suchen sie bei mir? Oder sind es Bots und Trolle? Seltsam genug auch die Tatsache, dass mir z. B. der saarländische Ableger der Piratenpartei folgt.

Kurz und weniger gut: Mich beschleicht das Gefühl, bei Bluesky ziemlich viel zu verpassen und irgendwie hinter der Musik herzulaufen. Die einstweilen ungleich zivilisierteren Umgangsformen bei Bluesky (im Vergleich zum pöbelhaften X) sind angenehm, machen aber das Informations-Defizit bei weitem nicht alleine wett. Es fehlen hier eben viele, viele Leute, die etwas zu sagen hätten oder qua Amt und Würden (hihi) wichtig wären. Und es fehlen einige nützliche Funktionen.

Das Ganze muss noch weiter wachsen, auch auf der Anbieterseite. Wie die Bluesky-Geschäftsführerin Rose Wang im FAZ-Interview verriet, hat das Netzwerk bislang nur 20 Mitarbeiter (Stand 26. November). Kaum zu glauben. Der prozentuale Anteil aktiver Accounts, die Beiträge publizieren, ist immerhin wohl deutlich höher als bei der Konkurrenz. Apropos Konkurrenz: Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, können Bluesky und Mastodon in beiden Richtungen miteinander verknüpft werden. Und noch’n Presse-Bezug: Laut „Spiegel“ hat sich Stephen King von X verabschiedet, hat sodann Bluesky ausprobiert, ist aber schließlich zu Threads gewechselt. Robert Habeck sei unterdessen sogar zu X zurückgekehrt… Alles fließt.

Wie auch immer: Spannende, gern auch kontroverse (aber faire) Debatten können bei Bluesky einstweilen nur sehr bedingt aufkommen. Somit fehlt auch die Motivation, sich selbst „einzubringen“. Oder habe ich nur noch nicht den richtigen Kniff gefunden und den „Discover-Feed“ noch nicht ausreichend bemüht?

Kann ja alles noch werden? Hoffen wir’s.




Neuer Verlag in Dortmund: Romanische Literaturen im Blick

Verleger Lucas Franken (Foto: © Gideon Rothmann)

Wer hätte das gedacht? In Dortmund, das nicht nur keine Kinostadt mehr, sondern (seit dem Hinschwinden so grundverschiedener Häuser wie Harenberg oder Grafit) auch keine Verlagsstadt mehr ist, gründet sich tatsächlich ein neuer Buchverlag. Lasst Vorurteile sprechen: Der Neuling wird doch sicherlich ein halbgares Programm pflegen, vermutlich mit wohlfeiler Ruhri-Anmutung und Touri- oder Fußball-Schwerpunkt?

Nichts da! Weit gefehlt. Der Franken Verlag meint es literarisch richtig ernst und seriös. Am 15. Januar 2025 soll das erste Buch erscheinen: „Feinschnitt Barcelona“ (ca. 250 S., 24 €) von Adrià Pujol Cruells, eine Mischung aus Autobiographie und Essay, aus dem Katalanischen übersetzt von Matthias Friedrich. Wir werden an dieser Stelle beizeiten darauf zurückkommen.

Adrià Pujol Cruells, Autor des Buches „Feinschnitt Barcelona“. (Foto: © Víctor P. de Óbanos)

Generell will man sich bei Franken in den romanischen Literaturen umtun und möglichst hochkarätige Übertragungen publizieren. Deutlich sichtbares Zeichen dafür soll die „Nennung der Übersetzer*innen auf dem Cover“ sein – eine lobenswerte, bislang ziemlich seltene Praxis in der Buchbranche. Mehr noch: Auch die verantwortlichen Lektoratskräfte, samt und sonders Romanistik-Fachleute, sollen die jeweilige Fremdsprache beherrschen. Spontan habe ich mich an den sehr inspirierenden, leider nicht mehr selbstständig existierenden Bremer Manholt Verlag (ab 2004 als edition manholt bei dtv) erinnert gefühlt, der sich der frankophonen Literatur in deutschen Übersetzungen gewidmet hat.

Zitiert sei der Dortmunder Verlagsgründer Lucas Franken, der in Bochum und Paris Romanistik studiert hat und seit 2020 in Dortmund ein Sprach- und Übersetzungsbüro leitet: „Bei uns erscheinen Texte, die woanders vielleicht übersehen werden – etwa, weil literarische Texte aus ,kleineren‘ Sprachen den größeren Verlagshäusern zu nischig sind. Oder weil wir Texte (wieder)entdecken, die im Ausland längst den Status von Klassikern genießen, im deutschsprachigen Raum aber bisher noch nicht veröffentlicht wurden.“ Wie auch immer: Pro Jahr sollen künftig ein bis zwei Titel erscheinen, man beginnt also vernünftig und vorsichtig, gleichsam auf Sparflamme.

Es wird also gewiss kein Verlag für die Massen oder den Mainstream werden, vielleicht aber einer mit unterschwelliger Tiefenwirkung, die sich auch in überregionalen Medien abzeichnen könnte. Warten wir’s gespannt ab.

Franken Verlag, Reinoldistraße 2-4, 44135 Dortmund
https://frankenverlag.de




Sensation! Das Ruhrgebiet heißt wieder Ruhrgebiet

Ein Bildmotiv der neuen Ruhrgebiets-Kampagne: smarte junge Frau mit Laptop auf alter Industrie-Lok. (Foto: RVR)

Welch eine aufregende Mitteilung uns aus Essen bzw. Gelsenkirchen ereilt! Das Ruhrgebiet darf wieder schlichtweg Ruhrgebiet heißen, wenn es um die Werbung für die Region geht. Das Revier (früher auch schon mal von übereifrigen Kreisen „Ruhrstadt“ genannt) muss sich also nicht mehr zur „Metropole Ruhr“ aufplustern und sich als Weltstadt gerieren.

Garrelt Duin, noch relativ neuer Regionaldirektor beim Regionalverband Ruhr (RVR) und vormals NRW-Wirtschaftsminister aus den Reihen der SPD,  mochte das Metropolen-Gerede nicht mehr so gern hören. Diese Regung lässt sich gut nachvollziehen. Wie das selbsternannte Ruhrgebiets-Zentralorgan, die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ), gleichsam hochroten Kopfes berichtet, soll die Gegend künftig mit dem Slogan „Ruhrgebiet – Die grüne Industrieregion“ beworben und vermarktet werden. Tja. Ob das (auf Neudeutsch) ein „Game Changer“ sein wird?

Plakate und Schaukästen in maßgeblichen Städten wie Berlin, Frankfurt und München sollen es den – womöglich ahnungslosen – Bewohnerinnen und Bewohnern beibringen. Laut RVR finden die Auswärts-Auftritte in „Out-of-Home-Flächen“ statt. Man ist eben nicht nur heimatverbunden, sondern auch weltläufig. Und natürlich total digital: Die frohe Botschaft soll in allen wesentlichen sozialen Netzwerken verbreitet werden. Alles andere wäre ja auch fahrlässig. Ohne TikTok und Konsorten geht bekanntlich nicht mehr viel.

Das Kampagnen-Motto borgt man sich derweil bei Herbert Grönemeyer, dessen altes, leicht angegrautes Bochumer Revier-Image sie hierzulande einfach nicht ruhen lassen wollen, obwohl er längst nicht mehr im „Pott“ lebt. „Bleibt alles anders“ hieß 1998 eines seiner Studioalben, „Hier bleibt alles anders“ paradoxt der RVR nun geflissentlich hinterdrein. RVR-Chef Garrelt Duin vergaß bei der Kampagnen-Präsentation in Gelsenkirchen nicht zu erwähnen, dass Grönemeyer die Anleihe gebilligt habe; keine Selbstverständlichkeit, hat „Herbie“ doch jüngst dem grünen Vizekanzler und Kanzlerkandidaten Robert Habeck untersagt, seinen Song „Zeit, dass sich was dreht“ zitierend zu verwenden – und sei’s auch nur leise gesummt. Auch der CDU wurde keine Song-Erlaubnis zuteil.

Wie üblich, haben für die neue Kampagne wieder etliche Köpfe geraucht, gewiss nicht unentgeltlich. Wie ebenfalls üblich, wurde das Resultat nicht im Revier selbst ausgebrütet, sondern bei der Agentur Scholz & Friends in Hamburg. Jetzt aber bitte keine müden Querverweis-Scherze mit dem Namen Scholz! Oder mit friends und Hamburg. Am besten mal gar keine Scherze, woll?!

 




„Ausgeliefert“ – Klassenkampf mit Apps und GPS

Damn, clusterfuck, cringe as fuck, shiny. Nur eine kleine Auswahl zwischendurch hingeworfener Wörter aus dem Prolog zum eigentlich auf Deutsch verfassten Buch. Sollte das etwa besonders „cool“ klingen?

Orry Mittenmayers Buch „Ausgeliefert“ prangert jedenfalls die Methoden gewisser Essens-Lieferdienste an, enttäuscht allerdings am Anfang, wo es doch gerade in den Text locken sollte. Auch der einschläfernde Bandwurmsatz des Untertitels ist in diesem Sinne nicht hilfreich, er lautet: „Wie Lieferdienste ihre Fahrer ausbeuten, warum uns das alle ärmer macht – und was wir dagegen tun können.“  Erst der konkrete, recht späte Einstieg in die eigentliche Materie liest sich dann deutlich spannender.

Lückenlose Überwachung

Da erfährt man endlich einiges aus dem miesen Alltag der Auslieferungsfahrer („Rider“). Es geht – am Beispiel Köln – um die lückenlose Orts- und Zeit-Überwachung per GPS; um die fiesen Kontrollanrufe der oft gerade mal dem BWL-Studium entronnenen „Dispatcher“, die schon bei der kleinsten Verzögerung ihr armseliges Repertoire zwischen geheuchelter Jovialität, Herablassung und Drohung abspulen. Zynischer noch: Sie verkaufen den gehetzten Radfahrern den ausbeuterischen Knochenjob als sportlichen Startup-Lifestyle. Die sportive „challenge“ bestand u. a. darin, kaum Zeit für Toilettengänge oder sonstige Pausen zu haben. Der Algorithmus der Firmen-Apps gab den gnadenlosen Takt vor.

Wo ist nur das Trinkgeld geblieben?

Der aus einfachen Verhältnissen stammende Mittenmayer war dringend auf den (kargen) Lohn angewiesen, weil er die Zeit bis zum BAföG überbrücken, die Abendschule besuchen und anschließend studieren wollte. Für ein 2024 erscheinendes Buch ist das Geschehen schon recht lange her und eventuell nur bedingt aktuell: Ab 2016 nahm der Autor Jobs bei Foodora und Deliveroo an, zwischen 9 und 10 Euro gab’s damals pro Stunde. Der Umgang mit umso dringender benötigtem Trinkgeld war wohl alles andere als transparent. Sollte da vielleicht mancher per Karte oder Überweisung zugezahlte Euro in der Unternehmenskasse statt in den Taschen der Fahrer gelandet sein?

Schon zu Beginn mussten die Fahrer für die Lieferboxen offenbar je 50 Euro Pfand entrichten. Auch danach trugen sie alle Risiken, beispielsweise mussten sie etwaige Schäden am eigenen Fahrrad auf eigene Kosten beseitigen. Von Gefahren im hektischen Straßenverkehr mal ganz großzügig abgesehen.

Unaufhörliches Lob der Gewerkschaft

Als Mittenmayer und andere sich wehrten, versuchten die Firmen alles, um die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Doch mit der rasant anwachsenden Protest-Aktion „Liefern am Limit“ erlangten er und seine Mitstreiter bundesweite Aufmerksamkeit – nicht zuletzt durch die Hilfe der Gewerkschaft. Solidarität hat eben auch im Klassenkampf neuerer Machart keineswegs ausgedient.

Gegen Schluss plätschert das Buch leider etwas entkräftet aus. Mittenmayer betont noch und noch, was er bis dahin schon vielfach mitgeteilt hat: Wie wichtig Gewerkschaften (hier besonders: die NGG) seien, wie ihn der Kampf für Arbeitnehmerrechte „empowered“ habe, wie er als Schwarzer und (Hör)-Behinderter gegen alle Wahrscheinlichkeit und viele Widerstände doch noch höhere Bildungsabschlüsse erlangt habe. Alles gut und richtig. Respekt vor dieser Energie- und Lebensleistung. Aber irgendwann klingt es dann doch nach Gebetsmühle und Litanei.

Orry Mittenmayer (mit Harald Braun): „Ausgeliefert“. Kiepenheuer & Wisch, 224 Seiten, 18 Euro.