Das Geheimnis des Liedes heißt Konzentration: Pianist Graham Johnson tritt jetzt zum 50. Mal beim Klavier-Festival Ruhr auf

Gastautor Robert Unger, seines Zeichens Pressesprecher beim Kurt Weill Fest in Dessau,  über den Pianisten Graham Johnson, mit dem er ein längeres Gespräch geführt hat – vor allem über die Kultur des Kunstliedes:

Seit gut einem Monat ist das Klavier-Festival Ruhr im Gange und feiert sein 30-jähriges Bestehen und viel mehr noch die Kunst des Klavierspiels. 2018 jährt sich der 100. Todestag Claude Debussys; somit ist es nicht verwunderlich, wenn Intendant Franz Xaver Ohnesorg einen Schwerpunkt auf diesen Komponisten und auf französische Musik im Allgemeinen legt.

Der Pianist Graham Johnson (© Malcolm Crowthers)

Der Pianist Graham Johnson (Foto: © Malcolm Crowthers)

In der kommenden Woche, vom 14. bis 16. Mai (jeweils um 20 Uhr) präsentiert im Schloss Herten ein „Urgestein“ des Festivals, Graham Johnson, gemeinsam mit einer exquisiten Auswahl an Sängern französische Lieder und begeht damit seinen 50. Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr.

Graham Johnson ist, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, einer der maßgeblichen Liedpianisten der Gegenwart. Geboren im damaligen Rhodesien, studierte er an der Royal Academy of Music, bei Gerald Moore und Geoffrey Parsons. 1972 besuchte der Pianist die Meisterklasse von Peter Pears und Benjamin Britten. Seither legt er seinen Schwerpunkt auf die Liedbegleitung.

1976 gründete Graham Johnson mit Felicity Lott, Ann Murray, Anthony Rolfe Johnson und Richard Jackson den Songmakers’ Almanac, um vernachlässigte Vokalmusik wieder aufzuführen. Aus dieser Arbeit erwuchsen allein über 250 verschiedene Liederabend-Programme. Zu seinen Verdiensten zählt u.a. die Gesamtaufnahme des Schubert‘schen Liedschaffens auf dem Label Hyperion Records. Ähnliche Projekte wurden mit Liedern Robert Schumanns und Gabriel Faurés umgesetzt. Darüber hinaus nahm er zahllose CDs mit englischen Kunstliedern auf. Seine ausgezeichnet recherchierten fachlichen Erläuterungen sind sehr geschätzt, sein 2014 veröffentlichtes Kompendium des Liedschaffens von Franz Schubert in drei Bänden gilt als Standardwerk.

Am Anfang stand ein ungeliebter Bösendorfer-Flügel

Seit 1996 ist der Pianist mit einer einzigen Ausnahme jedes Jahr beim Klavier-Festival Ruhr aufgetreten und hat immer wieder das Publikum fasziniert und bewegt. Für ihn ist das Festival eine Herzensangelegenheit, bei der Intendant Franz Xaver Ohnesorg eine entscheidende Rolle spielt. Ohnesorg, so Johnson, „legt großen Wert darauf, das Lied als einen Teil des Festivals und als einen wesentlichen Aspekt der Kunst des Klavierspiels zu pflegen“.

Sein erster Aufritt war alles andere als ein Routineauftritt, erinnert sich Johnson: „Der Bösendorfer-Flügel war nicht mein Fall, ich bevorzuge einen Steinway. Damals im August war es brütend heiß. So war das erste Konzert eine schwierige Geburt. Seit damals hat sich viel geändert – und zum Glück ist dieses Konzert keine Eintagsfliege geblieben. Heute können wir in ganz anderer Weise konzentriert arbeiten.“

Drei Konzerte auf Schloss Herten

Dieses Jahr spielt er sein Jubiläumskonzert und zwei Liederabende mit Kompositionen von Claude Debussy und Camille Saint-Saëns im Schloss Herten. An Herten gefällt ihm besonders die „intime Atmosphäre und ein bewusst zuhörendes Publikum, das sehr treu ist und in dem wir im Lauf der Jahre loyale Unterstützer gefunden haben“. Johnson schätzt Herten als „eine kleine, versteckte Insel mittelalterlicher Schönheit am Rande des Ruhrgebiets“.

Gemeinsam mit Soraya Mafi (Sopran) und François Le Roux (Bariton) präsentiert er am ersten Abend, 14. Mai, einen Liederreigen von Camille Saint-Saëns. Der Franzose verfasste zahlreiche Werke in den verschiedenen Gattungen der Musik, darunter Sinfonien, Klavier- und Violinkonzerte und vielfältige Kammermusik, in denen er sich immer wieder mit den unterschiedlichsten Musiktraditionen auseinandersetzte, um stilistische Elemente in Form von Bearbeitungen zu integrieren.

Große Bewunderung für Camille Saint-Saëns

Johnson bewundert das Schaffen dieses Komponisten besonders: „Ich bin ein großer Bewunderer von Saint-Saëns. Er ist kein Avantgardist, kein weltveränderndes Genie, aber er war ein unglaublich begabter Pianist und Komponist und auch eine musikpolitisch wichtige Persönlichkeit. Seine Melodien haben Eleganz und Charme, er steht in der Tradition wie Bizet, Gounod und Fauré, den er lebenslang unterstützt hat – ein schönes Beispiel dafür, wie ein Komponist einem anderen zur Seite steht.“

Claude Debussy, dem Zeitgenossen Saint-Saëns‘, ist der zweite Liederabend am 15. Mai gewidmet. Sarah Fox (Sopran) und François Le Roux an der Seite von Johnson zeigen die Meisterschaft Debussys, die gekennzeichnet ist durch eine unpathetische, freie, jedoch immer noch tonale Musiksprache. Debussy, der sich selbst nicht als „Impressionist“ verstand, begriff Musik als ein sinnliches Klang- und Farbenspiel, das nur im Einklang mit den Geheimnissen der Natur und der Fantasie existieren kann. „Debussy wälzte die musikalische Welt um“, stellt Johnson dazu fest.

Franz Schubert bleibt der wichtigste unter den Liedkomponisten

Das persönlichste Konzert der Trilogie am 16. Mai ist Komponisten gewidmet, die Johnson stets begleitet und beschäftigt haben: „Mein Leben lang habe ich die Werke von Franz Schubert studiert. Er war ein großer Meister von Anfang an und bleibt für mich vielleicht der wichtigste unter allen Komponisten. Benjamin Britten möchte ich mit diesem Programm einen Dank abstatten: Ich durfte mit ihm studieren und er schrieb mir, als ich 22 Jahre alt war, eine Empfehlung. Über die Lieder von Gabriel Fauré habe ich 2009 ein Buch veröffentlicht. Das Manuskript zu ,Francis Poulenc The Life in his songs‘ habe ich gerade fertiggestellt, es erscheint 2019. Und mein dreibändiges Werk über Franz Schubert und seine Lieder kam 2014 heraus. Ich bin an der französischen Musikwelt ebenso interessiert wie an der deutschen oder englischen.“

So erklingen an diesem ausverkauften Abend, Johnsons Jubiläumskonzert, zwei Zyklen, die ihm besonders am Herzen liegen: Schumanns „Dichterliebe“ und Brittens „Seven Sonnets of Michelangelo“, mit denen der Komponist die Belcanto-Tradition aufgriff und im 20. Jahrhundert neu interpretierte. Mit dabei sind zwei erfolgreiche junge Sängerpersönlichkeiten: Erstmals die österreichische Mezzosopranistin Sophie Rennert, die u.a. bei den Salzburger Festspielen aufhorchen ließ. Die „Welt“ schwärmte von der „wunderbar warm geschmeidigen Glut ihres edlen Mezzosoprans“. Dazu kommt der nicht weniger gefeierte Tenor Ben Johnson.

Stille Begeisterung für eine kleinteilige Kunstgattung

Drei Abende in der intimen Atmosphäre von Herten, die das Lied als eine konzentrierte Kunstform voll emotionaler Kraft präsentieren, aber auch gleichzeitig vor Augen führen, wie selten diese wunderbare Kunstform sich präsentieren kann. Fern der großen Lieder-Tourneen von Sängern wie Jonas Kaufmann, Diana Damrau oder Elīna Garanča sind die Säle bei Liederabenden selten gefüllt. Die Begeisterung für diese kleinformatige, doch sehr bewegende Kunstgattung ist eine stille, immer mehr gepflegt von Kennern und Liebhabern.

Für Johnson ist der Rückgang eines früher durchaus verbreiteteren Interesses direkt verbunden mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung: „Das ist eine Frage der Bildung. Der Schwund des Publikums hängt mit dem Rückgang des allgemeinen Bildungsniveaus zusammen. Früher wurden in der Schule Gedichte auswendig gelernt. Heute halten Schüler Goethe für einen langweiligen alten Mann. Wie soll jemand, der sich nie mit einem Goethe-Gedicht befasst hat, ein Lied Schuberts auf einen seiner Texte mit Interesse hören? Die kulturelle Form des Liedes kann nur genießen, wer die Bildung dafür mitbringt. Dafür braucht es eine gewisse Neugier. Das Geheimnis des Liedes heißt Konzentration!“ Graham Johnson wird nicht müde werden, die faszinierende Kunst des Liedes weiter zu pflegen.

Karten zum Preis von 30 Euro sind für den 14. und 15. Mai noch erhältlich, das Konzert am 16. Mai ist hingegen ausverkauft. Tickets: 01806/500 80 3. Buchung im Internet direkt und platzgenau unter www.klavierfestival.de




Auseinandersetzung mit der „Neuen Rechten“ als Hauptthema – eine Nachlese zur PEN-Jahrestagung

Gastautor Heinrich Peuckmann über das Jahrestreffen der Schriftstellervereinigung PEN in Göttingen:

2017 hatte die Jahrestagung des PEN in Dortmund stattgefunden und die knapp 150 Schriftsteller waren beeindruckt gewesen von dem Erscheinungsbild der Stadt und ihrem weit vorangeschrittenen Strukturwandel. Die diesjährige Tagung fand nun Ende April in Göttingen statt, ein Tagungsort mit großer Symbolkraft für den PEN, denn dort wurde nach der Nazidiktatur vor 70 Jahren der deutsche PEN wiedergegründet.

Das Präsidium des deutschen PEN-Zentrums bei der Jahrestagung in Göttingen (von links): Franziska Sperr, Tanja Kinkel, Ralf Nestmeier, Nora Bossong, Ilja Trojanow, Jutta Sauer, Regula Venske (Präsidentin), Jürgen Jankofsky, Heinrich Peuckmann und Carlos Colido Seidel. (Foto: PEN)

Das Präsidium des deutschen PEN-Zentrums bei der Jahrestagung in Göttingen (von links): Franziska Sperr, Tanja Kinkel, Ralf Nestmeier, Nora Bossong, Ilija Trojanow, Jutta Sauer, Regula Venske (Präsidentin), Jürgen Jankofsky (halb verdeckt), Heinrich Peuckmann und Carlos Colido Seidel. (Foto: Felix Hille/PEN)

Damals waren noch Autoren aus Ost und West dabei, bevor es 1951 zur Spaltung kam. Hans Henny Jahnn war dabei, Erich Kästner, Kasimir Edschmid, Johannes R. Becher und andere. Die heutigen PEN-Mitglieder nutzten die Gelegenheit, den Gründungsraum im alten Göttinger Rathaus zu besichtigen. Mittendrin steht dort ein großer Tisch, an dem die damalige Sitzung stattfand.

Gut 120 Schriftsteller waren diesmal gekommen und folgten dem Motto von Günter Weisenborn „Denken Sie ihre Gedanken zu Ende“, ein Zitat aus seiner Göttinger Kantate, die die Warnung von 18 Wissenschaftlern vor den großen Gefahren des Jahrhunderts, vor allem vor einem Atomkrieg, szenisch darstellt.

Die Grenzen der freien Meinungsäußerung

Die Gedanken, die die Schriftsteller diesmal bewegten und die unbedingt, auch über die Tagung hinaus nicht nur zu Ende, sondern immer weitergedacht werden müssen, betrafen die „Neue Rechte“. „Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Neue Rechte“, war Thema einer großen Podiumsdiskussion, an der u.a. Ulrich Greiner und Zoe Beck teilnahmen. Zoe Beck vor allem nahm scharf Stellung gegen das Denken der Neuen Rechten, die sich gerne als Opfer darstellen, weil man ihnen angeblich das Recht auf freie Meinungsäußerung nehme, ein Recht, für das der PEN ja gerade steht. Deshalb wurden auch keine Rufe nach Verboten laut, sondern es wurde festgestellt, dass das Strafgesetzbuch die Grenzen der Meinungsäußerung festlege.

Im Übrigen will sich der PEN auf eine engagierte und in der Sache scharfe Auseinandersetzung mit den Rechten, ihren Ideologen und Verlagen einstellen. Beim „Kampf um die Köpfe“ (Gramsci) gelte, die Meinungshoheit für ein humanes, friedfertiges Denken und Handeln zu bewahren und vor allem Rassismus keine Chance zu lassen. Ulrich Greiner betonte dagegen die Berechtigung konservativen Denkens, verwahrte sich gegen eine unterstellte Nähe zur AfD, blieb aber trotzdem eine klare Antwort zum Thema schuldig.

In der Nachfolge von Oswald Spengler, Carl Schmitt und Ernst Jünger

In einem Eingangsreferat hatte der Historiker Ulrich Sieg das rechte Denken in der Weimarer Republik dargestellt, dabei aber Parallelen zu heutigem Denken weitgehend vermieden. Die wurden allerdings von den PEN-Autoren im Publikum gezogen, indem aufgezeigt wurde, wie weit die Wortführer der heuten Rechten, etwa Götz Kubischek, das Denken von Oswald Spengler, Carl Schmitt oder auch Ernst Jünger aufgreifen. Parallelen, das wurde weitgehend festgestellt, sind sehr wohl möglich.

Die Neue Rechte war außerdem in einer internen Arbeitsgruppe Thema. Es wurde beschlossen, dies immer neu zu diskutieren, um immer neu auf Strategien und Inhalte der Rechten zu reagieren. Eine einmal gefundene Strategie gebe es nicht, man müsse sich immer neu auf Taktik und Argumentation der Neuen Rechten einstellen.

„Auf der Flucht vor der Machete“ in Bangladesch

In einer anderen großen Podiumsdiskussion ging es im engeren Sinne um die Situation der Blogger in Bangladesch. „Auf der Flucht vor der Machete“ war der Titel dieser Diskussion und er griff das brutale Handeln von radikalen Islamisten in Bangladesch auf, die jene Blogger, die einen liberalen Islam vertreten oder die Atheisten sind, nicht einfach nur töten, sondern mit der Machete brutal zerhacken. Zwei Blogger, die im Writers-in-Exile-Programm des deutschen PEN sind, die eine Wohnung und ein Stipendium gestellt bekommen, waren an der Diskussion beteiligt, u.a. Zobaen Sondhi, der sehr bekannt in Bangladesch war.

Im weiteren Sinne wurde Bangladesch als Beispiel genommen für die weltweite Verfolgung unbequemer Schriftsteller, Journalisten und Blogger, die mit Folter, Gefängnis oder sogar Tod bedroht sind und dies nicht nur in fernen Ländern, sondern auch ganz in unserer Nähe, in der Slowakei etwa oder auf Malta, wo gerade erst investigative Journalisten brutal ermordet wurden. Selbst Deutschland ist betroffen. Can Dündar wird gegenwärtig von fünf Personenschützern rund um die Uhr bewacht. Etwa 900 Autorennamen stehen gegenwärtig auf der Caselist.

Resolutionen gegen Wettrüsten und Waffenexporte

Resolutionen wurden auch verabschiedet, dazu gehörte die Aufforderung an die Bundesregierung, sich entschieden von dem durch die USA, Russland, China und NATO angeheizten Wettrüsten zu distanzieren. Anstatt die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen, sollte in Konfliktvermeidung, Beseitigung von Kriegsfolgen und Entwicklungshilfe investiert werden.

Ebenfalls rief der deutsche PEN die Bundesregierung dazu auf, in der anstehenden juristischen Aufarbeitung illegaler deutscher Waffenexporte absolut transparent vorzugehen und in vollem Umfang mit der Justiz zusammenzuarbeiten.

Auch die Möglichkeit, dass die AfD den Vorsitz im Unterausschuss für auswärtige Kultur- und Bildungspolitik übernehmen könnte, war dem PEN ein Dorn im Auge. Er forderte die übrigen Parteien auf, von ihrem Zugriffsrecht Gebrauch zu machen und einen AfD-Abgeordneten als Vertreter deutscher Kultur und Bildung im Ausland unbedingt zu verhindern.

Neben all den Inhalten nutzten die Autoren auch dieses Treffen wieder zu Gesprächen untereinander. Freundschaften wurden gepflegt, man lernte neue Kolleginnen und Kollegen kennen, Kontakte wurden vertieft und Projekte untereinander verabredet. Autoren sind Einzelgänger. Ihre Arbeit findet einsam an ihrem Schreitisch statt. Umso schöner, wenn man sich dann für ein paar Tage trifft und ausgiebig miteinander reden kann. Göttingen, wurde damit festgestellt, hat ebenso schöne und gemütliche Orte wie Dortmund, an denen man sich treffen und nach Herzenslust miteinander reden kann.

Das nächste PEN-Jahrestreffen findet 2019 in Chemnitz statt.

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Revierpassagen-Gastautor Heinrich Peuckmann ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Beisitzer des Präsidiums.

 

 




„Freundin der Kinder“ – die Hammer Autorin Ilse Bintig

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an die Kinder- und Jugendbuchautorin Ilse Bintig aus Hamm:

„Wenn ich erst mal pensioniert bin, schreibe ich ein Buch.“ Das ist ein Satz, den man als Autor gelegentlich von ambitionierten Menschen hören kann, und es ist besser, nicht darauf zu antworten. Warum sollte man jemandem seine Hoffnungen nehmen? Denn nach allen Erfahrungen gilt, dass man im Alter nicht etwas neu beginnen kann, was man vorher nicht geübt hat.

Und doch gibt es Ausnahmen. Die Hammer Kinder- und Jugendbuchautorin Ilse Bintig ist wohl die erfolgreichste, die dem Erfahrungssatz widerspricht. Ilse Bintig hat im Grunde zwei Leben gelebt. Zuerst das Leben als Ehefrau, Mutter und Lehrerin. Erst spät hat sie ihren Sohn Holger bekommen und ihre ganze Aufmerksamkeit galt fortan dem Wunschkind. Daneben war sie an einer Grund- und später einer Hauptschule eine engagierte Lehrerin, die ihre Arbeit mit großem Ernst und großer Freude erledigte, so dass für eine Nebentätigkeit keine Zeit blieb.

Den heimlichen Wunsch zu schreiben, hat sie in dieser Zeit nicht ausgelebt, aber er war da, schon seit Jugendzeit. Ilse Bintig wollte nämlich eigentlich gar nicht Lehrerin werden, Journalismus, das war ihr Traumberuf. Aber nach dem Abitur 1943 gab es keine Möglichkeit, dies zu studieren. Erst zwei Jahre nach Kriegsende bekam sie einen Studienplatz für Pädagogik. Und wenn es auch nicht ihr Traumberuf war, Lehrerin zu werden, Ilse Bintig ist es trotzdem gerne gewesen. Ihre Schüler, die sich bis zu ihrem Tod bei ihr meldeten, haben es ihr gedankt.

Zweites Leben nach der Pensionierung

Aber Ilse Bintig war zäh. Zäh im Verfolgen ihrer Ziele, gerade auch des heimlichen Ziels. In der Schule übernahm sie die Bücherei, und sie hat nicht einfach nur Bücher bestellt, von denen sie hörte, dass sie gut seien. Ilse Bintig hat sie fast alle gelesen. Sie wusste also, als sie 1984, mit sechzig Jahren, pensioniert wurde, welche Themen Kinder und Jugendliche interessieren, wie man eine Geschichte spannend aufbaut und vor allem wie man sie so erzählt, dass sich junge Menschen angesprochen fühlen.

Frei gelassen von den Pflichten ihres ersten Lebens, legte Ilse Bintig dann in einem Schreibtempo los, das lange seinesgleichen sucht. Kinderbuch auf Kinderbuch erschien. Und gleichzeitig brachte sie sich in die Literaturszene ein, wurde Mitglied im Schriftstellerverband, unterstützte Initiativen zur Literaturförderung und war maßgeblich an der Gründung des Westfälischen Literaturbüros in Unna beteiligt.

Beste Zeit beim Bitter-Verlag in Recklinghausen

Zuerst veröffentlichte sie im Kölner Pick-Verlag, dann wechselte sie zum damals sehr erfolgreichen Bitter-Verlag nach Recklinghausen und ihre beste Zeit begann. Man tut wohl niemandem Unrecht, wenn man sagt, dass Ilse Bintig neben Josef Reding viele Jahre lang erfolgreichste Autorin des Bitter-Verlags gewesen ist. Bücher wie „Paß bloß auf, du … Geschichten vom Zanken, Streiten und Vertragen“ sowie „Dominik und Löwenmähne. Geschichten von Liebe, Wut und anderen Gefühlen“ entstanden. Aber sie griff auch in ihre eigene Kindheit zurück und schrieb „Die Leierkastenfrau. Uroma erzählt von früher.“

Ilse Bintig folgte in ihrer Konzeption nicht der modischen Meinung mancher Kinderbuchautoren, dass Kinderliteratur völlig frei sei, dass sie keinem Auftrag folge und damit letztlich anzusehen sei wie all die übrige Literatur. Als Lehrerin, die sie über 30 Jahre lang gewesen ist, wusste sie es besser. Kinder brauchen liebevolle Zuwendung, sie brauchen Hilfestellung, um ihren Weg ins Leben zu finden und manchmal brauchen sie einfach nur einen guten Anlass, um laut loslachen zu können. Deshalb hatte sie nichts dagegen, dass eines ihrer Bücher den Untertitel „Mutmachgeschichten“ erhielt, der die Absicht verriet, die mit dem Buch verfolgt wurde.

Bloß keine Zeit mit Zank verschwenden

Ilse Bintig wusste, dass nicht der Untertitel wichtig war, sondern dass es auf etwas ganz anderes ankam. Pralle Charaktere mussten ihre Geschichten enthalten, spannende und lustige Abenteuer mussten ihre kleinen Helden erleben und dabei – ohne pädagogisch zu werden – etwas über das Leben erfahren, über seine düsteren, vor allem aber über seine angenehmen Seiten. Das Leben ist schön, das ist es, was ihre Geschichten verraten. Weshalb sollten die Kinder sich deshalb die Zeit mit Zanken vergällen, sie machten sich das Leben nur unnötig schwer. Besser sollten sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen und vor allem sollten sie optimistisch in die Welt der Erwachsenen eintreten.

Ab 1984 erschien von Ilse Bintig mindestens ein Buch pro Jahr, oft waren es zwei oder sogar drei. Es war so, als hätte sie ihr Leben lang Ideen gesammelt und nur auf die Zeit gewartet, in der sie alle niederschreiben konnte. In dieser Zeit hat Ilse Bintig viele Lesungen gehalten, war unter Grundschullehrern eine Autorengröße, die man gerne einlud. Ilse Bintig hat diese Lesungen, die sie trotz ihres doch schon hohen Alters mit Bravour meisterte, dazu benutzt, um die Stimmung der Kinder aufzunehmen. Um dabei zu lernen, was die Kinder interessierte und was sie folglich in ihrem nächsten Kinderbuch thematisieren sollte.

Der Flieger Hanno war ihre Jugendliebe

Aber es waren nicht nur Kinderbücher, die sie schrieb. Zwei Jugendbücher, die auch Erwachsene gut lesen können, ragen unter ihren gut 40 eigenständigen Werken heraus. In „Lieber Hanno“, einem Briefroman, thematisiert Ilse Bintig ihre eigene, erste große Liebe. Im Grunde besteht der Roman aus den Briefen, die sie bis Juli 1944 an ihre Jugendliebe schrieb, an Hanno, den Flieger, der  abgeschossen wurde und  nie zu ihr zurückkam.

Ein Freund von Hanno hat ihr die eigenen Briefe nach dem Tod des Fliegers zurück geschickt, als Autorin hat Ilse Bintig sie in die richtige Reihenfolge gebracht und mit den Briefen ihres Freundes kombiniert. Ein tief beeindruckendes Buch ist auf diese Weise entstanden, das von den Hoffnungen erzählt, die zwei junge Menschen an das Leben hatten und die brutal zerstört wurden. Es ist ein Buch, das zum Frieden mahnt, indem es die schreckliche Seite des Krieges unverblümt darstellt. Da wurden Hoffnungen zerstört, wurde ein Leben abgebrochen und mit ihm eine Liebe. Was hätte werden können, was alles wäre möglich gewesen? In der Folge dieses Buches hat Ilse Bintig sich mehrfach mit Antoine de Saint-Exupery beschäftigt, der ja auch ein begeisterter Flieger war und der ebenfalls im Krieg sein Leben lassen musste. Zum „Kleinen Prinzen“ hat sie eine Ergänzungsgeschichte geschrieben.

„Trümmer und Träume“: Frage nach Mitschuld der Mutter

Ihr zweites wichtiges Jugendbuch „Trümmer und Träume“ ist ebenfalls stark autobiographisch geprägt. Ilse Bintigs Mutter war im Krieg bei der NS-Frauenschaft tätig. Eher unbedacht und aus Pflichtgefühl ist sie da hineingeraten, wurde nach dem Krieg als „Mittäterin“ eingestuft und inhaftiert. Aus der Sicht der Tochter, also aus Ilse Bintigs eigener Sicht, wird nun der Verlust der Mutter und der Versuch, sie aus dem Lager frei zu bekommen, dargestellt. Die Sicht der Tochter auf die Mutter ist natürlich die des liebenden Kindes, das unter dem Verlust leidet. Sie umkreist die Frage nach der Schuld. Wie viel ist der Mutter anzulasten, wie ist sie da hineingeraten? Die Geschichte ist authentisch, sie ist spannend und sie zeigt, wie die Kleinen die Suppe auszulöffeln hatten, während die Großen, die sie eingebrockt hatten, oft genug ungeschoren davon kamen.

Gelegentlich wurde Ilse Bintig bei Lesungen der Vorwurf gemacht, den Faschismus zu verharmlosen, aber das war ein ganz und gar unberechtigter Vorwurf. Es ging ihr schon um die Rehabilitierung ihrer Mutter, das merkt man beim Lesen des Buches, aber eine Verharmlosung, gar Verklärung des Faschismus, ist das Buch auf keinen Fall. Im Gegenteil, es zeigt, wie die Tochter all die falschen Vorstellungen, die ihr im Umfeld, in der Schule eingehämmert wurden, nach und nach mit Einrücken der Alliierten und dem Ende des Krieges verliert und wie sie Klarheit gewinnt für eine Zukunft in Demokratie.

Ein Stück Sozialgeschichte des Ruhrgebiets

Völlig zurecht wurde „Trümmer und Träume“ Buch des Monats bei der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Eine Auszeichnung, über die Ilse Bintig sich sehr gefreut hat. Auszeichnungen bekam sie noch 1989 bei einem Schreibwettbewerb des WDR, bei dem sie den ersten Preis belegte, dazu erhielt sie 1990 den „Alfred-Müller-Felsenburg-Preis“.

Etwas unbeachtet blieb ihr Buch für Erwachsene. „Zwischen Fördertürmen und Fabrikschornsteinen“ heißt es und schildert ihre Jugend in Hamm. In sehr lebendig erzählten Erinnerungen wird hier ein Stück Sozialgeschichte des Ruhrgebiets sichtbar. Vielleicht war es die Begrenzung auf Hamm, die ein größeres Interesse ausbleiben ließ, was aber, wenn es so wäre, falsch ist. Gerade am Konkreten, am Lokalen, schimmert viel Allgemeingültiges durch.

Viele Kinderklassiker nacherzählt

In ihren letzten Jahren erzählte Ilse Bintig für den Arena-Verlag Kinderklassiker nach. „Nussknacker und Mausekönig“ von E.T.A. Hoffmann, „Peter Pan“, „Nils Holgerson“, „Die Schatzinsel“, „Till Eulenspiegel“ und viele andere Klassiker hat sie nacherzählt. Der Verlag wusste, warum er sie, inzwischen schon weit über achtzig Jahre alt, immer wieder ansprach, wenn ein weiterer Klassiker  neu erzählt werden sollte. Ilse Bintig fiel es leicht, sich in Themen und Schreibweisen einzufühlen. Die von ihr erzählten Klassiker erreichten hohe Auflagen und wurden in viele Sprachen übersetzt.

Meine „Büchskes“ nannte Ilse Bintig diese schön aufgemachten Bücher. Wenn ihr nach und nach die Kraft für eigene Bücher verloren ging, so hat das Nacherzählen der Klassiker sie jung gehalten und nach Krankheiten, die sich häuften, immer wieder neue Kraft fürs Leben gegeben. Diese Kraft gaben ihr auch ihr beiden Enkel, Anna und Hauke, die sie spät zur Oma werden ließen. Zu einer Oma, die diese Aufgabe wieder mit der ihr eigenen großen Freude und Liebe anging.

90 Jahre alt ist Ilse Bintig geworden. Ihren 90. Geburtstag, von der Stadt Hamm stark beachtet, hat sie noch begehen können. Nur 5 Tage später, am 12. April 2014, ist sie friedlich eingeschlafen. „Als Mutter, Großmutter, Lehrerin und Autorin war sie eine Freundin der Kinder“ stand in der Todesanzeige. Besser konnte man es nicht ausdrücken.

 

 

 




Wie die Kunst zu mir kam und blieb – ein Lebenslauf zwischen Beruf und Berufung

Gastautorin Melanie Tilkov über ihr Leben als Künstlerin:

Ich bin freischaffende Künstlerin im Bereich Malerei, Grafik und Bildhauerei, außerdem Dozentin für Kunst an einer Kunstschule, Lehrkraft für Kunst an einem Gymnasium und habe einen Lehrauftrag an der fadbk/HbK Essen. Mein Studium der Kunst und das darauf folgende Berufsleben im Kunstbetrieb habe ich nach einem wechselvollen und unbefriedigendem Berufsleben als ein „endlich angekommen“ begriffen.

Die Künstlerin Melanie Tilkov mit ihren Arbeiten am Stand der Galerie Augarde (Daun) bei der Straßburger Messe START. (Foto: © Melanie Tilkov)

Verfasserin dieses Beitrags: die Künstlerin Melanie Tilkov, hier mit ihren Arbeiten am Stand der Galerie Augarde (Daun) bei der Straßburger Kunstmesse ST.ART. (Foto: © Melanie Tilkov)

Seitdem bin ich im Kunstbetrieb auf unterschiedlichen Ebenen aktiv – und sehr zufrieden damit. Dass ich noch studieren würde, war alles andere als klar, bin ich doch die Erste in meiner Familie, die akademisch ausgebildet ist.

Zu „abstrakt“ für den Alltag?

Vom Elternhaus her war klar, dass ich eine Lehre mache, Geld verdiene und somit schnell selbstständig würde. Zwar ist die Familie meines Vaters tendenziell handwerklich und auch künstlerisch unterwegs, Werkstätten und ihre Gerüche prägten meine frühesten Erinnerungen. Aber Kunst? Kunst war zu „abstrakt“ und somit als Beruf nicht vorstellbar.

Trotz der anderen Berufe, und auch während meiner Erziehungszeit, begleitete mich handwerklich-künstlerische Arbeit, meine Ideen im Kopf mussten eine fühlbare/sichtbare Umsetzung in der Realität erfahren.

Aber erst durch das Studium erfuhr ich, wie schwer die künstlerische Arbeit wird, wenn nicht allein die handwerkliche Fähigkeit und Begabung wichtig sind, sondern die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem „Warum“ hinzukommt.

Zuerst kommt das Handwerk

Dennoch erachte ich es als essentiell, dass das „Handwerk“ sitzt: Grundausbildung Maltechnik, Zeichentechnik, Wissen um Farben, ihre Wirkungsweise, wie man sie einsetzt, wie ich Holz bearbeite, Ton, Stein…

Künstler, die nicht durch eine traditionelle Ausbildung gehen sondern von Anfang an in ihrem „Suppentopf“ weiter rühren, nie Stilleben gemalt, geschweige denn daran gelernt haben, die nie Menschen zeichnen mussten, nie Perspektive usw. lernten, denen fehlt etwas in ihrer Ausdruckskraft, auch in ihrem Spektrum. Natürlich kann man von Anfang an „abstrahieren“, aber nur wer die Basics lernte und das oft schmerzhaft lang, versteht, wie Abstraktion entsteht, wie Minimalismus sich entwickelt.

Es geht um das Können, nicht um das Wollen

Oft sind heute gezeigte Bilder von erschütternder Ahnungslosigkeit geprägt, was mich gleichermaßen verärgert, wie auch sehr traurig macht. Dadurch wird Kunst in ihrer Aussage entwertet, sie verliert, was sie eigentlich ausmacht. Nicht das Wollen, das Können zeichnet den Künstler aus. Und da gehört auch ein gehöriger Anteil an Praxis dazu, bis man dort ist, wo es einen, oft über Jahre, hingezogen hat.

Kreatives Chaos im Atelier von Melanie Tilkov. (Foto: @ Melanie Tilkov)

Kreatives Chaos im Atelier von Melanie Tilkov. (Foto: @ Melanie Tilkov)

Ich malte Landschaften, Abstraktionen, Spuren; nur um da endlich zu landen, am Ende meines Studiums, wo es mich immer hingetrieben hat. Endlich „konnte“ ich gegenständlich, figurativ malen, gestalten. Alles andere vorher begreife ich nun als handwerkliche und auch gedankliche Vorbereitung darauf. Ohne das Wissen um die Naturabstraktion wäre heute keiner meiner Hintergründe möglich, ohne die Abstraktion allgemein nicht das Wissen um die Auflösung im Prozess.

Eine Arbeiterin in der Kunst

Ich sehe mich als „Arbeiterin in der Kunst“. Meine Hände führen aus, was mein Kopf vorbereitet, gemalt, gebildhauert, gezeichnet hat, oft über Wochen, Monate, bis ich dann zum für mich erlösenden, praktischen Teil komme und alles in ein Medium fließt, Farbe auf Leinwand, Holz wird bearbeitet, behauen, Ton aufgebaut usw.

In der Renaissance gab es einen für uns heute sehr prägenden Wendepunkt. Aus einer anonymen Kunsthandwerkerschaft, aus den „Werkstätten” traten Einzelne hervor, brillierten und wurden, peu à peu, ganz langsam als Individuen wahrgenommen. Plötzlich wurden einzelne Künstler verehrt, Leonardo da Vinci und Dürer, das sind Namen, die noch heute „klingen“ und nachhallen.

Bis in unsere Zeit kam es dann zur starken Verklärung des Künstlers als „anders, wunderbar und sonderbar zugleich“. Dabei haben wir Kunstschaffenden auch nur eine Begabung, in der wir arbeiten (müssen). Auch Chirurgen, Architekten, Lehrer usw. fühlen mit Sicherheit so etwas, was sie in die berufliche Richtung trieb, eine „Berufung“.

Gegen die Verklärung

Vielleicht ist dieser Ruf, dem wir Künstler folgen, nur etwas drängender als der anderer Berufsgruppen, etwas elementarer. Aber gegen eine Verklärung wehre ich mich vehement, ich arbeite. Kunst. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Alles Aufgeblasene, Überzogene, Divenhafte mancher Künstler, die genau diese Verklärung befeuern, stört mich.

Nicht der Mensch, sondern sein Produkt sollte wahrgenommen werden. Ist mein Bild schlecht, sollte nicht das größte Theater und der bunteste Budenzauber, die fieseste Provokation über dieses Defizit hinwegtäuschen. Und doch ist es heute (leider) oft so. Das Event steht über dem Produkt. Damit gehe ich nicht konform. Und sehe mich lieber als Handwerkerin in Sachen Kunst. Der guten Sache wegen.




Fakir Baykurt – sozialkritischer Poet des türkischen Dorflebens und langjähriger Revier-Bürger

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den türkisch-deutschen Autor Fakir Baykurt, der auch viele Jahre im Ruhrgebiet gelebt hat:

In Deutschland einem Schriftsteller zu unterstellen, dass er ein sozialkritischer Dorfautor wäre, käme einer literarischen Vernichtung gleich. Als provinziell, gar hinterwäldlerisch würde man ihn einordnen und die Unterstellung, dass er einem rührseligen Heimatbegriff folgt, läge nicht fern.

Fakir Baykurts Roman "Die Rache der Schlangen in einer Ausgabe des Verlags Horst Erdmann (Herrenalb), erschienen 1964.

Fakir Baykurts Roman „Die Rache der Schlangen“ in einer Ausgabe des Verlags Horst Erdmann (Herrenalb), erschienen 1964.

In der überwiegend ländlich strukturierten Türkei war und ist das anders. Fakir Baykurt, 1929 in einem Dorf namens Akcaköy geboren und 1999, vor fast 20 Jahren, in Essen gestorben, gilt neben dem inzwischen ebenfalls verstorbenen Nobelpreiskandidaten Yasar Kemal („Mehmet, mein Falke“) als der große sozialkritische Dorfautor der türkischen Gegenwartsliteratur.

Bergkamen, Duisburg und Essen

1979, als schon bekannter Autor mit gut zwanzig veröffentlichten Romanen, siedelte er nach Deutschland über und wohnte eine Zeitlang auch in Bergkamen, ganz in meiner Nähe. Zur Bergkamener Kulturverwaltung fand er schnell Kontakt und auf diesem Wege lernte auch ich Fakir Baykurt kennen. Während der achtziger Jahre habe ich oft mit ihm zusammengearbeitet, auch noch, als er längst in Duisburg wohnte.

Baykurt stammte aus einer armen Bauernfamilie. Sein Vater starb früh, seine Mutter brachte mit erzieherischer Strenge, aber mit noch mehr Herzlichkeit ihre sechs kleinen Kinder (zwei weitere starben früh) durch.

Nach dem Militärputsch von 1971 verhaftet

So arm die Familie auch war, seine Mutter schaffte es trotzdem, ihren wissbegierigen Sohn Fakir studieren zu lassen. An einem Lehrerinstitut machte er seine Ausbildung und lernte reformpädagogische Ansätze kennen, die er ab 1949 in dörflichen Schulen umsetzte. Natürlich gab es angesichts der traditionell denkenden Bauern die zu erwartenden Probleme. Später schloss er ein weitergehendes Studium an, das ihn sogar an die amerikanische Universität in Bloomington führte.

Gymnasiallehrer ist er geworden, schnell auch Vorsitzender der türkischen Lehrergewerkschaft. Nach dem Militärputsch 1971 wurde auch Baykurt wie viele Künstler, Intellektuelle und vor allem Gewerkschafter verhaftet und eingesperrt. Baykurt berichtet darüber in seiner Erzählung „Die Jahre mit meiner Mutter“ und  schildert darin den Besuch seiner Mutter im Gefangenenlager. Vor allem entwickelt er geradezu genüsslich, wie sie sich durch entschiedenes Auftreten bei den Wachen Respekt verschaffte, um ihren Sohn zu sehen und unbelauscht mit ihm sprechen zu können.

Inzwischen hat die gegenwärtige Türkei bei der Verfolgung von Schriftstellern und Journalisten wieder einen unrühmlichen Spitzenplatz erlangt.

Die Mutter lies sich seine Texte vorlesen – und war voll des Lobes

Baykurt war zur Zeit seiner Verfolgung bereits ein bekannter Autor. Regelmäßig veröffentlichte er Romane, die das Landleben in der Türkei darstellen, das er durch seine Herkunft so gut kannte. Seine kritischen Texte brachten ihm den Ruf ein, Kommunist zu sein, was wiederum seine Mutter erschreckte. Sie selbst konnte nicht lesen, deshalb ließ sie sich den Roman „Die Rache der Schlangen“ von Fakir bei einem seiner Besuche zu Hause vorlesen. Noch während Fakir las, unterbrach sie ihn wütend. „Was soll daran kommunistisch sein? So ist es doch in unseren Dörfern, genauso! Du hast nur geschrieben, was hier passiert.“ Ihrem Sohn Fakir hat dieses Lob besonders gut getan.

Von nun an verteidigte die Mutter ihn, wenn Nachbarn oder Verwandte meckerten: „Dein Sohn konnte wieder nicht den Mund halten.“ Im Gegenteil, danach gewann sie, die einfache Frau vom Lande, erst recht Interesse an Fakirs Romanen. Im Dorfladen, in dem sie immer einkaufte, wurde sie von jungen Mädchen, die zur Mittelschule gingen, bedient. Von denen ließ sie sich den Roman „Die Sense“ vorlesen, stolz darauf, was ihr kleiner Fakir erreicht hatte. Mit der Zeit wuchs dessen Ansehen auch unter den anderen Dorfbewohnern, bis er schließlich zu den bekanntesten türkischen Autoren gehörte und die Kritik an ihm verstummte.

Das Problem mit den schlechten Übersetzungen

Warum er nach Deutschland auswanderte, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, er folgte einem seiner Kinder. Baykurt war ein kommunikativer Mann, der schnell Anschluss gewann. Das war schon in Bergkamen so, das war in Duisburg, wo er ebenfalls als Lehrer arbeitete, sich aber vor allem mit den Problemen türkischer Migranten beschäftigte, nicht anders. Auch eine deutsch-türkische Autorengruppe gründete er in Duisburg, um den türkischen Kollegen Hilfe auf dem deutschen Literaturmarkt zu geben. Nach seinem Tod 1999 bekam diese Autorengruppe seinen Namen. Baykurt selbst hatte nicht unbedingt Hilfe nötig, dazu war er viel zu bekannt, aber den einen oder anderen Hinweis konnte er doch gut gebrauchen.

In dieser Zeit habe ich, wenn ich eine Anthologie mit Erzählungen herausgab, immer dafür gesorgt, dass Fakir Baykurt, wenn es nur eben thematisch passte, darin vertreten war. Seine Erzählungen waren ein schönes Zeichn für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Autoren und darüber hinaus für gelingendes Zusammenleben überhaupt.

Es gab nur jedes Mal ein großes Problem, denn Fakir hatte für seine neuen Erzählungen Übersetzer, die selbst der deutschen Sprache nur bedingt mächtig waren. So bekam ich von ihm Texte zugeschickt, bei denen ich mir beim ersten Lesen stets die Haare raufte. Es waren thematisch immer gute, spannende, auch humorvolle Geschichten, so viel sah ich sofort, aber was die einzelnen Sätze bedeuten sollten, erschloss sich mir bestenfalls nach mehrfachem Lesen. Und auch dann nicht immer.

Von der Frau, die unbedingt einen Garten haben wollte

Also setzte ich mich hin und übertrug seine Sätze so, wie ich glaubte, dass sie gemeint waren. Dann schickte ich die korrigierte Geschichte an Fakir zurück und bat ihn zu prüfen, ob ich alles richtig verstanden hätte. Von Fakir kam dann stets ein Dankschreiben zurück mit der Frage, ob ich nicht sein Übersetzer werden wollte. Ja, unsere Zusammenarbeit in jener Zeit hatte auch ihre komischen Seiten.

Die gemeinsame Arbeit war aber auch anregend, denn sie half mir, die türkische Mentalität der Migranten in meinem Umfeld besser zu verstehen. In einer Geschichte zum Beispiel erzählt Fakir von einer türkischen Frau in Oberhausen, die so gerne einen Garten gehabt hätte, weil sie sich ein Leben ohne das Wühlen in der Erde nicht vorstellen konnte. Aber ihr wenig durchsetzungsfähiger Mann schaffte es nicht, ihr einen Garten im Kleingärtnerverein zu besorgen.

Also griff die Frau zur Selbsthilfe, räumte ein Zimmer ihrer Wohnung leer (das Sonnenzimmer), füllte Kisten mit Erde und begann, dort Gemüse zu ziehen: Steckrüben, Gurken, Knoblauch. Sie war in ihrem Zimmer erfolgreicher als andere türkische Frauen in ihren Gärten…

Bis eines Tages die Polizei vor der Tür stand. Der Mieter in der Wohnung darunter hatte sich darüber beschwert, dass seiner Familie laufend Wasser auf den Kopf tropfte. Das Gemüse musste ja regelmäßig gegossen werden, die Kisten weichten durch oder es lief etwas daneben. Sie mussten also verschwinden. Aber jetzt wurde die Leidenschaft der armen Frau auch im Umfeld bekannt. Viele, auch ein Pfarrer, mischten sich ein, bis die begnadete Gärtnerin endlich ihren Garten in der Brache an der Autobahn erhielt. Eine humorvolle Geschichte, prall gefüllt mit Leben – wie alle Texte von Fakir Baykurt. Er ist ein Autor, der bei uns unbedingt wiederentdeckt werden müsste.




Willi Sitte – ein durchaus widersprüchliches Leben als Maler und DDR-Kulturfunktionär

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den umstrittenen DDR-Maler Willi Sitte:

Mit Willi Sitte ist 2013 auch der letzte der vier großen DDR-Maler gestorben. Werner Tübke zählte dazu, dessen Bauernkriegs-Panoramabild in Bad Frankenhausen sicherlich zu den großen malerischen Leistungen des letzten Jahrhunderts gehört. Werner Mattheuers Skulptur „Der große Schritt nach vorn“ über die politischen, vor allem blutigen Illusionen des letzten Jahrhunderts steht in Leipzig direkt vor dem Eingang zu Auerbachs Keller. Und Bernhard Heisig wurde im Westen bekannt, weil er Helmut Schmidt gemalt hat, als dessen Kanzlerschaft endete.

Der Maler Willi Sitte begrüßt den Staats- und Parteichef Erich Honecker zur Eröffnung der X. Kunstausstellung der DDR im Jahr 1987. (Foto: Bernd Sattnik / ADN / Bundesarchiv Bild 183-1987 - Wikimedia Commons, Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Der Maler Willi Sitte begrüßt den Staats- und Parteichef Erich Honecker (rechts) zur Eröffnung der X. Kunstausstellung der DDR im Jahr 1987. (Foto: Bernd Sattnik / ADN / Bundesarchiv Bild 183-1987 – Wikimedia Commons, Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Sitte war der umstrittenste von ihnen, was einerseits an seiner kraftvollen, mit viel Sinnlichkeit gewürzten Malerei, hauptsächlich aber an seiner Tätigkeit als Kulturfunktionär lag. Sitte war von 1974 bis 1988 Präsident des Verbandes bildender Künstler, war Volkskammerabgeordneter und Mitglied im ZK der SED, alles Tätigkeiten, die ihm nach der Wende heftig vorgeworfen wurden.

Dabei wurde jedoch oft verschwiegen, dass Sitte in den fünfziger und sechziger Jahren selbst erhebliche Konflikte mit der DDR-Führung hatte. Seinem „Lidice-Bild“, gemalt in Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis, fehlte nach Ansicht der Kulturverantwortlichen das Heroische, weil es Sitte um die Brutalität anonymer Mörder gegenüber den Opfern ging: Mehrfach wurde er zur Umarbeitung gedrängt, bis man das Bild schließlich aus dem Verkehr zog. Heute ist es verschollen.

Für gewisse Freiräume gesorgt

Die Graphikerin Lea Grundig war vor Sitte Verbandschefin, formale und inhaltliche Neuerungen  waren ihr suspekt. Sitte erzählte mal, dass sie schon bei seinem Erscheinen zu einer Sitzung gerufen hätte: abgelehnt! So wurde er später von einigen seiner Freunde gedrängt, selber für das Amt zu kandidieren und für Freiraum in der DDR-Malerei zu sorgen. Selbst seine Gegner bestätigen heute,  dass er diesem Auftrag gefolgt ist. Vieles wurde unter seiner Regie möglich, was vorher undenkbar war, zum Beispiel auch, dass Heisig Helmut Schmidts Bitte, ihn zu malen, annehmen durfte. Aus Sicht der DDR-Betonköpfe war das immerhin der Auftrag des reaktionären Feindes.

Sitte stammte aus einer einfachen Bauernfamilie. Im böhmischen Kratzau, heute Chrastava, wurde er 1921 geboren. Mehrfach hat er seine Eltern gemalt, immer in verschiedenen Lebensabschnitten. Es sind sehr warmherzige Darstellungen, die die Armut seiner Herkunft nicht verschweigen, aber auch die menschliche Zuneigung zeigen. Sie gehören zu den großen Zeugnissen der Porträtkunst.

Orientierung an Expressionismus und Kubismus

Am Ende des Krieges wurde er an die Front nach Italien verlegt, wo Sitte desertierte und sich den Partisanen anschloss. Noch heute genießt er deshalb südlich der Alpen höchstes Ansehen. Diesem Land seiner Zuneigung ist er Zeit seines Lebens verbunden geblieben. Der ursprünglichen Absicht, dort zu bleiben, folgte er jedoch nicht, sondern ließ sich in Halle nieder. Dort holte er in den fünfziger Jahren vieles in seiner Ausbildung als Maler nach, was vorher nicht möglich gewesen war.

Sitte orientierte sich den Großen des letzten Jahrhunderts, an Picasso vor allem, dessen kubistische Formgebung ihn stark beeindruckte, aber auch an Léger und Corinth. Mit der Zeit fand er seinen Stil, und wer dabei genau hinschaute, der entdeckte weniger sog. „Sozialistischen Realismus“, was immer das gewesen sein mag, sondern Bezüge zum Expressionismus.

„Ich bin ein dramatischer Typ“

Sitte  malte und zeichnete gerne kraftvolle Körper, meistens nackt, weil Kleidung mit Zeit identifiziert wird, und Sitte das Typische und Grundsätzliche im menschlichen Leben darstellen wollte. Er löste den Strich auf, setzte differenziert Farbflecken an seine Stelle und zeigte auf diese Weise genau die Facetten eines Körpers. „Ich bin ein dramatischer Typ“, hat er mal seine prallen Liebesakte erläutert, die manchmal an einen Ringkampf erinnern. Daneben teilte er seine Bilder in Flächen auf, zeigte in einem Teil das Hauptthema, auf nebengeordneten Flächen Teilaspekte, einen Betrachter der Szene etwa, oft  sich selber.

Großartig sind seine Wasserbilder, in denen er das Durchsichtige wie mit leichter Hand sichtbar macht. Dazu gehört etwa der kraftvolle Schwimmer, ein Motiv, das anlässlich der Moskauer Olympiade 1980 eine Briefmarke zierte.

Kein platter Sozialistischer Realismus

Wer seine Bilder sieht, merkt schnell, dass Sitte keinen platten Sozialistischen Realismus malte, wie ihm das oft unterstellt wurde. Die Themen waren politisch, gelegentlich zudringlich, das stimmt, aber in der formalen Umsetzung war er sehr modern. Manchmal so modern, dass er auch noch in der Zeit seiner Präsidentschaft Anstoß in der DDR erregte.

Angesichts seiner großen, auch als Triptychen anlegten Bilder werden oft Sittes Zeichnungen vergessen. Er war ein großartiger Zeichner, sehr genau in der Darstellung und auch dort findet man wieder Bezüge zu den Großen der Malerei. „Hommage an …“ steht unter vielen seiner Zeichnungen. Sie beziehen sich auf Goya, Camille Claudel und andere. Diese Zeichnungen sind noch nicht genügend in der Beurteilung von Sitte gewürdigt worden.

Tiefer Sturz nach der „Wende“

Der Sturz nach der Wende war jedenfalls für tief für ihn. Gestern noch geachteter Staatsmaler, wollten nun selbst enge Freunde nichts mehr von ihm wissen. Freunde, denen er nachweislich geholfen hatte. Sitte war darüber enttäuscht, aber nicht verbittert. Zu optimistisch hat er das Leben gesehen, die Vitalität, die seine Bilder vor und nach der Wende ausstrahlen, bestätigt das.

Die ursprüngliche Absicht, nicht mehr in den neuen Bundesländern, also der alten DDR auszustellen, hat er am Ende aufgegeben. Zu seinem 90. Geburtstag erinnerte sich Halle an seinen großen Künstler und organisierte eine große Ausstellung, bei der den Zeichnungen breiter Raum gegeben wurde. Sitte war da schon so krank, dass er sie nicht mehr hingehen konnte.

Chance auf spannende Dialoge vertan

Gesehen hat er aber noch das eigens für ihn geschaffene Museum in Merseburg, die Willi-Sitte-Galerie am Domplatz, die einen Besuch wert ist. Neben Sitte-Bildern gibt es dort immer auch Wechselausstellungen.

Die bildende Kunst in Deutschland hat nach der Wende eine große Chance vertan. Zu schnell und zu oberflächlich wurden die DDR-Maler niedergemacht, so dass es gelegentlich wie ein Konkurrenzkampf um Marktanteile wirkte. Die deutsche Malerei hatte plötzlich zwei Wurzeln. Die westliche, die sich an der amerikanischen Moderne, vor allem der abstrakten Kunst orientierte. Und die östliche, die an den Expressionismus anknüpfte und das Gegenständliche bevorzugte. Hier hätte es zu einem spannenden Dialog kommen können, denn Vielfalt ist Reichtum.




Werke von großer Aussagekraft – eine nachdrückliche Erinnerung an den Künstler Werner Habig

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den Künstler Werner Habig, der u. a. viele Jahre als Kunsterzieher in Bergkamen tätig war:

Vor dem Städtischen Gymnasium in Bergkamen steht auf dem Rasenstück neben dem PZ eine abstrakte Skulptur. Es ist eine aufgeschnittene Kugel, deren Einzelteile in einer reizvollen Kombination nebeneinander gesetzt sind und so eine neue Einheit bilden. Die Skulptur ist zum Logo des Gymnasiums geworden und findet sich u.a. auf dem Briefkopf der Schule wieder.

Der BIldhauer Werner Habig (Foto: © Stefan Milk)

Der in Wattenscheid geborene Künstler Werner Habig (1924-1990) (Foto: © Stefan Milk)

Der Bildhauer, der dieses Werk geschaffen hat, ist Werner Habig, er war damals einziger Kunsterzieher am Gymnasium, durch dessen Unterricht ganze Generationen an Schülern gegangen sind.

In Bergkamen ist er leider als Schöpfer dieses Kunstwerks in Vergessenheit geraten. Bei einer Auflistung der Kunstwerke in Bergkamen durch das Kulturamt wurde die Skulptur vor dem Gymnasium mit „Künstler unbekannt“ aufgeführt. In einer späteren Liste tauchte sie gar nicht mehr auf.

Habig liebte abstrakte Formen, er schulte seine Gymnasiasten in diese Richtung und es entstanden viele Bilder nach mathematisch durchgerechneten Überlegungen.

In seiner eigenen Kunst, den Zeichnungen, vor allem aber den Skulpturen, blieb Habig nicht bei der Abstraktion. Er war ein vielseitiger Künstler, der vor allem durch Porträts von sich reden gemacht hat. Im Foyer des Recklinghauser Festspielhauses steht bis heute ein Porträt des Mitbegründers der Ruhrfestspiele, Otto Burrmeister, das Habig geschaffen hat. Ebenso gibt es von ihm eine Herbert-Wehner-Büste, die der SPD-Politiker von allen seinen Darstellungen am meisten schätzte. Stolz ließ sich Wehner in den achtziger Jahren neben der Habig-Büste ablichten.

Erschütterndes Gegenbild zu heldenhaften Christus-Darstellungen

Erschreckendes Sinnbild von Diktatur und Terror ist Habigs Büste des spanischen Diktators Franco: ein hohler Kopf mit greisenhaftem, bösartigem Gesicht und toten Augen. Davon sprach Habigs Freund Gerd Holtmann, Kamener Junge und späterer Leiter der Ruhrfestspiele, immer in einer Mischung von Bewunderung und Abscheu. „Man kann die Figur nicht lange um sich ertragen“, urteilte er. „Man hat das Gefühl, das Bösartige greift nach einem.“

Habig-Skulptur: Christus von Kevelaer. (Foto: © Stefan Milk)

Bekannte Habig-Skulptur: Christus von Kevelaer. (Foto: © Stefan Milk)

Gänzlich anders, wenn auch ebenfalls erschreckend, ist Habigs sehr bekannte Darstellung „Der Christus von Kevelaer“ gestaltet, die Einzug gefunden hat in viele Religionsbücher. Für die evangelische Kirche in Kevelaer hatte er in den fünfziger Jahren den Auftrag erhalten, ein Kruzifix zu gestalten. Habig erinnerte sich an die heldenhaften Darstellungen des germanisch geprägten Christus während der Nazizeit und hielt ein Antibild dagegen.

Vorbilder für seinen Christus waren die ausgemergelten, zu Tode geschundenen KZ-Insassen, die aus dem Gasofen gezogenen Skelette, eine Provokation, die auch in Kevelaer anfangs zu heftigen Auseinandersetzungen führte.

Ein verzerrter, entsetzlich entstellter Körper hängt an einem schmalen Bronzekreuz, der Brustkorb hat ein tiefes Loch, Ellbogen und Schultergelenke sind überdeutlich herausgedrückt, dabei ist die Figur weit nach vorn gesackt und nur noch durch die Nägel mit dem Kreuz verbunden. Man bleibt gebannt stehen, wenn man die Christuskirche in Kevelaer besucht.

1990, nur wenige Monate nach seiner Pensionierung, ist er in seinem Haus in Hamm-Sandbochum im Alter von 65 Jahren gestorben. Es ist an der Zeit, an diesen Künstler zu erinnern, der leider viel zu wenige, dafür aber großartige Werke geschaffen hat.

 

 

 

 

 

 




Wie sich die chinesische Lyrik nach und nach von Fesseln befreite und endlich den Alltag entdeckte

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über chinesische Gegenwartslyrik und eine Begegnung mit einigen ihrer Urheber:

Wenn in Chinas Schulen Lyrik besprochen wird, sind es meist traditionelle Gedichte aus der Tang- (618-907 n. Chr.) und der Song-Dynastie (960-1279 n. Chr.). Dabei hätte die chinesische Gegenwartslyrik durchaus Beachtung verdient, hat sie doch in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen.

Der stilbildende Lyriker Ai Qing im Jahr 1929. (Foto: unbekannt / gemeinfrei - Link mit Lizenzangaben:)

Der stilbildende Lyriker Ai Qing im Jahr 1929. (Foto: unbekannt / gemeinfrei / Wikimedia Commons – Link mit Lizenzangaben: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ai_Qing_1929.jpg)

So viel Lyrikbände und Anthologien wie selten zuvor sind im vergangenen Jahrzehnt veröffentlicht worden. Wer hier allerdings spektakuläre Zahlen angesichts eines 1,35-Milliarden-Volkes erwartet, sieht sich schnell enttäuscht.

Etwa 80 Prozent der Chinesen sind Bauern, die meisten wohnen weit weg von den boomenden Städten. Vom Wirtschaftsaufschwung, der spürbaren Öffnung und dem Bildungshunger bekommen allenfalls einige ihrer Kinder etwas mit. 1000 Lyrikanthologien mit jeweils ein paar tausend verkauften Exemplaren, das sind auch für China respektable Zahlen. Übrigens nicht nur für Lyrikbände.

Annäherung an die Umgangssprache

Das gewachsene Interesse an der Gegenwartslyrik rührt zum Teil daher, dass sie den Lesern weit entgegenkommt, hat sie sich doch von traditionellen Formen und Inhalten gelöst und den Alltag entdeckt, so dass sich die Leser in ihnen wiederfinden.

Chinas Lyrik der letzten Jahrzehnte kann man grob in drei Etappen einteilen. Bis zur „Neue-Literatur-Bewegung“, die sich im Mai 1919 formierte, war die chinesische Lyrik formal und inhaltlich streng festgeschrieben. Beispiel ist hier die chinesische Reimform „Ch`e“ (auch „Tz´i“). Sie besteht aus zwei vierversigen Strophen mit vorgeschriebenem Reimschema, je Vers sieben Silben (ersatzweise auch Wörter), mit Bruch jeweils nach der vierten Silbe. Geschrieben in hohem Tonfall und festgelegter Metaphorik (etwa der gelbe Fluss als Bild für die Mutter).

Danach begannen sich die chinesischen Lyriker der Umgangssprache zu nähern und suchten nach neuen Metaphern, die dem Alltag der Menschen entnommen und folglich zeitaktuell waren. Unter den ausländischen Autoren waren Whitman oder Tagore Vorbilder.

Die Mauer und der Flug der Vögel

Ein weiteres Fortschreiten in diese Richtung erfolgte dann in den 50er Jahren in der Phase der „patriotisch-politischen Lyrik“, wie manche Chinesen diese Richtung nennen. Dichterkreise wie „Juli“ oder „Neun Blätter“ spielten eine wichtige Rolle. Der Sprachrhythmus wurde noch fließender, so dass Emotionen stärker zum Ausdruck gebracht werden konnten.

Dichter wie Ai Qing, Zang Ke-Jia, He Qi-Fang oder Tian Jian traten nun hervor. Insbesondere Ai Qing (Jahrgang 1910) hat der Gegenwartslyrik viele ästhetische Impulse gegeben, er zählt zu den wichtigsten chinesischen Lyrikern. Bei einem Besuch in Deutschland 1979 schrieb er u.a. ein Gedicht über das Geburtshaus von Karl Marx und eines über die Mauer in Berlin, die Ai Qing in bewegenden Bildern kritisierte:

…wie könnte sie
die Flüge der Vögel und den Gesang der Nachtigall verhindern?

Wie könnte sie
das fließende Wasser und die Luft aufhalten?

Wie könnte sie
die Gedanken von Hunderttausenden
freier als der Wind
ihren Willen fester als das Land
ihre Wünsche dauerhafter als die Zeit verhindern?

Als „rechte Elemente“ verfolgt

Schon diese Dichter hatten mit Verfolgung zu kämpfen. Gong Liu (Jg. 1927) zum Beispiel, der ein wunderschönes Vater-Gedicht schrieb, seinen Vater und alle Väter meinend, ein Gedicht,  in dem er den unermüdlichen Fleiß der Väter beschreibt, die doch in der langen Geschichte Chinas stets um den Lohn ihrer Arbeit gebracht wurden, Gong Liu also wurde in den 50er Jahren als „rechtes Element“ verurteilt, in den 80er Jahren aber rehabilitiert und begann dann wieder zu schreiben.

Ähnlich erging es Liu Shahe (Jg. 1931) und Shao Yanxiang (Jg. 1933), die in ihren Anfangsjahren mutig einen subjektiv-ehrlichen Ton gegen die vorherrschende Lob- und Preislyrik der fünfziger und sechziger Jahre setzten, die dafür verfolgt wurden und erst nach ihrer Rehabilitierung (stets Anfang der achtziger Jahre) ihre literarische Arbeit wieder aufnehmen konnten. Sie zeigten Mut und Konsequenz, die Respekt abnötigen.

Monlonliteratur setzt auf Subjektivität

Insgesamt kann man den Trend der chinesischen Lyrik als Entwicklung zu immer mehr Subjektivität im Inhalt, zu immer stärkerer Anknüpfung an die Umgangssprache im Formalen bewerten. Die letzte der drei Etappen wird Monlonliteratur genannt. Monlon bedeutet „verschwommen“.  Es wird also bewusst auf das Vage, Nicht-Eindeutige, auf das Andeutende gesetzt, auf starke Subjektivität also. Sie ist ganz sicher eine Reaktion auf die zerstörerische Kulturrevolution, auf den politischen Druck und hatte ihren Ursprung in der  sogenannten „Schubladenliteratur“, die während der Kulturrevolution geschrieben, aber erst nach deren Ende und vor allem nach Maos Tod 1976 veröffentlicht werden durfte.

Der Lyriker Bei Dao im Jahr 2010 auf dem Freiheitsplatz in Tallinn/Estland. (Foto: Avjoska / Link zur Lizenz:

Auch bei uns bekannt: der Lyriker Bei Dao im Jahr 2010 – auf dem Freiheitsplatz in Tallinn/Estland. (Foto: Avjoska / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/)

Mühsam mussten sich Chinas Schriftsteller danach den Anschluss an die Moderne erarbeiteten. Ganz, so urteilte der Bonner Sinologe Alfred Kubin in einem Vortrag vor einigen Jahren in Shanghai, sei ihr das bis heute nicht gelungen. Die chinesische Literatur sei immer noch sinozentristisch, urteilte er.

Chinas Schriftsteller, unter anderem der stellvertretende Vorsitzende des Schriftstellerverbands Chen Zhong Shi, dessen berühmten Roman „Bai Lu Yuan“, in dem er am Beispiel eines Dorfes Chinas jüngste Geschichte erzählt, jeder Chinese kennt, zeigten Betroffenheit. Kubin hatte etwas angesprochen, das auch Chen Zhong Shi sehr zu denken gab. Es ist eine Lücke, die teilweise den Autoren, zum großen Teil aber den politischen Umständen anzulasten ist.

Bei Dao (Jg. 1949), Gu Cheng (Jg. 1956), Shu Ting (Jg. 1952) und Jiang He (d.i. Yu Youze, Jg. 1949) sind wichtige Namen dieser Richtung. Diese Lyrik hat im heutigen China, das sich vergleichsweise weit geöffnet hat, auch offizielle Anerkennung gefunden. Gu Cheng und Shu Ting beispielsweise bekamen für ihre Lyrikbände Preise des Schriftstellerverbands.

Von allen ist in Deutschland vermutlich Bei Dao der bekannsteste. Von ihm daher der Auszug aus einem Gedicht:

Der Akkord

Der Wald und ich
umkreisen eng den kleinen See
Die Hand ins Wasser getaucht
stört der Möwe tief sinnende Augen
Der Wald einsam und allein
Das Meer weit entfernt

Ich gehe auf die Straße
Der Lärm wird zurückgehalten hinter dem Rot
Der Schatten breitet sich
fächerartig aus
Die Fußstapfen schief und schräg
Die Verkehrsinsel einsam und allein
Das Meer weit entfernt…

Chinesisch-deutsches Treffen in Xi’an

Zwischen bundesdeutschen Schriftstellern und jüngeren Vertretern der Monlonliteratur gab es 1993 in Xi´an eine hochinteressante Begegnung. Über den Hintereingang kamen die chinesischen Schriftsteller ins Hotel, es war ein kalter Wintertag, sie trugen zwei Hosen übereinander, wie es manche Chinesen damals im Winter machten, weil sie zu Hause nicht genügend heizen konnten.

Shen Qi, Lyriker und Hochschullehrer, Yi Sha, ein damals etwas dicklicher junger Mann, Chefredakteur einer Hochschulzeitung und als avantgardistischer Schriftsteller in der Provinz Shaanxi durchaus bekannt, dazu der junge Lyriker Jiang Tao suchten das Gespräch mit den deutschen Kollegen.

Ein Covergirl als Tarnung

Während Tee getrunken wurde, erzählten die chinesischen Lyriker, dass sie die Untergrundzeitung “Genesis“ herausgaben, die von Auslandschinesen finanziert wurde, aber nicht offiziell zu kaufen war, sondern an Abonnenten per Post verschickt wurde. Um ihre Zeitschrift weiter zu tarnen, setzten sie ein Covergirl auf das Umschlagbild, so dass man nicht gleich merken konnte, dass es sich um eine Zeitschrift mit zeitkritischen Monlon-Gedichten handelte.

Sie betonten all die oben beschriebenen Elemente, die die neue chinesische Lyrik auszeichneten, wie die Abkehr von formaler Strenge und die Annäherung an die Alltagssprache. Damals waren sie gerade dabei, die europäische Literatur des Absurden wie etwa Beckett für sich zu entdecken, und die bundesdeutschen Autoren spürten, wie weit sie von den herrschenden Strömungen entfernt waren.

Harndrang über dem Gelben Fluss

Die chinesischen Autoren selbst spürten das auch, baten um Verständnis und erzählten, dass sie, um die Lücken schneller aufarbeiten zu können, in Gruppen zusammenarbeiteten. Dort könnten sie durch Austausch schneller lernen. Gerne würden sie sich auch zu gemeinsamen Spaziergängen verabreden, weil sie dabei am ungestörtesten (gemeint war wohl auch: am sichersten) miteinander reden konnten. Sie legten weniger Wert darauf, gedruckt zu werden, sondern wollten über Lesungen ihre Literatur verbreiten, um so eine direkte Wirkung zu erzielen.

Zum Schluss las damals Yi Sha zwei seiner Gedichte vor, eines, bei dem er stotterte (eine krasse Anlehnung an die gesprochene Sprache), ein weiteres, in dem der Gelbe Fluss auftauchte, in der alten chinesischen Lyrik das Bild für die Mutter. Bei Yi Sha aber war das anders, denn er schilderte eine Zugfahrt und gerade in jenem Moment, als der Zug die Brücke über den Gelben Fluss befährt, muss das lyrische Ich zur Toilette und pinkeln. Drastischer konnte er sich nicht von der alten Metaphorik und ihrem Pathos absetzen. Inzwischen ist er längst ein bekannter Dichter in China. Unter seinem richtigen Namen Wu Wenjian arbeitet er als Professor an der Fremdsprachenuniversität Xisu in Xi´an.




Suche nach dem Gral – Peter Handke (75) und sein neues Werk „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“

Gastautor Frank Dietschreit über das neue Buch von Peter Handke, der gestern (6. Dezember) 75 Jahre alt geworden ist:

Er weiß um „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ und wie schwer „Das Gewicht der Welt“ wiegt. „Wunschloses Unglück“ hat er erfahren und „Die Stunde der wahren Empfindung“ durchlebt. Wenn er sich nicht gerade der „Publikumsbeschimpfung“ widmet und sich zum „Bewohner des Elfenbeinturms“ stilisiert, fließt ihm „Der kurze Brief zum langen Abschied“ aus der Feder.

Peter Handke, seit gestern 75 Jahre alt, hier eine Aufnahme von 2006. (GFDL Free Documentation License / Wikipedia - © Wild + Team Agentur UNI Salzburg - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Peter Handke, seit gestern 75 Jahre alt, hier eine Aufnahme von 2006. (GFDL Free Documentation License / Wikipedia – © Wild + Team Agentur UNI Salzburg – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Selbst wer nie einen Roman von Peter Handke gelesen oder eines seiner Theaterstück gesehen hat, kennt die zu poetischen Gemeinplätzen und literarischen Sprichwörtern gewordenen Titel seiner Werke.

Peter Handke, am 6. Dezember 1942 in Kärnten geboren, zählt, auch wenn er seit vielen Jahren in einem verwunschenen Haus in der Nähe von Paris lebt, zu den bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Lange Zeit war er, der zusammen mit Filme-Macher Wim Wenders den „Himmel über Berlin“ engelsgleich erstrahlen ließ, so etwas wie der Lieblingsautor der linken Kultur-Schickeria.

Mit vielen Leuten hat er es sich verscherzt

Doch seit er eine „winterliche Reise“ auf den von blutigen Bürgerkriegen zerstörten Balkan unternahm, gar „Gerechtigkeit für Serbien“ forderte und beim Begräbnis von Massenmörder Milosevic als Grabredner auftrat, hat Handke, der gern gegen den politischen Mainstream anschwimmt und auf politische Korrektheit pfeift, es sich mit den meisten ehemaligen Fans und Freunden gründlich verscherzt. Nur mit spitzen Fingern werden seine Bücher noch zur Kenntnis genommen.

Aber das dürfte dem fröhlich in seiner weltabgewandten „Niemandsbucht“ hockenden Handke ziemlich schnuppe sein, hat er seinen Kritikern und vielen Kollegen doch immer schon eine notorische „Beschreibungs-Impotenz“ attestiert und ihre Literatur als „idiotisch“ und „läppisch“ beschimpft. Dass Handke sich nun zu seinem 75. Geburtstag mit einem Buch beschenkt, das vollgepackt ist mit literarischen Anspielungen und poetischen Fantasien, die nur er selbst wirklich verstehen und genießen kann, liegt auf der Hand.

Märchen, Meditation, Gebet und Gesang

„Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“ trägt Züge eines Alterswerks und wirkt, als wolle Handke seinen Nachlass sichten. Die zwischen Märchen und Meditation, Gebet und Gesang angesiedelte Geschichte beginnt „an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird.“

Der Erzähler, Handke selbst, bricht von Chaville bei Paris auf zu einer dreitägigen Reise ins Umland, in die Picardie, die Kornkammer Frankreichs. Doch bis er sein Haus aufgeräumt, das Gartentor verschlossen und sein Bahnticket gekauft hat, sind schon fast 100 Seiten vergangen. Alles was er erlebt, sieht und denkt, muss noch schnell aufs Papier.

Und kaum sitzt er im Zug, glaubt er sie unter den Mitreisenden zu erkennen, Alexia, die Obstdiebin, auf deren Spuren er sich begeben, die er beobachten und begleiten möchte auf ihrem Weg zu einem Familientreffen. Der mit dem Handke-Kosmos vertraute Leser kennt sie aus dem Theaterstück „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“: Dort huschte sie einmal als „Parzivals Schwester“ und „im Gewand einer Obstdiebin“ durch die an Wolfram von Eschenbach erinnernde Szenerie.

Am Wegesrand alles Vorhandene aufsammeln

Wolframs Geschichte von der Gralssuche spielt auch jetzt wieder eine mit kulturgeschichtlichen Querweisen verkomplizierte Rolle und ergibt reichlich Stoff für viele neunmalkluge Seminararbeiten. Schauen wir lieber auf die Diebin, die alles aufsammelt, was sie am Wegesrand so findet, Obst, Blumen, Menschen und Gedanken. Kaum hält der Zug auf freier Strecke, eilt sie über die Stoppelfelder davon. Der Erzähler hinterher. Er hört jetzt auf, von sich und seinen Befindlichkeiten zu sprechen, sondern denkt sich ganz in die junge Frau hinein und beschreibt nur, was sie sieht und fühlt.

Mal übernachtet sie in einer aus der Zeit gefallenen trostlosen Herberge, mal gabelt sie einen melancholischen Jungen auf und rettet ihn vorm Selbstmord. Mal sitzt sie am Rande eines Dorfplatzes und beobachtet das Treiben, als wären wir in Handkes Schauspiel über „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“. Sie ist eine Wahlverwandte von Handkes Tochter Léocadie, die einmal in der Erzählung von der „morawischen Nacht“ auftrat und nun für den Rapper Eminem schwärmt. Überhaupt spielt Handke auf der Klaviatur der Pop-Musik, zitiert, wie in seinem „Versuch über die Jukebox“, die Beatles herbei, Janis Joplin und Johnny Cash.

„Der Schuh im Straßengraben war ein Schuh im Straßengraben“

Die Geschichte der streunenden Obstdiebin, die vielleicht nicht den Gral, aber dafür in tiefster Provinz Vater, Mutter und Bruder wiederfindet, kennt keine Begründung und ihre Figuren haben keine Psychologie. Auf die Frage „Warum?“ antwortet der Erzähler: „Kein Warum“. Für die Obstdiebin wie für Handke gilt: „Alles war, was es war. Der Schuh im Straßengraben war ein Schuh im Straßengraben. Und das jetzt ist das, und das jetzt das, und so fort.“

Eigentlich unterscheidet sich der von unzähligen Frage- und Ausrufezeichen, Gedankenstrichen und Reflexionen unterbrochene Erzählstrom kaum von all seinen Vorgängern. Doch dann schwappt der Terror, die allgegenwärtige Bedrohung und Verunsicherung immer mal wieder ans Ufer der Realität. Nachrichten flackern durchs Bild, bewaffnete Polizisten sichern das Terrain, verschleierte Frauen verbreiten Furcht.

Nch drei Tagen Fahrt ins Landesinnere ist alles erlebt und alles gesagt, ist „jede Stunde dramatisch gewesen, auch wenn sich nichts ereignete.“ Jetzt aber schnell zurück nach Hause, in die „Niemandsbucht“. Oder doch lieber woandershin, gar etwas Neues wagen?

Peter Handke: „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere.“ Suhrkamp, Berlin 2017. 560 Seiten, 34 Euro.

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Stichworte zur Vita:

Geboren wird Peter Handke am 6.12.1942 in Griffen/Kärnten. Einen Teil seiner Kindheit verbringt er im zerbombten Berlin.

1966 wird Handke mit seinem Roman „Die Hornissen“ und dem von Claus Peymann uraufgeführten Stück „Publikumsbeschimpfung“ schlagartig bekannt. Im selben Jahr beleidigt er bei einer Tagung der Gruppe 47 die anwesenden Kritiker und Kollegen, polemisiert gegen politisch engagierte Literatur und erklärt sich zum Bewohner des Elfenbeinturms.

Mehrfach arbeitet er mit Filmemacher Wim Wenders zusammen („Die Angst des Tormanns bei  Elfmeter“, „Der Himmel über Berlin“, „Die schönen Tage von Aranjuez“).

Als er 1996 „Gerechtigkeit für Serbien“ fordert, fällt er bei vielen Kritikern und Kollegen in Ungnade.

Zweimal ist Handke mit Schauspielerinnen verheiratet, zuerst mit Libgart Schwarz, dann mit Sophie Semin.

Seit 1990 wohnt Handke in einem Haus in Chaville bei Paris und unternimmt von seiner „Niemandsbucht“ aus literarische Wanderungen durch europäische Landschaften und Kriegsgebiete.




Der Nikolaus und die Phantasie, die wir so dringend brauchen

Gastautor Heinrich Peuckmann über den Nikolaus und seine bleibende Bedeutung:

In letzten Jahr habe ich nach vielen Jahren Pause anlässlich des Besuches meiner Nichte und ihrer beiden kleinen Töchter das Nikolauskostüm aus dem Schrank geholt. Während meine Frau und einer meiner Söhne unsere Gäste im Wohnzimmer begrüßten, hielt ich mich versteckt.

Nicht der Verfasser dieses Beitrags, wohl aber der Blogbetreiber Bernd Berke in früheren Jahren mit dem Nikolaus. (Foto: Berke / Privat)

Besuch vom Nikolaus vor etwas längerer Zeit. (Foto: B. Berke / Privat)

In einem passenden Moment schlich ich mich in den Keller, zog mir das Kostüm an, schaute in einen Spiegel und erkannte mich selbst nicht mehr. Kein Zweifel, das war er, der mir da im Spiegelbild entgegen lächelte, der Nikolaus mit seiner Knollennase. Über die Terrasse ging ich offen auf unser Haus zu, die beiden Mädchen entdeckten mich sofort und kamen auf die Tür zugelaufen.

Ein skeptischer Grundschüler

Die Kleinere hat mich zwar sofort erkannt, aber das machte nichts. Bevor der Nikolaus die Geschenke aus seinem Sack holte, haben beide brav ein Gedicht aufgesagt und natürlich nicht mit der Rute Bekanntschaft gemacht. Wo kämen wir da hin? Die bekam sanft einer meiner Söhne zu spüren, weil der seinen Vater im verflossenen Jahr geärgert hatte. Der Nikolaus hatte irgendwie davon erfahren.

Nachher, um die Zweifel der Kinder zu mehren, ging der Nikolaus für alle sichtbar an unserem Haus vorbei zur Nachbarstraße, drehte sich noch ein paarmal um und winkte ihnen zum Abschied zu. Was der Nikolaus nicht wusste, im Nachbarhaus packten gerade zwei Kinder ihre Stiefel aus, in die der Nikolaus etwas hineingelegt hatte, und der Größere, ein Grundschuljunge, erklärte selbstbewusst, den Nikolaus gäbe es gar nicht, es sei seine Oma gewesen, die die Stiefel gefüllt hätte. Hatte sie auch und wusste deshalb keine Antwort. Aber dann schaute sie zufällig aus dem Fenster und rief: „Aber da ist er ja, der Nikolaus. Kommt schnell, dann könnt ihr ihn noch sehen.“

Die Welt mit anderen Augen sehen

Die Kinder stürmten zum Fenster und tatsächlich, da stand ein kleiner dicker Nikolaus mit Knollennase vor ihnen auf der Straße. Und noch besser, er winkte ihnen sogar zu, jedenfalls glaubten sie das. Selbst der Skeptiker, der Grundschuljunge, staunte mit offenem Mund und winkte, zur Freude seiner Oma, zaghaft zurück.

Kindheit braucht Geheimnisse, an denen sich Phantasie entzündet. Gerade der uralte Mythos liefert sie und gibt Anstoß, die Welt anders zu sehen, als sie gerade erscheint. Kinder nehmen das mit ins Leben, haben Freude an weiteren Geheimnissen und empfinden es als Anstoß, die Welt mit Phantasie immer neu zu sehen.

Und nebenbei schult es die Sozialkompetenz. So können die Kinder sich besser in die Lage ihres Nächsten versetzen, können Probleme, Ängste und Freuden nachempfinden und rücksichtsvoll darauf eingehen. Eine Fähigkeit, die sie mitnehmen ins Erwachsenenleben und dann vielleicht noch mehr benötigen.

Wider das zweckrationalistische Menschenbild

Wie traurig, dass pseudoaufklärerische Eltern  diese Gelegenheit nicht nur verstreichen lassen, sondern ihren Kindern auch noch vermeintlich rationale Erklärungen geben, warum das alles Humbug sei. Sie merken nicht, wie sie dabei einem Menschenbild Vorschub leisten, das sowieso schon den größten Teil unseres Lebens beherrscht. Einem Menschenbild der Zweckmäßigkeit, der bloßen Tätigkeit zur Gewinnmaximierung, des klaren Kalküls. Ein Weltbild insgesamt, das alles unter den Vorbehalt der Berechnung und Berechenbarkeit stellt.

Phantasie, und das heißt allemal, sich eine Welt vorstellen zu können, die anders ist als jene, die uns gefangen nehmen will und die, wer weiß, vielleicht sogar Wirklichkeit werden könnte, stört da nur. Sie ist, man muss das deutlich sagen, systemkritisch. Nackte Fakten, angeblich unumstößlich, sollen unser Denken prägen und jenen, die davon bestens profitieren, ihre Gewinne sichern und ihre Gier stillen.

Börsenmakler missbrauchen den Begriff

Das Wort Phantasie taugt da nur noch in der Verwendung der Börsenmakler. Diese oder jene Aktie, verkündigten sie lauthals, lasse noch „Phantasie“ nach oben offen und meinen damit nichts anderes als weiteren Gewinn und Abzocke. Das arme Wort, angetan, sich neue, ganz andere Welten vorzustellen, kann sich gegen den Missbrauch nicht wehren. Unbarmherzig wird es in jene Welt eingebaut, gegen die es eigentlich steht. Ihm geht es da nicht besser als dem Nikolaus, der nicht als Beglücker der Kinder für ein barmherziges Leben stehen soll, sondern der im Kaufhaus Anreiz für Konsum schaffen muss, der zum Weihnachtsmann mutiert und ganz Konsumgeist wird.

Geheimnisse erleben, Phantasie entwickeln, wie wichtig in allen Zeiten. Und wie schnöde und gedankenlos kaputt gemacht für ein Weltbild, das viele Erwachsene nicht einmal durchschauen. Wie denn auch? Wie sollten sie genug Phantasie entwickeln, sich die Welt anders vorzustellen als sie gerade ist, wenn sie schon gedankenlos jene ihrer Kinder unterdrücken.

Unser Nikolaus war jedenfalls zufrieden mit seinem Auftritt. Er hat keine Kinder geängstigt, wie das oft als Argument gegen den Mythos verwendet wird, sondern er hat ihre Vorstellungen von Leben erweitert und Zweifel an der rein rationalen Zweckmäßigkeit gestreut. Unser Nikolaus soll, als er heimlich in den Keller zurückkehrte, laut gelacht haben. Aber ob das stimmt, muss man ihn am besten selber fragen.




Eine Begegnung mit dem großen Journalisten Georg Stefan Troller (96) – und ein verdienstvoller Verleger aus Köln

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über eine Begegnung mit dem vorbildlichen Journalisten Georg Stefan Troller, der inzwischen 96 Jahre alt ist. Anlass war die Verleihung des Hermann-Kesten-Preises in Darmstadt:

Diesjähriger Träger des Hermann-Kesten-Preises, gestiftet von der Autorenvereinigung PEN und vom Land Hessen, ist der Kölner Verleger Thomas B. Schumann, der in seinem Verlag Edition Memoria ausschließlich Bücher verfolgter Schriftsteller herausbringt, die vor den Nazis fliehen mussten und die nach dem Ende der Nazizeit oftmals nicht mehr die Anerkennung fanden, die sie vorher gehabt hatten.

Von links: der legendäre Journalist Georg Stefan Troller, der Verleger Thomas B. Schumann und unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann. (Foto: Tanja Kinkel)

Von links: der legendäre Journalist Georg Stefan Troller, der Verleger und Kesten-Preisträger Thomas B. Schumann und unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann. (Foto: Tanja Kinkel)

Es ist eine höchst verdienstvolle Arbeit, die Schumann da für die deutsche Literaturgeschichte leistet und die ihn oft genug an finanzielle Grenzen gebracht hat. Die Laudatio bei der Preisverleihung in Darmstadt war etwas ganz Besonderes, denn sie hielt zur Freude der Veranstalter der Fernsehjournalist Georg Stefan Troller, der, inzwischen 96 Jahre alt, extra aus Paris angereist war.

Troller ist unter den Journalisten eine Institution, sein „Pariser Journal“ im Fernsehen ist unvergessen. Der Bezug zwischen Preisträger und Laudator ist schnell geklärt. Troller veröffentlicht noch jedes Jahr ein neues Buch, gerne in Schumanns Edition. Entsprechend persönlich fiel Trollers Rede aus, in die er das Schicksal einiger der verfolgten Schriftsteller einflocht. Eingeleitet hat er sie aber mit einem schönen Zitat. Nach viel Lob bei seiner Vorstellung zitierte er seinen Vater, einen jüdischen Pelzhändler, der mal zu ihm gesagt hat: „Also Georgie, dass aus dir noch was geworden ist, ich hätte es nicht gedacht.“

Für die US-Army gegen die Nazideutschland gekämpft

Troller ist als österreichischer Jude selbst ein Opfer der Nazis, musste über die Tschechoslowakei und Frankreich in die USA fliehen, wurde dort eingezogen und kämpfte in der US-Army gegen Nazideutschland. Nach dem Krieg blieb er in Europa, fand aber, wie viele Exilierte, keinen Anschluss mehr in seiner alten Heimat und blieb daher in Frankreich. Auch dies ist ein Faktum, dass es zur Kenntnis zu nehmen gilt, genau wie die Tatsache, dass hauptsächlich im Westen die Exilautoren wenig bis gar nicht beachtet wurden, in der DDR dagegen schon.

In der Reihe seines Pariser Journals, in dem er mit sonorer Stimme seine Kommentare vortrug, hat er großartige Sendungen produziert und dabei oft verfolgte Autoren vorgestellt. Dazu gehörte Georg K. Glaser, dessen großartiger Roman „Geheimnis und Gewalt“ etwa alle zwanzig Jahre wiederentdeckt wird. Seine kommunistische Jugend schildert Glaser darin in einer großartig-kraftvollen Sprache, die an Luther erinnert. Von den Nazis wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt, floh nach Frankreich, kam als französischer Soldat in deutsche Gefangenschaft, aber die Nazis fanden nicht heraus, wer dieser vermeintliche Franzose in Wirklichkeit war. Später blieb auch er in Frankreich und betrieb bis zu seinem Tod 1995 eine Silberschmiede in der Nähe der „Place de la Concorde“.

An Glasers Roman ist die Schilderung seiner Abkehr vom Stalin-Kommunismus besonders interessant, die er beeindruckend schildert. Auch entlarvt er anhand von eindrucksvollen Erlebnissen diese Ideologie. Eines der wenigen Bilddokumente über diesen völlig unterschätzten Autor hat Troller produziert.

Gespräche mit Ezra Pound und William Somerset Maugham

Troller war es auch, dem der große Ezra Pound ein Interview gab, das einzige nach Pounds vielen Jahren in der Psychiatrie. Groß war Pound in zweifacher Hinsicht, in seiner Lyrik nämlich, den Pisaner Elegien – und in seinem schrecklichen Irrtum bei seinen Hetzreden im italienischen Rundfunk für Mussolini. Wie ein solcher Autor beides zusammen bringen konnte, diese großartigen Gedichte, dazu seine absolute Hilfsbereitschaft für andere Autoren und dann die rassistischen Nazireden, wird vielleicht nie ganz zu klären sein. Troller hat er gesagt, dass er nach seinem Irrtum schweige, das sei es, was ihm übrig geblieben sei. Aber er hätte das Schweigen nicht gesucht, es sei zu ihm gekommen. Nach der Preisverleihung hatte ich Gelegenheit, mit Troller darüber zu sprechen. Eine tiefere Erklärung für Pounds Handeln hat auch Troller bis jetzt nicht.

Die ehemaligen Autorenfreunde, die Pound vor der Nazizeit hatte, haben ihn übrigens alle fallen gelassen, Ausnahmen waren William C. Williams, obwohl Pound ihn in seinen Hetzreden auch noch verleumdet hatte – und Ernest Hemingway. Was dann doch für die Menschlichkeit dieser beiden Autoren spricht.

Somerset Maugham hat Troller ebenfalls ein Interview gegeben und dabei tiefe Einblicke in sein Seelenleben gegeben. Das war halt die Stärke von Troller, dass er den Nerv seiner Interviewpartner traf und sie ihm vertrauten. Maugham, der über 80 Bücher schrieb, die fast alle Bestseller wurden, vertraute Troller an, dass er selten in seinem Leben glücklich gewesen sei. An ihm nagten bis ins hohe Alter (auch er wurde über 90) die Demütigungen aus der Jugendzeit, denn Maugham war Stotterer. Der Spott, den er als Kind deswegen ertragen musste, hat ihn lebenslang verletzt.

Wenn das Gegenüber tiefes Vertrauen fasst

Das war es, was Trollers Reportagen so einzigartig macht, der tiefe Einblick in die porträtierten Menschen. Es war seine große Kunst, sein Gegenüber so gut zu verstehen, dass der Vertrauen zu ihm fasste.

Troller ist den damaligen Verantwortlichen in den Sendern dankbar, dass sie ihm die Chance gaben, bei ihnen mitzuarbeiten. Wenigstens hier hat der Exilautor wieder Tritt fassen können. Er hat es den verantwortlichen Redakteuren mit unvergesslichen Reportagen gedankt. Troller hat sich immer dem deutschen Sprachraum zugehörig gefühlt, nur hier wieder heimisch zu werden, das hat er nicht geschafft.

So bleibt ein geteilter Blick auf Troller. Einmal die Freude über seine journalistische Arbeit und der Respekt davor, dann die Wehmut, dass solche Sendungen heute fehlen. Einen zweiten Georg Stefan Troller müsste es geben, habe ich gedacht, als ich ihm in Darmstadt begegnete. Der Original allerdings, das konnten alle Zuhörer bei der Darmstädter Preisverleihung erleben, ist trotz des hohen Alters noch erstaunlich fit. Weitere Bücher in Schumanns Edition Memoria sind bestimmt noch zu erwarten.




Wenn Vater von der Zeche kam, sagte er nur „Na, Sohnemann“ – Kindheit im Revier, geprägt von Liebe und Begrenztheit

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, mit einer Kindheitserinnerung aus dem Revier von damals:

Da ist ein Bild, ganz tief in mir gespeichert, das mich nicht loslässt mein Leben lang. Ich bin noch Kind, nicht mal zehn Jahre alt. Die Schule ist aus, wir spielen Fußball auf dem großen, freien Platz, dem Kamener Schützenhof, direkt vor unserer Haustür.

Wie aus einer anderen Zeit: in einer Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Zeugnis einer anderen Zeit: in Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Wir wollen Tilkowski werden, Fritz Walter oder dieser neue, dieser Uwe Seeler. Wir spielen selbstvergessen, eingetaucht in eine Welt, die ganz uns gehört und niemand sonst. Und wenn wir im Spiel auch erbitterte Gegner sind, sind doch vor allem eines, nämlich Freunde, teilweise bis heute.

Fußballbilder in Tüten vom Kiosk

Wenn die Glocken der Pauluskirche mit dem schiefen Turm dreimal läuten, schaue ich hinüber zum Ende des Platzes, von dem aus man die Geschäftsstraße unserer Stadt erreichen kann. Die alte Politz hat dort an der Ecke ihr Kiosk. Sprudel können wir dort kaufen, wenn wir völlig verschwitzt sind und vor allem die Tüten mit den Fußballbildern. „Die Politz“, sagt meine Oma, „ist deine Sparkasse.“

Gleich, um kurz nach drei, das weiß ich, wird mein Vater dort auftauchen. Er ist Bergmann und kommt immer gegen drei Uhr von Zeche Heeren mit dem Bus nach Hause. Wenn ich ihn dann sehe, unterbreche ich mein Spiel, laufe hin zu ihm und merke, wie er lächelt, wenn er mich entdeckt. „Na, Sohnemann“, sagt er, wenn ich ihn erreiche und streichelt mir über den Kopf. Immer nur dies, „Na, Sohnemann“, dazu das Streicheln mit der Hand und sein Lächeln. Sonst nichts. Ein paar Schritte gehe ich neben ihm her, fasse ihn an der Hand, dann renne ich zurück zum Fußball, wo meine Freunde, deren Väter auch Bergleute sind, auf mich warten.

Ein tief erschöpfter Mann

Meine Mutter, das weiß ich, wartet schon mit dem Essen auf ihn, Gemüse, Kartoffeln aus dem Garten hinter unserem Haus, wir haben nicht viel Geld für Lebensmittel. Und anschließend, wenn er gegessen hat, raucht er Zigaretten in der Küche, zwei, drei. Immer zu viel. Er sitzt dann weit vorgebeugt auf seinem Stuhl, raucht und stöhnt zwischendurch leise. Ein tief erschöpfter Mann, für den die Arbeit vor Kohle viel zu schwer ist. Kaufmann hatte er gelernt, aber keine Arbeit gefunden, bis er dann dahin gekommen war, wohin alle Väter meiner Freunde im Ruhrgebiet gekommen waren. In den Pütt oder ins Loch, wie meine Mutter immer sagte.

Dieses Bild begleitet mich, mein Vater, wenn er von der Zeche kommt, wenn ich ihn begrüße und er nach Hause geht. Und unser selbstvergessenes Spiel mit meinen Freunden. Eine Kindheit, geprägt von Liebe und Begrenztheit.

„Wer so eine große Zahnlücke hat…“

Manchmal, wenn ich durch unser Haus lief, hielt meine Oma mich fest.
„Mach mal den Mund auf“, sagte sie und schaute auf die Zahnlücke zwischen meinen Schneidezähnen.
„Du kommst noch mal weit rum in der Welt“, sagte sie dann.
„Warum komme ich weit rum, Oma?“
„Wer so eine große Zahnlücke hat, der kommt weit rum“, antwortete sie.

Zwei Bäume aus jener Zeit stehen noch

Was das eine mit dem anderen zu tun hat, habe ich damals nicht verstanden und weiß es bis heute nicht, aber meine Oma hat recht gehabt. Ich bin in vielen Ländern gewesen und habe dort teilweise sogar Vorträge über deutsche Literatur und Lesungen gehalten, in Ländern, die sie sich nicht vorstellen konnte.

Den Platz meiner Kindheit gibt es noch, er sieht ganz anders aus als zu meiner Zeit. Vierstöckige Gebäude, Flachdach, unten Geschäftsräume, darin inzwischen viele Leerstände, darüber Wohnungen. Zwei Bäume stehen noch aus meiner Kindheit, zwei Bäume. Eine Platane, die zum Schulhof unserer Schule gehörte, die direkt neben dem Schützenhof lag, und eine Kastanie, die im Garten des Pfarrhauses, der Schule gegenüber stand. Ich habe ein Gedicht über diese letzten Zeugen meiner Kindheit geschrieben.

In diesem Bild lebt die Liebe meiner Eltern fort, die mir Kraft gab, große Schritte zu gehen und die Enge, die mich umgab, zu überwinden. Doch da ist auch die Trauer, dass sie, meine Mutter und mein Vater, die eine Begrenztheit, die geographische, nur sehr spät und auch das nur ein wenig, überwinden konnten. In dem anderen, in ihrer Liebe, aber waren sie grenzenlos.




„Wenn der Wind von Hörde kam, roch es wie Pech und Schwefel“ – Erinnerung an eine Kindheit im Dortmunder Süden

Unsere Gastautorin, die aus Dortmund stammende Malerin und Lyrikerin Marlies Blauth, ergänzt und erweitert mit diesem Beitrag die vor wenigen Tagen erschienene Dortmunder Kindheitsskizze von Bernd Berke:

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Dortmunder Süden, jedenfalls Berghofen, war früher noch ziemlich ländlich. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich was drauf einzubilden, dort zu wohnen – allenfalls wusste man zu schätzen, einen Garten zu haben und nutzen zu können. Es gab kaum einen, in dem nichts Essbares wuchs. Auch die „besseren“ Leute hatten immerhin ein Eckchen mit Johannisbeeren im Garten und zogen ein paar Kräuter und Salatköpfe.

War Erntezeit und diese ertragreich, wurde wild herumverschenkt oder getauscht: Birnen hin, Kartoffeln zurück. Ab einem bestimmten Alter hatte ich diese Botengänge zu übernehmen. Wir besaßen mittlerweile ein Auto, wären aber nie auf die Idee gekommen, damit zwei Kilo Kartoffeln eine Straße weiter zu transportieren.

Der Eierkauf war manchmal Glückssache

Auch einzukaufen war meine Aufgabe. Bereits als ich vier Jahre war, schickte man mich zum Tante-Emma-Laden „umme Ecke“, um „mal eben ein Pfund Mehl“ zu holen. Man gab mir einen Zettel ins Portemonnaie, ich reichte es an der Theke vorbei (da ich noch nicht oben dran kam), erhielt meine Sachen und das Wechselgeld auf demselben Weg und dackelte nach Hause.

Manchmal musste ich auch zweimal gehen, wenn etwas bei Tante Emma (es waren in Wirklichkeit zwei Schwestern, die den winzigen Laden betrieben) bereits ausverkauft war. „Dann gibt’s halt Wirsing, wenn kein Rotkohl da ist. Geh nochmal schnell.“ Eier wurden grundsätzlich bei Omma L. gekauft, die Hühner hielt. Manchmal bekam man die Anzahl, die man wollte, manchmal nicht, manchmal gab es überhaupt keine, weil auch die allerbeste Legehenne mal Urlaub braucht.

Ein Uhrengeschäft – welch ein Luxus

Nach Norden sahen wir auf das Himmelrot von Phoenix. Das war Hörde, da begann „die Stadt“. Denn dort gab es größere Läden als Tante Emmas. Ein Uhrengeschäft, wahrer Luxus! Eine Schulfreundin träumte einmal, dass der Phoenix-Kühlturm explodiert sei, an dem wir oft vorbeifuhren. An diesen dramatischen Traum muss ich manchmal denken, wenn ich heute von derselben Stelle zum Phoenixsee (durch-)gucke, ohne den Turm.

Manchmal, wenn der Wind von Hörde kam, roch es „wie Pech und Schwefel – mach’s Fenster zu“. Die Emscher und deren kleinere Bach-Geschwister kommen als „grauer Leberpudding, der aus dem Mund stank“ in einem meiner Gedichte vor. Ich war übrigens schon länger in der Schule, als Berghofen noch immer nicht vollständig kanalisiert war: Bäche mit Bäh-Wasser flossen neben der Straße her.

Einfaches „Häuschen“ auf gepachtetem Acker

Diejenigen, die dem Süden seinen Ruf einer privilegierten Gegend verpassten, kamen erst deutlich später, ich mag so im dritten oder vierten Schuljahr gewesen sein. Meine Eltern hatten zwar auch neu gebaut, allerdings ohne jedes Kapital ein „Häuschen“, einfach und dünnhäutig, auf gepachtetem Acker. Diese Bedingungen waren es wohl, weshalb wir überhaupt in Berghofen gelandet sind.

Natürlich waren wir nicht wirklich arm, da mein Vater Lehrer war; der aber wurde er erst ziemlich spät im Leben, da er sieben Jahre seines Lebens in Krieg und Gefangenschaft gezwungenermaßen vergeudet hatte, krank zurückkam, seine musikalische Aufnahmeprüfung ein zweites Mal machen musste (alle Dokumente waren verbrannt) und sich – früh vaterlos geworden – sein Studium mit irgendwelchen musikalischen „Jobs“ finanzieren musste.

Die wenigsten Kinder hatten ein eigenes Zimmer

Meine Mutter war das älteste Kind einer Flüchtlingsfamilie. Meine Eltern hatten also beide bei Null angefangen, es gehörte ihnen vom „Häuschen“ erstmal so gut wie nix. Vielen Nachbarn ging es damals ähnlich. Obwohl es sich in unserer Straße ja um durchweg neue Häuser handelte, war es nicht üblich, dass jedes Kind ein eigenes Zimmer besaß. Bei mir war das allein deshalb so, weil ich keine Geschwister hatte. Waren mehr Kinder da, teilten sie sich selbstverständlich einen Raum.

Ich kannte auch eine Familie, die gar kein Kinderzimmer hatte, die drei Kinder wurden einfach irgendwo in der engen Wohnung verteilt. Ein Kind aus meiner Klasse wohnte die ersten Jahre sogar in einer Baracke. Ein Spielkamerad lebte mit seiner Mutter, auch einer Lehrerin, im winzigen „Keller“ (also Souterrain) eines Hauses in unserer Straße.

Einige Jahre später bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

…und einige Jahre danach bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

Ich erinnere mich auch an eine Berghofer Familie mit zehn Kindern, sie wohnten in einem abgerumpelten Bauernhaus neben dem Friseur, zu dem ich gescheucht wurde, wenn meine Haare „keine Facon mehr“ hatten. „Aber lass dir genug abschneiden, sonst musste bald wieder hin“ (und das wäre zu teuer). Scheußlich, den Friseurladen jedesmal als hässliches Entlein zu verlassen!

…und später zogen ein paar hochnäsige Leute zu

Eins von den „edlen“ Kindern, die dann später zuzogen (und in größeren, aufwändiger gebauten Häusern wohnten), bekam hingegen seine Haare jede Nacht „aufgedreht“, damit sie morgens zu schönen Löckchen würden. Diese Familie war es auch, die eines Tages meinte, hochnäsig feststellen zu müssen, dass ich „wieder mal was Selbstgestricktes“ trug. Bislang war das ganz normal, wir liefen meistens in geflickten und gestopften Sachen herum und fanden nichts dabei. Beim Herumstrolchen und Baumklettern war das ohnehin egal. Viele Anziehsachen waren auch gebraucht übernommen; das „beleidigte“ mich insofern, als die Mädels, von denen ich den Kram bekam, einen völlig anderen Geschmack hatten als ich. Aber das half überhaupt nichts. Was „noch gut“ war, wurde genutzt, egal, um was es ging.

Bei uns gab es fast immer einfaches Essen, und auch damit standen wir nicht allein. Der riiiesige Luxus eines jeden Kindergeburtstages bestand aus zwei oder drei Kuchen (einer davon war „Kalter Hund“, mit dem ich mich regelmäßig überfressen habe), abends dann Bockwürstchen mit Kartoffelsalat.

Der Wohlstand kam auf ganz leisen Sohlen

Der Wohlstand erwischte uns alle auf ganz leisen Sohlen, und er brauchte viele Jahre dafür. Irgendwann „ließ“ meine Mutter mal irgendwas machen, das war ein Anzeichen. Einige Bekannte hatten dann bessere (und auch zweite) Autos.

Ich erinnere mich allerdings auch an die Zeit, in der es nur ganz wenige Autos gab und stattdessen immer mittwochs der „Gemüsewagen“ kam. Na klar, und die Milch wurde jahrelang gebracht; „gold und silber“. Die gespülten Glasflaschen stellte man wieder raus, sie wurden bei der frischen Lieferung mitgenommen.

Der Bierkutscher mit seinem Gaul

Der Bierkutscher – ich glaube, er hieß Hoffmann – kam jahrzehntelang mit seinem Gaul vorbei, ich höre immer noch sein „Hüah“. Meine Mutter bedauerte das Pferd jedesmal, da es doch nun Autos gab. Und wenn ich heute fahrende Schrotthändler sehe, denke ich immer dran, dass „unsere“ früher grundsätzlich aus Essen kamen und noch auf einer richtigen Flöte „piffelten“. Vor allem fuhren sie viel langsamer als heute, so dass jeder es noch in den Keller schaffte, um irgendwas Metallenes nach oben zu wuchten. Und man bekam noch Geld dafür.

„Die Reichen“ wohnten, so hörten wir, in Kirchhörde, die „ganz Reichen“ in Lücklemberg. Einmal war ich dort, bei so entfernten wie ungeliebten Bekannten in deren Haus, dessen Ausmaß mir unbegreiflich vorkam und auf dessen „offenen Treppen“ über drei Stockwerke ich einen Heulanfall kriegte, weil mir vor Höhenangst schwindelig wurde.




Kinder kämpfen für eine bessere Welt – Jürgen Jankofskys vielsprachiges Buch „Anna Hood“

Gastautor Heinrich Peuckmann stellt ein besonderes Kinderbuch vor:

Schreckliche Bilder sieht Anna im Fernsehen. Ein gekenterter Flüchtling trägt sein totes Kind aus dem Meer und legt es am Strand ab.

Anna ist nicht nur erschrocken, sie ist auch zutiefst empört. Die Welt ist ungerecht und sie, Anna, muss etwas dagegen tun. Also spendet sie all das Geld, das sie hat, doch das ist viel zu wenig.

Von ihren Klassenkameraden, die sie wegen einer Spende anspricht, macht einzig Robin mit. Und dessen Name gibt ihnen den Weg vor, den sie gehen müssen. Gab es da nicht mal einen Robin Hood, der die Reichen bestohlen und den Armen Geld gegeben hat? Klar, und so einer wollen sie auch werden.

Anna Hood nennt sich Anna jetzt und weil der richtige Robin eine Bande der „Gesetzlosen“ gegründet hatte, wollen sie das auch tun. Eine Bande, deren Mitglieder auf der ganzen Welt verstreut sind und die sich über das Internet zusammenfinden. Tolle Ideen entwickeln sie da, wie die Welt für Kinder gerechter werden könnte, ihre Phantasie kennt keine Grenzen.

Eine kleine, sehr schöne Geschichte erzählt Jürgen Jankofsky in seinem neuen Kinderbuch, aber die schönste Idee besteht darin, dass diese Geschichte nicht einmal erzählt wird, sondern neunzehn Mal, nämlich in vielen Sprachen dieser Welt. Wie Annas Bande aus Kindern rund um den Erdball besteht, so wird ihre Geschichte in vielen Sprachen erzählt: Arabisch, Armenisch, Chinesisch, Türkisch, Französisch, Englisch und… (siehe Anhang).

Es ist ein Buch, das an allen Multikulti-Orten zum Einsatz kommen müsste, auch in Schulklassen mit Schülern unterschiedlichster Herkunft. Die deutsche Fassung könnte als Ausgangspunkt dienen und dann könnten syrische, türkische oder andere Kinder ihre Geschichte, die doch dieselbe ist, dazu erzählen. Die Geschichte von Anna und Robin und von allen Kindern in der Welt, die sie gerechter und damit lebenswerter machen wollen.

Jürgen Jankofsky: „Anna Hood“. Eine Geschichte in 19 Sprachen: Arabisch, Armenisch, Bengali, Chinesisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Georgisch, Hebräisch, Hindi, Japanisch, Neugriechisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Tigrinja-Sprache (Äthiopien, Eritrea) und Türkisch. Illustration Heike Lichtenberg. Mitteldeutscher Verlag. 236 Seiten, 9,95 €.




Zum 40. Todestag des Idols – Vom Erwachen eines Elvis-Fans im Ruhrgebiet

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über den Tod eines Idols vor 40 Jahren:

An jenem denkwürdigen Abend hatte ich lange vor dem Fernseher gesessen, bis zu den Spätnachrichten, die damals ausschließlich aus stummen Schrifttafeln bestanden. Auf einer davon war zu lesen: Elvis Presley, der King of Rock ‘n‘ Roll, ist tot. Anschließend einige dürre Lebensdaten. Ich war wie vom Schlag gerührt. Immerhin war Elvis in meiner Kindheit und Jugend mein absolutes Idol gewesen (mit dem Tophit: Jailhouse Rock).

Nach der ersten Überraschung schob sich jedoch ein gänzlich anderer Gedanke in mein Hirn: Wenn Du jetzt ganz schnell bist, könntest Du der Erste sein, der nach dem Tod von Elvis ein brandneues Buch herausbringt, das ihn zum Thema hat. Ich schrieb damals gerade an der Erzählung „Das erste Erwachen eines Elvis-Fans“.

Der Text war allerdings noch nicht weit gediehen. Doch dann bekam ich Gewissensbisse: Würde ich durch diese hastige Schreiberei den Tod von Elvis nicht schändlich für schlichte und ekelhaft profane Zwecke ausnutzen, würde ich mich mit so einer schnell rausgehauenen Erzählung, nur, um anderen zuvorzukommen, nicht an Elvis versündigen? Ich hatte ein sehr schlechtes Gefühl dabei, als würde ich mit so einem übereilten Text auch meine Hochachtung vor Elvis verraten.

Kurzum: Ich habe die Erzählung in aller Ruhe weitergeschrieben, mit Erinnerungen an die 1950er Jahre, an die Kirmes in Bottrop, Halbstarken-Kloppereien und Rock ‘n‘ Roll an der ratternden Raupe. Und fühlte mich moralisch auf der besseren Seite, als kurz nach der Todesnachricht – wie zu erwarten – die Elvis-Erinnerungsbücher den Markt fluteten. Ich jedenfalls hatte mich an diesem kommerziellen Hokuspokus nicht beteiligt!

Die ganze Geschichte nahm später ein unerwartetes, erfreuliches Ende. Die Erzählung vom „Erwachen eines Elvis-Fans“ wurde zunächst von Biby Wintjes in seinem Bottroper Info-Zentrum veröffentlicht. Dort entdeckte sie Carl-Ludwig Reichert, ein Münchner Autor, der gerade eine Anthologie „Fans, Bands, Gangs“ für den Rowohlt-Verlag vorbereitete. In diesem Sammelband erschien das „Erwachen eines Elvis-Fans“ ungekürzt – und in naturgemäß hoher Auflage.

Im Rowohlt-Verlag! Da war ich, damals ein noch relativ junger Autor, wirklich stolz wie Oskar. Und zu Recht, will ich meinen. – Ich sollte wieder einmal Jailhouse Rock auflegen.

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(Elvis Presley * 8. Januar 1935 in Tupelo/Mississippi
† 16. August 1977 in Memphis/Tennessee).




„Der war nicht drin!“ – über den Dortmunder Torwart Hans Tilkowski und den umstrittensten Treffer aller Zeiten

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über den legendären Torhüter von Westfalia Herne und Borussia Dortmund:

Untrennbar ist seine Fußballkarriere mit einem einzigen Tor verbunden. „Herr Tilkowski“, rufen ihm bis heute wildfremde Menschen zu, „ich habe da mal eine Frage.“ Und noch im Umdrehen antwortet er: „Der war nicht drin!“ Hans Tilkowski und das Wembley-Tor, er wird es einfach nicht los.

Torwart-Legende Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion "Die Kirsche" - Permission: Wikimedia Commons) - Permission: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Hans_Tilkowski.jpg&action=edit

Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion „Die Kirsche“ – Wikimedia Commons)

1966 hat dieses Tor, das keines war, das WM-Finale entschieden, die Engländer wurden  Weltmeister, Hans Tilkowski blieb die Ehre, Torhüter im Endspiel einer Fußball-Weltmeisterschaft gewesen zu sein.

Vor oder hinter der Torlinie?

Der aserbaidschanische Linienrichter Tofiq Bachramow hat die folgenreiche Entscheidung nach einem Schuss von Geoff Hurst getroffen. Tilkowski hatte den Ball noch mit den  Fingerspitzen berührt und an die Unterkante der Latte gelenkt, von wo er, da ist er sich sicher, auf und nicht hinter die Torlinie tickte. Schiedsrichter Dienst aber folgte der Meinung von Bachramov und erkannte auf Tor. Es war das 3:2 für England und die Entscheidung bei dieser WM. 

Als 2009 die deutsche Fußballnationalmannschaft in einem WM-Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan antreten musste, sind Tilkowski und ich im Vorfeld des Spiels nach Baku gereist. Bachramow war nämlich nicht einfach nur ein Linienrichter, er war später der berühmteste Fußballfunktionär des Landes geworden, er hat den Verband nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion gegründet. Es gibt eine Briefmarke mit seinem Konterfei, nach seinem Tod wurde das Nationalstadion nach ihm benannt und überlebensgroß, in Bronze gegossen, steht sein Denkmal davor.

Eine versöhnliche Rede an den früheren Linienrichter

Der aserbaidschanische Fußballverband und Vertreter der deutschen Industrie wünschten sich vor dem Länderspiel eine versöhnliche Geste. Was lag da näher, als Hans Tilkowski einzuladen? Und wenn es um Werte wie Versöhnung oder soziales Engagement geht, ist Tilkowski immer ansprechbar. Da lebt fort, was er als Kind einer Bergarbeiterfamilie in Dortmund-Husen erfahren hat, Solidarität nämlich und ein tief empfundenes Gerechtigkeitsgefühl.

Vor der versammelten Presse, vor Fernsehen, Funktionären und Regierungsvertretern hat er in Baku, unter dem Bachramow-Denkmal stehend, eine beeindruckende Rede zur Fairness im Sport gehalten. Der erste Satz stand natürlich schon beim Abflug fest: „Der Ball war nicht drin.“ Aber dann wies Tilkowski auf die völkerverbindende Funktion des Fußballs hin, der es immer wieder schaffe, Menschen zusammen zu führen und so seinen Beitrag zu leisten zu einer friedlichen Welt. Zum Schluss hob er den Kopf und  sprach das Denkmal direkt an: „Tofiq, wenn du noch leben würdest, hätten wir garantiert ein schönes Gespräch über Fairplay im Sport.“

Es begann beim Vorortverein SV Husen

Das kam gut an, Tilkowski war ein überzeugender Botschafter des deutschen Fußballs. Trotz solcher Momente, seine Karriere auf das  Wembley-Tor zu reduzieren, ist aber ebenso falsch  wie ungerecht. Beim SV Husen, dem Dortmunder Vorortverein, hat er begonnen, Fußball zu spielen. Ganz nebenbei hat er auch noch geboxt, es waren die beiden Sportarten, die Arbeiterjungen im Ruhrgebiet damals gerne ausübten. Samstags boxen, sonntags Fußball.

Der Fußball war aber doch Tilkowskis große Liebe. Nach der Zwischenstation beim SuS Kaiserau, dem Verein im Schatten der Sportschule, wo er schon als ganz junger Mann in der ersten Mannschaft spielte, wechselte er 1955 zu Westfalia Herne in die Oberliga. Fußballlegende Ernst Kuzorra hätte ihn gerne „auf Schalke“ gesehen, aber Tilkowski hatte die Sorge, an deren Stammtorwart Orzessek nicht vorbeizukommen. Und er wollte vor allem eins, nämlich spielen.

Als Sepp Herberger aufmerksam wurde

Seine Entscheidung erwies sich als goldrichtig, Trainer Fritz Langner vertraute dem jungen Torwart und Westfalia konnte, nicht zuletzt dank seiner tollen Paraden und seines noch besseren Stellungsspiels, jahrelang die Klasse halten. Schnell fiel er Bundestrainer Herberger auf, der Torhüter ohne Showeinlagen liebte, und im April 1957 war es so weit. Beim Länderspiel in Amsterdam, das 2:1 gewonnen wurde, stand der junge Hans Tilkowski zum ersten Mal im Tor der deutschen Nationalmannschaft. Auf insgesamt 39 Einsätze hat er es gebracht und war damit für einige Zeit Rekordnationaltorhüter.

1959 wurde dann zum großen Jahr von Westfalia Herne. Noch vor den Großvereinen Schalke und Borussia Dortmund wurde völlig überraschend die westdeutsche Meisterschaft gewonnen. Bei der darauf folgenden Endrunde zur Deutschen Meisterschaft fehlte den Spielern allerdings die Kraft. Fritz Langner, unsterblich mit der Trainingsanweisung „Ihr fünf spielt jetzt vier gegen drei“, hatte wohl zu hart trainieren lassen.

Funkstille mit dem Bundestrainer

In dieser Zeit stieg Tilkowski zum Stammtorhüter der Nationalmannschaft auf. Er bestritt alle Qualifikationsspiele für die WM 1962 in Chile, beim Turnier selbst aber  erlebte er eine bitterböse Überraschung. Nicht er durfte nämlich spielen, sondern der unerfahrene Wolfgang Fahrian. Vier Jahre vorher hatte Herberger Tilkowski nicht zur WM in Schweden mitgenommen, weil er zu jung sei und zu wenige Länderspiele bestritten hätte. Vier Jahre später war Fahrian noch jünger und hatte noch weniger Länderspiele als Tilkowski 1958 bestritten. Der hat mit dem Bundestrainer danach für einige Zeit kein Wort mehr gewechselt.

Eineinhalb Jahre lang herrschte Funkstille zwischen den beiden, denn Tilkowski hat Stolz und ein bisschen ist er auch ein westfälischer Dickkopf. Er stand in dieser Zeit trotzdem im Blickpunkt des Fußballs. 1964, mit Einführung der Bundesliga, war er  zu Borussia Dortmund gewechselt und lieferte mit dem Verein glanzvolle Spiele im Europapokal, vor allem gegen Titelverteidiger Benfica Lissabon.

1966 Europapokalsieger mit dem BVB

Tilkowski hielt in diesen Spielen, was zu halten war und immer auch ein bisschen mehr. Sogar  in eine Europaauswahl wurde er berufen. Schließlich war es Herberger, der ganz gegen seine Gewohnheit nachgab. Ob er ihn mal anrufen dürfe, hat er ihn beim Bankett nach einem Europapokalspiel gefragt. Er durfte und am Neujahrstag 1964 stand Tilkowski wieder im Tor der Nationalmannschaft. Es war aber kein guter Neueinstand, das Spiel gegen Algerien ging mit 0:2 verloren.

Mit Borussia Dortmund feierte Tilkowski weiter Erfolge. 1965 wurde die Mannschaft Pokalsieger und im Jahr darauf gewann sie als erste deutsche Mannschaft einen Europapokal, den der Pokalsieger. Nach Libudas sagenhaftem Heber aus vierzig Metern wurde Liverpool in Glasgow mit 2:1 geschlagen.

Die deutsche Meisterschaft hätte die Mannschaft  auch gewinnen können. Trainer „Fischken“ Multhaup wollte den Feiern aus dem Wege gehen und die Mannschaft für die letzten Bundesligaspiele abseits vom Trubel in aller Ruhe vorbereiten, aber das ließ sich in Dortmund, das im Freudentaumel lag,  nicht durchsetzen. Nach vielen Feiern gingen die letzten drei Spiele allesamt verloren,  1860 München überflügelte im letzten Moment die Borussia und wurde Deutscher Meister. So blieb Tilkowski, 1965 Fußballer des Jahres, der Meistertitel verwehrt.

Zwei Jahre spielte er noch bei Eintracht Frankfurt, dann begann er eine Karriere als Trainer. Werder Bremen, der 1. FC Nürnberg, auch AEK Athen waren u.a. seine Wirkungsstätten.

Soziales Engagement – vor allem für Kinder

Danach engagierte sich Tilkowski für Sozialprojekte, für das Friedensdorf in Oberhausen zum Beispiel, wo in Kriegen verwundete Kinder operiert und wieder  gesund gepflegt werden. Er sammelte Geld für Aktionen der Unicef, für leukämiekranke Kinder und vieles mehr. Eine Hauptschule in Herne, wo er noch immer wohnt, ist  nach ihm benannt worden. Natürlich sorgte Tilkowski dafür, dass diese  Multikulti-Schule einen Bolzplatz bekam, getreu seinem Motto, dass der Fußball über alle Unterschiede hinweg Gemeinschaft stiftet.

Neuerdings ist er Botschafter für den westfälischen Fußball-  und Leichtathletikverband und weist beharrlich daraufhin, dass Westfalen und das Ruhrgebiet viel zu bieten haben, auch im Sport. Er muss in dieser Eigenschaft oft in die Sportschule Kaiserau, wo er als junger Spieler unter Leitung von Dettmar Cramer seine Torwartausbildung erfuhr und wo inzwischen ein Neubau nach ihm benannt wurde. So schließt sich bei ihm, der immer wieder gerne nach Kaiserau zurückkommt, der Kreis.

Auch mit 82 noch drahtig und rege

Skandale sind Tilkowski fremd. Er ist noch immer mit seiner Frau Luise, mit der er drei Kinder hat, verheiratet.

Am 12. Juli wurde er, der noch immer regelmäßiger Tribünenbesucher bei den BVB-Heimspielen ist, 82 Jahre alt. Wer diesen drahtigen, geistig regen und immer, wenn es um eine gerechte Sache geht, streitbaren Mann sieht, wird ihm das Alter kaum abnehmen. Er müsste, denkt man, nur seine Torwartkluft anziehen, dann könnte es wieder losgehen.




Polemik gegen den „närrischen“ Reformator: Thomas Murner, Luthers katholischer Widersacher von Format

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über eine prägende Gestalt der Reformationszeit:

Jedes Luthergedenkjahr zeigt uns nicht Luther, wie er war, sondern ein Spiegelbild der jeweiligen Zeit. Nun also, zur 500. Wiederkehr des Thesenanschlags, der politisch korrekte Blick auf Luther, dessen Antijudaismus nicht verschwiegen oder beschönigt, sondern klar und als Makel herausgestellt wird. Immerhin.

TItelseite der Murner-Schrift "Von dem großen lutherischen Narren" (Straßßburg/Grüninger, 1522) (Public Domain/gemeinfrei)

Titelseite der Murner-Schrift „Von dem großen lutherischen Narren“ (Straßburg/Grüninger, 1522) (Public Domain/gemeinfreies Bild)

Das war zum 450. Geburtstag im November 1933 insofern anders, als die gerade an die Macht gekommenen Nazis sich in ihrem Antisemitismus auf Luther beriefen und ihn für seine Haltung lobten. Und ein Antijudaist (diese Bezeichnung zieht die Forschung dem Begriff Antisemit, was gleichbedeutend mit Rassist wäre, vor) war Luther ganz gewiss. Er stand damit in einer erkennbaren Tradition seiner Kirche, aber es stimmt nicht, dass seine Haltung aus diesem Faktum und dem Zeitgeist heraus erklärbar, schon gar nicht entschuldbar wäre. Es gab genügend Theologen (Bernhard von Clairvaux), die anders dachten, die Juden verteidigten und Pogrome verurteilten.

Antijudaische Schriften

Luthers Schrift „Jesus Christus ein geborener Jud“ verfolgte denn auch nicht die Absicht, die Wurzel des Christentums aus dem Judentum heraus aufzuzeigen und damit dem Antijudaismus jegliche Grundlage zu entziehen. Es war im Gegenteil eine an die Juden gewandte Schrift, damit sie endlich die Messianität Jesu anerkannten. Als sie das nicht taten, war Luther umso enttäuschter und wurde umso drastischer in seinen Formulierungen.

Dieser Aspekt wird nun von der Kirche offen dargestellt, etwas anderes ist auch  nicht mehr möglich. Ein anderer, spannender Aspekt taucht bisher noch viel zu wenig auf, nämlich die lebhafte Publizistik zur Zeit der Reformation, vor allem auf lutherischer Seite, dem aber auf katholischer Seite ein Franziskaner, nämlich Thomas Murner, als gleichwertig gegenüber gesetzt werden kann. Auch an ihn sollte  in diesem Jubiläumsjahr unbedingt erinnert werden.

Blüte des Buchdrucks und neue Debattenkultur

Die damals herrschende Stellung der Kirche wird durch die reformatorische Publizistik erschüttert, bisweilen sogar an den Rand gedrängt. Die Kirche des Mittelalters vertrat noch die Position des abgestuften Wissens, sie unterschied streng zwischen Geistlichen und Laien und beschränkte die theologische Diskussion auf den Kreis der Geistlichen.

Luther folgte diesem Denken anfangs, daher die Abfassung seiner 95 Thesen in lateinischer Sprache. Aber dabei blieb es nicht. Das Aufblühen des Buchdrucks eröffnete neue Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Spätmittelalterliche Formen der Predigt und Literatur verbanden sich mit reformatorischen Inhalten und wirkten so auf die Massen, die wiederum in die Diskussion eingriffen. Dialoge wurden geschrieben und publiziert, Satiren und Parodien in teilweise erbitterter Schärfe und Polemik. Eben an Massen gerichtet und daher massenwirksam. Es fand, wenn man so will, eine Demokratisierung der Debattenkultur statt.

Die Gefahr der Kirchenspaltung

Die katholische Kirche tat sich noch lange schwer mit dieser Umstellung, aber einen, der es der reformatorischen Seite gleichtat, der die neuen Möglichkeiten ebenfalls nutzte und ihr in seinem wichtigsten Werk „Vom großen lutherischen Narren“ ebenbürtig war, hatte sie eben doch. Das war Thomas Murner.

Thomas Murner, "Cantzler der geuchmatt(en)" (Kanzler der Gauchmatt), Holzschnitt von Ambrosius Holbein, Basel 1519

Thomas Murner, „Cantzler der geuchmatt(en)“ (Kanzler der Gauchmatte), Holzschnitt von Ambrosius Holbein, Basel 1519 (Public Domain/gemeinfreies Bild)

Er wurde 1475 in Oberehnheim, heute Obernai in Frankreich, geboren, besuchte im nahen Straßburg eine Klosterschule und trat mit 15 Jahren dem Franziskanerorden bei. An verschiedenen Universitäten studierte er Philosophie, Theologie und Jurisprudenz, promovierte zum Magister der freien Künste in Freiburg und Doktor der Theologie in Krakau. Mit 22 Jahren wurde er zum Priester geweiht.

Ab 1512 erschienen seine ersten Hauptwerke, unter anderem „Die Narrenbeschwörung“, „Der Geuchmatt“ (eine Wiese der Lüstlinge – Worterklärung im Grimmschen Wörterbuch) usw., in denen er Missstände des feudalen Systems, aber auch der Kirche anprangerte. Murner war also kein betriebsblinder Verteidiger des alten Glaubens, im Gegenteil, er sah die Gefahr, in der sich eine Kirche befand, die losgelöst von den Problemen der Menschen agierte. Auch er wollte Reformen, aber er wollte eines nicht, nämlich die Spaltung.

Als dann Luther mit seinen Thesen kam, erkannte Murner schon früh diese Gefahr einer Spaltung, die die katholischen Würdenträger noch lange nicht sahen. Er bezog Stellung und nahm dafür in Kauf, was auch viele Reformatoren erdulden mussten, nämlich Verfolgung, Ausweisung, Schreibverbot und einmal, als Bauern seine Heimatstadt belagerten, Gefahr für sein Leben. Im letzten Augenblick gelang ihm die Flucht.

„Wie wohl er ganz daneben sticht…“

Schon 1522 erschien „Vom großen lutherischen Narren“. Die Schrift belegt, wie früh Murner die Gefahr für die Kirche erkannte, zu einer Zeit, als Luther wohl selber noch nicht die gesamten Folgen seines Thesenanschlags überschaute.

Zuerst ist Murner in seinem Umgang mit Luther noch sehr moderat. 1520 erschien seine Schrift „Christliche und briederliche ermanung an den hoch gelerten doctor Martino Luter“, in dem er „den herzallerliebsten Bruder in Christo“ bittet, von seinen Irrtümern abzulassen und sich wieder mit der Kirche zu vereinigen.

Luther nahm ihn anfangs nicht ernst, Murner war nur einer von vielen Gegnern. Aber als Murner nach Luthers Verbrennen der Bannandrohungsbulle „Exurge domine“ (Erhebe dich, Herr) mit einer wüsten Polemik, einer Glosse antwortet, nimmt auch Luther ihn zur Kenntnis und fügt in einer Verteidigungsschrift gegen einen anderen Gegner einen Anhang gegen Murner hinzu. Dabei zitiert er zum Schluss einen Reim, der ihm zugeschickt worden war:

„Doktor Murner, wie ich bericht
Hat aber ein Nacht geschlafen nicht
Zwei neuer büchlein zugericht
Darzu er sich fast hoch erbricht
Doctor Luthers Schriften anficht
Wie wohl er ganz daneben sticht …“

Das ging jetzt doch zu weit, das musste eine Antwort geben. Und sie kam in Form des „Großen lutherischen Narren“, der alle erprobten und erfolgreichen Formen reformatorischer Schriften aufgriff, Satire, Glosse und vor allem wüste Polemik.

Murner greift das Narrenmotiv auf, ein weit verbreitetes Motiv, vor allem durch Sebastian Brants „Narrenschiff“ (1494). Wenn Murner am Anfang seiner Schrift auch betont, dass er nicht Luther direkt angreifen wolle, sondern vor allem seine eigenen Gegner, die ausdauernd gegen ihn polemisiert hatten, so lässt er diese Absicht jedoch schnell fallen.

Am Ende geht es nur noch gegen Luther. Dessen Gegner, der ihn widerlegen und als gefährlich darstellen will, ist niemand anderer als Murner selbst, wodurch die Reformation auf Luther reduziert wird, die Angriffe gegen die katholische Kirche als Angriffe auf Murner wahrgenommen werden. Eine Personalisierung des Problems findet also in Murners Buch statt.

Ein Exorzist mit Katzenkopf

Im Mittelpunkt steht der große Narr, der durch Exorzismus beschworen werden muss. In ihm stecken viele andere Narren, die alle möglichen Aspekte der Reformation verkörpern, u.a. die Buntschuhgefahr, vor der Murner besonders warnte. Der beschworene „Großnarr“ gibt seine Geheimnisse anfangs nur unter Zwang preis, später wird er vertrauensselig und warnt seinen Beschwörer sogar vor den in ihm steckenden Narren. Der Exorzist, der mit Katzenkopf auftritt, hat ebenfalls keine einheitliche Haltung, mal ist er fürsorglich, mal zornig. Der Katzenkopf symbolisiert Murner selber, denn so haben ihn seine Gegner in ihren Pamphleten dargestellt, und indem er ihnen nun darin folgt, zeigt er eine gehörige Portion Selbstironie.

Es geht bunt zu in diesem Buch, Exorzismus, Hochzeit Murners mit Luthers Tochter, am Ende sterben sie, das müssen sie nach Murner auch, Luther und der große Narr. Und Luthers Leiche wird in einer Latrine versenkt, scheinheilig von vielen Katzen beweint, also, wenn man so will, von vielen kleinen „Murners“. Luther tot, Reformation entlarvt und vernichtet, das Buch schafft das, was in Wirklichkeit eben nicht gelingt.

Rücknahme der Sozialkritik

Etwas verbiegen musste sich Murner allerdings in seinem wichtigen Werk. Er hatte in früheren Schriften eine sozialkritische Tendenz verfolgt, hatte die Probleme der feudalen Gesellschaft durchaus gesehen. Nun kämpfte er für die alten Mächte. Da die Missstände jedoch offensichtlich waren, konnte er, um glaubwürdig zu bleiben, es sich nicht erlauben, die von den Reformatoren genannte Sozialkritik zu leugnen. Vielmehr versuchte er, sie zu bagatellisieren. Er kennzeichnet sie als perspektivlos und ohne sinnvolle Zielrichtung. Allenfalls, meint er, könne daraus eine Ordnung entstehen, in der die Reformatoren eigennützige Ziele verfolgen:

„Wir woln einmal auch selbs regieren,
wie das unß dunkt den buntschu schmieren
und haben einen guten mut
mit der reichen Kargen gut.“

Aus Veränderung könne nur Chaos entstehen, meint Murner, und davor warnt er.

Autor des Pamphlets auf der Flucht

Das Werk besteht aus 4800 Versen. Die Silbenzahl folgt nicht der strengen Form mit acht bis neun Silben, wie das etwa zeitgleich Hans Sachs tut, sondern der volkstümlichen Form des Sprechverses, dem es allein auf den Reim ankommt. Die Silbenzahl schwankt also zwischen sechs und elf Silben, ein alternierender Rhythmus wird weitgehend durchgehalten. Alles ist dem Inhalt untergeordnet.

Das Buch wurde schon kurz nach Erscheinen verboten, man begriff schnell seine Sprengkraft, und Murner erging es nicht gut. In Straßburg, das den reformatorischen Ideen zuneigte, durfte er sich nicht mehr sehen lassen, er musste nach Luzern ausweichen, wo er Aufnahme fand und nach neueren reformatorischen Streitigkeiten ebenfalls ausgeliefert werden sollte. Also erfolgte die nächste Flucht, bis er schließlich wieder in seinem Geburtsort ankam, wo er 1537 starb.

Wer 500 Jahre Reformation feiert, sollte auch an einen der profiliertesten Widersacher Luthers erinnern. Mit der Qualität seiner Gegner, das weiß man doch, wächst die eigene Bedeutung. Murner hatte Qualität, und dazu noch ein Schicksal, das er mit vielen Reformatoren teilte.




„BoBiennale“ – ein neues Festival der Freien Szene

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über den Veranstaltungsreigen des neuen Festivals „BoBiennale“, an dem er selbst teilnimmt:

Das Logo des neuen Festivals. (Screenshot von der Homepage der BoBiennale)

Das Logo des neuen Festivals. (Screenshot von der Homepage der BoBiennale)

Zunächst war ich etwas skeptisch, wie dieses Vorhaben gelingen würde, hatten sich doch zwei Treffen der Freien Szene in Bochum, bei denen ich dabei gewesen war, mehr um die ewig leidigen Finanzfragen denn um konkrete Planungen gedreht. Welch erfreuliche Überraschung nun: Das vielfältige Angebot der BoBiennale, die, wie der Name vermuten lässt, nun alle zwei Jahre stattfinden soll, füllt nicht weniger als 150 Seiten in einem handlichen Programmbuch im Gebetbuchformat.

Die BoBiennale, das erste Festival der Freien Szene, das noch bis zum 18. Juni dauert, umfasst einen beachtenswerten Reigen an Veranstaltungen, der alle Sparten von der Bildenden Kunst bis zur Literatur umfasst. Als man mich vor einiger Zeit fragte, ob ich mitmachen wolle, habe ich gern zugesagt, da mich neue (Kultur-)Initiativen zunächst einmal grundsätzlich interessieren. Und so konnte ich im „Blue Square“ (Stadtmitte) einige Passagen aus meinem jüngsten Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“ vorstellen.

Als besonderes Ereignis, nicht nur für literarisch Interessierte, erwies sich eine Lesung aus der Romantrilogie „Der Meteor“ von Karel Čapek. Angekündigt war Martina Eitner-Acheampong (früher Schauspielhaus Bochum), die Passagen aus Čapeks Hauptwerk rezitieren würde. Doch kam sie nicht allein in die Rottstr5-Kunsthallen. Alan Acheampong am Schlagzeug und die Puppenspielerin Sara Hasenbrink unterstützten sie bei ihrem furiosen Vortrag, der mal erzählend, mal anteilnehmend, mal aufgeregt, den Linien des Romans folgte, der der Vieldeutigkeit der Realität und der Wahrheit nachspürt. Nonne, Hellseher und Dichter spielen darin wichtige Rollen.

Während der Lesung steuerte Alan Acheampong Hintergrundklänge bei, unaufdringlich, genau gesetzt. Zunächst glaubte der Zuschauer, auch Sara Hasenbrink sei nur auf eine dezente Nebenrolle verpflichtet, bis die schwarzgekleidete Frau begann, sich in langsamen Bewegungen den Kopf mit einer schier endlosen Mullbinde zu umwickeln. Die Lesung erhielt dadurch eine seltsam unwirkliche Anmutung. Schließlich verwandelte sich der aufgewickelte Rest des Mullbinde plötzlich zu einem sprechenden Kopf, der der Vorleserin akustisch assistierte: ein geradezu beklemmendes Erlebnis, das die Einsicht von Fidena-Chefin Annette Dabs bestätigte, dass beim Figurentheater aus allem alles werden kann.

Als Höhepunkt der BoBiennale gilt am Fronleichnamstag (Donnerstag, 15. Juni) das Open Air-Programm am Springorum-Radweg.

Infos zur BoBiennale:
http://www.bobiennale.de

Freie Kulturszene Bochum e.V.
c/o Bahnhof Langendreer e.V.
Wallbaumweg 108
44894 Bochum
Tel.: 0177-5403350
kontakt@kultbo.org




Erschütternde Anthologie: „Zuflucht in Deutschland“ versammelt Texte verfolgter Autoren aus aller Welt

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), über ein Buch mit Texten verfolgter Autorinnen und Autoren aus vielen Ländern:

Das PEN-Zentrum Deutschland ist das einzige von etwa 140 PEN-Zentren weltweit, das ein „Writers-in-Exile“-Programm hat. Acht verfolgte, mit dem Tode bedrohte Schriftsteller, die nicht selten Gefängnisstrafen mit Einzeln- oder Dunkelhaft hinter sich haben, bekommen für ein oder zwei Jahre ein Stipendium, das heißt eine Wohnung und Geld zum Leben. Das sind die Fakten. Doch Anschaulichkeit stellt sich erst ein, wenn man Texte dieser Autoren liest.

Der ehemalige PEN-Präsident Josef Haslinger und die „Writers-in-Exile“-Beauftragte Franziska Sperr haben nun das verdienstvolle Unternehmen gestartet und eine Anthologie mit Texten von zwanzig dieser verfolgten Autoren herausgegeben. Autoren aus vielen Ländern vereinigt dieser Band, aus Tschetschenien, Kuba, Kolumbien, Kamerun, Syrien, der Türkei, Tunesien, Vietnam usw.

So vielfältig die Länder, so vielfältig auch die Texte. Berichtende Beiträge stehen neben Gedichten, Erzählungen und Romanauszügen. Der Aufbau ist immer gleich. Zuerst werden Autorin oder Autor vorgestellt, werden Ausbildung, literarische Schwerpunkte, Erfolge genannt und dann, unausweichlich, ihre Konflikte mit den Autokraten in ihren jeweiligen Ländern, die sie letztlich zur Flucht veranlassten.

Bei jedem neuen Autor ertappt sich der Leser, obwohl er es längst besser weiß, beim Gedanken, dass solche literarische Leistung nun wirklich kein Grund für Verfolgung, sondern für Anerkennung, ja Stolz sein müsste. Aber nach Veröffentlichung irgendeines kritischen Textes folgen stets die gleichen Reaktionen: Beschimpfungen, Verfolgung, Gefängnis, Morddrohungen.

Dass die Tschetschenin Maynat Kurbanova nach kritischer Berichterstattung über den Krieg in ihrem Land 2003 geflohen ist, war eine richtige Entscheidung. Kurz nach ihrer Flucht wurde nämlich ihre Kollegin Anna Politkowskaja brutal ermordet. Beide hatten sich in ihren Texten nicht an die gewünschte russische Lesart über den Krieg gehalten.

Maynat kam mit ihrer kleinen Tochter nach München und es macht betroffen, ihren Bericht über die Ankunft und das schrittweise Einleben in einer völlig fremden Welt nachzulesen. „Hier in meiner kleinen Geborgenheit“ heißt der Erzählbericht, den Maynat auf Deutsch geschrieben hat, so weit hat sie sich inzwischen eingelebt. Aber der Bericht selbst zeigt, wie mühevoll dieser Prozess abgelaufen ist. Darf sie das, was sie da unternommen hat, ihrem Kind zumuten, fragt sie sich. Wie soll das Kind verstehen, dass es über Nacht getrennt ist von den Großeltern, von allen Freunden und Verwandten? Gerade das Kind hilft ihr aber beim Einleben, wobei die kleine Tochter schnellere Fortschritte macht als ihre Mutter. Ein Bericht, der ebenso bedrückend wie beglückend ist.

Najet Adouani kommt aus Tunesien, nach neuer Lesart ein sicheres Herkunftsland, weshalb es schwierig geworden ist, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Aber Najet kann nicht zurück in ihre Heimat, in der sie die jetzige Regierung wohl nicht verfolgen würde, doch sie steht wegen des modernen Frauenbildes, das sie in ihren Gedichten und anderen Texten vertritt, auf den Todeslisten der Salafisten. Ihr Leben wäre in höchstem Maße bedroht, müsste sie zurückkehren. Najet berichtet von einem ihrer Erlebnisse im Süden Tunesiens. Da hat sie in einem Dorf von ihrem modernen Frauenbild geredet und viel Zustimmung vor allem von den Frauen erfahren, bis plötzlich ein Mann rief: „Dreckige Kommunistin, gottlose.“ Sofort wendeten sich die Frauen, die sie gerade noch beklatscht hatten, von ihr ab und bespuckten sie.

Es sind wunderbar anschauliche, intime Gedichte, die Najet Adouani zu diesem Buch beisteuert, Gedichte der Erinnerung an ihre Großmutter, über die Heuchelei derer, die sich Revolutionäre nennen, die alles besser machen wollen und doch nur an ihren kleinen, mickrigen Vorteil denken, Gedichte über den Verlust der Heimat.

Ein erschütterndes Gedicht hat auch Enoh Meyomesse aus Kamerun beigetragen. Es handelt von seiner Haft, die nicht einfach nur eine Gefängniszeit war. Enoh wurde monatelang in Einzel- und Dunkelhaft gehalten, er hatte Angst, zu erblinden. Wie man mit ihm umging, schildert sein Gedicht „Ich komme zu dir Deutschland“. Was ihm diese Behandlung einbrachte, war seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2011: Enoh ist ein sehr bekannter Autor in Kamerun, er trat an gegen den Diktator Paul Biya, der seit 1982 ununterbrochen das Land unterdrückt. Die Rache Biyas war brutal, aber wer Enoh begegnet, kann nur staunen über seine Freundlichkeit und sein fröhliches Wesen trotz all der Leiden. Ein Romanauszug behandelt die Kolonialzeit Kameruns, das mal deutsches Protektorat war.

Bui Thanh Hieu aus Vietnam schildert in seinem Text die Verhöre, denen er als regierungsunabhängiger Blogger ausgesetzt war. Überhaupt gehören Blogger inzwischen zu den meist gefährdeten Autoren in der Welt. Vietnam, denkt der ältere Leser, haben wir nicht für ein Ende des Vietnamkriegs demonstriert, haben wir dafür nicht Wasserwerfer und Gummiknüppel in Kauf genommen? Das Ende des Krieges wurde auch durch die Demonstrationen im Westen vorbereitet. Mit welchem Recht verfolgen Regierungsstellen in Vietnam nun Kritiker und werfen alles über Bord, was ihnen an westlichen Werten mal zugutegekommen ist?

Es ist fesselndes Buch. Es zeigt, welche Schicksale hinter all diesen Namen verfolgter Autoren stehen. Und es beantwortet ganz nebenbei die oft bei uns so oft gestellte (geschmäcklerische) Frage, ob man mit Literatur etwas bewirken kann. Man muss sich das Handeln der Autokraten und Diktatoren dieser Welt ansehen, dann kennt man die Antwort.

„Zuflucht in Deutschland. Texte verfolgter Autoren“. Herausgegeben von Josef Haslinger und Franziska Sperr. Taschenbuch im S. Fischer Verlag, Frankfurt. 288 Seiten. 9,99 Euro.

 

 

 




Das Wort „Heimat“ ruft immer wieder Zweifel hervor

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über sein Verständnis von „Heimat“:

Wie lange hat es gedauert, bis ich zum Begriff „Heimat“ ein auch nur halbwegs unbelastetes Verhältnis gefunden habe!

Schwer erträgliche Heimattümelei an einem Souvenirstand in Bayern. (Foto: Bernd Berke)

Schwer erträgliche Heimattümelei an einem Souvenirstand in Bayern. (Foto: Bernd Berke)

Heimat, das war etwas, mit dem distanziert und kritisch umzugehen ist. Heimat, damit verband ich untrennbar den röhrenden Hirschen und die Trachtengruppe, Latent-Faschistoides oder den Hort dumpfer Aggression gegen alles Unbekannte und Fremde. Die Theaterstücke von Ödön von Horváth oder Marieluise Fleißer, Fassbinders „Katzelmacher“ oder Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ (unlängst mal wieder auf DVD angeschaut) schienen mir der richtige Weg zu sein, Heimat ins Bild zu setzen.

Nur durch eine skeptische Sicht und niemals durch unreflektierte Inanspruchnahme schien mir dieser eigentlich verlockende Begriff – der ja so viel von Zugehörigkeit zu vermitteln schien – handhabbar und erlaubt zu sein. Wo ich irgendwo eine sogenannte Volksbelustigung betrachtete – sei es ein Schützenfest oder ein andere traditionelle oder folkloristische Lustbarkeit – schien es mir, als müsste dahinter unvermeidbar Unheil lauern, das diese „heile Welt“ zerstören würde: die erschreckenden Abgründe dieser da so fröhlich feiernden Menschen würden in Kürze zu Tage treten.

Zerbrochene Bierzeltbänke

Und so geschah es denn auch nicht selten im jungen deutschen Film der 60er/70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wenn sich einer der Regisseure – Meister im Zertrümmern brav bürgerlicher Gemütlichkeit – solcherart Themen annahm. Zum Schluss hockte nur noch einer der trinkfesten Biedermänner desillusioniert neben den zerbrochenen Bierzeltbänken, sinnlos ins Leere stierend – und hinter ihm auf einer Weide würde ein flügellahmer Vogel versuchen, in den Himmel aufzusteigen. Alles andere als solche bissigen Einblicke, ob im Buch, im TV oder auf der Leinwand, konnte nur verlogene Idylle sein, wenn nicht Kitsch.

Impression aus der Dortmunder Innenstadt: ein Stück Ruhrgebiet - aber "Heimat"? (Foto: Bernd Berke)

Impression aus der Dortmunder City: ein Stück Ruhrgebiet – aber „Heimat“? (Foto: Bernd Berke)

Auf das Ruhrgebiet konnte ich den Begriff Heimat überhaupt nicht übertragen. Die noch von Kohle und Stahl demolierte Landschaft bot sich mir als das Gegenteil einer anheimelnden Flucht- und Rückzugsmöglichkeit dar. Im Ruhrgebiet konntest Du Dich nicht entspannt zurücklehnen und gefällig bis selbstgefällig betrachten, wie wohlgetan die Umgebung sich ausbreitet, in der du aufwachsen bist und lebtest.

Verzwickt im Ruhrgebiet

Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass man im Ruhrgebiet vor allem „Vorsicht“ walten lassen muss, allzu große Vertrauensseligkeit eher schädlich sein konnte. Und die weitverbreitete Ansicht, dass die Menschen hier geradeheraus sind und immer „sagen, was Sache ist“, konnte mir zeitweise Unbehagen einflößen. Denn was ist, wenn Du selbst nicht zu dieser zupackend-sympathischen Spezies gehörst, eher verträumt bist, verzwickt? Ich habe das Ruhrgebiet früher (heute bin ich etwas altersmilde geworden) nicht unbedingt als Heimat begriffen, sondern als Zuhause, mit dem man zurechtkommen muss. Mal recht, mal schlecht.

Also eher heimatlos (wie einstmals Freddy Quinn in besagtem Song) als heimattümelnd (wie später Karl Moik im Schrammel-TV).

Nachbemerkung.
Ausnahme: Die Heimat-Saga von Edgar Reitz konnte ich akzeptieren. Die hatte aber auch nix mit dem Ruhrgebiet zu tun.




Das Grab des Kaisers Jingdi – über eine ungeahnte archäologische Sensation in Xi’an

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), der in China schon mehrmals als Dozent für deutsche Literatur gewirkt hat, berichtet aus eigener Anschauung von einer noch weitgehend unbekannten archäologischen Sensation in Dortmunds Partnerstadt Xi’an:

Grabbeigaben ohne Arme (die aus Holz waren und verfault sind) und ohne Seidenkleidung, die ebenfalls verwittert ist. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Zwei von rund 10.000 Grabbeigabe-Figuren – ohne Arme (die aus Holz waren und verfault sind) und ohne Seidenkleidung, die ebenfalls verwittert ist. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Shanghai ist die Zukunft, sagen die Chinesen, Beijing die Gegenwart und Xi´an, ihre alte Kaiserstadt, die Vergangenheit. Bezogen auf Xi´an, Partnerstadt von Dortmund,  ist diese Einschätzung sicher richtig, steht hier doch die weltberühmte Tonkriegerarmee des ersten chinesischen Kaisers Chen She Huang Di, die Terrakotta-Armee, die von Archäologen zu den Weltwundern gezählt wird.

Aber Xi´an hat noch viel mehr zu bieten als diese Armee, deren vollständige Ausgrabung langsam voranschreitet und sicher noch Jahrzehnte dauern wird, zumal immer mehr Tonkriegertruppen im Umfeld der Hauptarmee entdeckt werden: die Generalität, die Bogenschützen, die dem Kaiser vor allem seine militärische Überlegenheit sicherten usw.

Blick von der alten Stadtmauer

Die alte, breite Stadtmauer steht noch. Auf insgesamt 12 Kilometern umgrenzt sie den inneren Bereich der alten Kaiserstadt, die damals, während der Tangdynastie (618-907), noch Chang´an hieß und über eine Million Einwohner gehabt haben soll. Man kann wunderbar auf ihr spazieren gehen und hat einen schönen Blick auf traditionelle Wohnhäuser, die in vielen anderen Städten abgerissen wurden, in Xi´an aber noch erhalten sind. Der Betrachter freut sich, dass dies alles nicht in  der Zeit der schrecklichen Kulturrevolution vernichtet wurde. Von der Stadtmauer kann man auch den Trommelturm sehen, der früher bei Nacht die Urzeit angab, und den Glockenturm, der es am Tage tat.

Direkt im Anschluss an den Trommelturm erstreckt sich das Wohnviertel der Hui-Minderheit mit ihren kleinen Läden und Garküchen, in dem man alles Mögliche kaufen und schmackhafte Spezialitäten essen kann. Die Huis sind Moslems, sie sind nicht besonders gut in die Xi´aner Gesellschaft integriert, aber zum Essen gehen die Chinesen gerne dorthin. Das Essen ist gut und preiswert. Mitten im Viertel liegt ihre Moschee in chinesischem Baustil, die man besichtigen kann. Ein Stück entfernt davon, aber noch im Innenstadtbereich, liegt die Künstlergasse, in der Gemälde im traditionellen chinesischen Stil angeboten werden.

Wie soll man die Schätze konservieren?

Genug zu sehen also, um unbedingt mal nach Xi´an zu fahren. Aber seit ein paar Jahren hat Xi´an eine weitere archäologische Sensation zu bieten, die noch weitgehend unbekannt ist. Rund um die Stadt liegen die Grabhügel früherer Kaiser und Beamter, alle noch ungeöffnet, weil man nicht weiß, wie man  die Schätze konservieren soll. Bis auf ein Grab allerdings, das Grab des vierten Han-Kaisers. Jingdi hieß er und regierte von 157 – 141 vor Chr., also gut 50 Jahre nach dem ersten chinesischen Kaiser.

Es sind zwei Grabhügel (damals noch – wie alle Kaisergräber – von einer hohen Mauer umgeben und von Soldaten bewacht), die sich vor dem Auge des Besuchers erheben. Im westlichen liegt der Kaiser begraben, im östlichen seine Kaiserin Wang. Sie war ursprünglich mit einem reichen Kaufmann verheiratet gewesen, hatte auch schon eine Tochter, aber ihre Mutter hatte wegen ihrer Schönheit große Pläne mit ihr, brachte sich an den Kaiserhof, wo Jingdi sich prompt in sie verliebte, sie zuerst zur Hauptkonkubine machte, dann zur Kaiserin. Sie gebar ihm einen Sohn, der auf ihr Drängen hin zum Thronfolger gemacht wurde, nicht sein erstgeborener Sohn von der ursprünglichen Kaiserin, der zurückgestuft wurde, worauf dessen Mutter vor Gram erkrankte und früh starb.

Ein Museum unter dem Erdboden

Es gibt ein Museum ein wenig abseits von dem Grab. Hier stehen Figuren, Schalen und Töpfe, die bei der Ausgrabung gefunden worden sind. Die eigentliche Sensation aber ist das unterirdische Museum, also der Hügel des Kaisergrabes, in dem die Grabbeigaben freigelegt worden sind und das man betreten kann. Allerdings wurde die Grabkammer selbst nicht geöffnet, aus demselben Grund, aus dem auch die Grabkammer von Chin She Huang Di bis heute unberührt geblieben ist. Man kann nämlich die Leiche und all die Kostbarkeiten, die  dort den nach Vermutungen zu finden sind, nicht konservieren.

Aber die Grabbeigaben des Jingdi können besichtigt werden und dem Besucher bietet sich ein unglaublicher Anblick. Es ist deshalb so wertvoll, weil sich in den Beigaben das höfische Leben der Hanzeit spiegelt und es damit ein unschätzbares Zeugnis für Chinas Vergangenheit darstellt. Töpfe, Krüge, Schminkkästen sind ausgegraben worden, die zeigen, wie das Alltagsleben am Hofe ausgesehen haben muss. In einem der Gänge lagerte, wie man an der Verfärbung des Bodens erkennen kann, Getreide, Weizen vor allem, der der Ernährung des Kaisers und seiner Bediensteten im Jenseits dienen sollte.

Rund 10.000 Figuren – Soldaten, Beamte, Eunuchen

In den folgenden Gräben sieht man die vielen Tonfiguren, die das damalige Leben darstellen. Vierzig Zentimeter hoch sind sie, und es sind etwa 10.000 Stück: Beamte, Eunuchen, denen das gesamte Geschlecht fehlt, das ihnen in einer blutigen und lebensgefährlichen Prozedur weg geschnitten wurde, dazu Frauen und Soldaten. Alle ohne Arme, weil die damals aus Holz gefertigt wurden, das inzwischen verfault ist.

Nach Faserresten rekonstruiert:

Die Stoffe wurden nach Faserresten rekonstruiert: prachtvolle Parade mit Pferdewagen, Dienern und Soldaten. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Verfallen sind auch die Seidenkleider, die die Figuren getragen haben, aber an einer Stelle sind welche in der ursprünglichen Kleidung, wie man sie aus Faserresten rekonstruieren konnte, aufgestellt worden. Eine prachtvolle Parade mit Pferdewagen, Dienern und Soldaten ist dort zu sehen. Dazu gibt es Tierfiguren in den Gräben: Hunde, Pferde, Rinder, Schafe, Schweine. Tiere, die bei der kaiserlichen Hofhaltung eine Rolle spielten.

Bestens erhaltene Farben

Die Farben sind besser erhalten als bei der Terrakotta-Armee, weil die Figuren zweimal gebrannt wurden. Erst wurde der Ton gebrannt, dann die angemalten Figuren.

Auch hier gibt es individuelle Gesichter wie bei der Terrakotta-Armee, chinesische, aber auch  rundliche Mongolengesichter mit jeweils feiner Mimik.  Wäre nicht der Größenunterschied und würden die Figuren nicht eine tiefe Friedfertigkeit ausstrahlen, man könnte von einer zweiten Terrakotta-Armee sprechen.

Viele Gräber sind noch gar nicht geöffnet

Das Museum ist sehr schön aufgebaut worden. Ein Gang aus Plexiglas ist quer über die Gräben gelegt worden, so dass der Besucher den Figuren sehr nahe kommt. Direkt unter seinen Füßen sieht er sie. An einer Stelle ist die Erde zwischen den Beigabengräben abgetragen worden, stattdessen wurde auch hier ein Gang aus Plexiglas eingebaut, so dass man, nun auf gleicher Höhe, die Figuren links und rechts von sich genau sehen kann. Ein staunenswertes Museum, das bei uns noch kaum bekannt ist, bei den Chinesen aber immer beliebter wird. Inzwischen werden gerne Schulklassen hierher geführt.

Früher war das Gelände, das ganz in der Nähe des Flughafens von Xi´an liegt, militärisches Sperrgebiet. Als in den neunziger Jahren die Beschränkung aufgehoben wurde, begannen die Ausgrabungen und der Aufbau des Museums. Angesichts der vielen noch ungeöffneten übrigen Gräber ist für den Touristen unvorstellbar, welche Schätze  noch in der Erde rund um Xi´an ruhen müssen.

 




Konjunktur mit Fußballbildchen: Das Wunder in Tüten aus Dortmund und Unna – zur Geschichte des Bergmann-Verlags

Anno 2011 war in den Revierpassagen einmal vom heute längst vergessenen Dortmunder Pinguin-Verlag die Rede. Unser Gastautor Horst Delkus (Kamen) hat dazu noch ein paar Hintergründe und Weiterungen recherchiert. Hier sein Bericht:

Mit Autogramm: Spielerkarte des BVB-Stürmers Siggi Held, Jahrgang 1942, der zu den Europacup-Gewinnern von 1966 gehörte. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Mit Autogramm: Spielerkarte des BVB-Stürmers Siegfried („Siggi“) Held, Jahrgang 1942, der zu den Europacup-Gewinnern von 1966 gehörte. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Für uns Jungs der fünfziger und sechziger Jahre bestand das Wirtschaftswunder vor allem aus Tüten. Wundertüten. Gekauft am Kiosk – „anne Bude“ – für einen Groschen, was damals 10 Pfennig, etwa 5 Cent waren. Diese Tüten waren gefüllt mit buntem Popcorn, Karl May-Figuren, Tieren aus Afrika. Und mit bunten Fußballbildern: Mannschaften im Postkartenformat und Spielerporträts im handlichen Format von 9 mal 6 Zentimetern.

Man konnte die Bilder in Alben einkleben, die „Doppelten“ tauschen, gegen eine Hauswand „schnibbeln“ (wer seine Karte am nächsten an der Wand liegen hatte, hatte gewonnen) und mit Autogrammen veredeln. Welche Anziehungskraft diese bunten Pappbilder damals hatten, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Denn Fußballer kannte man meist nur dem Namen nach. Oder aus dem Stadion. Bilder, zumal in Farbe, waren noch selten.

Boom mit Beginn der Bundesliga

Ihren Boom erlebten die bunten Fußball-Karten mit Beginn der der Bundesliga im Jahr 1963. Beliebt wurden vor allem die Tütenbilder aus dem Bergmann-Verlag. „Der Name Bergmann“, so der „Spiegel“, „steht wie kein anderer für die Fußballbilder der sechziger und siebziger Jahre.“

Rückseite des oben wiedergegebenen Fotos von Siegfried Held. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Rückseite des oben wiedergegebenen Fotos von Siegfried Held. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Gegründet wurde Bergmann-Verlag 1964 in Dortmund. 1967 dann die Verlegung des Unternehmenssitzes nach Unna, 1975 in die Schweiz. Seitdem gab es auch die Kooperation mit Panini, dessen Bilder und Alben bis heute zur Fußball-Fankultur gehören.

Hervorgegangen ist der Bergmann-Verlag aus einem kleinen Dortmunder Kinderbuchproduzenten, dem Pinguin-Verlag am Westenhellweg. Der stellte Bilderbücher her wie „Der Baron Fox von Kolon“, eine italienische Lizenzausgabe. „Unbeholfen gezeichnet und gleich zu Beginn sprachlich fehlerhaft“, wie der Kulturjournalist Bernd Berke an dieser Stelle, nämlich 2011 im Revierpassagen-Blog befand, zudem eine „spindeldürre Geschichte“ von einem bösen Fuchs und einem guten Hasen mit „einer windschiefen politischen Codierung“.

Gegründet hatten den Pinguin-Verlag der Unnaer Heinz Bergmann und seine aus Italien stammende Ehefrau Maria Luisa. Neben Kinderbüchern vertrieb der Verlag seit Beginn der Bundesliga Postkarten mit deren Fußballvereinen.

Böser Fuchs, guter Hase (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

Aus dem Vorläufer-Verlag: böser Fuchs, guter Hase in „Der Baron Fox von Kolon“ (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

1964 erfolgte die Gründung der Bergmann GmbH als Beteiligungsgesellschaft. Mit dieser GmbH als Komplementär gründete das Unternehmerpaar die Bergmann GmbH & Co.KG. Ein Jahr später gründeten sie noch eine dritte Bergmann-Gesellschaft, die Bergmann GmbH & Co.KG Fußballbild-Vertrieb, später Sportbild-Vertrieb.

Aus Pinguin wurde Bergmann

Die Herstellung und den Vertrieb von Fußball-Bildpostkarten übernahm der Bergmann- vom Pinguin Verlag zum 1. Oktober 1964, „nachdem“, heißt es in einem Schreiben an die IHK, „ein Hamburger Verlag gegen die Herausgabe dieser Karten unter dem Namen Pinguin-Verlag protestiert hatte“. Der Pinguin-Verlag hatte bereits im ersten Jahr allein mit den Postkarten einen Umsatz von etwa 100.000 DM erwirtschaftet – bei einem Verkaufspreis von 15 Pfennig.

Legendäre deutsche WM-Siegermannschaft von 1954 als Postkarte aus dem Dortmunder Pinguin-Verlag. (Pinguin-Verlag/Sammlung Delkus)

Legendäre deutsche WM-Siegermannschaft von 1954 als Postkarte aus dem Dortmunder Pinguin-Verlag. (Pinguin-Verlag/Sammlung Delkus)

Bald wurden auch größere Bilder der Bundesligavereine sowie Karten einiger prominenter Fußballspieler vom neuen Verlag hergestellt. Die Kunden des Bergmann-Verlages bestanden anfangs aus großen Waren- und Kaufhäusern, aus Buchhandlungen und Sportvereinen sowie Schreibwaren- und Sportgeschäften, die diese Postkarten und Bilder wiederum an ihre Kundschaft verkauften. Fehlende Postkarten und Bilder konnten Sammler auch direkt über den Versandhandel des Verlages erwerben. Nicht ohne Stolz schrieb Heinz Bergmann: „Wir sind der einzige vom Deutschen Fußball-Bund lizenzierte Verleger, der die farbigen Fußball-Bildkarten herstellt und vertreibt.“ Diese Lizenz stellte sich für Bergmann schon bald als eine Lizenz zum Gelddrucken heraus.

Lukrative Kooperation mit Heinerle

Unscheinbar: das ehemalige Bergmann-Verlagshaus in Unna, Hochstraße 12. (Foto: Horst Delkus)

Unscheinbar: das ehemalige Bergmann-Verlagshaus in Unna, Hochstraße 12. (Foto: Horst Delkus)

Ein weiterer Coup gelang Heinz Bergmann, als er 1965 Hugo Hein aus Bamberg, den Erfinder der Heinerle-Wundertüten, als Kommanditisten an einer seiner drei Gesellschaften, den Sportbild-Vertrieb, beteiligte. Damit war dem Bergmann-Verlag eine neue wichtige Vertriebsschiene für die Fußballbilder gesichert. Die Firma Heinerle selbst hatte bereits seit 1959 diverse Bilder als Beilage in ihren millionenfach verkauften Wundertüten abgesetzt. Mit den Bildern von Bergmann – oder umgekehrt: mit den Wundertüten von Heinerle – gelang bald der Durchbruch auf dem umkämpften Markt der Sammelbilder. Eine Win-win-Situation, wie man heute sagt.

Das erste Bundesligaalbum des Bergmann-Verlages erschien im Jahr 1965: „Bundesliga 65/66“, damals noch mit dem Kultverein Tasmania Berlin. Bis 1984/85 kam dann in jeder Bundesligasaison ein Sammelalbum für jeweils 300 bis 400 Bilder heraus. Dazu gab es Sonderauflagen zum Beispiel zu Weltmeisterschaften. Diese Sammelalben waren neben der exklusiven DFB-Lizenz an den Bildrechten und den Heinerle-Wundertüten die dritte Säule des wirtschaftlichen Erfolges des Bergmann-Verlages. Denn ein Album sollte natürlich voll und möglichst komplett werden.

Sechs VW-Busse für die Auslieferung

Zwei Jahre nach der Gründung, Ende 1966, beschloss Heinz Bergmann, seine Verlagsaktivitäten an seinen Wohnort zu verlegen, nach Unna-Königsborn. Hier wuchs der Verlag weiter, hatte Ende 1967 sechs VW-Busse für die Auslieferung und zwölf Beschäftigte.

Die Produktpalette seines Verlages erweiterte Bergmann ständig. So erschienen Fußball-Postkarten als Reklamebilder. Für Knorr-Suppen zum Beispiel, für Aral und andere. Neben den Sammelalben gab der umtriebige Verleger auch Poster von Mannschaften heraus. Seine Rechte an den bunten Fußballbildern vergab Bergmann ebenfalls an andere Verlage, die die Bilder dann in Lizenz druckten. Auch im Fußballmagazin „Kicker“ erschienen Sammelmarken für Fußballbilder aus dem Bergmann-Verlag. Bergmann schaffte es so, zum Marktführer für Fußball-Sammelbilder zu werden.

Rückseite eines Fußball-Sammelbildes von Helmut Haller - als Werbung für Knorr-Suppen. (Sammlung Delkus)

Rückseite eines Fußball-Sammelbildes von Helmut Haller – als Werbung für Knorr-Suppen. (Sammlung Delkus)

1969 gab Bergmann gar – „mit freundlicher Unterstützung der Schallplatten-Industrie“ – ein erstes Sammelalbum über Musiker heraus, die „Schlager-Star-Parade `69“. Auch diese Bilder waren für 10 Pfennig pro Tüte am Kiosk zu kaufen.

Als die Qualität nachließ

Anfang 1975 erfolgte – aus mir unbekannten Gründen – die Auflösung der Bergmann-Gesellschaften in Unna und die Verlagerung nach Fribourg in der Schweiz – nun als Bergmann AG. Dort brachte der Verlag anstelle der Kartonbilder erstmals selbstklebende Bilder heraus. „Leider“, heißt es, „ließ die Qualität der Bildmotive stark nach. Hatte man sich bis dato mit wenigen Ausnahmen auf Porträts der Spieler beschränkt, bestimmten nunmehr lieblos fotografierte Spielszenenbilder den Eindruck. Noch dazu waren sie grobkörnig und nicht selten auch unscharf.“

…und dann trat Panini auf den Plan

1979 kam es zu einer weiteren entscheidenden Veränderung: Der Bergmann-Verlag gab in diesem Jahr das erste Bundesliga Fußball-Sammelalbum in Kooperation mit Panini heraus. Vermutlich war diese Kooperation mit dem italienischen Sammelbildhersteller der Anfang vom Ende der Eigenständigkeit des Bergmann-Verlages.

Das Aus für den Bergmann-Verlag kam dann 1984. Ironie der Geschichte für einen Verlag mit schwarz-gelben Wurzeln: Nach „80 Jahre Schalke 04“, der Jubiläumsserie für ein Faltposter, kam das Ende. „Neben vielen Spielszenenbildern der Bundesliga-Begegnung „Schalke – Karlsruhe“ aus der Saison 1983/84 umfasst die Serie Spielerporträts, welche der Verlag bereits in früheren Jahren publiziert hatte.“ Danach war es vorbei mit dem Bergmann-Verlag.

Doch Fußballbilder gibt es weiterhin. Auch heute noch sammeln und tauschen viele junge (und inzwischen alte Männer) die Bilder aus Tüten. Wen wundert`s?

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Quellen- und Literaturverzeichnis:

Westfälisches Wirtschaftsarchiv WWA, Dortmund: Signatur K1 Nr. 7841-7843; K1 Nr. 13595-98
Bergmann-Sammelalben 1965 – 1984 bei www.stickerfreak.de
Berke, Bernd: „Pinguin-Verlag in Dortmund? Nie davon gehört!“ in: www.revierpassagen.de vom 29. September 2011
Giesen, Klaus: Sammelbilder in www.sammlerforen.net/showthread.php?t=1243




„Musik muss die Menschen auf eine Entdeckungsreise mitnehmen“ – Gespräch mit dem Pianisten Olli Mustonen

Die 29. Auflage des Klavier-Festivals Ruhr präsentiert jetzt bis zum 20. Juli in 69 Veranstaltungen herausragende Künstler. Zu ihnen zählt der Komponist, Dirigent und Pianist Olli Mustonen. Er widmet den Sonaten von Sergej Prokofjew zwei im Konzertalltag sehr rare Abende: Mit der Aufführung sämtlicher Klaviersonaten am 11. und 12. Juni 2017 zeigt er die Entwicklungsstadien eines der großen Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Der Pianist Olli Mustonen. (Foto: Klavier-Festival Ruhr)

Prokofjew-„Marathon“ beim Klavier-Festival Ruhr: der Pianist, Dirigent und Komponist Olli Mustonen. (Foto: Klavier-Festival Ruhr)

Gastautor Robert Unger sprach für die Revierpassagen zur Einstimmung auf den Sonaten-Marathon mit Olli Mustonen, der im Juni seinen 50. Geburtstag feiert:

Die Süddeutsche Zeitung schreibt über Sie „Er ist gleich in drei Disziplinen ein Profi: Der Finne Olli Mustonen ist Dirigent, Komponist und er ist ein begnadeter Pianist.“ Wie gelingt es Ihnen, die unterschiedlichen Anforderungen zu erfüllen?

Olli Mustonen: Ich muss sagen, dass für mich die Kombination der drei musikalischen Wege kein Hindernis ist. Es ist für mich vielmehr eine natürliche Sache. Durch Komponieren und Dirigieren kann ich viele Facetten der Musik besser verstehen und wahrnehmen. Als Komponist finde ich es spannend, meine Musik selber dirigieren zu können. Frühere Generationen von Musikern und Komponisten waren ebenso „Multitalente“. Besonders im 19. und frühen 20. Jahrhundert war es noch selbstverständlich, dass Komponisten gleichzeitig auch dirigierten und spielten. Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Edvard Grieg und Sergej Prokofjew reisten zu ihrer Zeit als Dirigenten und Pianisten durch die Welt.

Sie selbst verbindet eine sehr enge Beziehung zum Komponisten Rodion Schtschedrin.

Mustonen: Ja, ich kenne Rodion schon seit vielen Jahren und spreche mit ihm jede Woche. Sein Wissen um die russische Musikgeschichte ist unglaublich. Er ist eine Art Mentor für mich. Viele der wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens des 20. Jahrhunderts in Russland kannte er persönlich. Es fasziniert mich immer wieder, wenn er mir über Menschen wie Dmitri Schostakowitsch und Sergej Prokofjew berichtet. Außerdem hatte er eine ganz wunderbare Frau, die in der Sowjetunion eine berühmte Ballerina war: Maja Plissezkaja. Sie hat mich stets inspiriert und unterstützt. Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich immer wieder Werke von Schtschedrin uraufführen darf und er für mich sein 5. Klavierkonzert geschrieben hat.

Welche anderen Komponisten spielen in ihrem Konzertalltag und für Sie persönlich eine große Rolle?

Mustonen: Ich schätze natürlich die großen Komponisten der Musikgeschichte wie Maurice Ravel, Robert Schumann, den grandiosen und unglaublich fortschrittlichen Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven. Für mich ist es sehr wichtig, dass die Komponisten ein ganz eigene „Melodie“ für sich entwickelt haben und uns in ihrem Schaffen Geschichten erzählen.
Ich versuche mich auch stets mit unbekannten Komponisten und wenig gespielten Werken auseinanderzusetzen. Ich bedauere es sehr, dass sich das gegenwärtige Konzertrepertoire auf so wenige Komponisten und Werke verengt hat. Wir müssen wieder lernen, Konzertprogramme zusammenzustellen, in denen bedeutende und bekannte Werke ganz natürlich erweitert werden mit unbekannten Musikschätzen der Konzertliteratur. Man muss die Menschen immer wieder auf eine Entdeckungsreise schicken, sonst werden sie – und wir Musiker auch – müde und träge. Dieser Prozess fördert auf keinen Fall die musikalische Qualität der Konzerte.

Sergej Prokofjew scheint in Ihrem Repertore besonders wichtig zu sein. Schließlich haben Sie vor kurzem alle Klavierkonzerte von ihm aufgenommen und spielen jetzt beim Klavier-Festival alle Klaviersonaten an zwei Tagen.

Mustonen: Für mich ist Prokofjew unverzichtbar. Er vereint so viele Stile und Emotionen in seiner Musik wie kaum ein anderer Komponist: ob verspielt, belebt, geradlinig, heiter, russisch, modern, lyrisch oder ungewohnt klassisch. Man wird stets überrascht von seiner Musik. Die Klaviersonaten vereinen für mich alle Facetten seines Schaffens und sind ein großartiges Kaleidoskop an Stilen, Emotionen, dynamischen Entwicklungen. Sie fordern unglaublich heraus.

Wie gehen Sie an diese Herausforderung heran? Haben Sie die Sonaten bereits am Stück gespielt?

Mustonen: Ich habe lange davon geträumt, die Sonaten mit ihrem breiten Spektrum dem Publikum präsentieren zu können. Die Sonaten verlangen vom Publikum und natürlich auch von mir sehr viel, geben aber dafür unglaublich viel Kraft zurück. Ich habe mir lange zum Ablauf der Konzerte Gedanken gemacht und mich ganz bewusst für eine bestimmte Reihenfolge entschieden. Ich spiele am ersten Abend die Sonaten Nr. 4, Nr. 2, Nr. 9 und Nr. 6, am zweiten Abend dann die Sonaten Nr. 5, Nr. 8, Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 7. Besonders wichtig war mir dabei, die großen und technisch herausfordernden Kriegssonaten Nr. 6, 7 und 8 nicht direkt hintereinander zu spielen. Diese Sonaten beschreiben die ganze Verzweiflung des Krieges und die Angst vor dem Terror-Regimes Stalins, aber auch den Mut, den Willen und den nationalen Stolz der Russen. Andere Sonaten hingegen sind sehr kurz, verspielt, bestehen nur aus einem Satz oder sind eher ruhig in ihrem Gestus.

Wie sollte das Publikum an diesen „Marathon“ herangehen?

Mustonen: Ich kann die Zuhörer nur dazu einladen, sich mit offenen Ohren und Herzen auf diese spannende Entdeckungsreise einzulassen. Man sollte sich lösen von seinen Vorurteilen gegenüber dem Fremden und der angeblichen Verschlossenheit von „moderner Musik“. Ich habe die Sonaten vor ein paar Jahren bereits einmal komplett an einem Tag gespielt. Es war sehr spannend zu spüren, wie das Publikum von Sonate zu Sonate immer mehr an Offenheit für die Musik gewann.

Können Sie uns auch etwas über ihre nächsten Pläne sagen?

Mustonen: Ich schreibe zurzeit an einem Liederzyklus für Tenor und Streichquartett. Es ist mir eine besondere Freude und Ehre, dass Ian Bostridge sich bereit erklärt hat, an der Uraufführung mitzuwirken. Auch träume ich schon lange davon, alle Beethoven-Sonaten aufzuführen. Ich werde im nächsten Jahr damit beginnen, in meiner Heimat immer wieder einen Abend dem Klavierwerk Beethovens zu widmen. Es gibt eine ganz besondere, ja fast natürliche Verbindung zwischen mir und ihm. Mein Vorname Olli sieht mit der Hand geschrieben und auf den Kopf gestellt aus wie die Zahl 1770. Beethoven wurde in diesem Jahr geboren und sein wichtigster Verleger Bernhard Schott hat seinen Verlag im selben Jahr gegründet. Insofern kann ich nicht anders – ich bin fast schon dazu gezwungen, die Sonaten zu spielen.

Konzerte am 12. und 13. Juni, jeweils 20 Uhr, in der Stadthalle Mülheim/Ruhr. Karten: Tel.: (01806) 50 08 03. Info: www.klavierfestival.de




Weil der WDR hohe finanzielle Hürden setzt: Ruhrgebiets-Hörspiele können nicht im Buchhandel verkauft werden

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über eine neue Edition mit Ruhrgebiets-Hörspielen, die allerdings einen Schönheitsfehler hat:

Für mich ist es ein Rücksturz in meine literarische Vergangenheit: „Die Sonne ist nicht mehr dieselbe. Ruhrgebiets-Hörspiele 1960 bis 1990“. So lautet der Titel einer facettenreichen Dokumentation (die beiliegende DVD umfasst nicht weniger als 39 Hörspiele), die jetzt von der Literaturkommission Westfalen veröffentlicht worden ist.

Ruhrgebietsspezifische Hörspiele gab es natürlich von jeher im Programm des Westdeutschen Rundfunks, richtig Fahrt hat diese Sparte allerdings erst aufgenommen, als der aus Bottropstammende Frank Hübner Anfang der 1980er Jahre die Ruhrgebiets-Redaktion beim WDR übernahm.

Heimatdönekes, sofern es sie gegeben hatte, waren passé. Wir, Autoren und Autorinnen aus dem Revier, befassten uns mit gegenwärtigen Themen, orientiert an ambitionierten literarischen Qualitätskriterien. Klingende Autorennamen versammelten sich da: Michael Klaus, Jürgen Lodemann, Monika Littau oder Rolf Dennemann.

Ich für meinen Teil habe versucht, mit Formen der Konkreten Poesie den Ruhrgebiets-Slang zum Tanzen zu bringen. Aufbruchstimmung allenthalben, die im zweijährigen Gruppen-Projekt „Blackbox B 1“ gipfelte.

All das kann man in der neuen Doku nachlesen und -hören, wenn, ja wenn es so leicht wäre, an diese empfehlenswerte Veröffentlichung heran zu kommen. Man muss sich bemühen: Aus urheberrechtlichen Gründen kann die Edition nicht im Buchhandel erscheinen.

Der Bezug ist nur möglich über die Literaturkommission für Westfalen, Salzstraße 38 / Erbdrostenhof, 48133 Münster. Warum das? Der WDR hatte vor den regulären Verkauf der Edition so hohe finanzielle Hürden gesetzt, dass die Herausgeber darauf verzichten mussten. Kein Ruhmesblatt für den WDR!




Zur Not kann man auch am Gegner seine Freude haben – über solche und solche Fußballfans

In dieser „englischen“ Fußballwoche geht’s gleich zweimal rund in der Bundesliga: Heute (Dienstag, 4. April, 20 Uhr) trifft der BVB im heimischen Dortmunder Westfalenstadion * auf den Hamburger SV, am Samstag (8. April, 18:30 Uhr) geht’s zu den Bayern nach München. Anlass genug für diesen Beitrag: Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, schreibt über verschiedene Arten von Fußballfans:

Dortmunder Torjubel im Westfalenstadion beim 3:0-Sieg gegen Tottenham Hotspur. (Foto: Bernd Berke)

Dortmunder Torjubel im Westfalenstadion beim 3:0-Sieg gegen Tottenham Hotspur. (Foto: Bernd Berke)

Meine drei Söhne sind brav, sie sind ihrem Vater gefolgt und Fußballfans geworden. Und weil sie auch noch gut erzogen sind, haben sie die Vorliebe ihres Vaters übernommen. Sie sind Fans von Borussia Dortmund.

Zwei Dauerkarten haben wir und gehen in wechselnden Kombinationen ins Stadion. Und dabei stellen wir immer neu fest, was wir schon vorher wussten. Fan ist nicht gleich Fan. Wir merken es beim Absingen der Fan-Lieder. „Borussia, unser ganzes Leben, unser ganzer Stolz…“ ist ein Lied, das wir nicht mitsingen können. Der Fußball ist ein schöner Teil unseres Lebens. Wie genießen die Spiele im Stadion, haben Freude an den Fernsehübertragungen, aber unser ganzes Leben ist Borussia nicht. Und stolz sind wir auf das, was wir selber schaffen, ohne es freilich übermäßig nach außen zeigen zu wollen.

Sport ist doch nicht alles…

Fußball hat für uns einen Stellenwert, aber er dominiert uns nicht. Entsprechend gehen uns Fans, für die Fußball alles ist, gehörig auf die Nerven. Irgendwann saß so ein Fan in der Kneipe neben uns, brüllte rum, kommentierte alles (ohne viel Ahnung zu haben) und sprach uns immer wieder an. Bis es meinem jüngsten Sohn endgültig reichte. „Wir interessieren uns nur für Fußball, weil uns Gespräche über Baumärkte und Autos noch mehr langweilen“, sagte er dem Mann. An das erstaunte Gesicht mit dem offenen Mund erinnere ich mich gut. Man sah dem Mann deutlich an, wie sein Männerbild zusammenbrach.

Leute, die keine Ahnung vom Fußball haben, aber umso lauter rumbrüllen, sind schwer zu ertragen. Als ein Angriff unserer Borussia mal wegen Abseits abgepfiffen wurde, sprang der Mann neben uns auf. „Schieber!“, schrie er, „das war doch kein Abseits.“
„Setz dich“, sagten wir, „das war Abseits.“ Überrascht schaute er uns an. „Und ich dachte, ihr seid Borussenfans“, sagte er. „Sind wir“, antworteten wir, „aber Regel ist Regel. Also ist Abseits Abseits. Auch für uns.“

Als Juventus über die linke Seite kam

Dafür lieben wir jene Fans, die wirklich Ahnung haben. Bei einem Europapokalspiel gegen Juventus Turin saß mal ein junger Mann neben mir im Stadion, der wirklich was von Fußball verstand. Juventus griff über die rechte Seite an und dem Mann fiel auf, was mir auch auffiel. „Guck mal, was da gerade links passiert!“, rief er. „Unsere rennen alle nach rechts, die haben noch gar nicht gemerkt, dass die Gefahr gleich von der anderen Seite kommt.“ Tatsächlich liefen dort unbemerkt zwei Juve-Spieler in Stellung, als unsere Abwehrspieler sich endgültig rechts versammelt hatten, kam der präzise Flankenwechsel und zwei Juve-Spieler standen frei. Mit 1:3 haben wir das Spiel verloren. Mein Nachbar stand nach dem Schlusspfiff auf und gab mir zum Abschied die Hand. „Wir haben heute eine gute Mannschaft gesehen“, sagte er, „schade, dass es die falsche war.“ Ein Satz, der Fairness zeigte und vor allem Verständnis von der Sache.

Drei Jahre später standen sich übrigens die beiden Mannschaften wieder gegenüber, im Endspiel um die Champions League, und diesmal waren „wir“ besser. Längst hatte unsere Mannschaft dazu gelernt.

Mit einem Buch im Dortmunder Stadion

Ich sehe die Dinge gerne zusammen. Fußball und Kultur, Fußball und Religion. Einmal habe ich ein Fußballspiel wie einen Gottesdienst geschildert, und siehe da, es funktioniert. Viele der Riten sind wie aus der Kirche übernommen.

Einmal bin ich sehr früh ins Stadion gegangen, weil ich sonst keine Karte mehr bekommen hätte. Es war noch die Zeit, als man an den Schaltern neben dem Stadion Eintrittskarten kaufen konnte. Heute gibt es die Schalter gar nicht mehr, die Karten sind immer verkauft. Immerhin über 80.000 pro Spiel! Weil ich also früh im Stadion sein würde, steckte ich ein Buch ein, Stefan Austs „Baader-Meinhof-Komplex“, das ich spannend fand.

Ich las also, während die Spieler sich unten warm machten und plötzlich bemerkte ich die scheelen Blicke meiner Nachbarn. Was will der denn hier, schienen sie zu denken, hat der sich verlaufen? Jedenfalls sprachen sie nicht mit mir, wie man das sonst ganz selbstverständlich im Stadion tut. Bis plötzlich ein Verteidiger der gegnerischen Mannschaft, der einen Mordsschuss hat, auf unser Tor zulief und nicht angegriffen wurde. „Passt auf da“, schrie ich und sprang erregt auf, aber es half nichts. Der Spieler zog ab und es stand eins zu null für den Gegner. Ich setzte mich wieder. „Hab ich´s nicht gesagt?“, sprach ich meine Nachbarn an. Jetzt schauten sie mich noch erstaunter an. Einer, der Bücher liest im Stadion und trotzdem Ahnung hat. Fortan wurde ich in die Gespräche einbezogen.

Unsere Helden Hans Tilkowski und Aki Schmidt

Mein Freund seit Jugendzeit, der frühere Pressesprecher von Borussia, ist mir in diesem Punkt ähnlich. Er sieht die Dinge auch in Zusammenhängen. Gleich mehrere meiner Romane und Sachbücher, in denen Fußball eine Rolle spielt, hat er in einer Pressekonferenz im Stadion vorgestellt. Wenn Borussia ruft, das wissen wir beide, kommt die Presse. Die Aufmerksamkeit, die auf diese Weise erzeugt wurde, hat meinen Büchern gut getan.

Seit Jugend an, er noch früher als ich, sind wir ins vergleichsweise kleine Stadion „Rote Erde“ gegangen und haben unseren Helden, den Nationalspielern Hannes Tilkowski und Aki Schmidt zugejubelt. Später wurden sie unsere Freunde und wir redeten und reden mit ihnen gerne über alte Zeiten. Wir als kleine Jungs auf der Tribüne, unsere Helden unten auf dem Rasen. Wenn ich meinen Söhnen Anekdoten aus dieser Zeit erzähle, lachen sie. „Telefon, Papa, das letzte Jahrhundert hat wieder angerufen.“

Der Stürmer, der fast alles verstolperte

Spotten tun nicht nur sie, sondern wir alle gerne, das will ich gerne zugeben. Irgendwann und irgendwo muss man seinen Frust ja ablassen. Von Gewalt, von sinnlosem Krakeelen aber sind wir weit entfernt. Es ist ein paar Jahre her, dass Borussia gegen den Abstieg spielte. Einen Stürmer hatten wir damals, der beinahe jeden Ball verstolperte. Wenn er ihn verloren hatte, grätschte er hinterher und beförderte ihn bestenfalls ins Aus. „Kämpfen tut er aber“, kommentierten die Dortmunder Fans dann, immer in der Hoffnung, dass der Junge irgendwann besser würde. Wurde er aber nicht. Als er wieder mal den vierten oder fünften Angriff durch seine Stolperei unterbrochen hatte und wieder jemand kommentierte, dass er immerhin schnell sei und kämpfen würde, sprang ein Freund von mir erregt auf und schrie: „Was ist das hier? Ist das Leichtathletik oder Fußball?“

Bei einem späteren Spiel lag dieser Spieler verletzt auf dem Rasen und mein ältester Sohn kommentierte: „Ich glaube, es geht gut aus, Papa. Er kann nicht weiterspielen.“
Überhaupt lieben wir Humor. Unser früherer Klasseverteidiger Julio Cesar, brasilianischer Nationalspieler, hat in einem Spiel mal zwei Ecken hintereinander ins Tor geköpft und wurde dann, unter dem Jubel der Zuschauer, ausgewechselt, weil das Spiel längst entschieden war. Bei der nächsten Ecke aber sprangen wir trotzdem auf und riefen: „Julio, Julio.“

Ein verbotener Vereinsname

Den Namen unseres Erzrivalen Schalke nehmen wir übrigens nicht in den Mund, auch ich zögere jetzt, ihn hier zu schreiben. Als ich mal eine Delegation aus Schuldezernenten bei einer Stadionführung in Dortmund begleitete, habe ich ihnen vorher erklärt, dass sie den Namen im Stadion nicht erwähnen sollen. Wer unbedingt von unserem Erzrivalen reden wolle, müsse von Herne-West sprechen. Die Dezernenten haben das für einen Witz gehalten, aber als Aki Schmidt bei seiner Führung ebenfalls immer Herne-West sagte, wurde ihnen bewusst, dass das absolut ernst gemeint war. Selbst bei dem Revierderby wird der Name unseres Gegners im Stadion nicht erwähnt. „Und jetzt die Mannschaftsaufstellung der Blauen …“, ruft unser Stadionsprecher ins Mikrophon.

Fußball ist schön, er ist unterhaltsam. Für meine Söhne und mich kommt ein kleines Nebenergebnis hinzu. Wir sind, wenn zwei von uns zum Stadion fahren, für drei Stunden unter uns. Wir haben Zeit, über alles Mögliche zu reden, über Fußball natürlich, aber auch über alles andere, was uns bewegt: Politik, Bücher, Religion, unsere Pläne …

Nicht das Hobby versauen lassen

Warum sich also schlagen? Warum Gewalt im Stadion bis hin zum Niederschießen eines Fans, wie das vor ein paar Jahren in Italien geschah? Straßenschlachten der Hooligans wie kürzlich gegen Leipzig? Wir wollen Freude haben, an unserer Mannschaft, die seit Jahren oft einen wunderbaren Fußball spielt, zur Not aber auch an der gegnerischen Mannschaft, wenn sie einen guten Ball spielt.

In einem meiner Krimis wird ein Fußballer ermordet, der zu den gewalttätigen Fans, die sich auch noch rassistisch äußern, gesagt hat, dass sie zu Hause bleiben sollten, weil ihr Handeln nichts mit Fußball zu tun hat. Mein Kommissar macht sich auf die Suche nach Täter und als er ihn hat, ruft er seinen Sohn von Leipzig aus an. „Wann kommst du nach Hause?“, fragt der Sohn. „Heute bleibe ich noch in Leipzig und esse in Auerbachs Keller“, antwortet mein Kommissar. „Aber morgen fahre ich ganz früh los, dann bin ich rechtzeitig zum Spiel von Borussia im Stadion. Von solchen Dummköpfen lasse ich mir doch nicht mein Hobby versauen.“

Meine Söhne lachten, als sie es lasen. „Das war wieder ganz unser Papa“, sagten sie. „Diesmal in der Verkleidung seines Kommissars.“

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* Westfalenstadion lautet der richtige Name, im Kommerz-Sprech heißt der Fußballtempel „Signal-Iduna-Park“ (Anm. Bernd Berke)




Kathedrale, historische Fabriken, Jules Verne – zu Besuch in Dortmunds französischer Partnerstadt Amiens

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über einen Besuch in Dortmunds nordfranzösischer Partnerstadt Amiens:

Es ist ein kleines Schildchen unter Ortsschildern der Stadt Dortmund. Zusammen mit anderen kleinen Schildern zeigt es an, mit welchen Städten in der Welt Dortmund eine Partnerschaft betreibt. Wann immer ich in Dortmund einfahre, lese ich, was auf dem Schildchen steht: Amiens. Das ist ein kleines Schildchen, aber noch immer kein Bild in meinem Kopf.

Gewaltiges Bauwerk: Nordansicht der Kathedrale von Amiens, September 2011. (Foto: BjörnT - Public Domain / Wikimedia Commons)

Gewaltiges Bauwerk: Nordansicht der Kathedrale von Amiens, September 2011. (Foto: BjörnT – Public Domain / Wikimedia Commons)

„Du musst es mal gesehen haben“, sagt mein Freund Kurt Eichler, bis vor Kurzem Leiter des Dortmunder „U“. „Und wenn du da bist, geh unbedingt in das Jules-Verne-Haus! Das ist ein tolles Literaturhaus, das jedem Schriftsteller gefallen muss.“

Ja, ich muss mal dorthin. So eine Stadt kann doch kein Schild in meinem Kopf bleiben, sie muss endlich zu Bildern werden. Außerdem habe ich seit dem Jahr, als Dortmund und das ganze Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas waren, einen Freund in Amiens. Habe also einen besonderen Grund, einmal dorthin zu fahren. Jean Paul Dekiss ist es, der Schriftsteller, der Filmemacher, der Leiter des Jules-Verne-Hauses, mit dem zusammen ich mich auf Erkundungstour durchs Ruhrgebiet aufgemacht habe. Andere Schriftsteller waren dabei, Autorenfreunde aus Dortmund und Umgebung und dazu Schriftsteller aus Rostov und Leeds. Das sind andere Partnerstädte von Dortmund, die bis jetzt auch noch nicht zu Bildern in meinem Kopf geworden sind. Die es aber werden sollen.

Ein schönes Buch ist aus den Reportagen, die wir über unsere Erkundungstouren geschrieben haben, entstanden. „Blickwechsel“ heißt es. Blicke von außen, Blicke von innen über meine Heimat Ruhrgebiet.

Gigantische Kathedrale

Ich sollte also zuerst über das Jules-Verne-Haus schreiben, wenn ich über meinen Besuch in Amiens berichte, aber ich kann nichts anders, ich muss mit der Kathedrale anfangen. Vom Tisch im Restaurant „Le Quai“ aus kann ich sie sehen, in der Abenddämmerung. Die kleinen Häuser davor lassen sie noch größer, noch mächtiger erscheinen. Im Mittelalter, denke ich, waren alle Häuser von Amiens klein, kleiner noch als jene, die jetzt vor der Kathedrale stehen. Wie groß, wie mächtig muss sie damals auf den Besucher gewirkt haben?

Natürlich möchte ich hineingehen, die Höhe des Kirchenschiffs bewundern, 144 Fuß hoch, nach den 144 Ellen, die das neue Jerusalem nach Angaben in der Johannes-Apokalypse lang sein soll. Und das Gesicht von Johannes dem Täufer will ich sehen.

Biblische Geschichte voller Leidenschaft

Amiens ist einer von drei Orten, die beanspruchen, den Kopf von Johannes dem Täufer zu haben. Ich stehe vor ihm, mache ein Foto und denke an seinen Tod. Herodes Agrippa soll er kritisiert haben, den König, weil er seine Schwägerin Herodias geheiratet hat. Eine Schwägerin galt damals als Quasi-Blutsverwandte, so jemand heiratete man nicht. Herodias war es dann, die ihn mit ihrem Hass verfolgte, und als sich ihre Tochter Salome nach einem verführerischen Tanz ein Geschenk von Herodes Agrippa wünschen durfte, sah sie ihre Chance. Den Kopf von Johannes sollte sich die Tochter, die sonst alles hatte, wünschen. So steht es in der Bibel, aber vermutlich war alles ganz anders.

Herodes Agrippa drohte ein Krieg, und da wollte er, der es sich mit Johannes und seinen zahlreichen Anhängern verscherzt hatte, keine zwei Fronten haben. Also ließ er Johannes töten, um sich ganz auf seinen äußeren Kriegsgegner konzentrieren zu können.

Trotzdem, die Bibelgeschichte mit dem Tanz ist spannender. Sie ist voller Leidenschaft, voller Hass vor allem, sie bleibt den Menschen, die sie lesen, im Gedächtnis.

Traum von einer besseren Welt

Über solche Geschichten, gefüllt mit prallem Leben, reden wir auch bei unseren Diskussionen, Jean Paul Dekiss, meine neuen französischen Autorenfreunde Gilbert Desmée, Jean-Louis Rambour, Lilian Robin, Roland Thibeau, Jean-Luc Vigneux, meine Ruhrgebietsfreunde und ich. Wie soll moderne Literatur aussehen, welche Themen soll sie aufgreifen?

Quartier Saint Leu in Amiens, Aufnahme von 2005. (Foto: Emmanuel Legrand - Free Art License 1.3: http://artlibre.org/licence/lal/en/)

Quartier Saint Leu in Amiens, Aufnahme von 2005. (Foto: Emmanuel Legrand – Free Art License 1.3: http://artlibre.org/licence/lal/en/)

Soll die Arbeitswelt darin auftauchen, soll sie es nicht? Auf jeden Fall, stellen wir fest, besteht Literatur aus mehr als nur schön formulierten Sätzen. Literatur gestaltet wichtige Inhalte, sie erzählt einen Ausschnitt aus dem Leben, einen mit Leid und Freud gefüllten Ausschnitt. Literatur, so stelle vor allem ich es mir vor, ist immer auch kritisch, sie greift an, sie träumt von einer anderen, besseren Welt. Zur Leidenschaft, wie sie in der großen Bibelgeschichte ausgedrückt wird, kommt also auch die Sehnsucht. Die Arbeitswelt mit ihrem Druck, ihrer Ausbeutung und auch mit ihrer Freude, wenn etwas Schönes gestaltet wird, gehört dazu.

Lange reden wir darüber, das Thema immer neu umkreisend. Um dann unsere Diskussion zwischendurch zu unterbrechen und uns Beispiele vom Leben in der Arbeitswelt rund um Amiens anzusehen.

Zweierlei Fabrik-Modelle

Wir besuchen das Gelände von Jean-Baptiste Godin, der ein ehemaliger Arbeiter war. Er entwickelte ein genossenschaftliches Modell ab 1850, gründete eine Fabrik, die gusseiserne Öfen herstellte. Sein Modell war keine Philanthropie, sondern ein utopischer Gegenentwurf zur kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Die Arbeiter bekamen Anteile von der Fabrik, es wurden große Wohnhäuser mit überdachten Innenhöfen für sie gebaut, dazu Schulen für die Kinder.

Es war ein Gegenentwurf gegen das paternalistische System, das wir am folgenden Tag bei den Brüdern Saint sahen, die sich „Saint Frères“ nannten und die große Stoffe, Seile, Segel herstellten. Hier war alles auf Kontrolle abgestellt, auf effektive Ausbeutung der Arbeiter. Selbst die Wohnhäuser waren so gebaut, dass die Vorarbeiter ihre Untergebenen in deren Freizeit beobachten konnten. Sie sollten nicht nach Belieben in eine Kneipe gehen können, die Zeit nach der Arbeit diente allein dazu, dass sie sich für die Arbeit am nächsten Tag erholten.

Godins Modell ging 1969 unter. Klar, könnte man denken, idealistische Modelle haben auf lange Sicht keine Chance. Sie sind Wünsche, von denen man träumen kann, die sich aber nicht verwirklichen lassen.

Stimmt das wirklich? Nicht ganz, denn auch das Modell „Saint Frères“ ging in genau diesem Jahre unter.

Stoff für einen Kriminalroman

Heute wird auf dem Gelände Altkleidung sortiert, die in Frankreich verkauft wird oder in Afrika. Die Emmaus-Brüder machen das mit Ideen wie jene von Godin. Leute, die lange arbeitslos waren, arbeiten bei ihnen, niemand verdient mehr als das Dreifache von dem, was der einfache Arbeiter verdient. Wie weit entfernt ist das von unseren Bankern, die in einem Jahr so viel verdienen, wie ich es nicht in drei Leben verdienen werde. Und dabei verdiene ich nicht einmal wenig.

Ein Stoff für einen Roman ist das, denke ich. Und ich habe auch schon damit angefangen, ihn zu schreiben, einen Kriminalroman über die Machenschaften der Banker. Im Herbst dieses Jahres wird er erscheinen.

Heute Bestandteil des Jules-Verne-Museums: das Arbeitszimmer des welberühmten Schriftstellers in seinem Stadthaus in Amiens. (Foto: Achim Ebenau / Wikimedia Creative Commons - Linkz zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Heute Bestandteil des Jules-Verne-Museums: das Arbeitszimmer des weltberühmten Schriftstellers in seinem Stadthaus in Amiens. (Foto: Achim Ebenau / Wikimedia Creative Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Unverzichtbares Jules-Verne-Haus

Er folgt meiner Idee von Literatur. Pralle Geschichten will ich erzählen, Kritik an Fehlentwicklungen der Gesellschaft und der Arbeitswelt üben. Leidenschaften zeigen, Ärger, Wut. Den Traum von einer anderen, besseren Welt träumen. Jemandem wie Godin bin ich dabei nahe, der dies alles nicht nur geträumt, sondern realisiert hat für hundert Jahre. Für hundert Jahre immerhin!

Ja, und dann bin ich in Amiens auch noch ins Jules-Verne-Haus gegangen. Und weil es um Jules Verne geht, muss ich meine Erlebnisse in diesem Haus in besonderer Sprache schildern:

Bruder Jules

Stell dich ins Hoftor
dorthin, wo auch
Jules Verne stand
als die Schüsse fielen

Zwei Schüsse, einer
der das Holz des Tors
zersplitterte und einer
der sein Bein traf

So dass er nicht mehr
segeln konnte, nie mehr
er, der doch das Meer
so liebte

Ach Bruder, es war
mein Neffe
Bruder ach, es war
dein Sohn

Der Bruder schwieg
was konnte er auch anders
tun als schweigen, er,
den Jules so dringend brauchte

Er, den der Bruder
liebte, der Jules`
Texte las und
korrigierte

Ich brauch dich
Bruder und der Neffe
er geht in eine Anstalt
vierzig Jahre lang

Kein Wort nach
außen über ihn
kein Streit nach
innen zwischen uns

Ja, das ist Bruderliebe.
Drum stelle dich ins Tor
und denk an sie
an Jules und seinen Bruder

Und ihre Liebe füreinander, denk
aber auch an den Neffen, denke:
vierzig Jahre! Dann geh ins
Haus, in den Salon

Um dort zu lesen aus
dem Roman, deinem Roman
Jules wartet schon.
Mit strengem Blick hört er

dir zu, dort oben an der Wand
und streng dich an, denn
heute musst du ihm gefallen
ihm, Jules Verne.

Viele Bilder im Kopf

Nun kenne ich Amiens. Es ist nicht mehr ein kleines Schildchen unter dem Ortsschild von Dortmund. Es ist nicht mehr die nichtssagende Schrift, die ich lese, wenn ich in Dortmund einfahre. Ich habe viele Bilder von Amiens im Kopf, und ich weiß, ich werde dorthin zurückkehren. Werde zurückkehren zu seiner Kathedrale, zu Godin, zu Jean Paul Dekiss und meinen französischen Schriftstellerkollegen. Und zu Jules Verne, von dem ich hoffe, dass ihm der Ausschnitt aus meinem Roman gefallen hat.




Auch in der DDR gab es Spielräume – 66 Facetten eines Lebens in Matthias Biskupeks „Der Rentnerlehrling“

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen Erzählband, der manchen Aufschluss über das Leben in der einstigen DDR gibt:

Wer mit 65 Jahren ins Rentenalter eintritt, beginnt eine neue Lehrzeit, meint der Rudolstädter Schriftsteller Matthias Biskupek, er wird nämlich ein „Rentnerlehrling“.

Als er selber in diesen Lehrlingsrang kam, hat Biskupek, wie Schriftsteller das eben tun, ein Buch geschrieben, um sich seines bisherigen Lebens zu vergewissern und von dieser Plattform aus die restlichen Schritte zu gehen.

In 66 Geschichten, die weitgehend Lebenserinnerungen sind, hat Biskupek sein Leben rekapituliert. Für jedes Jahr eine Geschichte, dazu als Einleitung ein kurzer Bericht über das, was er genau erlebt hat mit Bezügen zum allgemeinen Weltgeschehen.

Der sachliche Vorspann ist deshalb notwendig, weil Biskupeks Geschichten keine bloßen Berichte sind, sondern Erzählungen, mal ironisch, mal satirisch zugespitzt, mal literarisch verdichtet. Und dies ist eine glückliche Kombination, denn der Leser kann einerseits Biskupeks Lebensweg nachvollziehen, in den Geschichten andererseits sehr viel über den DDR-Alltag und über die Literaturszene des untergegangenen Landes insbesondere erfahren. Je mehr der Leser eintaucht in das Buch, desto mehr merkt er, dass er vieles über die DDR ungenau, undifferenziert oder gar nicht gewusst hat.

Die Schriftstellerszene, die Biskupek aus der Innensicht heraus genau gekannt hat, steht dabei als eine Art Gradmesser für die allgemeine Entwicklung. Natürlich hat die Stasi versucht, auch ihn als IM zu rekrutieren, es fanden Gespräche statt, von denen er erst nach der Wende erfahren hat, dass die Stasi sie als informelle Gespräche gewertet hat. Aber er ist dort nicht gelandet, sondern hatte, weil er nicht stromlinienförmig mitschwamm, ein gerüttet Maß an Nachteilen in Kauf zu nehmen.

Kleine Perlen sind in diesem Zusammenhang die Berichte über interne Kämpfe. Wer kennt im Westen noch den Magdeburger Schriftsteller Wolf Brennecke? Er leitete dort eine Gruppe junger Autoren an, zu denen auch Brigitte Reimann und Rainer Kunze gehörten. Brennecke hat den demokratischen Anspruch, den ja auch die DDR für sich in Anspruch nahm, bitterernst genommen. Einmal mehrheitlich gefasste Beschlüsse hat er eisern versucht durchzusetzen. Er war nicht gegen den Staat, er hat nur manches Mal seinen eigenen Anspruch gegen ihn selber verteidigt. Als Brigitte Reimanns Mann im Gefängnis saß, hat die Stasi sie erpresst und angeworben. Als Brennecke das erfuhr, ist er zu den Ämtern gestürmt, hat sie dort verteidigt und dem Staat vorgeworfen, dass er dabei sei, eine solche Autorin in den Westen zu vertreiben.

Solche Haltungen waren also möglich, es gab Spielraum und es lag an der Tapferkeit des einzelnen, ob und wie er sie nutzte. Natürlich gab es Grenzen, das darf nicht vergessen werden. Eine Zeitlang arbeitete Biskupek, der eigentlich ein Ingenieurstudium abgeschlossen und diesen Beruf auch ausgeübt hat, am Theater in Rudolstadt. Mit viel sanftem Humor schildert er die Erlebnisse der Schauspieler und Autoren untereinander, auch die regelmäßigen Mühen, dieses oder jenes Stück überhaupt auf die Bühne zu bekommen. Aber mit List und Tücke war eben doch manches möglich.

Es macht Freude, diesen Lebenserinnerungen zu folgen. Man nimmt etwas mit und man muss beim Lesen sehr genau aufpassen, wie Biskupek diese oder jene Passage wirklich meint. Seine Ironie ist gut dosiert, sie verwässert nicht, aber fordert den Leser.

Matthias Biskupek: „Der Rentnerlehrling. Meine 66 Lebensgeschichten“. Mitteldeutscher Verlag, Halle. 352 Seiten, 19,95 Euro.




„Wir müssen uns wehren“: Autoren weltweit vor Verfolgung schützen – eine Rede über die Schriftstellervereinigung PEN

Vom 27. bis zum 30. April 2017 wird die deutsche Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN ihre Jahrestagung in Dortmund abhalten. Gleichsam zur Vorbereitung und Einstimmung auf das Ereignis hat unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Bergkamen), an verschiedenen Orten die folgende Rede gehalten, in der er darlegt, was der PEN eigentlich ist und will. Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN. Wir drucken seine Rede mit geringfügigen Kürzungen ab:

___________________________________________________________

Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Um die Frage zu beantworten, wer oder was der PEN ist, fange ich nicht mit allgemeinen Erklärungen an, sondern wähle einen anderen, anschaulichen Einstieg. Wie wird eigentlich umgegangen mit dem freien Wort in unserer Welt, frage ich mich und damit auch Sie.

Derzeit sind etwa 800 Dichter, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt mit Verfolgung, Gefängnisstrafe oder Tod bedroht. Und wer jetzt gleich an China denkt und dort den Haupttäter vermutet, denkt zwar an einen Großtäter, das stimmt, aber die Liste wird nicht von China angeführt, sondern von der Türkei.

Selbst in absoluten Zahlen liegt das Land des Herrn Erdogan an der Spitze der Schreckensliste und es gibt doch deutlich weniger Türken als beispielsweise Chinesen auf der Welt. Womit ich für China, ein Land, das ich durch mehrere Lehraufträge an dortigen Unis gut kenne, keine Unschuldserklärung abgeben möchte. Natürlich nicht. Auch Krisenländer in Afrika, Mittelamerika und Asien sind auf dieser Schreckensliste vertreten.

2013 wurden 15 Schriftsteller ihrer Texte wegen getötet, 19 weitere wurden umgebracht, vermutlich ebenfalls, weil sie unbequeme Meinungen vertraten, aber in ihren Fällen lässt sich das Tötungsmotiv nicht eindeutig nachweisen.

Beispiele aus Syrien, Katar, Mexiko und Bangladesch

Wie sieht denn nun Verfolgung von Autoren konkret aus?

Da ist zum Beispiel der syrische Romanautor Fouad Yazij, ein Gegner des Assad-Regimes und ein Christ, der auf diese Weise zwischen alle Fronten geriet. Hier Assads Soldaten, dort der fanatisch islamistische IS. 2014 musste dieses literarische Aushängeschild seines Landes überstürzt aus Syrien fliehen und gelangte nach Kairo, wo er zuerst einmal in einer Garage Unterschlupf fand.

Durch Vermittlung des Goethe-Instituts bekam Fouad Yazij schließlich eine bescheidene Wohnung. Aber er war noch immer völlig mittellos, noch dazu hatte er seine alte Mutter völlig verarmt in Homs zurücklassen müssen. Wenn er Spenden bekam, vom PEN vermittelt oder von der Gießener Gruppe „Gefangenes Wort“, schickte er einen Teil davon an seine Mutter. Über Monate hinweg wurde Fouad mehr schlecht als recht durch Hilfe von außen über Wasser gehalten, zwischendurch war er derart verzweifelt, dass seine Helfer Angst hatten, er könne sich das Leben nehmen.

Schließlich gelang es dem PEN, Fouad in sein „Writers-in-Exile-Programm“ aufzunehmen. Acht Wohnungen hat der PEN in Deutschland in verschiedenen Städten für dieses Programm, dank der Hilfe des Kulturministeriums, zur Verfügung, um dort für ein oder zwei Jahre verfolgte Schriftsteller unterzubringen. Wenigstens für einen kurzen Zeitraum sollen diese Autoren wieder Ruhe haben, um angstfrei zu leben und vor allem um zu arbeiten, also schreiben zu können. Acht von achthundert. Im November 2015 wurde Fouad in dieses Programm aufgenommen, inzwischen ist er sicher in Deutschland angekommen.

Da ist Mohammed al-Adschami aus Katar, dem Land, das im Jahr 2022 eine Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten soll. Er hat ein Gedicht geschrieben, das der Emir als Aufruf zum Umsturz wertete. Zu lebenslanger Haft wurde er dafür verurteilt, seit 2012 saß Adschami für vier Jahre im Gefängnis, bis er nach vielen internationalen Protesten, hauptsächlich vom PEN, in diesem Jahr vom Emir begnadigt wurde. Mit den Zeilen „Sie importiert all ihre Sachen aus dem Westen/warum importiert sie nicht Gesetze und Freiheit“ endet sein Gedicht, das ihm diese Strafe einbrachte, denn jeder in Katar wusste, wer mit dem „Sie“ gemeint war. Die Zweitfrau des Emirs nämlich, die sich auf Auslandsfahrten mit ihrem Mann stets luxuriös einzukleiden weiß, die also die Waren des Westens schätzt, aber nicht seine moralischen Werte.

Gefängnis für eineinhalb Gedichtzeilen

Ein Aufruf zum Umsturz soll es also gewesen sein, den Emir auf diesen Widerspruch hinzuweisen und auf diese Anklage steht in Katar eigentlich die Todesstrafe. Lange drohte sie vermutlich, dann wurde Mohammed zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Und lebenslänglich ist in Katar wortwörtlich zu verstehen. Sein ganzes Leben lang sollte Mohammed für dieses eine Gedicht im Gefängnis schmoren, dann wurde er „begnadigt“, zu fünfzehn Jahren Haft. Das bedeutete bei einem Gedicht von 23 Versen ein Jahr Haft für eineinhalb Zeilen. Bis dann die endgültige Begnadigung kam. Gnade wofür? Dafür, dass jemand in einem Gedicht seine Meinung gesagt hat, die noch dazu schwer zu widerlegen ist?

Die mexikanische Journalistin Ana Lilia Pérez hat sich mit der Verstrickung von Mafia und Politik in ihrem Land beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben: „Das schwarze Kartell“ heißt es. Unerschrocken hat sie darin aufgezeigt, wie die Korruption vor allem im staatlichen Ölkonzern funktioniert. Danach wurde sie von allen Seiten bedroht, von der Politik und von der Mafia, was in Mexiko mindestens teilweise ein und dasselbe ist.

„Plata o Plomo“ heißt es für die Journalisten in Mexiko, Silber oder Blei. Zu Deutsch: Entweder du lässt dich bestechen oder es fliegen die Kugeln. Ana Lilia ging zum Schluss nur noch mit schusssicherer Weste auf die Straße, mit dem Rücken stets zur Wand, um rechtzeitig sehen zu können, ob sie jemand in sein Blickfeld nahm, bis sie es nicht mehr aushielt und abhaute. Ein Jahr hat sie in Hamburg im „Writers-in-Exile“-Programm des PEN Unterkunft gefunden, eine Frau, deren Mut allen imponierte, die ihr begegneten. Dann entschied sie sich, zurückzukehren nach Mexiko. Was solle sie in Deutschland, sagte sie, sie werde in Mexiko gebraucht, dort sei ihr Engagement wichtig. Es war ein berührender Abschied bei der letzten Begegnung zwischen ihr und den deutschen Schriftstellern, denn niemand sprach aus, was doch alle dachten: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen.

„Sie sind gekommen, um dich zu holen“

Der Blogger Ahmed Nadir aus Bangladesch, den ich eine Zeitlang im Auftrage des PEN betreut habe, war dagegen froh, dass er in Deutschland bleiben durfte. Nadir ist Computerspezialist, er hatte eine kleine Firma in Bangladesch und war gerade auf der Cebit in Hannover, als ihn sein Vater anrief und dringend vor einer Rückkehr warnte. „Bleib, wo du bist, Junge, sie sind gekommen, um dich zu holen. Die einen wollen dich einsperren, die anderen umbringen.“

Bei der Suchaktion nach Nadir, um diesen Störenfried endlich zur Strecke zu bringen, haben die Fanatiker dem Vater ein Auge ausgeschlagen. Nadirs Schuld bestand darin, zu Demonstrationen für demokratische Rechte aufgerufen zu haben. Seit ich Nadir betreut habe, kenne ich das deutsche Asylverfahren aus eigener Anschauung. Ich kenne auch seitdem Asylbewerberheime und verschweige den Namen der abgelegenen Stadt, in der Nadir untergekommen ist und sich monatelang gelangweilt hat, denn sie hat sich bemüht, diese Stadt, sie konnte wohl nicht anders. Es war ein uraltes Bürogebäude mit nackten Betonwänden, Eisenbetten darin, immerhin auch mit einem Fernseher.

Die Idee, Nadir mit einem zweiten Asylbewerber aus Bangladesch auf ein Zimmer zu legen, liegt nahe, sie war aber völlig falsch. Nadir ist nämlich Atheist, der andere aber war ein frommer Moslem, der jeden Tag fünfmal in Richtung Mekka betete, und Nadir wusste, wenn der andere von seiner Einstellung erfährt, ist sein Leben in Gefahr, vor allem nachts, wenn er schläft und damit wehrlos ist. Der andere hat es natürlich doch gemerkt, er hat aber nicht Nadir angefallen, sondern das Mobiliar im Zimmer in seiner Panik und Hilflosigkeit kurz und klein geschlagen. Nach monatelangem Warten, nach mehrfachem Drängen des PEN und zweier Bundestagsabgeordneter kam es schließlich zur Verhandlung und Nadir wurde Asyl gewährt. Er hat seither im Rheinland Kontakte gefunden, aber all das ist nichts im Vergleich zum Verlust von Familie, Freunden und Heimat eben.

Inzwischen sind zwei andere Blogger, Freunde oder Bekannte von Nadir, in Bangladesh brutal mit Macheten ermordet worden, weil sie atheistisch dachten.

In diese Reihe passt das Schicksal des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, inzwischen Ehrenmitglied des deutschen PEN, der für seinen liberalen, antifundamentalistischen Blog zu tausend Stockschlägen verurteilt wurde, die in 20 Wochen, jeweils an einem Freitag, verabreicht werden sollen. Jeden Freitag fünfzig Schläge, eine Strafe, die mittelalterlich zu nennen ich mich scheue. Das Mittelalter hatte freiere Phasen. Der Aufschrei der Empörung in der Welt war groß, beeindruckte die dortige Regierung aber nicht. Nach Saudi-Arabien geht übrigens ein Großteil deutscher Rüstungsexporte, aber das ist dann wohl eine andere Sache, oder?

Diktatoren fürchten das freie Wort

Das freie Wort, wie wird es doch misshandelt in der Welt! Von allen Künstlern, so unsere Erfahrung, sind es zuerst die Schriftsteller, die verfolgt werden, weil ihr Arbeitsmaterial, das Wort nämlich, untrennbar mit Inhalten verbunden ist. Und Inhalte können, wenn sie die Realität schildern, störend sein, für manche Machthaber auch gefährlich.

Dazu fällt mir ein Bezug zur Bibel ein. Gott spricht im Schöpfungsbericht ein Wort nach dem anderen aus und eine ganze Welt entsteht. Auch durch Schriftsteller können, wenn wir Worte schreiben, Welten entstehen, Gedankenwelten nämlich, die aber nicht Gedanken bleiben müssen, sondern zu neuen Realitäten führen können. In Diktaturen sind das oft genug Gegenwelten, die die Unterdrücker um ihre Macht fürchten lassen und zur Verfolgung jener anstacheln, die doch nur von dem Gebrauch machen, was ihnen zusteht: von dem Menschenrecht auf freie Meinung. In Deutschland, das sei hinzufügt, wird das freie Wort nicht unterdrückt. Hier wird es abgehört.

Und frei macht das Wort auch nach der Bibel, zweiter Bezug zu unserem Glauben, denn die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel ist doch, wenn man es genau liest, keine Bestrafung, sondern sie befreit. Befreit von Hybris, von dem Wahnsinn, einen Turm hoch bis zum Himmel zu bauen. Durch Sprache wird der Mensch davon befreit und vielfältig soll sie auch sein, sagt die Bibel.

Wenn nun Schriftsteller so zahlreich verfolgt werden, ist es gut, dass sie eine Organisation haben, die ein Anwalt an ihrer Seite ist. Die ihnen direkt helfen kann, mindestens so, dass die Verfolgung öffentlich wird. Das ist schon einiges, denn wie alle Verbrecher scheuen auch Diktatoren das Licht der Öffentlichkeit. Hier liegt nun eine der wichtigen Aufgaben des PEN, ein Großteil unserer Arbeit beschäftigt sich damit.

Was bedeutet nun das Wort „PEN“? Es ist, wie leicht zu vermuten, eine Abkürzung aus dem Englischen und steht für Poet, Essayist und Novelist. Der Poet ist der Lyriker, der Essayist der Journalist oder Sachbuchautor, heute zunehmend auch der Blogger, der Novelist der Romanautor. Zusammen ergibt es das Wort PEN, das für Feder steht, obwohl wir alle nicht mehr mit der Gänsefeder schreiben wie unsere berühmten Vorgänger, sondern mit dem Computer.

140 PEN-Zentren in 101 Ländern

140 PEN-Zentren gibt es in 101 Ländern. Der deutsche PEN-Club, wie man das früher nannte, hat etwa 800 Mitglieder. Man kann in den PEN nicht eintreten, sondern man wird hineingewählt, was immer auch für den jeweiligen Autor eine Auszeichnung ist. Zwei Bürgen müssen bei der Jahrestagung einen schriftlichen Antrag einreichen, warum sie diesen oder jenen Autor (oder Autorin) als Mitglied vorschlagen, sie müssen diese Begründung vor den Tagungsteilnehmern vorlesen und dann kommt alles darauf an, ob dies Mehrheit der Teilnehmer überzeugt oder nicht.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Das ist ein wichtiger Unterschied zum Verband deutscher Schriftsteller (VS), der sich mehr um Tariffragen kümmert, um Musterverträge zwischen Verlag und Autor zum Beispiel. Beim Schriftstellerverband kann man selber beantragen, aufgenommen zu werden. In der Regel reicht es, wenn man ein Buch veröffentlicht hat. Die meisten PEN-Autoren sind, genau wie ich, auch Mitglied im Schriftstellerverband, beide Verbände arbeiten gut zusammen.

Es ist kein Zufall, dass der Name aus einer englischen Abkürzung besteht, denn gegründet wurde der PEN 1921 in England, und zwar auf typisch englische Weise, nämlich bei einem Dinner. Am 5. Oktober 1921 lud die Schriftstellerin Catherine Amy Dawson-Scott ihre Schriftstellerfreunde zu sich ein (darunter die späteren Literatur-Nobelpreisträger George Bernhard Shaw und John Galsworthy) und wollte den „To-Morrow-Club“ gründen, den Vorläufer des PEN.

Hintergrund war das schreckliche Erlebnis des Ersten Weltkriegs, Dawson-Scott wollte, dass sich solch ein Verein auch in anderen Ländern gründete, um auf diese Weise beizutragen zur Völkerverständigung, damit es nie wieder Krieg gibt. Warum sollten bei diesem großen Unternehmen nicht die Schriftsteller vorangehen, hat sie gedacht. Tatsächlich gab es beim ersten internationalen PEN-Kongress 1923 schon 11 PEN-Zentren in verschiedenen Ländern.

John Galsworthy als erster Präsident

Erster Präsident des nun internationalen PEN wurde John Galsworthy, auch ein Nobelpreisträger, der berühmt geworden ist für seine Romanreihe „Die Forsyte Saga“. Ich selbst habe in meiner Schulzeit die längere Erzählung „The man, who kept his form“ gelesen, frei übersetzt: Der Mann, der sich selbst treu blieb. Es ist die Geschichte eines Unangepassten, der seinen – freilich etwas konservativen – moralischen Grundsätzen folgt, selbst wenn er dafür Nachteile in Kauf nehmen muss. Sie hat mir gefallen, diese Geschichte und ist mir als ein Hinweis für das eigene Leben im Gedächtnis geblieben: Versuche auch du, deinen Grundsätzen treu zu bleiben! Insofern, denke ich, ist Galsworthy ein guter erster PEN-Präsident gewesen.

Trotz der schnellen Gründungen von Zentren in aller Welt ist der PEN am Anfang doch ein wenig dem Charakter eines Dinnertreffens oder einer Teestunde treu geblieben, denn nach dem Willen von Dawson-Scott sollte es keine politische Autorenvereinigung sein. Völkerverständigung, Freundschaften über die Grenzen hinaus, das ja, aber politisch sollte der PEN sich nicht äußern. Dies ist eine Einstellung zur Literatur, die einem immer wieder begegnet, bis heute. Wie kann man so etwas Schönes wie die Poesie mit der schnöden, hässlichen Politik vermengen? Ich höre das immer wieder, wenn ich einen zeitkritischen Roman veröffentlicht habe, denn ich bin in diesem Punkt ganz anderer Meinung.

Der PEN war in seiner Anfangszeit in diesem Punkt ja auch widersprüchlich. Was ist denn Völkerverständigung anderes als gelungene, geradezu wünschenswerte Politik? Auch ein Satz in der Charta, dem Grundgesetz des PEN, ist hochpolitisch: „Sie (die PEN-Mitglieder) verpflichten sich, für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken.“

Das soll unpolitisch sein? Hochpolitisch ist das, geradezu brisant angesichts der Zustände in unserer Welt.

Als Ernst Toller 1933 das Wort ergriff

Spätestens ab 1933 ließ sich die feine, etwas vornehme Zurückhaltung in Sachen Politik für den PEN nicht mehr durchhalten. Da hatten in Deutschland die Nazis die Macht übernommen und hatten alle ihre Kritiker – Sozialdemokraten, Kommunisten, kritische Christen und nicht zuletzt unbequeme Schriftsteller – ins KZ geworfen, gefoltert, manche auch getötet oder ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und sie so ins Exil gezwungen, u.a. den damaligen deutschen PEN-Präsidenten Alfred Kerr, der bekannteste Literaturkritiker seiner Zeit, der jüdischer Abstammung war.

1933 veranstalteten die Nazis einen Tiefpunkt an Kulturlosigkeit, die Bücherverbrennung. Auf dem Berliner Opernplatz ließen sie all jene Bücher verbrennen, die sie für undeutsch hielten. Es waren die Werke fast aller bekannten deutschen Autoren, so dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass das deutsche Geistesleben verbrannt werden sollte. Heute findet man an der Stelle, wo der Scheiterhaufen stand, ein ebenso einfaches wie überzeugendes Denkmal. Eine Glasplatte ist dort in den Boden eingelassen worden und wenn man hindurchschaut, sieht man unten einen völlig sterilen Raum mit weißen, leeren Bücherregalen.

Was bleibt also übrig, wenn die Kultur vernichtet ist? Leere bleibt übrig, Sterilität und geistige Ödnis. Es erfüllte sich in der Folgezeit, was der großartige Dichter Heinrich Heine knapp hundert Jahre vorher prognostiziert hatte: Wer Bücher verbrennt, der verbrennt auch Menschen. Weiß Gott, das haben sie getan, die Nazis. Millionenfach.

Die Bücher des sozialistischen Schriftstellers Oskar Maria Graf wurden nicht verbrannt, einige wurden von den Nazis sogar empfohlen. Graf floh aus diesem Nazi-Kerker und schrieb einen bewegenden Aufruf, in dem er sich über diese Behandlung durch die Nazis beklagte:

„Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen.“ Was für eine großartige Haltung eines Schriftstellers!

Und der PEN? Den hatten sich Nazi-Schriftsteller unter den Nagel gerissen. Ja, das gab es leider auch, Schriftsteller, die ihr Wirken in den Dienst einer Verbrecherideologie gestellt haben. Klar, wenn die Großen vertrieben werden, können sich die Mickerlinge aus dem vierten oder fünften Glied ins Licht drängen. Ich habe die Namen mal nachgeschlagen, die nach Hitlers Machtergreifung das Präsidium des PEN bildeten, sie sind, bis auf Hanns Johst, der Romane und Theaterstücke schrieb, völlig unbekannt. Unbedeutend sowieso.

Bei der Tagung des internationalen PEN in Dubrovnik im Mai 1933 tauchte diese Delegation dann auf und wollte nicht, dass über Politik geredet wurde, natürlich nicht, weil sie ja Angst haben musste, dann wegen der Verfolgung und Folterung von Schriftstellern am Pranger zu stehen. Das aber verhinderte der damalige PEN-Präsident H.G Wells („Krieg der Welten“), der Ernst Toller das Wort erteilte, einem bekannten deutschen Schriftsteller, dem die Nazis die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt hatten und der nun im Exil lebte.

Toller klagte in einer flammenden Rede nicht das deutsche Volk an, sondern diejenigen, die es in eine Diktatur gezwungen hatten und die nun alle Andersdenkenden verfolgten, folterten und töteten. Und dann nannte er all die Namen der Schriftsteller und Maler, die die Nazis eingesperrt oder getötet hatten. Er bekam viel Applaus für diese mutige Rede, der Nazivorstand des PEN verließ empört die Tagung und isolierte sich damit selbst.

Nach 1945 spaltete sich der deutsche PEN

Fortan gab es kein PEN-Zentrum mehr in Deutschland, aber einen Exil-PEN mit Sitz in London, in dem die meisten Schriftsteller von Rang und Namen Mitglied waren, denn sie alle mussten ja aus Nazideutschland fliehen. Einer gehörte aber nicht dazu, der bekannte Autor Erich Kästner („Emil und die Detektive“, „Das doppelte Lottchen“), der das Kunststück fertig brachte, die Nazizeit in Deutschland zu verbringen, in innerer Emigration, ohne sich den Nazis anzudienen. Er hatte sogar der Bücherverbrennung in Berlin als Zuschauer beigewohnt und erleben müssen, wie auch seine Bücher verbrannt wurden. Eine Frau hat ihn dabei sogar entdeckt und erschreckt gerufen: „Aber da ist ja der Kästner!“ Zum Glück hat es keiner von den Nazis gehört. Kästner wurde nach dem Krieg einer der prägenden PEN-Präsidenten.

Den Exil-PEN, dies nebenbei, gibt es bis heute, obwohl eigentlich keine Veranlassung mehr dafür besteht. Wir arbeiten gut mit ihm zusammen, aber warum er nicht zu uns übertritt, weiß ich nicht.

Nach dem Krieg machte der PEN die deutsche Spaltung mit. Trotz anfänglicher Bemühungen, sich nicht zu trennen, entstand ein DDR-PEN, genannt PEN Ost, und ein West-PEN. Intensive Kontakte zwischen beiden Verbänden gab es nicht. Also war Deutschland auch im Literaturbetrieb gespalten. Und wer nun glaubt, dass sich nach der Wende die beiden Verbände schnell und vor allem erfreut zusammengefunden haben, der täuscht sich gewaltig.

Die Vereinigung der beiden Länder verlief durch den „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik, denn das war es ja, vergleichsweise schnell: Die Schriftsteller aber wollten erst mal, wie das ihre Eigenschaft ist, diskutieren. Wie habt ihr euch in der Zeit der Trennung verhalten, welches Erbe bringt ihr ein in unseren Verband und vor allem: Ich will nicht neben einem Stasispitzel bei den Jahrestagungen unseres PEN sitzen! Und Stasispitzel, meinten viele Westler, waren die anderen doch meistens.

Doch Vorsicht! Fritz Rudolf Fries zum Beispiel, ein guter DDR-Autor, war IM bei der Stasi, aber warum? Hauptsächlich, weil ihn die Stasi in der Hand hatte. Seine Tochter war nämlich krank. Medizin, die ihr half, gab es nur im Westen. Die Stasi besorgte ihm die Medizin und half damit seiner Tochter, aber dafür wollte sie eben Informationen haben… Fritz Rudolf Fries hat übrigens hauptsächlich Allgemeinplätze ausgeplaudert, nichts, das anderen hätte Schaden zufügen können. Trotzdem, er hat unter dieser Last, als alles rauskam, schwer gelitten und ist aus allen Autorenverbänden, auch aus dem PEN, in dessen Präsidium Ost er mal gewählt worden war, ausgetreten.

„Wessi“ oder „Ossi“ – heute ist es egal

Es gab Kämpfe, die den PEN fast zerrissen hätten und es dauerte Jahre, bis der PEN unter der behutsamen Führung des damaligen PEN-Präsidenten Christoph Hein, ein „DDR-Autor“, der heute Ehrenpräsident ist, doch zusammengeführt wurde.

Heute spielen die alten Kämpfe keine Rolle mehr und nach der letzten Wahl ins Präsidium, die in Magdeburg, also einer Stadt im Osten stattfand, haben wir im Nachhinein erschreckt festgestellt, dass gar kein „Ossi“ mehr im Präsidium ist, bis sich der Kassierer, mein Freund Matthias Biskupek meldete und sagte: Ich bin doch ein Ossi. Und der Ehrenpräsident Christoph Hein ist es auch.

Eigentlich ist es nicht schlecht, dass der Gedanke Ost – West bei der Wahl überhaupt keine Rolle gespielt hatte, denn das ist ein Zeichen von Normalisierung. Und wenn bei der nächsten Wahl fünf „Ossis“ gewählt werden und uns das auch erst lange nach der Wahl auffällt, ist das ein ebenso gutes Zeichen.

Die Vereinigung war also ein schwieriger Prozess und es ist gut, dass sie geklappt hat, denn nun folgt der PEN wieder mit Macht seinen Zielen aus der Charta und er ist dabei im kulturellen und gesellschaftlichen Leben, wie ich das liebe und wie sich das für Schriftsteller meiner Meinung nach gehört, ein Störfaktor. Denn jene, die gegen die wichtigsten Ziele des PEN, nämlich den Kampf gegen Völker- und Rassenhass, verstoßen, die also Hass verbreiten und damit Kriege rechtfertigen, und die das freie Wort unterdrücken wollen, sollen uns als ihre Gegner verstehen. Als ihre erbitterten Gegner!

Was macht nun der deutsche PEN?

Viermal im Jahr kommt das Präsidium in verschiedenen Städten zusammen und plant die Aktionen. Einmal im Jahr treffen wir uns zu einer großen Jahrestagung, dann können alle kommen, die PEN-Mitglieder sind. In der Regel sind das 150 Schriftsteller, was bei diesen ausgeprägten Einzelgängern schon eine stattliche Anzahl ist.

Zuflucht in acht deutschen Wohnungen

Acht Wohnungen, in Berlin, Darmstadt, München und Hamburg hat der deutsche PEN zur Verfügung, um dort verfolgte Schriftsteller unterzubringen, das ist einmalig innerhalb des internationalen PEN. Wir entscheiden darüber, wen wir für ein oder zwei Jahre aufnehmen und wer hier bei uns wieder unbedroht wohnen und schreiben darf. Natürlich bekommen diese Autoren auch monatlich Geld zum Überleben.

Das Geld für Stipendien und Wohnung bekommt der PEN vor allem vom Ministerium für Kultur, also von der Bundesregierung, dazu gibt es die Städte, die Wohnungen zur Verfügung stellen. Es löst nicht das Problem der Verfolgung von Schriftstellern, aber es lindert sie wenigstens für ein paar von ihnen. Trotzdem, einfach ist das Leben auch für diese acht Autoren nicht bei uns. Sie kommen doch nach jahrelanger Verfolgung oder Haft traumatisiert zu uns, einige sind krank. Sie alle müssen erst mal Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden, noch dazu in einem fremden Land. Wie mache ich das mit dem Arztbesuch, wo muss ich Anträge für dieses oder jenes stellen? Einige müssen fast wortwörtlich an die Hand genommen und ins Leben geführt werden.

Dauernd veröffentlichen wir, in welchen Ländern wieder welche Schriftsteller eingesperrt werden oder mit dem Tode bedroht sind. Manchmal hilft es etwas, manchmal erst einmal nicht, dann aber plötzlich doch nach ein paar Jahren. Nach quälenden Jahren in schrecklichen Gefängnissen.

Wir sind aber auch hier im Lande aktiv. Die schrecklichen Todesfälle im Mittelmeer haben den deutschen PEN zu einem Aufruf veranlasst, der eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen verlangt. „Schutz in Europa“ heißt der Aufruf, den über tausend Schriftsteller unterzeichnet haben, und den wir in Berlin dem Staatssekretär im Innenministerium übergeben haben, der sich dadurch angegriffen fühlte und nicht besonders freundlich benahm. Wir haben ihn auch in Brüssel an den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz überreicht, der sehr froh über diese Initiative war und den PEN-Präsidenten, im Moment ist das Josef Haslinger, erfreut empfing. Schulz ist ein Freund der Bücher und damit der Schriftsteller. Er war früher Buchhändler.

Wo immer es Ansätze von Zensur, aber auch Einschnitte in Kulturprogramme gibt, erhebt der PEN seine Stimme. Das Wort muss frei bleiben und es darf auch nicht durch finanzielle Einschränkungen beschnitten werden.

Gegen die Gratismentalität

Im Moment haben wir viel mit Abwehrkämpfen zu tun und kämpfen zum Beispiel gegen die Gratismentalität im Internet, die vor allem durch eine Partei propagiert wird, die für dieses Programm den richtigen Namen trägt und die nun, dazu muss man kein Wahrsager sein, wieder verschwinden wird. Piraten heißt sie und was Piraten tun, wissen wir ja alle. Vielleicht haben sie auch hier ein paar Sympathisanten, denen ich eines zu bedenken geben möchte. Das Internet ist nichts anderes als eine technische Möglichkeit, die erst einmal leer ist. Gefüllt wird sie durch die Geistesleistung von Menschen, durch Musiker, Schriftsteller, Journalisten, die von ihrer Arbeit leben müssen. Deren Produkte kostenlos anzubieten, heißt, sie zu enteignen.

Das sollte man mal mit materiellen Werten tun wollen. Zehn Jahre nach Tod des Firmenchefs geht seine Firma in Gemeineigentum über, das wäre eine vergleichbare Forderung. Den Aufschrei möchte ich mal hören. Aber mit Geistesarbeitern glaubt man, es machen zu können. Nein, alles was in Online-Zeitungen, in kopierten Internetbüchern, an Musik erscheint, muss bezahlt werden, sonst können viele Journalisten, Schriftsteller oder Musiker nicht mehr arbeiten und wir würden geistig ausdünnen.

Kürzlich wollte jemand E-Books, nachdem er sie gelesen hatte, in einem Internet-Antiquariat verkaufen. E-Books veralten aber nicht in ihrem Material, sie bleiben, was sie schon beim Kauf sind. Ein Gericht hat diesen Versuch untersagt. Andernfalls könnten meine Verlage gar keine Bücher mehr produzieren. Es reicht ja, wenn sie ein E-Book herstellen, das dann, was ja auch geschieht, zig mal kopiert wird und dann auch noch im Antiquariat verkauft wird. Wie soll ein Verlag davon leben? Das geht nicht, also würde es ihn nicht mehr geben, also würde er meine Bücher nicht mehr drucken und auch nicht die meiner Autorenkollegen. Also könnten wir nichts mehr veröffentlichen. Eine geistig-literarische Verarmung wäre die Folge.

Wir kämpfen gegen TTIP, das große Handelsabkommen zwischen Europa und Nordamerika, dessen Vertragstext so geheim ist, das ihn nicht mal Politiker lesen dürfen. Wer hat in dieser Welt eigentlich das Sagen? Die gewählten Politiker oder die Großkapitalisten?

Buchpreisbindung beibehalten

Schriftsteller sind vor allem dagegen, weil dann die Buchpreisbindung aufgehoben würde. Anbieter wie Amazon würden Bücher zu Billigpreisen verkaufen, kaum jemand ginge noch in die Buchhandlungen, von denen wir in Deutschland noch etwa 5000 haben, eine gut geordnete Szene also, die dann zu wenig zum Überleben verdienen und folglich verschwinden würde. Und mit ihnen unsere Bücher, vor allem jene, die nicht in den Bestsellerlisten stehen, die aber informierte Buchhändler trotzdem auf Vorrat halten und empfehlen.

Über 500 Schriftsteller haben einen Protestaufruf unterschrieben und sich darin verbeten, dass die NSA in Deutschland alles und jeden abhört. Der PEN war maßgeblich daran beteiligt. 500 Schriftsteller, darunter alle bekannten, Juli Zeh hat diesen Aufruf im Bundeskanzleramt übergeben. Geschehen ist daraufhin…nichts. Die Bundeskanzlerin hat den Schriftstellern nicht einmal geantwortet.

Natürlich organisiert der PEN auch literarische Veranstaltungen, denn wir sind ja dem Wort ganz allgemein verpflichtet, nicht nur dem verfolgten, sondern auch der Schönheit der Sprache. Sich mit Literatur zu beschäftigen, mit wichtigen, auch unbequemen Inhalten, mit schön gebauten Sätzen, mit anregenden Sprachbildern und Metaphern, das ist doch etwas gerade in einer Zeit des Überschwalls von Wörtern und Sätzen, oft ohne oder mit wenig Inhalt. Auch darauf möchte der PEN hinweisen.

Lesungen und Diskussionen

Lesungen mit unseren Stipendiaten finden in Literaturhäusern statt, große Diskussionsveranstaltungen zu wichtigen literarischen Themen werden durchgeführt, bei der letzten Jahrestagung zum Beispiel zu der Frage, ob der Blasphemieparagraph aus dem Gesetzbuch gestrichen werden soll. Jener Paragraph also, der angebliche oder wirkliche Gotteslästerung unter Strafe stellt. Es ist eine Diskussion in der Folge des schrecklichen Attentats auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Bei der nächsten Jahrestagung in Dortmund wird eine Lesung „Der Klang der Sprache“ heißen. Drei Autoren sollen lesen, es soll einfach um die Schönheit von Sprache gehen.

Einmal im Jahr verleiht der PEN den Hermann-Kesten-Preis an eine Person oder Organisation, die sich gegen Menschenrechtsverletzungen engagiert. Zur Hälfte gibt der PEN das Preisgeld, zur anderen Hälfte das Land Hessen. In diesem Jahr werden diesen Preis Can Dündar und Erdem Gül bekommen, zwei mutige türkische Journalisten, die aufgedeckt haben, dass die türkische Armee Waffen an den IS liefert, an den IS, der damit die kurdische PKK bekämpfen kann. Die Kurden sind für Erdogan wohl der schlimmere Feind als der IS. Natürlich wurden die beiden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, Dündar konnte aber, bevor eine Revisionsverhandlung vor Gericht stattfand, ausreisen und befindet sich in Deutschland. Dafür hat die Türkei seiner Frau den Pass entzogen und die Ausreise verweigert. Sippenhaft, um ein Faustpfand gegen Dündar in der Hand zu haben!

Es sind also viele Initiativen, die der PEN rund um das geschriebene, das literarische Wort ergreift, denn ja, wir müssen uns wehren. Dauernd gilt es, Gefahren abzuwehren, denn was macht die Welt für die Herrschenden bequemer als das freie Wort mundtot zu machen?

Nachts um 1 Uhr im Ratskeller

Aber all dies macht immer noch nicht den PEN aus, denn es gibt noch ein kleines, schönes Nebenergebnis. Wir sind doch alle, ich sagte es schon, Einzelgänger, die ihre Zeit allein für sich im Zimmer vor dem Computer verbringen, um den neuen Roman, den nächsten Gedichtband fertig zu stellen. Aber wir haben auch gerne Kontakt zu Menschen, weil wir gerne lachen, gerne Anekdoten erzählen. Wir suchen den Meinungsaustausch, der auch ein paar Tipps und Ideen für Projekte mit sich bringt. Und dazu taugen unsere Jahrestreffs.

Die Sitzungen, die heftigen Diskussionen im Plenum, die Veranstaltungen an den Abenden, das alles ist nur der eine Teil. Der andere besteht darin, dass wir uns zu kleinen, oft zufälligen Gruppen zusammenfinden, dass wir ein Bier miteinander trinken, über Gott und die Welt reden, uns dabei kennenlernen und – das nächste Nebenprodukt – so manches Projekt aushecken. Ja, das haben wir auch nötig.

Bei der letzten Jahrestagung in Magdeburg, als wir uns in einer großen Runde im Ratskeller zusammengefunden hatten, fragte ich den Wirt: Warum machen Sie denn plötzlich überall das Licht aus? Er antwortete: Wir schließen immer um ein Uhr nachts.

Da haben wir alle auf die Uhr geschaut und tatsächlich, es war Viertel nach eins. Wir hatten uns wunderbar festgequatscht und jeder von uns hatte einen oder zwei Kollegen neu kennengelernt. Irgendwo, bei einer Gelegenheit, an die wir jetzt noch nicht denken, wird das eine Rolle spielen.

Auch deshalb bin ich gerne im PEN. Wir sind Störenfriede, wir sind unbequem, wir sind politisch, wir lieben schöne Literatur. Das ist gut so. Aber daneben lerne ich immer auch ein paar Schriftsteller kennen, deren Bücher ich mag und mit denen ich nach einer langen Nacht plötzlich befreundet bin. Das ist nicht nur einfach gut so, das ist bestens.




Couragierter Einsatz für die Pressefreiheit: Kesten-Preis an türkische Journalisten

Gastautor Heinrich Peuckmann über die Verleihung des Hermann-Kesten-Preises in politisch brisanten Zeiten:

Als das Präsidium des deutschen PEN im Frühjahr dieses Jahres beschloss, den Hermann-Kesten-Preis an die türkischen Journalisten Can Dündar und Erdem Gül zu verleihen, war die Situation für die beiden schon kritisch. Als es nun zur Verleihung kam, hatte sie nach dem niedergeschlagenen Putsch dramatische Züge angenommen.

Can Dündar, ehemals Chefredakteur der unabhängigen Zeitung „Cumhuriyet“, hatte nach Gefängnisaufenthalt und ersten Verurteilungen wegen Beleidigung von Erdogan das Land verlassen müssen und lebt seitdem im Exil in Deutschland. Erdem Gül dagegen lebt noch in der Türkei, er darf aber nicht ausreisen. Bei einem der Prozesse im Sommer gegen Dündar gab es einen Attentatsversuch auf ihn, seine Frau fiel dem Pistolenschützen jedoch im letzten Moment in den Arm und rettete ihrem Mann das Leben.

Der türkische Journalist Can Dündar bei seiner Darmstädter Dankrede zum Hermann-Kesten-Preis. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Der türkische Journalist Can Dündar bei seiner Darmstädter Dankrede zum Hermann-Kesten-Preis. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Mit dem Kesten-Preis belohnt der PEN, der seine nächste Jahrestagung im Mai 2017 in Dortmund abhalten wird, den Einsatz für Meinungs- und Pressefreiheit in der Welt. Hermann Kesten, Schriftsteller und Namensgeber, hat während der Nazidiktatur vielen verfolgen Autoren zur Flucht ins rettende Ausland geholfen, in das er selbst als Deutscher jüdischen Glaubens fliehen musste.

Was hatten die beiden Journalisten getan, außer dass ihre Zeitung, was für die gegenwärtige Regierung schon schlimm genug ist, immer schon kritisch über Politik und Gesellschaft in der Türkei berichtet hat? Sie hatten Belege dafür vorgelegt, dass die türkische Armee den terroristischen IS mit Waffen beliefert hat, in der Hoffnung offensichtlich, dass der IS damit die kurdische PKK bekämpft.

Das Kammertheater in Darmstadt war bis auf den letzten Platz gefüllt, was PEN-Präsident Josef Haslinger, der den Preis überreichte, sichtlich freute. Die Aufmerksamkeit bei der Preisverleihung war enorm, die deutsche Presse war breit vertreten, auch in den Tagesthemen wurde berichtet.

Can Dündar erwies sich in seiner Rede als freundlicher, vor allem engagierter Vertreter der Pressefreiheit. Er erzählte, dass er sogar im Gefängnis weiter Artikel geschrieben hätte, die dann irgendwie an seine Freunde nach draußen gelangten. Auch in Deutschland ist Dündar unentwegt aktiv, um journalistisch auf die prekäre Situation in seinem Land aufmerksam zu machen. 144 Journalisten und Schriftsteller sitzen dort gegenwärtig im Gefängnis, erklärte der Writers-in-Prison-Beauftragte des PEN, Sascha Feuchert, später in einer Diskussionsrunde. Das sind mehr als in Russland, China und Iran zusammen. Länder, die sonst immer im Fokus stehen.

Dündar sieht die Türkei gespalten. Etwa 50% der Bevölkerung, meint er, vertreten den islamischen Weg von Erdogan, die andere Hälfte sei laizistisch im Sinne der alten Atatürk-Verfassung. Es komme nun darauf an, diesen zweiten Teil von außen zu unterstützen, Kontakte – etwa Städtepartnerschaften – zu erhalten, sie auszubauen und neue zu knüpfen. Bestehende Kontakte abzubrechen sei ganz in Erdogans Sinne. Im politischen Handeln sprach er davon, den Waffenhandel mit der Türkei einzuschränken oder zu beenden und auch sonst bestimmt und mit klarem Ton gegen Erdogan aufzutreten. Der wiederum hätte durch das Flüchtlingsabkommen die EU so sehr in der Hand, dass sie bis jetzt äußerst zahm auftrete. Bestimmtheit sei aber gefordert.

Ex-Tagesthemensprecher Thomas Roth stellte in seiner beeindruckenden Laudatio dar, dass mit der Verteidigung der Pressefreiheit in der Türkei unser aller Freiheit verteidigt werde. Dies zu tun seien wir uns schuldig.




Der Literaturpreis Ruhr verdient eine Aufwertung – und kein Sparprogramm

Gastautor Werner Streletz, Bochumer Schriftsteller und 2008 selbst Träger des Literaturpreises Ruhr, mit kritischen Anmerkungen zur Zukunft der Auszeichnung:

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Der Literaturpreis Ruhr soll vielleicht nur noch alle zwei Jahre verliehen werden. Das wäre ein herber Einschnitt.

Die einzige nennenswerte Auszeichnung, die das literarische Image des Reviers ein wenig polieren kann, darf nicht in den Schatten des halbwegs Vergessenen versinken. Eine solche Gefahr bestünde, würde der Jahresrhythmus aufgegeben.

Auch angesichts der schnelllebigen Medienwelt ist der bisherige Verleihungstakt anzuraten. Es wäre zudem blamabel, würde sich die Vermutung verbreiten, im Ruhrgebiet (mit immerhin fünf Millionen Einwohnern) seien nicht alle zwölf Monate preiswürdige KandidatInnen zu finden. Oder AutorInnen, die zwar nicht in der Region leben, aber über das Ruhrgebiet schreiben. Das sind die beiden Auswahlkriterien.

Merke: Auch wenn bedeutsame Namen wie der unlängst verstorbene Wolfgang Welt fehlen, die Liste der Ausgezeichneten zählt doch die allermeisten bemerkenswerten SchriftstellerInnen auf, die im Ruhrgebiet wohnen oder über diese Region Literarisches verfasst haben.

Also weiter wie gehabt? Das nicht unbedingt. Anzuraten wäre ein Begleitprogramm zum Preis, das den jeweils Ausgezeichneten (auf einer Lesetour zum Beispiel) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht. Ein flankierender publizistischer Schub, u.a. von den Ausrichtern der Auszeichnung animiert, könnte dazu beitragen, Preis, Preisträger und die Literaturszene der Region stärker ins Gespräch zu bringen. Man muss es halt nur wollen …

Ich habe mich nach der Preisverleihung (2008) jedenfalls ziemlich alleingelassen gefühlt. Ein rauschendes Fest – danach Stille. Also war Eigeninitiative angesagt. Aber dazu muss ja nicht jeder Preisträger verpflichtet sein…




Er wird fehlen – „Aki“ Schmidt, BVB-Legende

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann zum Tod des legendären BVB-Spielers Alfred „Aki“ Schmidt:

Der frühere VBV-Spieler Alfred "Aki" Schmidt im Juli 2008. (Foto: © Arne Müseler - www.arne-mueseler.de / Link zur Wikipedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Der frühere VBV-Spieler Alfred „Aki“ Schmidt im Juli 2008. (Foto: © Arne Müseler – www.arne-mueseler.de / Link zur Wikipedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Alfred Schmidts erfolgreiche Fußballkarriere begann mit einer Enttäuschung. 1956 war er vom Dortmunder Vorortverein SpVgg Berghofen zur großen Borussia gewechselt, die gerade eine schwache Saison in der Oberliga West hinter sich hatte und deshalb neue Spieler suchte und auch den Trainer wechselte. Mit Trainer Helmut Schneider ging es wieder aufwärts und 1956 wurde Borussia zum ersten Mal Deutscher Meister.

„Aki“, wie ihn alle nannten, konnte diesen Erfolg jedoch nur von der Tribüne aus beobachten, denn er musste erst einmal die damals übliche Wechselsperre von einem Jahr absitzen. Danach aber wurde er zur erhofften Verstärkung für den BVB und schaffte es sogar, in vielen Spielen den erfolgreichen Torschützen Alfred „Nipo“ Niepieklo zu ersetzen.

Wieder qualifizierte sich Dortmund für das Endspiel, Alfred bestritt während dieser Saison seine ersten drei Länderspiele und schoss bei seinem ersten Einsatz gegen die Niederlande gleich den Siegtreffer zum 2:1. Bei diesem Länderspiel war übrigens auch Akis späterer Mannschaftskollege Hans Tilkowski erstmals dabei, ein weiterer Westfale.

Vom Trainer enttäuscht

Dann aber folgte für Aki die größte Enttäuschung seiner Karriere. Schneider hatte sich nämlich entschieden, 1957 mit derselben Mannschaft wie im Vorjahr im Endspiel anzutreten. Beim 4:1-Sieg gegen den Hamburger SV saß Aki Schmidt auf der Ersatzbank, Alfred Niepieklo schoss zwei der vier Tore. Zwei Endspiele mit derselben Mannschaft zu gewinnen ist ein einmaliger Vorgang in der deutschen Fußballgeschichte. Außer Borussia hat das keine andere Mannschaft geschafft.

Schon am Vortag hatte Aki Schmidt gehört, dass Trainer Schneider das Endspiel ohne ihn plane, enttäuscht wollte er nach Hause reisen, aber die Mitspieler drängten ihn zum Bleiben. Erst kurz vor dem Spiel kam Schneider in Akis Zimmer und teilte ihm seine Entscheidung mit. Schneider hätte dabei Tränen in den Augen gehabt, sagt Aki, aber ob die wirklich echt waren, dazu will er sich nicht äußern. Er vermutete jedenfalls einen anderen Hintergrund. Hätte er gespielt, wären entweder Niepieklo oder Kelbassa draußen geblieben. Die beiden aber waren eng verwandt, ihre Kinder hatten geheiratet und so, meinte Aki, haben sie Schneider erklärt, dass sie entweder beide spielen oder gar keiner. Eine Vermutung, beweisen lässt sie sich nicht.

Die Tipps von Sepp Herberger

An der positiven Einstellung des damaligen Bundestrainers Sepp Herbergers zu Schmidt änderte sich dadurch aber nichts. Er mochte den vielseitig einsetzbaren blonden Halbstürmer aus Dortmund, zum einen, weil er sowohl offensiv als auch defensiv spielen konnte, zum anderen, weil Aki gerne den Ball direkt abspielte und damit für Tempo in den Angriffen sorgte. Heute ist das eine Selbstverständlichkeit, damals war es eher die Ausnahme.

"Aki" Schmidt (links) und unser Gastautor Heinrich Peuckmann. (Foto: privat)

„Aki“ Schmidt (links) und unser Gastautor Heinrich Peuckmann. (Foto: privat)

Herberger gab Tipps, wie Schmidt lernen sollte, noch schneller abzuspielen. Beim Spaziergang durch die Stadt, gab Herberger vor, sollte Aki üben, mit einem Blick die Situation zu erfassen. Wo stehen die Leute, wo steht jemand allein. So könne er lernen, eine Situation schnell zu erfassen, was ihm dann im Spiel zugute kommen würde. Herberger, meint Aki Schmidt, sei schon damals seiner Zeit weit voraus gewesen.

Freundschaft migt Helmut Rahn

Bei der Weltmeisterschaft 1958 in Schweden war Aki Schmidt dabei und bestritt das erste Spiel gegen Argentinien, das 3:1 gewonnen wurde. Dabei verletzte er sich allerdings und verpasste so die beiden folgenden Vorrundenspiele, die jeweils 2:2 endeten, aber beim zweiten Sieg der deutschen Mannschaft im Viertelfinale gegen Jugoslawien konnte er wieder mitwirken. Mit Leuten wie Fritz Walter, Hans Schäfer und Helmut Rahn, allesamt Weltmeister von 1954, hat er damals zusammen gespielt, worauf er noch heute stolz ist. Mit Helmut Rahn verband ihn eine besondere Freundschaft. Rahn wünschte nämlich immer, das Zimmer bei der Nationalmannschaft mit Aki zu teilen. Die beiden kamen aus dem Ruhrgebiet, sie waren gradlinig im Reden und verstanden sich somit glänzend.

Insgesamt 20 Länderspiele hat Aki in diesen Jahren bestritten, erreichte mit Borussia auch das Endspiel um die Meisterschaft 1961, verlor aber gegen den 1. FC Nürnberg mit 0:3.

Bayern München verschmäht

Dann gab es einen Bruch beim BVB. Erfolgreiche Spieler hörten auf, es folgten keine gestandenen Spieler nach, sondern Talente aus den unteren Spielklassen, die erst einmal Zeit brauchten, um sich an den Spitzenfußball zu gewöhnen. Eigentlich hatte Aki ebenfalls geplant, den Verein zu verlassen. Ein glänzendes Angebot von Bayern München lag ihm vor, damals noch nicht der Spitzenverein von heute, aber Bayern wollte vorankommen und um Aki Schmidt herum eine Mannschaft aufbauen, die erfolgreich war. Borussias Vorstand bekam Wind von dieser Sache, lud Aki zum Gespräch und unterbreitete ihm ebenfalls ein gutes Angebot. Es war nicht so gut wie das der Bayern, aber akzeptabel. Aki entschied sich für Borussia, die Liebe zu seiner Heimatstadt Dortmund spielte dabei eine Rolle.

Der „Einbruch“ bei Borussia bewirkte, dass Aki nicht mehr im Blickwinkel von Herberger stand. Eine mehrjährige Länderspielpause trat ein, wodurch Aki auch die Teilnahme an der WM 1962 in Chile verpasste. Dann aber, 1963, fand Borussia, dank Trainer Hermann Eppenhoff, zu alter Stärke zurück, drang bis ins Endspiel vor, dem letzten vor der Gründung der Bundesliga. Aki konnte endlich seinen ersten großen Titel gewinnen. Mit 3:1 wurde der 1.FC Köln geschlagen. Nach einem Endspiel auf der Tribüne und einem verlorenen vier Jahre später gegen Nürnberg wurde Aki mit sechs Jahren Verzögerung endlich Deutscher Meister.

Schwierige Rechenaufgabe

Dabei hätte es durch einen dummen Zufall beinahe gar nicht geklappt. Borussia hatte damals ein großartiges Sturmduo, Jürgen „Charly“ Schütz und Friedhelm „Timo“ Konietzka hießen die beiden, die prächtig miteinander harmonierten und Tore am Fließband schossen. Kein Wunder, dass beide den Sprung ins Nationalteam schafften. „Max und Moritz“ nannten die Fans die beiden liebvoll wegen ihres blinden Zusammenspiels auf dem Platz. Diese Harmonie bestand jedoch nur während des Spiels, richtig gute Freunde außerhalb des Stadions waren sie nicht, verriet Aki.

Der erste Fehler in der Vorbereitung zum Endspiel unterlief der Mannschaftsleitung. Man hatte nämlich ein Bett zu wenig im Hotel in Stuttgart gebucht. Aki entschied, dass er mit Außerläufer „Jockel“ Bracht und mit Charly ein Zweibettzimmer teilen sollte. Dann musste eben einer auf der Besucherritze schlafen.

Zum Schlafen aber kamen die drei nicht, denn Charly Schütz hatte ein großes Problem. Er hatte nämlich einen Vertrag beim AS Rom unterschrieben und wurde am Tag nach dem Endspiel in der italienischen Hauptstadt erwartet. War der Vertrag gut, den er unterschrieben hatte? Vor allem, war er lukrativ? Diese Fragen bewegten Charly Schütz während der Nacht und so begann er, Lire in D-Mark umzurechnen, was ihm aber schwer fiel. Charly rechnete laut, sprang aus dem Bett, schrieb mit Bleistift irgendwelche Zahlen auf die Tapete und strich ein paar Nullen weg. „Aki“, rief er dann, „die haben mich betrogen! Ich kriege viel zu wenig Geld.“ Und dann begann er noch mal zu rechnen, Lire in D-Mark und zurück, gar nicht so einfach. Ein großes mathematisches Problem!

Keine Chance bei Helmut Schön

Erst am frühen Morgen hätten sie ein wenig schlafen können, erzählt Aki. Charly Schütz hat denn auch schlecht gespielt, wahrscheinlich hat er noch während des Spiels gerechnet, immerhin reichte es aber, um Aki die Vorlage zum 3:0 zu geben. „Das habe ich für dich getan“, hat er erzählt, „weil du mir immer geholfen hast.“ Das war nicht falsch, Aki hat den Mannschaftskollegen gerne geholfen, nur einmal, beim Umrechnen der Währung, hat es nicht geklappt.

Die folgenden Jahre wurden für Aki Schmidt dann sehr erfolgreich. Noch fünfmal spielte er in der Nationalmannschaft, so dass er auf insgesamt 25 Länderspiele kam, wobei er jetzt der Mannschaftskapitän war. Der erste und bisher einzige, den Borussia Dortmund in der lange Geschichte der Nationalmannschaft gestellt hat. 1964, beim 4:1-Sieg gegen Finnland, stand er zum letzten Mal im Nationalteam. Es war ein denkwürdiges Länderspiel, denn es war gleichzeitig das letzte von Sepp Herberger. Und weil Aki in diesem Spiel Mannschaftskapitän war, hielt er die Abschiedsrede und sagte darin den denkwürdigen Satz: „Einen Bundestrainer wie Sie wird es nie wieder geben.“ Nachfolger Helmut Schön saß dabei und hörte zu. Niemals hat er Aki zu einem Länderspiel eingeladen…

5:0-Heimsieg gegen Benfica

Im Europapokal der Landesmeister war Borussia sehr erfolgreich. Im Viertelfinale schaltete Borussia den Titelverteidiger Benfica Lissabon aus. Im Hinspiel in Portugal unterlag man noch mit 1:2, wobei Hannes Tilkowski im Tor sein wohl bestes Spiel für den BVB ablieferte und eine weitaus höhere Niederlage verhinderte, weil er nahezu alles hielt. Im Rückspiel aber wurde Benfica mit sage und schreibe 5:0 abgefertigt. Es war wohl das beste Spiel im alten Stadion „Rote Erde“, das der BVB je abgeliefert hat.

Im Halbfinale gegen Inter Mailand traf Aki dann auf Horst Szymaniak, seinen Freund aus der Nationalmannschaft, der damals in Italien spielte. Beim Hinspiel in Dortmund, das 2:2 ausging, seien sich die beiden aus dem Weg gegangen, hat Szymaniak später erzählt. „So konnten wir beide glänzen.“

Das Rückspiel wurde dann mit 0:2 verloren, wobei Inter-Star Suarez den Dortmunder Mittelfeldspieler „Hoppy“ Kurrat brutal in den Unterleib trat, so dass Hoppy nicht weiterspielen konnte. Es war ein Foul, das man nur als Körperverletzung werten kann und das strafrechtlich hätte verfolgt werden müssen, aber Suarez bekam nicht einmal die rote Karte.

Libudas unvergessene „Bogenlampe“

Der Europapokal wurde für Aki und die Dortmunder aber trotzdem noch zu einer Erfolgsgeschichte. 1965 schlug der BVB Alemannia Aachen beim Pokalendspiel in Hannover mit 2:0, wobei Aki schon nach zehn Minuten das erste Tor schoss. Der unvergessene „Emma“ Emmerich sorgte acht Minuten später für den Endstand. Damit war Borussia für den Europapokal der Pokalsieger qualifiziert und gewann ihn in einem denkwürdigen Endspiel gegen Liverpool in Glasgow mit 2:1. Unvergessen ist „Stan“ Libudas Bogenlampe, die in der Verlängerung die Entscheidung brachte.

Borussia Dortmund war damit die erste deutsche Mannschaft, die einen Europapokal gewann, nicht etwa Bayern München. Und hätte die Vereinsführung auf Trainer „Fischken“ Multhaup gehört, wäre der BVB auch noch Deutscher Meister geworden. Aber die Vereinsführung wollte den Fans die Siegesfeier nicht vorenthalten, verzichtete auf eine sinnvolle Vorbereitung auf die noch ausstehenden Bundesligaspiele und ließ die Mannschaft feiern. „Wir sind kaum ins Bett gekommen“, sagt Aki Schmidt im Rückblick. So gingen die beiden letzten Spiele verloren und 1860 München wurde Deutscher Meister, nicht der BVB.

Danach begann in Dortmund der Niedergang, der bis zum Abstieg führte. Aki Schmidt beendete 1967 seine Karriere und wurde zuerst Trainer in Regensburg, woher seine Frau stammte und danach in Offenbach, das damals in der Bundesliga spielte. Im Pokal warf er 1970 ausgerechnet seinen alten Verein BVB aus dem Rennen, schaffte überraschend den Einzug ins Finale und gewann den Pokal fast sensationell gegen den 1. FC Köln, in dessen Reihen viele Nationalspieler mitwirkten.

Repräsentant des Vereins

Später kehrte Aki nach Dortmund zurück und wurde allseits beliebter Fan-Beauftragter, zuerst allein, später zusammen mit seinem alten Kumpel „Emma“ Emmerich. Ein tolles Duo sind die beiden gewesen, die bei den Stadionführungen witzig miteinander umgingen. Unglaublich oft hat Aki damals hören müssen, wie Emma von Besuchern nach seinem Sensationstor gegen Spanien bei der WM in England befragt wurde. Fast von der Torlinie aus knallte Emma den Ball ins Netz. Aki wusste, dass Emma solche Torschüsse drauf hatte, oft genug hat er selbst darunter gelitten, wenn er bei einem Angriff über Emmerich mitlief, der aber, anstatt abzugeben, aus den unmöglichsten Winkeln draufschoss. So manches Mal hat er ihn deshalb angemeckert, denn eine Vorlage hätte eher zum Tor geführt als Emmas Torschüsse aus spitzem Winkel.

Nach Emmas Tod und inzwischen fast 80 Jahre alt wurde Aki Schmidt zum Repräsentanten des BVB ernannt. Wenn er Lust dazu hatte, machte er noch Stadionführungen. Die waren beliebt und immer witzig. Außerdem fuhr er vor den Auswärtsspielen des BVB zu den jeweiligen Gegnern und machte dort Pressekonferenzen zur Vorbereitung auf das Spiel mit. Das bescherte ihm manche Begegnung mit alten Nationalspielern und gab ihm die Gelegenheit, Anekdoten zu erzählen, von denen er immer welche auf Lager hatte. Sie werden uns nun fehlen. Am vergangenen Freitag, 11. November, ist Aki im Alter von 81 Jahren gestorben.




Als man in Unna um die Kirchenkanzel kämpfte: Philipp Nicolai – Dichter, Pfarrer, Lutheraner

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den streitbaren Theologen und Dichter Philipp Nicolai (1556-1608), der zur frühen Literaturgeschichte Westfalens gehört:

Die Unnaer Stadtkirche kenne ich aus meiner Schulzeit. Am dortigen Ernst-Barlach-Gymnasium (damals Aufbaugymnasium) habe ich Abitur gemacht. Jeden Mittwoch morgen fand in der Stadtkirche ein Schülergottesdienst statt.

Natürlich sind wir, als wir älter wurden, oft nicht hingegangen, haben uns am Bahnhof getroffen, Cola getrunken und geredet, aber kurz vor Schluss des Gottesdienstes haben wir uns doch in die Stadtkirche geschlichen, haben oben auf der Empore gesessen und das Schlusslied laut mit geschmettert, so dass sich unsere Lehrer, die natürlich vorne, in der Nähe des Altars saßen, zufrieden umblickten. Ja, es war schön für sie, fromme Schüler zu haben.

Vertont von Bach und Händel

Dass es in dieser Kirche mal eine folgenschwere Schlägerei zwischen zwei Pfarrern gegeben hatte, die noch dazu literarische Folgen hatte, habe ich damals nicht gewusst. Wer weiß, vielleicht hätte ich die Gottesdienste sonst aufmerksamer verfolgt.

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain - Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) Porträt-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain – Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum). Digitaler Portrait-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Es gibt zwei Kirchenlieder, die nahezu jeder kennt. „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ lautet das eine und das andere beginnt: „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“ Gedichtet wurden sie um 1598 von dem damaligen Pfarrer der Unnaer Stadtkirche, Philipp Nicolai.

Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach hat diesen beiden Texten Kantaten gewidmet, und Georg Friedrich Händel hat ein Motiv des so genannten „Wächterliedes“ in den Halleluja-Chor seines „Messias“ übernommen. Größere Anerkennung konnten die Lieder wohl kaum finden – und das, obwohl man sie eher als Gelegenheitsschriften ihres Verfassers ansehen könnte. Er hat sie nämlich 1599 erstmals im Anhang seines Buches „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ veröffentlicht, und durch sie ist er zu Lebzeiten auch nicht bekannt geworden.

Zu einem der berühmtesten Pfarrer seiner Zeit haben ihn vielmehr religiöse Streitschriften gemacht, in denen der glühende Lutheraner vehement den Calvinismus bekämpfte. Heute sind diese Streitschriften nur noch von religionsgeschichtlichem Interesse. Umso einziger ragen aus seinem umfangreichen literarischen Werk die beiden Kirchenlieder heraus.

Eltern stammten aus Hagen und Herdecke

Was hat diesen streitbaren und umstrittenen Theologen nach Unna geführt? Da ist einmal seine westfälische Herkunft zu nennen. Geboren wurde er zwar am 10. August 1556 in Mengeringhausen in der Grafschaft Waldeck, aber beide Eltern stammten aus Westfalen: Vater Dietrich Rafflenboel aus Hagen und Mutter Katharina Meyhan aus Herdecke.

Die Rafflenboels waren eigentlich Bauern, aber Dietrich brach mit der Tradition, begann ein Theologiestudium und wurde zuerst, wie später auch sein berühmter Sohn Philipp, Pfarrer in Herdecke. Einer damaligen Mode folgend übertrug er den Vornamen seines Vaters Klaus ins Lateinische und nannte sich mit Nachnamen Nicolai.

1552 musste er wegen der Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten aus Herdecke fortziehen – sein Sohn sollte ihm drei Jahrzehnte später auch darin folgen – und übernahm eine Pfarrstelle in Mengeringhausen, das einige Kilometer entfernt von Kassel liegt, wo Philipp als eines von acht Kindern geboren wurde. Philipp Nicolai hatte also eine enge Beziehung zu Westfalen, als er 1596 ein Angebot aus Unna erhielt.

Wichtiger für dieses Angebot aber war seine strenge lutherische und anticalvinistische Grundhaltung. In einem Streitgespräch 1590 hatte er zwar noch Mohammed und den Papst als schlimmste Helfershelfer des Teufels ausgemacht und das als strenger Lutheraner womöglich sogar von der Bibel her begründet. Später aber hat er in hitzig-polemischen Schriften nur noch den Reformator Calvin und seine Anhänger bekämpft.

Gegen den Calvinismus

Hitzige Kämpfe zwischen Lutheranern und Calvinisten gab es kurz vor seiner Berufung auch in Unna. Einige Kaufleute und ein Teil des Rates um die Altbürgermeister Winold von Büren, Ernst Brabender und Hinrich zum Broch wünschten 1592 eine enge Anlehnung an die Niederlande, die damals – nach der Vernichtung der spanischen Armada – den Welthandel kontrollierten und wirtschaftlich in Blüte standen. Man wollte deshalb die Stelle des Vizepastors mit dem Rotterdamer Pfarrer Hermann Grevinckhoff besetzen, der jedoch, durchaus passend für das aufstrebende Bürgertum, ein Calvinist war.

Vordergründig ging es im Streit zwischen Calvinisten und Lutheranern um die Abendmahlsfrage. Luther, in dieser Frage durchaus in katholischer Tradition, wollte der Abendsmahlsfeier weiter Heilscharakter zubilligen. Er vertrat zwar nicht mehr die so genannte Transsubstantiationslehre, nach der sich Wein und Brot direkt in Blut und Leib Christi verwandeln, lehrte jedoch, dass sich Wein und Brot bei der Abendmahlsfeier durch die Einsetzungsworte auf geheimnisvolle Weise damit verbinden. Für Calvin (und auch für Zwingli) war sie dagegen eine reine Symbolhandlung.

Wichtiger für das aufstrebende Bürgertum war allerdings Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Ob ein Mensch reich oder arm war, ob er der Seligkeit teilhaftig würde oder nicht, das alles hatte Gott vorherbestimmt. Deshalb brauchten reiche Kaufleute wegen der Armut der anderen Menschen auch kein schlechtes Gewissen zu haben, während sie selbst in ihrem Reichtum eine Bestätigung für Gottes Auserwähltheit sehen konnten. Sozialpolitisch war damit die Nächstenliebe ausgehebelt, ein glänzendes Ruhekissen für die Besitzenden.

Wüste Rauferei im Gotteshaus

Die Abt von Deutz lehnte jedoch Grevinckhoffs Berufung wegen dessen calvinistischer Einstellung ab und berief statt dessen den jungen Lutheraner Joachim Kersting. Der aber wollte zuerst seine theologischen Studien in Jena fortsetzen und schickte als Vertreter den lutherischen Kaplan Uphoff, eine Schwäche, die die calvinistische Fraktion sofort ausnutzte. Sie berief den aus Essen stammenden Magister Berger, der sofort, in strenger calvinistischer Tradition, die Bilder aus der Stadtkirche entfernen ließ. Kersting, alarmiert, eilte von Jena nach Unna und dort soll es in der Stadtkirche zu einem tollen Zweikampf gekommen sein.

Altbürgermeister Brabender gab Berger vor einem Gottesdienst die Anweisung, Kersting auf jeden Fall von der Kanzel fern zu halten und befahl dem Küster, die Kirchentüren zu schließen. Während draußen die herbeigerufenen Lutheraner gegen die verschlossenen Kirchentüren trommelten, kämpfte Kersting drinnen einen heroischen Kampf. Es war ihm gelungen, sich am Aufgang zur Kanzel festzuklammern, und so sehr Berger auch zerrte, riss und schimpfte, Kersting ließ nicht los. Der Mantel wurde ihm dabei zerrissen, aber was ist schon Kleidung im Kampf um den richtigen Glauben?

Kersting jedenfalls verteidigte die Kanzel, die auch sein Gegner nicht besteigen konnte, bis die Lutheraner sich über eine kleine Seitentür Zutritt verschaffen konnten und Berger mitsamt seinen Helfern vertrieben. Ein feste Burg ist unser Gott…

Über Schimpfwörter und handfeste Auseinandersetzungen in Glaubensfragen zu dieser Zeit darf man sich nicht wundern. Es war das Zeitalter der Orthodoxie, da galt: Es gibt nur einen richtigen Glauben. Und da es natürlich der jeweils eigene war, mussten die Anhänger des anderen, falschen Glaubens überzeugt werden. Zur Not mit Gewalt.

„Freudenspiegel des ewigen Lebens“

In Unna wollten die Lutheraner ihren Sieg festigen. Unnas neuer Bürgermeister, ein aus Köln zugezogener Patrizier namens von Westfalen, hatte gehört, dass Philipp Nicolai in der waldeckschen Landessynode calvinistische Irrlehrer exkommunizieren ließ, er hatte wohl auch dessen bekannteste Schrift „Nothwendiger und gantz vollkommener Bericht von der gantzen calvinistischen Religion“ gelesen. Wenn d a s nicht der richtige Mann für Unnas Lutheraner ist, muss er wohl gedacht haben.

Zwei Angebote aus Unna lehnt Nicolai noch ab, dann fuhr Bürgermeister von Westfalen selbst ins Waldecksche und überredete ihn. Sein Verdienst war ansehnlich: 50 Mütte reinen Korns, dazu 60 Reichstaler, sechs Fuder Holz sowie freie Wohnung mit großem Garten (eine Mütte Korn hatte den Wert von 4 Talern).

Man scheint in der ganzen Grafschaft Mark an Nicolais Kommen interessiert gewesen zu sein, denn einen Teil der Kosten für seinen Umzug übernahm die Stadt Soest, der Nicolai dann auch sein schönstes Buch, eben den „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ widmete.

In den furchtbaren Zeiten der Pest

In Unna aber traten kurz nach seinem Amtsantritt die religiösen Streitfragen in den Hintergrund. 1597 brach über Nacht die Pest aus. Nicolai stellte den Kirchenkampf hintan und beschränkte sich auf die Seelsorge. Er ging zu den Sterbenden, sprach ihnen Trost zu, hatte bis zu 30 Beerdigungen am Tag und musste miterleben, wie auch der tapfere Kanzelverteidiger Kersting der Seuche erlag.

Nicolai selbst fürchtete die Pest nicht. Er vertraute seinem Gott und fuhr – zur medizinischen Unterstützung dieses Vertrauens – zu einer Apotheke nach Dortmund, um sich Medizin zu besorgen.

Wie kann man die allgegenwärtige Todesgefahr, den vergeblichen Kampf gegen den Tod, den Zuspruch des Trostes für Hunderte von Sterbenden psychisch durchstehen? Nicolai schaffte es, indem er am Tage unbeirrt und unermüdlich seine Pflicht tat und sich abends in den erlösenden Trost der himmlischen Herrlichkeit flüchtete, in der es keinen Tod, keine Seelennot mehr gab. Während immer mehr Menschen der Pest erlagen, schrieb er seinen „Freudenspiegel“ als Trost für die Sterbenden und Hinterbliebenen, als Stärkung aber auch für sich selbst. Und im Anhang des Buches, das viele Auflagen erlebte, veröffentlichte er – wie erwähnt – seine berühmt gewordenen Lieder.

Auf dem Friedhof in der Nähe seines Gartens wurden die Leichen aufgeschichtet, Pest- und Verwesungsgeruch lag über der Stadt, Philipp Nicolai aber konnte in der Gewissheit seines Glaubens singen: „Wie schön leuchtet der Morgenstern.“ Die Musik zu seinen Liedern hat er übernommen und nicht selbst geschrieben, obwohl er das vermutlich auch gekonnt hätte. Er hat nämlich eine sehr gute Schulbildung genossen, die ihn u.a. nach Mühlhausen in Thüringen führte, wo später Bach Organist gewesen war. Dort hat Nicolai im Gymnasialkirchenchor mitgesungen und ist von dem fähigen Musiklehrer Joachim Müller a Burck unterrichtet worden, der selbst auch komponieren konnte.

Gottesreich für 1670 vorhergesagt

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ ist ebenso wie „Wachet auf“ ein Zeugnis barocker Brautmystik, in der, im Bild des Bräutigams, vom Kommen Christi und damit vom Jüngsten Tag die Rede ist. Der 45. Psalm, das Hohe Lied der Liebe und das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen im Matthäusevangelium haben mit ihrer Hochzeitsmetaphorik den biblischen Anstoß zu beiden Liedtexten gegeben.

Nicolai stand übrigens wirklich unter dem Eindruck der Naherwartung. In einer anderen Schrift, der „Historie des Reiches Christi“, hat er das Kommen des Gottesreiches sogar genau vorausberechnet und auf das Jahr 1670 datiert. Vorsichtig hat er allerdings hinzugefügt, dass es „wegen des Elends und der Bedrängnis der auserwählten Kinder Gottes“ auch früher kommen könne.

Dieses Denken ist spätestens seit der Aufklärung überwunden. Wenn Nicolais Lieder trotzdem bekannt blieben, das „Wächterlied“ sogar stetig populärer wurde, dann müssen Text und Musik wohl viel ausdrücken. Glaubensstärke und Zuversicht, Optimismus angesichts von Tod und Krankheit (in den Liedern metaphorisch ausgedrückt durch die Überwindung von Nacht und Schlaf) sprechen die Menschen auch heute an. Als König und Königin des Gesangbuchs wurden beide Lieder gelegentlich bezeichnet. Regelmäßig werden sie im Gottesdienst gesungen und Bachs Kantaten sprechen auch Nichtchristen an. In Unna sind also die Texte entstanden, in der Not einer bedrängenden Pestzeit.

Dem Ruf nach Hamburg gefolgt

Philipp Nicolai ist aber nicht in Unna geblieben. 1600 heiratete er noch in Unna die Witwe eines Dortmunder Pfarrerkollegen, eine Katharina von der Recke. Doch schon 1601 folgte er einem Ruf als Hauptpastor in der Katharinengemeinde in Hamburg. Dort wurde sein einziger Sohn Theodor geboren, dort schrieb er noch weitere 17 theologische Abhandlungen, aber schon 1608, im Alter von gerade 52 Jahren, ist er gestorben.

Vor dem Altar der Katharinenkirche hat man ihm ein Ehrengrab gegeben. Als die Kirche 1856 jedoch umgebaut wurde, hat man seine Gebeine aufgenommen und auf dem Katharinenfriedhof vor dem Dammtor beigesetzt. In Hamburg also liegt Philipp Nicolai begraben, in Unna aber hat er seine beiden schönen Kirchenlieder geschrieben.

Und wenn wir Schüler schon damals von dem tollen Zweikampf zweier Pfarrer in der Stadtkirche gewusst hätten, die Voraussetzung für seine Berufung nach Unna waren, wären wir bestimmt pünktlich zum Schulgottesdienst erschienen. Glaube ich jedenfalls.




Projekt „Ruhr Bühnen“: Elf Theater „unter einem Dach“ – leider nur die Etablierten

Von unserem Gastautor Werner Streletz (Schriftsteller und Journalist in Bochum):

„Nachhaltigkeit“ hatten sich die Macher des Kulturhauptstadtjahres 2010 auf die Fahnen geschrieben. „Ruhr 2010“ sollte nicht nur ein zwölfmonatiges Feuerwerk abbrennen, sondern auch langfristig Wirkung zeigen. Die Kunstmuseen an der Ruhr arbeiten schon geraume Zeit zusammen, jetzt folgen die Theater.

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

„Ruhr Bühnen“ ist das Zusammenwirken von nicht weniger als elf Bühnen des Ruhrgebiets betitelt – vom kleinen Schlosstheater in Moers bis zum Schauspielhaus Bochum. Den ersten Schwerpunkt dieses neuen Kulturnetzwerkes, das finanziell gut ausgestattet ist (fast zwei Mio. Euro in drei Jahren) und das jetzt im Theater Oberhausen vorgestellt wurde, bildet das gemeinsame Marketing, also die vereinigte Werbetrommel. Inhaltlich wird anschließend ein erster Versuch im Herbst 2017 gestartet, wenn bei einer Theaterreise durchs Ruhrgebiet jeweils Inszenierungen der beteiligten Bühnen besucht werden können.

Durch „Ruhr Bühnen“ soll das eigenständige Profil des jeweiligen Theaters allerdings nicht im Geringsten angekratzt werden. Deren Autonomie bleibt ungeschmälert erhalten.

Derzeit sind im Übrigen nur die etablierten kommunalen Bühnen des Reviers unter dem neuen Dach versammelt. Und wie sieht es mit der freien Szene aus, in Bochum zum Beispiel mit dem Prinz Regent Theater oder dem Rottstr5-Theater? Eine einzelne Off-Bühne hätte wohl keine Chance, bei den „Ruhr Bühnen“ mitzumachen und damit vom Geldregen zu profitieren, so ist während der Pressekonferenz zum Projekt „Ruhr Bühnen“ zu erfahren. Nur bei einem Zusammenschluss von mehreren freien Theatern bestünde die Möglichkeit einer Mitgliedschaft. Kurzum: Freie Fahrt (bisher leider nur) für die Etablierten!

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Info

Zu den „Ruhr Bühnen“ gehören folgende Häuser:
Schauspielhaus Bochum, Theater Dortmund, Deutsche Oper am Rhein im Theater Duisburg, PACT Zollverein in Essen, Theater und Philharmonie (Tup) Essen, Musiktheater im Revier (Gelsenkirchen), Theater Hagen, Schlosstheater Moers, Ringlokschuppen Mülheim, Theater an der Ruhr in Mülheim, Theater Oberhausen.





Rückblick auf einen Lebenslauf, der schon in der Schulzeit auf Literatur hindeutete

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über menschlich und literarisch prägende Begegnungen in seiner Schüler- und Studentenzeit:

Meinen ersten Lehrer habe ich geliebt. Noch bis zu seinem Tode hatte ich brieflich Kontakt mit ihm, denn er war inzwischen nach England verzogen und hatte dort noch einmal geheiratet.

Der Autor Heinrich Peuckmann (Bild: privat)

Der Autor Heinrich Peuckmann (Bild: Homepage www.heinrich-peuckmann,de / privat)

Als es zu seinem 80. Geburtstag einen Empfang in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei gab, ließ er auch mich einladen und wir hatten unser letztes Gespräch. Er erzählte mir, was er im letzten Jahr von mir gelesen hatte, wir witzelten dabei wie immer. Am Ende wollte er wissen, was unsere gemeinsamen Freunde machten, vor allem mein Autorenkollege Horst Hensel.

Grundschüler beim späteren Kultusminister

Jürgen Girgensohn hieß er, der das kleine I-Männchen Heinzchen Peuckmann 1956 an der Kamener Falkschule in seine Schullaufbahn einwies, der vor allem später, als ich Lehrer wurde, als Kultusminister mein oberster Chef war.

Wenn der Minister Girgensohn meine Schule besuchte, stand meinem Schulleiter der Angstschweiß auf der Stirn, ich dagegen freute mich. Es kam ja mein alter Lehrer und wir hatten immer etwas zu bereden. „Na, du Schlingel!“, rief er mir einmal zur Überraschung meines Schulleiters zu, als er mich auf dem Flur unserer Schule entdeckte. Es war ein guter, kreativer Schulanfang mit ihm, der sich auch so fortsetzte.

Verbindungen zu Hüsch und von Manger

Mein Lehrer im zweiten Schuljahr hieß Wolfgang Bär, und der war nun ein halber Künstler. Neben dem Unterricht baute er die Kamener Volkshochschule auf und gestaltete das Kulturprogramm der Stadt mit, in dem tatsächlich Hanns Dieter Hüsch seine ersten Auftritte hatte. Bevor er als Kabarettist seine großen Erfolge feierte, war Hüsch schon in Kamen gewesen.

Später entdeckte und förderte Bär auch noch Jürgen von Manger, schied für ihn sogar aus dem Schuldienst aus und wurde dessen Manager. Auf manchen Schallplatten, die von Manger veröffentlichte, ist als Ansprechpartner, etwa in „Die Fahrschulprüfung“ auch mein alter Lehrer Wolfgang Bär als Prüfer zu hören. Er war meine erste Begegnung mit einem Lehrer, der literarische Neigungen hatte, wenn auch nicht so ausgeprägte, dass es zu einem eigenen Werk gereicht hätte.

Die Aufsatzmappe des Rektors

Danach übernahm Rektor Ballhausen meine Klasse und es war mit dem Künstlerischen, so schien es mir, endgültig vorbei. Ballhausen war eher der strenge, preußische Lehrertyp mit grauem Anzug und Fliege. Wenn jemand zu laut in der Klasse war, winkte er ihn mit langem Finger aus der Bank, dann ging es in sein Rektorzimmer und es gab drei Schläge mit dem Rohrstock auf den Hintern.

Hans Ballhausen hatte die Eigenart, dass er sich Aufsätze seiner Schüler, die er für gelungen hielt, in eine schwarze Kladde eintragen ließ. „Dann habe ich etwas für meine Pensionszeit“, erklärte er. „Ich kann dann, wenn ich an euch denken will, eure schönen Aufsätze lesen.“

Alle wollten sich gerne in diese Mappe eintragen, alle wollten sich dadurch auszeichnen, auch ich. Aber meine Aufsätze fand er erst ganz zum Schluss für würdig, in seine Mappe eingetragen zu werden, vorher hat er mich nie berücksichtigt. Alle durften sich eintragen und waren entsprechend stolz darauf, ich durfte es nicht.

Oft bin ich später bei Schullesungen von Schülern (vor allem der Grundschule) gefragt worden, warum ich Schriftsteller geworden sei. Ich habe dann immer geantwortet, dass ich es so genau auch nicht erklären könnte, und dass ich es eigentlich gar nicht hätte werden dürfen. Mein Volksschullehrer jedenfalls hätte mich nicht verstanden. „Wahrscheinlich“, habe ich manchmal hinzugefügt, „hat dieser Lehrer nie einen Schüler unterrichtet, der später Schriftsteller wurde. Den einzigen, den er je hatte, hat er nicht verstanden.“

Es war eine Erklärung, bei der ich gut wegkam, die aber den entscheidenden Fehler hatte, dass sie nicht stimmte. Hans Ballhausen war, wie ich sehr viel später in einem westfälischen Autorenverzeichnis feststellte, selber Schriftsteller. Vor allem mit der westfälischen Schriftstellerin Margarete Windthorst, einer Autorin mit deutlich katholischem Anspruch, die 1946 den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis bekam (die sie denn auch neben Kleist als ihr Leitbild angesehen hat), hat er sich ausführlich beschäftigt. Ballhausen gilt als ihr Biograph in ihrer mittleren Lebensphase.

Tradition der Short Story

Zusätzlich gab er Anthologien zur Arbeiterliteratur heraus, ein Thema, mit dem auch ich mich später (zu) lange im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ beschäftigt habe. „Wir Werkleute all. Ein Querschnitt durch die soziale Dichtung nach der Jahrhundertwende“, hieß eine dieser Anthologien. Ein anderer Buchtitel lautet „Mutter Erde. Gedichte“. Es sieht ein bisschen so aus, als würde es unheilvoll raunen in seinen Büchern, aber das tut es nicht. Es ist das christliche, nicht das Nazi-Weltbild, das durchschimmert und das ihn wohl zu Margarete Windthorst hingezogen hat, die wegen ihrer christlichen Botschaft von den Nazis aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde.

Ich war überrascht, als ich es später, sehr viel später erfuhr. Es war also nicht so, dass Ballhausen einen heranwachsenden Schriftsteller missverstanden hätte, weil er keine Ahnung von künstlerischer Arbeit gehabt hatte. Nein, er war selber ein Schriftsteller gewesen und hatte eine andere Autorin selbstlos gefördert.

Vielleicht, denke ich heute, war wirklich nicht viel dran an meinen ersten Aufsätzen. Vielleicht hatte Ballhausen recht und nicht ich. Er liebte es, das fiel mir wieder ein, wenn Aufsätze unmittelbar begannen, ohne lange Einleitung. Er folgte darin, so kommt es mir im Rückblick vor, der amerikanischen Short Story, während ich vermutlich brav jeden Aufsatz mit einer klaren Einleitung in Zeit, Ort und Handlung begonnen habe, die ich heute selbst bei meinen Schülern bekämpfe: „Es war an einem schönen Sonntagmorgen, als mein Vater die Fahrräder aus dem Keller holte …“

Man weiß, wie solche Aufsätze enden: im Regen am Sonntagnachmittag unter einem Baum stehend. Meine erste Begegnung mit einem Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller war, verlief also gar nicht glücklich.

Als Arbeiterkind nicht zum Gymnasium

Dazu passt auch das Ende unserer Begegnung, denn als es darum ging, welche Schule ich nach der vierten Klasse besuchen sollte, war Ballhausen gegen einen Wechsel zum Gymnasium. Arbeiterkinder (mein Vater war Bergmann) hätten am Gymnasium erfahrungsgemäß Probleme mit dem Englischunterricht. Nein, ich sollte besser zur Realschule wechseln.

Gertrud Bäumer, die große Pädagogin, hat ein paar Jahrzehnte vorher in Kamen unterrichtet und sie schreibt in einem ihrem Bücher sehr liebevoll, aber auch erschreckt über die Bergarbeiterkinder, die sie damals unterrichten musste. Wie mager sie waren, wie ärmlich gekleidet, wie fernab von jeglicher Bildung. Zu meiner Zeit hatte sich daran sicher einiges geändert, wenn auch nicht alles.

Natürlich trug ich, wie meine Mitschüler auch, gestopfte oder geflickte Kleidung, ein paar Mal musste ich sogar Pullover meiner Schwester auftragen, die meine Mutter „schick“ fand. Und unsere Sprache war deftig, mindestens gewöhnungsbedürftig: „Wo wohnst du?“ „Anne Ecke vonne Nordenmauer.“ „Wie heißt das?“ „Auffe Ecke anne Nordenmauer.“ (Originalton Klassenkamerad). Vielleicht war es das, was uns Schüler und speziell auch mich von Ballhausen trennte. Einer sittsam-katholischen Wohlanständigkeit entsprachen wir sicher nicht.

Das Wort eines Rektors galt damals noch etwas, jedenfalls in einer Arbeiterfamilie wie meiner, also wechselte ich zur Realschule Oberaden, wo ich – ein kleiner Trost – wieder auf Girgensohn traf, der sich inzwischen vom Volksschullehrer zum Realschullehrer fortgebildet hatte.

Bloß keine Verwaltungslaufbahn

Aber als ich dort immer öfter den Satz hörte: „Wenn ihr später mal bei einer Verwaltung arbeitet“, die klassische Realschullaufbahn damals, wusste ich, dass ich von dort weg musste. Verwaltung, darunter stellte ich mir dunkle Räume vor mit verstaubten Akten und mit Ärmelschonern womöglich, die ich tragen müsste.

Dabei war ich der ersten dunklen Alternative ja schon fast entkommen, einem Leben als Bergmann nämlich, das alle meine früheren Klassenkameraden erwartete, deren Väter Bergleute waren. Sich aus diesem Kreislauf herauszuarbeiten war damals fast unmöglich. Immerhin, mit der Realschule hatte ich den ersten Schritt dazu getan, jetzt wollte ich auch den nächsten tun. Weg von der Realschule, weg von der Aussicht, Bürokrat zu werden.

Ich machte die Aufnahmeprüfung am Aufbaugymnasium in Unna, bestand und wechselte mit einem anderen Klassenkameraden nach vier Jahren Realschule dorthin. In der neue Klasse wartete Gerd Puls auf mich, Kamener Schriftsteller, der schöne Gedichte und Erzählungen geschrieben hat.

Mit Dieter Pfaff in einer Klasse

Dieter Pfaff kam später hinzu, den ich von allen meinen Klassenkameraden, trotz seines Todes vor drei Jahren, bis heute am häufigsten sehe, nämlich mindestens einmal in der Woche im Fernsehen in allen möglichen Rollen, die bei ihm immer durch eines verbunden sind. Durch eine tiefe Menschlichkeit nämlich, die mich an sein, besser an unser damaliges politisches Engagement für eine humane Gesellschaft erinnert. Dieter ist sich auf seine Weise treu geblieben, vor allem hat er seinen damaligen Plan, Schauspieler zu werden, mit großem Erfolg umgesetzt.

Außerdem traf ich auf den zweiten Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller war, auf den Deutschlehrer Rudolf Schlabach, dessen Höspiele wir abends im WDR hörten und über die wir am nächsten Morgen in der Deutschstunde diskutierten.

Schon wieder ein Schriftsteller als Lehrer

„Herr Schlabach, warum haben Sie die eine Figur so und jene anders gestaltet? Warum haben Sie die eine Szene vorgezogen und die andere nachgestellt?“ Es waren Fragen zum Inhalt, aber auch zur Form, die uns in den Diskussionen bewegten und bei denen ich eines für meine spätere literarische Arbeit lernte: Literatur hat eine dezidiert handwerkliche Seite, es gibt keine feststehenden Regeln, man kann so oder auch anders machen. Wie es richtig ist, das ergibt sich immer neu aus dem Inhalt.

In diesem Sinne besprachen wir nicht nur Schlabachs Hörspiele, mit diesen Fragen gingen wir auch an die Literatur heran, die wir nach dem Lehrplan lesen musste: Kleist, Schiller, Fontane. Es waren anregende, kreative Deutschstunden, die wir erlebten und die nicht nur mich beeinflussten. „Schlabach war ganz wichtig für mich“, hat mir Dieter Pfaff später bestätigt, und er hat ihn auch angerufen, nachdem ich ihm dessen Telefonnummer gegeben habe und hat es ihm gesagt.

Schlabach hat später an der bekannten Hörspielreihe „Papa, Charly hat gesagt …“ teilgenommen, deren beste Texte in gleich mehreren Anthologien bei Rowohlt erschienen sind. Schlabach war an allen beteiligt. Er hat zudem einen Band mit dramatischen Texten veröffentlicht („Glänzende Aussichten“, Asso-Verlag Oberhausen) und den Roman „Die Bauweise von Paradiesen“. In Hude, wo er inzwischen, alt geworden, lebt, schreibt Schlabach weiter, aber es fällt ihm zunehmend schwer, in Verlagen unterzukommen. Ich versuche, ihm den einen oder anderen Tipp zu geben, denn die Verbindung ist nie abgerissen.

An der Ruhr-Uni bei Gerhard Mensching

An der Universität Bochum, im Nachhinein wundere ich mich nicht mehr darüber, traf ich auf dieselbe Konstellation: auf den Uni-Dozenten, der Schriftsteller war. Diesmal war es Gerhard Mensching, der nebenbei eine Puppenbühne betrieb, die Stücke dafür selber schrieb und zusammen mit seiner Frau auf Tournee ging. Eine Zeitlang war er sogar Präsident des deutschen Puppenspielerverbandes. „Lemmy und die Schmöker“ hieß seine Fernsehserie, die auf witzige Weise für Lesekultur bei Kindern warb. Etwas, das heute noch wichtiger wäre als damals, aber leider im Fernsehen der Doku-Soups keine Chance mehr hat.

Mensching lernte ich in seinem Seminar über Kafka kennen. Wir untersuchten Kafkas Erzählung „Beschreibung eines Kampfes“, zu der Kafka zwei Fassungen geschrieben hatte, untersuchten beide Abschnitt für Abschnitt in Form von Referaten, um herauszufinden, wie und warum Kafka die Überarbeitung vorgenommen hatte. Wir wurden auf diese Weise gut in genaue Textarbeit eingeführt.

Der Sohn des Stahl-Managers

Als ich zusammen mit einem Kommilitonen einen Abschnitt untersuchen sollte, haben wir beide den Ansatz des Seminars komplett über Bord geworfen. Es war ein guter Student, mit dem ich zufällig kombiniert worden war, sein Vater gehörte zum Management eines großen Stahlkonzerns und ich musste, wenn ich ihn anrufen wollte, mich über die Zentrale des Konzerns verbinden lassen. Ein Mann mit einer ganz anderen Sozialisation also, wie ich feststellte. Einmal in der Woche ging er zur schlagenden Verbindung, etwas, das in der Zeit der Studentenrevolte verpönt war und das auch er selbst kritisch beurteilte. Aber sein Vater verlangte es von ihm und solange er hinging, bekam er von ihm jede Unterstützung. Im Übrigen war er Marxist, also Materialist, und er konnte nicht verstehen, dass jemand wie ich Theologie studierte, also, in philosophischen Kategorien gedacht, Idealist war.

So diskutierten wir bei unseren Treffen zuerst stets über Feuerbach, Marx und die Bibel, dann gingen wir an die Textarbeit und fanden schnell heraus, dass beide Fassungen von Kafka so unterschiedlich waren, dass man nicht mehr von zwei Fassungen sprechen konnte, sondern dass es zwei unterschiedliche Erzählungen waren. Wir entwickelten Strukturbilder zu den Erzählungen, zeigten auf, welche Punkte in der zweiten Fassung deutlich ausgebaut waren und wie diese neue Schwerpunktsetzung die inhaltliche Aussage grundlegend veränderte.

Als wir vor Mensching das Referat vortrugen, musste ich den größten Teil übernehmen, mein Mitstreiter, der die besten Ideen beigesteuert hatte (schade, dass ich seine Spur verloren habe!) hatte am Abend vorher ein Verbindungstreffen gehabt und stand mit geröteten Augen neben mir. Ich weiß noch, wie Mensching immer erstaunter auf unser Strukturschema blickte, wie er schließlich begann, den Kopf zu schütteln und sagte: „Jetzt müsste unser Seminar neu beginnen. Das ist der Ansatz, nach dem wir eigentlich gesucht haben.“

Von nun an war ich in allen seinen Seminaren ein gern gesehener Student, immer ging es dabei um die Machart von Literatur, um einen ebenso textkritischen wie kreativen Ansatz, für den Mensching unter den Germanistikprofessoren und Dozenten offen oder versteckt kritisiert wurde. Sie wollten über Literatur forschen, dass einer der Ihren selber Literatur schreiben wollte und schrieb, ging ihnen nicht in den Sinn.

Folgenreiche Schreibseminare

Mensching richtete Schreibseminare an der Uni ein, ich weiß nicht, wie viele Studenten, die später Autoren und Journalisten wurden, durch diese Schule gingen. Einmal haben wir bei ihm das Strukturschema eines guten Unterhaltungsromans entworfen. Ein richtiges Rezept für einen solchen Roman haben wir entwickelt. Natürlich musste es ein politisches Thema sein, das gestaltet werden sollte, so etwas passte nicht nur zur 68er-Zeit, das passte auch zu Mensching. Mit Unterhaltung die Menschen aufzuklären, ein wunderbarer Gedanke, von dem wir heute so weit entfernt sind wie nie zuvor.

Am Romananfang, so entwickelten wir, musste eine kriminalistische Szene stehen, in der die Hauptfigur als Opfer vorgestellt wurde, dann musste die Gegenposition dargestellt werden, die aber noch nicht den Täter zeigte, dann sollte etwas Erotisches folgen, so etwas trug immer gut zur Unterhaltung bei, dann musste der eigentliche Täter vorgestellt worden. Es war ein richtiges Drehbuch für einen politischen Unterhaltungsroman, das ich leider danach verloren habe. Aber Mensching hatte es nicht verloren, wie ich viele Jahre später feststellen wollte.

Natürlich machte ich bei ihm Examen, natürlich durfte ich in meiner Examensklausur nachweisen, dass die Erzählhaltung bei einer Siegfried-Lenz-Erzählung viel zu umständlich war, eine verkappte Ich-Erzählung, wo es personal viel besser gegangen wäre, natürlich redeten wir zwischendurch immer wieder über eigene literarische Pläne.

Nach dem Examen verlor ich leider den Kontakt, bekam aber mit, dass Gerhard Mensching sehr erfolgreich begonnen hatte, Romane zu veröffentlichen, gute Unterhaltungswerke mit aufklärerischem Anspruch („Löwe in Aspik“) und auch er hatte irgendwie mitbekommen, dass ich publizierte, wenn auch lange nicht so erfolgreich wie er.

Das literarische Handwerkszeug

In achtziger Jahren nahmen wir wieder Kontakt auf, zuerst brieflich, dann telefonisch. Wir verabredeten, dass ich in einem seiner Schreibseminare, die er noch immer an der Uni veranstaltete, inzwischen mit Zustimmung seiner Fachkollegen, als Referent auftreten sollte, dass ich über das literarische Handwerkszeug referieren und es an eigenen Texten belegen sollte, während er zu meiner Lehrerfortbildung kommen wollte, die ich über viele Jahre für die Bezirksregierung Arnsberg in Hagen veranstaltete und in der ich kreative Schreibformen für den Deutsch- und Literaturunterricht an Gymnasiallehrer vermittelte.

Ich war froh, den Kontakt wieder gefunden zu haben, da starb Mensching ganz plötzlich. Es war eine völlig unerwartete Nachricht, die mich bewegt hat.

Meine Frau schenkte mir für die folgenden Ferien Menschings letzten Roman „E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung“, in der es darum ging, dass Hoffmann als Jurist dem Turmvater Jahn bei der Demagogenverfolgung einen fairen Prozess vermitteln wollte, was der Obrigkeit ganz und gar nicht gefiel und weshalb sie ihn nicht nur mit einem Disziplinarverfahren überzogen, sondern womöglich sogar vergiftet hatten.

Drehbuch für einen Unterhaltungsroman

In Überlingen, im Stadtteil Nussdorf in direkter Nähe zum Wohnhaus von Martin Walser, habe ich den Roman auf einer Wiese am Bodensee liegend gelesen und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich das Konzept des Romans kannte. Mensching hatte unser gemeinsames Drehbuch eines guten Unterhaltungsromans entweder verinnerlicht oder sogar noch schriftlich vorliegen gehabt, jedenfalls las ich einen spannenden, formal gut aufgebauten unterhaltenden Roman, der mich begeisterte. Ich weiß noch, dass meine Frau irgendwann rief: „Lass uns gehen, es zieht ein Gewitter auf!“ und dass ich antwortete: „Einen Moment noch. Jetzt kommt gleich ein erotisches Kapitel!“, was wiederum meine Frau verwunderte. „Kennst du den Roman etwa schon?“ Ich konnte sie beruhigen. Nein, ich kannte ihn nicht, ich kannte und liebte nur seine Machart.

Im Nachhinein bedauere ich es sehr, dass ich den Kontakt zu Mensching über einige Jahre verloren und erst kurz vor seinem Tode wieder gefunden habe. Mit ihm war es immer eine kreative, äußerst fruchtbare Zusammenarbeit, die meine Studentenzeit so sehr bereichert hat.

Die nächsten Generationen

An allen Bildungsinstitutionen, an denen ich gelernt habe, bin ich also auf Lehrer gestoßen, die selber geschrieben haben. Komisch, denke ich im Nachhinein, so viele von diesem Typus gibt es doch gar nicht. Aber während mir meine beiden ersten als Lehrer vorgesetzt wurden, während es mit dem ersten schlecht, dem zweiten dagegen sehr gut lief, habe ich mir den dritten an der Uni selbst ausgesucht. Ich hätte ja auch bei anderen Professoren studieren können, aber ich habe in jedem Semester den Kontakt zu Mensching gesucht.

Inzwischen bin ich das selber geworden, ein Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller ist und aus meiner Schreibschule am Bergkamener Gymnasium sind einige Schüler hervorgegangen, die schriftstellerisch tätig wurden. Vier, die ich unterrichtet habe, haben Bücher veröffentlicht, Jugendromane, Gedichtbände, Science-Fiction-Romane. Eine meiner Schülerinnen ist mit ihren Liebesromanen stets in der Bestsellerliste des Spiegel, bei amazon war sie für einen Tag auf Verkaufsrang 1. Einige sind Journalisten, auch beim Rundfunk, geworden, einer betreibt die bekannteste Internetseite zu Arno Schmidt. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Schullaufbahn fast so etwas wie ein Weg durch die westfälische Literaturgeschichte ist. Und sogar noch einer, der sich fortsetzt.




Als es im Ruhrgebiet noch Arbeiterschriftsteller gab – vier Skizzen aus persönlicher Sicht

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann mit einer persönlichen Betrachtung über Begegnungen mit Arbeiterschriftstellern des Reviers:

1. Richard Limpert

Warum Richard Limpert aus Gelsenkirchen bei seinen Straßenlesungen ein Megaphon benutzt hat, habe ich nie verstanden. Mit donnernder Stimme trug Limpert seine Agitpropgedichte vor, in denen es immer um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken und unter Tage ging. Er war auch ohne technische Unterstützung in der gesamten Fußgängerzone zu hören.

In Unna, während einer Landesversammlung des Schriftstellerverbandes, hielt er mal eine solche Lesung, stand oben am Markplatz und war sicher noch die Bahnhofstraße hinunter bis zum Rathaus zu hören. Wir anderen, die an verschiedenen Stellen der Straße lesen sollten, konnten unsere Texte getrost in der Tasche behalten und ihm das Terrain überlassen.

Heute, wenn auf immer neue Rekordmarken bei der Arbeitslosigkeit mit immer neuem Sozialabbau geantwortet wird, sollte wieder einer wie Limpert das Wort ergreifen, denke ich. Aber diesen Typus an Arbeiterschriftstellern gibt es nicht mehr.

"Schichtenzettel" mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Schichtenzettel“ mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Rili“, wie wir ihn nannten, hatte kein Auto. Er kam immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Veranstaltungen und hat dabei einmal eine unglaubliche Leistung vollbracht. Er ist nämlich zu einer Thekenlesung nach Bergkamen mit dem Zug gekommen. Nicht, dass es Bergkamen keinen Bahnhof gäbe, so ist es nun auch wieder nicht. Er befindet sich weit abgelegen neben einem Naturschutzgebiet. Güterzüge fahren vorbei, aber kaum jemals ein Personenzug. Ich glaube, die Strecke war schon damals für den Personenverkehr vollständig still gelegt.

Irgendwie hatte es Limpert trotzdem geschafft, mit dem Zug anzureisen. Vielleicht war er in einem Postwagen mitgefahren und der Zug hatte nur ausnahmsweise und ausschließlich für ihn in Bergkamen gehalten, ich weiß es nicht mehr. Da stand er nun mutterseelenallein auf dem dunklen Bahnhof und konnte weit und breit keinen Menschen entdecken. Rili muss sich gefühlt haben wie in einem Gruselfilm und hinter jeder dunklen Ecke den Mörder vermutet haben.

In einem Wohnhaus in der Nähe hat er schließlich geklingelt, eine Frau hat ihm geöffnet und sich mindestens so sehr über seine Ankunft mit dem Zug gewundert wie Rili über den Bergkamener Bahnhof. Sie rief ihm ein Taxi, mit dem Rili pünktlich zur Lesung kam und mich verwundert fragte, was das denn für ein Bahnhof sei. Ich glaube, so richtig erklären, dass dort niemand mehr aussteigt, konnte ich es ihm nicht.

Die Lesung (Rili hinter der Theke und die Arbeiter von „Monopol“ davor) war dann aber wirklich gut. Die Arbeiter verstanden, dass da einer von ihnen zu ihnen sprach, einer, der aus eigenem Erleben kannte, was er aufgeschrieben hatte.

Rili war ein verträglicher Mann, aber einmal hat er mich doch ausgeschimpft. Horst Hensel hatte den Schulroman „Aufstiegsversagen“ veröffentlicht, in dem ein Arbeiterdichter vor einer Schulklasse auftritt, Fragen der Schüler beantwortet und etwas zu seinem Literaturverständnis erzählt. Der Autor hieß „Milpert“, dreht man die drei ersten Buchstaben um, weiß man, an wen Hensel beim Schreiben gedacht hat.

In Horst Hensels Buch "Aufstiegsversagen" kam Richard Limpert als Figur "Milpert" vor.

In Horst Hensels Buch „Aufstiegsversagen“ (Weltkreis-Verlag, Dortmund) kam Richard Limpert als Figur „Milpert“ vor.

Wir trafen uns einige Zeit nach der Romanveröffentlichung bei einer Buchvorstellung in der Gelsenkircher Bücherei. „Sieben Häute hat die Zwiebel“ hieß die Anthologie, in der wir alle mit Texten vertreten waren. Es gab ein Buffet, wir standen mit dem Teller in der Hand in einer Schlange, Rili vor, Hensel hinter mir.

Plötzlich drehte sich Limpert um, entdeckte mich und fing sofort an zu schimpfen. So blöde sei er nicht, wie ich das behaupten würde, rief er, er könne schon vernünftig auf Schülerfragen antworten. Außerdem würde er über Literatur ganz anders denken, als ich das geschrieben hätte, das hätte er oft erklärt usw. Ich war anfangs sprachlos, bis ich endlich kapierte. „Mensch Richard!“, rief ich, „bist du wahnsinnig! Das war ich doch gar nicht. Das Buch hat doch der Hensel geschrieben.“ Aber Rili ließ sich nicht beirren, schimpfte weiter, bis sein Ärger verraucht war, erkannte dann hinter mir Hensel, lächelte plötzlich freundlich und gab ihm die Hand. „Mensch Horst“, sagte er, „wie geht`s dir.“

Nach seiner Attacke war Limpert übrigens auch wieder zu mir freundlich. Langen Streit konnte er nicht vertragen.

Bei der Landesversammlung des Schriftstellerverbands in Unna hat Rili mal eine unvergessliche Rede gehalten. Es ging hoch her beim Streit um die richtige Verbandsarbeit, als Rili plötzlich erregt das Wort ergriff, aber leider vergaß, dass er sein Gebiss in die Jackentasche gesteckt hatte. Seitdem weiß ich, wie viel Zischlaute es in der deutsche Sprache gibt. Wir waren einen Moment erstaunt, lachten dann, und die Situation war nach Rilis Rede wieder entspannt. Es war übrigens sachlich alles richtig, was Rili erregt und ohne Zischlaute eingeworfen hatte.

Später, ein paar Jahre nach seinem Tod, gab es eine kleine anrührende Szene. Mein kleiner Sohn, damals in der Grundschule, kam zu mir und sagte ein Gedicht auf, das er auswendig lernen musste. Es war ein Gedicht über das Meer, einfach über Nordsee, ganz ohne Agitprop, und es gefiel mir gut. „Rate mal, wer es geschrieben hat?“, fragte er mich. Ich wusste es nicht. Es war von Rili. Da fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr an ihn gedacht hatte. Und dass seine Literatur auch Facetten hatte, die ich noch nicht kannte.

2. Rudolf Trinks

Der Bergkamener Rudolf Trinks gehört nicht zu den bekannten Arbeiterdichtern. Er hat auch wenig veröffentlicht, trotzdem war er eine Zeitlang wichtig für die Dortmunder Werkstatt im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Trinks war Bergmann und füllte angesichts der vielen Studenten, zu denen auch ich gehörte, die Arbeiterlücke in der Gruppe wenigstens halbwegs auf.

Trinks war ein bescheidener Mann, immer kooperativ, hatte einen ganz stillen Humor und hielt sich gerne im Hintergrund. Einmal war er aber ganz gefordert, und diese Situation hat er glänzend gemeistert.

Wir hatten in Bergkamen mit einer Reihe von Thekenlesungen begonnen. Wenn die Arbeiter nicht zur Literatur kommen, kommt die Literatur eben zu den Arbeitern, war unsere Überlegung. Dieter Treeck, damals Kulturdezernent in Bergkamen, hatte die Idee dazu gehabt. Bei der ersten Lesung in dieser Reihe sollte auch Trinks zwei Erzählungen lesen. Geschichten aus dem Bergbau mit dem Titel „Montags morgens, sechs Uhr, Seilfahrt“, wie sie zu Bergkamen passten.

Was wir nicht beachtet hatten, war die Einstellung der Arbeiter, die am Freitagabend in Ruhe ihr Bier trinken und sich daran nicht von irgendwelchen Schreibern hindern lassen wollten. Eine Mikrophonanlage war hinter der Theke aufgebaut worden, Dieter Treeck wollte die Kneipengäste begrüßen, aber es blieb laut in der Kneipe, niemand machte Anstalten, zuzuhören. Unser schöner Versuch schien schon im Ansatz zu scheitern.

Da trat Rudolf Trinks ans Mikrophon, den die meisten Gäste als ihren Arbeitskumpel kannten. „Nun seid mal alle stille!“, sagte er ins Mikrophon. Und tatsächlich verstummten die Leute nach und nach und Trinks begann zu lesen. Er war es, der den Versuch gerettet hat, der sich später zu einer erfolgreichen Lesereihe entwickeln sollte. Meist war ja noch eine Songgruppe engagiert worden, die zwischen den Textlesungen auftrat und manche Veranstaltung später endete mit dem lauten Absingen von Arbeiterliedern.

Eine Zeitlang hatten wir sogar eine kleine Fangruppe, die zu allen Thekenlesungen kam, egal, ob sie in ihrer Stammkneipe stattfand oder anderswo. Und mit der Zeit wurde manche von diesen Zuhörern selbst richtig „literarisch“. Der Göttinger Schriftsteller Manfred Laurin las mal in Bergkamen. „Ich trage jetzt ein paar Gedichte aus meinem neuen Gedichtband vor“, sagte er und fügte stolz hinzu: „Das Buch habe ich selbst verlegt.“ „Hoffentlich hast du es auch wiedergefunden“, antwortete einer der Zuhörer. Laurin, sonst ein begnadeter Spötter über alles Mögliche, konnte darüber gar nicht lachen. Bei seiner eigenen Person hörte der Spott auf.

Trinks wohnte im Begkamener Stadtteil Weddinghofen, in direkter Nachbarschaft zu Hans Henning (genannt „Moppel“) Claer. Der war nun wirklich bekannt, und wenn sich auch mancher nicht mehr an seinen Namen erinnert, so sind doch die Titel seiner Bücher, die alle verfilmt wurden, unvergessen: „Lass jucken, Kumpel“, „Das Bullenkloster“, „Bei Oma brennt noch Licht“. Trinks hat Claers schlüpfrige Darstellung der Arbeitswelt immer abgelehnt. Ich glaube, die beiden haben kaum je ein Wort miteinander gewechselt, obwohl sie fast Haus an Haus wohnten.

Im November bzw. Dezember 2002 sind Trinks und Claer nahezu gleichzeitig gestorben, Trinks hat noch bis kurz vor seinem Tod geschrieben, aber nichts mehr veröffentlichen können. Claer war fast 15 Jahre lang durch einen Schlaganfall bettlägerig und zum Schluss ein Pflegefall.

Thekenlesungen gibt es schon lange nicht mehr. Vielleicht sind die „Poetry Slams“ der zeitgemäße Ersatz, bei dem es aber nicht mehr um politische Aufklärung, sondern weitgehend um „fun“ geht.

3. Emanuel Schaffarczyk

Der Dortmunder Emanuel Schaffarczyk ist längst vergessen. Er war für die Dortmunder Werkstatt in der Anfangsphase sehr wichtig. Viel wurde damals ideologisch diskutiert. Wir vollzogen die Brecht-Lukacs-Debatte nach, wobei ich, dies nebenbei, immer für den gut erzählten, realistischen Roman im Sinne von Lukacs war, ohne freilich dessen „Formalismuseinschränkung“ zu teilen.

Emanuel Schaffarczyks Buch "Als Fußlapp in der Klemme saß" (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Emanuel Schaffarczyks Buch „Als Fußlapp in der Klemme saß“ (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Schaffarczyk war von diesen Diskussionen unberührt, er wollte schreiben und er schrieb. Fast zu jeder Sitzung brachte er eine neue Geschichte mit, in der er die Charaktere stimmig aus der Handlung und dem geschilderten Umfeld heraus entwickelte. Seine Texte hatten Atmosphäre, ich weiß, dass ich jedesmal sehr aufmerksam lauschte, wenn er sie vorlas, weil ich das Gefühl hatte, von Schaffarczyk lernen zu können. Geschickt baute er die Beschreibung der Natur in die Handlung ein, hatte einen Blick für Details und erinnerte mich jedesmal daran, warum ich eigentlich in die Werkstatt gekommen war. Es sollte doch um Literatur gehen, freilich um realistische. Dass die Werkstatt Dortmund später zu den führenden „literarischen“ Werkstätten im Werkkreis gehörte, ist Schaffarczyks beharrlichem Verlangen zu danken, dass bei jeder Sitzung Texte besprochen werden sollten.

Allerdings neigte er zur Idylle (wie so manche Arbeiterdichter), die nach seiner Textvorstellung immer wieder zu Diskussionen in der Gruppe Anlass gab.

Irgendwann saßen wir im jugoslawischen Restaurant direkt gegenüber vom Dortmunder Hauptbahnhof. Wir sprachen lange miteinander. „Du willst doch auch schreiben“, sagte er, „lass uns nicht immer diese langweiligen ideologischen Diskussionen führen. Immer diese Politik.“ Irgendwann blieb er weg. Ein Verlust, sicher, vor allem für den literarischen Anteil unserer damaligen Arbeit.

Schaffarczyk hatte ein Ziel. Als ehemaliger Schlosser wollte er seinem Enkelkind ein richtiges, von ihm geschriebenes Buch hinterlassen. Das war sein Traum. Er hat ihn verwirklicht. Drei Bücher sind von ihm erschienen, das dritte, glaube ich, war aber ein verkappter Eigendruck. „Als Fußlapp in der Klemme saß“, ein Jugendbuch, ist aber im damals bekannten Dortmunder Schaffstein-Verlag erschienen und fand in einigen Rezensionen weit über die Stadt hinaus Beachtung. Ich glaube, Paul Polte hatte ihm den Kontakt vermittelt.

4. Kurt Piehl

Kurt Piehl habe ich erst nach meiner Werkkreiszeit kennen gelernt. Ich war damals Sprecher der VS-Bezirksgruppe Dortmund/Südwestfalen, als er dazu stieß. Er wohnte in Bergkamen, kam zu unseren Treffen in Dortmund mit dem Zug angereist, bei der Rückfahrt habe ich ihn oft mitgenommen und an der Oberadener Jahnstraße, wo er an einer Kreuzung wohnte, abgesetzt.

Wer etwas über die Edelweißpiraten erfahren will, jene Widerstandsgruppe, die im Dortmunder Norden und in anderen Städten eine freie Jugendkultur gegen die Naziideologie setzte, muss Piehls Bücher lesen. „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, sein erstes, ist auch sein wichtigstes. Lieber wollten Jugendliche wie Kurt Piehl „rumlatschen“ als für die Nazis marschieren, sie schwänzten die HJ-Veranstaltungen und gerieten mehr und mehr, nicht durch heimlich operierende Organisationen, sondern vielmehr aus eigenem, spontanen Antrieb heraus, in Opposition zu Hitler. Im Grunde sind die „Latscher“ so etwas wie die proletarische Antwort auf die bürgerlichen „Flaneure“, wie sie in den Zwanziger Jahren in der Literatur so modern waren.

Kurt Piehls Buch "Latscher, Pimpfe und Gestapo", erschienen bei Brandes & Apsel.

Kurt Piehls Buch „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, erschienen bei Brandes & Apsel.

Einige der Edelweißpiraten haben, erst sechzehn- oder siebzehnjährig, ihre Einstellung mit dem Leben bezahlt. Sie wurden hingerichtet. Piehl wurde auch gefasst und in die berüchtigte Dortmunder Steinwache gesteckt, in der vor ihm, in den Dreißiger Jahren, auch Paul Polte gesessen hatte. Piehl wurde schwer misshandelt, wovon die tiefen Narben in seinem Gesicht zeugten. Er hat über diese Misshandlungen nicht reden können, weder mit seiner Frau noch mit seiner Tochter Gabriele, die eine Schulfreundin von mir war. Er hat sich hingesetzt und aufgeschrieben, was ihm angetan worden war. Irgendwann hat ihn seine Tochter darauf angesprochen. „Ist das eine Biographie, die du da schreibst?“ Kurt Piehl hat nur genickt.

Über den Dortmunder Geschichtsprofessor Hans Müller kam das Manuskript zu Horst Hensel, der für Piehl einen Verlag besorgte, Brandes & Aspel. Dort sind noch zwei weitere Bücher erschienen, die das Schicksal der Edelweißpiraten nach dem Krieg schilderten. Jener brutale Quäler, der Piehl misshandelt hatte, ist später nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen worden, ein Vorgang, der Piehl verbittert hat. Piehl war Arbeiter in einem Baugeschäft und aktiv in der IG Bau, Steine, Erden, die seine Publikationen gefördert hat.

Wie Rudolf Trinks war er ein stiller Kollege, der selten das Wort ergriff, der die VS-Bezirksgruppe aber einmal zu einer Führung durch die Steinwache einlud und uns dort anschaulich erzählte, wie die Gefangenen unter den Nazis misshandelt wurden.

1994 folgte er seiner Tochter nach Schleswig-Holstein, zog in die Nähe von Lübeck, wo er im Jahre 2000 gestorben ist.

Eine meiner Kolleginnen am Städtischen Gymnasium Bergkamen hat im Rahmen einer Projektwoche sein Leben und seine Literatur aufarbeiten lassen. So gab es noch mal einiges an Aufsehen, Zeitungsartikel erschienen und Piehls Bücher wurden wenigstens von einigen wieder gekauft.

Jahre später hat auch die Stadt auf ihn und seine Literatur reagiert und eine kleine Straße nach ihm benannt. Zur Eröffnung der „Kurt-Piehl-Straße“ durch den Bürgermeister bin ich eingeladen worden und habe bei dieser Gelegenheit Kurt Piehls Tochter, meine frühere Schulfreundin Gabriele, nach mehr als vierzig Jahren wiedergesehen.

Die Straße liegt in unmittelbarer Nähe zum KZ in Bergkamen. Dort, im Oberlinhaus, das heute von der freikirchlichen Gemeinde genutzt wird, sind 1933 für ein Jahr über tausend politische Häftlinge von den Nazis eingesperrt und misshandelt worden. Auch ein Peuckmann war darunter, wie ich mal in einer Liste entdeckt habe. An die Nazis erinnert nur eine Gedenktafel, die den Abscheu der Bergkamener vor den verbrecherischen Taten ausdrückt. An Kurt Piehl, ihren jugendlichen Gegner, aber erinnert eine ganze Straße.




„Ich träume davon, dass die Sache gut ausgeht“ – zum 25. Todestag des Publizisten Walter Dirks

Walter Dirks, geboren 1901 in Hörde (seit 1928 Stadtteil von Dortmund), ist vor 25 Jahren, am 30. Mai 1991, in Wittnau bei Freiburg gestorben. Er war ein Querdenker, ein wichtiger Publizist der zweiten Hälfte des vergangen Jahrhunderts. Er verzagte nicht, obwohl seine Utopien als „christlicher Sozialist“, der nach 1945 die hessische CDU mitgründete, nie eine Chance hatten, verwirklicht zu werden.
Unserem Gastautor Horst Delkus gab Walter Dirks, der spätere Ehrenbürger der Stadt Dortmund, am 13. Marz 1988 eines seiner letzten Interviews. Wir veröffentlichen es hier in Auszügen:

Die gesammelten Schriften von Walter Dirks sind im Zürcher Ammann Verlag erschienen. (Bild: Ammann Verlag/ZVAB)

Die gesammelten Schriften von Walter Dirks sind im Zürcher Ammann Verlag erschienen. (Bild: Ammann Verlag/ZVAB)

Herr Dirks, Sie sind jetzt 87 Jahre alt. Was ist Ihre vorherrschende Gemütsbewegung?

Ich muss leider gestehen, dass meine Grundempfindlichkeit Dank ist. Das ist sehr schwer zu verantworten vor den vielen Opfern der Geschichte, vor den vielen Leidenden in aller Welt und vor den ungelösten Problemen. Ich müsste also eigentlich entweder resigniert oder verzweifelt sein. Aber ich habe so viel Gutes erfahren in meinem Leben, von Menschen und vom lieben Gott, dass ich bekennen muss, dass das Grundgefühl Dankbarkeit ist.

Woher rührt dieses Grundgefühl?

Aus den guten Erfahrungen, die ich mit dem Leben gemacht habe. Trotz der großen Schwierigkeiten, die es manchmal gab. Ich habe einen großartigen Start gehabt durch meine Eltern und meinen Großvater. Ich habe einen etwas komplizierten Jugendweg gemacht, aber das ging dann durch die Jugendbewegung gut aus, diese kritische Jugendzeit. Und ich habe beruflich Erfolg gehabt und niemals ernsthafte Schwierigkeiten.
Ein Sonderkapitel ist das Dritte Reich. Das war natürlich eine sehr schwierige Zeit, aber sie ist ja überwunden worden. Ich kann da nicht gegen an, gegen diese Dankbarkeit. Sie überfällt mich stufenweise. Dazwischen habe ich auch Perioden, in denen ich auch deprimiert bin.

Wie sah ihr Lebensweg aus?

Zunächst die Kindheit in Hörde selbst. Mein Großvater war ein „Bauerndemokrat“, ein Bäcker-Bauernsohn, der uns beibringen wollte, dass der 1868 Krieg zwischen Österreich und Preußen falsch verlaufen sei, weil leider nicht die Österreicher gewonnen hätten sondern die militaristischen Preußen in Berlin. Meine Mutter war eine Sozialarbeiterin, eine der ersten Fürsorgerinnen der Stadt Dortmund. Sie hat mich sehr in die sozialen und sozialpolitischen Aspekte des Lebens eingeführt und mich auch in Verbindung gebracht mit der Arbeiterschaft in Hörde. Das hat mich mein ganzes Leben lang geprägt.

Bildung gegen die Schule

Es war eine schöne Jugendzeit, obgleich die Penne eine Last für mich gewesen ist. Ich war dort auf dem Königlichen Gymnasium an der Lindemannstraße. Mein Schulfreund und ich haben uns eigentlich gegen die Schule gebildet. Das war auch eine großartige Erfahrung, dass wir in der Musik, in der Literatur unsere eigenen Wege gegangen sind. Die Schule war gleichsam so die Wand, gegen die wir unsere Bälle warfen. Wir fingen sie wieder auf und so kamen wir weiter.
Schwierig war es mit der Sexualmoral der römisch-katholischen Kirche. Die hat mich sehr geplagt. Und ich nehme an, dass die Tatsache, dass ich gestottert habe, mit diesem Problem zu tun hatte. Ich war ein sehr frommer Junge und wurde mit den Sexualproblemen nicht fertig. Das hat mich sehr irritiert.
Dann war die Jugendbewegung selbst für mich entscheidend. Die hat auch bewirkt, dass das Stottern aufhörte, dass ich ein anderes Lebensgefühl bekam. Die hat mich also aufgewühlt bis dort hinaus. Das war ja ein Umbruch, vor allem die antibürgerliche Komponente. Nach dem Krieg gab es auch eine katholische Jugendbewegung. Das war ein Reifungsprozess und ein großer Wandlungsprozess. Der hat mich auch in meinen Beruf geführt: Während ich vorher ein Stotterer war, wurde ich ein Journalist, das heisst, einer der sich einmischt, der mit seiner Rede und mit seinem Wort die Welt verändern will.
Mein erster Beitrag in dieser jugendlichen Presse hieß „Vom Westen“, um den Bayern und Hessen und den Schlesiern klar zu machen, dass wir im Ruhrgebiet ein anderes Lebensgefühl hatten als die Süddeutschen und die Ostdeutschen, durch die Industrielandschaft und das, was sie uns zumutete.

„Grüne vor den Grünen“

Gab es damals eine Aufbruchstimmung?

Unbedingt! Schon dass sich die Jugendbewegung entschieden als Bewegung verstand und nicht als Organisation. In gewisser Hinsicht sind wir sozusagen Grüne vor den Grünen gewesen. Das fing ganz bescheiden an, dass wir eben auf Wanderungen sorgfältig unser Butterbrotpapier versteckten im Waldboden, um den Wald nicht zu entweihen. Dann eben die Naturnähe zu den Pflanzen und zu den Tieren. Sodann eine Verhalten, das auf Änderungen zielt, auf Reformen. Eine Orientierung weniger auf die Vergangenheit als auf die Zukunft.
Wir waren geneigt, den Kapitalismus sehr gründlich zu kritisieren. Und wir dachten schon damals in Richtung auf einen freien Sozialismus, einen demokratischen Sozialismus, auf eine Überwindung des Klassenkampfes durch eine radikale Reform der Gesellschaft. Und der Gedanke des Friedens hat uns sehr beschäftigt. Es ging ja auch damals darum, den Ersten Weltkrieg zu „verdauen“.

Die Endlichkeit der Nazizeit

Wie haben Sie als Journalist in der Nazizeit mit Anstand überwintern können?

Ich war überzeugt, dass das Regime zwar einige Zeit dauern würde, aber dass es sich nicht auf Dauer halten könne. Das hatte drei Ursachen. Einmal das Stück Naturrecht: Der liebe Gott hat die Menschen nicht zu Katastrophen bestimmt. Die menschliche Natur ist nicht so, dass sie so eine verrückte Diktatur so auf die Dauer aushält. Das war zweitens mein christlicher Glaube an den Heiligen Geist, der die Menschheit auch nicht endgültig verlassen werde und drittens das, was ich vom Marxismus gelernt habe, dessen Geschichtstheorien, dessen politische Theorie. Diese Dinge haben sich sehr verbündet miteinander und deswegen war ich immer sicher, dass es zu Ende gehen würde.
Gerade diese Haltung hat mir auch eine gewisse Bewegungsfreiheit gegeben, denn es würde ja zu Ende gehen. Deswegen war meine Formel, wir müssen versuchen mit Anstand zu überleben. Das ist mir in weitgehendem Maße, aber doch nicht völlig gelungen. Ich meine, dass es meine Aufgabe wäre, auch meine Fehler und meine Schwächen von damals aufzudecken. Es gehört sich, dass man die Karten auf den Tisch legt.
Da ist auf der einen Seite die Periode bei der „Frankfurter Zeitung“. Die glaube ich rechtfertigen zu können. Die Nazis verlangten nicht von uns, dass wir Nazis waren. Aber riskiert haben wir im Feuilleton auch nicht allzu viel. Als die Zeitung geschlossen wurde, gehörte ich zu den elf Leuten, die Berufsverbot bekamen, während die anderen an andere Zeitungen vermittelt wurden.

Journalismus ist im Kern Kritik

Zurückblicken können Sie auf eine jahrzehntelange journalistische Tätigkeit. Wie würden Sie Ihr journalistisches Selbstverständnis beschreiben?

Ich hab dafür einmal eine Formel gefunden: Das Geld der Macht, der Reiz der Macht, der Erfolg der Macht, die Macht der Macht u n d `ne gute Presse – das ist zu viel verlangt. Der Kern des Journalismus ist für meinen Begriff „Kritik“. Kritik an der ersten, zweiten und dritten Gewalt. Vielleicht noch mit einem anderen zusammen: „Vermittlung“. Das dämpft ein wenig die Einseitigkeit der Kritik. Diese zweite Funktion erscheint mir, darin zu bestehen, dass sie dem Publikum, dem einzelnen Menschen, dem Staatsbürger helfen soll, unabhängig machen soll von dem Fachmann, sie schützen soll vor der Übermacht der Experten.
Journalisten sind Vermittler zwischen der Wissenschaft, zwischen dem, was auf anderen Gebieten Experten sagen und dem kleinen Mann. Das ist so eine produktive Funktion neben der kritischen, wobei es natürlich eine Arbeitsteilung geben kann: Der eine Journalist hat mehr die eine Funktion auf sich genommen, der andere die andere.

Sie haben viele Niederlagen erlebt. Warum hat sie das nicht völlig entmutigt?

Wir sind mehrere Male gescheitert: 1933, 1945, mit der Währungsreform, wir haben Adenauer nicht verhindern können. Die Versuchung ist, dann zu sagen: Es war alles für die Katz! Das bringe ich aber nicht fertig, dieser Versuchung Raum zu geben. Ich habe immer mit dem Bösen und den negativen Möglichkeiten gerechnet. Das hab ich aber in der Schule schon gelernt, dass man kämpfen muss für das Gute gegen das Böse. Ein elementare Grundmoral. Und die möchte ich durchhalten bis zum Schluss. Optimismus hat eine Menge von Gefahren in sich: Gleichgültigkeit, Tatenlosigkeit, falsche Zufriedenheit und so weiter. Aber ich bin einer, der auf die gute Karte setzt. Und dabei möchte ich bleiben. Ich träume davon, dass die Sache gut ausgeht!




„Nichts als gegeben hinnehmen“ – Der Schriftsteller Max von der Grün wäre jetzt 90

Unser Gastautor Horst Delkus aus Kamen (u. a. Ex-Wirtschaftsförderer von Unna, Bildhauer und Historiker) erinnert an den Schriftsteller Max von der Grün, der vor 90 Jahren geboren wurde und 2005 in Dortmund gestorben ist:

Er war ein Zugereister. Wie viele im Ruhrgebiet. Auch hat er im Bergbau gearbeitet, auf Zeche Königsborn in Kamen. Dann wurde er als freier Schriftsteller erfolgreich.

Er lebte in bescheidenen Reihenhäusern, erst in Kamen-Heeren, danach im äußersten Nordostzipfel von Dortmund, in Lanstrop. Im „alten Dorf“, in der Bremsstraße. Mit Kneipe um die Ecke, bei „Ötte“ in der „Alten Post“, wo sich heute ein Steakhouse befindet. Max von der Grün war in Lanstrop zuhause. „Leben im Ruhrgebiet“, schrieb er 1979 im „Spiegel“, „heißt für mich: Leben in einem Vorort.“ Soweit es seine Zeit zuließ, beteiligte er sich auch am kulturellen und gesellschaftlichen Leben in Lanstrop. Max von der Grün war ein Lanstroper, mit Abstand der berühmteste.

Der Schriftsteller Max von der Grün (© Pendragon Verlag/Jennifer von der Grün - https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AMax_von_der_Gr%C3%BCn.jpg - Lizenz:

Der Schriftsteller Max von der Grün (© Pendragon Verlag/Jennifer von der Grün – https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AMax_von_der_Gr%C3%BCn.jpg – Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Rund 30 Bücher hat er geschrieben, zunächst vor allem über die Arbeit unter Tage: „Männer in zweifacher Nacht“ (1962) erschienen zuerst im katholischen Paulus-Verlag. Über „Irrlicht und Feuer“ (1963) sagte der damalige Vorsitzende der Bergarbeitergewerkschaft – und spätere Bundesarbeitsminister – Walter Arendt, das Buch sei „gewerkschaftsfeindlich“ und gehöre „verbrannt“…

Max von der Grün schrieb Gastarbeiterportraits über das „Leben im gelobten Land“ (1975). Und natürlich das Kinder- und Jugendbuch „Vorstadtkrokodile“ (1976). In „Späte Liebe“ (1982) geht es um eine Liebesromanze zwischen zwei älteren Menschen. Ein literarisches Denkmal für seine Mutter.

Früh vor Rechtsradikalen gewarnt

Nicht zu vergessen die autobiografischen Texte, zum Beispiel „Wie war das eigentlich? – Kindheit und Jugend im Dritten Reich“ (1979). Das Buch endet mit Sätzen, die heute geschrieben sein könnten: „Leider gibt es diese Unbelehrbaren immer noch. Ich fürchte, sie haben sich nie informiert oder sie wollen sich nicht informieren lassen. Über alte und neue rechtsradikale und neofaschistische Kräfte liest man heute beinahe wieder jeden Tag in den Zeitungen. Viele nehmen das nicht so ernst, weil es, wie sie meinen, nur eine kleine verschwindende Minderheit sei. Aber Hitler hat auch nur mit sieben Leuten angefangen.“ In „Flächenbrand“ machte Max von der Grün schon 1979 die Bewaffnung der Rechtsradikalen zum Thema.

1988 erschien das Bändchen „Das Revier. Eine Liebeserklärung.“ Darin steht die vielleicht beste Kurzfassung der Geschichte des Ruhrgebietes: “Es kamen Männer, sie teuften einen Schacht ab. Später kamen wieder Männer und bauten nahe des Schachtes ein Hüttenwerk. Um beides zu betreiben, brauchte man Menschen. Die Menschen aber brauchten Wohnungen. So entstanden um Schacht und Hütte Häuser, die man Zechensiedlung oder Werkswohnung nannte, so entstanden die Vororte und Kleinstädte, die letztlich zu Großstädten wuchsen, später wiederum wuchsen die Großstädte zu einer einzig großen Stadt zusammen…“

Immer wieder flocht von der Grün Erlebnisse und Bebachtungen aus seinem Vorort Lanstrop ein. Zum Beispiel in den Erzählungen von „Friedrich und Friedrike“ (1983): „Hinter der Siedlung `Neue Heimat`, in der sie wohnten, lag ein See, der vor mehr als zwanzig Jahren, als unter Tage noch Kohle abgebaut wurde, durch Bodensenkung entstanden war. Er war nicht allzu tief, aber so groß, daß im Winter, wenn der See zugefroren war, mehr als tausend Leute auf dem Eis Schlittschuh laufen konnten, ohne sich gegenseitig zu behindern. Der See war fischreich, ein Fischerverein pflegte und hegte ihn und setzte, wenn nötig, neue Brut aus: Forellen, Barsche und Aale.“

Max von der Grüns Werke wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Allein in Deutschland erreichten seine Bücher eine Gesamtauflage von über 4 Millionen Exemplaren. Elf seiner Werke wurden erfolgreich von ARD und ZDF verfilmt.

Gegen jede Korruption

Die Protagonisten seiner Romane und Erzählungen waren – wie er selbst – Moralisten, Menschen mit einem aufrechten Gang. Korruption und Kumpanei von Gewerkschaft und Sozialdemokratischer Partei sind dort ebenso Thema wie Schilderungen des Lebens als Arbeitsloser in Zeiten, als noch niemand Hartz IV kannte. Max von der Grün beschrieb das Leben der Erniedrigten und Beleidigten, der vielzitierten „kleinen Leute“. Bedenkenswert sein Ausspruch: „Es gibt nicht nur den lesenden Arbeiter sondern auch den nicht-lesenden Akademiker“. Von der Grüns Motto lautete: „Nichts als gegeben hinnehmen.“

Geboren wurde Max von der Grün vor 90 Jahren, am 25. Mai 1926, als Sohn eines Schuhmachers in Bayreuth. Nach seinem Schulbesuch, einer kaufmännischen Lehre und drei Jahren in amerikanischer Kriegsgefangenschaft zog er 1951, weil arbeitslos, ins Ruhrgebiet. Von 1951 bis 1964 arbeitete er bis zu seinem Rausschmiss als Bergmann auf Zeche Königsborn II/V in Kamen-Heeren.

Er starb am 7. April 2005 im Alter von 78 Jahren an einer Herzerkrankung, an der er schon länger litt. Zu seiner Trauerfeier in der Friedenskirche kam so viel Prominenz nach Lanstrop wie nie zuvor. Auf seinen Wunsch erklang „I did it my way“ von Frank Sinatra.

Dortmunder Platz trägt seinen Namen

Der Verfasser dieser Zeilen regte 2006 an, die Lanstroper Straße in Dortmund-Lanstrop – eine Durchgangsstraße – in „Max-von-der-Grün-Straße“ umzubenennen. Begründung: „Der Schriftsteller Max von der Grün (1926 – 2005) zählt zu den bedeutendsten Bürgern der Stadt Dortmund, des Stadtbezirks Scharnhorst und vor allem des Stadtteils Lanstrop. Mit der Umbenennung der Lanstroper Straße in ,Max-von-der-Grün-Straße‘ wird nicht nur ein bedeutender Schriftsteller, Humanist und Aufklärer geehrt, sondern auch der Stadtteil Lanstrop und der Stadtbezirk Scharnhorst nachhaltig aufgewertet.“

Die Bezirksvertretung Scharnhorst (mit satter SPD-Mehrheit) lehnte dies am 5. Dezember 2006 ab – mit der Begründung, man solle lieber „eine Straße mit überörtlichem Charakter oder einen Platz im Zentrum der Stadt“ nach ihm benennen. Der Vorgang wurde an den Rat der Stadt Dortmund verwiesen. Wie zu erwarten, passierte erst einmal nichts. Fünf lange Jahre.

Nach kontroverser Diskussion um einen geeigneten Ort beschloss die Bezirksvertretung Innenstadt-West dann im November 2011, den „Platz“ zwischen Dortmunder Hauptbahnhof und Katharinentreppe – an dem die Stadt- und Landesbibliothek steht und wo sich vor vielen Jahren noch ein Teich befand – Max-von-der-Grün-Platz zu nennen. Das Straßenschild wurde am 20. Dezember 2011 von Jennifer von der Grün, der Witwe des Schriftstellers, enthüllt. Ein Denkmal für Max von der Grün war ebenfalls versprochen und angekündigt. Es steht dort bis heute nicht.




Weltweit für verfolgte Autoren eintreten – zur Jahrestagung der deutschen PEN-Schriftsteller

Als Gastautor berichtet der Dortmunder Schriftsteller Heinrich Peuckmann von der PEN-Jahrestagung in Bamberg – und gibt einen Ausblick auf die nächste Zusammenkunft der Schriftstellervereinigung, die 2017 in Dortmund stattfinden wird. Heinrich Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN.

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Die Ressourcen werden knapper, die Verteilungskämpfe härter, die sozialen Konflikte spitzen sich zu. Regierungen, besonders Diktaturen, denen dazu keine oder nur unzureichende Lösungen einfallen, haben immerhin noch die Möglichkeit, ihre Kritiker zu verfolgen. Und das tun sie.

Über 800 Autoren, Journalisten und zunehmend auch Blogger stehen im Moment auf der Case-List des internationalen PEN, weil sie in ihren Heimatländern im Gefängnis sitzen, gefoltert werden oder sogar mit dem Tode bedroht sind.

Bedrohliche Lage in der Türkei

Im Schatten dieser beängstigenden Zahl fand die Jahrestagung des PEN in der Weltkulturerbe-Stadt Bamberg statt. Das Motto der Tagung, von Jean Paul entliehen, bekräftigte den Kampfeswillen der gut 150 Autoren, die nach ihrer Charta der Freiheit des Wortes verpflichtet sind und den bedrückenden Zustand nicht hinnehmen wollen: „Eine Demokratie ohne ein paar hundert Widersprechkünstler ist undenkbar.“

Hauptschauplatz der nächsten PEN-Tagung im April 2017: das "Dortmunder U" - hier im Hintergrund. (Foto: Bernd Berke)

Hauptschauplatz der nächsten PEN-Tagung im April 2017: das „Dortmunder U“ – hier im Hintergrund. (Foto: Bernd Berke)

Begleitet werden die Sitzungstage des PEN stets von einem literarischen und politischen Begleitprogeramm. Die Eingangsveranstaltung beschäftigte sich diesmal mit der Verfolgung der türkischen Journalisten Can Dündar und Erdem Gül, die veröffentlicht hatten, dass der türkische Geheimdienst Waffen nach Syrien, und dabei womöglich an den IS, geschmuggelt haben soll. Der deutsche PEN hatte die beiden schon vor dem Treffen zu seinen Ehrenmitgliedern ernannt, so dass Strafen gegen sie nun auch Strafen gegen Mitglieder des PEN sind.

Unter der Moderation des Rundfunkredakteurs und Autors Harro Zimmermann diskutierten der „Writers-in-Prison-Beauftragte“ und Vizepräsident Sascha Feuchert und der inzwischen aus der Türkei ausgewiesenen Spiegel-Redakteur Hasnain Kazim ausführlich die bedrückende Situation für kritische Journalisten und Schriftsteller in der Türkei.

Gegen den Blasphemie-Paragraphen

In einer anderen Veranstaltung mit dem Titel „Befreit Gott von den Gläubigen“ diskutierten u.a. der Bundesrichter und Spiegel-Kolumnist Thomas Fischer und der Philosoph Christoph Türcke über den §166 zur Blasphemie, dessen Abschaffung am Ende der Veranstaltung von allen Beteiligten gefordert wurde. Fischer führte stringent aus, dass §130 (Volksverhetzung) ausreiche, um die Störung der öffentlichen Ordnung durch Beleidigung und Herabsetzung auch der Religion zu bestrafen.

Der deutsche PEN ist der einzige von insgesamt 130 PEN-Clubs in aller Welt, der ein eigenes „Writers-in-Exile“-Programm hat. Acht verfolgte Autoren leben als Stipendiaten derzeit in seinen Wohnungen in verschiedenen deutschen Städten. Nach Gefängnis, Verfolgung, Todesdrohung können sie hier zwei Jahre Ruhe finden und wieder schreiben. Diese Stipendiaten sind natürlich auch Gäste bei den Jahrestagungen und werden stets dem Plenum vorgestellt.

Natürlich spielt auch die Literatur eine Rolle, und hier gibt es seit drei Jahren den schönen Programmpunkt, dass die neuen Mitglieder, die bei der vorangegangen Jahrestagung neu in den PEN gewählt wurden, sich mit einer Kurzlesung vorstellen. Diesmal waren bekannte Autoren und Kritiker wie Antje Ràvic Strubel, Sigrid Löffler oder Anne Mehlhorn darunter.

88 vorwiegend jüngere Autoren kommen hinzu

Die Neuwahlen waren in diesem Jahr ein Knackpunkt, denn das Präsidium hatte im Vorfeld festgestellt, dass von den jungen Autoren, die sich im Literaturbetrieb längst einen Namen gemacht haben, viel zu wenige Mitglieder im PEN sind. So hat denn das Präsidium selbst, was absolut ungewöhnlich ist und nur einmal vor vielen Jahren, als Heinrich Böll noch PEN-Präsident war, vorgekommen war, eine umfangreiche Liste mit achtundachtzig Autoren vorgelegt, die dann tatsächlich alle gewählt wurden. Man wollte eine Lücke schließen und einer Überalterung vorbeugen, unter der viele Verbände (nicht nur im Kulturbereich) leiden. Autorinnen und Autoren wie Albert Ostermaier, Jenny Erpenbeck, Gabriele Krone-Schmalz, aber auch der Dortmunder Jörg Albrecht sind darunter.

Vorfreude auf Dortmund

Daraus ergibt sich sich nun für die Jahrestagung 2017 die Notwenigkeit einer langen Literaturnacht mit Parallellesungen an verschiedenen Plätzen, um diese schöne Einrichtung beibehalten zu können. Diese nächste PEN-Jahrestagung wird von 27. bis 30. April 2017 in Dortmund stattfinden, weshalb Kulturdezernent Jörg Stüdemann nach Bamberg gekommen war, um die Stadt in einem ebenso launigen wie informativen Vortrag vorzustellen. Nach diesem Vortrag gab es viel Zustimmung, die PEN-Autoren freuen sich auf Dortmund. Haupttagungsort wird das Dortmunder „U“ sein, aber es werden auch Veranstaltungen im Depot im Dortmunder Norden und im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte stattfinden.

Dabei soll die literarische Tradition dieser Stadt aufgegriffen werden. Die „Dortmunder Gruppe 61“ mit Autoren wie Max von der Grün, Günter Wallraff oder Josef Reding wurde hier gegründet und beschäftigte sich mit dem Thema Arbeitswelt zu einer Zeit, als es in der übrigen Literatur so gut wie gar nicht auftauchte. Später wurde dieser Schwerpunkt vom „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“, der viele Jahre im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus tagte, fortgesetzt.

Neuer Blick auf soziale Konflikte

Dass es längst wieder Zeit ist, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen, zeigen die vielen sozialen Konflikte im Land. Zu diesem Punkt gab es ein großes Einvernehmen unter den PEN-Autoren, denn viele finden, dass es längst Zeit ist, sich wieder neu diesem Thema zuzuwenden.

Das Motto der Dortmunder Tagung, zu der auch NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ihr Kommen zugesagt hat, geht natürlich auf einen Dortmunder Autor zurück. Peter Rühmkorf wurde in dieser Stadt geboren und er äußerte zum politischen Engagement eines Autors „Bleib erschütterbar und widersteh.“ Fast so etwas wie ein Dauerauftrag an den PEN.

Die Dortmunder Jahrestagung soll durch verschiedene Veranstaltungen vorbereitet werden, damit das Anliegen schon vor dem Kommen der vielen Autoren den Kulturinteressierten der Stadt bekannt ist. Beispiel: Der kolumbianische Stipendiat Erik Allena Bautista, ein Filmemacher und Lyriker, soll im Herbst seine Arbeiten im Literaturhaus vorstellen. Seine Mutter wurde in Kolumbien getötet, er selber wurde nach kritischen Filmen über die Mafia gesucht. Nun lebt er als Writer-in-Exile in Hamburg. Dazu soll es eine Lesung mit einem prominenten PEN-Autor geben.




Lebenspralle Literatur: Anton Kalt und der „Hasenkuckuck“ aus Dortmund-Aplerbeck

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen lesenswerten, heute aber nahezu unbekannten Schriftsteller aus dem 1929 nach Dortmund eingemeindeten Aplerbeck:

Mitte der 1970er gab es in Unna eine denkwürdige Lesung aus dem wohl besten Buch, das der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ in seiner damals stark beachteten Fischer-Taschenbuchreihe jemals herausgegeben hat. „Der rote Großvater erzählt“ hieß dieses Buch und vereinigte Geschichten von Siegen und Niederlagen der Arbeiterbewegung, dargestellt an Einzelschicksalen.

Gleich drei Autoren dieses Bandes lasen ihre Geschichte in Unna vor. Da war zuerst Bruno Gluchowski, wichtiger Autor der „Dortmunder Gruppe 61“ und dem Werkkreis freundschaftlich verbunden, dessen Romane „Blutiger Stahl“ und „Der Honigkotten“ nicht eigens empfohlen werden müssten, wenn im Literaturbetrieb Bücher über die Arbeitswelt nur ein wenig Beachtung fänden.

GroßvatGluchowski las seine Geschichte „Der Fliederbusch bleibt rot“, in der sich 1932 eine Arbeitersiedlung in Dortmund erfolgreich gegen eine Demonstration der Nazis zur Wehr setzte. Möglich war der Erfolg durch die Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten. Weil sie aber lokal begrenzt blieb und vor allem nicht für die Vorstände beider Parteien in Berlin galt, siegten die Nazis 1933 dann doch. Brutal haben sie sich im Dortmunder Fliederbusch an den Wortführern des Widerstands für ihre Niederlage ein Jahr vorher gerächt.

Der zweite war Paul Polte, der seinen Text über die Zusammenarbeit mit dem Brecht-Freund Hans Tombrock und seinem Widerstand gegen die Nazis vorlas.

Der dritte war Anton Kalt.

Bei diesem Namen wird auch ein Kenner der westfälischen Literatur stutzen. Anton Kalt, wer ist das denn? Er war ein Autor, der zwei Bücher geschrieben hat, von denen leider nur eines veröffentlicht wurde. Zusätzlich hat er Agitprop-Stücke für sein eigenes Kaspertheater und für Arbeiter-Varietés geschrieben, vor allem aber war Anton Kalt ein unglaublich beeindruckender Mensch, den niemand, der ihn je gekannt hat, vergessen wird.

Als Meldereiter bei der Roten Ruhrarmee

Anton Kalt las seinen Text vor, in dem er seine Beteiligung als Meldereiter bei der „Roten Ruhrarmee“ schilderte. 1920 hatten reaktionäre Kräfte gegen die junge Weimarer Republik geputscht. Kapp-Lüttwitz-Putsch heißt er nach seinen beiden treibenden Kräften, dem Bankdirektor Kapp und dem Befehlshaber von Ost- und Mitteldeutschland, General von Lüttwitz. Und weil den Arbeitern sofort klar war, dass das Ziel dieses Putsches die Abschaffung der sozialen Errungenschaften der jungen Republik war, kam es zum Generalstreik, der den Kapp-Lüttwitz-Putsch nach wenigen Tagen zu Fall brachte.

hasenkuIm Ruhrgebiet genügte den Arbeitern der Generalstreik nicht, sie bewaffneten sich und gingen mit Gewalt gegen die Putschtruppen vor. Hans Kalt, Antons Bruder, befehligte eine Abteilung der Roten Ruhrarmee, die bei Schwerte und Wetter gegen die Putschtruppen Lichtschlag kämpften. Durch Aplerbeck wollten die Lichtschlag-Truppen nach Wetter ziehen, um dort andere in Bedrängnis geratene Putschtruppen zu Hilfe zu eilen. Hans Kalts Abteilung schnitt ihnen den Weg ab, die Lichtschlag-Truppe musste zurückweichen, biwakierte in der Nähe der Heilanstalt und wurde dort endgültig besiegt. Über 200 Gefangene machte die Rote Ruhrarmee in Aplerbeck.

Die Kalt-Brüder waren Mitglieder in der KPD, sie waren darin ihrem Vater gefolgt, der 1919, enttäuscht von der Kaisertreue der SPD im 1. Weltkrieg, die Aplerbecker Ortsgruppe der KPD gegründet hatte. Kein Wunder, dass sie sich sofort der „Roten Ruhrarmee“ anschlossen.

Anton sorgte als Meldereiter für die Verbindung zwischen den Truppenteilen. Sein Pferd stammte übrigens aus den beschlagnahmten Beständen der Lichtschlag-Truppen, was in einer Episode noch mal eine Rolle spielen sollte. Als der Putsch gescheitert war, kam es zum Bielefelder Abkommen, nach dem die Arbeiter ihre Waffen abgeben sollten. Die besiegten Putschtruppen selbst aber hielten sich nicht an den Frieden, sondern begannen, ihre jetzt unbewaffneten Gegner gnadenlos zu verfolgen. Den Kalt-Brüdern blieb nichts anderes übrig, als unterzutauchen. Anton konnte relativ schnell zurückkommen, Hans Kalt musste sich zwei Jahre lang in Hessen verstecken.

Danach begann die Zeit, in der die Kalt-Brüder sich in der kommunistischen Kulturbewegung engagierten. Hans gründete eine Kabarett-Gruppe, die in ihren Programmen genau die Parteilinie vertrat, während sein Freund Paul Polte zeitgleich in seiner Gruppe „Henkelmann“ eine offenere Linie verfolgte. Anton spielte bei KPD-Festen Geige oder Gitarre und trat mit eigenen Kasperletheater-Programmen auf. Ernst Thälmann, KPD-Vorsitzender und Freund der beiden, hatte sie darin bestärkt, auf diese Weise die Parteiarbeit zu unterstützen.

Gestapo-Haft in der Steinwache

Nach der Machtwergreifung der Nazis sind sie in die berüchtigte Dortmunder Steinwache der Gestapo gebracht worden, die – am Nordausgang des Bahnhofs gelegen – heute eine Gedenkstätte ist und wo sie (auch dies unausweichlich) auf den einsitzenden Paul Polte trafen.

Aber während Polte nach einer Amnestie früh frei kam, wurden die Kalt-Brüder ins KZ Esterwege verschleppt. Sie überlebten es, kamen am Ende des Krieges nach Hause und jetzt war es Anton Kalt, der sein Heimatstädtchen Aplerbeck vor der Zerstörung rettete. Er kletterte auf das Kirchdach und hängte dort oben eine weiße Fahne auf, dann radelte er zur amerikanischen Kommandantur nach Sölde und brachte es fertig, dass nicht mehr auf Aplerbeck geschossen wurde. Sechs Wochen lang war er danach Bürgermeister von Aplerbeck, dann kamen die Engländer und setzten den Kommunisten ab.

Es war eine runde Geschichte, die Anton Kalt da vorlas und in der er, trotz Verfolgung und Lebensgefahr, immer auch die komischen Aspekte seiner Erlebnisse sah und betonte. Zum Schrecken über die Erlebnisse kam bei seinen Zuhörern deshalb immer gleich die Erleichterung durch Lachen. Typisch für ihn.

Schrecken und Komik nah beieinander

Nach dem Krieg wurde der frühere Bergmann Anton Kalt als Retter von Aplerbeck in die Dortmunder Stadtverwaltung aufgenommen. 20 Jahre lang war er Leiter des Fuhrparks, und als ihn nach dem KPD-Verbot 1956 sein Chef, Dortmunds Oberstadtdirektor Hansmann, ansprach, ob er nicht in die SPD eintreten wolle, er sei doch schließlich genauso wie sein Bruder ein politischer Mensch, da lehnte Anton Kalt höflich ab. Nein, er wollte seiner Gesinnung treu bleiben, sagte er, worauf Hansmann antwortete: „Jüngsken, hättest du was anderes gesagt, wärst du bei mir unten durch gewesen. Oder soll sich dein ehrlicher Vater im Grab rumdrehn?“

1962 erschien sein einziges Buch, „Hasenkuckuck“, in der Krügerschen Verlagsbuchhandlung. Inzwischen gibt es beide Krügerabteilungen nicht mehr, den kleinen Dortmunder Verlag und die große Buchhandlung, so dass Kalts Buch nicht mehr zu haben ist und – noch schlimmer – auch wenig Aussichten hat, noch einmal irgendwo aufgelegt zu werden. Verdient hätte es das Buch auf jeden Fall, denn es schildert, mit deutlich autobiographischen Zügen, das Leben eines Aplerbecker Bergmanns, der als Kleinkind zwei Tiere nicht unterscheiden kann und deshalb immer vom „Hasenkuckuck“ redet, worauf er denn auch sein Spitznamen hat.

Der Reiz des Buches, das mit einem Vorwort von Paul Polte erschien, liegt aber weniger im Thema als vielmehr in der derb-komischen Art, in der es erzählt wird. Es enthält bei der Gestaltung von Hasenkuckucks Lebenslauf herrlich komische, deftige Anekdoten und das alles, ohne die Realität des Lebens zu verschweigen.

„Ick sall grüßen…und hei wör daut“

Bei Hasenkuckucks Geburt zum Beispiel ist sein Vater schon sechs Wochen tot, verunglückt auf der Zeche. Die Betroffenheit beim Leser wird aber gleich durch die hilflos-komische Art ergänzt, wie Arbeitskollege Ernst Sauerbein der hochschwangeren Witwe diese Nachricht, nach quälenden Überlegungen während des Weges, mitteilt: „Guden Morgen, ick sall ink grüßen van inke Mann und hei wör daut.“ Man kann gar nicht anders als trotz der traurigen Situation zu lachen.

Das nächste Kapitel, Hasenkuckucks Taufe, ist ein wahres Kabinettstückchen komischer Literatur. Pfarrer Rübbert redet mit dem nörgeligen Nachbarn Bilstein zu, dass die Taufe würdig in dessen großem Wohnzimmer stattfindet muss, nicht in der dunklen Kate von Hasenkuckucks Mutter. Da Bilstein sowieso als Pate vorgesehen ist, stimmt er zu. Alles könnte gut gehen, wenn Pfarrer Rübbert nicht einen verwöhnten Hund namens Blemy hätte, vom Pfarrer stets „Blemchen“ gerufen, einen Verwandten von Bilsteins Hofhund Hektor, der nun wirklich den Namen Hund verdient. Was an Blemchen Fett und faules Fleisch ist, sind an Hektor Muskeln und Sehnen.

Klar, dass nicht nur Bilstein den Hund des Pfarrers ablehnt, auch für Hektor ist er der Todfeind. Nun bringt Rübbert ausgerechnet sein Blemchen mit zur Taufe und während draußen Hektor tobt, weil er seinen Todfeind natürlich gerochen hat, sieht auch Bilstein mit immer größer werdendem Ärger, wie der Pfarrer seinem Blemchen ein Tortenstückchen nach dem anderen reicht. Während alle um die drei herum fröhlich und ausgelassen sind, während Opa Heinken in gewohnter Routine dem Schnaps zuspricht und seine Anekdoten erzählt, steigert sich Bilstein Ärger zur Wut.

Als Blemchen schließlich, völlig übersättigt, das letzte Tortenstückchen auch noch liegen lässt, weil nun wirklich nichts mehr in ihn hineingeht, ist es Bilstein endgültig zu viel und das Unglück passiert. Gerade in dem Moment, als der Pfarrer zur Taufhandlung ansetzt, jagt Hektor ins Zimmer, beißt seinem Todfeind ein halbes Ohr ab, Blemchen jagt entsetzt davon, in voller Hektik geht die Jagd durch die Zimmer, während die Gäste kreischend auf die Stühle springen. Opa Heinken möchte mit dem Kartoffelstampfer die beiden Hunde trennen, aber da sein Schlag daneben geht, trifft er nur die alte Kaffeetasse, die daraufhin in tausend Stücke zerspringt.

Das große Durcheinander

Alles ist am Ende durcheinander, Opa Heinken zweiter Schlag geht nämlich wieder daneben und richtet noch mehr Schaden an, Blemchen sieht inzwischen wie gerupft aus, da weiß sich der ängstliche Pfarrer, besorgt um das Leben seines geliebten Blemchen, nicht anders zu helfen als das Ofenrohr aus der Wand zu ziehen und damit zuzuschlagen. Natürlich ergießt sich eine Wolke Ruß ins Wohnzimmer, natürlich verbrennt sich der Pfarrer bei seiner Rettungsaktion die Finger, aber endlich lässt Hektor von Blemchen ab. Nur zwei behalten in all der Hektik die Ruhe, Nachbar Bilstein und Hasenkuckuck. Der eine stellt befriedigt fest, dass der Pfarrer bestimmt nie wieder mit seinem Hund zu einer Taufe kommen wird und der andere schläft tief und fest in seinem Bettchen.

Erst drei Tage später findet in der Kirche die Taufe statt und der Erzähler stellt mit lakonischem Tonfall fest, dass sich an Hasenkuckucks Taufwasser der Pfarrer seine verbrannten Finger gekühlt hat.

Ein anderes Kapitel erzählt die Schlittenfahrt am „Freischütz“, jener Gastwirtschaft, die es bis heute in der Nähe der Katholischen Akademie Schwerte gibt. Während Hasenkuckuck zusammen mit seinen Freunden die Straße Richtung Schwerte runtersaust, ist der alte Heinrich Bräker gerade mit seinem Pferde Baldur unterwegs. Baldur ist auch alt und wunderlich geworden, genauso wie sein Herrchen. Jedenfalls erschreckt Baldur sich vor jeder Maus, umso mehr natürlich vor dem merkwürdigen Gefährt, das da plötzlich, mit Hasenkuckuck an der Spitze, um die Ecke gesaust kommt. Entsetzt springt Baldur auf die Mitte der Straße und bleibt dort, dem Schlitten die Seite zuwendend, stehen.

Ein störrischer Gaul

Bräker versucht zu retten, was zu retten ist, aber sein störrischer Gaul hört auf niemanden mehr. Hasenkuckuck hat inzwischen gemerkt, dass es nur einen Weg gibt, die Katastrophe zu vermeiden, nämlich unter der Pferdebrücke hindurch zu steuern. Das tut er dann auch, reißt dabei Heinrich Bräker mit auf den Schlitten, während Baldur weiter stocksteif verharrt und kommt schließlich heile unten an, direkt vor Heinrich Bräkers Kneipe. Erst da stellen sie allerdings fest, dass es doch eine Verletzung gegeben hat, denn genau in jenem Moment, als Hasenkuckuck rief: „Achtung, Köppe einziehen!“, hat Christine Happe, hinten auf dem Schlitten sitzend und neugierig geworden, aufgeschaut. Und weil Baldur zwar alt, aber doch immer noch ein Hengst ist, hat sie nun einen blauen Streifen an der Stirn. Wenn doch die Neugier der Frauen nicht wäre, soll der Leser denken, andererseits, was wüssten sie sonst von der Männlichkeit?

Der Leser ahnt, nichts in „Hasenkuckuck“ ist völlig frei erfunden. Solche und ähnliche Geschichten haben Anton Kalts Leben immer begleitet. Sogar bei seiner Tätigkeit als Meldereiter war das so. Als er zu einem liegen gebliebenen Lastwagen mit Waffen reiten sollte, musste er ausgerechnet eine Kutsche überholen, die von einer rossigen Stute gezogen wurde. Es ging um die lebenswichtige Sicherung des Lastwagens, die darüber entschied, ob die Schlacht gegen die Lichtschlag-Truppen gewonnen wurde oder nicht, da bedrängte Anton Kalts Hengst die Stute. Immer wieder sprang er auf die Deichsel der Kutsche, Kalt konnte sich nur mit Mühe auf dem Hengst halten und erst als irgendwo in der Ferne ein Schuss ertönte, erinnerte sich der Gaul an seine militärischen Erziehung. Augenblicklich ließ er von Kutsche und Stute ab und der Lastwagen mitsamt Waffen konnte gesichert werden. Leben und Literatur, bei Anton gingen sie stets eine komische Verbindung ein.

Das zweite Buch ging verloren

Dazu passt, was Polte in seinem Vorwort über Antons Kalts Schreibprozess berichtet: „Das Gelächter, das mich oft beim Schreiben übermannt hat, war ein fröhliches Gelächter, aus dem Sinn und der Fülle dieser Landschaft geboren, es entsprang der vollen Lust am Komischen, das in der menschlichen Natur ganz nah beim Tragischen wohnt.“ Anton Kalt hat es Polte erzählt, und Polte hat es in seinem Vorwort aufgeschrieben und lakonisch hinzugefügt:
„Er muss es wissen. Ich weiß es auch.
Und wünsche auch euch davon einen Hauch.“

Der Bericht über Anton Kalts literarisches Schaffen muss trotzdem mit einem traurigen Faktum enden. Kalt hatte eine Fortsetzung von Hasenkuckuck geschrieben, aber weil die Krügersche Verlagsbuchhandlung schon damals aufgelöst war, hatte er keinen Verlag dafür gefunden. So blieb das Manuskript in der Schublade liegen und als Anton Kalt um 1980 herum starb, stellte seine Familie betroffen fest, dass es niemanden gab, der seine Handschrift entziffern konnte. Für einen Graphologen hatten sie kein Geld, so ist dieser Band leider verloren gegangen. Anton Kalt würde das einerseits traurig, aber irgendwie auch komisch finden.




100 Jahre Dada-Bewegung: Richard Huelsenbeck und der Dortmunder Anteil

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den Dichter Richard Huelsenbeck, einen eng mit Dortmund verbundenen Hauptakteur der Dada-Bewegung, die vor 100 Jahren entstanden ist:

Der Dadaismus, jene revolutionär-avantgardistische Kunstrichtung um 1916, wird im Bereich der Literatur vor allem mit drei Namen verbunden: mit Hugo Ball, der in Zürich vor genau 100 Jahren (5. Februar 1916) das berühmte „Cabaret Voltaire“ gründete, mit dem Rumänen Tristan Tzara, der den Dadaismus nach Paris brachte, und mit Richard Huelsenbeck, der ihn in Berlin populär machte.

Zürich, Paris, Berlin, das sind denn auch Namen von Metropolen, die zum Dadaismus passen. Dass aber auch Dortmund seinen Beitrag geleistet hat, wissen die wenigsten. Richard Huelsenbeck (1892-1974), der „Ober-Dada“, wie er sich später selbst genannt hat, stammte nämlich aus Dortmund. Hier hat er seine Kindheit verbracht und hier, auf dem Südwestfriedhof, liegt er auch begraben.

Der Dichter Richard Huelsenbeck

Der Dichter Richard Huelsenbeck

Auch wir Dortmunder Schriftsteller waren überrascht, als wir im Frühjahr 1990 durch einen Zeitschriftenartikel von Hülsenbecks Beziehung zu Dortmund erfuhren. Dieses literarische Erbe war, von uns völlig unbemerkt, von einer Mitarbeiterin des „Fritz-Hüser-Instituts für Arbeiterliteratur“ betreut worden.

Mit Jazz-Klängen zu seinem Grab

Als wir dann auch noch erfuhren, dass Huelsenbecks Grab gefährdet war, dass es 30 Jahre nach seinem Tod „plattgemacht“ werden könnte, wie das so anschaulich im Ruhrgebiet heißt, entschlossen wir uns zu einer Aufsehen erregenden Aktion. Im Trauerzug zogen wir 1991 zu Huelsenbecks Grab, zwei Jazzmusiker vorweg, die im New-Orleans-Stil Trauermusik spielten, Josef Reding hielt eine verspätete Geburtstagsrede zu Huelsenbecks 99. Geburtstag (ein krummes Datum, das gut zu einem Dadaisten passt), in der er über dessen Leben und die literarische Arbeit informierte, dann wurden Gedichte Huelsenbecks rezitiert, danach von unserem Kollegen Jürgen Wiersch ein auf Huelsenbeck getextetes Gedicht im Dada-Stil vorgetragen. Schließlich verließen wir, diesmal begleitet von beschwingter Jazz-Musik, den Friedhof. Presse und Rundfunk haben seinerzeit groß berichtet, die germanistische Fakultät der Uni Dortmund war mit einem Professor und einigen Studenten vertreten. Die Aktion hat tatsächlich etwas gebracht, denn bis heute ist Huelsenbecks Grab erhalten geblieben.

Fierstunde an der Dortmunder Grabstätte Huelsenbecks (Ausriss aus der Westfälischen Rundschau, Lokalteil Dortmund, vom 18. Mai 1991)

Feierstunde an der Dortmunder Grabstätte Huelsenbecks (Ausriss aus der Westfälischen Rundschau, Lokalteil Dortmund, vom 18. Mai 1991)

Geboren wurde der Ober-Dada 1892 allerdings in Frankenau, im Waldeckschen, und nicht in Dortmund. Der Vater hatte dort eine Dorfapotheke übernommen, aber die Mutter, die aus Dortmund stammte, litt unter der dörflichen Einsamkeit, und deshalb zog die Familie kurz nach Richards Geburt zurück ins Ruhrgebiet, zuerst nach Dortmund, später, 1899, nach Bochum, wo der Vater eine Anstellung als Chemiker bei der Harpener Bergbau-AG fand.

Als Schüler ein wenig aufsässig

Richard Huelsenbeck besuchte das Städtische Gymnasium in Bochum, lernte dort den Mitschüler Karl Otten kennen, später einen der bekanntesten expressionistischen Dichter, und fiel ansonsten eher durch mäßige Leistungen auf. Ein bisschen Dandytum, ein wenig Aufsässigkeit, Provokation und Tabuverletzung (die Schüler trieben sich gern bei den Kinos am Hauptbahnhof herum, oder in der Kurzen Straße, „wo die Prostituierten kaserniert sind“) waren weiß Gott kein schlechter Nährboden für Dada, wohl kaum aber ein geglückter Start für eine erfolgreiche Schullaufbahn.

Also schickte der Vater den jungen Aufsässigen ins Internat „Arnoldinum“ nach Burgsteinfurt, wo Huelsenbeck ebenfalls einen späteren Dichter kennenlernte, den Dadaisten Karl Döhmann, der sich „Daimonidos“ (dämonisch, teuflisch, nach Sokrates evtl. auch innere Stimme, Gewissen) nannte und später durch hocherotische Gedichte, die er in dem Buch „Bibergeil“ veröffentlichte, in Berlin einen Namen machte. Wobei hinzuzufügen ist, dass der Buchtitel eigentlich noch nichts vom Inhalt verrät, denn „Bibergeil“ ist das Fett des Bibers.

1911 bestand Huelsenbeck das Abitur, auch dies nicht ohne Wirrnis, denn die Schüler hatten kurz vor dem Abitur die Prüfungsaufgaben gestohlen, ein Vorfall, den sogar die vorgesetzte Dienstbehörde mitbekam. Huelsenbeck war beteiligt, aber irgendwie, durch Gnade des Direktors, durften die Schüler doch an den Prüfungen teilnehmen.

Freundschaft mit Hugo Ball

Zuerst begann er ein Medizinstudium, wechselte dann aber zur Literatur und Philosophie an die Universität München. Dort lernte er Hugo Ball kennen, den sechs Jahre älteren Dramatiker und Dramaturgen der Münchner Kammerspiele. Es war die folgenreichste Begegnung seines literarischen Lebens. Ball stellte Kontakte zu Hans Leybolds „Die Revolution“ her, eine Zeitschrift, die es auf fünf Nummern und einen langwierigen Prozess wegen eines blasphemischen Gedichts von Ball brachte. Dort veröffentlichte Huelsenbeck seine ersten Texte.

Bei Kriegsausbruch 1914 erlag auch Huelsenbeck dem nationalen Taumel und meldete sich als Kriegsfreiwilliger in Bochum. Als aber schon früh ein Freund in Nordfrankreich fiel, bekam er Zweifel und ließ sich wegen Krankheit vom Militärdienst befreien. Mit der Bemerkung: „Wie schlimm für Sie, dass Sie in Leben nicht fürs Vaterland lassen können“, wurde er entlassen.

Er ging nach Berlin und organisierte zusammen mit Hugo Ball die ersten literarischen Veranstaltungen, die als Vorläufer späterer Dada-Aktionen gewertet werden können. Es begann mit einer „Gedächtnisfeier für gefallene Dichter“, bei der Ball den Expressionisten Ernst Stadler vorstellte, Huelsenbeck aber den französischen Schriftsteller Charles Péguy, der erst später, nach dem Zeiten Weltkrieg, zusammen mit Claudel und Bernanos als konservativ-katholischer Autor in Deutschland bekannt wurde. Ein Dichter des Feindes also, und damit war sie da, die erste Provokation des Publikums. Die Zuschauer reagierten aggressiv, die Presse war entrüstet, und Huelsenbeck und Ball freuten sich über den Erfolg.

Der ganze Saal rief „Umba, Umba!“

Wichiger aber wurde ihr Expressionismusabend am 12. Mai 1915, auf dem beide, so schrieb Huelsenbeck später, die Kraft fühlten, „die den Expressionismus überwand“. Die Vossische Zeitung schrieb am 14. Mai 1915 über den Abend: „Zwischen Stürmen des Gelächters versuchte sich Richard Huelsenbeck verständlich zu machen. Mit unerschütterlicher Ruhe las er ein Negerlied nach dem anderen vor. Nach jeder Zeile rief er zweimal `Umba!` Als er endete und hinausging, rief ihm der ganze Saal `Umba, Umba!` nach. Zuletzt sprudelte Ball Gedicht auf Gedicht hervor. Man verstand fast nur die Reime, die genügten aber, im Publikum wahre Schreikrämpfe hervorzurufen. Eine Zeile, die ich verstand, lautete: `Ein Pferd macht müde sich bequem in einem Vogelneste.` Wahrscheinlich ist es ein Opfer der Futternot geworden…Man lachte und rief sich gegenseitig zur Ruhe. Man lief nach vorne und wieder nach hinten. Einige verließen trampelnd den Saal und andere nannten sich laut Idioten. Niemand las, ohne von schallendem Gelächter oder beleidigenden Zwischenrufen unterbrochen zu werden.“

Da war es zum ersten Mal erkennbar, das Instrumentarium des späteren Züricher Dadaismus: der gesprengte Rahmen der Veranstaltung, der nicht mehr geschlossen wurde, das provozierte Chaos im Publikum und die Aktivierung des Publikums durch Aggression. Eine erste kleine Dada-Vorführung.

Kurz nach diesem gewollten Eklat wechselte Hugo Ball nach Zürich, wo sich viele Pazifisten aus allen Ländern aufhielten, um dem Kriegsdienst zu entgehen. Er gründete in der Spiegelgasse 1 sein berühmtes „Cabaret Voltaire“, den Geburtsort des Dadaismus. In der Spiegelgasse 6 wohnte übrigens zur gleichen Zeit ein Mann, der sich auf seine, auf eine ganz andere Revolution vorbereitete: Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte.

„Die Literatur in Grund un Boden trommeln“

Klar, dass Ball seinen Freund Huelsenbeck nach Zürich lockte. Am 11. Februar 1916 notierte er in seinem Dada-Tagebuch: „Huelsenbeck ist angekommen. Er plädiert dafür, dass man den Rhythmus verstärkt (den Negerrhythmus). Er möchte am liebsten die Literatur in Grund und Boden trommeln.“

Zum „Cabaret Voltaire“ gehörten außer Hugo Ball, dem Mann am Klavier, und Huelsenbeck noch Emmy Jennings, Balls Freundin, dazu der rumänische Maler Marcel Janko, der Maler und Bildhauer Hans Arp und Tristan Tzara, der „Reclamefachmann“ der Gruppe.

Was das eigentlich ist, Dadaismus, ergibt sich am besten aus Tagebuchnotizen von Ball. Am 11. und 30. März 1916 notiert er: „Am 9. las Huelsenbeck. Er gibt, wenn er auftritt, sein Stöckchen aus spanischem Rohr nicht aus der Hand und fitzt damit ab und zu durch die Luft. Das wirkt auf die Zuhörer aufregend. Man hält ihn für arrogant und er sieht auch so aus. Die Nüstern beben, die Augenbrauen sind hoch geschwungen. Der Mund, um den ein ironisches Lächeln spielt, ist müde und doch gefasst. Also liest er, von der großen Trommel, von Brüllen, Pfeifen und Gelächter begleitet… Seine Verse sind ein Versuch, die Totalität dieser unnennbaren Zeit mit all ihren Rissen und Sprüngen, mit all ihren bösartigen und irrsinnigen Gemütlichkeiten, mit all ihrem Lärm und dumpfen Getöse in eine erhellte Melodie aufzufangen. Aus den phantastischen Untergängen lächelt das Gorgohaupt eines maßlosen Schreckens…“

Oder: „Alle Stilarten der letzten zwanzig Jahre gaben sich gestern ein Stelldichein. Huelsenbeck, Tzara und Janco traten mit einem „Poeme simultan“ auf, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen und dergleichen, und zwar so, dass ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen. Das Gedicht will die Verschlungenheit der Menschen in den mechanischen Prozess verdeutlichen.“

Sehr wüste und chaotische Abende

Man muss sich also die wüstesten, chaotischsten Abende vorstellen, aber eben welche mit System, die man nach den heutigen Begriffen am besten mit Happenings bezeichnet.

So war der Dadaismus die avantgardistische Kunstrichtung des Umbruchs, des Verlustes aller bisherigen Werte, Protest und Provokation zugleich, getragen von Leuten, die sich angeekelt abwendeten von den blutigen Schlachten einer untergehenden Gesellschaft. In einer Umbruchsituation nach dem Niedergang der so genannten sozialistischen Staaten und dem darauf folgenden Neoliberalismus mit der Finanzkrise als Paukenschlag stehen wir auch heute. Wo bleiben die neuen Dadaisten?

Gemeinsam war den Dadaisten die Ablehnung des Expressionismus, der ihnen als angepasst, als erstarrt in pathetischer Gebärde erschien. Stilelemente des Dadaismus waren die Simultanität, das Zusammenspiel von Geräusch, Wort und Musik, die Abstraktion und Einfachheit, von Ball „Primitivismus“ genannt, die kreative Spontaneität und die Ablehnung jeglicher geschmacklichen Festlegung.

In der Zeit des „Cabaret Voltaire“ schrieb Huelsenbeck sein poetisches Hauptwerk, die „Phantastischen Gebete“, die mit Fug und Recht auch als Hauptwerk des Dadaismus bezeichnet werden. Es sind Texte, die sich durch Häufungen, Wiederholungen, Kontraste und Rhythmus auszeichnen, sie sind die Abstraktion in der Literatur. Da gibt es Gelächter, Flüche, Zauberformeln, afrikanische Lautfolgen, ein bisschen Nietzsche, Blasphemisches, Groteskes.

Zürich vernachlässigt die Kultstätte

Vor einigen Jahren habe ich bei einem Besuch in Zürich die Spiegelgasse aufgesucht. Ich wollte mir vor allem das Haus von Georg Büchner ansehen, in dem er sein letztes Lebensjahr verbracht, in dem er den „Woyzeck“ geschrieben hat und leider viel zu früh gestorben ist. Es steht direkt neben dem Haus, in dem später Lenin gewohnt hat. Aber natürlich habe ich auch das Haus des früheren „Cabaret Voltaire“ besichtigen wollen, eine Plakette an der Hauswand erinnerte daran, ansonsten aber war ich tief enttäuscht. Der Raum, in dem sie großen Aufführungen stattgefunden hatten, war zum Lagerraum einer Kneipe verkommen. Kästen mit Bier und Sprudel standen dort aufgestapelt, durch ein kleines Fenster konnte ich es sehen. Zürich, die Stadt der Banken, scheint kein Geld zu haben für die Pflege seines literarischen Erbes.

Die Zeit des Züricher Dada dauerte nicht lange. Schon 1917 kehrte Huelsenbeck nach Berlin zurück und wurde dort unbestreitbar zum Begründer des deutschen Dadaismus. Er gründete den „Club Dada“ mit einem „Zentralamt der dadaistischen Bewegung in Deutschland“ und eine „Dada-Reclamegesellschaft“ mit einer Geschäftsstelle der „Gruppe Deutschland des dadaistisch-revolutionären Zentralrats“.

Umkreis mit Heartfield, Grosz und Dix

Hinter all den bombastischen Namen standen jedoch immer wieder dieselben Leute: die Brüder Herzfelde, beide überzeugte Marxisten, von denen der eine, Johannes, der sich John Heartfield nannte, die fotographische Montagetechnik erstmals für politisch-künstlerische Zwecke einsetzte, eine Technik, die ein anderer Berliner Dadaist, der Maler Raoul Hausmann mit entwickelt hatte. Sein Brüder Wieland verschaffte als Gründer des Malik-Verlages den Dadaisten die notwendigen Publikationsmöglichkeiten.

Hinzu kam George Grosz, der Karikaturist, mit dem Dada die rein ästhetische Auseinandersetzung verließ und durch frontale Angriffe gegen die Freikorps und den Militarismus direkt bin die Politik eingriff, der Maler Otto Dix sowie die Schriftsteller Franz Jung und Walter Mehring. Präsident des „Club Dada“ wurde Johannes Baader, ein Architekt, vor allem aber ein Paranoiker, der sich für die Reinkarnation des Messias hielt und zum Weltgericht aufrief. Baader ist 1959, geistig umnachtet, in einem Altenheim in Niederbayern gestorben. 1977 ist eine Sammlung seiner Dada-Texte im Anabas-Verlag erschienen.

1920 Folgte noch eine große Tournee von Baader, Hausmann und Huelsenbeck nach Dresden, Leipzig und Prag – die Zeitungen berichten allesamt von Skandalauftritten, also von erfolgreichen Veranstaltungen aus Dada-Sicht. Dann war es aus mit Dada. Die Zeit des Umbruchs war vorbei, man arrangierte sich entweder mit der neuen Gesellschaft oder man bekämpfte sie. Jedenfalls fand man zu politischer Entschiedenheit und verlor Dada. Dada aber hat mit seinem Hang zu Einfachheit und Abstraktion, mit seiner Montage- und Simultantechnik (man denke in der Literatur etwa an Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“) die moderne Kunst nachhaltig beeinflusst.

Gewichtiges westfälisches Erbe

Und noch eines ist aus westfälischer Sicht zu bilanzieren: der außergewöhnlich große Anteil westfälischer Autoren an der Entwicklung des Expressionismus und speziell des Dadaismus. Außer Huelsenbeck waren da noch sein Bochumer Schulfreund Karl Otten, sein Burgsteinfurter Schulkamerad Daimonidos, dazu August Stramm aus Münster und der Soester Maler Wilhelm Morgner. Wenn dass kein literarisches Erbe ist!

Die Dada-Bewegung aber war der Höhepunkt im literarischen Leben von Richard Huelsenbeck. Von seinen späteren Büchern sind vor allem jene bekannt geworden, die diese Bewegung aufarbeiten, etwa „Dada siegt“, eine Bilanz, die er zusammen mit Tzara veröffentlicht hat.

Aber Huelsenbeck, auch das ist wenig bekannt, hat fleißig weiter geschrieben. Noch zwei Gedichtbände hat er veröffentlicht: „Die New Yorker Kantaten“ 1952 und „Antwort aus der Tiefe“ 1954. Weitgehend unbeachtet geblieben sind drei Novellen und zwei Romane, von denen der eine, „Der Traum vom großen Glück“, 1933 immerhin im renommierten S. Fischer-Verlag erschienen ist. Zwei Theaterstücke, Aufsätze, sehr gute, beachtenswerte Reiseberichte und medizinische Veröffentlichungen runden ein erstaunlich umfangreiches Werk ab.

Amerikanisches Exil

1936 emigrierte Huelsenbeck auf Anraten von George Grosz, der sich dort schon aufhielt, in die USA, wurde amerikanischer Staatsbürger, nannte sich Charles R. Hulbeck und arbeitete als Arzt für Psychiatrie und Psychoanalyse. Erst 1969, als Siebenundsiebzigjähriger, kehrte er nach Europa zurück und ließ sich im Tessin nieder.

Ich habe mal bei einem Konzert den amerikanischen Jazz-Gitarristen Marti Grosz, den Sohn von George Grosz, auf die Freundschaft seines Vaters zu Richard Huelsenbeck angesprochen. Marti kannte ihn nur unter dem Namen Hulbeck, erzählte, dass Hulbeck den Plan gehabt hätte, ein großes Dada-Denkmal in den USA zu errichten, dass aber nichts daraus geworden sei. Sehr viel, merkte ich, hielt er von seiner künstlerischen Leistung nicht.

Rückkehr ins geliebte Dortmund

Zweimal, von der Presse groß beachtet, hat Huelsenbeck nach seiner Rückkehr nach Europa noch Dortmund besucht, auf Einladung des literarischen Mentors dieser Stadt, des unvergessenen Bibliotheksdirektors Fritz Hüser, aber auch, weil ihm die Beziehung zu dieser Stadt immer wichtig geblieben ist. In seinem Erinnerungsband „Reise bis ans Ende der Freiheit“ berichtet er liebevoll über seine Dortmunder Kindheit, über das Verhältnis zu seinem Dortmunder Großvater Fink, einen Markscheider, und über dessen umfangreiche Bibliothek, die dem jungen Richard viele Anstöße gab.

Auch die Beerdigung des Großvaters auf dem Südwestfriedhof schildert Richard Huelsenbeck, und so muss bei einem seiner Besuche zwischen Fritz Hüser und ihm abgesprochen worden sein, dass er in der Dortmunder Familiengruft beigesetzt werden wollte. Hüser hat ihm das wohl zugesichert, denn als Huelsenbeck 1974 starb, hat er für die Beisetzung der Urne dort gesorgt und gleichzeitig eine Mitarbeiterin der Dortmunder Bibliothek gebeten, das Grab, das ganz in der Nähe des Grabes ihrer Familie liegt, doch mitzupflegen. Und diese Frau hat das jahrzehntelang, noch nach Pensionierung und Tod ihres Chefs, getan. Eine anrührende Geschichte.

Zwei Kinder Huelsenbecks leben noch in den USA bzw. in Kanada.

Sein Grab ist den Dortmunder Friedhofsgärtnern übrigens gut bekannt. Als ich bei meinem ersten Besuch nach Feld 36, Grab 57 fragte, antwortete der Friedhofsgärtner: „Ach, Sie wollen zum Huelsenbeck…“