Auch ohne Bundesinstitut: Essen will Maßstäbe in der Fotokultur setzen

Sein Nachlass kommt nach Essen: Fotograf Michael Schmidt (1945-2014), hier in seiner Ausstellung „Waffenruhe“ im Essener Museum Folkwang, aufgenommen am 9. Februar 1988. (© Marga Kingler/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Essen als d i e deutsche Fotografie-Stadt? Nun ja, es ist kompliziert. Nach politischem Willen, insbesondere auf Bundesebene, wird das noch zu gründende Deutsche Fotoinstitut eben nicht in der Ruhrstadt, sondern in Düsseldorf angesiedelt. Doch just heute ging man in Essen an die Öffentlichkeit, um kundzutun, dass man auch so gehörige Pflöcke einschlagen kann: Das hochkarätige Archiv Michael Schmidt, Nachlass eines prägenden Fotografen des 20. Jahrhunderts, kommt im Herbst aus Berlin dauerhaft in die Fotografische Sammlung des Museums Folkwang.

Da erhob sich im Verlauf der Pressekonferenz gar die Frage, ob Düsseldorf angesichts solcher Entwicklungen vielleicht nur noch die zweite Geige spielen werde. Nun aber mal halb lang! Folkwang-Museumschef Peter Gorschlüter legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, dass die Essener mit dem künftigen Bundesinstitut und anderen fotografischen Einrichtungen einvernehmlich kooperieren wollen – und das in guter föderalistischer Tradition. Gorschlüter gehört zur Gründungskommission des Deutschen Fotoinstituts und vertritt von daher nicht ausschließlich Essener Interessen, sondern nimmt eine übergeordnete Perspektive ein. Er mag sich nicht einmal andeutungsweise zu Äußerungen über den vormaligen Konkurrenten Düsseldorf verleiten lassen.

Neuer Verein bündelt kulturelle Anstrengungen

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen fasste es so: Die Stadt habe sich „redlich und engagiert“ um den Standort des Fotoinstituts bemüht. In der nun einmal gefällten Entscheidung für Düsseldorf sehe er keinen Fehlschlag. Überdies sei kaum eine deutsche Region seit Erfindung der Fotografie gründlicher ins Bild gesetzt worden als das Ruhrgebiet. Man könnte anfügen: Das Revier ist ja auch nicht so furchtbar weit von der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf entfernt.

Unterdessen hat sich in Essen ein Zusammenschluss gewichtiger Institutionen formiert, der hier Anstrengungen zur fotografischen Kultur bündeln soll. Das Ruhr Museum auf Zeche Zollverein zählt ebenso zum erlesenen Kreis wie das Historische Archiv Krupp, die Folkwang Universität der Künste und eben das Museum Folkwang. Neuerdings (genauer: seit 31. Januar) agieren sie zusammen als gemeinnütziger Verein mit Sitz im markanten SANAA-Gebäude auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein. Auch dieses „Zentrum für Fotografie Essen“ ist ein Statement.

Bedeutsamer Nachlass kommt von Berlin nach Essen

Vor diesem Hintergrund darf die bevorstehende Überführung des Archivs Michael Schmidt als bedeutsames Signal gelten. Der Fotograf, der von 1945 bis 2014 gelebt hat, hatte schon sehr früh und fortan recht häufig Ausstellungen in Essen, wo er – in der Tradition eines Otto Steinert – zeitweise auch eine Lehrtätigkeit ausgeübt hat. Zentraler Ort seines bildnerischen Schaffens war allerdings Berlin, wo in Kreuzberg nach und nach ein bestens aufgearbeitetes Archiv seiner Werke entstanden ist. Folkwang-Direktor Gorschlüter über den wertvollen Nachlass: „Wir übernehmen also keine Bananenkisten.“

Schon jetzt hat man im Depot eine spezielle Ebene vorbereitet, auf der das Archiv Platz finden wird. Das Schmidt-Konvolut kommt als Dauerleihgabe nach Essen – vorläufig bis zum 31. Dezember 2039, sodann mit Verlängerungs-Option bis 2045, wenn sich Michael Schmidts Geburtstag zum 100. Mal jährt. Auch danach sind Vertrags-Verlängerungen möglich. Zur Bedeutung des Werks nur diese Stichworte: Nach schwierigen Anfängen brachte es Michael Schmidt zu einer internationalen Fotokunst-Laufbahn, die bis hin zu einer großen Retrospektive im Museum of Modern Art (MoMa) in New York führte. Zu seinen bekanntesten Schülern gehört Andreas Gursky.

Kein Ankauf, sondern großzügige Dauerleihgabe

Wie Peter Gorschlüter erläuterte, handelt es sich nicht um einen Ankauf, sondern um eine großzügige Überlassung durch die „Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt“, eine Einrichtung des finanzkräftigen Sparkassen- und Giroverbandes. Mit der Übergabe ans Museum Folkwang gelangt der Nachlass in öffentliche Obhut. Weitere Vergünstigung: Das Copyright an den Fotografien geht für die Dauer der Leihgabe ans Essener Museum über, kann also womöglich lukrativ genutzt werden. Außerdem stellt die Stadt Essen in diesem und wohl auch im nächsten Jahr je rund 250000 Euro bereit, um die Übernahme zu begleiten.

Schmidts Nachlass umfasst u. a. 107 Ordner mit Negativen, etwa 2000 Prints mit Werkcharakter sowie rund 20000 Kontakt-, Arbeits- und Testabzüge. Hinzu kommen umfangreiche Fachbibliotheken. Künftig wird all das für Forschungsarbeiten an der Folkwang Universität der Künste zur Verfügung stehen. Gut denkbar, dass der Bestand eine Art Magnetwirkung ausüben und weitere Sammlungen nach sich ziehen wird.




Lauter schmerzliche Verluste – Dortmund damals und jetzt

Titelseite des Bandes mit der damaligen Brückstraße und der Marienkirche links im Hintergrund, 1920er Jahre. Die Dimension der Verluste wird so recht deutlich, wenn das hier nur eingeklinkte neue Bild in gleicher Größe erscheint wie das alte (im Buch auf der Doppelseite 16/17). Es offenbart sich dann eine städtebauliche Sünde sondergleichen. (Historisches Bild: Sammlung der LWL-Museen für Industriekultur, Westfälisches Landesmuseum / Neue Fotografie: Frauke Kreutzmann, Wartberg Verlag)

Schaut man sich Dortmunder Ansichtskarten aus Vorkriegs- und noch früheren Zeiten an, so könnte man mindestens wehmütig werden. Aller industriellen Verschmutzung zum Trotz, war das alte Dortmund eine vielfach schmucke Stadt mit etlichen repräsentativen oder gar imposanten Bauten und zahlreichen idyllischen Straßen und Plätzen. Daraus bezieht auch der neue Bildband „Dortmund Gestern | Heute“ seinen Reiz – und sozusagen seinen speziellen Horror.

Besagte Wehmut schlägt hier nämlich ins Deprimierende um, werden doch die Bilder von früher direkt heutigen Ansichten gegenübergestellt, die ungefähr aus denselben Blickwinkeln aufgenommen wurden. Was da alles verloren gegangen ist, mag man sich am liebsten gar nicht weiter ausmalen. Es ist ein Jammer.

Pracht der Bahnhöfe, des Theaters, der Synagoge

Man vergleiche nur den alten, 1910 eröffneten Bahnhof mit dem heutigen, seit Jahrzehnten nur halbherzig umgebauten (bzw. hoffnungslos verbauten) Provisorium. Selbst der frühe Vorläufer von 1847 hatte noch entschieden mehr Charme. Man vergleiche die ebenso stolze Oberpostdirektion von einst mit dem jetzt nur noch weit ausladenden Postbank-Gebäude an selbiger Stelle. Ganz zu schweigen vom früheren Theaterbau oder vom gotischen Giebel-Rathaus, ursprünglich aus dem 13. Jahrhundert, aufwendig restauriert zum Kaiserbesuch im Jahr 1899 – und nach Ende des Zweiten Weltkriegs ebenso schwer beschädigt und (vielleicht unnötig) abgerissen wie das alte Theater. Ungleich schlimmer noch, dass die einst so prächtige, mit einer Kuppel gekrönte Synagoge 1938 von Nazi-Horden zerstört wurde. Wobei das Ausmaß dieses Schreckens selbstverständlich weit über den städtebaulichen Schaden hinaus ging.

Schmerzliche Verluste lassen sich bis in einzelne Straßenzüge verfolgen. Dazu zählen auch veritable Amüsier- und Revue-Paläste wie das „Olympia-Theater“ (für 1700 Zuschauer) oder Freizeit-Areale wie Saalbau und Lunapark am Fredenbaum, die auf ein reges Stadtleben hindeuten. So freundlich und sozial anregend das 2001 von der Hannoveraner Expo nach Dortmund geholte Riesenzelt „Big Tipi“ sein mag, ist es doch kein Ersatz, sondern es wäre allenfalls eine nette Ergänzung zum alten Zustand. Dortmund war allerdings auch eine der am schwersten zerstörten deutschen Städte überhaupt. Nach 1945 wurde gar erwogen, die trostlosen Restbestände aufzugeben und an anderer Stelle völlig neu zu beginnen.

In manchen Fällen nur noch Brutalismus

Frauke Kreutzmann, Fotografin der neuen Bilder aus der Stadt, kann natürlich nichts für den allgemeinen atmosphärischen Schwund, der mehr oder weniger für alle Ruhrgebietsstädte gelten dürfte. Sie dokumentiert halt das, was nun vorhanden ist. Und das ist in manchen Fällen ein modernistischer Brutalismus, der wohl auch mit der seit Kriegsende die Stadt regierenden SPD zu tun hat. Bei allem, was man gegen die Konservativen einwenden kann oder auch muss, hätten sie wahrscheinlich mehr Sinn fürs gewachsene Stadtbild gehabt und mutmaßlich hie und da rettend eingegriffen. Um den Unterschied zu ermessen, könnte man beispielsweise Dortmund und Münster gegeneinander halten. In Dortmund sind nur noch vereinzelte Bauten als Solitäre erhalten – und noch immer scheint sich bei vielen Lokalpolitikern kein sonderlicher Sensus für solch historisches Herkommen zu regen.

Rüdiger Wulf, langjähriger pädagogischer Leiter beim Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) und danach bis 2018 Direktor des Westfälischen Schulmuseums in Dortmund-Marten, hat knappe, aber kundige Begleittexte geschrieben und dazu in allerlei Archiven und Büchern passende Zitate gefunden, die vom Dortmunder Leben in alten Zeiten künden. Wulff erläutert auch, dass einige der alten Ansichten geschönt daherkommen. Hie und da sei gnädig begradigt, retuschiert, montiert und (zuweilen übertrieben) koloriert worden. Dennoch handelt es sich keineswegs um grobe Verfälschungen. Ergo: Das Erscheinungsbild der damaligen Stadt lässt sich ebenso wenig schlechtreden wie die heutige Anmutung haltlos gepriesen werden kann.

Rüdiger Wulf / Frauke Kreutzmann: „Dortmund. Gestern | Heute“. Wartberg Verlag, 96 Seiten, Format 22 mal 24 cm, zahlreiche Farb- und Schwarzweiß-Fotos, gebunden, 19,90 Euro.

 




Im Land der schönen Stadttheater – Bildband präsentiert Spielstätten des Reviers

„Theaterszene Ruhr“ steht auf dem Buchdeckel, und „Einblicke in die Theaterwelt“. Das Fotobuch im A-4-Querformat zeigt den Zuschauerraum eines Großen Hauses, Festspielhaus Recklinghausen, Ruhrfestspiele. Dieses Foto ist, wenn man einmal so sagen darf, das einzig ehrliche an dieser Titelseite. Denn weder geht es um Theaterszene noch um Theaterwelt (was wäre übrigens der Unterschied?); es geht um die Theater, die real existierenden Bauwerke.

Titel des besprochenen Buches. (Foto: Fabian Linden / Repro rp)

Fabian Linden, Fotodesigner, Jahrgang 1959, hat zwischen Moers und Dortmund Spielorte fotografiert, Innenräume vorwiegend aus der Zentralperspektive, dazu stets ein, zwei Gebäudedetails und einzelne Menschen, die in diesen Theatern arbeiten: Garderobiere, Beleuchter, Dramaturgin, Puppenspielerin, Korrepetitor und so weiter. Ab und an ergänzen gut gesehene Details die Präsentationen der Häuser, Bochumer Schauspielhaus-Tütenlampen zum Beispiel oder Wandflächen im Yves-Klein-Blau im Gelsenkirchener Musiktheater. Lindens Architekturbilder und seine Industriefotografie (von Teilen der Theatertechnik zum Beispiel) sind handwerklich untadelig, die Portraits der Funktionsträger hingegen hätten gerne etwas lebhafter ausfallen können. Oft wähnt man sich im Paßbildstudio.

Kein einziges Inszenierungsfoto

Gleichwohl fragt man sich, wie ein Fotograf, ein Mensch des Sehens und der visuellen Inszenierung doch mithin, sein Bilderbuch „Einblicke in die Theaterwelt“ untertiteln kann, wenn er buchstäblich nicht ein einziges Inszenierungsfoto bringt. Von den Chefs und Intendanten hat es, sieht man von der freien Szene ab, gerade einmal Roberto Ciulli aus Mülheim an der Ruhr, der Dottore, in das Buch geschafft. Natürlich gehört er hier auch hin, das Revier verdankt ihm viel; aber es gäbe doch etliche mehr, die man ebenfalls vorstellen könnte, Männer wie Frauen. Auch wenn man sie persönlich nicht sämtlich in gleicher Weise schätzt.

Und dann wären da ja auch noch die Bühnenkünstler! Einer hat es immerhin geschafft, Martin Zaik, die Rampensau vom Mondpalast (was unbedingt als dickes Kompliment zu verstehen ist!). Auch er verdient es, welche Frage, doch nur er?

In diesen Stuhlreihen hat man oft gesessen

Nun gut, ein unbeackertes Feld. Schauen wir also auf das, was wir mit diesem Buch bekommen, nämlich eine relativ vollständige, professionell fotografierte Versammlung der schönen Stadttheater, der Schauspiel-, Opern- und Festivalhäuser des Reviers. Zunehmend verfestigt sich beim Durchblättern der Eindruck, daß wir hier wirklich viele großartige Spielstätten haben – schwungvoll Wiedererrichtetes aus den 50er Jahren, gestrengen Klassizismus, Beton-Brutalismus, die unbedingte Zweckmäßigkeit der Studiobühnen-Bestuhlung. In etlichen von ihnen hat man schon viel schöne – manchmal natürlich auch weniger schöne – Theaterkunst gesehen, da kann man fast schon sentimental werden.

Deshalb jetzt noch ein paar Nörgelpunkte zum Ende hin: Die Texte, die der pensionierte Gymnasiallehrer Hajo Salmen beisteuert, halten das Niveau der Fotografien und des fotografischen Konzeptes nicht; die thematische Auswahl zeigt auch Schwächen: Während kleine Spielstätten wie die „Volksbühne“ oder das „Rottstr 5 Theater“ in Bochum erstaunlich viel Zuwendung erfahren, fehlen Orte wie das traditionsreiche Dortmunder Fletch Bizzel ganz. Ebenso fehlen Theater ohne eigenes Ensemble, wie etwa Marl oder Lünen, was zumindest aus architektonischer Sicht schade ist. Ärgerlichstes Manko aber ist das Fehlen der Bochumer Jahrhunderthalle; nur Duisburg-Nord wird als Spielort der Ruhrtriennale präsentiert.

  • Fabian Linden, Hajo Salmen: „Theaterszene Ruhr – Einblicke in die Theaterwelt“
  • Eigenverlag. www.fotodesign-linden.de

 

 




Wie es im Revier gewesen ist – Fotografien von Helmut Orwat

Taubenzüchter im Sonntagsanzug, Castrop-Rauxel, 1967. (Foto: Helmut Orwat)

Helmut Orwat war stets nah dran. Nah am Alltag und den Menschen im Ruhrgebiet, speziell in und um Castrop-Rauxel. Seit 1960 arbeitete er als freier Fotograf für diverse Zeitungen und Zeitschriften, von 1984 bis 2000 war er bei den Ruhrnachrichten festangestellt. Rund 150 ausgewählte Fotografien sind im LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg zu sehen.

Der Ausstellungstitel „Täglich Bilder fürs Revier“ lässt etwas von der Eile ahnen, mit der Orwat meist zu Werke ging. Aktuelle Geschehnisse mussten eben sofort festgehalten werden, und zwar unter härteren Bedingungen als heute, wo digitale Kamera- und Nachbearbeitungs-Technik die Sache doch deutlich erleichtert. Dennoch (oder gerade deshalb, weil eben noch viel mehr echte Handarbeit darin steckt) haben seine Bilder die Jahrzehnte überdauert und legen nun gültiges Zeugnis ab vom Ruhrgebiet, wie es einmal gewesen ist. Manche Besucher werden sich wehmütig erinnern.

Kernkraftwerk in Hamm-Uentrop, 1980. (Foto: Helmut Orwat)

Die besten Fotos haben gleichsam eine „Seele“, man merkt ihnen die Freude des Herstellens an. Ganz klar: Solche kontraststarken Ansichten müssen schwarzweiß sein, jede Kolorierung täte ihnen Gewalt an. Vorbilder Orwats waren Fotografie-Größen wie Chargesheimer und Otto Steinert, die sich gleichfalls im Revier umgetan hatten.

Die Auswahl ist in Kapitel gegliedert, zum Beispiel: Industrie und Landschaft, Kanal und Schifffahrt, Beruf und Arbeit, Stadt und Verkehr, Familie und Freizeit. Die Aufnahmen vergegenwärtigen inzwischen verblasste, typische Merkmale des Ruhrgebiets und seiner Menschen, zunächst vor allem im Umkreis des Bergbaus – nicht nur in den Zechen selbst, sondern etwa auch am Straßenrand, wenn haufenweise Kohle geliefert wurde und nun in den Keller geschaufelt werden sollte. Auch sieht man prominente Besucher der Castroper Zeche Erin mit kohleschwarzen Gesichtern als kalkuliertes Signal für „Volksnähe“: den früheren Bundespräsidenten Walter Scheel (1975) oder den damaligen CSU-Chef Franz Josef Strauß (1980).

Feuerlöschübung mit Ordensschwestern des St. Rochus-Hospitals, Castrop-Rauxel, 1972. (Foto: Orwat)

Vor allem aber hat Orwat die „ganz normalen“ Bewohner des Reviers in den Blick genommen. Die Camper am Dortmund-Ems-Kanal, den Taubenzüchter, die Frau von der Trinkhalle, den Klüngelskerl, Frauen in der Bochumer Opel-Montage, die Jury des Kleingartenwettbewerbs – und immer wieder spielende Kinder, ein Motiv-Genre, für das Helmut Orwat einen besonderen Blick hatte. Bemerkenswert auch die Fotos von einer Modenschau bei Hertie in Castrop oder vom Castroper Pferderennen und seinem Publikum. Da zeigt sich überdeutlich: Das einstige Revier war beileibe weder Paris noch Ascot, doch auch hier konnte man die karge Freizeit genießen, wenngleich längst nicht so edel stilisiert. Dafür aber ohne Dünkel.

Montagestraße Opel Kadett, Opel Werk I, Bochum, 1963. (Foto: Helmut Orwat)

Orwat, 1938 als Bergmannssohn in Castrop-Rauxel geboren, erfasste imposante, zuweilen auch beängstigende Industrielandschaften, zeichnete dann aber auch den Niedergang der alten Industrien nach. Die Folgen werden fassbar, wenn Arbeiter gegen Schließungen demonstrieren und Orwat ihre letztlich vergebliche Entschlossenheit zu zeigen vermag. Als schon etliche Zechen dicht waren, bekam er Götz George vor die Linse: 1981 als „Schimanski“ beim Dreh zum Duisburger „Tatort“. Es war ein bedeutsamer zeitlicher Schnittpunkt: Die Industrie war im Schwinden begriffen, eine Figur wie Schimanski trug jetzt zur Legendenbildung bei.

Das nahende Ende des früheren Reviers zeigt sich bereits in Aufnahmen wie jener des sterilen City-Centers Herne (1975) mit seiner ganz und gar nicht mehr regionaltypischen Anmutung. Das war keine wirkliche Alternative zum schmutzigen Hinterhof der alten Zeiten. Überhaupt dokumentierte Orwat einige brutale „Bausünden“ im Ruhrgebiet. Noch betrüblicher: Sein Beruf brachte es mit sich, auch Unglücke ablichten zu müssen. Das Auto, das aus dem Kanal geborgen werden musste, den explodierten Tanklaster, den Trauerzug nach einem Grubenunglück.

Helmut Ornat: Selbstporträt mit Leica-Kamera im Jahr 1965.

Leute wie Helmut Orwat gibt es nicht mehr. Tageszeitungen leisten sich kaum noch ambitionierte Fotografie. Statt dessen zücken häufig die Texter ihre Handys. Mit entsprechend dürftigen Ergebnissen.

„Täglich Bilder fürs Revier“. Pressefotografien von Helmut Orwat 1960-1992. Waltrop, LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg (Hafengebäude). Noch bis 4. Februar 2024. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Begleitender Bildband mit 150 Aufnahmen im Tecklenborg Verlag, 200 Seiten, 19,80 Euro.

Das LWL-Medienzentrum für Westfalen hat das fotografische Lebenswerk von Helmut Ornat übernommen. Eine Auswahl von über 3000 Motiven wurde digitalisiert und kann online recherchiert werden unter:

www.orwat-fotosammlung.lwl.org

___________________________________________________

Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel erschienen: 

www.westfalenspiegel.de




Diese oft bizarre Republik – Robert Lebecks Fotoband „Hierzulande“

Fast so rätselhaft wie einer seiner Thriller: mysteriöser „Fingerzeig“ für Alfred Hitchcock in der deutschen Bahn – das Cover von Robert Lebecks Foto-Bildband „Hierzulande“. (© Robert Lebeck / Steidl Verlag)

Es beginnt 1955 mit Momenten einer (nachträglichen) „Geburtsstunde“ der Bundesrepublik Deutschland, die den Krieg „endgültig“ hinter sich zu lassen glaubte. Der Fotograf Robert Lebeck (1929-2014), damals gerade 26 Jahre alt, lieferte für die Zeitschrift „Revue“ Aufnahmen der letzten deutschen Kriegsgefangenen, die aus russischen Lagern zurückkehrten.

Ausgemergelt, sichtlich erschöpft, in einheitliche Wattejacken gekleidet, so kamen sie mit notdürftigen Holzkoffern ins fremd gewordene Heimatland. Und nun schaue man, wie sie ihre Familien wiedersehen, welche Freudentränen da fließen, welches Befremden sich jedoch auch allseits zeigt und wohl nicht offen zu zeigen wagt. Schließlich: wie fieberhaft verzweifelt wartende Menschen ihre Männer, Väter, Söhne, Geschwister und Freunde unter den Rückkehrern suchen.

Auch sonst hat Lebeck, der seit den frühen 1960er Jahren besonders durch seine Arbeit für den seinerzeit stilbildenden „Stern“ bekannt geworden ist, viele prägsame Augenblicke der frühen Bundesrepublik mit untrüglichem Gespür erfasst – selbstverständlich im authentisch wirkenden  Schwarzweiß. Diese Bilder sind tief in ihrer Zeit verwurzelt. In der Diktion von damals könnte man vielleicht vom „Antlitz der Zeit“ sprechen. Oder halt vom herrschenden Zeitgeist.

Enthemmung im „Wirtschaftswunder“

Ganz anders als beim ernsten Auftakt mit den Kriegsheimkehrern geht es in dem Bildband „Hierzulande“ weiter: Wir sehen Szenen von feuchtfröhlichen, um nicht zu sagen saufseligen Busausflügen ins Weinörtchen Altenahr. Bizarre Enthemmung im sogenannten „Wirtschaftswunder“. Eine Luxusvariante folgt etliche Seiten später: Lebeck lichtete 1962 mit nötiger Diskretion, doch auch im übertragenen Sinne „enthüllend“, die Nackten und Reichen von Sylt ab.

Auch nimmt uns das Buch mit ins hessische Friedberg, wo am 1. Oktober 1958 Elvis Presley seine Dienstzeit als US-Soldat antrat. Robert Lebeck wartete ab, bis der Pulk der Foto-Kollegen abgereist war und Elvis zugänglicher wurde. Nun bekam er ganz spezielle Motive mit dem Weltstar. 1959 gelangen ihm ikonische Bilder der Operndiva Maria Callas, 1960 ließ sich in Hamburg kein Geringerer als Alfred Hitchcock von Lebeck in sinistren Situationen fotografieren, die der Filmregisseur allerdings gleichsam „mitinszenierte“ und die daher stets etwas ungreifbar Mysteriöses an sich haben. Aus späterer Zeit folgen noch geradezu entwaffnende Aufnahmen von Romy Schneider.

Unverkennbar Konrad Adenauer

Doch beileibe nicht nur mit Stars konnte Lebeck menschlich und bildnerisch umgehen. Auch der (un)gewöhnliche Alltag erschloss sich seiner Kamera oder vielmehr: seinem feinen und wachen Empfinden. Ostberliner auf Einkaufstour durch Westberlin – kurz vor dem Mauerbau. All die (vergleichsweise noch bescheidenen) Lockungen des Westens. Sodann die 1961 entstandenen Milieustudien auf der Reeperbahn und vom Hamburger Fischmarkt. Es ist eine versunkene Welt, die Lebeck da festgehalten hat. Doch einige Bilder deuten darauf hin, dass das Vergnügungsviertel in gewisser Hinsicht auch ein Soziallabor gewesen sein könnte. Grandios jenes freche „Fräulein“, das die verschämt amüsierten männlichen Passanten um den Finger wickelt. Stichwort erwachendes weibliches Selbstbewusstsein. Stichwort freizügige Sexualität in immer noch arg verklemmten Zeiten. Freilich zumeist im Zeichen des Geldes.

Die Polit-Prominenz in der Bonner Republik kommt ebenfalls gebührend vor. Winston Churchill hält 1956 im Palais Schaumburg Hof. Frappierend Konrad Adenauers Konterfei, an seinem 90. Geburtstag über die Schulter eines Gesprächspartners hinweg fotografiert. Es zeigt nur einen Bruchteil seines gleichwohl unverkennbaren Gesichts. Ein meisterhaftes Bildnis. Nicht minder typisch und sozusagen „den ganzen Filou“ enthaltend: Willy Brandt beim Flirt mit einer jungen Frau im Speisewagen der Bahn. Dann aber auch seine bittere, resignierte Miene 1974. Es war am Tag seines Rücktritts als Bundeskanzler, im Zuge der Guillaume-Affäre. Und Helmut Kohl? Wird 1976 in selbstgefälliger Pose ausgerechnet im Ruhrgebiet „erwischt“, wo dergleichen Mache am allerwenigsten hingehört…

Der Zeitbogen reicht bis 1983. Da hatte Robert Lebeck den Auftrag, ein Porträt des Landes in Bildern zu entwerfen – wahrlich keine leichte Aufgabe. Heraus kam das vielfältig aufgefächerte Bild einer oft eher grotesken Republik, mit merklichem Schwerpunkt auf Ödnis und Verwahrlosung. Die „Bild“-Zeitung erregte sich seinerzeit über die „Nestbeschmutzung“. Mit anderen Worten: Lebeck kann – um das Mindeste zu sagen – auch hierbei nicht ganz falsch gelegen haben.

Robert Lebeck: „Hierzulande“. Reportagen aus Deutschland. Foto-Bildband. (Hrsg.: Cordula Lebeck). Mit einem Essay von Daniela Sannwald. Steidl Verlag. 192 Seiten im Format 20 x 28,5 cm, Hardcover. 35 Euro.

Das Buch begleitet eine Ausstellung in der Kunsthalle Lüneburg, die noch bis zum 25. Juni 2023 dauert.

 

 

 

 




Nicht schön, aber viel besser als früher – Bilder aus der „Eulenkopf“-Siedlung

Frontale Aufnahme auf dem Cover des Fotobandes von Merle Forchmann: „Eulenkopf“-Bewohnerin Rosi, die sich „damals“ so sehr über eine eigene Wohnungsklingel gefreut hat, hier aber eine durchaus abwehrbereite Haltung einzunehmen scheint. (Fotografie: © Merle Forchmann / Cover-Gestaltung: Verlag Kettler, Dortmund)

Das kann man wohl teilnehmende Beobachtung nennen: Rund zwei Jahre lang ist die in Düsseldorf lebende Dokumentar-Fotografin Merle Forchmann immer und immer wieder nach Gießen gefahren – und dort stets zur „Eulenkopf“-Siedlung. Mit der hat es seine spezielle Bewandtnis.

In den frühen 1950er Jahren wurde diese Siedlung in erbärmlicher Schlichtheit so errichtet, dass vormals Wohnungslose zwar ein notdürftiges Dach über dem Kopf hatten, aber ganz bewusst vom Rest der Stadt separiert und damit als „sozial Schwache“ oder gar „Asoziale“ gebrandmarkt wurden. Sie wohnten buchstäblich im Dreck und wurden behandelt wie „Schmuddelkinder“. Desolate soziale Verhältnisse mit häufiger familiärer Gewalt waren in dieser Frühzeit die unausbleibliche Folge. In den Nachkriegsjahren waren ringsum viele US-Soldaten stationiert. Sie haben in der Gegend so manche Kinder gezeugt und sind oft nicht bei ihnen und den Frauen geblieben. Familien mit mehr als fünf Kindern waren hier anfangs die Regel. Da wurde das Elend nicht kleiner.

Im Zuge der Studentenbewegung formierte sich in den frühen 1970er Jahren in Gießen ein Hilfsprojekt, das den „Abgehängten“ beistehen wollte und gründliche Sanierungen (unter Beteiligung der Betroffenen) voranbrachte. Besonders engagierte sich dabei auch der prominente Prof. Horst-Eberhard Richter, der damals die psychosomatische Klinik in Gießen leitete. Merle Forchmann ist seine Enkelin und hatte daher auch ein persönliches Interesse an einer ausgiebigen Spurensuche – etwa 50 Jahre nach Gründung jener studentischen Initiative. Sie konzentriert sich freilich nicht auf Meriten ihres Großvaters, sondern auf die jetzigen Bewohner der Häuser.

Zufrieden mit einem bescheidenen Leben

In dem angemessen schmucklosen Bildband „Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung“ werden nicht lang und breit die Zusammenhänge aufgerollt. Wir erfahren das Nötige, lernen einige Bewohner anhand von Porträts, alltäglichen Szenen und kurzen Selbstaussagen kennen. Skizzenhaft, versteht sich. Da ist zum Beispiel Tamara, die tatsächlich Weltmeisterin im Powerlifting (eine Art Gewichtheben) gewesen ist und dann an Krebs erkrankte. Da ist Rosi, die noch heute von der Zeit schwärmt, als ihre Behausung ein eigenes Klo und eine eigene Klingel bekommen hat. Da ist Adelheid, die schon in fünf verschiedenen Häusern des Blocks gewohnt hat. Da ist Gela, seit 1969 hier, die auch künftig für immer bleiben will. Da ist Udo, der bereits dieses bescheidene Leben als „Luxus“ begreift.

Die Momentaufnahmen wirken vielfach wie pure Zufallsauswahl, sie beruhen aber just auf genauer Langzeitbeobachtung und zunehmend vertrauensvollen Gesprächen. Es sind visuelle Essenzen; Ansichten aus dem nachhaltig verbesserten, aber immer noch alles andere als komfortablen Alltag der Siedlungsbewohner, die übrigens auch einen eigenen Verein für Kraftsport und Fußball gegründet haben. Auch das hat ihnen über missliche Situationen hinweggeholfen.

Die Dinge sprechen ihre eigene Sprache

Es entspricht sicherlich nicht dem gängigen Mittelschichts-Geschmack, doch auch die Dinge, mit denen sie sich hier seit längerer Zeit umgeben, sprechen eine eigene, oft geradezu anrührende Sprache. Es finden sich Spuren gelebten Lebens darin, das beileibe nicht einfach war. Erst recht sind die Gesichter von Mühsal gezeichnet. Sie haben ihre kleine Welt ein wenig erträglicher gestalten können. Nach ihrem Maß. Schön ist das alles immer noch nicht, doch der Flecken ist durchsetzt mit einigen Vorzeichen eines lohnenden Lebens.

Die meisten Leute wohnen schon seit den 1960er Jahren hier bzw. sind hier aufgewachsen und inzwischen alt geworden. Insofern hat Merle Forchmann Bilder einer allmählich verblassenden Lebenswelt eingefangen. Und woher diese Siedlungstreue? Einerseits sind sie wohl geblieben, weil man nur schwer von dort wegkommt, andererseits scheint es einen sozialen Zusammenhalt zu geben, den sie selbst dann noch aufsuchen, wenn ihnen der „Absprung“ gelungen ist. Fast alle Verwandten und viele langjährig befreundete Menschen wohnen ja weiterhin hier. Selbst ein Sohn des Viertels, der es zum Gymnasiallehrer gebracht hat, kommt jederzeit zu Besuch, obwohl seine Partnerin mit all dem wenig anfangen kann.

Es lassen sich hier nicht zuletzt eigene Vorurteile überprüfen. Was hält man spontan vom Anblick dieser Menschen? Ändert man seine Meinung, wenn man ein paar Zeilen über sie liest? Kommen sie einem nicht nach Durchsicht des Bandes schon wesentlich vertrauter vor? Oder bleiben sie dennoch seltsam fremd?

Merle Forchmann: „Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung“ (Hrsg.: Jonny Bauer). Verlag Kettler, Dortmund. 116 Seiten Softcover, Format 18×23 cm, Texte in Deutsch und Englisch. 19 Euro.

_________________________________________

Der Dortmunder Verlag Kettler – eine stille Sensation

Der Verlag Kettler darf als eine der stillen Sensationen von Dortmund gelten. In dieser Stadt werden ansonsten kaum noch Bücher hergestellt, seit etwa grafit (Regionalkrimis etc.) und Harenberg (populäre Lexika usw.) die einst stolzer geblähten Segel gestrichen haben.

Die wenigsten Einheimischen dürften schon von Kettler gehört haben, dabei produziert der Verlag im Schatten des „Dortmunder U“ (und mit eigener Druckerei im nahen Bönen) u. a. Kataloge für erstrangige Institute wie die Bundeskunsthalle (Bonn) oder den „Hamburger Bahnhof“ (Berlin). Mit solchen Publikationen zählt Kettler zu den führenden Kunstverlagen der Republik.

In der Region kooperiert man regelmäßig mit dem Emil-Schumacher-Museum (Hagen), dem NRW-Baukunstarchiv (Dortmund) oder dem Marta in Herford. Auch ein enorm anspruchsvoller, auf Katalog-Qualität versessener Künstler wie Christo vertraute Kettler eine voluminöse Werkübersicht über sich und Jeanne-Claude an. Eine Art Ritterschlag in dieser Branche.

 




Seele der ganzen Region – Fotoschau über Fußball im Ruhrgebiet (verlängert bis 20. Mai ’24)

Typisch Ruhrgebiet? „Schlechter Platz“, aber unbändige Begeisterung (Essen, März 1970). (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Marga Kingler)

Das kann doch wohl kein Zufall sein: Zwischen 1952 und 1957 erreichte die Steinkohleförderung im Revier ihre Gipfelpunkte. Just in dieser Phase machten Ruhrgebietsvereine die deutsche Fußballmeisterschaft hauptsächlich unter sich aus: 1955 war Rot-Weiß Essen an der Reihe, 1956 und 1957 folgte Borussia Dortmund, 1958 schließlich Schalke 04.

Gemeinsame Sache: Heinrich Theodor Grütter (li.), Leiter des Ruhr Museums, und Manuel Neukirchner, Leiter des Deutschen Fußballmuseums, vor dem Plakat der Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

In einer gemeinsamen Ausstellung auf Zeche Zollverein erzählen das dort ansässige Ruhr Museum und das (auch nicht von ungefähr) in Dortmund angesiedelte Deutsche Fußballmuseum die Geschichte(n) des Revierfußballs anhand von 450 prägnanten Fotografien aus etwa 100 Jahren. Die Auswahl war reichlich und dürfte einige Mühe (aber auch Freude) bereitet haben, beherbergt doch das Ruhr Museum unter seinen Millionen Fotografien allein rund 60.000 Fußballmotive – im weiteren Sinne. Denn das Spektrum der Bilder weist über den Fußball hinaus auf den Alltag der Region.

Neben fotografischer Ästhetik geht es vor allem um das Lebensgefühl, das sich im Ruhrgebiet so innig wie kaum irgendwo sonst in Europa mit dem Fußball verknüpft hat. Allenfalls England, bekanntlich das Mutterland dieses Sports, kann da (vorbildlich) mithalten.

Fußballfreunde, Essen, 25. Januar 1967. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Tripp)

In elf Themenbereichen erkundet die vielfältige Schau zumal das oftmals schlichte soziale Umfeld der Fußball-Leidenschaft – bis hin zu in jeder Hinsicht „dreckigen“ Spielen auf Matsch- und Ascheplätzen. Die Fankultur kommt ebenso in Betracht wie Anfänge des Frauenfußballs oder hochartifizielle Aufbereitungen. So ist etwa Andreas Gurskys mittlerweile berühmtes, wandfüllendes Digitalbild der „Gelben Wand“ (Fans auf der Südtribüne des Dortmunder Stadions) zu sehen.

Schmerzlich spürbar werden die Brüche seit den 1950er Jahren. Um den Ausstellungstitel aufzugreifen: Dem Mythos folgte allmählich die Moderne. In der Nachkriegszeit kamen die Spieler noch längst nicht auf die Idee, sich derart PR-gerecht zu stilisieren wie heute. Auch war es undenkbar, dass ein Verein an die Börse gegangen wäre. Und die Spielergehälter lagen etliche Etagen unter den jetzt so wahnwitzigen Summen.

Heinrich Theodor Grütter, Leiter des Ruhr Museums, hält gleichwohl dafür, dass der Ruhrgebiets-Fußball im Bergbau seinen für lange Zeit fruchtbaren Humus gefunden habe. Die Ausstellung im Vorfeld der EM 2024 finde derweil in schicksalhaften Tagen statt: Wird der BVB doch noch Meister, kann Schalke den Abstieg abwenden, hält sich RW Essen in der Dritten Liga? Fragen über Fragen.

Übervolle Hütte: Zuschauer beim Revierderby Schalke 04 gegen Borussia Dortmund in der Glückauf-Kampfbahn, 5. März 1961. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Herribert Konopka)

Eröffnet wird die Schau am kommenden Sonntag (7. Mai) um 18 Uhr – eben dann spielt der BVB ab 17.30 Uhr abermals eine vorentscheidende Partie gegen Wolfsburg. Drum wird keine Dortmunder Kicker-Prominenz im Ruhr Museum erscheinen, wohl aber Dortmunds Oberbürgermeister Westphal. Er wird im Museum ehemaligen Spielern wie Bernard Dietz (MSV Duisburg), Ingo Anderbrügge (vor allem Schalke) oder Hermann Gerland (Wurzeln beim VfL Bochum) begegnen.

Apropos: Ob die Auswahl der Exponate „Schlagseite“ hin zu Schalke und eher weg vom BVB zeigt, mag das Publikum aus verschiedenen Perspektiven beurteilen. Womöglich haben die Leute vom Dortmunder Fußballmuseum das Schlimmste verhüten können. Frotzelei beiseite! Fakt ist, dass auch etliche andere Vereine vorkommen, darunter solche, die es längst nicht mehr gibt, die aber einst Legenden hervorgebracht haben. Überhaupt vermittelt die Ausstellung das erhebende Gefühl, dass es im Revier – aller Rivalität zum Trotz – jede Menge Gemeinsamkeiten gibt.

Neben den Fotografien sind nur ganz wenige „Reliquien“ zu sehen, so das Originaltrikot des 54er-Weltmeisters Helmut Rahn. Der Essener, der das entscheidende Tor zum deutschen Sieg über das hochfavorisierte Ungarn erzielte, ist im Schatten der Zeche Zollverein aufgewachsen. So schließt sich ein Kreis.

1. Kreisklasse vor Kulisse des Kraftwerks Springorum, 10. Januar 1973. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Manfred Vollmer)

Ausstellung wird bis zum 20. Mai 2024 verlängert

„Mythos & Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“. 8. Mai 2023 bis 4. Februar 2024. bis 20. Mai 2024. Ruhr Museum in der Kohlenwäsche, Zeche Zollverein, Essen, Gelsenkirchener Straße 181, 45309 Essen. Geöffnet Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 10 €, ermäßigt 7 €. Jugendliche unter 18, Schülerinnen, Schüler und Studierende unter 25 freier Eintritt. Katalog mit über 480 Abb. 29,95 Euro.

Ermäßigung auch bei Vorlage einer Dauerkarte eines Ruhrgebiets-Vereins oder eines Tickets des Deutschen Fußballmuseums. Mit Ticket der Essener Schau wiederum gibt’s 20% Nachlass auf den Tageskassen-Eintritt ins Fußballmuseum.

www.ruhrmuseum.de

www.tickets-ruhrmuseum.de

 




Von Unna bis Bangkok – Unbewohnbarkeit der Städte im fotografischen Langzeitprojekt

Der 1961 in Wolfsburg geborene Fotograf Peter Bialobrzeski ist ein kreativer Unruhegeist. Wenn der Foto-Künstler keine Uni-Seminare hält, ist er mit seiner Kamera unterwegs, erforscht die Geheimnisse der deutschen Kleinstädte und die Abgründe der globalen Mega-Metropolen. Seine Arbeiten werden weltweit ausgestellt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Seit einiger Zeit widmet er sich einem Langzeitprojekt: Die Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Thema seiner „City Diaries“, mit denen er der Frage nachgeht, ob unsere Vorstellung vom Bild einer Stadt, gespeist aus Vorurteilen, Vorgefundenem und medial Vermitteltem, in ein spezifisches Bild überführt werden kann. Die Bibliothek der „City Diaries“ umfasst inzwischen 19 Bücher.

Die Reiseroute seiner Foto-Safaris scheint keinem Muster zu folgen, ein Auswahl-Prinzip ist nicht erkennbar. Manche Stadterkundung mag im Zusammenhang mit Einladungen zu Vorträgen und Ausstellungen entstanden sein. Wissen will er, wie sich die Globalisierung auf die Architektur der Stadt auswirkt und kulturelle Unterschiede eingeebnet werden, wie Menschen ihre Stadt bewohnen und sie sich aneignen.

Unschärfen vor grauem Himmel

Bialobrzeski war in Kairo und Athen, Taipeh und Beirut, Wuhan und Osaka, Dhaka und Yangon, Minsk und Belfast. Für seine jüngsten „City Diaries“ hat es ihn von der deutschen Provinz bis ins ferne Asien verschlagen – von Unna über Sarajevo bis nach George Town und Bangkok. Er kennt keinen kulturellen Dünkel und keine Berührungsängste, das Kleine ist ihm genauso wichtig wie das Große, das Detail genauso lieb wie das Gesamtbild. Sein fotografisches Erkenntnis-Interesse ist im besten Sinne egalitär und demokratisch.

Format (14 x 21 Zentimeter) und Umfang (96 Seiten) aller Bände sind identisch und unterliegen einer strengen Systematik. Die Fotos scheinen auch immer auf dieselbe Art und Weise nachbearbeitet zu sein. Immer ist der Himmel leer und grau, immer scheinen die Städte von einer feinen Staubschicht bedeckt uu sein, immer werden die Fotos mit langer Belichtungszeit geschossen oder mehrere ähnliche Fotos ineinander montiert, so dass alles, was sich bewegt, egal ob Mensch oder Auto, etwas Verwischtes und Unscharfes, etwas Nicht-Fassbares bekommen.

Scheußliches Durcheinander

Der Fotograf logiert in einem Hotel mitten in der Stadt und erweitert von Tag zu Tag seinen Radius, bis er in die angrenzenden Vororte und an die ausufernden Ränder vordringt. Er fotografiert nie die touristischen Highlights, ein bekanntes Rathaus, ein wichtiges Museum, eine kulturelle oder architektonische Besonderheit, die jeder mit der Stadt in Verbindung bringen würde. Sein Interesse zielt auf das alltägliche Getriebe und Gewusel: Er beobachtet, wie sich Menschen durch das von jeder Idee und jedem Sinn befreite Chaos der städtischen Infrastruktur bewegen; wie sie achtlos an Bauwerken vorbei hetzen, die scheußlicher kaum sein könnten; wie sie das Durcheinander von alten Bauten und neuen Läden, von grellen Werbeplakaten und bunten Straßenschildern ausblenden; wie sie die überall sichtbare Verwahrlosung des öffentlichen Raumes vollkommen gleichgültig ertragen. Wie sie es irgendwie schaffen, ihren Alltag zu meistern, zu leben zwischen glitzernden Hochhausfassaden und verdreckten Hinterhöfen, schicken Einkaufszentren und ihren von Autobahnen brutal durchschnittenen Wohnvierteln. Und wie sie sich kleine Oasen des Friedens schaffen und dem größten Lärm mit ein paar grünen Pflanzen und weißen Plastikstühlen trotzen, die überall auf der Welt gleich aussehen, auf denen man aber ausruhen und miteinander ins Gespräch kommen kann.

Kultureller Kahlschlag als globales Phänomen

Am Beginn eines jeden Fotobandes stehen ein paar allgemeine Notizen. Die Fotos selbst werden nicht beschrieben oder kommentiert, sie einzuordnen und zu verstehen ist allein die Aufgabe des Betrachters. Im „Bangkok Diary“ notiert der Fotograf: „Die Stadt hat sich dramatisch verändert. Sie verwandelt sich in ein anderes Singapur mit Skywalks, klimatisierten Einkaufszentren und Kaffeeständen im westlichen Stil. Es ist jetzt einfacher, in den Straßen der Hauptstadt von Siam einen Vanille-Latte zu kaufen als ein Pad Thai.“

Bei seinem Aufenthalt in George Town beschreibt er kopfschüttelnd, welch fatale Wirkungen gut gemeinte Hilfe haben kann, wenn eine Stadt zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt wird: „Aufgrund des Privilegs hat das alte George Town jetzt einen ständigen Strom an Touristen, die Cafés im westlichen Stil suchen, die dort Cappuccino, Kuchen und Bagels anbieten. Ich finde es immer wieder seltsam, dass Menschen Tausende von Flugmeilen zurücklegen und dabei tonnenweise CO2 ausstoßen, um dann in Kneipen zu landen, von denen sie zu Hause genug haben.“ Er hat keine Illusionen über die Dominanz des kapitalistischen Konsums und des kulturellen Kahlschlag der Globalisierung.

Rätselhaft, wie Menschen das ertragen können

Irritierend: die Normalität der Verwahrlosung und Verwüstung, die Gleichgültigkeit der Menschen und die Unbewohnbarkeit vieler Stadt-Areale. Sarajevo: eine bizarre Mischung aus Beton-Brutalismus der siebziger/achtziger Jahre und verspieltem Backsteindekor, auch gibt es Ruinen und Grabfelder aus dem Bürgerkrieg direkt neben modernen Glaspalästen und farbenfrohen Werbeflächen, Kirchen und Moscheen direkt neben Fitnessstudios und Wettbüros. Bangkok: ein labyrinthisches Gewirr aus Kabeln und Leitungen, die über den Köpfen der Menschen schweben, an dürren Masten hängen und sich wie dünne Lebensadern durch die ganze Stadt ziehen. George Town: eine groteske Melange aus asiatischen und europäisch-amerikanische Elementen, Pagoden-Bauten neben Kolonial-Villen, chinesischen Schriftzeichen neben Werbung für Nescafé. Unna im Corona-Lockdown: ein optischer Alptraum, eine menschenleere Einöde, ein ideenloses architektonisches Nichts aus alten Fachwerkhäusern und grauem Beton. Rätselhaft, wie Menschen das ertragen und aushalten können.

Im Herbst 2023 werden vier neue Bände der „City Diaries“ erscheinen. Bialobrzeski entführt uns dann nach London und Turin, Vilnius und Wilson (North Carolina), beobachtet und fotografiert wieder auf seine Weise vom Zentrum zur Peripherie ausschreitend und präsentiert seine Ansichten und Einsichten wieder im gleichen Format und Umfang: Was richtig und wichtig ist, sollte man nicht ändern.

Peter Bialobrzeski: „City Diaries“ (Langzeitprojekt, bisher 19 Bände). Neu bei Hartmann Books erschienen: „George Town“, „Unna“, „Sarajevo“, „Bangkok“. Jeder Band hat 96 Seiten und kostet 22 Euro.




Bonner Ausstellung sucht nach „Peinlichkeiten“ in der Kunst

Maria Lassnig: „Selbst als Almuth“ oder „Selbst als Almkuh“ (beide Titel sind zu finden), 1987, Öl auf Leinwand (Bild: Bundeskunsthalle / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Maria Lassnig Stiftung)

Auch das „Advanced Learner’s“, das im Bücherregal seit ewigen Zeiten ein weitgehend unbehelligtes Dasein fristet, kannte es nicht, das Wort „camp“ in seiner besonderen Bedeutung für das Kunstgeschehen. Also Wikipedia, wo zu lesen ist, daß „camp“ „eine stilistisch überpointierte Art der Wahrnehmung kultureller Produkte aller Art (Film, Musik, Literatur, Bildende Kunst, Mode, Schminke etc.) (meint), die am Künstlichen und der Übertreibung orientiert ist“. Je nachdem kann man auch „campy“ sagen, das ist dann aber schon etwas despektierlich. Wieso interessiert der Begriff „camp“? Weil die Bundeskunsthalle in Bonn jetzt in einer Ausstellung Kunst zeigt, die – auch, manchmal – campy ist. Oder sein soll.

Schlagworte

„Ernsthaft?! Albernheit und Enthusiasmus in der Kunst“ heißt die Schau, deren Titel den Betrachter zunächst einmal ziemlich ratlos macht. Auch ein weiteres Schlagwort des textlichen Begleitmaterials, die „enthusiastische Peinlichkeit“, bringt ihn nicht wirklich weiter. „Peinlich“ ist uns ja vor allem als wertender Begriff aus dem Teenager-Sprech gegenwärtig („Mama/Papa, du bist peinlich“). Aber peinliche Kunst? Das läßt fast an Nazi-Formeln denken. Oder ist das alles nur Scherz? Wohl nicht.

Trubel im historischen Vergnügungspark – Blick in die Austellung mit Arbeiten von Adrien Rovero und Jim Shaw (Foto: Mick Vincenz, 2022, © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Historisch

Die Kunst, die in Bonn gezeigt wird, ist schön, aber weniger spektakulär als der Ausstellungstitel befürchten läßt. Verständlicher wird das ganze, wenn man auf die insgesamt sieben Kapitel schaut, in denen Jörg Heiser und Cristina Ricupero als Kuratoren „enthusiastische Peinlichkeit“ zu entdecken vermeinen. Grellrotbunter Blickfang – und erklärtermaßen Kapitel Nr. 1 – ist in prominenter Raumesmitte eine Installation von Adrien Rovero, die mit der Anmutung eines historischen Vergnügungsparks spielt. Hier wird das eigentlich Kleine groß und bunt und dramatisch gemacht, um Aufmerksamkeit zu erlangen. In dieses Umfeld wurde Jim Shaws ebenfalls ziemlich raumgreifende Arbeit „Labyrinth: I Dreamt I was Taller than Jonathan Borofsky“ (2009) platziert, deren Elemente wirken wie überdimensionierte  Pappe-Aufsteller mit großem Mitteilungsdrang. Auf der einen Seite werden anonyme Menschenmassen zusammengepfercht, während auf auf der anderen  ein überdimensionaler Staubsauger mit Ganovengesicht Menschen aufsaugt, die in Panik zu fliehen versuchen. Dominiert wird das alles von einem riesigen, traurigen Clown mit Vollbart, Tutu und Netzstrümpfen.

Vorbild für Rovero war der Luna Park auf Coney Island (New York), der 1903 als erster seiner Art eröffnete. Gemessen an Titel und Anspruch der Schau könnte man also fragen: Enthusiasmus? Na ja. Albernheit? Nicht wirklich. Aber auf jeden Fall ein kluges Spiel mit Proportionen in einer skulpturalen Überwältigungsarchitektur.

Wenn sie nur nicht so schielen würden! Hans-Peter Feldmann malte das Paar mit schielenden Augen (Cross-eyed couple) 2012. Öl auf Leinwand (Foto: Bundeskunsthalle, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Jan Windszus)

Was Künstler wollen

Die meisten anderen Werke sind erheblich kleiner, stehen im Raum oder hängen an der Wand, doch fast immer schwebt ein gerüttelt Maß Ambivalenz über dem Ganzen, zumal die Ausstellung der Frage wenig Bedeutung beimißt, ob Albernheit, Peinlichkeit und ähnliches nun der künstlerischen Intention entsprechen oder im Widerspruch zu ihr stehen.

Bei „Dada“ (zweites Kapitel) fällt die Antwort leicht; die Welt, der im Weltkrieg alle Gewißheiten abhandengekommen waren, sollte sich in der Kunst spiegeln, im „respektlosen Humor“ (Katalog) etwa von Alfred Jarry oder Marcel Duchamp. Die schrillen fotografischen Selbstinszenierungen der Baroness Elsa von Freytag-Lohringhoven aus den 20er Jahren wirken in diesem Kapitel gut aufgehoben. Eine Radierung Pieter Bruegels d.Ä. von 1642 („Die Narren“) hier unterzubringen, wollen wir allerdings mutig nennen. Doch eigen ist ihr wie den anderen Genannten, daß der Künstler der erklärte, quasi aktive Possenreißer ist.

MRZYK et MORICEAU: „Ohne Titel“, 2021, Tinte auf Papier (Foto: Bundeskunsthalle, © Courtesy the artists and Air de Paris, Romainville, Marc Domage)

Musentempel

„Das moderne Museum“ ist  Kapitel III übertitelt, das den Widerspruch zwischen der Feierlichkeit des Musentempels mit seinen Vorschriften, Absperrungen, Sockeln und der Respektlosigkeit der Künstler sehr schön pointiert. Hier gibt es Surreales von Magritte und de Chirico zu sehen, knallbunte Publikumsverhöhnung von James Ensor und einiges von Martin Kippenberger, dem die Bundeskunsthalle vor einiger Zeit ja eine umfangreiche Retrospektive widmete. Da hing viel Gutes, und etwas beispielsweise aus dem Projekt „Lieber Maler male mir“ hätte auch der aktuellen Ausstellung sicherlich gutgetan.

Kuratoren-Slapstick

„Trockenen Humor“ macht die Ausstellung in manchen Hervorbringen der Minimal Art/Konzeptkunst aus. „Man kann dieses Kapitel als einen sehr kühlen White Cube beschreiben, mit sich bewegenden Wänden und sich verschiebenden kleinen Objekten von Robert Breer und Sigmar Polke, mit Kuhportraits von Jef Geys oder den gefundenen, von Wollfäden umspannten Sonntagsmalereien von Lara Favaretto. Zusammen bilden diese Werke einen (fast) stummen Slapstick-Film“, meint die Pressemappe. Erfolgte der Aufbau der Arbeiten mithin in diffamierender Absicht? Selbst wenn es so wäre, kann der Rezensent den unernsten Eindruck aus eigener Anschauung nicht bestätigen, den die Ausstellungsmacher offenbar von dieser Kunst haben. Und es fragt sich schon, warum gerade sie schlecht wegkommt bei diesem gewaltigen Rundumschlag der Kunstbetrachtung.

Der schlechteste Regisseur aller Zeiten darf  nicht fehlen

Erstmal geht es jetzt aber weiter mit den B-Movies, entsetzlich schlecht gemachten Horrorfilmen aus den 50er Jahren, mit denen sich bekanntlich untrennbar der Name des Regisseurs Ed Wood verbindet, des „schlechtesten Regisseurs aller Zeiten“. Doch auch andere machten peinliche Filme (hier paßt das Wort direkt mal), die Bonner Ausstellung zeigt Filmplakate auch von Hervorbringungen wie „Die Satansweiber von Tittfield“ oder „Angriff der Killertomaten“ sowie aus dem asiatischen Raum.

Da wundern sich die Kuscheltiere: Paul McCarthys „Skunks“ von 1993 haben bemerkenswerte Pimmel. (Foto: rp)

Lustige Figuren

Die letzten Kapitel schließlich arbeiten sich an bereits erwähnten Begriff „camp“ und an „Post-Surrealismus/Post-Internet“ ab, an gegenwärtiger Kunst, deren Peinlichkeits- bzw. Spaßvaleurs, falls vorhanden, sich nicht immer unmittelbar erschließen. Auf dem Weg durch die Kapitel, der übrigens weit davon entfernt ist, so etwas wie eine Zwangsführung zu sein, gibt es jedenfalls viel Lustiges zu sehen. Besonders gefällt Hans-Peter Feldmanns Ölgemälde eines wohlhabenden bürgerlichen Ehepaars des 19. Jahrhunderts, das nur leider ganz grauenvoll schielt und dem damit jede Feierlichkeit abgeht. Auch Feldmanns Nofretete, hier mit Zweitauge, schielt zum Gotterbarmen.

Das Dortmunder Fotografenehepaar Anna und Bernhard Blume ist mit Bildern aus der „Holterdiepolter“-Serie von 1977/78 ebenso vertreten wie Isa Genzken mit ihrer Figureninstallation „Family on the Beach“ (2015) oder George Grosz mit der Zeichnung „Schwejk: ,melde gehorsamst, daß ich blöd bin’“ von 1928. Ausgesprochen stark ist Maria Lassnigs „Selbst als Almuth“ (oder „Selbst als Almkuh“) (1987), geradezu umwerfend sind Paul McCarthys „Skunks“ von 1993 mit ihren stattlichen Pimmeln, wie sie sich für süße Stofftiere doch eigentlich nicht gehören, auch wenn sie überlebensgroß sind.

Ein Platz in der Kunstgeschichte?

Und so weiter, man könnte endlos aufzählen. Dabei fällt schon auf, daß der Auswahl der Werke eine gewisse Beliebigkeit eigen ist, die im Gegensatz zu den relativ eng gefaßten Betextungen steht. Ob der Begriff der Peinlichkeit, der enthusiastischen zumal, seinen Platz in der Kunstgeschichte finden wird? Dann hätten sich die Kuratoren ein veritables Denkmal gesetzt. Immerhin hat es schon mal für eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle gereicht, hernach wird sie in Hamburg (Deichtorhallen/Sammlung Falckenberg) und in Graz zu sehen sein.

  • „Ernsthaft?! Albernheit und Enthusiasmus in der Kunst“, Bundeskunsthalle, Bonn, Helmut-Kohl-Allee 4
  • Bis 10. April 2023.
  • Eintritt 13 Euro, erm. 6,50 Euro, bis enschl. 18 Jahre frei.
  • Allg. Informationen Tel. 0228 9171 200

www.bundeskunsthalle.de




Pläne im Museum Folkwang: Digitale Abenteuer, Ideen für Krisenzeiten

In der digitalen Welt: Rafaël Rozendaal „much better than this, 2006″, Multimedia-Installation, Times Square, New York City, 2015. (© Rafaël Rozendaal / Upstream Gallery, Amsterdam)

Das Jubiläumsjahr neigt sich dem Ende zu: Essens Museum Folkwang besteht seit 100 Jahren und hat den Anlass vielfältig begangen, u. a. mit der opulenten Kunstschau „Renoir, Monet, Gauguin“, aber auch mit etlichen Festivitäten und Aktionen im Stadtgebiet, worauf Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter besonderen Wert legt – ebenso wie auf Nachhaltigkeit, die sich neuerdings in Photovoltaik auf den Flachdächern des Museums manifestiert.

Derart viel „Wumms“ (sagt man heute manchmal so) wird es 2023 wohl nicht geben können. Derweil erfordert es einige Phantasie, um sich Details zum einen oder anderen Projekt überhaupt vorzustellen.

Da wäre etwa eine Ausstellung des Niederländers Rafaël Rozendaal (21. April bis 20. August 2023), der in New York lebt und als Digital-Künstler von sich reden macht. Als eines der ersten Institute wagt sich das Museum Folkwang dabei aufs Terrain der „NFT“-Kunst, die sich aus der ihrerseits nicht leicht zu begreifenden Blockchain-Technologie herleitet und sich noch im Pionierstadium befindet.

Die Abkürzung NFT steht für „Non Fungible Token“ (ungefähr: „nicht austauschbare Wertmarke“) und bezeichnet digitale Dateien, denen vertragsähnliche Merkmale implementiert werden, so dass die entsprechenden Kunstwerke nicht frei im Netz schweben, sondern als Besitz existieren, der eindeutig zugeordnet werden kann. Einstweilen klingen die Pläne etwas kryptisch, so werden im Museum „Transit-Räume“ eingerichtet. Lassen wir uns überraschen, was sich hinter all dem verbirgt und wie es zu vermitteln ist. Thomas Seelig vom Folkwang-Leitungsteam (Spezialgebiet: fotografische Sammlung) findet jedenfalls, dass sich die Museen zur aufkommenden NFT-Kunst positionieren sollten, es betreffe ja auch die Zukunft ihrer Sammlungs-Tätigkeit. Wir werden sehen.

Henri Matisse: „Icare“ (Ikarus), Blatt 1 aus dem Portfolio „Jazz“ (1947), Druckgrafik, 42 x 65,5 cm (© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Beinahe konventionell mutet demgegenüber eine Ausstellung an, die wiederum mit drei berühmten Künstlernamen umschrieben wird: „Chagall, Matisse, Miró – Made in Paris“. (1. September 2023 bis 7. Januar 2024). Aber was heißt in diesem Kontext schon konventionell? Diese und andere Künstler erprobten seit Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls neuartige Strategien, die ihrer Zeit voraus waren. Es geht um Mappenwerke, Editionen und Künstlerbücher, deren Urheber auf weite Verbreitung (Fernziel: „Kunst für alle“) abzielten. Im Vordergrund steht Druckgraphik, die u. a. durch Zeitschriften in hohen Auflagen verbreitet wurde. Herausragende Beispiele sind Henri Matisse mit seiner Scherenschnitt-Mappe „Jazz“ oder Marc Chagall mit einem Zyklus um die antiken Gestalten „Daphnis und Chloé“. In jenen Jahren wurden, zumal in Paris, immer mehr auf künstlerische Druckgraphik spezialisierte Werkstätten gegründet, die unternehmerisch arbeiteten und Gewinn anstrebten. Vereinzelt existieren sie bis heute. Auch dieser Aspekt soll ausführlich dargestellt werden.

Die vielleicht aufwendigste Ausstellung des nächsten Jahres erfordert wiederum Vorstellungsvermögen, sie heißt „Neue Gemeinschaften“ (ab 24. November 2023) und blickt zurück auf utopische Lebensentwürfe in den Künsten und sozialen Bewegungen der letzten 120 Jahre. Vielleicht sind ja Energien zu entdecken, die auch in der heutigen Krisenzeit Impulse geben können. Es erhebt sich also die gewaltige Frage, wie wir künftig leben wollen, ohne den Planeten weiter zu zerstören.

Der Reigen beginnt mit frühen Lebensreform-Ideen (Stichwort Kolonie Monte Verità) im erhofften Einklang mit der Natur. Ferner geht es um die kristalline Bauweise der Architektur-Gruppierung „Gläserne Kette“ in den 1920er Jahren, um die Hippie-Kultur der späten 1960er Jahre, um „Afro-Futurismus“ und um Überwindung des Menschen-Zeitalters („Anthropozän“). Ganz recht: Was all das zu bedeuten habe, wird sich – so oder so – wohl erst vollends in der Ausstellung zeigen können. Die Pläne klingen nach geistigem Abenteuer und nach tastender Suche.

Übrigens wird auch noch in diesem Jahr eine bemerkenswerte Ausstellung eröffnet: Am 2. Dezember beginnt im Museum Folkwang eine Retrospektive zu Helen Frankenthaler (1928-2011), die als eine Leitfigur der Farbfeldmalerei und des Abstrakten Expressionismus gilt.

Weitere Infos, auch zu Plänen der fotografischen Abteilung:
www.museum-folkwang.de

P. S.: Und wie wappnet sich das Museum gegen Attacken mit Kartoffelbrei und sonstigen Substanzen? Mit Taschenkontrollen – und mit weiteren Maßnahmen, die man nicht öffentlich ausposaunt. Außerdem, so heißt es, stehe man im vertrauensvollen Dialog mit Klima-„AktivistInnen“.




Impressionismus und Fotografie – zwei Wege in die Moderne

Fotografie im Geiste des Impressionismus – Peter Henry Emerson: „Seerosenpflücken“, 1886 (Platindruck, 19,5 x 29 cm). Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung, erworben 1989, Sammlung Rolf Mayer. (© Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgart / Peter Henry Emerson)

Es gab nicht viele deutsche Museen, die impressionistische Kunst lange vor dem Ersten Weltkrieg gesammelt haben, als sie noch nicht kanonisiert war. In Berlin, Hamburg, München und Bremen waren sie immerhin frühzeitig dabei – und wohlgemerkt in Wuppertal, wo das örtliche Kunsthaus vor 120 Jahren (genau: am 25. Oktober 1902) bürgerschaftlich gegründet wurde.

Mit dem Pfund der frühen Ankäufe (u. a. Werke von Sisley, Signac, Cézanne, Monet) lässt sich noch heute wuchern, und so bestreitet man jetzt abermals überwiegend aus Eigenbesitz eine Ausstellung zum Themenkreis. Es geht um Beziehungen zwischen impressionistischer Malerei und der seinerzeit noch jungen, anno 1839 erfundenen Fotografie, die sich erst nach und nach als neue Kunstform etablierte. Auch der Impressionismus wurde noch längst nicht allseits goutiert, bedeutete er doch damals ebenfalls eine grundlegende Erneuerung der bildenden Kunst.

Es waren zwei Wege in die Moderne: Die Fotografie war auf mehrfache Weise mit der Malerei verwoben. Sie fungierte als Anregung und belebender Einfluss, erwies sich zudem als taugliches Hilfsmittel zur Erfassung der Realität, doch auch als konkurrierendes Medium. Paul Cézanne postulierte gar, der Maler solle sein wie eine fotografische Platte – getreulich die Wirklichkeit wahrnehmend und wiedergebend. Andererseits galt die Fotografie in ihren ersten Jahrzehnten als mindere Kunst, die zunächst nicht gemeinsam mit Malerei ausgestellt wurde. Erst 1861 drang sie in den Pariser Salon vor, freilich noch mit separatem Eingang.

Die Wuppertaler Schau „Eine neue Kunst. Fotografie und Impressionismus“ setzt mit vorimpressionistischen Bildern von Camille Corot und Gustave Courbet (jeweils um 1870) ein, die mit einer wuchtigen Original-Plattenkamera aus jener Zeit konfrontiert werden. Es sollen also – auch im weiteren Rundgang – möglichst direkte „Dialoge“ zwischen den Künsten gestiftet werden. Die Fotografie der Pionierzeit ist vor allem mit herausragenden Beispielen aus dem Besitz des Münchner Stadtmuseums vertreten. Ulrich Pohlmann, Leiter der dortigen fotografischen Sammlung, steht als Gastkurator der Wuppertaler Kuratorin Anna Baumberger zur Seite. Weiterer Kooperationspartner ist das Museum Barberini in Potsdam.

Bemerkenswerter Befund: Anfangs waren die Maler, zumal nach Erfindung der Farbtube, mit bedeutend leichterem Gepäck unterwegs als die Fotografen, welche schwere Platten und gar Zelte mit sich führen mussten. Erst mit der Zeit gab sich das und die Fotografie ging schneller und bequemer vonstatten.

Claude Monet: „Blick auf das Meer“, 1888 (Leinwand, 65 x 82 cm). Von der Heydt-Museum, Wuppertal.

Die Wuppertaler Raumfolge greift verschiedene Aspekte zwischen Malerei und Fotografie auf. Da geht es eingangs um den Vergleich von Bildern „majestätischer Weite“ (Himmel und Meer), wobei etwa Wellen-Darstellungen von Gustave Le Gray (raffinierte Kombination mehrerer Negative) und Claude Monet („Blick auf das Meer“, 1888) aufeinander bezogen werden. Während die Fotografie für damalige Begriffe ungemein detailreich erscheint, tendiert der malerische Zugriff zur Auflösung der Formen; ganz so, als wolle er sich von der Fotografie nachdrücklich distanzieren und eigene Stärken ausspielen.

Ein anderer Raum konzentriert sich auf Bilder der rasant gewachsenen Metropole Paris im Zeichen der Haussmannschen Boulevards. Hier findet sich beispielsweise Paul Signacs Ansicht von Notre-Dame (1885) in der Nachbarschaft einer um 1860 verfertigten Fotografie von Edouard Baldus, die zahlreiche Passanten auf einer Seine-Brücke zeigt. Durch die damals erforderliche lange Belichtung wirken die vielen Menschen leicht verwischt, geradezu ein wenig geisterhaft. Dies war eine häufige Erscheinung auf damaligen Fotografien.

Auch die andere große Erfindung jener Zeit wirkt hinein: Als die Eisenbahn nach Fontainebleau fuhr, brachen Künstler zuhauf in die waldreiche Gegend auf. Der Sehnsuchtsort war endlich ohne große Mühen erreichbar. Hochinteressant sind jene Fotografien, die just Maler bei der Arbeit unter freiem Himmel zeigen, so etwa Henry Peach Robinsons ländliches Motiv „Der Maler“ (um 1890 bis 1901, zusammengesetzt aus vier bis fünf Negativen), das neben Camille Pissarros Gemälde „Bäuerin mit Kuh“ (1883) gesetzt, welches einer ganz ähnlichen Situation zu entstammen scheint.

Es entwickelten sich folglich die Frühformen der Landschaftsfotografie. Diese wiederum trägt Spuren der impressionistischen Bildauffassung, indem Spiegelungen und Reflexionen am Wasser zum Bildthema werden – unter Verzicht auf die technisch durchaus mögliche Bildschärfe. Herausragendes Beispiel ist Peter Henry Emersons Fotografie „Seerosenpflücken“ (1886), die motivisch auf Monet zurückgeht.

Frühe Farbfotografie („Autochrome“): Antonin Personnaz‘ Bild „Armand Guillaumin beim Malen von ,Badende bei Crozant'“, um 1907. Autochrome, Faksimile, 9 x 12 cm (© Societé française de photographie, Paris)

Ein weiteres Kapitel ist der Bewegung des „Piktorialismus“ gewidmet, dessen Vertreter eine eigene Ästhetik der Fotografie im Sinn hatten. Diese innovative Strömung war alsbald international vernetzt und war auch auf lukrative Vermarktung aus. Ein Merkmal war eben gezielt herbeigeführte, quasi-impressionistische Unschärfe, mit der sich auch die Grenzen zwischen den Kunstgattungen verwischten. Man vergleiche Seurats Kreidezeichnung „Waldrand“ (um 1883) mit Heinrich Kühns Fotografie „Pappeln am Bach“ (um 1900). Das Foto wirkt wie eine Zeichnung und umgekehrt.

Nebenher werden auch technische Besonderheiten wie die Stereo-Fotografie (Stereoskopien), die das dreidimensionale menschliche Sehen imitierte, oder auch Geheimkameras streift, die sozusagen durchs Knopfloch blicken konnten. Auch das Aufkommen des Rollfilms in den 1880er Jahren kommt – wie andere Vereinfachungen und Beschleunigungen des Metiers – in Betracht.

Schließlich geht es noch um die Anfänge der Farbfotografie, die eine nochmalige Annäherung an malerische Verfahren bedeutete. Die vormalige „mathematische“ Genauigkeit der Fotografie war vollends passé, gerade im Gefolge des Impressionismus war die Auflösung fester Strukturen zu beobachten. Staunenswert, wie die vermeintlich so verschiedenen und doch verwandten Künste einander voranbrachten.

„Eine neue Kunst. Fotografie und Impressionismus“. Bis 8. Januar 2023. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr, Mo geschlossen. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Eintritt: Erwachsene 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 34 Euro.

www.von-der-heydt-museum.de




Surreale Ästhetik des Untergangs: Perttu Saksas Fotografien vom Raubbau in Afrika

Perttu Saksa ist ein vielfach mit Preisen ausgezeichneter finnischer Foto- und Video-Künstler. In seiner Kunst interessiert er sich vor allem für das schwierige Verhältnis von Mensch und Natur, für die Belastungen der Umwelt durch menschliches Handeln. Seine nicht immer leicht zu entschlüsselnden Arbeiten werden weltweit in Galerien und Museen gezeigt. Jetzt präsentiert er ein Buch mit dem geheimnisvollen Titel „Dark Atlas“. Es enthält eine Auswahl von Fotografien, die bei seinen Reisen durch Afrika entstanden sind.

Im Fokus: Westafrika, vor allem in Nigeria und Togo, Regionen, die wir allzu schnell und mit kolonialem Unterton mit dem Klischee-Begriff „Schwarz-Afrika“ belegen. Der Titel „Dark Atlas“ spielt mit diesen Klischee-Vorstellungen, gibt aber auch einen Hinweis auf Thema und Ästhetik der Foto-Serie, die nichts mit touristischer Neugier zu tun hat, kein fotografisches Tagebuch einer Reise ins „Herz der Finsternis“ ist, die Joseph Conrad einst beschrieb.

Fern von allen Klischees

Auf den Fotos gibt es keine afrikanische Folklore, keine Stammes-Rituale, keinen üppigen Urwald, keine Mega-Citys, kein hektisches Menschen-Gewusel. Nichts, was unser Bild von „Schwarz-Afrika“ ausmacht, wird auf den Fotos irgendwie umkreist, ironisch eingefangen oder sarkastisch entlarvt. Das geheimnisvolle Dunkle ist das „Schwarze Gold“, das Rohöl, das unter katastrophalen Bedingungen gefördert wird. Die Umwelt und alle traditionellen gesellschaftlichen Zusammenhänge werden zerstört.

Gepanschtes Benzin an jeder Straßenecke

Es geht um das Benzin, das von den Bohrfeldern der multinationalen Konzerne von den ausgebeuteten und zu bitterer Armut verdammten Menschen gestohlen wird, die nichts vom Reichtum an Bodenschätzen haben und zu Dieben werden, um überleben zu können. Sie panschen das Benzin zu einer Billig-Ware, verkaufen es an jeder Straßenecke. Das Billig-Benzin, das dort „Kpayo“ heißt und in Kanister, Glas-Behälter und Plastik-Flaschen abgefüllt wird, steht im Zentrum des fotografischen Interesses. „Kpayo“ eröffnet für der Fotografen Gedanken-Räume, um auszuloten, welche Konsequenzen der Raubbau und Hunger nach Energie hat: für Mensch und Natur.

An den Grenzen der Wahrnehmung

Um das Phänomen des geklauten Billig-Benzins und die Auswirkungen des Energie-Raubbaus zu bebildern, wird nicht die unmenschliche Arbeit auf den Bohrfeldern gezeigt, auch nicht die ölverseuchten Flüsse oder die im schwarzen Schlamm verendenden Tiere. Der reale Wahnsinn der Energie-Gewinnung und die spätkapitalistische Zerstörungswut ist genauso fern wie die gesellschaftlichen, politischen, religiösen Verwerfungen in Afrika. Stattdessen erschafft Perttu Saksa surreal anmutende Stillleben, groteske, symbolisch aufgeladene Impressionen, die oft wie abstrakte Malerei aussehen oder wie das Bühnenbild einer rätselhaften Theater-Inszenierung. Er sucht mit der Kamera Licht in der Dunkelheit, konzentriert sich auf Konturen, spielt mit den Grenzen der Wahrnehmung, mit trügerischen Erwartungen.

Keine Analyse, kein Ausweg

Aus dem Halbdunkel schälen sich Umrisse von öligen Kanistern, verkratzten Glas-Behältern und verbeulten Plastik-Flaschen heraus, halb gefüllt mit goldgelb schimmerndem Billig-Benzin. Manchmal geht die Kamera ganz nah heran, tastet kleine Details dieser bizarren Gegenstände ab, nimmt das Auge des Betrachters mit ins Innere der Benzin-Behälter, fast meint man, den Geruch von Benzin in der Nase zu haben und die ätzende Wirkung auf der eigenen Haut zu spüren. Der Fotograf arrangiert und sortiert die Behälter nach Größe, Form und Farbe, erfindet eine ambivalente Scheinwelt aus schön-scheußlichen Sinnes-Täuschungen: hier wird nichts analysiert, keine Problem benannt, kein Ausweg aus dem Kreislauf von Energie-Hunger und Natur-Zerstörung aufgezeigt, sondern es werden ästhetische Pforten der Wahrnehmung geöffnet, Assoziations-Felder, die jeder für sich selbst erkunden, erfahren, erleben, deuten, weiterdenken muss.

Ekel, Tod und Verwesung

Manchmal steht Saksa mit seiner Kamera in einer menschenleeren Landschaft, über einem grauen Fluss ballen sich bedrohliche Wolken zusammen, eine einsame, vom Wind zerzauste Palme behauptet sich gegen das Unwetter. Oder er blickt auf das tiefdunkle Wasser und die an einen einsamen Strand brandenden grünen Wellen des Meeres. Im verwilderten Gestrüpp im Hinterland entdeckt er verlassene Häuser, Fenster und Türen sind entfernt, Hinterlassenschaften einstigen Wohlstandes, jetzt sind überall nur noch modrige Wände, kaputte Fußböden. Einmal sucht sich eine Python-Schlange ihren Weg durch die Ruine, einmal liegt ein toter Vogel auf den Holzdielen, einmal der Schädel eines Tieres. Eine gefangene Eule hockt verängstigt in einem vergitterten Korb, auf einem Foto sieht man die leere Hülle einer verendeten Schildkröte, auf einem anderen abgeschlagene Köpfe von einem Hund und einem Leoparden, zu einem bizarren Kunstwerk übereinander gestapelt. Gewalt und Tod, Ekel und Verwesung liegen in der Luft, man spürt es, aber man sieht nicht, warum das geschieht, wer dafür verantwortlich ist, muss sich selbst einen Reim darauf machen, was das alles bedeuten und wie man das verändern könnte.

Die Apokalypse hat bereits stattgefunden

Kein Mensch, nirgends. Nur auf dem allerletzten Bild sieht man, wie jemand seine Finger unter den Strahl einer goldgelben Flüssigkeit hält, sich mit Billig-Benzin die Hände wäscht und versucht, die schwarzen Öl-Reste von wahrscheinlich irgendeiner illegalen Tätigkeit, dem Stehlen oder Panschen von Benzin zu tilgen. Ansonsten hat man das Gefühl, der Mensch habe es geschafft, sich selbst und die Umwelt komplett zu zerstören. Alles ist menschenleer, die Natur sich selbst überlassen, die Apokalypse hat bereits stattgefunden, jetzt geht es nur noch darum, in der Asche der Energie fressenden kaputten Welt herumzustochern und aus den Ruinen einer Umwelt und Mensch vernichtenden Industriegesellschaft etwas Neues und Besseres aufzubauen.

Der „Dark Atlas“ zeigt uns, in symbolischer Abstraktion und sinnlicher Ästhetik, was die Lust am eigenen Untergang für katastrophale Folgen hat und dass es höchste Zeit und ein drängendes Ziel ist, etwas dagegen zu unternehmen. In Afrika, in Europa. Überall.

Perttu Saksa: „Dark Atlas“. Kehrer Verlag, Heidelberg/Berlin 2022, 96 Seiten, 40 Farbabbildungen, 38 Euro.




Zwischen Yellow Press und Wahlplakat: Wie sich Hendrik Wüst in Szene setzt

Von etwas anderer Art als die im Beitrag erwähnten Fotos: Pressebild des jung-dynamischen Hendrik Wüst, heruntergeladen von der Seite cdu-nrw.de

Nein, ich will nicht behaupten oder auch nur argwöhnen, dass der NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst mit seiner nagelneuen schwarz-grünen Koalition schlechte Politik machen wird. Das wird man einfach abwarten müssen. Doch eins geht mir schon jetzt, ganz zu Beginn seiner Amtszeit, gehörig auf den Geist: seine (Selbst)-Inszenierung.

Wir erinnern uns daran, wie er sich in den letzten Wochen und Monaten hat öffentlich darstellen lassen. Entweder ähneln seine medialen Auftritte den Illustrations-Mustern der Yellow Press – oder es sind Bilder wie auf Wahlplakaten. Gar oft ist Wüst umfangen von lauter saftig-frischem Frühjahrsgrün. Gar herzig lachen er und seine Stellvertreterin Mona Neubaur (Grüne) immer und immer wieder für die versammelte Presse. Selbst ein so trockener Vorgang wie die schlichte Unterschrift unter den Koalitionsvertrag geriet so zur politischen Liebesgeschichte mit Happy End. Aber vielleicht gibt es ja eine zusätzliche Erklärung: So fröhlich kann man wohl nur sein, wenn die FDP nicht an einer Regierung beteiligt ist.

Tatsächlich hat Hendrik Wüst in der Wahlkampfphase auch das Mittel der Homestory eingesetzt, unter anderem in der einschlägig bekannten „Bunten“. Neben so einem Traumschwiegersohn wirkte denn auch der vergleichsweise etwas stachelige SPD-Widersacher Thomas Kutschaty beim kreuzbraven TV-„Duell“ chancenlos. Politische An- und Absichten, die sich eh nicht fundamental zu unterscheiden schienen, waren demgegenüber fast zweitrangig.

Etliche Blätter und besonders die WAZ bringen die schrecklich harmonischen Wüst-Fotos gern in großflächiger Aufmachung auf ihren Titelseiten. Ein perfekt arrangierter Gipfelpunkt findet sich als dpa-Foto auf der heutigen Seite eins der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: Hendrik Wüst in inniger familiärer Dreieinigkeit mit Frau und Töchterchen, darüber die Schlagzeile „Wüst verspricht eine ,lebenswerte Heimat'“. Schon im Landtags-Wahlkampf unterließ es Wüst nicht, höchstpersönlich für die Pressefotografen den Kinderwagen zu schieben, auch im Wahllokal ließ er sich gern so sehen. Wer weiß, wie viele Frauenstimmen ihm das eingebracht hat.

Ganz offenkundig hat Wüst einen Berater*innenstab, der die Gelegenheiten gezielt so vorbereitet – und ebenso offenkundig folgen die allermeisten Medien diesen sanften Vorgaben. Nichts bleibt bei Wüsts Auftritten dem Zufall überlassen. Da kommt einem im Nachhinein Armin Laschet, der zuweilen etwas unberaten durch die Gegend taperte, noch wie ein Ausbund an Authentizität vor, geradezu sympathisch in seinem grundehrlichen Scheitern.

____________________

P. S.: Schade eigentlich, dass wir die besagten Fotos hier nicht bringen können, es liegen halt Urheberrechte darauf. Aber Ihr wisst sicherlich auch so, was gemeint ist.




Der nächste Promi im Osthaus Museum: Dieter Nuhr als Fotograf

Vom Hagener Museumsdirektor aufgenommen: Dieter Nuhr mit digitaler Fotografie in seinem Atelier. (Foto: © Tayfun Belgin)

Die Zielrichtung ist unverkennbar: Schon wieder setzt das Hagener Osthaus Museum mit Aplomb auf den Promi-Faktor.

Wir erinnern uns, mehr oder weniger flüchtig: Zuerst hat der weltberühmte Hollywood-Star Sylvester Stallone („Rambo“, „Rocky“) hier seine Gemälde präsentiert, dann kam der Popmusiker Bryan Adams mit seinen Fotografien an die Reihe. Und jetzt? Stellt wieder jemand aus, den man aus anderen Bereichen kennt, allerdings eher im deutschen Sprachraum.

„Von Fernen umgeben“

Man weiß ja nicht einmal so recht, wie man seine Berufssparte bezeichnen soll. Ist er Comedian? Kabarettist? Satiriker? Naja, vielleicht irgend etwas in dieser groben Richtung. Es ist jedenfalls Dieter Nuhr, der – weit abseits seiner sonstigen Tätigkeit – „in fast 100 Ländern“ auf den Auslöser gedrückt hat und jetzt (vom 8. Mai bis zum 26. Juni) einige Resultate seiner digitalen Fotografie im Museum vorzeigt. Poetisierender Titel der Schau: „Von Fernen umgeben“. Man ist ja dankbar, dass die Chose nicht etwa „Nuhr belichtet“ oder so ähnlich heißt. Tatsächlich ist es technisch mehr als das. Laut Vorankündigung des Museums malt Nuhr, der auch einmal Kunst studiert hat, mit dem „digitalen Pinsel“, erzeugt also Bilder aus fotografischen Daten.

„Linke“ werden kaum begeistert sein

Wie auch immer: Etwas weiter „links“ angesiedelte Leute werden sich bei der bloßen Namensnennung mit Grausen abwenden und vielleicht alpträumen, dass der bei ihnen ebenso verpönte Harald Martenstein womöglich einen Katalogtext verfasst hat (was nicht der Fall ist). Oder sie bleiben gelassen und sagen sich feixend: Hauptsache, Dieter Nuhr steht nicht auf der Bühne. Mit Fotos kann er ja wohl nicht so viel anrichten. O, wie hinterhältig wäre das. Aber immer noch besser als „Cancel Culture“, oder?

Altbau des Hagener Osthaus Museums, bei Regen durch die Frontscheibe des Autos aufgenommen. Und nein: Das Bild soll nicht „trübe Aussichten“ bedeuten. (Foto: Bernd Berke)

„Demnächst“ eine Ausstellung in Russland?

Osthaus-Direktor Tayfun Belgin ist sozusagen in die Schlusskurve seiner aktiven Museumslaufbahn eingebogen. Offenbar hat er sich für die letzte Strecke vor dem Zieleinlauf vorgenommen, nicht mehr nur der hehren Kunst zu frönen, sondern auch noch einmal ordentlich „Betrieb“ zu machen und mit gesteigerten Besuchszahlen zu glänzen. Man darf schon jetzt gespannt sein, wer mit welchem Konzept seine Nachfolge antreten wird. Und wie es überhaupt weitergeht.

Ach so, übrigens: „Demnächst“, so heißt es auf der Museums-Homepage ganz nebenbei, werde Nuhr seine Fotografien auch im Puschkin-Museum zu St. Petersburg ausstellen. In Russland. Stimmt das wirklich? Immer noch?




Wahrhaftige Nahansichten aus Europa – Historische Fotografien des Dortmunders Erich Grisar auf Zeche Zollern

Erich Grisar: Schuhputzer und Kunde in Barcelona. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

„Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa“ – schon beim bloßen Titel dieser Ausstellung klingelt es neuerdings wieder vernehmlich mahnend und vielleicht bedrohlich in den Ohren. In diesen Tagen hat „Europa“ wieder einen anderen Klang als noch vor kurzer Zeit.

Das LWL-Industriemuseum Zeche Zollern führt uns zurück in die Jahre 1928 bis 1933. Damals gab es große Hoffnungen auf einen engeren Zusammenschluss der Völker. Bald darauf wurden sie bitterlich zunichte. In jenen Jahren hat sich der Dortmunder Schriftsteller, Journalist und Fotograf Erich Grisar auf Reisen durch den Kontinent begeben und vor allem das zumeist entbehrungsreiche Alltagsleben der Menschen festgehalten – auf oft ganz erstaunlichen Fotografien, die so gar nicht „gestellt“ und gewollt, sondern (im Gegensatz zum damals weithin Üblichen) wunderbar spontan und wahrhaftig wirken.

Man merkt es den Bildern an, dass Grisar die verschiedensten Leute für sich und sein fotografisches Vorhaben einzunehmen wusste – von Kriegsversehrten in Flandern über Hafenarbeiter in Marseille bis hin zu Marktfrauen in Polen. Es scheint so, als hätte er sich ihnen allen in solch freundlicher Art genähert, dass sie sich und ihre oft ärmlichen Lebensumstände zeigten, wie sie eben wirklich waren. Daraus erwachsen zuweilen erschütternde, aber auch bezaubernde Momente.

Erich Grisar: Frauen und Kinder suchen verzweifelt nach brauchbarer Kohle – auf einer Schlackehalde in Mons/Charleroi (Belgien). (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

Seltsam, dass Erich Grisar auf sein fotografisches Können wohl selbst keine allzu großen Stücke gehalten hat. Er legte es vielmehr darauf an, sich als Schriftsteller und schreibender Journalist zu beweisen, u. a. war er für den legendären Dortmunder Generalanzeiger tätig, die Vorläufer-Zeitung der Westfälischen Rundschau und seinerzeit das auflagenstärkste deutsche Blatt außerhalb Berlins. Die Handhabung der Kamera war für den Autodidakten demgegenüber eher eine schöne Nebensache. Doch heute wird Grisar als Fotograf (mindestens) ebenso geschätzt wie als Autor.

Erich Grisar: Junge Frau mit Putzeimer in Amsterdam. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

2016/17 waren Grisars Bildern aus Dortmund und dem Ruhrgebiet vielbeachtete Ausstellungen in Essen (RuhrMuseum auf Zeche Zollverein) und just Dortmund (Zeche Zollern) gewidmet. Das hiesige Stadtarchiv verwahrt, wie die Kuratorin Andrea Zupancic berichtet, rund 4200 Grisar-Fotografien. Ein weiterer, noch nicht öffentlich gezeigter Schwerpunkt bezieht sich auf diverse Deutschland-Reisen.

Doch jetzt erst einmal Europa! 255 Aufnahmen sind zu sehen, selbstverständlich schwarzweiß und noch selbstverständlicher analog (vielleicht muss man es aber für Digital Natives allmählich betonen). Erich Grisar hat auch späterhin als touristisch verpönte Motive und Folklore nicht verschmäht, die damals freilich noch längst nicht so „verbraucht“ waren. Beispiele: Käsemarkt in Alkmaar, Markusplatz in Venedig, Stierkampf in Spanien. Doch selbst das sind Ansichten, wie sie sonst nur selten gelingen. Überdies haben sie den nachträglichen Charme, dass sie einen anderen historischen Zustand bekannter Plätze und Zonen erfassen. Es ist unverkennbar: Paris, Barcelona, London oder auch Warschau hatten damals ungleich mehr spezifisches, noch nicht global vereinnahmtes Flair.

Erich Grisar: Straßenszene in Paris. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

Vor allem aber hat der bekennende Sozialist und Pazifist Grisar sich dorthin aufgemacht, wo die Menschen lebten und litten, wo sie ihre täglichen Überlebenskämpfe führten, aber auch ihren kleinen Vergnügungen nachgingen. Hart kam ihn Flandern an, wo Grisar selbst furchtbare Schlachten des Ersten Weltkriegs mitgemacht hatte. Auch um einer „Bewältigung“ willen, hat er diese Stätten in den späten 20er Jahren erneut aufgesucht. Die Bilder von Soldatenfriedhöfen und Versehrten summieren sich zu einem großen „Nie wieder!“ Auch eine Kehrseite blieb Grisar nicht verborgen. So hat er bildlich dokumentiert, wie die traumatischen Erinnerungen schon damals als Schlachtfeld-Tourismus vermarktet wurden.

Vielfach bewegend sind seine Aufnahmen aus den ärmeren und ärmsten Vierteln der Metropolen. Und welche Kontraste! Da sieht man einerseits Quellen des Reichtums (Diamanthandel in Antwerpen), doch weitaus häufiger kläglich zerlumpte Gestalten, denen „das Leben“ (sprich: der Kapitalismus) übelst mitgespielt hat. Armut war damals viel offenkundiger und drastischer als heute.

Erich Grisar: Menschenansammlung in London, offenbar Zuhörer an „Speakers‘ Corner“. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

Zweierlei gibt es noch zur Fotoausstellung hinzu. Zum einen hat das ebenfalls auf Zeche Zollern ansässige, literarisch rührige Fritz-Hüser-Institut in den letzten Jahren fünf Notizbücher durch Europa geschickt, die von Menschen aus etlichen Ländern (darunter Armenien, seinerzeit im Kriegszustand) mit Eindrücken gefüllt wurden und schließlich wieder in Dortmund anlangten. Anstoß war Erich Grisars Gewohnheit, auf seinen Reisen ein solches Büchlein mit sich zu führen und bei allerlei Begegnungen Einträge zu sammeln – so etwa auch von Erich Kästner und Bert Brecht, der ein kurzes Gedicht beisteuerte. Auch dieses historische Originalbuch ist in der Ausstellung zu sehen, während die erwähnten fünf Gegenwarts-Exemplare unter dem Titel „Wanderbuch“ und dem Motto „To cross all frontiers“ in einen Online-Auftritt eingeflossen sind, der sich hier aufrufen lässt: www.wanderbuch.de

Schließlich haben Menschen „zwischen acht und 85 Jahren“ in der Dortmunder Nordstadt am flankierenden Projekt „Mein Europa“ mitgewirkt, das vor allem Migrationsgeschichten erzählt und dabei Dortmund als neue Heimat in den Blick nimmt. Erich Grisar hat, bevor er südwärts ins Kreuzviertel zog, gleichfalls einst im Dortmunder Norden gelebt. Man kann nicht wissen, wohl aber mit Fug annehmen, dass ihm der offenherzige Geist dieses Projektes zugesagt hätte.

Erich Grisar – Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa. 5. März bis 16. Oktober. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund, Grubenweg 5. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr.

zeche-zollern.lwl.org




„Freundschaftsanfrage“: Künstlerische Stellungnahmen zur Wuppertaler Sammlung

Die Spur der Sonne, erfasst mit exakter Zeit und Koordinaten: Hans-Christian Schinks Fotografie „2/20/2010, 6:53 am – 7:53 am, S 37°40,831`E 178°32.635″ – aus der Serie „1h“, 2003-2010. (© Hans-Christian Schink)

Wuppertals Von der Heydt-Museum legt eine neue Ausstellungsreihe auf. Als wären wir im sozialen Netzwerk, heißt die Serie „Freundschaftsanfrage“. Der erste Künstler, der sie angenommen hat, ist Hans-Christian Schink, er wurde 1961 in Erfurt geboren und betont – vor, neben und nach aller Weltoffenheit – seine ostdeutsche Identität.

Konzept der „Freundschaftsanfrage“: Gegenwartskünstler (Frauen inbegriffen) sollen auf Einladung gezielt Stellung zu ausgewählten Stücken der reichhaltigen Wuppertaler Sammlung beziehen. Der Fotograf Schink reagiert auf gemalte Landschaften, insbesondere aus dem 19. Jahrhundert. In der Zeit, als er „sehen gelernt“ habe, so Schink, existierte noch die DDR. Also kannte er aus eigener Anschauung zunächst vor allem das klassisch-romantische „Erbe“ und nicht die Ausprägungen neuerer Westkunst. Obwohl er inzwischen weltweit gereist ist, hat diese Vorgabe seine Auswahl in Wuppertal geprägt. Die hiesigen Bestände kamen seiner Neigung entgegen. Und die langwierige Suche führte auch kreuz und quer durchs Museumsdepot.

Hans-Christian Schink: „Büro“ (4), 1998 (© Hans-Christian Schink)

Der Rundgang umfasst sieben Räume und beginnt mit „Bürobildern“, bei denen die deutsch-deutsche „Wende“ Pate gestanden hat. Schink erläutert den Hintergrund: Bedingt durch Steuerabschreibungs-Modelle, wurden damals in der früheren DDR viele überflüssige Bürobauten hochgezogen, die danach leerstanden. Just solche Räumlichkeiten hat Schink auf nahezu abstrakte Weise fotografiert. Derlei pure Flächigkeit wiederum finden wir, wenn wir sie nur länger wirken lassen, z. B. auf Gemälden wie Ferdinand Hodlers „Thuner See mit Stockhornkette“ oder Edvard Munchs „Schneeschmelze bei Elgersburg (Tauwetter)“ wieder. Auch da kommt es weit weniger auf die unmittelbar sichtbare Realität an, sondern auf Eigenwerte von Fläche, Farbe und Struktur. Nicht die Motive sind zentral, sondern die durch sie erzeugte Atmosphäre.

Ferdinand Hodler: „Thuner See mit Stockhornkette“, 1910/11, Öl auf Leinwand, 65,5x88cm (Von der Heydt Museum, Wuppertal)

Raum zwei führt zu italienischen Landschaften, die im 19. Jahrhundert Scharen von Künstlern angelockt haben. Hans-Christian Schink nutzte anno 2014 ein Stipendium in der römischen Villa Massimo, um in seiner Serie „Aqua Claudia“ Wechselwirkungen zwischen moderner Urbanität und einem antiken Aquädukt nachzuspüren. Das Spannungs- und Näherungs-Verhältnis zwischen Altertum und Jetztzeit ergibt einen ganz eigentümlichen Kommentar zu romantischen Gemälden wie etwa Heinrich Bürkels „Italienische Landschaft“ von 1830/32.

Nun geht es nach Japan. Dort hat Schink 2009 ein dreiwöchiges Projekt absolviert, in dessen Rahmen alljährlich europäische Künstler Blicke auf das fernöstliche Land werfen. Unversehens hat ihn in der Fremde eine Gegend fasziniert, die ihn an Thüringen erinnerte. Die verschneite Hügellandschaft, die er dort entdeckte, begegnet hier Alfred Sisleys „Winterlandschaft“ oder auch einer Zeichnung von Paul Cézanne. Der wiederum habe, so die Kuratorin Beate Eickhoff, die Malerei – im Gefolge der damals noch jungen Fotografie – mit der Belichtung einer empfindlichen Platte verglichen.

Im nächsten Raum empfangen uns Werke von John Constable, aus der „Schule von Barbizon“ und des Realisten Gustave Courbet – im Kontrast und Zusammenklang mit Schinks Serie „Hinterland“ (2012-2019): Zunächst von Berlin aus und dann selbst auf dem Lande wohnend, hat sich Schink in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg umgetan, wo er vollkommen leere Landschaften vorgefunden hat. Nach etlichen Fernreisen war es eine Wiederentdeckung heimatlicher Gefilde. Was eine Wasserspiegelung in Mecklenburg mit einem Wasserbild Claude Monets zu tun haben könnte, ist nicht zuletzt eine Frage des Verweilens und Entdeckens.

Folgt das sogenannte „Einstunden-Projekt“. Schink hat keinen Auwand gescheut und nach zweijähriger Vorbereitung versucht, weltweit Eindrücke von Zeit und Licht fotografisch einzufangen. Vor-Bilder waren Überbelichtungen von Analog-Fotografien, nach denen die Sonne schwarz erschien. Diesen chemisch-physikalischen Umkehreffekt hat Schink ganz bewusst eingesetzt und den jeweils einstündigen Sonnenlauf per Langzeitbelichtung festgehalten. Dies ergibt schwarze Spuren am Himmel, und zwar in wechselnden Formen: anders in Algerien, anders in der Mojave-Wüste, wieder anders in Neuseeland und so weiter – an 15 Stationen rund um den Erdball. Aus der Sammlung steht dem in erhabener Vereinzelung Edvard Munchs grandioses Bild „Sternennacht“ gegenüber.

Hans-Christian Schink: „Unter Wasser (17)“, 2020 (© Hans-Christian Schink)

Eine neue Unterwasser-Serie hat Schink jüngst bei Boots-Streifzügen auf der mecklenburgischen Seenplatte aufgenommen. Nicht tauchend, sondern auf einem Board liegend, die Unterwasser-Kamera auf Armlänge benutzend und die (diesmal digitalen) Zufallsbilder später mit Tintenstrahldruck aufbereitend. Eine ungeahnte, ganz andere Welt tut sich da auf, die doch schon so dicht unter der Oberfläche beginnt. Ein zur Abstraktion drängendes Meeresbild von Claude Monet vergegenwärtigt demgegenüber einen ganz anderen Wasserzustand.

Claude Monet: „Blick auf das Meer“ (1888), Leinwand, 65×82 cm (Von der Heydt Museum, Wuppertal)

Markante Schlussakzente setzen Baumbilder aus dem vietnamesischen Nationalpark Bach Ma, wiederum mit (dem heimlichen Wegweiser) Edvard Munch und mit Otto Modersohns „Mondaufgang, im Moor“ in Beziehung gebracht.

Mit anderer Auswahl und anderer Hängung könnte man zahllose Varianten einer solchen Ausstellung bestreiten, es gibt natürlich nicht die „einzige wahre“ Version. Erklärtes Ziel von Künstler und Kuratorin war es, sozusagen eine strömende Ruhe herzustellen, in die man sich versenken kann. Ob dies gelungen ist, lässt sich wohl nur bei einem längeren Aufenthalt feststellen. In diesem Sinne wäre beinahe zu hoffen, dass der Besucherandrang sich in Grenzen halten möge.

Museumsdirektor Roland Mönig sieht in der neuen Ausstellungsreihe einen „Augenöffner“, der (Neu)-Bewertungen der Sammlung einleiten könne. Für die jeweiligen Künstler dürfte es eine Standortbestimmung sein, inwiefern sie an Traditionen anknüpfen – oder auch nicht. Es wären ja auch Formen der entschiedenen Abwehr denkbar. Auf weitere „Positionen“ (etwa eine pro Jahr) darf man gespannt sein. Jedenfalls soll es nicht bei bloßen „Freundschaftsanfragen“ bleiben, es dürfen laut Mönig auch gern „feste Beziehungen“ daraus entstehen, sprich: Ankäufe sind durchaus möglich.

Hans-Christian Schink – und die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts („Freundschaftsanfrage No. 1″). 27. Februar bis 10. Juli 2022. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Geöffnet Di-Fr, Sa und So 11-18 Uhr, Do 11-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 €, ermäßigt 10 €, Kinder bis 17 Jahre 2 €.

www.von-der-heydt-museum.de

 




Abermals Promi-Faktor im Osthaus Museum: Nach Sylvester Stallone ist Bryan Adams an der Reihe – als vielseitiger Fotograf

Schwer kriegsversehrt und mit Auszeichnungen dekoriert: Sergeant Rick Clement. (© Bryan Adams)

In Hagen gibt sich die internationale Prominenz aus vermeintlich museumsfremden Bereichen die Klinke in die Hand.

Noch für dieses Wochenende (bis 20. Februar) sind Gemälde des weltbekannten Hollywood-Stars Sylvester Stallone im Osthaus Museum zu sehen. Und sogleich beginnt am Sonntag eine neue Schau der Rock- und Pop-Größe Bryan Adams. Der wiederum verdingt sich seit längerer Zeit auch als beachtlicher Fotograf.

Es sieht fast so aus, als sei dieser Ansatz das neue Konzept des Museumsleiters Tayfun Belgin. Darüber ließe sich trefflich diskutieren. Jedenfalls versichert Belgin, der Name Stallone habe spürbar die Besuchszahlen gesteigert. Genaueres möchte er aber noch nicht verraten. Schließlich käme ja noch dieses Wochenende hinzu…

Blick in die Hagener Ausstellung – hier mit Bryan Adams‘ Porträts von Mick Jagger und Amy Winehouse. (© Bryan Adams / Ausstellungs-Foto: Bernd Berke)

Weltstars, Obdachlose und Verwundete

Bryan Adams hatte – wie man sich denken kann – relativ leichten Zugang zu seinesgleichen, sprich: zu zahlreichen anderen A-Promis wie zu Beispiel Mick Jagger, Amy Winehouse, Linda Evangelista, Kate Moss, Ben Kingsley oder auch Wim Wenders, Helmut Berger und den Mannen von Rammstein. Dabei sind Fotografien entstanden, die mitunter durchaus Ikonen-Qualitäten haben. Selbst der Queen hat Adams anno 2008 im Buckingham Palace ein besonderes Lächeln abgewonnen. Sie sitzt ganz entspannt auf einem Stuhl, neben ihr stehen zwei Paar Gummistiefel, als wollte sie sich gleich nach der Fotositzung rustikal auf den Weg machen.

Adams‘ großformatig ausgestellte Motive für den berühmt-berüchtigten Pirelli-Kalender 2022 (längst nicht mehr so lasziv wie ehedem) kommen hinzu. Erstmals darf ein Museum solche Bilder zeigen.

Noch ungleich eindrucksvoller ist freilich die ganz andere Seite des Fotografen Bryan Adams, der uns schmerzlich frontal mit Bildnissen von Obdachlosen (Serie „Homeless“) oder fürchterlich Kriegsversehrten (Serie „Wounded: The Legacy of War“) konfrontiert, die in Afghanistan und im Irak gekämpft haben. Das sind Ansichten, die man erst einmal aushalten muss.

Selbstporträt Bryan Adams. (© Bryan Adams)

Bryan Adams: „Exposed“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1. Vom 20. Februar bis zum 24. April. Di-So 12-18 Uhr. Tel.: 02331/207 3138.

www.osthausmuseum.de

Mitte März will sich Bryan Adams seine Hagener Ausstellung persönlich anschauen.

______________________________

Nachtrag am 24. Februar: Die Bilder der Kriegsversehrten bekommen noch einmal akutere Bedeutung, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat.




Chinas Raubbau an der Natur – Fotografien von Lu Guang im Bergbau-Museum Bochum

Gespenstischer Anblick: Als Ersatz für Rinder und Schafe, die es dort immer weniger gibt, stellte die Bezirksregierung auf dem Weideland Horqin Tierplastiken auf. (Aufgenommen in Holingol, Innere Mongolei, April 2012 – Photograph © Gu Luang – Contact Press Images)

Das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum will sich jetzt und mittelfristig (vorerst „in der nächsten Dekade“) vermehrt ökologischen Themen widmen. Das kündigte Museumsleiter Prof. Stefan Brüggerhoff heute geradezu pflichtschuldigst an. Nah am waltenden Zeitgeist, griff er dabei auf Worte wie „Anthropozän“ (gegenwärtiges Zeitalter, in dem der Mensch die Erde gar zu gründlich verändert) und Nachhaltigkeit zurück. Da dürfte er richtig liegen.

Mit techniklastigen Darstellungen zur Geschichte des Kohleabbaus im Ruhrgebiet ist es also längst nicht mehr getan. Das Bochumer Ausstellungs-Institut, so Prof. Brüggerhoff weiter, sei schließlich nicht von ungefähr eines von bundesweit acht Leibniz-Forschungsmuseen (zuständig für Geo-Ressourcen), ziele mithin aufs Allgemeinere, wenn nicht aufs Globale. Da kommt die Ausstellung „Black Gold and China“ mit Fotografien des Chinesen Lu Guang gerade recht, der seit Jahrzehnten geradezu investigativ mit der Fotokamera verfolgt, wie Landschaften in seiner Heimat vor allem für den Kohleabbau zutiefst verwundet und verpestet werden. Das betrifft letztlich den ganzen Erdkreis, denn rund 50 Prozent der weltweiten Kohlegewinnung fallen in China an. Die Schadstoffe verbreiten sich grenzenlos.

Der Fotograf Lu Guang, im Mai 2006 in Peking. (© Fundang Sheng – Contact Press Images)

Rund 100 Farb- und Schwarzweißfotografien von Lu Guang (Jahrgang 1961) sind in Bochum ausgestellt, erstmals außerhalb von China. Kuratorin Sandra Badelt sagte, eine Ausstellung dieses Fotokünstlers habe ihr schon 2018 vorgeschwebt, als sie sich um die Stelle am Bergbau-Museum beworben hat. Folglich hat sie Kontakt zum späteren Ko-Kurator aufgenommen, dem US-Amerikaner Robert Pledge (Editorial Director bei Contact Press Images, New York/Paris), der just dabei war, ein Buch über Lu Guang herauszubringen. Sie konnten aus Zigtausend Bildern auswählen, die der Fotograf in den letzten 22 Jahren aufgenommen hat.

Manche Fotografien massenhaft rauchender Schlote kommen einem aus früheren Revier-Zeiten „irgendwie“ bekannt vor, doch hat das Desaster offenbar noch einmal ganz andere, ungleich gigantischere Dimensionen. Tatsächlich kann einen beim Anblick vieler Fotografien kaltes Grausen erfassen. Dass vor industrieller Kulisse keine echten, sondern nur noch künstliche Schafe stehen, bringt die rabiate Naturzerstörung auf einen bildlichen Begriff. Auch hierbei kann man sich ans Ruhrgebiet von (vor)gestern erinnert fühlen: Lu Guang zeigt hin und wieder von Schwerstarbeit ausgemergelte Bergarbeiter, die direkt mit ihrer Gesundheit bezahlen, während andere Menschen mittelbar von den Folgen des Raubbaus ereilt werden.

Ohne unken zu wollen, fragt man sich beklommen, ob Lu Guangs schonungsloser Blick auf die ökologischen Verhältnisse von offiziellen Stellen in China goutiert wird. Seine Fotografien zeugen nicht nur von technischer Könnerschaft und ästhetischem Vermögen, sondern wohl auch von Courage.

„Black Gold and China. Fotografien von Lu Guang“. Deutsches Bergbau-Museum, Bochum, Erweiterungsbau, Am Bergbaumuseum 28. Vom 10. Dezember 2021 bis zum 17. April 2022 (verlängert bis zum 24. April 2022). Geöffnet Di-So 9.30 bis 17.30 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 3 Euro. Katalog 40 Euro. Weitere Hinweise (auch zu den gültigen Corona-Regeln) auf der Homepage: 

bergbaumuseum.de

_____________________________________

P. S.: Wir würden in den Revierpassagen gern weitere Foto-Beispiele zeigen, sind aber in diesem Falle als Online-Medium rechtlich gehalten, nur ein einziges Bild plus Porträt des Fotografen zu veröffentlichen.

 




Trauma der Erinnerung – Anton Kusters‘ Fotografien des blauen Himmels über den Orten der Konzentrationslager

Das Werk des 1974 geborenen belgischen Fotokünstlers Anton Kusters kreist immer wieder um ein zentrales Thema: das Trauma der Erinnerung. Seine Bilder wollen Vergangenes wachhalten, wollen Vergessen und Verdrängen unmöglich machen. Anton Kusters hat sich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandergesetzt und will mit seinen Fotos an die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern eingesperrten und ermordeten Menschen erinnern: „1078 Blue Skies / 4432 Days“ nennt er sein Projekt, dessen Exponate im Holocaust Memorial Museum in Washington ausgestellt wurden und die jetzt auch in einem großformatigen Buch versammelt sind.

1078 Mal ist im Fotoband der blaue Himmel zu sehen – festgehalten und dokumentiert an exakt 4432 Tagen. Die Zahlen sind erdrückend, aber sie spiegeln die fürchterliche Realität der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie wider: Zwischen 1933 und 1945 existierten 1078 Konzentrationslager, ein perfides und effizientes System aus Gefangenschaft, Zwangsarbeit und Mord. Vom ersten bis zum letzten Tag dieses Vernichtungs-Systems, das Menschen wegen ihrer Religion oder Rasse, ihrer politischen Überzeugung oder sexuellen Neigungen einsperrte und ermordete, vergingen exakt 4432 Tage.

Sechs Jahre lang recherchiert

Anton Kusters ist an jeden Ort in Europa gereist, an dem sich eines dieser Lager befand, hat sich sechs Jahre lang auf Foto-Recherche begeben und präsentiert für jeden einzelnen Tag des nationalsozialistischen Terrors ein Foto, auf dem man nichts sieht als einen „blauen Himmel“. Kusters wollte verstehen, was geschehen war, als 1943 die SS zum Haus seines Großvaters kam und ihn deportieren wollte. Der Großvater konnte fliehen und überlebte, aber er sprach nie von diesem Trauma, bis er starb. Es schien, als würde er sich dafür schämen, überlebt zu haben, im Gegensatz zu den vielen Millionen Menschen, die ermordet und vergessen wurden und nur als ferne Erinnerung in alten Familiengeschichten auftauchen.

Kusters beschloss, zu allen Konzentrationslager zu fahren, sich – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Bild zu machen von den Orten des Schreckens, an denen das Unsagbare geschah. Er kannte, wie wohl die meisten, nur die großen Konzentrations- und Vernichtungslager: Dachau, Auschwitz, Mauthausen. Aber jedes große Hauptlager hatte auch temporäre Nebenlager, die heute kaum noch jemand kennt, an denen es keinerlei Spuren der Erinnerung und des Gedenkens gibt. Oft hat er dort nur einen Parkplatz oder einen Supermarkt gefunden: Wo früher Menschen eingesperrt und ermordet wurden, herrscht heute gedankenloser Konsum-Kapitalismus.

Auf den Fotos, die immer nur ein einziges Motiv zeigen – eben den „blauen Himmel“ – hat er die exakten GPS-Koordinaten der Orte vermerkt, damit niemand sagen kann, er wisse nicht, wo sie waren und wo er sie finden könne. Außerdem hat er die Opferzahlen auf den Fotos notiert. Auf manchen Fotos steht aber nur: „geschätzt“ oder „unbekannt“. Denn trotz intensiver Recherche ist es nicht gelungen, die Zahlen genauer zu bestimmen.

Keine technischen Hilfsmittel

Als Kusters das erst Mal die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besuchte, war der Schrecken der Vergangenheit, das unfassbare Leid der Menschen, die hier eingesperrt und ermordet wurden, so erdrückend, hat ihn so sprachlos gemacht, dass er nur ein einziges Foto zustande brachte: eine verwackelte, überbelichtete Aufnahme des blauen Himmels über Auschwitz. Diesen Moment der Sprachlosigkeit angesichts des Grauens hat er als methodischen künstlerischen Fingerzeig empfunden und für alle anderen Orte und Fotos beibehalten, die er mit seiner Polaroid-Kamera gemacht hat, ohne weitere technische Hilfsmittel, Belichtungsmesser und Zoom.

Wir sehen immer nur einen schnellen, improvisierten Schnappschuss vom blauen Himmel, mal von Wolken verschleiert, mal im Morgen-, mal im Abendlicht, mal etwas heller, mal etwas dunkler. Der blaue Himmel ist immer von einem kleinen schwarzen Kranz umhüllt, als hätte ein Eingesperrter und dem Tode Geweihter einen verbotenen Blick durch das Schlüsselloch oder durch einen Spalt in der Lager-Baracke ins Freie gewagt. Es sind abstrakte Bilder, sie erzählen von Leere und Unendlichkeit, von der Hoffnung, dass es ein Morgen geben könnte, ein Über- oder Weiterleben, dass da draußen noch etwas existieren möge, das an Vernunft und Humanität erinnert.

Polaroid-Bilder, die schnell verwittern

Mal ist nur ein einziges Foto auf einer Buchseite abgedruckt, mal vier, fünf oder sechs, mal auf weißem, mal auf blauem, mal auf braunem oder schwarzem Hintergrund. Und obwohl alle das selbe Motiv haben, gleicht kein Foto dem anderen. Im Buch sieht man Drucke von Polaroid-Fotos, die schnell verwittern und sich irgendwann ins Nichts auflösen: ein Hinweis, wie Kusters verstanden werden will und wie er sich eine Erinnerungskultur vorstellt. Die Polaroid-Fotos reflektieren das Licht, haben eine spiegelnde Oberfläche: Der Betrachter kann sich in den Fotos spiegeln und sowohl über die Bilder als auch über seine eigenen Gefühle nachdenken. Es gibt keinen erklärenden Kommentar, nur die Fotos und die nackten Zahlen, die GPS-Daten der Orte und die Opferzahlen.

In einem Interview hat Kusters gesagt, er plane, die Polaroids an einem festen Ort zu installieren, dort Klimabedingungen zu schaffen, in denen Bilder innerhalb von 13 Jahren verwittern: Die Installation von 4432 Tagen würde genauso lange existieren wie die Zeitspanne von der Eröffnung des ersten Konzentrationslagers 1933 bis zur Schließung des letzten 1945.

Anton Kusters: „1078 Blue Skies / 4432 Days“. Kehrer Verlag, Heidelberg / Berlin 2021, 1078 Farb-Fotos von Anton Kusters, Texte von Jane E. Klinger, Fred Ritchin, Joan M. Walker, 444 Seiten, 80 Euro.

 

 

 




Manchmal dieser Hang zu Legenden – Streiflichter zur Hagener Stadtgeschichte im Osthaus-Museum

Popstars aus Hagen: die Gruppe „Grobschnitt“ im Jahr 1978. (© Fotografie: Ennow Strelow)

Wie bitte? Die Stadt Hagen ist erst jetzt 275 Jahre alt geworden? Stimmt. Ganz hochoffiziell: Am 3. September 1746 erhielt der westfälische Ort durch einen Verwaltungsakt im Namen des Preußenkönigs Friedrich II. die Stadtrechte. Zum Vergleich: Hagens Nachbarstadt Dortmund hat bereits 1982 das 1100-jährige Bestehen gefeiert.

Das Fehlen einer mittelalterlichen Geschichte hat die Hagener oftmals gewurmt. Darum haben sie manchmal eigene Legenden gestrickt. Auch davon zeugt nun die Jubiläumsausstellung im Osthaus-Museum; ein Gemeinschaftswerk mit dem Stadtmuseum, das künftig einen umgerüsteten Altbau gleich neben dem Osthaus-Museum und dem Emil-Schumacher-Museum beziehen wird – zusammen ergibt das ein kulturelles Quartier von überregionaler Bedeutung.

Doch zurück zur historischen Perspektive. Die im Osthaus-Museum gezeigten Bestände stammen hauptsächlich aus dem Stadtmuseum. Es beginnt mit einer Ahnengalerie, prall gefüllt mit Porträts prägender Persönlichkeiten der Stadtgeschichte – allen voran der frühindustrielle Unternehmer Friedrich Wilhelm Harkort (*1793 nah beim späteren Hagener Ortsteil Haspe), einer der Vorväter des Ruhrgebiets. Auf kulturellem Felde ebenso bedeutsam: der Kunstmäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus (*1874 in Hagen). 1902 begründete er hier das Museum Folkwang, weltweit das erste Museum für zeitgenössische Kunst.

Ergänzt wird die Fülle der Honoratioren durch Fotografien „ganz normaler“ Hagener Bürger von heute. Der Blick richtet sich also nicht nur rückwärts. Überhaupt vergisst das Ausstellungsteam die Gegenwart nicht. Die Übersicht reicht bis hin zu Bildern und Berichten vom Hagener Hochwasser Mitte Juli.

Aus dem Fundus des Stadtmuseums ins Osthaus-Museum: die Schreibmaschine des Hagener Dichters Ernst Meister (1911-1979). (Foto: Bernd Berke)

Ein großer Ausstellungssaal, scherzhaft „Hagener Wohnzimmer“ genannt, versammelt Stücke aus der Stadthistorie, darunter die Schreibmaschine, auf der der Hagener Dichter Ernst Meister einen Großteil seines weithin hochgeschätzten Werks verfasst hat. Als Pendant aus der bildenden Kunst findet sich eine von Farbspritzern übersäte Original-Staffelei des gleichfalls ruhmreichen Hagener Malers Emil Schumacher. Zu Ernst Meister gibt es weitere Exponate. Der Lyriker war auch ein begabter Künstler. Zu sehen sind rund 60 seiner Bilder, die das Osthaus-Museum jüngst als Schenkung erhalten hat. Außerdem hat sich der Hagener Maler Horst Becking mit 13 Gedichten Ernst Meisters auseinandergesetzt. Hier greift eins ins andere.

Original-Staffelei des Hagener Malers Emil Schumacher (1912-1999). (Foto: Bernd Berke)

Im „Wohnzimmer“ wecken auch Objekte wie z. B. ein alter Kinderwagen, ein Stadtplan von 1930, Relikte aus Hagener Firmengeschichten (Varta, Brandt, Villosa, Sinn) oder eine Ansammlung örtlicher Kulturplakate die Aufmerksamkeit. Sollte bei dieser Auswahl etwa auch ein Zufallsprinzip gewaltet haben?

Gar erschröcklich wirkt jene bizarr erstarrte, vollkommen verkohlte „Schwarze Hand“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die erstmals das Schloss im 1975 zu Hagen eingemeindeten Hohenlimburg verlassen hat. Eine Legende besagt, dass die Hand einem Knaben gehörte, der sie gewaltsam gegen seine Mutter erhoben hatte. Sie sei daraufhin scharfrichterlich abgeschlagen und zur ewigen Mahnung verwahrt worden. Tatsächlich handelt es sich um das durch Blitzschlag versengte Beweisstück in einem Mordfall.

Hagener haben eben einen Hang zu Legenden, vor allem, wenn sich damit heimische Traditionslinien verlängern lassen. So hat man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Stadtwappen erkoren – mit stilisiertem Eichenlaub statt der damals verpönten französischen Lilie. 1897 verfügte Kaiser Wilhelm II. den Wechsel. Die Hagener glaubten Belege für die örtliche Verwendung des Eichenblatts im 14. Jahrhundert gefunden zu haben, aber das war ein Trugschluss. Das Dokument bezog sich auf eine andere Gemeinde namens Hagen. Und noch so eine Inszenierung, nicht irrtümlich, sondern vollends willkürlich: Ein Hagener Maler, der den NS-Machthabern zu Diensten war, produzierte reihenweise romantisierende Stadtansichten, die es in Wahrheit so nie gegeben hat.

In solche Ausstellungen werden gern die Bürger einbezogen, so auch diesmal. Nach entsprechenden Aufrufen reichten sie etliche Objekte mit Hagener „Stallgeruch“ ein – von lokal gestalteten Schneekugeln bis zum Brettspiel mit Ortsbezug. Da schlägt das lokalptriotische Herz höher.

Humorig-historische Postkarte: „In Hagen angekommen“. (© Stadtarchiv Hagen)

Da war doch noch was mit Hagen? Richtig, wir erinnern uns an die oft und gern zitierte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“, die am 3. Januar 1982 im „Spiegel“ erschienen ist. Die Überschrift entstand im Zuge der Neuen Deutschen Welle, die in Hagen sozusagen ihren Scheitelpunkt hatte. Nicht nur wurden Nena und die Sängerin Inga Humpe hier geboren, in Hagen gründeten sich auch einflussreiche Bands wie „Extrabreit“ (1978) und zuvor „Grobschnitt“ (1971). Letztere besteht – in wechselnden Formationen – nunmehr seit 50 Jahren. Deshalb ist ihrer Story im Untergeschoss eine üppige Extra-Abteilung gewidmet. Mit Dokumenten, Fotos und Objekten (darunter ein kompletter Bühnenaufbau) geht es so sehr ins Detail, dass wohl selbst Spezialisten noch Neues erfahren.

Etwas für eingefleischte Hagener sind auch die Schwarzweiß-Fotografien von Ennow Strelow, der in den 70er und 80er Jahren einige kernige Typen der Hagener Szene porträtiert hat. Ältere Bewohner kennen vielleicht noch den einen oder die andere, Auswärtige werden zumindest die fotografische Qualität zu schätzen wissen. Doch je mehr biographische Verbindungen jemand zu Hagen hat, umso mehr Genuss verspricht diese Schau.

„Hagen – Die Stadt. Geschichte – Kultur – Musik“. Noch bis zum 21. November 2021. Hagen, Osthaus-Museum, Museumsplatz. www.osthausmuseum.de

_____________________________

Der Text ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de

_____________________________

Weiterer Beitrag zur Ausstellung, mit einem Schwerpunkt auf Rockmusik:

Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit




Zum 100-jährigen Bestehen: Museum Folkwang lockt 2022 mit Impressionisten – und anderen Highlights

Kommt mit etlichen weiteren Bildern aus Japan nach Essen: Claude Monet „Sur le bateau (Jeunes filles en barque)“ – „Im Boot (Junge Mädchen im Ruderboot)“, 1887. Öl auf Leinwand (The National Museum of Western Art, Tokyo, Matsukata Collection)

Stolze 100 Jahre alt wird das Essener Museum Folkwang anno 2022. Zum Jubiläum haben der Museumsleiter Peter Gorschlüter und sein Team einiges vor, doch eine Ausstellung überstrahlt wohl alle anderen Projekte: „Renoir, Monet, Gauguin. Bilder einer fließenden Welt“ (ab 6. Februar 2022) dürfte eine jener Schauen werden, die – wenn nichts Arges dazwischenkommt – die magische Besuchsmarke von 100.000 übertreffen.

Just 1922, also vor bald 100 Jahren, wechselte die phänomenale Sammlung des Mäzens Karl Ernst Osthaus von Hagen nach Essen. Für Hagen war es ein bis heute nachwirkender, äußerst schmerzlicher Verlust, für Essen ein geradezu triumphaler Zugewinn.

Osthaus und sein ebenso kunstsinniger japanischer Zeitgenosse

Wenn demnächst in Essen rund 120 Werke des Impressionismus und seiner Ausläufer zu sehen sein werden, hat dies einen besonderen, quasi globalen Hintergrund: Etwa zeitgleich mit Osthaus tat sich der japanische Sammler Kojiro Matsukata in Europa und hier insbesondere in Paris um. Der Mann, der ein Schiffbau-Unternehmen betrieb, hatte es vor allem auf Impressionisten abgesehen – ganz ähnlich wie Osthaus.

Es mag durchaus sein, dass die beiden Sammler einander damals bei befreundeten Künstlern begegnet sind oder simultan dieselben Ausstellungen besucht haben. Es ist halt nur nicht überliefert. Jedenfalls werden in Essen Spitzenwerke aus beiden Sammlungen vereint. Zum großen Teil kommen die kostbaren Stücke aus Japan erstmals seit den 1950er Jahren wieder nach Europa. So kehrt auch Paul Signacs „Saint-Tropez“ (1901/1902), einst im Folkwang-Besitz, aus Japan erstmals wieder nach Essen zurück; auf Zeit, versteht sich.

Auf Zeit aus Japan nach Essen zurück: Paul Signac „Saint-Tropez“, 1901/02 – Der Hafen von Saint-Tropez, Öl auf Leinwand (The National Museum of Western Art, Tokyo, ehemals Museum Folkwang, Hagen/Essen)

In diesem Umfang ist die von Nadine Engel kuratierte Ausstellung nur möglich, weil das „National Museum of Western Art“ in Tokyo (ein 1959 eröffneter Bau nach Plänen von Le Corbusier), das die Schätze von Matsukata beherbergt, gründlich renoviert wird und daher geschlossen ist. Also kann das Haus etliche Werke verleihen – neben den im Titel genannten Künstlern sind u. a. auch Manet, Cézanne, Van Gogh und Rodin vertreten. Essen wird sich späterhin mit der leihweisen Gegengabe von rund 40 Meisterwerken bedanken, die im dann renovierten Tokyoter Museum gezeigt werden.

Plakate, Fotografie, Expressionisten, Helen Frankenthaler

1939 befand sich der Kernbestand der japanischen Sammlung in Frankreich und wurde als Feindbesitz (Kriegsgegner Japan im Zweiten Weltkrieg) vom französischen Staat beschlagnahmt. Vieles, doch nicht alles wurde hernach restituiert. Einige Lücken füllt nunmehr das Pariser Musée d’Orsay als weiterer Leihgeber. Man darf den Sensations-Begriff nicht leichtfertig bemühen, doch in diesem Falle…

Gehört zur Expressionisten-Ausstellung: Ernst Ludwig Kirchner „Tanzpaar“, 1914, Öl auf Leinwand (Museum Folkwang, Essen – Foto Jens Nober)

Ein paar weitere Jubiläums-Vorhaben sollen nicht unerwähnt bleiben: Unter dem passend appellierenden Titel „We want you!“ wird Plakat- und Werbekunst von den Anfängen bis heute ausgebreitet (ab 8. April 2022). Mit „Folkwang und die Stadt“ will sich das Museum mitten in die Stadtgesellschaft begeben, vorwiegend mit ortsbezogenen Kunstaktionen (ab 21. Mai), die derzeit noch entwickelt werden. „Expressionisten am Folkwang. Entdeckt – verfemt – gefeiert“ widmet sich einem zweiten Schwerpunkt der Sammlertätigkeit von Karl Ernst Osthaus (ab 20. August).

„Image Capital“ heißt ein Projekt, das – zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelt – Strategien und Techniken der Fotografie behandelt. Auch Themenbereiche wie Apps, Gaming, Simulation, Archivierung und manche Dinge mehr kommen dabei in Betracht (ab 9. September). Essen macht sich derweil berechtigte Hoffnungen auf die Gründung eines Deutschen Fotoinstituts daselbst, konkurriert aber immer noch mit Düsseldorf.

Schließlich wird es ab 2. Dezember 2022 eine Retrospektive zum Werk der abstrakten Expressionistin Helen Frankenthaler (1928-2011) geben. Museumschef Peter Gorschlüter findet, es sei „höchste Zeit“, das einflussreiche Werk der US-Amerikanerin wieder in den Blick zu nehmen, das seit Jahrzehnten in Deutschland nicht mehr ausgiebig präsentiert wurde.

Kein Zweifel: Die Kunsthäuser der anderen Revierstädte werden sich anstrengen müssen, um im nächsten Jahr neben den Essener Glanzpunkten zu bestehen.




Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit

Im heimatkundlichen Angebot der Hagener Jubiläumsausstellung sind selbstverständlich auch alte Postkarten. (Bild: Stadtarchiv Hagen/Osthausmuseum)

Die schwarze Reiseschreibmaschine Ernst Meisters steht hier, die farbbedeckte Staffelei Emil Schumachers. Einen alten Kinderwagen hat man auf das Podest gehoben, biedermeierliche Möbel fördern nostalgische Empfindungen. Und an den Wänden setzt eine auf Eindruck bedachte Malerei vergangener Jahrhunderte wichtige Männer in Szene.

Hagen im Heimatmuseum ist eigentlich nichts Besonderes – sieht man einmal davon ab, dass das Heimatmuseum seine Bestände nun im Osthaus-Museum aufgebaut hat. Anlass ist das 275-jährige Stadtjubiläum, das hier mit einem eindrucksvollen Ausstellungsprojekt gefeiert wird, Titel: „Hagen – die Stadt“.

Karl-Ernst Osthaus ist noch sehr präsent

Ein weiterer zentraler Raum ist voll von Portraitfotos, großen und kleinen, alten und neuen. Er soll dem Publikum wohl vermitteln, dass die Menschen die Stadt ausmachen, keine ganz neue Erkenntnis. Doch was fällt einem zu Hagen außerdem noch ein? Was ist das Besondere? Da wäre natürlich Karl-Ernst Osthaus zu nennen, Industrieller, Sammler und Förderer der modernen Kunst im frühen 20. Jahrhundert, dem das Museum seinen Namen verdankt. Die Architektur des Gebäudes, die bauliche Leichtigkeit und Jugendstil so entspannt verbindet, atmet immer noch den Geist dieses Mäzens. Und auch die heutigen Bestände, die leider nicht identisch sind mit der nach Essen verkauften Sammlung, lassen an die vergleichsweise glücklichen Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise denken.

Auch das ist Hagen: Rockband Grobschnitt im Jahr 1978. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Hotspot

Mehr als ein halbes Jahrhundert danach sind die ortstypischen Sensationen von ganz anderer Art. Anfang der 1970er Jahre wird Hagen zu einem Hotspot der deutschen Rockmusik. Die Gruppe „Grobschnitt“ erregt bundesweite Aufmerksamkeit, „Extrabreit“ formieren sich, ebenso Nena Kerners erste Kapelle mit dem Namen „Stripes“. „Mein Mann hat den Bass gespielt“, erinnert sich Heike Wahnbaeck bei der Präsentation der üppigen Grobschnitt-Abteilung im Souterrain des Museums. Sie hat diesen Teil der Jubiläumsausstellung erarbeitet, mit zahlreichen Fotos, Plakaten, Zeitungsausschnitten, Videos und Tourneeplänen.

Eine komplette Bühne ist aufgebaut, Besucher bestaunen die antike Technik, die teilweise doch recht zeitlos wirkt. Wichtig ist Frau Wahnbaeck, dass es nicht nur um einige bekannte Bands, bekannte Musiker ging. Hagen, erinnert sie sich, war damals auch ein Zentrum für Studio- und Bühnentechnik, kaum irgendwo sonst waren die Roadies so professionell wie hier. Viele Fotos zeigen sie traut vereint, die Musiker und die Männer, die schleppten, schraubten und pusselten, damit die Gigs wie geplant über die Bühnen gehen konnten. Rund 50 Jahre sind seit den Anfängen vergangen, und das Jahr der Abschiedstournee, 1989, liegt auch schon über 30 Jahre zurück.

Hagen-Rock, Teil II: Kai Schlasse, Sänger von Extrabreit, im Jahr 1984. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Ennow Strelows Fotos

Was aus der Szene wurde? Viele Leute leben nicht mehr, viele Lebenswege verlieren sich. Doch manche Biographien wurden fortgeschrieben. Wir wechseln in die nächste Abteilung der Ausstellung, die einen Großteil des Museums füllt. Der Fotograf Ennow Strelow, der „Extrabreit“ und andere Bands getreulich begleitete, hat auch viele andere Menschen portraitiert, Hagener und Personen mit markantem Hagen-Bezug. Zu den Portraitfotos hat er Kurzbiographien geschrieben. Bei ihm nun taucht Eddy Kante auf, der, als er noch viele Haare auf dem Kopf hatte, zum Umfeld der Hagener Bands gehörte. Später, ohne Haare, wurde er Bodyguard von Udo Lindenberg. Die beiden sollen lange Jahre gut befreundet gewesen sein, bis Eddy Kante eine Lindenberg-Biogaphie schrieb, die diesem nicht gefiel. Aus war es mit der Freundschaft.

An der gesellschaftlichen Peripherie

Ennow Strelows fotografischer Beitrag zum Stadtjubiläum, besticht alleine schon durch den Fleiß, der hier erkennbar wird. Ja, er hatte auch Prominenz vor der Linse, Peter Schütze vom Hagener Theater etwa oder Jürgen von Manger, ebenfalls ein Sohn der Stadt Hagen. Doch viel Sympathie brachte er auch Menschen in der gesellschaftlichen Peripherie entgegen, dem Flaschensammler Paul zum Beispiel, Flaschen-Paul genannt, oder dem Schrauber Charly Haschke, der auch auf größere Entfernung noch stark nach Werkstatt roch.

Hagens bekanntester Dichter Ernst Meister griff gerne auch zum Pinsel. Dieses Aquarell „ohne Titel“ aus dem Jahr 1956, 32 x 24 cm groß, ist jüngst in das Eigentum des Osthaus-Museums übergegangen (Bild: Reinhard Meister/Osthausmuseum)

Meisters Bilder

Schließlich gibt es noch ein bisschen Kunst zu sehen, Kunst sozusagen in der kleinen Form, aber dafür um so beeindruk-kender. Das Museum hat als Schenkung ca. 50 Bilder erhalten, die der Hagener Dichter Ernst Meister schuf. Er hat, was weniger bekannt ist, gerne auch gemalt. Erste Arbeiten ab ca. 1954 erinnern, in den Worten von Museumsdirektor Tayfun Belgin, hier und da an Kandinsky oder das Bauhaus, doch spätestens in den frühen 70er Jahren fand er zu einer eigenen Bildsprache, abstrakt und expressiv, stark reduziert in den Gestaltungsmitteln. 13 weitere Bilder schließlich stammen vom Hagener Maler Horst Becking. Er hat sie zu Gedichten von Ernst Meister geschaffen, farbenfrohe Stücke, vereinzelt gegenständlich wahrzunehmen, auch eine Übermalung ist dabei. Bilder und Texte finden sich in einem kleinen Büchlein wieder, das das Museum herausgibt.

Man hätte gerne mehr gewusst

Viel Originelles ist hier also versammelt, was zwingend gar nicht den Anlass „Stadtjubiläum“ gebraucht hätte. Bei angemessener Gewichtung der stadthistorischen Anteile hätte man dem berühmten Maler Emil Schumacher natürlich mehr Raum geben müssen, doch nun gut, der hat sein eigenes Museum gleich gegenüber. Trotzdem wäre gerade bei ihm doch zu fragen, was ihn zeitlebens in Hagen hielt. Auch Nena hätten wir gern prominenter platziert gesehen, ohne deshalb die Hagener Rock-Szene vernachlässigen zu wollen. Jürgen von Manger ist wenigstens ein Video-Räumchen vorbehalten, wo seine alten Fernsehauftritte laufen.

  • „Hagen – die Stadt. Geschichte, Kultur, Musik“
  • bis 21.11.2021
  • Osthaus Museum Hagen, Museumsplatz 1, Hagen
  • Di-So 12.00 – 18.00 Uhr, Eintritt frei, Maskenpflicht
  • www.osthausmuseum.de

 




Joseph Beuys auf der Spur: Aktions-Fotografien von Ute Klophaus in Wuppertal

Große Geste: Joseph Beuys bei der Aktion „Titus/Iphigenie“ (J. Beuys/J. W. v. Goethe/C. Peymann/W. Shakespeare/W. Wiens). 29. Mai 1969, 20 Uhr, Theater am Turm, Frankfurt am Main. Fotografie: Ute Klophaus, Bromsilberabzug auf Papier, schwarzweiß, Risskante unten (Courtesy Sammlung Lothar Schirmer | © Nachlass Ute Klophaus / © für das Werk von Joseph Beuys: VG Bild-Kunst, Bonn, 2021)

Nein, beim vielfältigen Ausstellungsreigen im Beuys-Gedächtnisjahr soll Wuppertal auf keinen Fall abseits stehen, meint Roland Mönig, Direktor des Von der Heydt-Museums. Sein Haus hat sich ein spezielles, bislang nur selten beleuchtetes Thema ausgesucht, nämlich Fotografien, die Ute Klophaus (1940-2010) von Aktionen des Joseph Beuys (1921-1986) aufgenommen hat.

Rund 230 Arbeiten umfasst die von Antje Birthälmer kuratierte Schau. Bemerkenswerte Traditionslinie: Schon die erste Einzel-Präsentation Beuys’scher Arbeiten in einem Museum hatte es anno 1953 in Wuppertal gegeben. Beuys‘ Vita, findet der Verleger und Kunstsammler Lothar Schirmer, aus dessen Fundus die allermeisten der gezeigten Fotos stammen, sei mit Ute Klophaus‘ Geburtsstadt Wuppertal geradezu „verknotet“ gewesen.

Ute Klophaus: Selbstporträt. (Fotografie: Ute Klophaus, Bromsilberabzug auf Papier, schwarzweiß, Risskanten rechts und unten / Courtesy Sammlung Lothar Schirmer / © Nachlass Ute Klophaus)

Es muss schon ein besonderes, zuweilen kompliziertes Verhältnis gewesen sein zwischen dem nach und nach immer berühmteren Künstler und der künstlerisch hochbegabten Fotografin. Schon seit der ersten Begegnung (am 5. Juni 1965), beim legendären 24-Stunden-Happening in der Wuppertaler (!) Galerie Parnass, muss Ute Klophaus sogleich in Beuys‘ Bann geraten sein. Fortan folgte sie ihm – wann immer es ging – auf Schritt und Tritt. Eine symbiotische Beziehung? Nun ja. Wie auf einer „Hasenjagd“ sei sie sich dabei gelegentlich vorgekommen, hat sie gesagt. Hat sie derweil andere Themen versäumt? Müßige Frage.

Der Künstler fühlte sich verfolgt

Beuys seinerseits fühlte sich auf Dauer wohl nicht nur geschmeichelt, sondern auch schon mal verfolgt. Manchmal ist es ihm zu viel geworden mit der Nachstellung. Dann hat er sie, wie es heißt, ziemlich harsch angeraunzt; vielleicht auch deshalb, weil sie hinter die Fassade seiner sonstigen medialen Wirkung vorzudringen vermochte? Auf manchen Bildern macht sie ja geradezu die spirituellen Energieströme sichtbar, die dabei geflossen sein dürften. Eigentlich unheimlich.

Nochmals die Aktion „Titus/Iphigenie“, 29.5.1969, Frankfurt/Main (Fotografie: Ute Klophaus, Silbergelatine-Abzug, hochglänzend, Risskante oben). Von der Heydt-Museum, Wuppertal (© Nachlass Ute Klophaus / © für das Werk von Joseph Beuys: VG Bild-Kunst, Bonn, 2021)

Betrübt war Ute Klophaus, wenn Beuys sie (absichtlich?) von seinen Aktions-Plänen nicht unterrichtete, als hätte er sie abschütteln wollen. So geschehen im Vorfeld seiner Performance „Titus/Iphigenie“ im Frankfurter Theater am Turm (1969). Dorthin fuhr sie nicht etwa auf Einladung, sondern aufgrund einer seltsamen Eingebung. Sie ahnte, dass er etwas vorhatte und kam ihm auf die Spur. So fotografierte sie doch noch seinen höchst bildwirksamen Auftritt mit einem weißen Pferd. Umstände und Resultat haben hier wie auch häufig sonst eine mystische Dimension. Es ließe sich mit Fug fragen, wieviel Mystifikation hierbei im Spiel sein könnte.

Auch einige andere Künstler waren an solchen Aktionen beteiligt (z. B. Nam June Paik, Charlotte Moorman, Wolf Vostell), doch Ute Klophaus scheint sich immer fast nur auf Joseph Beuys konzentriert zu haben. Die damaligen Entfaltungen der Kunst im Gefolge der Fluxus-Bewegung waren Neuland, waren eine Herausforderung auch an die Fotografie. Und heute? Sind Lichtbilder nahezu die einzigen Relikte, die von den Aktionen geblieben sind.

Keine Dokumentation, sondern subjektive Eindrücke

Weitgehend chronologisch folgt die Ausstellung den von Klophaus festgehaltenen Beuys-Aktionen über rund 20 Jahre hinweg – von 1965 bis 1986. Die Fotografin hat sich innerlich stets dermaßen intensiv auf die Vorführungen eingelassen, dass sie höchst eingängige Bildformeln entwickeln konnte, die dem Geist der Aktionen zu entsprechen scheinen. Doch nicht als Dokumentation wollte sie ihre Aufnahmen verstanden wissen, sondern als Zeugnisse subjektiver Betrachtung. Auf solche Weise hat sie mit ihren Bildern die öffentliche Wahrnehmung der Beuys’schen Aktionskunst wesentlich mitbestimmt. Überschreitung und Transformation waren Merkmale seiner Kunst, sie wiederum transformierte sein Tun kongenial in ein anderes Medium. Sie war so etwas wie sein Gegenüber, doch keinesfalls eine Gegnerin.

Gesichtsmaske aus Blattgold, Goldstaub und Honig: Joseph Beuys bei seiner Aktion „wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“, 26. November 1965, 20 Uhr, zur Eröffnung der Beuys-Ausstellung „…irgend ein Strang…“ in der Galerie Schmela, Düsseldorf, Hunsrückenstraße 16-18 (Fotografie: Ute Klophaus, Bromsilberabzug auf Papier, schwarzweiß, Risskante unten) – (Courtesy Sammlung Lothar Schirmer / © Nachlass Ute Klophaus / © für das Werk von Joseph Beuys: VG Bild-Kunst, Bonn, 2021)

Nur mal als Beispiel für Beuys‘ oft rätselhafte Handlungen in Raum und Zeit: Die Aktion „wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ (November 1965 in der Düsseldorfer Galerie Schmela) war unter anderem gedacht als Versuch einer Synthese europäischen und asiatischen Denkens. Ute Klophaus hat derlei Vorgänge nicht einfach abgebildet, sondern durch Nachbearbeitung, Grobkörnigkeit, Zulassen des Zufalls, nah herangeholte Details, bewusst gesetzte Schadhaftigkeiten oder gezielte Schlieren und Verwischungen auf eine andere, durchgeistigte Ebene gehoben.

Ersichtlich „aus der Zeit gerissen“

Kennzeichnend sind zumal die sichtbaren Risskanten der Fotos, die die Szenen als „aus dem Zeitfluss herausgerissen“ markieren, woraus sich der Titel der Schau herleitet. Anders als ein Film, der all die vielen Momente „dazwischen“ erfassen, aber vielleicht auch ineinander verschwimmen lassen würde, erscheint der Einzelmoment in den Fotografien bedeutsam, ja bisweilen monumental, überlebensgroß: wie innig Beuys‘ sich an ein Fettkissen anschmiegt, wie priesterlich er bei seiner Iphigenie-Aktion die Orchesterbecken zu schlagen sich anschickt… Und bei all dem gar nicht zu vergessen: Schwarzweiß-Fotografie, wenn sie so gehandhabt wird, stand und steht immer noch für die wahrhaft bleibenden Augenblicke.

Ein interessanter Aspekt der Fotografien sind übrigens auch die gelegentlich am Rande auftauchenden Aktions-Besucherinnen und Besucher. Ihrer ansichtig, meint man etwas vom Aufbruch der mittleren und späten 1960er Jahre gewahr zu werden. Welch eine Ahnung des Kommenden: ganz nebenbei, ohne Posen, völlig unaufdringlich.

„Aus der Zeit gerissen“. Joseph Beuys: Aktionen – fotografiert von Ute Klophaus. 1965-1986. Sammlung Lothar Schirmer. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 19. September 2021 bis 9. Januar 2022. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Do 11-20 Uhr, Mo geschlossen. Katalog 32 Euro. Eintritt Erwachsene 12 Euro, ermäßigt 10 Euro, Familie 24 Euro.

www.von-der-heydt-museum.de




Filigran, trivial und dreidimensional – Stephanie Brysch zeigt Ausgeschnittenes im Torhaus Rombergpark

Wehe, wenn sie ausgeschnitten: Bedrohlich quellen Pflanzen aus dem Buch Karl Blossfeldts hervor. (Foto: rp)

Eigentlich sollte eine Ausstellungsbesprechung ja nicht mit dem Handwerklichen beginnen, das jeder künstlerischen Arbeit innewohnt. Doch wenn man beschreiben will, was Stephanie Brysch (Jg. 1976) macht, bleibt einem kaum etwas anderes übrig. Die Dortmunder Künstlerin schneidet aus, was ihr des Ausschneidens wert zu sein scheint, Blumen aus dem Blumenkatalog zum Beispiel oder Schmetterlinge aus einem alten Lehrbuch, Singvögel, Raupen; aber auch Szenen und Details aus Comic-Heften, Felsformationen aus selbstgemachten alten Schwarzweißfotografien und vieles mehr.

Leider läßt die „einäugige“ Fotografie die Dreidimensionalität des Objekts nur ahnen. Doch die Schatten der Pilze sind echt. (Foto: rp)

Pures Handwerk

Ausgeschnittenes wird thematisch geordnet archiviert und in Form und Ordnung gebracht, wenn eine Bildidee nach Verwirklichung verlangt. Was dann entsteht, ist keine flächige Collage, sondern ein höchst filigranes dreidimensionales Gebilde, in dem Ausgeschnittenes, auf unscheinbaren, unterschiedlich hohen Schaumstoffsäulchen montiert, ein (überwiegend) buntes, frappierendes Raumerlebnis schafft. Dieses Raumerlebnis verdankt sich purer Handwerksarbeit, keine 3D-Brille ist vonnöten, kein Computer hat mitgewirkt. Eine entfernte Verwandtschaft scheint höchstens zu den Theater-Guckkästen vergangener Jahrhunderte zu bestehen, in denen ebenfalls durch das Einfügen von Kulissen, Figuren usw. in unterschiedlichen Tiefen beeindruckende Raumeffekte entstanden.

Fröhliche Raupen (Foto: rp)

Ökologie

Im Dortmunder Torhaus Rombergpark, einer hübschen, kleinen, kuscheligen städtischen Galerie, sind nun nach langer Corona-Schließung einige Arbeiten von Stephanie Brysch zu sehen, ebenso luftig in den Ausstellungsraum gestellt, wie auch die Kompositionen selbst in sich recht luftig und wohlproportioniert gehalten sind. Wer will, und jetzt verlassen wir die handwerkliche Ebene des Kunstbeschreibens, mag die farbenfrohen Darstellungen von Tieren und Pflanzen als ökologisches Memento lesen, als Erinnerung an das, was in dieser Vielfalt bald schon nicht mehr so sein könnte, aber der Gedanke drängt sich nicht unbedingt auf.

Stephanie Brysch mit Schmetterlingen (Foto: Susanne Henning, Kulturbüro Dortmund)

Spielart der Pop Art

Stephanie Brysch hatte sich in früheren Arbeiten – mit gleicher Ausschneide- und Montagetechnik – auch dem Bergbau zugewandt, einige ihrer Arbeiten waren 2018 in der Ausstellung „Kunst und Kohle: Schichtwechsel“ im Dortmunder „U“ zu sehen. Comic-Figuren wühlten sich durch den Untergrund, suchten nach Schätzen in dunklen Verliesen, die Panzerknacker gruben – erfolglos natürlich – einen Tunnel zu Dagobert Ducks Geldspeicher, und so fort: lustig, respektlos und auch ein bißchen überwältigend in dieser Verdichtung. Zudem formte sich in der Wahrnehmung eine Spannung zwischen dem doch recht massiven Gegenstand der Schau (Kohle), der Trivialität der verwendeten Bildmotive und der schier unglaublichen Genauigkeit in der Ausführung. Vertraute Proportionen verschoben sich, man konnte sich in einer speziellen Spielart der Pop Art wähnen, deren Kennzeichen hier aber nicht ein unerhörtes „Blow up“ bis zum letzten Rasterpunkt der Vorlage war, sondern ein akribisches „Cut out“ von Comic-Bildchen, deren Papierqualität so mies war, daß die Rückseiten durchschienen.

Serielle Reihung mit Comic-Helden auf Bänken (Foto: rp)

Comic-Helden

Nur eine Comic-Arbeit hat es in das Torhaus Rombergpark geschafft, und sie hat mit Flora und Fauna nichts zu tun. In serieller Reihung zeigt sie Sitzende auf Bänken, manchmal auch Bänke ohne Personen. Wir treffen Donald Duck und Gustav Gans, Asterix und Obelix, den rosaroten Panther, Schlümpfe und Goofy und andere alte Bekannte mehr – ein federleichter Spaß, für den diese Technik offensichtlich sehr gut taugt.

Fotos von Karl Blossfeldt

Und dann ist das noch eine Vitrine im Raum, bei der alles ganz anders ist. In ihr steht, aufgefächert, ein altes Lehrbuch, aus dem die Bildmotive – ausgeschnitten natürlich – gleichsam herausquellen. Es ist ein Buch des Fotografen und Gelehrten Karl Blossfeldt, der, stark verkürzt gesagt, die Formensprache der Antike in der Natur suchte und fand und sie mit eindrucksvollen Fotografien dokumentierte. Auch diese Motive hat Stephanie Brysch mit der Nagelschere freigestellt, und wie hier nun die Pflanzen das Buch verlassen, wie sie flüchten oder sich ausbreiten, man weiß es nicht recht – das hat was. Da fühlt man sich unbehaglich.

Fußball und Tourismus

Wie wirksam diese Kunst aus Zitaten ist, mag ein entdeckungsfreudiges Publikum für sich selbst entscheiden, am besten bei einem Besuch im Torhaus. Und was kommt als nächstes? Das Ausschneiden, sagt Stephanie Brysch, mache ihr nichts aus, habe für sie etwas Entspannendes. Und deshalb wird sie wohl bis auf weiteres dabei bleiben. Fußball könnte ein Thema werden, sagt sie. Und auch einige alte Tourismus-Führer harren der Durcharbeitung.

  • Stephanie Brysch: „Pflanzen, Tiere, Schlumpf“
  • Ausstellung im Torhaus Rombergpark, Am Rombergpark 50, Dortmund
  • Bis 25. Juli. Geöffnet di-sa 14 – 18 Uhr, so und feiertags 10 – 18 Uhr.
  • Eintritt frei.
  • In der Ausstellung gilt Maskenpflicht.



„Dortmunder U“ im Disco-Rausch: Ausstellung feiert den legendären Club „Studio 54″

Rose Hartman (American, born 1937): Zu Pferde zelebriert Bianca Jagger am 2. Mai 1977 ihren 27. Geburtstag im Studio 54. Auf dieser Aufnahme nicht zu sehen: Ein nackter Mann hielt die Zügel. (Black and white photograph. Courtesy of the artist. © Rose Hartman)

Hört sich doll an: Premiere hatte die Schau in New York, in Toronto fiel sie wegen Corona aus, jetzt ist sie in Dortmund zu sehen – und sonst nirgendwo. Es geht um die legendäre Clubdisco „Studio 54″, deren verbliebene Essenzen nun im „Dortmunder U“ wiederbelebt werden sollen.

Die seinerzeit weltberühmte Kult-Disco an der 54. Straße in Manhattan gab es nur 33 Monate lang, zur Eröffnung im April 1977 kamen Celebrities wie Frank Sinatra, Cher oder auch Donald Trump. Bis zur Schließung im Februar 1980 wogten dort schräge, schrille und rauschhafte Partys mit Stars und Sternchen sonder Zahl. Zu nennen wären beispielsweise Glamour-Gestalten wie Mick und Bianca Jagger, Andy Warhol, Liz Taylor, Michael Jackson, Grace Jones oder Liza Minnelli.

Ausstellungsansicht mit Mode-Beispielen: „Studio54: Night Magic“ (Foto: Roland Baege)

Schrille Mode zur Selbstinszenierung

Stop! Wir müssten nahezu die gesamte damalige Prominenz nennen. In der Ausstellung geben 14 Seiten maschinenschriftliche Gästelisten der Eröffnungs-Nacht eine ungefähre Vorstellung. Sinnlich weitaus eindrucksvoller sind die glitzernden, schillernden Modebeispiele, die damals der Selbstinszenierung auf die Sprünge halfen. Viele Originale aus privaten Kleiderschränken finden sich da, aber auch getreulich Nachgeschneidertes und Entwurfsskizzen. Angesichts etlicher Fotografien oder typischer Relikte und Reliquien (z. B. von Andy Warhol himself gestaltete Eintrittskarten) mag man gleichfalls schwelgen. Es geht ums (Nach)-Erleben, nicht so sehr um eine kritische Würdigung, die eh reichlich verspätet käme. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Club 1980 wegen Steuervergehen schließen musste und die Betreiber in den Knast kamen.

Christian Piper (German, born 1941) for Fiorucci (Italian, founded 1967): Poster zur Eröffnungs-Nacht im Studio 54, 1977. (Printed color poster. Courtesy of The Estate of Antonio Lopez and Juan Ramos)

Die vom renommierten Brooklyn Museum reich bestückte, von Matthew Yokobosky kundig kuratierte Ausstellung ist natürlich keine gewöhnliche Vitrinenschau, sondern setzt einiges in Gang, um die Atmosphäre jener frühen, wilden Disco-Zeiten aufleben zu lassen – beispielsweise mit zahlreichen Lichteffekten, mit den tanzbaren Hits jener Jahre, Bühnenbildern oder einem Rundum-Erlebnis im „360-Grad-Fulldome“. Besucherinnen und Besucher sollen Tanzlust verspüren und sodann – wenn irgend möglich – in die örtliche Clubszene ausschwärmen, die sich gerade wieder aufzurappeln beginnt.

„Unglaublich divers“ muss es sein

Das „Studio 54″ bestand zwar nur recht kurz, hatte aber weit reichende Lifestyle-Auswirkungen, es stand und steht also für ein gehöriges, in gewissen Kreisen global wirksames Stück Kulturgeschichte. Damals war’s nicht leicht, an den Türstehern vorbeizukommen, für die Dortmunder Disco-Schau braucht’s nur eine (nicht ganz billige) Eintrittskarte – und schon geht es rein ins kuratierte Vergnügen, das als „Night Magic“ umschrieben wird.

Ron Galella (American, born 1931): New York City, Studio 54, „Grease“-Premieren-Party, Andy Warhol und Grace Jones, 1978. (Courtesy of the artist. © Ron Galella)

Jede nachfolgende Zeit liest aus Phänomenen wie dem „Studio 54″ ihre eigenen Schwerpunkte heraus. Die deutsche Ko-Kuratorin Christina Danick, die gemeinsam mit Yokobosky und Stefan Heitkemper (Leiter des „U“) die über 450 Exponate aufs Dortmunder Format gebracht hat, schwärmt mit einer gängigen Formel unserer Tage davon: „unglaublich divers“ sei diese Ausstellung. Alle Leute könnten ihr etwas entnehmen, die Älteren sich in ihre Disco-Jahre zurückversetzen, die Jüngeren mit eigenen Club-Erfahrungen vergleichen. Mode- und Popmusikfans würden ebenso angeregt wie Liebhaber künstlerischer Fotografie. Nicht auf einzelne Stücke komme es hierbei an, sondern auf die Gesamtheit der Atmosphäre. Yokobosky spricht schlichtweg von „Mood“. Und diese Stimmung sollte eben jede(r) selbst erfahren.

„Hedonistisches Paradies“

Tatsächlich war das „Studio 54″ Katalysator und Ausdruck einer damals zeittypischen Befreiung – mit Langzeitwirkung. Normen und Zwänge waren weitgehend aufgehoben: Wenn Leute irgendwie zu den Schönen, Schrillen und Reichen gehörten oder zu ihnen passten, spielten Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung im Club keine Rolle. Nicht zuletzt die Schwulenkultur, seinerzeit noch längst nicht so ausgeprägt wie heute, erhielt hier neue Impulse.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Dortmund setze mit dieser Schau (oder besser: Show) mal wieder alles auf eine populäre Karte – wie 2018/19 mit der in Sachen Besucherandrang und Einnahmen denn doch enttäuschenden „Pink Floyd“-Ausstellung. Doch Kulturdezernent Jörg Stüdemann (er nennt das Studio 54 ein „hedonistisches Paradies“) dämpft allzu hochfliegende Erwartungen. 10.000 Besucher(innen) wären in Ordnung, alles darüber hinaus erfreulich. Allerdings wisse man noch nicht, ob Corona mit der Delta-Mutante einen Strich durch die ganze Rechnung machen werde.

Zusätzlich zur Schau im „U“ werden einige Dortmunder Clubs vom Hartware MedienKunstVerein (HMKV) mit medienkünstlerischen Aktionen bespielt. Unter dem Titel „hello again“ steuert der HMKV auf seiner 2. Ebene im „U“ überdies Impressionen zur lokalen Clubszene bei. Zum umfangreichen Begleitprogramm gehören ferner Cocktail-Mixabende oder DJ-Workshops.

Guy Marineau (French, born 1947): Pat Cleveland on the dance floor during Halston’s disco bash at Studio 54, 1977. (Photo: Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Eine Bühne für den nächtlichen Exzess

Befragt, warum gerade das nicht gar so glamouröse Dortmund die Ausstellung ausrichte, sagt Matthew Yokobosky, die allermeisten Museen wollten sich nicht auf eine solche mutimediale Darbietung einlassen, die der reinen Kunst-Lehre kaum entspreche. Das Dortmunder U sei eine rühmliche Ausnahme. Yokobosky will ja auch keinen Tingeltangel anrichten, sondern eine Synthese aus musealer Würde („dignity“) und aufregenden („exciting“) Elementen. Großen Wert legt er auf zeit- und kulturgeschichtliche Authentizität.

Zwei Jahre haben allein Yokoboskys Recherchen und rund 100 Interviews mit Zeitzeugen gedauert, dabei habe er allmählich herausbekommen, wo die (nunmehr 85) Leihgeber zu finden waren. Der erfahrene Museumsmann erinnert daran, dass das „Studio 54″ in einem vormaligen Opernhaus eingerichtet wurde. Die Menschen tanzten auf der Bühne, in jeder Nacht konnte eine andere Szenerie zur Selbstdarstellung entstehen. Der exzessiven Phantasie waren in diesem Fegefeuer der Eitelkeiten kaum Grenzen gesetzt. Der Ausstellung zum Trotz: Diese Zeiten kommen nicht wieder. Es kommen andere.

„Studio 54: Night Magic“. 26. Juni bis 17. Oktober 2021 im „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Geöffnet Di, Mi, Sa, So 11-18, Do/fr 11-20 Uhr. Montags geschlossen. Normalticket 18,90 €, ermäßigtes Feierabendticket 11,90 €.

www.studio54.dortmunder-u.de

 




Museum Folkwang: Auf ein Neues mit Kippenberger, Fotokunst, Tanzdynamik und Filmskizzen

Ausstellungs-Teilansicht von Martin Kippenbergers raumgreifender Installation „The Happy End of Franz Kafka’s Amerika“ (hier 2008/2009 im MOCA Grand Avenue – Courtesy of The Museum of Contemporary Art, Los Angeles / Foto: Brian Forrest)

Es hätte fürs Museum Folkwang alles so gut geraten können. Das Jahr 2020 ließ sich geradezu prächtig an. Museumsdirektor Peter Gorschlüter blickt etwas wehmütig auf diese Zeit zurück: Die publikumsträchtige Aktion des durchgehend freien Eintritts konnte verlängert werden, das Essener Haus wurde derweil zum „Museum des Jahres“ erkoren – und schließlich wuchsen die Chancen auf ein Bundesinstitut für Fotografie in der Revierstadt.

Seit Corona regiert das Prinzip Hoffnung

Doch dann kam Corona. Man musste ab 16. März schließen und konnte auch nach Wiedereröffnung im Mai bei weitem nicht an vorherige Besucherzahlen anknüpfen. Jetzt sind die Museen bekanntlich wieder zu und müssen sich ans Prinzip Hoffnung halten – oder soll man sagen: klammern? Gorschlüter betont, noch sei das Museum Folkwang in einigermaßen komfortabler Lage und er selbst guter Dinge. Er wisse aber, dass viele andere Museumsleute bereits zu kämpfen hätten.

So weit die getrübte Rückschau nebst Ausblick zwischen Hoffen und Bangen. Doch viel lieber ließen die Essener Museumsleute auf der heutigen Video-Jahrespressekonferenz wissen, was sie für 2021 vorhaben. Neben Gorschlüter stellten die Kurator(inn)en Tobias Burg (Grafische Sammlung), Anna Fricke (Zeitgenössische Kunst) und Thomas Seelig (Fotografische Sammlung) ihre Pläne vor. Tatsächlich versprechen erste Einblicke ein durchaus spannendes Programm.

Installation von der Größe eines Sportplatzes

Martin Kippenberger in seiner Kafka-Installation – im Museum Boijmans Van Beuningen, 1994 (© Cees Kuiper/Rotterdams Dagblad)

Schon der Auftakt hat es in sich: Martin Kippenberger (1953-1997), in Dortmund geborener und in Essen aufgewachsener Künstler von bleibender Bedeutung, wird in großem Stile präsentiert. Im Museum Folkwang wird seine ungeheuer raumgreifende Installation „The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika'“ zu sehen sein. Kippenbergers Werk von der Ausdehnung eines Sportplatzes bezieht sich aufs Schlusskapitel von Kafkas Roman „Der Verschollene/Amerika“. Natürlich handelt es sich nicht um bloßen Kafka-Nachvollzug, sondern um eine Adaption aus der ganz spezifischen Perspektive Kippenbergers, der in seine Installation etliche Werkelemente befreundeter Künstler(innen) sowie zahlreiche Fundstücke eingearbeitet hat. Die insgesamt 50 Ensembles aus Tischen und Stühlen dürften tatsächlich so etwas wie eine „kafkaeske“ Atmosphäre erzeugen. Imaginiert ist das Ganze als Raum für viele gleichzeitige „Einstellungsgespräche“. Es geht um die verstörende Erfahrung einzelner Menschen, die sich einer fremden Gesellschaft gegenübersehen. Aber bitte das Thema nicht bruchlos eins zu eins nehmen. Bei Kippenberger sind stets einige Doppelbödigkeiten, Denk- und Blick-Fallen zu gewärtigen.

Zeitgleich werden in der altehrwürdigen Bibliothek der Essener Villa Hügel die vor zuweilen frecher Schaffenslust geradezu sprühenden Künstlerbücher Kippenbergers gezeigt – welche Kontraste sind da zu erwarten! Im Obergeschoss, wo sich die gediegenen Wohnräume des Krupp-Palastes erstrecken, sollen ausgewählte Plakate Kippenbergers gleichfalls eine völlig gegenläufige Dimension eröffnen.

Beide Kippenberger-Präsentationen sollen am 7. Februar 2021 starten und bis 2. Mai dauern – ob und ab wann mit physisch anwesendem Publikum, steht noch dahin.

Zwei Generationen der Fotografie

Auch schon am 19. Februar wird eine Folkwang-Retrospektive zum Werk des Fotografen Timm Rautert (Jahrgang 1941) beginnen. Anhand von rund 350 Arbeiten soll das vielfältige Oeuvre des einstigen Schülers von Otto Steinert aufgeblättert werden. Ab 25. Juni schließt sich ein Überblick zum fotografischen Schaffen von Tobias Zielony (Jahrgang 1973) an, der einer ganz anderen Generation angehört und sich vor allem auf die Spuren neuerer Jugend(sub)kulturen geheftet hat.

Tobias Zielony: „Make Up“, 2017. Fotografie aus der Serie „Maskirovka“ (Pigmentdruck, 70 x 105 cm / Courtesy KOW, Berlin / © Tobias Zielony)

Grenzen der künstlerischen Disziplinen soll ab 13. August die Schau „Global Groove. Kunst, Tanz, Performance und Protest“ überschreiten. Im Fokus steht die tänzerische Bewegung als Triebkraft politischer, kultureller und lebensweltlicher Veränderungen. Zugleich wird die wechselvolle Kulturgeschichte der Kontakte zwischen fernöstlichen und westlichen Ausdrucksformen des Tanzes erzählt.

Was Fellini zu seinen Filmen zeichnete

Federico Fellini: „Die Marktfrauen auf Rädern“, um 1972 (Faserstift-Zeichnung zum Film „Amarcord“ – Sammlung Jakob und Philipp Keel / © VG Bild-Kunst, Bonn, 2020)

Bildende Kunst, Literatur (Kafka), Fotografie und Tanz hätten wir also schon beisammen. Was fehlt? Nun, zum Beispiel der Film. Auch hierzu gibt es ein interessantes, gattungsübergreifendes Projekt: „Federico Fellini. Von der Zeichnung zum Film“ (ab 12. November 2021) beleuchtet ein bislang wenig beachtetes Kapitel im Werk des ruhmreichen Regisseurs der Opulenz. Fellini hat zahllose Skizzen angefertigt, um sich Typen, Figuren, Kostümierungen und Szenarien seiner Lichtspiele besser vorstellen zu können. Gar manches diente als mehr oder weniger direkte Vorlage für die filmische Umsetzung. Etwa 150 Zeichnungen (dazu Standbilder und Filmausschnitte) aus den Jahren 1950 bis 1982 werden gezeigt, karikaturistischer Gestus und pralle Sinnlichkeit gehen dabei fruchtbare Verbindungen ein. Und was wird Fellini wohl bei seinen Frauendarstellungen besonders betont haben? Dreimal dürfen wir raten.

Museum Folkwang. Museumsplatz 1 in 45128 Essen.

www.museum-folkwang.de

 




Technik der Gesichtserkennung – trotz Masken ziemlich treffsicher

Aufsetzen? Zum Schutz vor Corona sicherlich! Aber gegen avancierte Gesichtserkennung hilft die Maske wenig. (Foto: BB)

Von Zeit zu Zeit lade ich Fotos in eine Cloud hoch. Die Betreiber dieser Cloud setzen – je nachdem, ob man diese Einstellung wählt – eine Gesichtserkennung ins Werk. Daran knüpfen sich Fragen und Bedenken, zumindest nach hiesigem Datenschutz-Verständnis.

Es werden im Fall des Falles also Hunderte, Tausende oder Zigtausende von Fotos nach abgebildeten Personen vorsortiert, die man sodann mit Namen versehen kann. Schon dabei beschleicht einen ein mulmiges Gefühl, denn wer weiß, wo solche (und sei’s nur mit Vornamen) zugeordneten Dateien dann anlanden und wozu sie verwendet werden können. Fehlt nur noch der Fingerabdruck. Aber den liefern viele Leute bei Anmeldevorgängen auf ihren Smartphones, wenn sie sich nicht auch dort per Gesichtserkennung einloggen. Wenn dies alles nun zusammengeführt würde? Gespenstisch.

Das Programm kennt deine Freundschaften am besten

Zuweilen „vertut“ sich die Gesichtserkennung der Cloud noch und registriert ein und dieselbe Person als verschiedene Menschen. In solchen Fällen könnte man dem Programm auf die Sprünge helfen und diverse „Bilderstapel“ miteinander kombinieren – damit quasi zusammenwächst, was zusammen gehört. Auch das ist nicht unproblematisch, hilft man auf diese Weise doch, das Programm immer mehr zu verbessern und zu präzisieren, bis es „deine“ Leute fast so gut erkennt wie du selbst.

Eines Tages wirst du überflüssig sein und sie werden dir sagen, wer deine guten Freundschaften und wer die weniger guten sind. Zuerst vielleicht noch wohlmeinend, später zunehmend harsch und herrisch? Wer weiß. Bereits jetzt werden die Personen in einer Art Hitliste nach Bilderhäufigkeit geordnet. Sind diejenigen, die da ganz obenan stehen, also wirklich die wichtigsten Menschen? Oder haben sie sich nur besonders oft und penetrant vor die Kamera gedrängt?

Vollends stupend finde ich eine Fähigkeit der Cloud, die jetzt erst so recht zum Tragen kommt: Die Gesichtserkennung, einmal auf bestimmte Menschen „geeicht“, lässt sich auch durch Masken kaum in die Irre führen. Offenbar reichen mitunter schon Frisur bzw. Haaransatz, die Form der Stirn, vor allem die Augen und möglicherweise auch der Kleidungsstil oder wiederkehrende Kleidungsstücke aus, um jemanden recht eindeutig zu kennzeichnen. Hierin ist das Programm vielleicht sogar schon genauer als man selbst, der man jetzt bei Begegnungen gelegentlich ein paar Sekunden lang rätselt, welches bekannte Gesicht sich hinter einer Schutzmaske verbirgt.

Speziell in Asien vorangetrieben

Höchstwahrscheinlich ist dieses Feature in Asien vorangetrieben worden, wo viele Menschen seit jeher Alltagsmasken tragen. Ob die Sache in den USA in weitaus besseren Händen ist, steht dahin. In China freilich wird soziales Verhalten ungleich mehr unter Kontrolle gebracht und in erwünschte Richtungen gelenkt. Ungezählte Kameras, versehen mit avancierten Möglichkeiten der Gesichts- und Bewegungserkennung, erfassen weite Teile des (halb)öffentlichen Lebens, mit anderen digitalen Techniken regieren Autokraten jeder Couleur bis ins Private hinein. Virale Ausbreitungen mag sie verhindern oder mindern, doch gegen derlei Kontrollmechanismen hilft auch keine Maske mehr.

Und noch eins: Neuerdings sparen sich viele Medien die früher übliche Verpixelung, sofern die Abgebildeten Masken tragen. Sie haben ihre rechtliche Rechnung anscheinend ohne Rücksicht auf die fortgeschrittenen Fähigkeiten der Gesichtserkennung gemacht.




Befremdende Bilder aus dem Märchenwald – „Mühl“ von Bernhard Fuchs im Bottroper „Quadrat“

xxx

© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Was hat er gesucht? Und was hat er gefunden? Es ist nicht eben so, daß diese Bilder des österreichischen Fotografen Bernhard Fuchs dem Betrachter ihre Botschaften aufdrängen wollten. Eher verschlossen wirkt diese Fotografie, und die formale Präsentation – quadratische Abzüge in einem insgesamt sehr quadratisch wirkenden Museum namens Quadrat – trägt das ihre dazu bei, das Publikum auf Abstand zu halten.

Fast nur Natur

Jenseits des Formalen wohnt den Arbeiten indes nur wenig Serielles inne. Zu sehen gibt es Bilder aus dem Wald im wilden oberösterreichischen Mühlviertel. Bäume, Zweige und Äste – blattlos, winterlich – kommen häufig vor, Steine, Wasser, Moos und Gräser sind mit dabei, Himmel und Erde schließlich auch. Die Kompositionen sind stets sparsam, mal zeigen sie zerklüftete, bemooste Felsen, mal Flächenkompositionen aus nackten Zweigen vor fahlem Himmel. Skurrile Ast- und Stammformen laden zu Assoziationen ein, einmal gar steht nur ein mäßig strahlender Mond über der schemenhaft erkennbaren nächtlichen Landschaft. Zivilisation fehlt weitgehend, wird in einigen Bildern lediglich angedeutet durch das Resultat menschlichen Handelns, durch auf dem Boden ausgebreitete, abgeschnittene Zweige beispielsweise.

© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Zurückhaltung

Ob man die Auseinandersetzung des Fotografen mit alledem als komponierendes Handeln wertet oder als das Resultat feinnervigen Erspürens besonderer Orte, ist letztlich fast egal. In beiden Fällen sind die Dinge sehr gut gesehen. Einige Male, bei den Steinbildern zumal, ist die Zentralperspektive zu erkennen, doch kompositorische Zurückhaltung herrscht vor. Die meisten Arbeiten übrigens könnte man glatt für Schwarzweißbilder halten, so farblos schwarz-weiß-grau sind sie in der unsommerlichen Zeit ihres Entstehens geraten. Und bei alledem erkennt man in Bernhard Fuchs den Becher-Schüler, der seine fotografischen Objekte gut behandelt und darauf vertraut, daß sie so bei Betrachterin und Betrachter wirksam werden.

© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Eine ewige Dunkelheit

„Oft schenkt während meiner Wanderungen das Betrachten und Erklettern eines Steinblocks dem Denken einen heilsamen Widerstand, weil in seiner Stärke und seiner Ruhe eine Art ,ewige’ Dunkelheit verborgen bleibt.“ So zitiert das Bottroper Museum den oberösterreichischen Künstler. Nicht alle Waldbesucher werden so intensive Empfindungen haben, da müssen Stichworte wie Heimat, Kindheit, Geborgenheit sicherlich hinzugedacht werden. Unzweifelhaft jedoch erschaffen Fuchs’ Bilder in ihrer Gesamtheit eine große, fast schon archaische Intensität, laden ein zu einer intuitiven Auseinandersetzung mit vertrauter Nähe und unerwarteter Fremdheit. Konsequenterweise gilt „Mühl“, ein winziges Schildchen auf der Wand erklärt es, als ein einziges „o.T.“, mithin als ein einziges, vielteiliges Werk „ohne Titel“, was etwas widersprüchlich ist. Aber gemeint ist wohl, daß kein einzelnes Bild sinnvollerweise einen Titel tragen kann, die Bilder in ihrer Gesamtheit indes schon.

Bei aller Radikalität, die der Fotografie Bernhard Fuchs’ im besten Sinne eigen ist, ist sie doch keineswegs unzugänglich – eine Position weit jenseits schneller Dramatisierungen mithin, die kennenzulernen allemal lohnt.

  • Bernhard Fuchs: „Mühl“
  • Josef Albers Museum, Quadrat, Bottrop
  • Bis 8. November 2020. Geöffnet Di bis Sa 11-17 Uhr, So 10-17 Uhr, Eintritt 6 EUR.
  • Das Buch zur Ausstellung erschien im Verlag Koenig Books, London, hat 96 Seiten und kostet 45,00 EUR.



Jetzt aber: Mit Frühlingsbildern der Krise trotzen!

Impression aus der Dortmunder Stadtkrone Ost (da, wo die ganzen IT-Firmen sitzen). (Foto: Bernd Berke)

Machen andere Medien ja auch mit wachsender Begeisterung: frühlingshaft- hoffnungsvolle Natur-Aufnahmen gegen die Corona-Krise stellen. Warum auch nicht? Und bitte verzeiht die Bindestrich-Inflation…

Blüte in der nördlichen Gartenstadt. (Foto: Bernd Berke)

Abendlicher Blick nach Westen. (Foto: Bernd Berke)




„Der montierte Mensch“ – eine vorzügliche Folkwang-Ausstellung fragt nach Individuum und Masse in der Kunst

Fernand Léger Le Mécanicien, 1920 Öl auf Leinwand, 116 × 88,8 cm National Gallery of Canada, Ottawa © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: NGC

Fernand Léger: „Le Mécanicien“, 1920. Öl auf Leinwand. National Gallery of Canada, Ottawa / © VG Bild-Kunst, Bonn 2019. Foto: NGC

Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende – der Wende in das 20. Jahrhundert hinein – begann die Kunst, schüchtern zunächst, mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit die konstruktiven Gegebenheiten der Welt abzufragen, die Baupläne von Natur und Technik, die Funktionalität von Gesellschaft und Individuum. Das war eigentlich erstaunlich, denn jenseits der Kunst war die Welt des 19. Jahrhunderts ja längst im Industriezeitalter angekommen.

Nur ein Schönheitsfleck

Zum einen gab es bahnbrechende Erfindungen am laufenden Band, zum anderen kapitalistische Exzesse der Ausbeutung und der Anhäufung von Reichtum in einem bis dahin unvorstellbaren Maß. Doch die Maler schwelgten in Spätromantik, blickten auf liebliche Flußauen und schroffe Felslandschaften, und bestenfalls war ganz im Hintergrund, der rauchende Schornstein verriet es, eine kleine Fabrik zu erahnen, zu nicht mehr nütze als dazu, dem schwelgerischen Duktus einen süßen Schönheitsfleck zu verpassen. Die Moderne zeigte erstes Leben, gewiß; doch in den Akademien berauschte man sich an mythologischen Stoffen, betrieb Heldenverehrung. Das deutsche Bürgertum pflegte den Luisenkult, haßte die Franzosen (nicht aber ihren Wein…) und hörte Wagner dazu. Ist ja alles bekannt.

Orlan: Le Baiser de l’artiste. Le distributeur automatique ou presque! n°2, 1977 (2009) Silbergelatine auf Diasec, 55 × 110 cm Erworben 2009, entre Pompidou, Paris (Bild: Museum Folkwang,  VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / ADAGP Foto: bpk / CNAC-MNAM / Georges Meguerditchian)

Zu Beginn Krupp

Der industriellen Wirklichkeit näherte sich die Kunst schließlich mit unübersehbarer Ambivalenz. Heinrich Kleys Gemälde „Tiegelstahlabguß bei Krupp“ zum Beispiel, entstanden 1909, schwankt mit seiner altmeisterlichen Lichtbalance etwas unschlüssig zwischen dramatischer Überhöhung, Bewunderung für die moderne Technik und dokumentarischer Beschreibung der Arbeitssituation, die die vielen Einzelnen entindividualisiert, sie gleich Soldaten unbedingtem Gehorsam unterwirft, weil sonst das Werk nicht gelingen würde.

Im großen Saal

Mit Kleys Bild beginnt der (ganz vorzügliche) Katalog zur Ausstellung „Der montierte Mensch“, die jetzt bis 15. März 2020 im Essener Folkwang-Museum zu sehen ist. Mehr als 200 Werke von 124 Künstlern beiderlei Geschlechts haben die Kuratorinnen Anna Fricke und Nadine Engel für diese eindrucksvolle Präsentation im großen Ausstellungssaal des schönen, zweckmäßigen Chipperfield-Baus zusammengetragen, Leihgaben und Eigenbestand. Der Gefahr allzu großer Beliebigkeit, die das Thema in sich birgt, sind sie mit konzeptioneller Strenge begegnet. Doch natürlich hat die Ordnung Grenzen, denn auf dem riesigen Themenfeld von Konstruktion, Dekonstruktion und Destruktion, wo irgendwo sicherlich auch der nicht allzu geläufige Begriff „montierter Mensch“ seine sinnhafte Verortung findet, haben die Dinge sich nicht nur linear entwickelt. Der Begriff „Der montierte Mensch“ stammt übrigens von dem Kulturwissenschaftler Bernd Stiegler.

Roy Lichtenstein; Study for Preparedness, 1968, Öl und Magna auf Leinwand, 142,5 × 255 cm, Museum Ludwig, Köln (Bild: Museum Folkwang, Estate of Roy Lichtenstein / VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: Rheinisches Bildarchiv, rba_d039366)

Zusammenhänge

Wenn auch nicht alles mit allem, so hängt doch vieles mit vielem, vielfältig zudem, zusammen. So lassen sich die fotografierten Bewegungsstudien Eadweard Muybridges, die 1887 noch vor der Erfindung des Kinos entstanden und die Zerlegung von Bewegung in viele Einzelschritte vorwegnahmen, durchaus sinnhaft in Zusammenhang bringen mit den Arbeiten Trevor Paglens. Der hat, beispielsweise für das ausgestellte, erschreckende Bild „Vampire (Corpus: Monster of Capitalism) Adversarially Evolved Hallucination“ (2017) den Computer nach der Evaluation menschlicher Statements zum Thema Vampire Algorithmen schreiben lassen, die in einem bildgebenden Programm zu eben jenem geplotteten Bild führten. Und wenn auch die Leistung des Computers uns Respekt abnötigt, so ist es mit seiner Künstlichen Intelligenz doch nicht weit her, denn im Kern reproduzierte er nur, was Menschen vorher äußerten. Muybridge verstand sich übrigens als Forscher, während Paglens Arbeit heutzutage problemlos als Kunst akzeptiert wird. Aber beide zerlegten und montierten.

Fortunato Depero: Motociclista (solido in velocità), 1927, Öl auf Leinwand, 117 x 163,5 cm, Privatsammlung (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Vittorio Calore (Milano Italy))

Der Erste Weltkrieg

Streift man durch die reizvoll heterogene Essener Schau, drängt sich allerdings der Eindruck auf, daß Zerlegung und Zerstörung weitaus mehr Platz beanspruchen als ein anschließendes „Montieren“. Vor allem die traumatisierenden Destruktionserfahrungen des 1. Weltkriegs veränderten die Kunst grundlegend und unwiderruflich. In einem Dreierzyklus (zweimal Kohle, einmal Öl) aus „Die Schlacht“ (1916/17), „Vorstoß“ (1916/17) und „Der Krieg“ (1914) löst beispielsweise Otto Dix die Ordnung der Welt in wilde, entmenschlichte Strukturen auf. Während die Kompositionen der ersten beiden Bilder noch kraftvoll einem Ziel entgegenzustreben scheinen, ist das letzte nur pures Chaos. Details erkennt man noch, Köpfe, Zahnräder, Schlote, Blitze, doch jeglicher funktionale Zusammenhang ist dahin. Viele Künstler teilten Dix’ Blick auf diese gänzlich entzauberte Welt.

Bettina von Arnim: Close Cycle Man, 1969, Öl auf Leinwand, 138 × 112 cm, Städel Museum Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Städel Museum – ARTOTHEK)

Kleine Püppchen

Zurück zur Montage. Dem Ausstellungstitel im Wortsinn am nächsten sind wohl Zeichnungen von Rodtschenko, Malewitsch, Kandinsky, El Lissitzky und einigen anderen, die in einer kurzen Aufbruchphase der Kunst nach dem 1. Weltkrieg – in Rußland zumal – ernsthaft, doch auch spielerisch aus Menschen mechanische Funktionsgebilde machten, kleine Püppchen, um zu kreativen Weiterungen zu gelangen.. Es ist eine etwas spröde Kunst, aber auch eine ohne Ballast, nüchtern forschend, unbestechlich. Genannt sei hier neben der Herren ausdrücklich auch Ella Bergmann-Michel, deren rätselhaft-konstruktive Gebilde „sans titre“ sind und von 1923 stammen.

Bellings Köpfe

Natürlich (ist man fast geneigt zu sagen) fehlen Rudolf Bellings maschinengleiche aufpolierte Bronzemenschenköpfe (1923) nicht, auch René Magritte ist mit Menschen in surrealen Wundern („L’âge des merveilles“, 1926) vertreten. Und Fernand Léger natürlich, der seine Figuren aus prallwurstigen Einzelteilen (es widerstrebt, Gliedmaßen zu schreiben) zusammensetzte. Auch sein „Mechaniker“ von 1920 ist so entstanden, doch trotz der klobigen Anmutung in Sonderheit der Arme und der Hand vermittelt er nicht nur Kompetenz und Gelassenheit, sondern sogar Eleganz. Ein montierter Mensch, nun gut, aber auch einer, der gepflegt daherkommt (Oberlippenbärtchen, die Haare gescheitelt) und, Zigarette in der Hand, zu genießen weiß. Im Hintergrund des Bildes ahnt man Maschinenteile, und offenbar läuft die Maschine von ganz allein. Doch die Augen zeigen: der Mechaniker muß wachsam sein. Légers Bild ist das Logo der Essener Ausstellung.

Willi Baumeister: Maschinenmensch mit Schraubenwindung II, 1929 – 1930, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Staatsgalerie Stuttgart, erworben 1968 (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgart)

Die Futuristen jubelten

Aber Léger war – in seinen Werken – ja auch eine Frohnatur, meistens jedenfalls. Viele andere Künstler begegneten der Technik mit Skepsis und Unverständnis, empfanden sie als bedrohlich. Eine Ausnahme bildeten die italienischen Futuristen. Sie bejubelten den Fortschritt, fanden Autos, Motorräder und Flugzeuge toll, liebten Wettrennen und Rekorde. Leider geizt die Essener Schau ein wenig mit Futuristen, gerade einmal Fortunato Deperos „Motociclista (solido in velocitá)“ von 1927 oder Giacomo Ballas „Automobile in Corsa“ (1913) fallen ins Auge, und die sind in ihrer dekorativen Auffassung des Themas nicht sehr typisch.

Unverstellten Futurismo gibt es eher auf Plakaten wie Romano di Massas „Circuito di Milano“ (nach 1924) und Lucio Vennas „Ammortizzatori Excelsior“ (1925) zu sehen, letzteres eine eindrucksvolle graphische Symbiose von Zahnrad und Einzelmensch. Russische Plakate aus jener Zeit, sie hängen gleich nebenan, frönen hingegen dem Kult der Entindividualisierung in der (revolutionären) Masse. Man ahnt die wahnhafte Vorstellung, Menschen und Gesellschaften könnten nach Idealbildern erschaffen werden.

Rudolf Belling: Skulptur 23, 1923, Messing, 41,5 × 22,5 × 21 cm, Museum Folkwang, Essen (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Jens Nober)

Viele Arbeiten von Frauen

Walter Drexel montierte aus wenigen entlarvenden Strichen Hitler und Mussolini, Fotomontagen John Heartfields sind natürlich vertreten, ebenso Willi Baumeisters „Maschinen-Komposition“ (1921) und „Maschinenmensch“ (1929/30). Einige Fotos, zumal von marschierenden Soldaten und Sportlern, hätte man wohl auch weglassen können, da wird es sehr allgemein, franst die Ausstellung thematisch aus.

In guter Erinnerung hingegen bleiben zeitgenössische Arbeiten wie die eigentümlich anthropomorphen Skulpturen von Katja Novitskova (Mamaroo (Smoldering Brain, Groth Potential)“ und „Mamaroo (Violent Origins)“, beide von 2019 – auch deshalb, weil sie sich so schön pumpend, „hervorbringend“ bewegen. Anderes, was für Bewegung geschaffen war, steht still, insbesondere zwei Tinguely-Maschinen. Zu alt und zu gebrechlich seien sie, sagt das Kuratorium, aber schade ist es doch. Unverständlicherweise steht auch Rebecca Horns „Überströmer“ (1970) still. Dabei weiß gerade diese Künstlerin, man erinnere sich nur an ihre letzte Ausstellung im Duisburger Lehmbruck-Museum, sehr wohl, wie Kunst sich in Bewegung bringen läßt.

Gruselige Maschinengestalten

Man freut sich, Malerei von Maria Lassnig zu sehen („Warlord II“ von 1996, „Innenansicht/Röntgenselbst I von 1987, „Harte und weiche Maschine/Kleine Sciencefiction“ von 1988), doch wesentlich näher am Thema sind sicherlich Bettina von Arnims gruselige Maschinengestalten, Zwitterwesen aus Rohren und Tuben (vor Rohren, zwischen Rohren) mit menschlicher Anmutung. Und so könnte man fortfahren, Namen zu nennen und Werke zu beschreiben, doch das würde bald schon langweilig und soll deshalb jetzt ein Ende finden.

Das beste Haus für große Ausstellungen

Viel Kunst gibt es also im Folkwang-Museum zu sehen, über hundert Jahre alt oder auch ganz frisch, vielfältig aufeinander bezogen. Die thematische Klammer, wie gesagt, läuft hier und da Gefahr zu brechen, doch das mindert den Reiz dieser opulenten Ausstellung nicht. Von allen Museen im Ruhrgebiet ist das Essener Folkwang fraglos am besten dafür geeignet, große Ausstellungen mit vielen Kunstwerken prominent zu präsentieren. „Der montierte Mensch“ beweist es.

  • „Der montierte Mensch“
  • Folkwang-Museum, Essen, Museumsplatz 1
  • Bis 15. März 2020
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do + Fr 10-20 Uhr, Mo geschlossen
  • Eintritt 8,00 EUR
  • Katalog 384 Seiten, 227 Abbildungen 38,90 EUR im Museum, 65,00 EUR im Handel
  • www.museum-folkwang.de



Regionale Erdung, weiter Horizont – Buch und Ausstellung zum Thema „Mensch & Tier im Revier“

Der Titel „Mensch & Tier im Revier“ wirkt anheimelnd. Doch dieses Buch kommt vor allem anfangs auch mit gewichtigem theoretischen Unterbau und gesellschaftskritischem Besteck daher. Anlässe gibt’s ja genug.

Und so erfahren wir eingangs, dass das menschengeprägte Erdzeitalter, das Anthropozän, sich in der bisherigen Form dem Ende zuneige und dass wir endlich in eine – Achtung, Neologismus! – „humanimale Sozietät“ eintreten sollen. Sprich: Mensch und Tier mögen gleichsam auf Augenhöhe existieren, dem Tier wird eine Art „Inklusion“ zuteil und es sieht seinen so ganz anderes gearteten Geist (jawohl: Geist) gleichberechtigt gewürdigt. Eine ferne Utopie? Oder eine dringliche Notwendigkeit? Jedenfalls eine Sichtweise, die sich mit herkömmlichen Zoos oder zirzensischen Attraktionen nicht mehr vereinbaren lässt.

Grubenpferd, „Taubenvatta“ und Bergmannskuh

In fünf Hauptkapiteln greift der hochinteressante Band (und die zugehörige Ausstellung im Essener Ruhr Museum mit über 100 Exponaten und mehr als 100 Fotografien) die Aspekte seines vielfältigen Themenkreises auf, der nach Möglichkeit mit prägnanten Belegstücken aus der Geschichte des Reviers illustriert wird. Und ja: Auch der früher so allgegenwärtige „Taubenvatta“ sowie die Ziege als „Bergmannskuh“ kommen natürlich ebenso vor wie Gruben- oder Brauereipferde.

Der Horizont des Buches wie der Schau reicht allerdings weit über die Region hinaus, er erstreckt sich zugleich ins Existenzielle und Universelle. Man darf getrost von einem Standardwerk zum Thema sprechen, wobei es in den Texten häufig deutlich ernster zur Sache geht als in den Illustrationen.

Die Kapitel-Überschriften lauten:

1.) Tiere töten
2.) Tiere nutzen
3.) Tiere lieben
4.) Tiere ordnen
5.) Tiere deuten

Der Mensch handelt, das Tier erduldet und erleidet

Da gibt es, allen Differenzen zum Trotz, Gemeinsamkeiten: Immerzu ist nämlich der Mensch der Handelnde, das Tier erduldet und erleidet zu allermeist die Aktionen und Emotionen des Homo sapiens. Das biblische „Macht euch die Erde untertan“ wirkt lange und vielfach schrecklich nach.

Ganz unverhüllt und explizit zeigt sich das Gewaltverhältnis zu Beginn: „Tiere töten“ handelt vornehmlich von Jagd und Schlachtung, aber auch von rabiater Insektenvernichtung oder massenhaft überfahrenen Tieren. In den Blick gerät selbst ein Bildschirmspiel wie „Moorhuhn“, bei dem die Comic-Tierchen halt bedenkenlos abgeknallt werden. Befinden wir uns hier im Grenzgelände zwischen berechtigter Mahnung und humorfreier Spaßbremsung?

Auch in der Abteilung „Tiere nutzen“ verhält es sich nicht gerade zu wie auf dem sprichwörtlich idyllischen Ponyhof: Da geht es etwa um barbarische Tierversuche, erbärmlich ausgebeutete Grubenpferde, Brieftauben im Militärdienst, rücksichtslose Elfenbein-, Pelz- und Leder-Gewinnung, wobei im Ruhrgebiet das vielzitierte „Arschleder“ der Bergleute nicht fehlen darf.

Objekte der sortierenden Wissenschaft

„Tiere lieben“ klingt demgegenüber harmlos und versöhnend, doch auch die oftmals übertriebene Vermenschlichung und Verniedlichung der Tiere wird deren Wesen keinesfalls gerecht. Die herablassende Haltung schließt etwa die Zurschaustellung in Varietés und Zirkuszelten mit ein. Auch der vermeintliche „Schutz“ von Tieren hat furchtbare Kehrseiten: So wurden in Kriegszeiten Pferde in die Schlachten geschickt, notfalls mit Gasmasken versehen. Das war natürlich alles andere als mitfühlend.

„Tiere ordnen“ bezieht sich auf die Systematik der wissenschaftlichen Betrachtung, die im Tier vor allem ein Objekt sieht. Ausgestopfte Exemplare in naturkundlichen Sammlungen sind nur ein Ausdruck dieses herrschaftlich sortierenden und zergliedernden Zugriffs auf die Schöpfung, zu dem sich die Menschen selbst ermächtigen. Überdies umfasst der „Ordnungs“-Gedanke auch die ideologische Indienstnahme der Tiernatur – bis hinab zur 1935 in Essen gezeigten Ausstellung „Mensch und Tier im deutschen Lebensraum“, die unterm überdimensionalen Hitlerbild und unter Schirmherrschaft des „Reichsjägermeisters“ Göring rund 350.000 Besucher anzog.

Mit Blattgold überzogener WM-Krake

Schließlich „Tiere deuten“. Hier erfährt man von mancherlei Zuschreibungen symbolischer oder religiöser Art, mit denen der Mensch sich das Tier gedanklich für seine emotionalen Bedürfnisse zurechtlegt. Das Spektrum reicht hier vom putzigen Zigaretten-Igel bis zum Amulett und Wappentier, vom Tierkreiszeichen bis zum prolligen Fuchsschwanz am Auto-Rückspiegel.

Sogar der Oberhausener Fußball-Krake Paul, der bei der EM 2008 und bei der WM 2010 so manches Match mit deutscher Beteiligung richtig „vorhersagte“ und posthum mit Blattgold überzogen wurde, wird in diesem Zusammenhang noch einmal dargeboten. Das Exponat stammt übrigens aus dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund und zeugt auf bizarre Weise von einem obsoleten Blick auf die Tierwelt.

Das Buch

Heinrich Theodor Grütter / Ulrike Stottrop (Hrsg.): „Mensch & Tier im Revier“. Klartext Verlag, Essen. 304 Seiten Katalogformat, fester Einband, über 230 Abbildungen. 29,95 Euro.

Die gleichnamige Ausstellung

„Mensch & Tier im Revier“. Bis zum 25. Februar 2020 im Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Essen. Mo bis So 10-18 Uhr. 24., 25. und 31.12 geschlossen. Eintritt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro. Welterbe Zollverein, Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. www.ruhrmuseum.de 




„Aufbruch im Westen“: Schau über die Essener Gartenstadt und die Künstlerkolonie Margarethenhöhe im Ruhr Museum

Blick in die Ausstellung „Aufbruch im Westen". Im einstigen Industrie-Ambiente kommen die Exponate speziell zur Geltung: in der Mitte Joseph Enselings monumentale Bronze-Skulptur „Säerin", links vorne Gustav Dahlers Bildnis der Fotografen-Tochter „Sabine Renger-Patzsch" (um 1929/31). (Ruhr Museum / Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung „Aufbruch im Westen“. Im einstigen Industrie-Ambiente kommen die Exponate speziell zur Geltung: in der Mitte Joseph Enselings Bronze-Skulptur „Die Säerin“, links vorne Gustav Dahlers Bildnis der Fotografen-Tochter Sabine Renger-Patzsch (um 1929/31). (Ruhr Museum / Foto: Bernd Berke)

Solch einen „Aufbruch im Westen“ könnte man wohl auch heute gut gebrauchen. Damals, um 1919, fügte sich eins zum anderen. Maßgebliche Leute in Wirtschaft, Politik und Kunst zogen gleichsam am selben Strang. Geld war (mit gutem Willen auch für kulturelle Zwecke) reichlich vorhanden, das Ruhrgebiet war eine Boom-Region, wie man heute sagen würde. Auch waren die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und der hieß Essen.

So konnte (schon seit 1909) in vielen Bauabschnitten die famose Essener Gartenstadt Margarethenhöhe entstehen, in der sich ab 1919 nach und nach eine beachtliche Kolonie von Künstlern und Kunsthandwerkern niederließ. Die Nachkriegszeit, zugleich die nach-wilhelminische Ära, verhieß ihnen neue Freiheiten.

Das Ruhr Museum auf dem Gelände der Welterbe-Zeche Zollverein widmet sich jetzt mit der Ausstellung „Aufbruch im Westen“ jener Künstlersiedlung, die seinerzeit weit hinaus wirkte, gerade deshalb in der NS-Zeit schon ab 1933 schnellstens auf Linie gezwungen wurde und nach 1945 leider nur rudimentäre Fortsetzungen erfuhr.

Impression aus der Gartenstadt Margarethenhöhe, um 1912 – mit dem „Schatzgräberbrunnen" von Joseph Enseling. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Meinholz)

Impression aus der Gartenstadt Margarethenhöhe, um 1912 – mit dem „Schatzgräberbrunnen“ von Joseph Enseling. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Meinholz)

„Hagener Impuls“ als Keimzelle

Immerhin lebte der damals entwickelte Folkwang-Gedanke museal und in Form von Ausbildungsstätten weiter; freilich, wie Museumschef Prof. Heinrich Theodor Grütter betont, als Folkwang-Hochschule nicht mehr im urbanen Zentrum der Stadt, sondern in Essen-Werden, draußen im Süden. Trotzdem hält Grütter dafür, dass ohne jene Aufbruchszeiten Essen und das Ruhrgebiet weit weniger Chancen gehabt hätten, 2010 europäische Kulturhauptstadt zu werden. Eine gewagte Hypothese? Oder einfach ein weiter Horizont? Jedenfalls haben in Deutschland allenfalls die Gartenstädte von Dresden (Hellerau) und Darmstadt (Mathildenhöhe) annähernd vergleichbare Bedeutung erlangt.

Die Folkwang-Idee (derzufolge Kunst und Kunsthandwerk als Gesamtkraft das ganze Leben durchziehen sollten) keimte anfänglich nicht in Essen, sondern zuerst in westfälischen Gefilden, genauer: in Hagen, wo der rührige Mäzen Karl Ernst Osthaus etliche hochkarätige Künstler um sich scharte oder zumindest mit ihnen korrespondierte. Von diesem „Hagener Impuls“, der sich sodann zum „Westdeutschen Impuls“ steigerte, handelt ein Prolog der Ausstellung. Nicht nur Osthaus‘ inspirierendes Netzwerk fruchtete Jahre später in Essen und anderen Revierstädten, 1927 ging die gesamte Osthaus-Sammlung nach Essen und bildete den reichen Grundstock des Museums Folkwang. Für Hagen ein unermesslicher Verlust, für Essen ein kaum zu überschätzender Zugewinn.

Krupp-Witwe als kunstsinnige Stifterin

Doch Geist und Ästhetik allein hätten nicht genügt, um die Margarethenhöhe zu gründen und zur Blüte zu führen. Es fehlten noch Geld und Macht. Nach dem Tod des Industrie-Magnaten Friedrich Alfred Krupp – wahrscheinlich durch Selbstmord – leitete seine kunstsinnige Witwe Margarethe (die der Gatte vordem wegen ihrer „Renitenz“ in die geschlossene Abteilung einer Anstalt hatte wegsperren lassen) treuhänderisch den Stahlkonzern. Nach dieser Interimszeit gründete sie am 1. Dezember 1906 eine bestens ausgestattete Stiftung für Wohnungsfürsorge, in deren Gefolge die Essener Gartenstadt entstand – unter der Ägide des Architekten Georg Metzendorf. Eine treibende Kraft bei dem Großprojekt war auch der 1918 bis 1922 amtierende Oberbürgermeister Hans Luther, später (1925/26) Reichskanzler an der Spitze einer kurzlebigen Koalition.

Die kunstsinnige Stifterin: Margarethe Krupp mit ihren Töchtern Bertha und Barbara, um 1895. (© Historisches Archiv Krupp, Essen - Foto: Rainer Rothenberg)

Die kunstsinnige Stifterin: Margarethe Krupp mit ihren Töchtern Bertha und Barbara, um 1895. (© Historisches Archiv Krupp, Essen – Foto: Rainer Rothenberg)

Um 1919 begann Margarethe Krupp, zahlreiche Künstler(innen) in die Siedlung zu holen – zuerst den Grafiker Hermann Kätelhön, der jüngst (beim Abschied von der Steinkohle) wieder als Chronist der Zechenära zu neuen Ehren kam. Ihm ist auch eine ergänzende Ausstellung im erhalten gebliebenen Kleinen Atelierhaus der Mathildenhöhe (6. Mai bis 9. Februar 2020) gewidmet.

Nach und nach gesellten sich Kätelhön in unmittelbarer Nachbarschaft zu: der Bildhauer Will Lammert, die Buchbinderin Frida Schoy, die Goldschmiedin Elisabeth Treskow, der Fotograf Albert Renger-Patzsch (dem die vorherige Ausstellung des Ruhr Museums galt), die Maler Kurt Lewy, Gustav Dahler, Josef Albert Benkert und Philipp Schardt, die Bildhauer Richard Malin und Joseph Enseling sowie einige andere. Enseling, der sich nach 1933 mit den neuen Machthabern einließ, war übrigens nach dem Krieg für ein paar Semester Lehrmeister von Joseph Beuys, bevor der sich Ewald Mataré zuwandte. Ein Kapitel für sich.

Bis ins Detail durchdachte Möblierung

Über 700 Exponate werden aufgeboten, um uns eine Ahnung der einstigen Aura und ihrer Hintergründe zu geben. Die Ausstellung zeichnet nicht nur die architektonische Entwicklung des stadtnahen Geländes nach, sondern vor allem und buchstäblich ganz zentral den künstlerischen Ertrag. Als immer mehr Künstler, Kunsthandwerker und Gewerke Quartier in der Siedlung bezogen, entstanden Atelierhäuser und Werkstätten (etwa für Keramik), in denen gemeinsam gearbeitet werden konnte. Reichlich Aufträge gab’s hier gleichfalls.

Entwurf des Gartenstadt-Architekten Georg Metzendorf: Türgriff der gehobenen Ausführung aus dem Jahr 1921. (© Sammlung Rainer Metzendorf, Mainz - Foto: Rainer Rothenberg)

Entwurf des Gartenstadt-Architekten Georg Metzendorf: Türgriff der gehobenen Ausführung aus dem Jahr 1921. (© Sammlung Rainer Metzendorf, Mainz – Foto: Rainer Rothenberg)

Der Wiener Architekt Bernhard Denkinger hat die Schau gestaltet. Um ein zentrales Rondell (vor allem mit Skulpturen der Margarethenhöhe, z. B. Joseph Enselings „Die Säerin“ sowie Katzen-, Hühner- und Bärendarstellungen) gruppieren sich Themenbereiche wie etwa die Entfaltung der Folkwang-Ideen in Essen oder die Ausstattung und Möblierung der Wohnhäuser auf der Margarethenhöhe. Hier war alles formal durchdacht und sorgsam durchgearbeitet – buchstäblich bis hin zur Türklinke und sogar bis zum Spülkasten der Toilette. In dieser Abteilung bewegt man sich sozusagen im tagtäglichen Innenleben des Themas. Wenigstens kann man es sich einigermaßen vorstellen.

Allen vorhin genannten Künstler(inne)n sind jeweils eigene Seiten-Kabinette oder – wie Denkinger es nennt – „Lauben“ mit prägnanten Beispielen fürs Lebenswerk gewidmet. Populärstes Ausstellungsstück dürfte die Meisterschale des Deutschen Fußballbundes von 1948/49 sein, die von der vormaligen Gartenstadt-Goldschmiedin Elisabeth Treskow geschaffen wurde und 1955 am Ort verblieb, als Rot-Weiss Essen den Titel gewonnen hatte. Lokalgeschichtlich kaum minder bedeutsam ist das prachtvolle „Stahlbuch“ (Gästebuch der Stadt), entworfen und gefertigt von der Buchbinderin Frida Schoy.

Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (Kopie), eine Schöpfung der Goldschmiedin Elisabeth Treskow von 1948/49. (© Rot-Weiss Essen / Foto: Rainer Rothenberg)

Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (Kopie), eine Schöpfung der Goldschmiedin Elisabeth Treskow von 1948/49. (© Rot-Weiss Essen / Foto: Rainer Rothenberg)

Die dunkelste Zeit der Siedlung

Auch die dunkelste Zeit der Siedlung wird nicht übergangen. Gleichsam als „Kehrseite“ der Blütezeit ist sie im hintersten Bereich der Ausstellung zu finden. Da lernt man, wie fürchterlich entschieden die Nazi-Machthaber den freiheitlichen Geist der Margarethenhöhe abgewürgt haben. Auch vereinzelte Hervorbringungen von NS-Kunst, eigentlich nur mit besonderer Umsicht in solcherlei kulturhistorischen Kontexten präsentabel, sind da zu gewärtigen. Dabei erfährt man, dass manche Protagonisten der Margarethenhöhe sich dem Ungeist der „neuen Zeit“ zumindest anbequemt haben, während die Aufrechten gemaßregelt oder drangsaliert und ins Exil getrieben wurden.

Das alles ist umso betrüblicher, als sich doch 1919 und in den frühen Zwanziger Jahren die Künste in vordem ungeahnter, endlich demokratisch verfasster Liberalität hatten entfalten können. Es war manches möglich, was man sich zuvor nur erträumt hatte. Ein veritabler Aufbruch auch in diesem Sinne. 1933 wurde all das zunichte.

In Essen stellt man die Künstlerkolonie nicht zuletzt in größere Zusammenhänge der Moderne – zuvörderst bezieht man sich aufs heuer vor 100 Jahren gegründete Bauhaus; ein Jubiläum, das derzeit ohnehin zahlreiche Ausstellungen nach sich zieht. Wie viele Kreuz- und Querverbindungen es da gibt und wie sehr man andererseits zwischen diversen Strömungen differenzieren sollte, damit könnte man wahrscheinlich ganze Fachtagungen bestreiten.

  • „Aufbruch im Westen“. Die Künstlersiedlung Margarethenhöhe. 8. April 2019 bis 5. Januar 2020. Täglich (Mo-So) 10-18 Uhr.
  • Essen, Ruhr Museum auf Zollverein. Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. (Navigation zu den Parkplätzen A1 und A2: Fritz-Schupp-Allee).
  • Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €. Katalog im Klartext-Verlag, 304 Seiten, 300 Abbildungen, 29,95 €.
  • Umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Exkursionen, Workshops etc. Infos/Buchungen (Führungen): 0201 / 24681 444. Internet: www.ruhrmuseum.de



Maschinen von gestern, verödet in der Zeit: Fotos von Ricarda Roggan in Düsseldorf

Ricarda Roggan: Garage 12, 2008. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin and VG-Bildkunst, Bonn 2018

Ricarda Roggan:
Garage 12, 2008.
Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin
and VG-Bildkunst, Bonn 2018

Einst waren sie beweglich, voll Energie, wirkten dynamisch und lebendig. Jetzt sind sie starr, verödet, von der Zeit gezeichnet. Die Fotografin Ricarda Roggan hält sie in einem Moment ihrer verfallenden Existenz fest: Maschinen oder Automaten, ausgedient und abgestellt, längst überholte Hinterlassenschaften einer vergangenen Ära. In der Sammlung Philara in Düsseldorf sind die Fotos nun bis 17. März zu betrachten.

„Ex Machina“ heißt die Schau, und die vergessene Dingwelt der Bilder – Autowracks etwa, oder staubbedeckte Videospiel-Automaten aus der Anfangszeit der Digitalisierung – besteht aus technischen Artefakten, die „ex“ sind, ausgemustert. Aber der Titel will auch auf den antiken Theatereffekt des Gottes „aus der Maschine“ verweisen. Was damals zur Überraschung der Zuschauer als Wunder inszeniert wurde, soll in den Bildern wiederkehren: Überraschende Wendungen, Momente der Katharsis.

Ricarda Roggan: Reset 3, 2011. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin and VG-Bildkunst, Bonn 2018

Ricarda Roggan:
Reset 3, 2011.
Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin
and VG-Bildkunst, Bonn 2018

Die 1972 in Dresden geborene Fotografin Ricarda Roggan studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Darauf folgten zwei Jahre am Royal College of Art London im Photography Department. Ihre Arbeiten finden sich im Bestand öffentlicher Sammlungen wie in der Bundessammlung zeitgenössischer Kunst in Bonn oder der Fotografischen Sammlung des Museums Folkwang in Essen. Seit 2013 hat Ricarda Roggan eine Professur für Fotografie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart inne.

Die Ausstellung „Ex Machina“ in der Sammlung Philara in Düsseldorf wird bis 17. März gezeigt. Sie ist im Rahmen einer 75minütigen Führung zu besichtigen: an Freitagen um 14 Uhr (deutsch) und 16 Uhr (englisch), an Samstagen um 14 und 16 Uhr (deutsch) und an Sonntagen um 12 Uhr (deutsch) und 15 Uhr (englisch). An Donnerstagen ist die Schau von 16 bis 20 Uhr ohne Führung zugänglich. Der Eintritt kostet zehn, ermäßigt fünf Euro.

Während des Düsseldorf Photo Weekends sind Ricarda Roggans Fotos zu folgenden Zeiten zu sehen: am Freitag, 8. März, 18 bis 21 Uhr; am Samstag, 9. März, 12 bis 20 Uhr; am Sonntag 10. März, 12 bis 18 Uhr.

Info:
www.duesseldorfphotoweekend.de
www.philara.de/de/aktuell

 




Wie eine späte Heimkehr: Essener Ruhr Museum zeigt stilbildende Revier-Fotografien von Albert Renger-Patzsch

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Über Jahrzehnte hinweg hat dieser Mann den Blick geprägt, mit dem viele Menschen die Landschaft des Ruhrgebiets wahrgenommen haben: Albert Renger-Patzsch (1897-1966) ist wahrhaftig ein stilbildender Fotograf gewesen. Jetzt widmet ihm das Essener Ruhr Museum auf dem Gelände der Zeche Zollverein eine Ausstellung, die just hierher gehört: „Die Ruhrgebietsfotografien“ waren ab Ende 2016 zunächst in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, jetzt ist die Ausstellung – in stark erweiterter Form – gleichsam heimgekehrt.

Renger-Patzsch, sonst vorwiegend als Auftrags-Fotograf unterwegs, hat die Ruhrgebietslandschaften als sein größtes freies Projekt in Angriff genommen. Es sind keine Ansichten eines kurzfristig Zugereisten. Renger-Patzsch war mit dem Revier vertraut. Der Fotograf lebte von Ende 1929 bis zum Oktober 1944 (als sein Haus bei Luftangriffen zerstört wurde) in der Essener Künstlersiedlung Margarethenhöhe.

Schon vor seiner Umsiedlung ins Ruhrgebiet war der gebürtige Würzburger prominent gewesen, insbesondere durch seinen vielbeachteten Bildband „Die Welt ist schön“ von 1928, der mit Pflanzen-, Tier- und vor allem Objektaufnahmen bereits die neusachliche Sicht auf die Welt kultivierte.

Entdeckung der „Zwischenstadt“

Die jetzt in Essen gezeigten Serien seiner Ruhrgebiets-Aufnahmen sind vorwiegend zwischen 1927 und 1935 entstanden. Im Kontrast zwischen noch ländlichen Stadträndern und gewaltig aufkommenden Industrie-Giganten hat er völlig neuartige Räume bzw. Raum(un)ordnungen entdeckt und festgehalten. Viel später hat man für derlei schwer beschreibliches Niemandsland den Begriff „Zwischenstadt“ verwendet.

Und tatsächlich: Seine Bilder von Zechengebäuden und Halden-Landschaften, Vorstadt-Siedlungen und Schrebergärten zeigen ein damals atemberaubend neues Amalgam aus schwindender Natur und ungeheuerlich wachsender Industrie. Das hat es in dieser Form in ganz Deutschland nicht so beispielhaft monumental gegeben, auch in Europa suchten solche Konglomerate ihresgleichen.

„Fotograf der Dinge“ – wertfrei und objektiv?

Als Fotograf im Umkreis der Neuen Sachlichkeit hat sich Renger-Patzsch (ganz anders als etwa Erich Grisar, dem das Ruhr Museum und im Gefolge die Dortmunder Zeche Zollverein zuvor eine Ausstellung gewidmet haben) absolut nicht für Arbeitsbedingungen oder gar für Klassenkämpfe interessiert. Seine Bilder sind denn auch menschenleer, er ist ein „Fotograf der Dinge“.

Wohl erst mit heutigem Blick sieht man die Trostlosigkeit und die argen Verletzungen, die der Landschaft zugefügt wurden. Renger-Patzsch hingegen hat offenkundig noch den bizarrsten Industrie-Wüsteneien ästhetische Valeurs abgewonnen. Auch das macht diese Bilder so scheinbar zeitenthoben und klassisch. Ja, seine Sichtweise mutet weitgehend emotionslos, „objektiv“ und „wertfrei“ an, doch könnte man gegen die letzten beiden Zuschreibungen eine ganze Menge einwenden.

Ruhrgebiet früherer Zeiten

Es ist dies eine Wiederbegegnung mit dem „alten“ Revier, wie es bis in die 1960er Jahre hinein Bestand hatte, insofern liegen die 20er und 30er gar nicht so immens weit zurück. Die Ansammlungen von Schloten zwischen einer kahlen Baumreihe oder direkt hinter einer Arbeitersiedlung im Essener Nordend wirken durchaus imposant, die zuweilen monströsen Halden haben etwas von großer Geste.

Wertungen sind diesen Bildern allerdings fremd, auch die gewiss dürftigen Häuser wirken wie selbstverständlich hingestellt. Und wenn sich ein Zechenturm samt Schornsteinen direkt hinter einem geduckten Fachwerkhaus erhebt oder einige Kühe vor Schlotkulisse stehen, so sind das beileibe keine kritischen Stellungnahmen, sondern: Es ist, wie es ist.

Keine sonderlichen Schwierigkeiten nach 1933

Jedenfalls war sein bildkünstlerisches Werk auch nach 1933 sozusagen „anschlussfähig“, er scheint in der Nazi-Zeit keine sonderlichen Schwierigkeiten gehabt zu haben und konnte sogar für die paramilitärische NS-Organisation Todt tätig werden. Andererseits hatte er lediglich im Winter 1933/34 einen Lehrauftrag an der Essener Folkwang-Schule für Gestaltung. Hat er sich bewusst entzogen?

Ergänzt werden die zentral präsentierten Ruhrgebietslandschaften mit rund 200 weiteren Fotografien von Albert Renger-Patzsch, die sich in einigen Seitenkabinetten gruppieren und ebenfalls mehrheitlich Vintage-Prints, also Originalabzüge sind. Es handelt sich überwiegend um Auftragsarbeiten, entstanden ab den 1920ern bis in die 1960er Jahre, beispielsweise für die Bochumer Edel-Tischlerei Dieckerhoff oder fürs Museum Folkwang, wo Renger-Patzsch seinerzeit ein eigenes Atelier hatte.

Rare Porträtaufnahmen

Hinzu kommen Aufnahmen der Villa Hügel, des Essener Münsters (Domkirche), der Gartenstadt Margarethenhöhe und von markanten Zechenbauten, nicht zuletzt vom jetzigen Ausstellungsort, der Zeche Zollverein – und aus der kriegszerstörten Stadt Essen. Als sein Haus in der Margarethenhöhe zerstört wurde, zog die Familie zum Künstler Hermann Kätelhön nach Wamel (Möhnesee) bei Soest.

Die Ausstellung, gemeinsam kuratiert von Stefanie Grebe (Essen) und Simone Förster (München), hält noch eine weitere Spezialität bereit: Überraschend für den sonst so sehr auf Dinge fixierten Renger-Patzsch, finden sich auch einige Porträtaufnahmen, die zwar gleichfalls von meisterlichem Handwerk und von Kunstfertigkeit zeugen, aber bei weitem nicht so stilbildend sind wie eben seine (Zwischen)stadtlandschaften. Interessant auf jeden Fall einige der Dargestellten: Die Skala reicht vom berühmten Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus (Hagen, 1920) über Großindustrielle wie Hugo Stinnes (Mülheim/Ruhr, 1930) bis zum 1935 porträtierten jungen Juristen bei den Rheinischen Stahlwerken in Essen. Er hieß übrigens Gustav Heinemann und wurde Jahrzehnte später Bundespräsident.

Kölner Galerie und Münchner Stiftung

Nun soll noch geklärt werden, wer all die fotografischen Schätze gesammelt und bewahrt hat. Es waren Ann und Jürgen Wilde, die schon sehr zeitig Fotografie als Kunst betrachtet und präsentiert haben, als die Marktpreise noch nicht verrückt gespielt haben. Bereits 1974 zeigten sie in ihrer Kölner Galerie Ruhrgebietsbilder von Albert Renger-Patzsch, dessen Werk sie auch hernach gepflegt haben. Seit 2010 ist die Stiftung Ann und Jürgen Wilde der Münchner Pinakothek der Moderne angegliedert, womit sich auch der Ort der Erstausstellung erklärt. Im Ruhrgebiet freilich wird man diese Ausstellung ganz anders rezipieren als an der Isar.

Albert Renger-Patzsch: Die Ruhrgebietsfotografien. Essen, Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181 (Navigation: Fritz-Schupp-Allee, 45141 Essen). 8. Oktober 2018 bis 3. Februar 2019. Geöffnet Mo bis So 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie für Studierende unter 25. Katalog (336 Seiten, ca. 200 Schwarzweiß-Abb.) 29,80 €. Weitere Infos: www.ruhrmuseum.de und Tel.: 0201 / 24 681 444.

_______________________________________________

Nachbemerkung:

Aus Urheberrechtsgründen mussten die Fotos einzelner Werke zu dieser Ausstellung leider sechs Wochen nach Ende der Schau gelöscht werden. Somit steht jetzt nur noch der Text fast ohne bildliche Anschauung hier – bis auf einen einzige, sehr ungenauen Blick auf Stellwände. Ob wohl auch die Print-Medien Bilder in ihren Online-Auftritten getilgt haben?




Ein Herz für die Sammlung und eine Absage an Blockbuster – Peter Gorschlüter wird neuer Direktor des Folkwang-Museums

Peter Gorschlüter (geb. 1974 in Mainz) wird der neue Direktor des Essener Folkwang-Museums. Bis er kommt, dauert es allerdings noch etwas. Sein Vertrag mit dem Museum für moderne Kunst (MMK) in Frankfurt endet erst Mitte 2018. Gorschlüters anschließender Essener Vertrag soll über acht Jahre laufen, und man darf gespannt sein, ob er es hier so lange aushält.

Peter Gorschlüter wird zum 1. Juli Direktor des Essener Folkwang-Museums.(Foto: rp)

Gorschlüters Vorgänger waren schneller wieder weg; Hubertus Gassner zog es 2006 nach nur vier Jahren in die Hamburger Kunsthalle, Hartwig Fischer, wiewohl erster Chef im neuen Chipperfield-Gebäude, verließ Essen nach sechs Jahren in Richtung Dresden (dann London), Tobia Bezzola wechselte jetzt nach fünf Jahren gen Lugano, um sich dort dem Aufbau des Museo d’arte della Svizzera italiana zu widmen.

Überstürzter Abschied

Zwar war in den letzten Jahren manchmal zu hören, daß es Tobia Bezzola in Essen nicht wirklich gut gefiele, trotzdem kam sein vorzeitiger Abgang etwas überraschend, zumal seine Leistungsbilanz sich sehen lassen kann. Man denke etwa an die Ausstellung des Fotografen Thomas Struth, an die deutschlandweit erste Präsentation der edlen zeitgenössischen Sammlung François Pinaults oder die Lagerfeld-Schau. Auch die Entscheidung der Krupp-Stiftung, fünf Jahre lang freien Eintritt in die Folkwang-Sammlung zu finanzieren, fiel in Bezzolas Amtszeit. Die Absage der Balthus-Ausstellung wegen des vehement erhobenen Pädophilie-Vorwurfs gegen Künstler und Werk im Jahr 2013 wiederum kann sicherlich nicht als Ausdruck persönlichen Scheiterns des Museumsdirektors gesehen werden.

Andrea Bezzolas Ausstellungen hatten Strahlkraft

Bezzola weiß um die Bedeutung großer Veranstaltungen für ein großes Haus, um deren Strahlkraft und Attraktivität. Es muß ja nicht gleich ein „Blockbuster“ sein wie vor 17 Jahren die Turner-Schau. Die wäre heutzutage, ohne potente Sponsoren und angesichts immer höherer Versicherungsprämien, sowieso nicht mehr vorstellbar.

Gorschlüter jedoch hält von Blockbustern wenig, er nennt sie nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen möchte er andere Formen der Museumsarbeit erschließen, die er im Pressegspräch kurz umriß. So strebt er „Interdisziplinäre Ausstellungsformate“ an, die Kunst etwa mit Mode, Musik oder Theater verbinden sollen. Mit „gemeinsamen Themenschwerpunkten“ möchte er unterschiedliche Teile der Sammlung neu präsentieren, „Vergangenheit und Zukunft“ oder „Utopie und Dystopie“ wären vorstellbare Überschriften. Auch zahlreiche Aspekte des Riesenthemas „Großstadt“ böten sich an.

Kooperieren und kartographieren

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt, so Gorschlüter, könnten Kooperationen mit Künstlern aus anderen Disziplinen sein. In Liverpool zum Beispiel, einer seiner früheren Wirkungsstätten, arbeitete der neue Folkwang-Chef mit Carol Ann Duffy zusammen, der Hofdichterin der Queen immerhin.

Die Sammlung möchte Gorschlüter „neu kartographieren“, aufs Neue sozusagen fragen nach den Beziehungen zu anderen Kulturen, zu bisher unberücksichtigten Impulsen. Dies sei ein lohnender Ansatz auch für eine gewachsene Sammlung.

Schließlich geht es Gorschlüter um den Dialog des Museums mit der Stadtgesellschaft. Das Museum solle sich durchaus stärker in Richtung Innenstadt bewegen, gerne auch performativ.

100 Jahre Folkwang – ein trauriger Tag für Hagener

Das konkreteste Projekt der vor ihm liegenden Amtszeit indes ist definitiv für das Jahr 2022 vorgesehen. Da wird das Essener Folkwang-Museum nämlich 100 Jahre alt. „Ich denke daran, das Museum dann in die Stadt zu bringen“, sagt Gorschlüter.

Sollen sie feiern, die Essener, es sei ihnen gegönnt. Weiter östlich im Revier wird das Fest gemischte Gefühle auslösen, markiert es doch den Verlust der einzigartigen Osthaus-Sammlung für die Stadt Hagen. Tröstlich ist da lediglich das Wissen, daß das Essener Folkwang-Museum mit der Osthaus-Sammlung gut umgegangen ist und dies, da sind wir ganz sicher, auch in Zukunft tun wird. Gorschlüter zeigt sich der Osthaus-Tradition bewußt und strebt (auch) deshalb eine enge Kooperation mit dem Fotoarchiv Marburg an, wo im Jahre 1933, was aber kaum einer weiß, das Fotoarchiv von Karl-Ernst-Osthaus verblieb.

Gern auf Augenhöhe mit Ludwig und MoMA

Tja. Um mal kurz persönlich zu werden: Ich hätte nichts gegen einige Ausstellungen, die bundesweit oder auch in den Nachbarländern wahrgenommen würden und Folkwang zumindest zeitweise auf Augenhöhe mit Ludwig in Köln oder Gropius in Berlin brächten (oder MoMA in New York oder Centre Pompidou in Paris usw.).

Es wäre schon sehr schön, wenn man Finanzierungsmöglichkeiten fände, um die eine oder andere große, „wandernde“ Schau nach Essen zu holen; es wäre auch sehr gut für die Wahrnehmung all dessen, was Folkwang überdies zu bieten hat, allem voran natürlich die eigene Sammlung. Die starke Fokussierung der Museumsarbeit auf den Eigenbestand, die in den programmatischen Äußerungen Gorschlüters anklang, kann hingegen zu einem Bedeutungsverlust des Hauses führen.

Kuratoren gesucht

Doch man soll nicht unken. Der neue Mann muß sich noch etwas sortieren für seinen neuen Job, „ein halbes Jahr Findung – die Zeit braucht es“ sagt er selbst. Und dann schauen wir mal.

Wichtig ist natürlich auch, daß bald neue Leute für die beiden anderen Vakanzen im Folkwang-Museum gefunden werden. Nach dem Weggang von Florian Ebner wird ein neuer Kurator für die fotografische Sammlung gesucht, ebenso einer für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.




Fördertürme als prägende Bauten einer ganzen Region – Rolf Arno Spechts Fotoband „Kathedralen im Revier“

Wie schon hie und da gesagt: Im Revier wird heuer allerorten der Zechen-Vergangenheit gedacht, denn die hier so lange prägende Ära der Steinkohle endet im Dezember 2018 mit Schließung der allerletzten Schachtanlagen.

Der Zusammenschluss der RuhrKunstMuseen wird ebenso seinen Ausstellungs-Reigen beisteuern, wie beispielsweise das Ruhr Museum (Essen) und das Deutsche Bergbaumuseum (Bochum), die mit einer gemeinsamen Schau groß ins Geschehen einsteigen. Überdies gibt es einschlägige Film- und TV-Dokus, literarische Aufarbeitungen und Sachbücher zum Themenkreis. Womit wir sicherlich noch nicht alle Sparten genannt haben. Wird vielleicht auch irgendwo eine Zechenoper aufgeführt?

Im Essener Klartext Verlag, der seit einigen Jahren zur Funke Mediengruppe gehört, ist jetzt ein Bildband erschienen, der die Fördertürme in den Mittelpunkt stellt, sein nicht gar zu origineller, jedoch treffender Titel lautet „Kathedralen im Revier“. Tatsächlich ist der sakrale Bezug nicht so weit hergeholt, die imposanten Industrie-Ensembles können es an Wucht und Pathos mit so manchem Kirchenbau aufnehmen. Übrigens gibt es auch eine Art heimliches Pathos der Sachlichkeit.

Manche Motive zeigen sich so nur sehr selten

An Begleittexten wird bis zum Punkt der Kargheit gespart. Ein knappes Grußwort und ein ebenso kurzes Vorwort sowie ein paar Zwischenrufe müssen reichen. Die Bilder des 1969 in Marl geborenen Fotografen Rolf Arno Specht, im gesamten Ruhrgebiet zwischen Duisburg/Dinslaken im Westen und Hamm/Ahlen im Nordosten entstanden, sprechen ja auch weitgehend für sich. Der Mann muss sich wahrlich intensiv und extensiv mit seinem Thema befasst haben. Bestimmte Motive hat er nach eigenem Bekunden auf diese Weise bestenfalls einmal im Jahr aufnehmen können, als Wetter, Lichtverhältnisse und Perspektiven exakt seinen Vorstellungen entsprachen.

Für die relativ wenigen Untertage-Fotos hat Specht – wegen der Explosionsgefahr – keine womöglich Funken auslösende Digital-Ausrüstung verwenden können, auch Belichtungsmesser und Autofokus waren nicht erlaubt. Althergebrachte fotografische Tugenden und Fähigkeiten waren also unabdingbar.

Bauten im dichten Nebel und bei Sonnenuntergang

Der Band beginnt mit einer ganzen Reihe von Aufnahmen im ungemein dichten Nebel, welcher an den einst alltäglichen Smog gemahnt, der oft durchs ganze Ruhrgebiet waberte. Nur schemenhaft tauchen die imposanten Bauwerke zunächst auf; ganz so, als müssten sie erst noch einmal behutsam ans Tageslicht geholt werden und als müsse man der Erinnerung vorsichtig aufhelfen. Oder ist just schon das Gegenteil der Fall: Entschwinden die Gebäude etwa schon in die Gefilde des Vergessens? Doch hoffentlich nicht.

Des weiteren sieht man Bilder zur Einbettung der Zechengerüste in (Stadt)-Landschaften, aus denen sie gleichsam erwachsen und über die sie sich – zuweilen geradezu majestätisch – erheben.

Eine weitere Reihe zeigt Fördergerüste im Licht von Sonnenuntergängen bzw. Sonnenaufgängen, dabei kommt etwas beinahe Überirdisches oder Magisches ins Spiel. Schließlich folgen noch einige Luftbilder, die abermals die herausragenden Plätze der Fördertürme in den diversen Stadtlandschaften markieren. Tatsächlich sind es architektonische „Auftritte“, wie man sie sonst von Sakralbauten kennt.

Imposante Signaturen von Heimat und Identität

Man erfährt noch einmal ein- und nachdrücklich, wie sehr diese Bauten das Bild der ganzen Region bestimmt haben, so dass sie natürlich unbedingt denkmalwürdig sind; vielleicht nicht jedes einzelne Ensemble, aber doch etliche von ihnen. Und ja: Das alles hat mit Begriffen wie Heimat und Identität zu tun. Vieles andere ist im Revier ja mittlerweile so ähnlich wie in anderen Gegenden. Aber eine Zechenlandschaft haben sie in München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt eben nicht, ja noch nicht einmal im nahen und mental doch so fernen Düsseldorf.

Der Erhalt der Gebäude und möglichst vielfältiges neues Leben an diesen einstigen Stätten härtester Arbeit sind wichtige Aufgaben der Revierstädte und der Ruhrkohle AG (RAG), die über ihre millionenschwere Stiftung ja auch mancherlei technische „Ewigkeitskosten“ zu tragen hat, damit das von Bergsenkungen durchzogene Revier nicht „absäuft“.

Einige Gerüste wanderten von Stadt zu Stadt

Das Buch schließt mit einer schnellen „Bestandsaufnahme“ über alle noch existierenden Fördertürme – insgesamt 125, wenn ich richtig mitgezählt habe. Diesen Überblick hätte man sich noch ein wenig ausführlicher gewünscht.

Doch auch so lernt man im Schlussteil, dass im Gefolge des Bergbau-„Wanderzirkus'“ dieses oder jenes Fördergerüst schließlich noch den Ort gewechselt hat. So stand etwa das Wahrzeichen des Deutschen Bergbaumuseums Bochum einst an der Dortmunder Zeche Germania, während wiederum die heute an der Dortmunder Zeche Zollern II/IV“ aufragenden Türme früher zu Schachtanlagen in Gelsenkirchen bzw. Herne gehört haben. Aus heutiger Sicht nicht zu fassen: Die gesamte Zollern-Anlage, heute Zentrale des Westfälischen Industriemuseums, sollte ursprünglich komplett abgerissen werden. Deshalb fehlen die Original-Fördergerüste, denn der Akt der Barbarei hatte schon begonnen.

Rolf Arno Specht: „Kathedralen im Revier. Zechenlandschaft Ruhrgebiet“. Klartext Verlag, Essen. 176 Seiten Bildbandformat, Hardcover, durchgehend farbig. 24,95 Euro.




Natur zwischen Zeit und Idee: Ausstellung im Museum Kunstpalast Düsseldorf

Foto: Museum Kunstpalast, Düsseldorf – Horst Kolberg – Artothek

Carl Wilhelm Kolbe d. Ä., Die Kuh im Schilf, um 1801, Radierung mit Kaltnadel, 38,3 x 48,8 cm, Museum Kunstpalast, Düsseldorf
Foto: Museum Kunstpalast, Düsseldorf – Horst Kolberg – Artothek

Wie gehen Künstler mit der Natur um? Ihre Abbildung dürfte unmöglich sein, denn selbst genaueste Zeichnungen, wie sie für botanische oder zoologische Werke entstanden sind, geben nicht „Natur“, sondern ein Idealbild wieder, dem die Dimension der Zeitlichkeit fehlt. Daher geht es stets um eine Idee von Natur, wie sie auch immer begrifflich gefasst sei.

Vier künstlerische Positionen zur Natur verknüpft Kuratorin Gunda Luyken in einer Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf.

Ausgehend von Radierungen von Carl Wilhelm Kolbe d.Ä. aus der eigenen Sammlung des Museums will die Schau „Magische Natur“ im Cary-und Dan-Georg-Bronner-Saal dem Blick auf die Natur und seinen Wandlungen auf die Spur kommen. Der Ausgangspunkt sind die sogenannten Kräuterblätter Kolbes. An der Wende zum 19. Jahrhundert in der Zeit früher Romantik entstanden, wirkt dieser Bildtypus surreal, manchmal sogar unheimlich.

Anders als in klassischen Landschaftsdarstellungen kennt Kolbe keine Gliederung des Raumes in drei Ebenen und keinen Ausblick in die Ferne. In seinen Radierungen und Zeichnungen wuchern riesige Pflanzen den Vordergrund zu, sind durch manchmal auf den ersten Blick kaum erkennbare Figurengruppen noch monumental gesteigert. Die Natur, inspiriert durch die wasserreiche Umgebung seiner Wirkungsstätte Dessau, wächst ins Fantastische.

Franz Gertsch, Pestwurz „Ausblick“, 2005, Holzschnitt, 276 x 380 cm, kobaltblau, 2 Platten, je 268 x 183 cm, Handabzug auf Kumohadamashi-Japanpapier von Heizaburo Iwano, Museum Kurhaus Kleve – Ewald Mataré Sammlung, Freundeskreis Museum Kurhaus und Koekkoek Haus Kleve e.V., Kleve, © Franz Gertsch

Franz Gertsch, Pestwurz „Ausblick“, 2005, Holzschnitt, 276 x 380 cm, kobaltblau, 2 Platten, je 268 x 183 cm, Handabzug auf Kumohadamashi-Japanpapier von Heizaburo Iwano, Museum Kurhaus Kleve – Ewald Mataré Sammlung, Freundeskreis Museum Kurhaus und Koekkoek Haus Kleve e.V., Kleve, © Franz Gertsch

Kolbes in seiner Zeit einzigartige Blätter, die unter anderem Max Ernst inspiriert haben, gelten als „Geheimtipp“, wie Felix Krämer, Generaldirektor des Museums Kunstpalast, schreibt. Ihnen gegenüber stehen in der Ausstellung Holzschnitte von Franz Gertsch. In seinen Pestwurz-Bildern führen die starke Vergrößerung und die monochrome Ausführung dazu, dass Natur auf der einen Seite übergenau dargestellt, andererseits aber abstrahiert erscheint.

Natascha Borowsky, o. T. 422 201214, aus der Serie Transition, 2012/2014, Pigment Print, 40,5 x 59,4 cm, Natascha Borowsky © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Natascha Borowsky, o. T. 422 201214, aus der Serie Transition, 2012/2014, Pigment Print, 40,5 x 59,4 cm, Natascha Borowsky © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Die Fotografinnen Simone Nieweg und Natascha Borowsky, beide aus der Schule von Bernd und Hilla Becher, setzen auf ihre Weise das Spiel zwischen Realität und Abstraktion in der Gegenwart fort. In ihren Bildern ist die Spannung zwischen dem Moment der Aufnahme und dem unvermeidlichen Vergehen des Augenblicks erfahrbar.

Perspektiven, Licht und Komposition heben die „Natur“ über sich selbst hinaus und stellen sie in Zusammenhänge, in denen der Betrachter der Magie des künstlerischen Augenblicks erliegt.

„Magische Natur. Carl Wilhelm Kolbe d. Ä., Franz Gertsch, Simone Nieweg, Natascha Borowsky“. Bis 7. Januar 2018 im Cary- und Dan-Georg-Bronner-Saal des Museums Kunstpalast in Düsseldorf. Di. bis So. 11 bis 18 Uhr, Do. 11 bis 21 Uhr. Eintritt fünf, ermäßigt vier Euro. Katalog 19,80 Euro.

 




Gebäude und Gesichter: Das Museum Ludwig Köln wirft einen Blick auf den Fotografen Werner Mantz

Gesichter und Fassaden: Für Werner Mantz waren sie künstlerisch einander ähnliche Herausforderungen. Der 1901 geborene Fotograf begann seine Laufbahn 1921 in Köln als Porträtist.

Werner Mantz Porträt einer jungen Frau, Familie Huyben, Maastricht, 1968. Gelatinesilberpapier. Nederlands Fotomuseum, Rotterdam. © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Werner Mantz/Nederlands Fotomuseum. Foto: Nederlands Fotomuseum, Rotterdam.

Werner Mantz Porträt einer jungen Frau, Familie Huyben, Maastricht, 1968. Gelatinesilberpapier. Nederlands Fotomuseum, Rotterdam. © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Werner Mantz/Nederlands Fotomuseum. Foto: Nederlands Fotomuseum, Rotterdam.

Bald kamen Aufträge zum Fotografieren von Architektur hinzu. Mantz lichtete Bauten von Wilhelm Riphahn, Peter Franz Nöcker, Caspar Maria Grod und anderen bekannten Protagonisten modernen Bauens ab und wurde so zum Chronisten der architektonischen Avantgarde im Köln der Zwanziger und beginnenden Dreißiger Jahre.

1932 eröffnete Mantz in Maastricht ein zweites Atelier, wohin er 1938 auch umsiedelte. Dort kam er auf die Porträtfotografie zurück und spezialisierte sich auf Kinderbildnisse. Für ihn waren seine Porträts ebenso bedeutend wie seine Architekturaufnahmen.

Erstmals ermöglicht nun das Museum Ludwig in Köln mit einer Ausstellung, beide Aspekte des Schaffens des 1983 verstorbenen Fotokünstlers zusammen zu sehen: In der bis 21. Januar 2018 gezeigten Schau werden Architekturfotos und bisher nie ausgestellte Porträts miteinander in Bezug gesetzt.

Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Nederlands Fotomuseum in Rotterdam, das den Bestand von Mantz‘ Aufnahmen in den Niederlanden bewahrt.

Werner Mantz: Haus Am Botanischen Garten, Köln, um 1929. Bromsilberdruck. © VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln.

Werner Mantz: Haus Am Botanischen Garten, Köln, um 1929. Bromsilberdruck. © VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, herausgegeben von der Werner Mantz Foundation. Die 151 Abbildungen mit Texten in Deutsch, Englisch und Niederländisch ergänzt ein Gespräch zwischen den Kuratoren Frits Gierstberg und Miriam Halwani. Der Katalog kostet 19,50 Euro.

Die Ausstellung „Werner Mantz. Architekturen und Menschen“ ist im Museum Ludwig in Köln bis 21. Januar 2018 zu sehen. Geöffnet ist das Museum von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr und an jedem ersten Donnerstag im Monat bis 22 Uhr. Der Eintritt kostet 11 Euro, ermäßigt 7,50 Euro.

 




Bochumer Ausstellung „Umbrüche“: Wie Fotokünstler den stetigen Wandel des Ruhrgebiets gesehen haben

Das Ruhrgebiet kann man auf sehr verschiedene Arten betrachten – auch und gerade mit künstlerisch inspiriertem Sinn. Diese an sich nicht allzu überraschende Weisheit wird jetzt in einer Bochumer Fotografie-Ausstellung sehr entschieden bekräftigt. „Umbrüche“ heißt die anregende Schau im „Museum unter Tage“ („MuT“), das im allseits durchgrünten Ambiente des Schlossparks von Bochum-Weitmar gelegen ist.

Rudolf Holtappel: "Die letzte Schicht", Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Rudolf Holtappel: „Die letzte Schicht“, Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Der Titel lässt ahnen, dass es abermals um den Wandel der Industrielandschaft geht, der sich schon seit etlichen Jahrzehnten vollzieht. Dennoch ist es keine regionalgeschichtliche Themen- und Überblicksausstellung, sondern eine genuin künstlerische, die just unterschiedliche ästhetische Positionen markiert.

Anlass zum Innehalten

Gewichtiger Anlass zum Innehalten: 2018 wird mit Prosper Haniel in Bottrop die letzte aktive Zeche des gesamten Ruhrgebiets den Betrieb einstellen. Da lohnt sich erst recht der Blick zurück, der womöglich auch Perspektiven für die Zukunft eröffnet. Denn die Frage, wie man den viel beschworenen Strukturwandel gestalten soll, ist ja immer noch nicht hinreichend beantwortet. Wie denn auch? Es ist eine bleibende Aufgabe.

Den Schwerpunkt und den Auftakt des Ausstellungs-Rundgangs bildet ein famoses Konvolut mit rund 110 Fotografien von Rudolf Holtappel. Selbst Ruhrgebietsbewohner, hat der als Reportage-, Theater- und Unternehmensfotograf tätige Holtappel Wesen und Wandel dieser Region besonders in den 60er und 70er Jahren festgehalten. Trotz weltweiter beruflicher Reisen sind die vorwiegend in Duisburg und Oberhausen entstandenen Revier-Bilder der Kern seines Lebenswerks.

Weit entfernt von Revier-Klischees

Tatsächlich formieren sich geradezu monströse Industrieanlagen in seinen Aufnahmen zu „Landschaften“ ganz eigener Art, die sich übermächtig in ursprünglich agrarisch genutzte Areale gefräst haben. Diese Fotografien sind freilich weit entfernt von Ruhrgebiets-Klischees. Mit den Begriffen Wirklichkeit und zumal Wahrheit soll man bekanntlich vorsichtig sein, doch hier leuchten Momente auf, die dem Ideal einer wahrhaftigen Essenz wohl sehr nahekommen.

In Bochum sind ausschließlich eigenhändige Abzüge Holtappels zu sehen, nach weniger guten Erfahrungen mit Profi-Laboren („Das sind nicht mehr meine Bilder!“) hat er seinerzeit den ganzen Herstellungsprozess an sich gezogen. Und siehe da: Auch anhand seiner relativ kleinformatigen Abzüge (er wollte die Betrachter nicht mit schierer Größe überwältigen), die vorwiegend für den Druck und nicht für Museumswände gedacht waren, kann man dennoch der Textur der Dinge und den feinsten Nuancen von Grautönen nachspüren. Nie und nimmer könnte man solche ästhetischen Valeurs mit Digitalfotografie erzielen.

Verwurzelung und ungebrochene Vitalität

Der Fotokünstler hat nicht nur Industrieanlagen und den damals noch so rußigen Himmel auf Bilder gebannt, sondern auch einprägsame Momente des Ruhrgebiets-Lebens – von Bergarbeiterstreiks gegen die ersten Zechenschließungen in den 1960er Jahren bis hin zu Kleingarten-Refugien und prallen Kneipenszenen, die von Verwurzelung und unverfälschter Vitalität künden.

Rudolf Holtappel ist 2013 mit 90 Jahren in Duisburg gestorben. Seine Witwe Herta hat der Bochumer Stiftung „Situation Kunst“ (zu der das Museum unter Tage gehört) etwa 150 Ruhrgebiets-Fotografien als Schenkung überlassen. Von den Arbeiten, die nun zu sehen sind, ist die Hälfte noch nie öffentlich gezeigt worden.

Bernd und HIlla Becher: "Hochofen", Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Bernd und Hilla Becher: „Hochofen“, Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Gespür für kulturhistorischen Wert

Wie grundlegend anders erscheinen Revier-Ansichten im Oeuvre von Bernd und Hilla Becher! Fast schon steril und blutleer muten ihre Aufnahmen der Oberhausener Gutehoffnungshütte seit Mitte der 60er Jahre an. Doch es ist eben eine andere, ebenso schlüssige Herangehensweise.

Als monumentale Denkmäler ihrer selbst erscheinen hier die gigantischen Industriebauten. Spuren von Alltag und Arbeit scheinen sich verloren zu haben. Schon früh entwickelten die Bechers offenkundig ein weit vorausschauendes Gespür für den kulturhistorischen Wert solcher Anlagen, den sie möglichst „objektiv“ dokumentieren wollten. Wenn man weiß, dass die Gutehoffnungshütte bereits damals von Schließung bedroht war, so könnte die fotografische Serie auch den (hilflosen) Gestus eines Rettungsversuchs haben.

Verletzungen der Stadtlandschaft

Bis hierher hat man Schwarzweiß-Aufnahmen gesehen, jetzt beginnt die Farbzeit, allerdings in verhaltenen Tönen: In den 80er Jahren hat sich der in Dülken/Niederrhein geborene Joachim Brohm (Jahrgang 1955) fotografisch im Revier umgetan. In nahezu verblichen wirkenden Farben hat er vor allem schmerzliche „Verletzungen“ in Randzonen der Stadtlandschaften aufgesucht.

Joachim Brohm: "Ruhr", Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Joachim Brohm: „Ruhr“, Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Es sind bestürzende Hinterlassenschaften der Industrie und brachialer Umgestaltung: veritable Wüsteneien und öde Orte der Tristesse, in denen kaum noch etwas zu geschehen scheint. Eine ganze Region, so der Eindruck, ist gleichsam entleert worden und liegt brach. Darüber ist man heute noch nicht überall hinweg.

Bis zum Rand der Abstraktion

Jitka Hanzlová, 1982 ohne jegliche deutsche Sprachkenntnis aus der Tschechoslowakei ins Ruhrgebiet „verweht“, wie sie sagt, setzt die beinahe abstrakten Schlussakzente der Ausstellung. Fast schon Hassliebe sei es, was sie ans Ruhrgebiet binde, sie könne nur sehr subjektiv ans Sichtbare herangehen. Mit ihrer zuweilen radikal ausschnitthaften Sichtweise begibt sie sich an unscheinbare Stellen, die unter ihrem besonderen Blick freilich mit rätselvoller Magie aufgeladen werden. Ob es ein böser oder guter Zauber sei, verraten diese Bilder gewiss nicht.

„Umbrüche: Industrie – Landschaft – Wandel“. Museum unter Tage („Situation Kunst“, Schlossstr. 13, Bochum, Parkgelände Haus Weitmar). Geöffnet Mi-Fr 14-18 Uhr, Sa/So/Feiertage 12-18 Uhr. In Bochum noch bis zum 25. März 2018 (anschließend im Willy-Brandt-Haus, Berlin: 5. April bis 27. Mai 2018). Vierteiliger Katalog im Schuber 32 Euro.

Infos: www.situation-kunst.de

___________________________________________________________

Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Akte und Architekturen: Essener Museum Folkwang würdigt den Schweizer Fotografen Balthasar Burkhard

Balthasar Burkhard: Normandie 01,1995. Silbergelatineabzug 115 x 115 cm. Museum Franz Gertsch, Burgdorf © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Normandie 01,1995. Silbergelatineabzug 115 x 115 cm. Museum Franz Gertsch, Burgdorf © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Einen der bedeutenden Fotografen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts würdigt das Museum Folkwang in Essen mit einer Ausstellung: Die 150 Werke und Werkgruppen umfassende Retrospektive für Balthasar Burkhard ist die erste große museale Würdigung des Schweizers in Deutschland und zeichnet das facettenreiche Schaffen des Fotografen etappenweise nach. Die Palette der Werke reicht von frühen Schwarzweiß-Aufnahmen aus den sechziger Jahren bis zu Architektur- und Landschaftsfotografien aus dem Spätwerk des 2010 gestorbenen Fotokünstlers.

Der 1944 geborene Balthasar Burkhard lernte bei Kurt Blum, einem der bekanntesten Schweizer Fotografen seiner Generation. 1965 eröffnete er ein eigenes Studio in Bern und fotografierte im Auftrag der Kunsthalle Bern die Künstler, die der bekannte Kurator Harald Szeemann damals ausstellte.

1966 und 1968 fotografierte Burkhard auf der Biennale in Venedig, 1972 dann auf der documenta Kassel. 1969 zeigte er erstmals die gemeinsam mit Markus Raetz geschaffenen großformatigen Fotoleinwände, mit denen er international beachtet wurde. Erstmals sind in der Essener Ausstellung Burkhards Fototagebücher dieser Zeit in einer umfassenden Zusammenschau zu sehen.

Balthasar Burkhard: Der Körper I (Installationsansicht Ausstellung Kunsthalle Basel 1983), 1983. Silbergelatineabzug 30,7 x 45,5 cm © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Der Körper I (Installationsansicht Ausstellung Kunsthalle Basel 1983), 1983. Silbergelatineabzug 30,7 x 45,5 cm © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Auch in den USA, wo er einen Lehrauftrag an der Universität von Illinois annahm, arbeitete er weiter an monumentalen Leinwand-Tableaus und hatte 1977 in Chicago seine erste Einzelausstellung.

Ab 1983, zurück in der Schweiz, entdeckte Balthasar Burkhard zunehmend den menschlichen Körper. Es entstanden riesige Akte, etwa ein dreizehn Meter langer liegender Akt. Aber Burkhard interessierte sich auch für Details, Fragmente und Mikrostrukturen. Die Essener Retrospektive widmet sich dieser Werkgruppe anhand des erhaltenden Materials in Form von Studien und Skizzen und mit Hilfe von Nachdrucken. Gezeigt werden auch Architekturfotos, die seit Mitte der neunziger Jahre entstanden, und Burkhards großformatige Luftaufnahmen von Städten und Wüsten.

Balthasar Burkhard: Mexico City (Vulkan), 1999. Silbergelatineabzug auf Barytpapier 136,7 x 267,7 cm. Fondation Cartier pour l'Art contemporain, Paris © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Mexico City (Vulkan), 1999. Silbergelatineabzug auf Barytpapier 136,7 x 267,7 cm. Fondation Cartier pour l’Art contemporain, Paris © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Die Ausstellung entstand in Kooperation des Museums Folkwang mit dem Fotomuseum Winterthur, der Fotostiftung Schweiz und dem Museo d’arte della Svizzerra italiana.

Essen, Museum Folkwang, 20. Oktober bis 14. Januar 2018. Öffnungszeiten: Di, Mi, Sa und So 10 bis 18 Uhr, Do und Fr 10 bis 20 Uhr. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Katalog (Steidl Verlag, Göttingen) 28 Euro.