Bis die Kriegsgewalt bröckelt – Alexander Kluges Bilderatlas „Sand und Zeit“

Da haben wir also wieder ein Buch vom inzwischen 93-jährigen Polyhistor Alexander Kluge, der stets die entferntesten Dinge produktiv zusammen bringt und hellsichtig Funken aus seinen Blickwechseln schlägt.

Diesmal beginnt die fruchtbringende Gedankenreise bei den akuten Verheerungen im Gazastreifen, wo vieles nicht einfach „nur“ zerstört wurde, sondern schier zu Sandkörnern zerriebene Wüstenei geworden ist. Vielfach erwogen wird in der Folge, ob dem allfälligen Krieg und der Gewalt Einhalt zu gebieten sei – ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort des geschundenen Erdenrunds.

Damit wären die beiden Pole des Bandes „Sand und Zeit“ schon einmal benannt. Das zu Sand zermalmte Land kehrt später – gründlich verwandelt – im Kinder-Sandkasten und sodann in „Sandkasten-Spielen“ der Militärstrategen wieder. Auch werden einzelne Sandkörner physikalisch vermessen und mikroskopisch betrachtet. All das gipfelt in einem wesentlich aus Sand bestehenden Kunstwerk von Anselm Kiefer, das wiederum Ingeborg Bachmann seine Inspiration verdankt. Alles kann mit allem zusammenhängen, wenn man es denn recht zu betrachten weiß.

Auf der Suche nach Gegenkräften

Gewisse Gegenkräfte zur Kriegsgewalt, so scheint sich ahnungsvoll zu zeigen, dürften beispielsweise in dennoch abgetrotzten glücklichen Augenblicken liegen. Während der altgriechische Zeitgott Kronos alles fressen will (sogar die eigenen Kinder), verkörpert Kairos den geglückten Moment als kaum minder scharfes Gegengift. Eine vage, aber immer neu mit Zuversicht zu nährende Hoffnung kennzeichnet dieses Motto zu Beginn: „Die einzige Verlässlichkeit in zerrissener Zeit beruht auf der Beobachtung, dass auch die kriegerische Macht stolpert…“ Alle noch so imposanten Imperien der Geschichte, so ein zentraler Befund, stürzen irgendwann, nichts ist von ewiger Dauer. Ein Gedanke, bei dem einem – allem waltenden Elend zum Widerspruch – warm ums Herz werden könnte.

Kluge ruft kreuz und quer verschiedenste historische Szenarien auf – von der deutschen Nachkriegs-Trümmerzeit samt Wiederaufbau über altägyptische und altrömische Verhältnisse (Punische Kriege = Rom vs. Karthago), den jetzigen Ukraine-Krieg, die Kreuzzüge, den Krimkrieg (ab 1853), die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs und den (wenn überhaupt möglich) noch schlimmer wütenden Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, die Religionskriege, die in den Westfälischen Frieden von 1648 mündeten… Die Phänomenologie so vieler Waffengänge umfasst auch die seltene, vorbildliche Großzügigkeit generöser Sieger, die den Besiegten nach deren Kapitulation zunächst freies Geleit und fortan freie Entfaltung gewähren – beispielhaft erfasst in Velázquez‘ berühmtem Gemälde „Die Übergabe von Breda“.

Immer wieder neue Perspektiven

Geschildert und ausgiebig bildlich dargestellt (auch mit „virtuellen Kameras“, also KI-Hilfe) werden sowohl das große Ganze als auch gleichsam herangezoomte Nahansichten. Da gibt es erschütternde Bilder, die die brüllende Maschinerie des Krieges so vergegenwärtigen, wie es eben geht. Beim Lesen sollte man diese Illustrationen keinesfalls schnell überblättern, sie erheischen nachdrücklich Aufmerksamkeit. Derlei rasche und harsche Perspektivenwechsel, so Kluge im vorsichtig bilanzierenden Nachwort, können die Kontraste der Zeitläufte besser erfassen als reine Texte. Daher nennt er sein Buch im Untertitel „Bilderatlas“. Ein anregendes Vorbild ist ausdrücklich Aby Warburgs legendäre, größtenteils verschollene „Kriegskartothek“ zum Ersten Weltkrieg gewesen. Technisch auf der Höhe, bietet Kluges Buch übrigens auch (teilweise filmische) Ergänzungen an, die man mit Hilfe abgedruckter QR-Codes ansteuern kann.

Einen freien Erzählraum erzeugen

Alexander Kluge muss nicht nur über eine riesige Bibliothek und die Erfahrungen eines langen Lebens, sondern auch unendlich viele „Zettelkästen“ oder eben Datensammlungen verfügen, denen er immer wieder entlegene (und gleichzeitig prägnante) Beispiele entnimmt, so etwa, wenn es um die letzten Kriegstage rund um das Volkswagenwerk oder die zeitgleiche Kapitulation einer deutschen Munitionsfabrik geht.

Es ist Kluge um die Schaffung eines „freien Erzählraumes“ zu tun, um den Konjunktiv als Möglichkeitsraum. Erst im beherzten Sprung auf die andere Seite, in eine andere Zeit, sei es denkbar, die tendenziell verarmten Ausdrucksweisen unserer Tage zu überwinden. Bei Beschwörung des Überblicks kehrt Kluge verbal zu seiner Frühzeit zurück, indem er die hohe Zirkuskuppel als Bild aufruft. Wir erinnern uns an seinen Filmtitel „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. Gegen alle Ratlosigkeit geht er im gesegnet hohen Alter immer noch und erst recht an – wie einst Elias Canetti unverdrossen gegen den Tod focht. Das darf und muss man heldenhaft nennen.

Alexander Kluge: „Sand und Zeit“. Bilderatlas. Suhrkamp, 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 25 Euro.

 




„Exil“ für die Kunst – Meisterwerke aus Odesa in Berlin (und später in Heidelberg)

Antwerpener Meister (Umkreis des Frans Floris): „Lot und seine Töchter“, um 1550. (Odesa, Museum für Westliche und Östliche Kunst)

Auch Helden haben ihre schwachen Momente. Überwältigt von allzu ausschweifendem Weingenuss, gerät sogar Herkules, verehrt wegen seiner übermenschlichen Kräfte, in eine hilflose Lage. Er kann sich kaum auf den Beinen halten und wird von einem Satyr und einer Nymphe gestützt. Keule und Löwenfell, die Attribute seiner Stärke, sind in den Händen eines Fauns, der sich die Löwenhaut übergeworfen hat, ein feistes Grinsen aufsetzt und freche Grimassen schneidet.

Peter Paul Rubens hat das lasterhafte Bild gemalt und damit sein 1612 erworbenes Privathaus in Antwerpen geschmückt. Das Original hängt zwar heute im „Zwinger“, der Gemäldegalerie der Alten Meister in Dresden. Aber der geschäftstüchtige Rubens hatte nichts dagegen, dass in seiner Werkstatt von seinen Schülern täuschend echte Kopien hergestellt wurden, die gegen gutes Geld ihren Weg in die Herrschaftshäuser und Museen dieser Welt fanden.

Gemälde werden im temporären „Exil“ restauriert und neu gerahmt

Eine dieser Versionen logiert seit Jahrzehnten im „Museum für Westliche und Östliche Kunst“ in Odesa (in Anlehnung an die ukrainische Schreibweise). Doch mit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 entschloss sich die Museumsleitung, die ebenso kunst- wie wertvolle Rubens-Kopie sowie etliche weitere Werke ihrer Sammlung vor der Zerstörung durch Bombardierungen zu schützen und in Sicherheit zu bringen. Weil die Gefahr bestand, dass die zunächst in einem Notlager unter schlechten klimatischen Bedingungen untergebrachten Kunstwerke zu Schaden kommen, nahm man Kontakt zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin auf und fand in der Gemäldegalerie auf dem Kulturforum einen Partner, der bereit war, den Werken ein temporäres Zuhause zu geben, sie zu restaurieren, neu zu rahmen und der Öffentlichkeit in ganzer Breite zu präsentieren.

Emile Claus: „Sonniger Tag“, 1895. (Odesa, Museum für Westliche und Östliche Kunst)

„Von Odesa nach Berlin. Europäische Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts“ heißt die Schau, die unter Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht. Zu den Werken, die ihren Weg aus der südukrainischen Hafenstadt und dem erst vor 100 Jahren gegründeten Museum in Odesa nach Berlin fanden, gehören Bilder bedeutender Künstler wie Andreas Achenbach, Francesco Granacci, Frans Hals, Cornelis de Heem, Roelant Savery, Bernardo Strozzi, Alessandro Magnasco und Frits Thaulow.

Liberaler Geist mit Neigung zur westlichen Welt

Johann Baptist von Lampi d. Ä.: „Porträt von Admiral Joseph de Ribas“, um 1769. (Odesa, Museum für Westliche und Östliche Kunst)

Die Ausstellung ist in neun Kapitel gegliedert und beginnt mit einer Einführung zu dem Projekt und seinem zeitgeschichtlichen Kontext. Neben einem Foto der von russischen Bomben zerstörten Kultur- und Prachtbauten in Odesa hängen zwei Ölgemälde, die das ganze politisch-kulturelle Dilemma der noch jungen Stadt zeigen: Von oben herab richtet der sich stolz in ordensgeschmückter Uniform präsentierende Joseph de Ribas (1749-1800) auf einem Bild von Johann Baptist von Lampi seinen Blick auf den Betrachter. Aus katalanischem Adel stammend, diente er im Rang eines Admirals der russischen Marine und bekam von Zarin Katharina II. 1794 den Auftrag zur Gründung der Stadt Odesa. Daneben hängt das von Thomas Lawrence gemalte Porträt des russischen Grafen Michail Woronzow (1782-1856), der eine Zeitlang Generalgouverneur von Neurussland mit Sitz in Odesa war, sich als aufgeklärter, liberaler Geist für die kulturelle und wirtschaftliche Anbindung an die westliche Welt einsetzte, Bibliotheken, Gymnasien, wissenschaftliche Gesellschaften gründete, aber heute wegen seiner unrühmlichen Rolle beim Kolonialkrieg gegen die muslimischen Bergvölker des Nordkaukasus in der Ukraine stark umstritten ist.

Immer wieder werden die politisch-kulturellen Fallstricke in die Schau einbezogen und in umfangreichen Kommentaren den Werken in deutscher, englischer und ukrainischer Sprache zur Seite gestellt. Das Auge des Kunstflaneurs entdeckt herrliche Landschaften und idyllische Stillleben, biblische und mythologische Historien und das in die Moderne weisende Spiel mit Licht und Farbe.

Die Irrungen und Wirrungen der Kunst

Unter dem Stichwort „Porträts und Charakterköpfe“ finden sich auch zwei Bilder von Frans Hals, der neben Rembrandt und Vermeer zu den herausragenden Malern des 17. Jahrhunderts zählt. Niemand weiß, warum Frans Hals, der sonst kaum je religiöse Werke schuf, eine kleine Serie von vier Evangelisten-Darstellungen gemalt hat, von denen zwei, die Bilder von Lukas und Matthäus, auf verschlungen Pfaden nach Odesa kamen. Lange hielt man sie dort für Werke eines unbekannten russischen Künstlers und verbannte sie ins Depot. Erst 1959 identifizierte man die Bilder mit den sehr lebendig wirkenden, zottelbärtigen und rotwangigen Evangelisten, die sich weise lächelnd in dicke Bücher vertiefen, als Hals-Originale. Die Schätze der Kunst geben uns mit ihren Irrungen und Wirrungen immer wieder Rätsel auf.

Gemäldegalerie Kulturforum Berlin: „Von Odesa nach Berlin. Europäische Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts.“ Bis 22. Juni 2025. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Mo geschlossen, Eintritt 16 Euro, ermäßigt 8 Euro. Freier Eintritt für Geflüchtete. Infos unter www.smb.museum/odesa, Katalog (Hirmer Verlag), 244 Seiten, 139 Abb., Preis im Museum 32 Euro, im Buchhandel 39,90 Euro.

Unter dem Titel „Meisterwerke aus Odesa. Europäische Malerei aus dem 16. bis 19. Jahrhundert“ wird die Ausstellung vom 19. Oktober 2025 bis zum 22. März 2026 im Kurpfälzischen Museum der Stadt Heidelberg gezeigt.

 




Landschaft mit Goldrand: Ausstellung zelebriert „1250 Jahre Westfalen“

Der vergoldete Silberschrein des heiligen Liborius, des Paderborner Dom- und Bistumspatrons, sonst im benachbarten Diözesanmuseum beheimatet, gehört zu den prachtvollsten Schaustücken der Westfalen-Ausstellung des Museums in der Kaiserpfalz. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Welcher Gedanke liegt wohl nahe, wenn eine große Ausstellung „775 – Westfalen“ heißt? Nun, dann wird der Landesteil wohl 775 Jahre alt werden? Weit, weit gefehlt: Er wird vielmehr stolze 1250 Jahre alt.

Die „775″ steht dabei für die Jahreszahl der allerersten Erwähnung des Namens in einer Urkunde, etwas genauer: in den Reichsannalen jener Zeit, verfasst am Hofe Karls des Großen. Nun ist das unschätzbar wertvolle Zeitdokument in einer frühen, aus der Pariser Nationalbibliothek geliehenen Abschrift (entstanden um 820, in einer Abtei bei Lüttich) im Paderborner LWL-Museum in der Kaiserpfalz zu sehen.

Ankerprojekt eines weit ausgreifenden Themenjahres

Wir reden vom zentralen Ankerprojekt eines ganzen Themenjahres, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ausgerufen hat und das 44 größere Maßnahmen umfasst, die sich zu weit über 300 Einzelveranstaltungen verzweigen. Rund 3 Millionen Euro beträgt die gesamte Fördersumme der LWL-Kulturstiftung. An der heutigen Ausstellungseröffnung in Paderborn hat auch der Schirmherr, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, teilgenommen, u. a. flankiert vom NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Die Schau macht einen streckenweise hochveredelten Eindruck, mit geradezu feierlicher Illumination und zahlreich schimmernden Goldtönen. LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger hofft auf rund 60000 bis 80000 Ausstellungs-Besuche. Solche Zahlen wären auch finanziell hilfreich.

Von den Franken besiegt und erstmals erwähnt

Kurz zurück zur erwähnten karolingischen Urkunde. „Die“ Westfalen (also nicht der noch gar nicht definierte Landesteil, sondern die Leute) fanden nebst anderen Volksstämmen – Ostfalen und Engern – Erwähnung als durch die Franken Besiegte. Damit war der Begriff schriftlich in der Welt und konnte sich durch die Epochen realiter vielfach entfalten – etwa als Herzogtum Westfalen um 1180, mit einem klimatisch bedingten, für Getreideanbau günstigen Boom um 1200 und einem ebenfalls klimatisch eingeleiteten Niedergang im 14. Jahrhundert (Stichwort „Wüstungen“), viel später dann als Schauplatz des Westfälischen Friedens (Münster/Osnabrück) anno 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete.

Wiederum ein ganz anders geartetes Land war sodann ab 1807 das französisch regierte „Königreich Westphalen“ unter Jérôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleons. Seinerzeit zählten übrigens weder Münster noch Dortmund hinzu, die wir heute als die westfälischen Metropolen betrachten. Westfalens Hauptstadt hieß damals Kassel. Gar manche Westfalen begrüßten die gewachsenen bürgerlichen Freiheiten unter französischer Herrschaft, doch bald regte sich Unmut, weil Napoleon westfälische „Landeskinder“ als Soldaten für seinen Russlandfeldzug rekrutieren ließ.

Die Schau endet mit den Folgen des Wiener Kongresses von 1815, mit dem die napoleonische Ära endete und Preußen die Grenzen seiner Provinz Westfalen neu und dauerhaft festlegte. Damit wurden auch bis heute prägende Grundmuster der Infrastruktur geschaffen.

Ein „Wanderweg“ durch die Lande und Zeiten

Die Ausstellung breitet ihre Schätze (etwa 500 Exponate) auf rund 1000 Quadratmetern in Form eines „Wanderweges“ durch Lande und Zeiten aus. Ein Epilog, basierend auf Umfragen unter westfälischen Bürgern der Gegenwart, zeichnet schließlich Zukunfts-Perspektiven – nicht zuletzt visualisiert mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI), die heute ja nirgendwo fehlen darf.

Eine Leitfrage der gesamten Unternehmung lautet: Was macht denn eigentlich Westfalen aus? LWL-Landesdirektor Georg Lunemann ist überzeugt, dass die heutige Heimat von rund 8,3 Millionen Menschen schon immer ein gesellschaftliches „Versuchslabor“ gewesen sei. Ein Menschenschlag habe diese Landschaft geprägt, der zwar zurückhaltend und bodenständig, aber auch stets prinzipiell offen (gewesen) sei. Hier wolle man die Probleme anpacken statt sie nur zu verwalten oder zu vertagen. Nun ja, so oder ähnlich muss man es als LWL-Chef wohl sagen. Westfalen war und ist im Vergleich zum Rheinland jedenfalls ländlicher geprägt und hat auf deutlich mehr Fläche weniger Einwohner. Selbst die westfälischen Ruhrgebietsstädte entstanden auf vormals ländlichen Arealen erst spät und dafür umso rasanter.

Ein Tragaltar für den Paderborner Bischof aus dem 12. Jahrhundert, gefertigt aus Eichenholz, vergoldetem Silberblech, Steinschmuck und Perlen. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Als die Region bis zur Ostsee reichte

Martin Kroker, Leiter des Paderborner Museums in der Kaiserpfalz, legt Wert auf die Feststellung, dass es keineswegs eine klare, durchgehende Linie von 775 bis 1815 oder gar bis heute gebe, was Westfalen anbelangt. Größere Eindeutigkeit entstand erst mit der preußischen Ordnung im 19. Jahrhundert, namentlich unter Ägide des Freiherrn vom Stein. Zuvor hatten die als „westfälisch“ wahrgenommenen Ländereien zeitweise bis zur Ostsee gereicht, die eingangs der Ausstellung gezeigten alten Karten sind für heutige Begriffe geradezu verwirrend.

Die jetzige Gestalt ist eben erst nach und nach entstanden. Westfalen, wie wir es kennen (oder zu kennen glauben), konkretisierte sich erst allmählich im 19. Jahrhundert, damals entstanden zahlreiche Heimatvereine, einschlägige Denkmäler wurden errichtet und das treuherzige „Westfalenlied“ (1868/69) ward komponiert. Aus all dem leitet sich die generelle Erkenntnis her, dass Westfalen – wie so vieles, ja eigentlich alles – eine dem historischem Wandel unterworfene „Konstruktion“ ist, mit der sich die Menschen dann freilich im Idealfalle identifizieren können. Und überhaupt: Was Westfalen bedeutet, wird stets von Menschen bewirkt.

Die Ausstellung sucht den schier unerschöpflichen Themenkreis vor allem mit archäologischen Funden und markanten Schriftstücken zu fassen. Der Wanderweg wird freilich auch von in Westfalen gewachsenen Pflanzen begleitet, was den Museumsleiter Martin Kroker zunächst beunruhigt hat. Pflanzen neben uralten Schriften? Und was war mit womöglich schädlichen, feuchten Ausdünstungen? Nun, die begleitende Vegetation gedeiht hier völlig ohne Wasser, sie wird aber bis zum Ende der Ausstellung u. a. mit Glycerin konserviert. Gewusst wie! Jedenfalls ist man dank Pollenanalysen heute in der Lage, die westfälische Pflanzenwelt seit der Karolingerzeit im Wesentlichen zu bestimmen.

Abendmahls-Gemälde mit westfälischem Schinken

Und so schreitet man entlang früher Waffenfunde aus kriegerischen Zeiten, bestaunt Zeugnisse der Christianisierung, die mit etlichen Klostergründungen als „Erfolgsmodell“ dargestellt wird, belegt auch durch prachtvolle Altarbilder westfälischer Provenienz. Eine Abendmahls-Darstellung enthält gar typisch westfälischen Schinken als kulinarische Dreingabe. Weitere Höhepunkte sind etwa der kostbar vergoldete Paderborner Libori-Schrein, die penibel ausgetüftelte Sitzordnung zu den Verhandlungen über den Westfälischen Frieden oder die barocke Pracht westfälischer Fürstbischöfe.

Kritische Seitenblicke bleiben nicht aus. So gab es im Gefolge der Befreiungskriege auch in Westfalen nach 1815 nicht nur romantische Verklärungen der Region, sondern auch nationalistisch gewendete Überhöhungen. Manche Westfalen verstanden und gerierten sich nun als die allerbesten und echtesten Deutschen. Da sind einem die „sentimentalen Eichen“, die Heinrich Heine in Westfalen als knorrig-liebenswerten Menschentypus erlebte und bedichtete, doch allemal lieber.

„775 – Westfalen. 1250 Jahre Westfalen“. Paderborn, Museum in der Kaiserpfalz, Am Ikenberg 1 (neben dem Dom). Vom 16. Mai 2025 bis 1. März 2026. Täglich außer montags 10-18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat 10-20 Uhr. Eintritt 11 Euro, ermäßigt 6 Euro, Kinder/Jugendliche unter 18 Jahren kostenlos. Katalogbuch (352 Seiten) 35 Euro.

 

 




Boualem Sansal muss aus der Haft entlassen werden

Gladbeck 2012: der französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal im Gespräch. (Foto: Jörg Briese)

Der Nächste bitte! Mit der Gewöhnung an autoritäre Politik werden Angriffe auf die Meinungsfreiheit zur Regel.

Im Oktober 2012 hatte ich das Glück, Boualem Sansal in die Stadtbücherei Gladbeck einladen zu dürfen und mit ihm zu diskutieren. Das Gespräch dolmetschte Walter Weitz, in deutscher Sprache erschienene Texte Sansals las Schauspieler Martin Brambach. Inspirierende Abende wie dieser gehörten zu den Lichtblicken meiner Arbeit im Literaturbüro Ruhr.

In Algier verhaftet und angeklagt

Umso trauriger war ich lesen zu müssen, dass am 16. November dieses Jahres der bewunderte französisch-algerische Schriftsteller nach einer Rückreise aus Frankreich am Flughafen von Algier verhaftet worden ist. Einige Tage lag sein Verbleib ganz im Dunklen. Nicht nur das deutsche PEN-Zentrum forderte deshalb Auskunft und Freilassung. Im PEN-Aufruf vom 5. Dezember heißt es kurz darauf: „Gestern nun wurde Sansal in Algier einem Gericht vorgeführt. Noch ist nicht klar, ob er einen unabhängigen Rechtsbeistand hat. Belangt werden soll er wegen Äußerungen zur algerischen Geschichte, nach algerischen Paragrafen können ihm dafür drakonische Strafen drohen.“

Auf dem Podium v.r.n.l.:
Walter Weitz (Dolmetscher), Sansal, Martin Brambach, Gerd Herholz.
(Foto: Jörg Briese)

Schon lange gilt Sansal in Algerien, wo seine Bücher nicht erscheinen dürfen, als Nestbeschmutzer, weil er das Regime seines Heimatlandes ebenso kritisiert wie den Islamismus, weil er gegen Antizionismus und Homophobie anschreibt.

Die Lüge wohnt vor allem im Westen

In seinem Büchlein „Postlagernd: Algier. Zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine Landsleute“ rief Sansal nicht nur seine Landsleute zu mehr Mut und unabhängigem Denken auf, er forderte dies auch explizit von den Bürgern, den Citoyen im Westen:

„Die Unabhängigkeit ist universell oder es gibt sie nicht. Wenn es irgendwo einen Sklaven, einen Kolonisierten, einen vergessenen Häftling gibt, dann, weil es überall Lüge und Verrat gibt und weil die Welt von Sklavenhaltern und Kolonisatoren und ihren unzähligen Handlangern regiert wird.
Die Unabhängigkeit ist das Ende der Lüge. Bis zum Beweis des Gegenteils ist es der Westen, wo die Lüge wohnt, dort ist das Herz der Macht, dort ist es, wo man die Lüge zerstören muss, wenn man den Planeten und seine Bewohner retten will.“

Jeder kann jederzeit zum Mörder werden

Boualem Sansal lesend kann man dem Thema „Gewalt“ nirgendwo ausweichen. Sansal lenkt beharrlich den Blick auf verdrängte Kriege und Bürgerkriege, auf ihre zerstörerische Kraft – nicht nur in Algerien.
Dass dies uns – ob wir wollen oder nicht – angeht, beweist er etwa mit seinem Roman Das Dorf des Deutschen. Hier spürt er – Familiengeschichte erzählend – auch den Geheimnissen von Opfern und Tätern nach, der Geschichte von Staaten und Gesellschaften.

Martin Brambach liest aus „Das Dorf des Deutschen“. (Foto: Jörg Briese)

In Das Dorf des Deutschen müssen zwei Söhne eines Mannes aus einem algerischen Dorf erkennen, dass ihr Vater ein deutscher Nazi war, einer, der den Holocaust mitorganisiert hat, einer, der sich nach Kriegsende in Algerien versteckt hielt, eine junge Algerierin heiratete, nur, um dann erneut als Ausbilder von Kämpfern, Söldnern tätig zu werden.
So wird Gewalt über Zeiten und Länder weitergegeben; erschreckend scheint die Möglichkeit auf, dass nicht nur wider Willen jeder mit jedem verwandt sein, sondern auch jeder jederzeit zum Mörder werden könnte.

Totalitarismus in immer neuer Maskerade

Totalitäre Maschinerien und Ideologien, Terrorismen aller Couleur kommen in immer neuen Masken daher, mal als Nationalismus, mal als Stalinismus oder Islamismus oder – wie im Westen – als Terror der Ökonomie, als Primat einer Ökonomie, die unversehens zur Ökonomie der Primaten wurde und auf niemanden und nichts mehr Rücksicht zu nehmen scheint.

Auch aus der Erfahrung mit dem Jahrzehnte währenden islamistischen Terror im Maghreb ließe sich für Deutschland etwas lernen. Boualem Sansal erhellt, wie religiöser Fanatismus über das Angstmachen, das Besetzen von Sprache und Denken, über den Aufbau realer Machtstrukturen langsam aber sicher eine Gesellschaft bis in die letzten Winkel der Häuser und Hirne vergiften kann. Zurecht fordert er für seine Heimat etwas, das auch wir hier erst zu verwirklichen hätten: eine strikten Laizismus, eine striktere Trennung von Staat und Kirche(n).

Boualem Sansal (Foto: Jörg Briese)

Sansal ist ein Humanist, der erzählend und essayistisch – oft sich selbst gefährdend – für Menschenrechte und Bürgerrechte eintritt, für die Utopie demokratischer Gesellschaften. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels beschrieb er 2011, wie der Preis ihn verändert hat. Eindrückliche Sätze, die auch angesichts der aktuellen Situation in Syrien hoffnungsvoller (und naiver?) nicht sein könnten:

„Die Menschen lehnen Diktatoren ab“

„Ich diente unbewusst dem Frieden, nun werde ich ihm bewusst dienen, und das wird neue Fähigkeiten in mir wecken.“ Er hoffe, dass all das, was Schriftsteller und andere Kulturschaffende getan hätten, wenigstens einen winzig kleinen Beitrag zum Aufkommen des Arabischen Frühlings geleistet hätte: „Was derzeit geschieht, ist meines Erachtens nicht nur eine Jagd auf alte bornierte und harthörige Diktatoren, und es beschränkt sich nicht auf die arabischen Länder, sondern es kommt eine weltweite Veränderung auf, eine kopernikanische Revolution: Die Menschen wollen eine echte universelle Demokratie, ohne Grenzen und ohne Tabus. Alles, was das Leben ramponiert, verarmen lässt, beschränkt und denaturiert, ist dem Gewissen der Welt unerträglich geworden und wird mit aller Macht abgelehnt. Die Menschen lehnen Diktatoren ab, sie lehnen Extremisten ab, sie lehnen das Diktat des Marktes ab, sie lehnen den erstickenden Zugriff der Religion ab, sie lehnen den anmaßenden und feigen Zynismus der Realpolitik ab, sie verweigern sich dem Schicksal, auch wenn jenes das letzte Wort haben mag, sie lehnen sich gegen alle Arten von Verschmutzern auf; überall empören sich die Leute und widersetzen sich dem, was dem Menschen und seinem Planeten schadet.“

Sansal und Dolmetscher Wirtz  (Foto: Jörg Briese)

Ja, wirklich großartig wäre das. Boualem Sansal selbst aber hat jetzt die Macht derer zu spüren bekommen, die sich eine universelle Demokratie keinesfalls wünschen, die Menschen wie ihm deshalb schaden, wo sie nur können und so lange sie es können – und wir es zulassen. Erste hilflose Gesten dagegen wären es, Aufrufe zur Freilassung Sansals zu verbreiten, ihn nicht zu schnell als Häftling wieder zu vergessen. Und ihn zu lesen. Frei nach Gotthold Ephraim Lessing also: „Wir wollen weniger erhoben // und fleißiger gelesen sein.“




Fürchterliche Kumpanei – der BVB-Deal mit der Waffenschmiede Rheinmetall

Jetzt Makulatur: meine BVB-Mitgliedskarte.

So! Es ist vollbracht. Heute habe ich meine Mitgliedschaft beim BVB 09 gekündigt. Dreimal darf geraten werden, welchen Grund ich dafür hatte. Oder auch nur einmal. Denn natürlich geht es um den nach (nicht nur) meiner Ansicht verwerflichen Sponsoren-Deal mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall, der allzeit prächtig von internationalen Krisen und „Waffengängen“ profitiert.

Für die Düsseldorfer Firma mag es einen Image-Gewinn bedeuten, sich mit ein paar Milliönchen an Borussia Dortmund heranzuwanzen. Für den Verein (nun vollends unglaubwürdiges Motto: „Echte Liebe“) bedeutet es hingegen einen herben Image-Verlust. Zahlreiche Fans melden Protest an – und ich bin sicherlich nicht der einzige Anhänger, der die Konsequenz des Vereinsaustritts zieht. Ich habe auch gleich die Mitglieds-Plakette von meinem Auto abgezogen. Wenn schon, denn schon. Dem Verein, dem ich seit der Kindheit (also seit Gründerzeiten der Bundesliga) anhänge, bleibe ich dennoch treu. Freilich mit Schmerzen.

Wie peinlich wird es sein, wenn die Aufrüster fast überall mit ihrer BVB-Connection werben dürfen. Nur die Trikots sollen ausgespart bleiben. Na, toll. Es geht nicht darum, dass Rheinmetall derzeit auch und vor allem Waffen für die Ukraine herstellt, wo sie tatsächlich dringend benötigt werden. Es geht vielmehr um das allgemeine und sonstige Gebaren dieser Kriegsprofiteure, die fortan wahrscheinlich auch etliche VIP-Logen im Westfalenstadion fluten.

Wie hat man sich in Dortmund und anderswo aufgeregt, als der FC Bayern anrüchige Bande nach Katar knüpfte. Wie hat man die Schalker gescholten, die so lange an einer „Partnerschaft“ mit der russischen Gazprom festgehalten haben. Wie unbeliebt ist – zumal im Revier – RB Leipzig, weil der Club überhaupt erst vom Brausehersteller Red Bull gepäppelt wurde.

Und jetzt diese Dortmunder Kumpanei mit Rheinmetall, ausgerechnet im Vorfeld des Finales der Champions League lanciert. Es gibt so viele Marken, mit denen sich der börsennotierte BVB hätte schmücken oder wenigstens gut hätte arrangieren können. Warum musste es ausgerechnet die rheinische Waffenschmiede sein, die nicht einmal regionalen „Stallgeruch“ hat? Was ist in Hans-Joachim Watzke gefahren, dass er am Vorabend seines Abschieds noch eine solche Entscheidung getroffen hat?

Borussia Dortmund im Londoner Wembley-Stadion gegen Real Madrid. Mehr mythologische Aufgipfelung geht aus hiesiger Sicht kaum. So viele fiebern dem Endspiel am 1. Juni entgegen: Ob der Außenseiter BVB wohl die Sensation schaffen und den größten europäischen Titel erringen kann? Doch nun ist einem selbst dieses Hochamt des Fußballs vergällt.

Ich spare mir an dieser Stelle alle hochlustigen Anspielungen auf Abwehr, Verteidigung und Angriff in Krieg und Fußball. Das entsprechende Wortfeld ist mitsamt Bomben und Granaten schnell abgegrast. Ich gestatte mir aber gehörige Empörung oder – sprachlich noch passender – Entrüstung.




Gegen Diktatur half keine Kunst – Durs Grünbeins Kriegsbuch „Der Komet“

Mit 16 hat Dora bäuerliche Armut und dumpfe Enge ihrer schlesischen Heimat verlassen und ist mit ihrem Freund, dem Metzger Oskar, nach Dresden gezogen. Sie leben bescheiden und erschaffen ihren beiden Töchtern ein kleinbürgerliches Paradies.

Das Geld reicht aus, um in den Tierpark zu gehen und die Kunstschätze der Kulturmetropole zu bewundern. Von Politik halten sie sich fern. Das Gebrüll Hitlers ist ihnen suspekt. Vor dem Schicksal der mitleidlos vertriebenen Juden schließen sie aber die Augen. Und die mit dem Krieg am Horizont aufziehende Katastrophe wollen sie nicht wahrhaben. Obwohl die Front näher rückt und viele deutsche Städte bereits in Schutt und Asche liegen, glauben sie an die Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit ihrer glorreichen Stadt.

Dann, in der Nacht auf den 13. Februar 1945, geschieht das Unfassbare: „Mit einem tiefen, gleichmäßigen Brummen kündigte sich das Unheil an, ein gigantischer Schatten senkte sich über die Stadt, der Flügel einer großen Umnachtung.“ Während die Sirenen Alarm schlagen, schweben Fliegende Festungen der Alliierten Richtung Elbtal, öffnen Klappen und Schächte und klinken aus, was sie mitgeführt haben und abliefern sollen: „das ganze perfekt aufeinander abgestimmte Arsenal für ein konzertierten Flächenbombardement, darauf berechnet, den finalen Feuersturm zu entfachen.“

Durch die Ruinen der Stadt irren

Die mit Scharlach auf der Quarantänestation des Dresdner Krankenhauses untergebrachte Dora wird diesen „Weltuntergang“ überleben. Während die Erde bebt, die Häuser zu Staub zerfallen und zehntausende Tote am Wegesrand liegen, wird Dora durch die Ruinen der Stadt irren und sich zu ihren von einer Freundin ins nahe gelegene Pirna gebrachten Kinder durchschlagen. Auch Oskar, der als Koch seinen Dienst an der Ostfront leistet und Zeuge vielfacher Morde ist, entkommt der Apokalypse.

Von seinem Großvater und von seiner Mutter, die als kleines Mädchen beinahe von Sowjet-Soldaten nach Russland verschleppt wurde, hat der in Dresden geborene und sein langem in Berlin und Rom lebende Durs Grünbein in seinem Erinnerungsbuch „Die Jahre im Zoo“ berichtet. Jetzt, in seinem Roman „Der Komet“, steht die Überlebens-Geschichte der Großmutter im Mittelpunkt seines Interesses.

Geblendet vom früheren Ruhm

Der Büchner-Preisträger webt einen literarischen Teppich aus den Erinnerungen und Erlebnissen der Großmutter und seinen eigenen politischen und historischen Recherchen. Grünbein entwirft das Bild einer ebenso starken wie naiven Frau, das Porträt einer Stadt, die sich vom Ruhm der Vergangenheit blenden ließ, und das Sittenbild eines Volkes, das durch Willkür und Gewalt gleichgeschaltet wurde und den nationalsozialistischen Terror geduldet und mitgetragen hat.

Weder märchenhafte Mythen, noch die Schönheit der Kunst oder die „formvollendeten, endgültig ausgereiften Verse“ haben geholfen, das Unfassbare zu verhindern. Gegen Diktatur und Barbarei helfen weder die Kunstschätze im Grünen Gewölbe noch die im Villenviertel „Weißer Hirsch“ geschmiedete Poesie. Seit 1910 am Himmel der Komet Halley erschien und nur knapp an der Erde vorbei schrammte, hat sich die Angst vorm Weltuntergang tief ins Gedächtnis gegraben. „Jetzt kommt er, der Komet, das alles verheeren wird“, denkt Dora, als der Feuersturm losbricht. Und Grünbein ergänzt trocken: Nun ist „der Spaß zu Ende“, erfährt man, was das heißt: „der totale Krieg.“

Durs Grünbein: „Der Komet“. Suhrkamp-Verlag, 286 S., 25 Euro.




„Mut zu einem ganz neuen Anfang“ – David Grossmans Plädoyer für Frieden im Nahen Osten

Wenige Tage nach dem 7. Oktober 2023, als Terroristen die Grenze zu Israel überwanden, ein Massaker an Juden verübten und zahlreiche Geiseln nach Gaza verschleppten, schwankt David Grossman zwischen Entsetzen und Ohnmacht. Seit Jahren hatte der israelische Autor sich gegen die Besatzung ausgesprochen, Frieden und eine Zweistaaten-Lösung angemahnt.

„Was jetzt geschieht“, schreibt er, sei ein „Alptraum“ und zeige „den Preis, den Israelis zu zahlen haben, weil sie sich jahrelang von korrupten Politikern verführen ließen“, die „das Justizwesen, das Erziehungswesen wie auch die Armee unterhöhlten und bereit waren, uns alle existenziellen Gefahren auszusetzen, um den Ministerpräsidenten vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren.“

Doch bei aller „Wut auf Netanjahu, seine Leute und sein Vorgehen“ dürfe man sich „keiner Täuschung hingeben: Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein noch viel schwereres Verbrechen.

Die furchtbare Hierarchie des Bösen

Auch im Bösen gibt es eine Hierarchie. „Wenn man die Hamas-Terroristen auf Motorrädern sieht, wie sie junge Leute, von denen einige noch ahnungslos tanzen, einkreisen, um sie dann unter Jubelgeschrei wie Wild zu jagen und zu erlegen – ob man sie Bestien nennen sollte, weiß ich nicht, ihr menschliches Antlitz aber haben sie zweifelsohne verloren.“ Israel, das weiß er sofort, wird den Terror mit Krieg beantworten, und er vermutet: „Das Land wird nach dem Krieg sehr viel rechter, militanter und auch rassistischer sein“. Ängstlich fragt er: „Ist die winzige Chance auf einen wahren Dialog, auf ein irgendwie geartetes Abfinden mit der Existenz des jeweils anderen Volks nun für einige Jahre auf Eis gelegt worden, oder ist diese Aussicht womöglich auf ewig eingefroren?“ Dabei müsse doch jedem, der die Spirale der Gewalt durchbrechen will, klar sein: „Frieden ist die einzig Option.“

Was Grossman eine Woche nach dem „Schwarzen Schabbat“ formulierte, ist jetzt in einem Band mit Aufsätzen und Reden nachzulesen. Schon am 16. November 2023 fordert er in einer „Trauerrede für die Terroropfer“, den Hass zu überwinden und den „Mut zu einem ganz neuen Anfang“ aufzubringen.

Wie kann das denn funktionieren?

Grossman bleibt seiner Rolle als Friedensstifter treu. Bereits auf der „Münchner Sicherheitskonferenz“ von 2017 wies er darauf hin, dass der unablässige blutige Konflikt die Beteiligten „dermaßen deformiert, dass sie ihren eigenen existenziellen Interessen zuwiderhandeln.“ Die Politiker flehte er an: „Ich bitte Sie, alles zu tun, was in Ihren Kräften steht, um die beiden Seiten zusammenzubringen und den Dialog zu erneuern, dem beide schon seit Jahren mit der seltsamen Logik der Selbstzerstörung aus dem Weg gehen.“

Doch niemand mochte Grossman folgen. Dass seine Appelle nicht unumstritten sind, zeigt eine „Korrespondenz“ zwischen dem deutsch-iranischen Schriftsteller Navid Kermani und dem israelisch-deutschen Soziologen Natan Sznaider: Auf Kermanis Plädoyer für einen Frieden durch eine Zweistaaten-Lösung entgegnet Sznaider: „Wie kann denn so ein Palästina innerhalb von Gaza und Westbank funktionieren? Wie sollen sie denn in einem solchen Staatsgebilde leben? Da muss ja fast schon automatisch das Begehren bei den Palästinensern frei werden, dann doch lieber alles haben zu wollen. Ich sehe im Moment jenseits des Krieges keine Lösung und glaube nicht mehr an die Kompromissbereitschaft der anderen Seite. Der Terror wird weitergehen und somit auch die Reaktion auf den Terror.“ Bittere Aussichten.

David Grossman: „Frieden ist die einzige Option.“ Aus dem Hebräischen von Anne Birkenbauer und Helene Seidler. Hanser, 63 Seiten. 10 Euro.

Navid Kermani/Natan Sznaider: „Israel. Eine Korrespondenz“. Hanser, 64 Seiten, 10 Euro.

 




„Der doppelte Erich“ – wie Kästner sich durch die NS-Zeit lavierte

Erich Kästner scheint, von heute aus betrachtet, zu den Unbezweifelbaren zu gehören. War er nicht eindeutig „links“ und somit unverdächtig, es auch nur ansatzweise mit dem NS-Regime gehalten zu haben? Wenigstens bis in die späten 1960er Jahre galt er quasi als geheiligt, und bis heute scheint sein Andenken gegen Attacken gefeit. Sind seine Bücher nicht schon 1933 auf den schändlichen Scheiterhaufen der Nazis verbrannt worden? Ja, gewiss, so war es. Und doch…

…und doch gibt es jetzt ein bedenkenswertes Buch, in dem etliche Zweifel an seiner Redlichkeit laut werden. Diese Einwände lassen sich wohl nicht so einfach beiseite wischen. Kästner, schon am Vorabend des „Dritten Reiches“ mit Büchern wie „Emil und die Detektive“ (1931) weithin berühmt, ist alle die finsteren Jahre über – bis zum „bitteren Ende“ – in Deutschland geblieben, ja, er hat in dieser Zeit (wenn auch meist unter Pseudonymen schreibend) zuweilen gar nicht schlecht verdient. Propagandaminister Joseph Goebbels ließ Kästner gewähren, als der das Drehbuch des groß angelegten Films „Münchhausen“ (Kinostart März 1943, Hauptrolle Hans Alberts) zum Ufa-Jubiläum schrieb. Mit dieser Produktion wollten die NS-Machthaber zeigen, dass der längst „abgehängte“ deutsche Film Hollywood mindestens ebenbürtig war – natürlich ein lachhafter Trugschluss. Übrigens: Erst Hitler selbst setzte der stillschweigenden Schreiberlaubnis für Kästner ein abruptes Ende.

Nach 1933 nur Harmloses geschrieben

Buchautor Tobias Lehmkuhl, Journalist u. a. für „Zeit“, „FAZ“ und Deutschlandfunk, hat erwartungsgemäß gründlich recherchiert, um Kästner auf die teilweise verdächtigen Spuren zu kommen. Zwar trägt er viele, viele Fakten zusammen, doch muss er auch immer mal wieder spekulieren. Demnach ist es dann nicht unwahrscheinlich oder einigermaßen wahrscheinlich, dass Kästner zu dem oder jenem Zeitpunkt diesen oder jenen Menschen getroffen und dieses oder jenes Thema mit ihm besprochen hat. Na, wenn das so sein soll… Da steht spürbar so manches auf tönernen Füßen.

Der Buchtitel „Der doppelte Erich“ ist eine etwas wohlfeile, aber griffige Anspielung auf Kästners Erfolg „Das doppelte Lottchen“ (erst 1949 erschienen) und überdies ein Hinweis darauf, dass dieser Autor fast durchweg Maskierungs- und Doppelgänger-Geschichten ersonnen und erzählt habe. Daraus wiederum leitet sich die hartnäckig verfolgte Annahme her, dass er selbst ein Meister im Verschleiern und im geschickten Rollenspiel war. Während des „Dritten Reiches“ hat Kästner, der zuvor den beachtlichen „Fabian“ geschrieben hatte, nur noch Harmlosigkeiten wie „Drei Männer im Schnee“ oder „Die verschwundene Miniatur“ hervorgebracht. Er war, wie es hier heißt, sozusagen ein amputierter Autor, der sich hin und wieder sogar von der unmenschlichen Sprache der Faschisten (von Victor Klemperer LTI = „Lingua Tertii Imperii“ genannt) infiziert zeigte.

Kompromisse fürs (finanzielle) Überleben

Tatsächlich muss einem längst nicht alles sympathisch oder auch nur geheuer sein, was Kästner damals unternommen und unterlassen hat. Zwar hat ihm der von den Besatzern als deutscher Kronzeuge eingesetzte Carl Zuckmayer schon 1943 eine Art Unbedenklichkeits-Bescheinigung („Persilschein“) ausgestellt, doch hatte Kästner zuvor mehrfach nachdrückliche Versuche unternommen, in die NS-geführte Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden. Fürs finanzielle Überleben scheint er zu einigen (faulen) Kompromissen bereit gewesen zu sein. Er selbst stand übrigens unerkannt in hinterer Reihe dabei, als (auch) seine Bücher verbrannt wurden – und hat keinesfalls dagegen die Stimme erhoben, weil ihm sein Leben lieb war.

Nach dem Krieg hat Kästner Legenden verbreitet wie jene, dass er als einziger unter Tausenden bei einer Propaganda-Veranstaltung im Berliner Sportpalast nicht mitgesungen habe und nicht aufgestanden sei, was Tobias Lehmkuhl füglich in Zweifel zieht. Man darf wohl schließen: Ein Kurt Tucholsky, mit dem Kästner in den 20ern zusammengearbeitet hatte, war und ist sicherlich eine verlässlichere moralische Instanz als der zur Nonchalance neigende Kästner.

Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns

Der in Zeitungs-, Literatur- und Filmszene bestens vernetzte Caféhausliterat (eine Feststellung, keine Abwertung!) Kästner hat sich den Zumutungen der Zeit oft durch seinen Charme und durch Verhandlungsgeschick zu entziehen vermocht. Weiterhin pflegte er laut Lehmkuhl seinen verfeinerten Lebensstil zwischen Tennissport und Teintpflege. So detailfreudig wird sein Verhalten und werden seine beruflichen Freundschaften seit den „Goldenen“ Zwanzigern durchgespielt, dass mancherlei Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns sich offenbaren. Auch scheint Kästner hin und wieder Gesinnungs-Verrat an einstigen Mitstreitern verübt zu haben, womit er heftige Kritik z. B. von Walter Benjamin oder Klaus Mann (Wie sich das angepasst hat (…) bis zum morastischen Schlammgrund der Ufa-Presse“) auf sich zog. Gegen solche harschen Anwürfe nimmt auch Lehmkuhl seinen Protagonisten in Schutz. Überhaupt ist er bemüht, möglichst Mittelwege einzuhalten. Auch damit entspricht er seinem Thema, das man wahrscheinlich nicht anders als schwankend schildern kann.

Fragen zur „Inneren Emigration“

Ein eigenes Kapitel ist Kästners ebenfalls zwiespältigem Verhältnis zu Frauen gewidmet. Der Mann, der allzeit sein Dresdner „Muttchen“ (freilich arg geschönt und verharmlost) brieflich auf dem Laufenden hielt, gestand – damals keine Selbstverständlichkeit – seinen zahlreichen Liebschaften zwar einen eigenen Kopf und eigene Freiheiten zu, ließ aber gelegentlich Frauenverachtung durchblicken. Auch dafür bringt Lehmkuhl passende Belegstellen bei. Mit Treue hatte Kästner es eh nicht. Beispiel: Just als eine Gefährtin beim Autounfall verstarb, lag er mit einer anderen zu Bette. Etwas küchenpsychologisch werden folglich Vermutungen über seine Beziehungsunfähigkeit angestellt.

Noch einmal wirft dieses Buch häufig gestellte Fragen zur „Inneren Emigration“ auf, die auch anhand anderer Zeitgenossen (Gottfried Benn, Axel Eggebrecht etc.) aufgeworfen werden, wobei u. a. die wirklichen Emigranten Thomas Mann und Theodor W. Adorno als moralische Maßstäbe angelegt werden. Auch dabei gibt es kein reines Schwarz oder Weiß, es geht um vielerlei Grautöne. Hatte Kästner anfangs vielleicht wirklich noch angestrebt, einen größeren Roman übers „Dritte Reich“ zu verfassen und eben deshalb im Lande zu bleiben, so sind kaum Notizen für ein solches Projekt erhalten – geschweige denn, dass ein veritables Werk dieser Art entstanden wäre. Nur: Konnte jemand unter vergleichbaren Bedingungen wesentlich anders handeln als Kästner?

Gar lange lässt eine Schilderung von Kästners Nachkriegs-Existenz auf sich warten, die dann leider auch etwas knapp ausfällt. Speziell hätte mich zum Beispiel Kästners patenschaftliche Rolle bei Gründung des legendären Satiremagazins „Pardon“ (1962) interessiert. Aber das ist vielleicht noch mal ein anderes Kapitel.

Tobias Lehmkuhl: „Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“. Rowohlt Berlin. 305 Seiten, 24 Euro.




Ausstellung in der Dortmunder DASA knöpft sich „Konflikte“ vor

Diese Ausstellung beginnt buchstäblich bei Adam und Eva – präsent durch eine Gemälde-Reproduktion. Am biblischen Anbeginn der Menschheit erleben sie, wie unversehens Sünden und damit Konflikte in die Welt geraten. Mit Kain und Abel, die hier nicht direkt vorkommen, steuert schon die Frühzeit auf eine Eskalation zu.

„Gartenzwerg-Olympiade“ vor angriffslustigem Rot: Die Platzierung zeigt an, worüber sich Nachbarn in Deutschland am häufigsten vor Gericht streiten. (Foto: Bernd Berke)

Den schlichten Titel „Konflikte“ trägt die neue Schau in der Dortmunder DASA (Arbeitswelt Ausstellung). Sie kommt vom inhaltlich ähnlich gelagerten Museum der Arbeit aus Hamburg und zieht das Thema hie und da an Beispielen aus dem hohen Norden auf. Doch im Grunde bewegt sie sich auf universalem Gelände. Kurator Mario Bäumer hat all die Denkanstöße just in Zeiten zwischen hitzigen Corona-Debatten und Krieg in der Ukraine arrangiert. Beides wird nicht konkret aufgeführt, ist aber stets gegenwärtig.

Bist du Hai oder Teddybär?

Knapper Platz, weiter Horizont: Auf rund 280 Quadratmetern Ausstellungsfläche wird das Thema praktisch von allen Seiten her angegangen. Gleich zu Beginn dürfen an Medienstationen 20 einschlägige Gewissens-Fragen beantwortet werden, danach ist einigermaßen geklärt, welcher Konflikttyp man sei, z. B. Eule, Fuchs, Hai, Teddybär oder Schildkröte. Aha. Mit diesem etwas wackligen Wissen gerüstet, geht’s auf den kurzen Parcours. Doch welch‘ weites Feld zwischen Alltag und Wissenschaft tut sich hier auf!

Alle streiten miteinander – Faltblatt-Titelbild zur „Konflikt“-Ausstellung. (© ungestalt, Leipzig / DASA)

All das wird möglichst sinnlich vermittelt. Da finden sich etwa kleine dreidimensionale Schaubilder (sozusagen Mini-Dioramen) mit typischen Konflikt-Situationen. Zwei Figuren tragen einen symbolischen Streit um eine Orange aus. Ob sie sich jemals einigen können? Zahllose Lösungsvorschläge stehen auf Zetteln, die bereits vom Publikum in Hamburg beigesteuert worden sind. Anhand von bunten Gartenzwergen, die auf ein Siegerpodest gestellt werden dürfen (Platz 1, 2, 3 etc.), soll geraten werden, worüber sich Nachbarn in Deutschland am häufigsten vor Gericht zanken: Lärm, Parkplätze, Haustiere, Grundstücksgrenzen? Zuvor ist zu sehen, dass veritable Äpfel in zwei Kisten mit den Aufschriften „Konflikt“ und „Empörung“ angehäuft sind. Auch da gilt es zu wägen und zu differenzieren – in diesem Falle wortwörtlich mit „Zank-Äpfeln“.

Sauertöpfische Ermahnungen

Im Laufe des assoziativen Rundgangs begegnen uns etliche Konflikt-Sorten – vom inneren Konflikt und Beziehungskonflikten über den Generationenkonflikt und den derzeit mal wieder aktuellen Arbeitskampf bis hin zum erbitterten Streit um Denkmäler (Bismarck vs. Heinrich Heine) oder zum schwelenden familiären Konflikt bei Tisch: Eine Schauspielerin bringt dort via Film lauter sauertöpfische Ermahnungen zu Benimmregeln vor. Wer da nicht aus der Haut fährt! Wer mag, kann gleich nebenan auf zwei frontal zueinander aufgestellten Stühlen Platz nehmen und „Gehaltsverhandlungen“ führen. Einige Argumente pro und kontra lassen sich vom Schreibtisch ablesen. Wie praktisch! Gegen Schluss wird, sozusagen pflichtgemäß, auch noch der Konflikt ums Klima angetippt, recht übersichtlich mit der Frontstellung Aktivistinnen gegen beharrende Kräfte.

Spezieller Konflikt: entspannt nachgestellte Gehaltsverhandlung in der DASA-Schau. (Foto: Pia Kiara Hilburg)

Zwischendurch erhebt sich mehrfach die grundsätzliche Frage: Was ist überhaupt ein Konflikt? Ist ein kriegerischer Überfall oder auch eine Vergewaltigung noch ein „Konflikt“ – oder sind sie nicht vielmehr jäh in ein ganz anderes Stadium getreten? Müsste es bei einem Konflikt nicht noch irgend etwas zu verhandeln geben, müssten Kompromisse nicht wenigstens denkbar sein?

Ohne Konflikt kein Wandel

Aus anderer Perspektive fragt sich: Haben viele Konflikte nicht auch ihr Gutes und Notwendiges? Im Gefolge des Philosophen Georg Simmel, der zuerst ausdrücklich auf solche Gedanken kam, präzisierte später der Soziologe Ralf Dahrendorf die Bedeutung von Konflikten, mit denen häufig gesellschaftlicher Wandel angestoßen wird. Ohne Konflikte keine Veränderung. So manche Auseinandersetzung bringt eben mehr als (falsche, verlogene) Harmonie.

Allerdings geht es auch um den vernünftigen Umgang mit Konflikten, die – wiederum animalische Klischees – nach Art eines aggressiven Wolfes oder einer höhengerecht umsichtigen Giraffe betrieben werden könnten. Die Tiere verkörpern Gut und Böse, als gäb’s nicht allzu viel dazwischen. Doch eigentlich macht die Schau feinere Unterschiede und zieht dabei auch allerlei Chancen zur Vermittlung (Mediation) in Betracht.

Vielleicht könnten die derzeit offenbar zerstrittenen Habeck, Lindner, Scholz, Baerbock & Co. ja mal eben in der Dortmunder DASA vorbeikommen und über ihre ständigen Ampel-Konflikte nachsinnen. Sollte Olaf Scholz etwa ein Teddybär sein? Oder doch ein Fuchs?

„Konflikte. Die Ausstellung“. 24. März 2023 bis 28. Januar 2024. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Geöffnet Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Eibtritt 6 Euro, ermäßigt 3 Euro, Kinder/Jugendliche bis 18 Jahre frei. Begleitprogramm mit Workshops, u. a.  für Schulklassen (Besucherservice: 0231 / 9071-2645).

www.dasa-dortmund.de




Wenn das Ungeheuerliche alltäglich wird, gewöhne dich (nicht) daran…

Einbahnstraße zum Pfandhaus. (Foto: Bernd Berke)

„Gewöhn dich nicht.
Du darfst dich nicht gewöhnen.“

So lauten zwei Gedichtzeilen Hilde Domins. Doch liest man die Gazetten, hier im Ruhrgebiet vor allem die der Funke Mediengruppe, oder sieht fern (also weder weit noch tief), dann lautet der einem jetzt überall entgegenschlagende Imperativ: „Gewöhn dich endlich. Du sollst dich gewöhnen!“

Unter dem Deckmantel journalistischer Objektivität (meist also: fehlender Haltung) werden die Welt-Erklärungen aus den oberen Etagen einer sich selbst zur Elite stilisierenden Geld- und Machtkaste an das Wahlvolk durchgereicht. Nur wenige Journalisten/Formate versuchen, der Meinungsmache in oder außerhalb medialer Blödmaschinen etwas entgegenzusetzen. Lieber bleibt die Journaille im Mitläufer-Pulk, gebiert unaufhörlich neoliberale Kopflanger, jene Tuis, die Brecht einst so beschrieb: „Der Tui ist der Intellektuelle dieser Zeit der Märkte und Waren. Der Vermieter des Intellekts.“ Sofern denn von Intellekt noch die Rede sein darf.

Geistmangellage

Gerne würden diese Tuis eine manchmal noch zu störrische Masse an Worte wie „Krieg“, „Waffenlieferung“, „Inflation“ oder auch „Energiearmut“ gewöhnen. Ein Wort, das jüngst sogar der Eigentümerverband „Haus und Grund“ benutzte und das hier ausgerechnet einmal nicht die Verknappung der Energiereserven meinte, sondern den miserablen Zustand jener Menschen, die zu neuen Armen werden oder arme Alte bleiben, weil sie die horrenden Energiepreise hochsubventionierter Kartelle und Konzerne nicht mehr zahlen können. Und das, obwohl die Erdgaspreise erheblich sinken und die vielbeschworene Gasmangellage ausgefallen ist.

Aber die Ölpreise legen doch zu? Kein Problem, meldet boerse.de: „Starke Gewinne auf Wochensicht“ – für Unternehmen und Aktionäre selbstverständlich. Mir dagegen teilt man mit, dass die Strom-Vorauszahlung trotz „Gaspreisbremse“ um knapp 35 Prozent steigen wird. (Und nebenbei: Gewöhne dich auch daran, dass nicht nur die sogenannten „Schwarzen Schafe“ unter den Wohnungseigentümern schon jetzt ihre Mieter bei Mieterhöhungen und Nebenkosten obszön abzocken; Stichwort „Index-Miete“). Gewöhne dich an Wohnungsnot und Obdachlosigkeit, auch, weil Hunderttausende Sozialwohnungen fehlen und der Wohnungsmarkt – politisch flankiert – schon lange zur Beute von Investoren, Spekulanten und Maklern geworden ist.

Wortgemetzel

Gewöhne dich an Bürgergeld als Würgegeld. Gewöhne dich an ein Ende der Maskenpflicht und daran, dass viele ihre Maske niemals ablegen werden. Gewöhne dich daran, dass auf der „Achse des Bösen“ immer die anderen die Schurken sind: „Klimaterroristen“ zum Beispiel, Pazifisten, Migranten, ukrainische Flüchtlinge und ihr „Sozialtourismus“. Mit Worten werden Menschen abgerichtet, in vielen Teilen der Welt sogar hingerichtet als „Gotteslästerer“, „Präsidentenbeleidiger“ oder „Agent“ und nicht zuletzt „Vaterlandsverräter“, ein Wort, das vielleicht demnächst auch bei uns wieder Konjunktur haben könnte.

Preis-Lohn-Spirale

Gewöhne dich daran, dass du hinters Licht in die Dunkelheit geführt wirst, dass du besser das Kurzgemeldete und Kleingedruckte auf Wirtschaftsseiten lesen solltest und jenes, das zwischen und hinter den Zeilen steht, wenn du dem Klima systematisch geschürter Angst und Kriegstreiberei etwas entgegensetzen willst. Dann wirst du nicht verblüfft sein, wenn von dpa gemeldet wird, dass die deutsche Wirtschaft Krieg und Krise trotzt: „Die angesichts von Ukraine-Krieg, Rekordinflation und Energiepreisschock düsteren Prognosen erfüllten sich nicht. Stattdessen war das BIP 2022 preisbereinigt um 0,7 Prozent höher als 2019, dem letzten Jahr vor der Pandemie.“ Frag nicht nach, mit welchen offenen und versteckten Subventionen das gelungen ist, während sie Gewerkschaften und Arbeitnehmern predigen, dass eine Lohnerhöhung, die auch nur in die Nähe eines Inflationsausgleichs käme, die deutsche Wirtschaft zerstören und global wettbewerbsunfähig machen würde.

Der Autor beim Mülltauchen in der Dämmerung - Selfie

Der Autor beim Mülltauchen in der Dämmerung (Selfie)

Gewöhne dich an Worte wie „Aktienrente“, mit denen sich der Staat endgültig als Sozialstaat verabschiedet und so tut, als könnte er ausgerechnet über Finanzspekulation den Lebensabend der Alten sichern, also mit Hilfe jener Hasardeure, die global die Existenzgrundlagen vieler Menschen gründlich zerstören. Gewöhne dich daran, dass auf lange Sicht unter dem Deckmantel von Freiheit und Selbstverantwortung die finanzielle Absicherung des Alters den Einkommensschwachen selbst aufgebürdet werden wird. Spätestens Friedrich Merz, der Ex-BlackRocker, wird als Kanzler dafür sorgen. Und Lindner stielt es schon heute ein. „Privatisierung“ heißt vor allem, was vielen Menschen jede menschenwürdige Privatheit verweigert.

Gewöhne dich an die weitere Nutzung von Atomkraft, an den Einkauf von Fracking-Gas, an die vorläufige „Endlagerung“ von Brennstäben und CO₂, an die Öldeals mit menschenverachtenden Regimen.

Hoch die nationale Solidität!

Gewöhne dich nach der Ökonomisierung aller Lebensbereiche auch an die Militarisierung der Sprache und des Denkens, an „Sondervermögen“, also horrende Schulden zur Nach- und Hochrüstung, aus denen kommende Generationen nie mehr herauskommen werden, eine Erblast, so zerstörerisch wie die Folgen der Klimakatastrophe. Gewöhne dich daran, dass „der Krieg“ neben der Menschlichkeit an den Fronten vor allem nach innen Tugenden und Werte einer zivilen Friedensgesellschaft zerstört und toxische Männlichkeit neuerdings zu Heroismus verklärt wird. Als Waffen-Narr trägt man Camouflage-Shirts, als Etappenhase beantragt man vorsichtshalber den kleinen Waffenschein. Der Krieg heiligt die Mittel, aber leider frisst er auch seine Kinder. Gewöhne dich an Doppel- und Dreifachmoral, daran, dass Menschenrechte und „unsere westlichen Werte“ nur noch in Sonntags- und Fensterreden vorkommen, aber nirgendwo mehr gelebt werden.

Gewöhne dich an „Übergewinne“ bei Rüstungsfirmen, Energieriesen, Kriegs- und Krisengewinnlern, die aber kaum etwas davon an das Gemeinwesen abzuführen haben, um bessere Infrastrukturen, offenere Bildungseinrichtungen oder medizinische Versorgung abzusichern und weiterzuentwickeln. Gewöhne dich an Kummer und Cum-Ex, an Suizid und Success.

Trümmermänner: Aufgewachsen als Ruinen

Gewöhne dich an korrupte Politikerinnen und Politiker und an Medien als Beifall-Klatschblätter. Medien, die meist jenen gehören, die hierzulande vor und hinter den Kulissen den Ton und die Börsenkurse angeben. Gewöhne dich an Putinismus, Trumpismus, Gottesstaaten, Autokraten, Oligarchen und Superreiche wie Musk, die jeden Rest von Demokratie endgültig aushöhlen werden. Gewöhne dich daran, dass die AfD und damit ausgewiesene Faschisten in ihren Reihen als koalitionsfähig gelten und hetzende Antisemiten als meinungsstark: Wer, wenn nicht die werden ja wohl noch sagen dürfen, was wir Verblödeten uns zu sagen (noch) kaum trauen.

Gewöhne dich an den Gedanken eines alltäglichen Gangs zur Tafel e.V., wo sie dir einen verwelkten Kohlkopf in den Korb legen werden, einen Joghurt jenseits des Haltbarkeitsdatums, aber nur, falls du deine Armut umfassend nachweisen kannst. Gewöhne dich daran, dass du so nur ungleich Ärmeren einen Platz in der Warteschlange der Lebensmittelausgabe wegnehmen wirst. Wie gut für uns, dass Containern bald straffrei bleiben soll.

Tauche also ein in den Müll der Millionen und Milliardäre, dann kannst du jedweden Hunger getrost vergessen. Doch gewöhne dich an eine Scham, der du nicht mehr entkommen wirst.




Die vielen Lügen entlarven – Europas Faktencheck-Teams schließen sich zusammen

Seit 23. Februar online: Screenshot der neuen GADMO-Faktencheck-Homepage.

Eigentlich zutiefst betrüblich, dass so etwas nötig ist, aber: Faktenchecks werden in diesen Zeiten dringend gebraucht. Spätestens seit Corona ist es bekannt, erst recht seit Russlands Kriegsüberfall auf die Ukraine.

Es sind viel zu viele Lügen und Fälschungen auf dem medialen Markt und in den „sozialen Netzwerken“ unterwegs, die nicht so ohne weiteres entlarvt werden können, sondern nach journalistischer und sonstiger Expertise sowie hartnäckiger Recherche verlangen. Nun gibt es einen professionellen Zusammenschluss auf europäischer Ebene, der sich genau dies zur Aufgabe gemacht hat. Gegenwärtig sind in diesem Rahmen rund 100 spezialisierte Journalistinnen und Journalisten vorzugsweise in Sachen Faktenchecks tätig. Das Projekt, das wissenschaftlich begleitet („evaluiert“) werden soll, wurde jetzt auf einer von der Dortmunder Uni (TU) eingerichteten Online-Pressekonferenz vorgestellt.

Zertifizierung nach strengen Regeln

Beteiligt sind im deutschsprachigen Raum (ohne Schweiz) die Deutsche Presseagentur (dpa), deren österreichisches Pendant APA, das in Essen angesiedelte Recherche-Netzwerk Correctiv, das Institut für Journalistik sowie Statistiker der TU Dortmund und – als Verbindungsglied zu Europa – die französische Nachrichtenagentur Agence France Presse (AFP). Auch IT-Fachleute sind mit an Bord. Der deutsch-österreichische Zweig des kontinentalen Projekts nennt sich abgekürzt GADMO (German-Austrian Digital Media Observatory), informiert über eine nagelneue Homepage (gadmo.eu) und geht mit je eigenen Ressourcen, aber auch namhaften EU-Mitteln an den Start. Alle Beteiligten sind nach den strengen Faktencheck-Kriterien des IFCN zertifiziert.

Über 14 sogenannte Hubs (Knotenpunkte) werden sämtliche EU-Mitgliedsländer einbezogen, sogar (man muss es leider eigens betonen) Ungarn, wo gesteigerter Bedarf wahrlich gegeben ist. Als Nicht-EU-Länder bleiben Großbritannien und die Schweiz allerdings außen vor. Man kann nur hoffen, dass sie auf andere Weise Anschluss finden und sich zu helfen wissen.

Angesichts der vielen Beteiligten kann es passieren, dass dieselben Themen mitunter mehrfach untersucht werden. Kein Problem, wie es heißt. Vielleicht erhellt die Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven die Dinge sogar noch gründlicher. Und falls dabei Widersprüche auftauchen? Das wird sich finden.

Unterwegs zu einem „Frühwarnsystem“

Da Fakes und Desinformationen dermaßen weit verbreitet sind, ist es nicht mit einzelnen Überprüfungen getan. Ein mittelfristiges Ziel ist es, wiederkehrende Muster falscher Faktenbehauptungen zu sammeln und auf dieser Basis künftig möglichst im Voraus zu erkennen. So ließe sich eine Art „Frühwarnsystem“ errichten, etwa im Vorfeld von Wahlen. Auch Künstliche Intelligenz (KI) soll dabei helfen – ein Mittel, das freilich auch von den Gegenseiten genutzt werden dürfte. Es ist ein Informations-„Krieg“, in dem beide Lager nach Kräften aufrüsten. Und gewiss sind die Probleme nicht auf Europa beschränkt, sondern globaler Art.

Die folgende Erkenntnis gehört zu den gar häufig zitierten Standards, die man kaum noch hören mag, aber es stimmt ja immer wieder: Das erste Kriegsopfer ist die Wahrheit. Also haben die in GADMO zusammengeschlossenen Faktencheck-Teams derzeit vor allem mit Russland und der Ukraine zu schaffen. Da wurden und werden etwa Fotos aus dem Zusammenhang gerissen und/oder neu montiert, so dass sich deren Aussagen grundlegend ändern. Auf einmal werden beispielsweise irgendwo stationierte Panzer zu finnischen Gerätschaften umdeklariert, die vermeintlich Russland bedrohen. Wer so etwas glaubt, könnte schrecklich falsche Konsequenzen ziehen.

Zwischen Wolfsrudeln und Schokoladensorten

Ein weiterer Evergreen lautet ungefähr so: „Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Auch das rührt an ein dauerhaftes Problem: Häufig werden obskure Studien und Zahlenkolonnen angeführt, die nur mit viel Aufwand zu widerlegen oder wenigstens einigermaßen zu klären sind. Es gibt so viele Unwahrheiten, aber letztlich nur eine Wahrheit – wenn sie sich denn überhaupt dingfest machen lässt. Manchmal scheint es, als sei es ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Aber aufgeben wäre fatal. Schließlich zielen zahllose Fakes auf die Substanz demokratischer Gesellschaften.

Wie ein kurzer Probelauf über die neue Homepage zeigt, geht man auch etwas harmloseren Gerüchten über bedrohliche Wolfsrudel (angeblich in Österreich, in Wahrheit in Kanada) nach oder recherchiert der eher absurden Behauptung hinterher, demnächst werde es die „Ritter Sport“-Schokolade auch in der Geschmacksrichtung „Ganze Grille“ geben – im Zuge der EU-Erlaubnis, bestimmte Insekten als Nahrungsmittel zuzulassen. Stimmt natürlich nicht. Aber auch das will erst einmal bewiesen werden; wobei andere Handlungsfelder ungleich wichtiger sind.

Hilfestellungen zur Medienkompetenz

Auf der besagten Homepage sollen Monat für Monat etwa 100 Faktenchecks hinzukommen. Auf diese Weise soll und dürfte sich auch das komplett durchsuchbare Archiv rasch füllen. Beim „Durchblättern“ (vulgo: Scrollen) wird man sich wohl für allerlei Falschmeldungen sensibilisieren können. Auf der Homepage finden sich Kontaktwege für alle User, über die Fachwelt hinaus – via WhatsApp. Apropos Breitenwirkung: Weitere Aufgabe der Faktenchecker sind Angebote zur Steigerung der „Medienkompetenz“, sprich: Wir alle sollen besser gegen Lug und Trug gewappnet werden und im Idealfalle irgendwann selbst in der Lage sein, Falschnachrichten gleichsam zu „wittern“. Dazu wird es hin und wieder spezielle Workshops geben. Wie wär’s außerdem mit gezielten Aktionen an den Schulen?

Ein österreichischer Fachpublizist („Ich habe 15 Bücher veröffentlicht“) gab in der Pressekonferenz zu bedenken, dass man strikt unterscheiden müssen zwischen der Überprüfung von Fakten und von Meinungen. Manchmal sei das kaum zu trennen. Die online anwesenden Faktencheck-Leute wiesen etwaige Meinungs-Kontrollen weit von sich. Überdies gebe es jederzeit Beschwerde-Möglichkeiten. Zur guten Recherche gehöre es außerdem, eigene Fehler öffentlich zu machen.

Übrigens: Wie einigen Statements nebenher zu entnehmen war, kooperieren die Faktencheck-Teams punktuell auch mit machtvollen Online-Akteuren wie Google und Meta (Facebook). Diese Verbindungen sollten unbedingt aufrecht erhalten werden – ohne die eigene Unabhängigkeit und Transparenz auch nur im Mindesten einzuschränken.

Deutschsprachige Homepage: gadmo.eu
Europaweites Projekt: edmo.eu

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Hier noch einige Namen aus der Leitungs- und Organisations-Ebene des Projekts:

  • Stephan Mündges, Institut für Journalistik, TU Dortmund,
    GADMO-Koordinator
  • Prof. Christina Elmer, GADMO-Koordinatorin, Institut für Journalistik der TU Dortmund
  • Uschi Jonas, Team-Leiterin CORRECTIV.Faktencheck und Florian Löffler, Projektleiter EFCSN & GADMO bei CORRECTIV
  • Teresa Dapp, Leiterin der Faktencheck-Redaktion der dpa, Tobias Schormann, Faktencheck-Koordinator für Ausschreibungen & Projekte der dpa, und Kian Badrnejad, Faktencheck-Redakteur der dpa
  • Christian Kneil, Head of Content Business und Mitglied der APA-Chefredaktion, und Florian Schmidt, Verification Officer und Leiter von APA-Faktencheck
  • Yacine Le Forestier, AFP, stellvertretender Direktor für Europa, und Isabelle Wirth, Projektleiterin GADMO bei der AFP.



Im Dunstkreis russischer Propaganda: Teodor Currentzis dirigiert Verdis „Messa da Requiem“ im Konzerthaus Dortmund

Teodor Currentzis nimmt im Konzerthaus Dortmund den Beifall entgegen. Rechts ist der Sänger Matthias Goerne zu sehen. (Foto: Holger Jacoby)

Darüber lässt sich keine übliche Konzertkritik schreiben: In Dortmund tritt ein Dirigent auf, der sich bisher erfolgreich um eine eindeutige Distanzierung von Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine gedrückt hat, sich mit seinem Ensemble aber nach wie vor von Sponsoren mit Putin-Nähe fördern lässt.

Teodor Currentzis bringt ins Konzerthaus  statt der angekündigten konzertanten „Tristan und Isolde“-Aufführung Giuseppe Verdis „Messe da Requiem“ mit. Ein Statement gegen den Krieg? Der Abend in Dortmund sieht nicht so aus: Die bürgerliche Kunstreligionsfeier geht ungebrochen vor sich; im Programmheft ist kein Wörtchen zu lesen, das der Aufführung irgendeine über den Event selbst hinausgehende Bedeutung geben würde. Das Publikum im nicht ganz vollbesetzten Saal begrüßt Chor und Orchester von MusicAeterna mit verhaltenem, aber langem Beifall. Als Currentzis mit viertelstündiger Verspätung aufs Podium springt, gibt es bereits einzelne Bravos. Der Schlussbeifall ist ebenfalls durchmischt mit – künstlerisch verdienten – Anerkennungsrufen. Gilt’s also nur der Kunst?

Auf Gazprom-Tournee

Wenn es so einfach wäre, hätte sich die Kunst tatsächlich aus der gesellschaftlichen Relevanz verabschiedet. Denn im Falle von Currentzis und MusicAeterna geht es nicht um moralische Bewertung privater Meinungen oder um idealistischen, von den Niederungen der Politik elfenbeinern abgeschiedenen Musik-Enthusiasmus, sondern es geht um ein Ensemble und einen Dirigenten, die auf Gazprom-Konzerttour gegangen sind, als die sogenannte Spezialoperation längst im Gange war. Das Verdi-Requiem, das nun in Dortmund zu hören war, gab es kurz zuvor in Sankt Petersburg – und das etwa ohne Förderung von Gazprom oder der sanktionierten VTB-Bank, deren Sponsoring schon vor dem Krieg auf Kritik stieß?

Currentzis hat sich medial wahrnehmbar nicht einmal mit einer allgemein gehaltenen Aussage gegen Krieg und Gewalt von dem distanziert, was da seit Monaten in Europa an Grausamkeiten verübt wird. Er schweigt und entzieht sich den Fragen von Medien – und die machen, wie der Musikjournalist Axel Brüggemann dokumentiert hat, problemlos mit. Wo sonst um jede Straßenumbenennung eine Debatte geführt wird, ist die Haltung eines Nutznießers des Putin-Systems offenbar nicht der hartnäckigen Nachfrage wert. Dabei ist es naiv anzunehmen, man könne in der gegenwärtigen politischen Situation einfach nur Kunst um der Kunst willen genießen: Currentzis wird, ob er will oder nicht, Bestandteil der russischen Propaganda; ein Teil eines kulturellen Krieges, der nicht nur auf den Schlachtfeldern in der Ukraine ausgefochten wird.

Problematische Finanzierung

Die Kölner Philharmonie hat klare Kante gezeigt und ein Konzert mit Currentzis und dem SWR Sinfonieorchester abgesagt. So weit gingen weder der Ex-Dortmunder Benedikt Stampa in Baden-Baden noch Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech. Dem Bayerischen Rundfunk sagte er über die Finanzierung, er halte sie für kritisch, wisse aber, dass das nicht so schnell änderbar sei. Das mag so sein, aber wenn ein Ensemble keinerlei Indizien erkennen lässt, dass es seine Finanzierung von problematischen Sponsoren unabhängig gestalten könnte, ist das auch ein Statement. Und ob ein Klangkörper mit einem Sony Classical Exklusivvertrag und Hochglanz-Auftritten in ganz Europa – einem umstrittenen Event bei den Salzburger Festspielen dieses Jahres eingeschlossen – beim Abschied von problematischen Sponsoren gleich an den Rand seiner Existenz geraten würde, ist fraglich: Vielleicht hätte sich nach einer Distanzierung ein neuer Sponsor gefunden, der solchen Mut gewürdigt hätte?

Immerhin schließt von Hoensbroech weitere Auftritte von MusicAeterna im Konzerthaus Dortmund vorerst aus. Einige Musiker, die sich in sozialen Medien für den Krieg positioniert hatten, wurden suspendiert – ob nur für den Auftritt in Dortmund oder auf Dauer, ist unklar. Dazu zählt auch der Geiger, der in einem Video-Post angekündigt hatte, er zerstöre Deutschlands Wirtschaft, und dazu ein Heizkörperventil aufgedreht hat. Den Witz muss man nicht verstehen. Aber er könnte wohl auch als Indiz für die Haltung in Teilen der Orchesters verstanden werden und damit mehr als nur eine individuelle Entgleisung darstellen.

Die Kunst muss sich nicht verstecken

Um die Kunst soll es nun aber auch gehen – und in dieser Hinsicht braucht sich MusicAeterna nicht zu verstecken. Schon im „Te decet hymnus“ gibt der Chor eine erste Probe seiner Präzision, die sich im Verlauf des „Dies irae“ und in der „Sanctus“-Doppelfuge atemberaubend bestätigt. Selten ist diese oft als musikalisches Schlachtengemälde missverstandene Sequenz so durchhörbar und genau gestaltet zu erleben. Currentzis wägt sorgfältig ab, welche Gruppen im Orchester gerade dominieren und welche zurücktreten sollen, erzeugt so einen tief gestaffelten, bei aller Wucht variablen Klang, lässt hören, dass Verdi hier keine bloße Überwältigungsstrategie fährt und die differenziert ausgearbeitete Partitur nicht als Lektürevergnügen, sondern als blutvoll ausmusizierte Vorlage dienen soll.

Dass Currentzis mit seinen Manierismen nicht bricht, ist jedoch auch hörbar. Die Celli zu Beginn sind in ihrer absteigenden Dreiklangfigur kaum wahrnehmbar: Ein solch übertriebenes Pianissimo ist nicht im Sinne Verdis, der von den Instrumenten einen leisen, aber sonoren Klang verlangt. Der Chor singt das erste „Requiem“ nicht, sondern murmelt es vor sich hin, so wie er in „Quantus tremor“ das Zittern vor dem Weltenrichter flüsternd skandiert. Die Piano-Abstufungen gestaltet er jedoch meisterlich, auch wenn ihm dann die süße Wendung zum „lux perpetua“ nicht so recht gelingen will. Das „Te decet“ setzt nicht nur einen entschiedenen Kontrast, sondern platzt heraus: Da wäre weniger mehr gewesen. Zum „Dies irae“ bringt sich Currentzis in Stellung, aber er verzichtet tatsächlich auf Effekthascherei, schafft es stattdessen, den Sinn des Textes ausdeuten zu lassen, schafft es auch, „teste David cum Sibylla“ entspannt zurückzunehmen, damit sich die Kräfte der Dynamik wieder ballen und erneut losbrechen können.

Teodor Currentzis mit seinen Solisten. (Foto: Holger Jacoby)

Die Auswahl der Solisten hängt wohl mit dem ursprünglich geplanten „Tristan“ zusammen: Weder Andreas Schager – einer der führenden Tristan-Sänger heutiger Tage –, noch der Liedsänger Matthias Goerne passen in Verdis vokales Profil. Und sie harmonieren nicht mit dem Sopran Zarina Abaeva und dem Mezzo Eve-Maud Hubeaux, was vor allem im nur leise harmonisch gestützten Quartett („fac eas de morte transire ad vitam“) durch zerrissenen Klang Schmerz bereitet. Andreas Schager müht sich bewundernswert darum, seine Soli textsinnig und klangschön zu gestalten, aber schon das „Kyrie“ ist nicht leuchtend, sondern nur laut. Ein schönes Legato fällt ihm schwer. Im „Ingemisco“ sucht er den bittenden Ton, aber die Stimme ist nicht geschmeidig genug, auch nicht, um das „Inter oves“ in seinem fast kindlichen Flehen in einen schwerelosen Klang zu kleiden. Zarina Abaeva erweist sich dagegen als stilgewandte Verdi-Sängerin, die sich nicht zu vibratosatter Tongewalt hinreißen lässt und die Höhe auch im Piano sicher ans Zentrum anzubinden weiß. Ihr „Libera me“ erfleht sie sich von der Chorempore herab; vielleicht bleibt seine innere Bewegung deshalb etwas blass.

Eve-Maud Hubeaux und Andreas Schager. Foto: Holger Jacoby)

Nichts bleibt ungesühnt

Bei Matthias Goerne spürt man die Qualität des Liedgestalters: Kaum einer singt das dreimalige „mors“ jedes Mal anders aufgeladen – erschüttert, bitter, resigniert; kaum einer gestaltet die rhythmische Feinheit des „Hostias“-Beginns so klug wie Goerne. Aber schon im Kyrie befremdet der gewohnte, weit hinten gebildete, kehlige Klang der Stimme, der sich zu gurgelnder Intensität steigert und einen sinistren Gegensatz zum schlank-samtigen Timbre von Eve-Maud Hubeaux aufbaut. Die Schweizer Mezzosopranistin – die Amneris der Salzburger Festspiele 2022 und Eboli der Wiener Staatsoper 2020 – ist kein breiter italienischer „Contralto“, sondern eine präsent artikulierende Sängerin mit einer definierten Emission, die nur im Wechsel in die Bruststimme („latet apparebit“) ihren ästhetischen Ton nicht mitnehmen kann.

Hubeaux singt in der mittelalterlichen „Dies irae“-Sequenz den einen Satz, der sich in der gebannten Stille nach dem Verklingen des letzten „Libera me“ (und eines prompt einsetzenden Handy-Gebimmels) aufdrängt: „Nil inultum remanebit“. Nichts bleibt – glaubt man denn an einen Gott und ein Weltgericht – ungesühnt. Dieser Satz sollte den Mächtigen in den Ohren gellen, die heute ihre Gewaltorgien in der Ukraine und in vielen Teilen der Welt toben lassen. Der gerechte Gott ist die Hoffnung der Opfer. Das wäre das Statement dieses Requiems.




Die „Hitlerwerdung“ Adolf Hitlers – Feridun Zaimoglus riskanter Roman „Bewältigung“

Als Romangestalt bleibt der Autor namenlos. Zunehmend scheint es so, als hätte eine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen, so dass er gar kein Individuum mehr sein kann; als hätte er sich selbst verloren. Dahinter steht ein furchtbar monströses Projekt: Er hat sich vorgenommen, einen Roman zu schreiben, dessen Hauptperson Adolf Hitler ist. Genauer: Es geht um die frühen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, sozusagen um die „Hitlerwerdung“ Hitlers.

Besagter Autor hat Dutzende von Büchern durchgearbeitet, die das „Phänomen“ Hitler erschließen sollen. Er hat sich auf Recherche-Reise begeben – nach Bayreuth, wo Winifred Wagner den späteren „Führer“ angehimmelt hat; nach München, wo er einige Lieblingsorte Hitlers aufsucht; nach Dachau; zum Obersalzberg.

Mehr und mehr muss der Autor sich Hitler als glaubhafte Romanfigur anverwandeln, sonst hätte das Schreiben ja gar keinen Zweck. Hitler steckt in seinem Kopf, in seiner Psyche. Es sieht so aus, als käme der Schreibende aus dieser Zwangslage nicht mehr heraus. Lässt sich – bei aller schmerzlichen Anstrengung – überhaupt etwas wesentlich „Neues“ über Hitler herausfinden? Wie war das noch mit dem Diktum „Zu Hitler fällt mir nichts mehr ein“, das fälschlicherweise Karl Kraus zugeschrieben wird?

Feridun Zaimoglu, zwar 1964 in der Türkei geboren, aber seit seinem sechsten Lebensmonat in der Wahlheimat Kiel „ein deutsches Leben“ führend, wie er es selbst nennt, hat sich mit seinem Roman „Bewältigung“ ein denkbar belastendes Thema vorgenommen. Sein Buch enthält zahllose Passagen, in denen der fiktive Autor (und mit ihm Zaimoglu selbst) gedanklich und sprachlich beängstigend nahe an Hitler herangeführt wird. Wer immer sich in diesen Massenmörder dermaßen hineinversetzt, kann nicht einfach „normal“ weiterleben. Nicht nur nebenbei sei’s gesagt: Es gibt hierzulande gewiss nicht viele Autoren, die sprachmächtig genug sind, um solch ein Unterfangen zu beginnen. Da muss manches aus dem zeitgeschichtlichen Urschlamm hervorgeholt und gesagt werden, was eigentlich nicht sagbar ist. Zaimoglu und sein Autor taumeln auf schmalem Grat. Praktisch alle, die vom Hitler-Projekt erfahren, sind zutiefst befremdet.

Es stellt sich die Frage, ob solch ein Projekt auszuhalten ist. Eine irgendwie fassbare Romanfigur muss – so verbrecherisch sie sei – auch menschliche Eigenschaften haben, womöglich Traumata, die aus der biographischen Frühzeit herrühren. Um sie aufzuspüren, muss man sich tief ins Innere begeben. Daraus geht man nicht schadlos hervor, denn diese Figur ist ja recht eigentlich unfassbar. Je konsequenter man Hitlers Wesen nachzeichnen will, umso mehr ist es zum Verrücktwerden. Da hilft es auch nicht, sich in einen Opferstatus hineinzuversetzen, indem man sich eine KZ-Nummer in die Haut ritzt. Ist nicht jede „Bewältigung“ nur Beschönigung?

Seltsam genug, dass der Autor Hitler zumeist „den Österreicher“ oder „Menschenschwein“ nennt. Im Verlauf seiner Untersuchungen stößt dieser Schriftsteller auf mancherlei Vorlieben und Abneigungen Hitlers, er erwägt dessen Verhältnis zu Frauen, zu seiner Mutter und zu Hunden, geht zu den Quellen seiner rassistischen Raserei, untersucht sein verkorkstes Verhältnis zur Kunst. Gar manches klingt plausibel (sofern man es überhaupt so sagen kann) und trifft den schnarrenden Tonfall jener Zeiten, anderes streift beinahe zwangsläufig die läppische Kolportage. Was soll es besagen, dass Hitler als Achtjähriger angeblich einem Ziegenbock ins Maul gepisst hat? Dass er für gewöhnlich sieben Stück Zucker in seinen Tee rührte? Was für lachhafte Exzesse!

Aus vielen, vielen Notizen schält sich ein Kernsatz heraus, mit dem der Autor seinen Roman beginnen lassen will. Er bezieht sich auf eine Verwundung Hitlers durch britisches Gas in Ersten Weltkrieg. Damals in Flandern wäre Hitler fast dauerhaft erblindet, seither sei er von Gas besessen gewesen. Welch ein Ansatz, wenn man die späteren Vernichtungslager mitdenkt…

Hitler wird, aller Annäherung zum Trotz, nicht nur als Einzelmensch geschildert. Immer wieder geraten auch die willfährigen Helfer in den Blick, die ihn erst möglich gemacht haben. Doch auch darin geht die Geschichte nicht auf. Noch immer ist nicht bis ins Letzte ergründet, warum so viele Menschen Hitlers Wahn geradezu rauschhaft gefolgt sind.

Eine weitere Ebene zieht  Zaimoglu in den Roman ein, indem er seinen Autor Sprach- und Integrations-Unterricht für Geflüchtete aus dem arabischen Sprachraum erteilen lässt. Da stellt sich auf noch einmal ganz andere Weise die Frage nach dem Deutschsein an sich. Es zeigt sich, dass das Thema keineswegs „erledigt“ ist. Wohl jede Generation hat hierin eine Herkulesaufgabe. Das betrifft auch jene Menschen, die dauerhaft in dieses Land kommen. Sollte sich da ein Hoffnungsschimmer verbergen?

Feridun Zaimoglu: „Bewältigung“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 268 Seiten. 24 Euro.




Am atomaren Abgrund: Buch über die Kubakrise 1962

Es waren wahrlich dramatische Tage – damals, im Oktober 1962. Wir („My Generation“) waren damals Grundschulkinder und haben kaum etwas von der Kubakrise mitbekommen. Die Medienwelt war noch längst nicht so unabweislich allgegenwärtig.

Man erschrickt noch 60 Jahre im Nachhinein zutiefst, wenn man sich das alles heute vergegenwärtigt; erst recht in Zeiten des europäischen Krieges in der Ukraine. Es ist, als wären wir wieder näher an „1962″ herangerückt.

Schon damals stand die Welt am atomaren Abgrund. Für die Vereinigten Staaten galt als Leitlinie noch nicht die später abgestufte „flexible response“, sondern das Prinzip der „massive retaliation“, also gleich der Griff ins ganze apokalyptische Arsenal.

Bloße Chronistenpflicht?

Rainer Pommerin (Jahrgang 1943), pensionierter Oberst und Geschichtsprofessor, schlägt nicht den großen Bogen einer etwaigen „Neudeutung“ der Kubakrise, sondern erzählt das Geschehen getreulich Punkt für Punkt und Tag für Tag nach, übrigens auch mit jenem Fokus auf Waffentechnik und Militärstrategie, wie er neuerdings wieder in den Vordergrund getreten ist. Der Autor berichtet, als sei’s seine reine Chronistenpflicht, so dass man sich gelegentlich fragt, welchen Standpunkt er eigentlich einnimmt. Pure Objektivität gibt es ja nun mal nicht, sie kann allenfalls ein Wunsch- und Näherungswert sein.

Die Kubakrise wird eingebettet in die Vorgeschichte – von der nahöstlichen Suezkrise sowie den Aufständen in Ungarn und Polen (alles 1956) über den „Sputnik-Schock“ am 4. Oktober 1957 (als die Sowjetunion einen weltraumtechnischen Vorsprung vor den USA erlangte) bis hin zum Berliner Mauerbau am 13. August 1961. Eine hochexplosive Gemengelage zwischen den Machtblöcken hatte sich aufgebaut und angestaut.

Als der Kalte Krieg alles prägte

Mit Fidel Castros kubanischer Revolution hatten die USA den von ihnen überaus gefürchteten Kommunismus seit 1959 sozusagen vor der Haustür. Hardliner argwöhnten, dass die Sowjets es via Kuba auf den gesamten amerikanischen Kontinent abgesehen hatten. Groß war das Entsetzen in Washington, als ein U-2-Aufklärungsflug am 14. Oktober 1962 ergab, dass die Russen insgeheim Abschussbasen und sonstige atomare Logistik auf Kuba installiert hatten – erstmals in Raketen-Reichweite zu US-Millionenstädten.

Bilder von damaligen Treffen der US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower bzw. John F. Kennedy mit dem KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow haben nahezu mythischen Status. Derlei persönliche Konfrontationen sind denn doch (in grotesk verzerrter Form) bis in manche Kinderzimmer vorgedrungen. Ich erinnere mich, wie wir Chruschtschows legendäre UNO-Wutrede (die mit seinem angeblich aufs Pult geschlagenen Schuh) mit Stoffbären nachgespielt haben. Kein Zufall, dass damals auch die James Bond-Filme aufkamen. Der Kalte Krieg prägten damals alles. Und jetzt? Das Vergangene ist offenbar nicht völlig vorbei. Es steht freilich unter anderen Vorzeichen.

Die „Falken“ hatten anderes im Sinn

Doch Überlegungen übergreifender Art stellt Reiner Pommerin überhaupt nicht an. Sein Buch liest sich so, als hätte es ebenso gut irgendwann in den letzten 20 oder 30 Jahren geschrieben worden sein können und als sollte es zum 60jährigen Gedenken nur noch einmal den Gang der Dinge rekapitulieren. Dennoch kann man daraus ein paar Erkenntnisse gewinnen – zum Beispiel die, dass beide Weltmächte (China war noch Nebendarsteller auf der globalen Bühne) sich gleichermaßen in die Krise verstrickt haben. Schließlich hatten die USA, bevor die Sowjetunion Atomwaffen nach Kuba brachte, bereits eine ähnliche Präsenz mit Jupiter-Raketen in der Türkei, die 1963 aufgrund einer Geheimvereinbarung zurückgezogen wurden.

Vielleicht hat es beim schließlich doch noch einigermaßen rationalen Umgang mit der Krise 1962 eine Rolle gespielt, dass Chruschtschow und Kennedy aus eigenem Erleben wussten, was Krieg bedeutete und sie sich offenbar vorstellen konnten, wie verheerend sich eine „nukleare Option“ auswirken würde – allen Drohgebärden zum Trotz. Sie reizten das Risiko bis zum Letzten aus, doch fanden sie gerade noch rechtzeitig einen Ausweg. Die „Falken“ beider Seiten hatten ganz anderes im Sinn. Vielleicht ließe sich heute etwas daraus lernen.

Ein verseuchter Neoprenanzug

Das Buch enthält einige geradezu bizarre Fakten, so etwa die US-Pläne, Fidel Castro und „Che“ Guevara aus dem Weg zu räumen. So sollte ein Unterhändler Castro als Geschenk einen Neoprenanzug (mit gefährlichem Hautpilz präpariert) und einen Schnorchel (mit Tuberkel-Bazillen) überreichen. Der Sendbote verweigerte jedoch die Mitnahme der „Gaben“, aus nachvollziehbaren Erwägungen.

Beinahe hätte es sich fatal und final ausgewirkt, dass im Verlauf der Kubakrise einmal  unterschiedliche Zeitzonen nicht berücksichtigt wurden. Zudem verzögerte sich der Austausch diplomatischer Noten durch umständliche Ver- und Entschlüsselung. Dabei war auf dem Höhepunkt der Krise doch allergrößte Eile geboten.

Kennedy durfte erst einmal ausschlafen

Kaum zu fassen auch, dass John F. Kennedy für die Mitteilung zum Berliner Mauerbau nur kurz einen Segeltörn unterbrach und dann sogleich wieder losschipperte. Von wegen „Ich bin ein Berliner“… Auch wurde ihm die Entdeckung der russischen Atombasen auf Kuba am 14. Oktober 1962 nicht sofort mitgeteilt. Die Krisengremien ließen ihn vielmehr erst einmal ausschlafen. Ergänzend hierzu erfährt man auch noch einmal, dass Kennedy keineswegs so viril war, wie er sich im siegreichen Wahlkampf gegen Nixon gegeben hatte. Der Mann war chronisch krank und benötigte ständig Schmerzmittel.

Nach dem Ende der Kubakrise wurden 1963 immerhin drei bedeutsame Schritte im Sinne einer besseren Beherrschbarkeit solcher Großkonflikte unternommen: Ab 6. Juli wurden endlich Geheimcodes für den Abschuss von Atomwaffen eingerichtet, die bis dahin bloß durch mechanische Schlösser „gesichert“ waren. Am 20. August wurde eine Fernschreiber-Verbindung zwischen Weißem Haus und Kreml als „heißer Draht“ installiert. Am 10. Oktober 1963 wurde ein Abkommen über das Verbot von Kernwaffenversuchen geschlossen.

Nachspann: Am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy in Dallas erschossen. Am 14. Oktober 1964 wurde Nikita Chruschtschow entmachtet. Die Geschichte ging mit anderen Protagonisten weiter – und wurde auf Dauer nicht friedlicher.

Reiner Pommerin: „Die Kubakrise 1962″. Reclam, 160 Seiten. Paperback mit zahlreichen Schwarzweiß-Abbildungen. 14,95 Euro.

 




Die Kunst kann keinen Krieg beenden

(Foto: Bernd Huber)

Gastautor Bernd Huber über das Verhältnis von Kunst und Krieg in diesen Zeiten:

Ich bin verwirrt, weil sich mir Fragen aufdrängen. Die wichtigste Frage ist wohl die, ob die Kunst in Kriegszeiten „rein“ bleiben kann. Ich möchte es absichtlich mal auf die Spitze treiben und fragen: „Reicht es, ,Imagine‘ zu singen?“

Wenn die Kunst fordernd anklagt, fühle ich mich immer peinlich berührt. Die politischen Missverhältnisse bleiben von ihr unberührt. Diesbezüglich vermag die Kunst nichts. Die Kunst, wenn sie Kunst ist und nicht von vornherein ihre Werke auf dem Politischen aufbaut, sondern das nur in Krisenzeiten tut, verliert ihre Kraft der Unschuld. Der politische Missstand lässt sich nur durch Politik bekämpfen. Kein Spruch lächerlicher, als der, der da proklamiert: „Make Music, Not War“. Als ob ein Mensch wie Putin einen solchen Gedanken überhaupt in Erwägung ziehen könnte!

Im Krieg muss man eine eindeutige Position einnehmen, das ist schon schlimm genug. Im Grunde hieße das für den Künstler, dass er seine Kunst dort lassen muss, wo sie hingehört. Die Kunst hat im Krieg keine Position, der Künstler schon. So wäre es immer sinnvoller, der populäre Künstler bezöge eine politische Position, indem er sagt: „Sofort alle Embargo-Möglichkeiten umsetzen“ – oder ähnliches.

Kunst und Krieg haben keine Gemeinsamkeiten, während die kriegerischen Handlungen anhalten. Ein Kunstwerk wie Picassos „Guernica“ entsteht erst als künstlerischer Reflex auf den Krieg. Die Idee, dass die Kunst den Krieg beenden könne, ist in ihrer Naivität nicht zu überbieten. Achja, und dann gibt es ja auch den zynischen Begriff der „Kriegskunst“. Aber wir alle wissen ja, dass Krieg und Kunst gar nichts miteinander zu tun haben und dass es Kriegskunst nicht gibt. Es gibt ja auch keine Kunst des Mordens.




Ein Beitrag, der jetzt gestrichen werden muss

Seit den monströsen Kriegsverbrechen von Buschta (oder Buchta oder Butscha – sucht euch die Schreibweise aus, es ist zweitrangig) „gehen“ Texte wie der folgende, eilig gestrichene eigentlich nicht mehr, es verbietet sich jede auch noch so eingehegte Launigkeit. Da wir aber andererseits keine (Selbst)-Zensur ausüben wollen, bleiben die Ende März verfassten Zeilen noch notdürftig erkennbar.

Überhaupt vergeht einem schon seit einiger Zeit ganz gründlich die Lust auf kulturell oder feuilletonistisch angehauchte Betrachtungen. Obwohl gerade die Künste, sofern sie den Namen verdienen, ein dauerhaftes Gegengewicht sein und bleiben könnten… Ars longa, vita brevis.

Ceterum censeo: Jetzt endlich selbst das russische Gas abdrehen – und sei es „nur“ als starkes Zeichen ohne entscheidende Wirkung!

Was waren das noch für selige Zeiten, als „wir“ lediglich eine Nation von 40, 60 oder 80 Millionen Fußballtrainern gewesen sind. Gewiss, Länder- und Vereinsmannschaften stellen wir auch heute noch linkshändig auf, notfalls für Frankreich, England und Spanien gleich mit. Aber nur noch nebenbei. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.

Inzwischen haben wir nämlich anderweitige Karrieren draufgesattelt. Zunächst bekanntlich als Top-Virologen, die sich ganz geläufig über komplizierteste Fachfragen ausgetauscht haben. Mit Corona und Konsorten kennt sich doch heute jeder Depp aus. Nun gut: Zuweilen ist da auch ein bisschen Besserwisserei im Spiel. Das bleibt halt nicht aus, wenn man viele Semester eines Fachstudiums und praktischer Forschung kurzerhand überspringt. Dann muss man eben beherzt behaupten.

Neuerdings haben sich viele, die das vorher nicht von sich selbst erwartet hätten, dem verschrieben, was hirnparalysierte Vorväter „Kriegskunst“ zu nennen beliebten. Zeitenwende eben. Oder richtiger: Zeitenbruch. Als Generalissimus von eigenen Gnaden widmet sich nun so mancher Mann überschlägigen ballistischen Berechnungen, intelligenter Nachschub-Logistik, effektiven Abwehrsystemen oder der schlagkräftigen Koordination verschiedenster Waffengattungen bis hin zu… Nein, wir wollen es nicht auch noch hier leichtfertig herbeireden. Frauen sind auf diesem Felde jedenfalls hoffnungslos in der Minderheit. ER wird es ihnen beizeiten zu erklären versuchen – wie einst das Abseits.

„Blamiert“ sich Russland militärisch – oder sollte man es nach wie vor „nicht unterschätzen“? Hockt Putin schon im Bunker? Dreht er uns den Gashahn zu? Gibt er sich mit dem Donbass zufrieden? Was machen die Chinesen? Derlei gravitätische Fragen werden Tag für Tag in mancherlei Medien erwogen. Im Gefolge solcher Gedankenspiele haben sich einige Leute außerdem flugs zu Flüchtlings-Kommissaren und Energie-Experten mit ungeahnt fossilen Präferenzen promoviert. Zwei bis drei Talkshows gucken – und schon kann man wieder mitpalavern. Wo liegt denn nur wieder die Generalstabskarte mit den vielen Pfeilsymbolen?

 




„Wehe, wenn der Russe kommt…“ – So haben wir damals gelacht und nicht gedacht

Sichtbares Bekenntnis beim Gang durch den Dortmunder Rombergpark, Ende Februar 2022. (Foto: Bernd Berke)

„Wann und wie mag denn wohl der Russe kommen?“ Wenn ich diese triefend ironische, hier noch einmal mitsamt Text verlinkte Überschrift vom 24. Juni 1982 über einem meiner Artikel wieder lese, läuft es mir heißkalt den Rücken herunter, so überaus falsch klingt sie jetzt.

Die Schlagzeile stand jedenfalls über einer TV-Vorschau auf einen Film des Dortmunders Michael Braun, der damals die Bundeswehr aufs Korn genommen hat. Flott und flockig, wie man wohl zu sagen pflegte. Wenn ich mich recht entsinne, hat die Süddeutsche Zeitung den Beitrag seinerzeit aus der Westfälischen Rundschau übernommen.

Ich war mit einer solchen Gesinnung beileibe nicht allein. Es war weithin Konsens. Dabei gab es doch noch die Sowjetunion, über die seinerzeit der Hardliner Leonid Breschnew (gestorben im November 1982) gebot, der am 25. Dezember 1979 seine Armee in Afghanistan hatte einmarschieren lassen. Doch das Böse, so haben viele – spätestens seit dem Vietnamkrieg – ganz selbstverständlich gemeint, hause vor allem oder gar ausschließlich in den Vereinigten Staaten und bei ihren Vasallen; erst recht, seit Ronald Reagan ab 1981 US-Präsident war und hitzig über den NATO-Doppelbeschluss diskutiert wurde.

Waren es nur Jugendsünden?

Rund vierzig Jahre ist das her. „Jugendsünden“ also? Ja, so haben wir damals und noch lange, lange Zeit danach uns lustig gemacht über die vermeintlich unsinnige Vorstellung, dass „der Russe“ kommen werde. Wir, die wir uns für links und fortschrittlich gehalten haben. Sehr viele sehr kluge Leute dabei und trotzdem gar nicht gut beraten, wenn man es von heute aus betrachtet. Aber hätten wir denn auf die Kommunistenfresser hören sollen? Auf einen CDU-Betonkopf wie Alfred Dregger etwa, an dessen von Buhrufen übertönten Dortmunder Marktauftritt aus den späten 70er Jahren ich mich noch erinnere, weil er immer „Kommenisten“ sagte. Wie haben wir uns beömmelt!

Das Gefasel vom „Ende der Geschichte“

Spätestens 1989 und die Folgen (das Gefasel vom „Ende der Geschichte“) haben uns vollends eingelullt. Wenn man nur hellhöriger gewesen wäre! Wenigstens in den letzten Jahren, wenigstens 2014, als Wladimir Putin kurzerhand die ukrainische Halbinsel Krim annektieren ließ. Doch aus schierer Gewohnheit, Denkfaulheit und Bequemlichkeit haben wir noch jede Lüge Putins geglaubt, haben sie glauben wollen. Nun überschreiten seine Truppen nicht nur widerrechtlich Staatsgrenzen, sondern er selbst lässt auch Grenzlinien des bisher Vorstellbaren hinter sich. Über 70 Jahre Frieden in weiten Teilen, ja fast (!) in ganz Europa haben uns in Sicherheit gewiegt. Nun droht uns einer mit Atomwaffen und lässt Atomkraftwerke attackieren. Auch wird wild spekuliert, ob seine Armee Polen, das Baltikum oder Berlin angreifen werde. Welch ein Wahnsinn! Seit der Kubakrise 1962 ist die Weltlage nicht mehr so brandgefährlich gewesen. Jetzt aber direkt vor unserer Haustür. Was freilich angesichts atomarer Bedrohung beinahe zweitrangig ist.

Ausläufer der alten „Denke“ waren noch bis vor ein, zwei Wochen virulent oder vielmehr: einschläfernd wirksam; bis zum ruchlosen Überfall der russischen Militär-Maschinerie auf die Ukraine am historischen 24. Februar 2022. Seitdem hat sich so furchtbar viel getan und geändert, hat sich manches, was oben zu liegen schien, zuunterst gekehrt. Nun beugen sich auch Pazifistinnen und Pazifisten besorgt über Europa-Karten, sprechen auf einmal geläufig von wehrhafter Demokratie und stellen strategische Erwägungen an, die bis vor Kurzem Generälen vorbehalten waren.

Wertschätzung für Wehrhaftigkeit

Die ziemlich marode Bundeswehr, wenn auch vielfach reformbedürftg (was derzeit eher organisatorisch als politisch verstanden wird), ja das Militärische im Westen überhaupt, erfährt eine vordem ungeahnte Wertschätzung. Wehrhaftigkeit ist das Wort der Stunde, vielleicht des Jahrzehnts. Wenn das mal nicht ins andere Extrem umschlägt! Wer hätte unter einer „Ampel“-Regierung erwartet, dass man in dieser „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) so schnell derart viele Gewissheiten über Bord wirft?

Und wir dachten, wir wären dabei, in Sachen Corona-Pandemie (die bereits als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg galt) schon das Schlimmste hinter uns zu lassen. Und jetzt? Redet kaum noch jemand vom Virus.




Eine Stimme für die Leidenden: Seit 50 Jahren leisten die „Ärzte ohne Grenzen“ weltweit medizinische Hilfe

2010 erschütterte ein katastrophales Erdbeben Haiti. Geschätzt 100.000 Menschen starben, 200.000 waren verletzt, rund eine Million verloren ihre Wohnungen. Die Ärzte ohne Grenzen halfen wie hier im Krankenhaus Carrefour. Die Patientin im Bild hatte zwei gebrochene Beine. Auf dem Foto: Doktor Adesca aus Haiti, der Chirurg Paul McMaster und die deutsche Krankenschwester Anja Wolz. (Foto: Julie Remy/Médecins Sans Frontières/MSF)

Die Älteren erinnern sich noch an die Bilder: Große Augen schauen aus abgemagerten Gesichtern. Ausgemergelte Körper strecken dürre Ärmchen aus. Auf dem Arm verzweifelter Mütter kauern kleine Kinder, die Skeletten gleichen.

Es war 1969, als die Fotos aus Biafra die Welt aufrüttelten. Die Provinz in Nigeria hatte sich für unabhängig erklärt. Ein Krieg und eine Hungerblockade waren die Folge. Biafra ist seither ein Symbol für Hunger und Leid.

Damals beschlossen Ärztinnen und Ärzte, die mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Einsatz waren, nicht länger zu der humanitären Katastrophe zu schweigen. Zwei Jahre später, am 22. Dezember 1971, gründete eine Gruppe von 12 französischen Ärzten und Journalisten eine Organisation, die Menschen in Not helfen sollte und nannte sie „Médecins Sans Frontières“ – Ärzte ohne Grenzen. Aus der Initiative entstand eine Bewegung, die heute ein weltweites Netzwerk bildet. In diesem Verbund leisten rund 41.000 Menschen in mehr als 70 Ländern medizinische Nothilfe. 25 Mitgliedsverbände bilden fünf „operationale Zentren“, die Projektentscheidungen treffen, qualifiziertes Personal entsenden und die Finanzierung organisieren. Die 1993 gegründete deutsche Sektion gehört zum Zentrum Amsterdam.

„Wir wissen, dass Schweigen töten kann“

Die Gründungsversammlung der Médecins Sans Frontières in Paris 1971. Beteiligt waren Dr. Marcel Delcourt, Dr. Max Recamier, Dr. Gerard Pigeon, Dr. Bernard Kouchner, Raymond Borel, Dr. Jean Cabrol, Vladan Radoman, Dr. Jean-Michel Wild, Dr. Pascal Greletty-Bosviel, Dr. Jacques Beres, Gerard Illiouz, Phillippe Bernier, Dr. Xavier Emmanuelli. (Foto: D.R./MSF)

Die Organisation hat sich verpflichtet, unparteiisch und unabhängig zu helfen. „Die Hilfe orientiert sich allein an den Bedürfnissen der Notleidenden“, heißt es in ihren Leitsätzen. „Ärzte ohne Grenzen“ helfen Menschen ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, politischen und religiösen Überzeugungen sowie ihres Geschlechts. Damit stehen sie oft zwischen den Fronten. Doch neutral zu handeln heißt für die „Ärzte ohne Grenzen“ nicht, stillschweigend zu helfen. Zur humanitären und medizinischen Hilfe tritt die sogenannte Témoignage (französisch für ‚Zeugnis ablegen‘).

Sie gehört zu den Satzungsaufgaben: „Wir sehen uns selbst in der Pflicht, das Bewusstsein für Notlagen zu schärfen. Wenn wir also konkret miterleben, wie Menschen extrem leiden, wenn ihnen der Zugang zu lebensrettender medizinischer Versorgung verwehrt oder systematisch behindert wird oder wir Zeugen von Gewaltakten gegen Individuen oder Bevölkerungsgruppen, von Missstände oder Menschenrechtsverletzungen werden, machen wir dies, wenn möglich, öffentlich.“ So beschreiben die „Ärzte ohne Grenzen“ ihre Rolle als Anwalt und Sprachrohr derer, die keine Stimme bekommen. „Wir sind nicht sicher, dass Reden Leben rettet. Wir wissen aber, dass Schweigen töten kann“, heißt es in der Dankesrede für den Friedensnobelpreis, mit dem die Vereinigung 1999 ausgezeichnet wurde.

Herausforderungen für die humanitäre Hilfe

Ein historisches Bild aus dem Krieg mit der Sowjetunion aus Afghanistan. (Foto: MSF)

Einige Stationen aus der Geschichte: Beim Erdbeben in Nicaragua 1972 leisteten die „Ärzte ohne Grenzen“ schnelle medizinische Soforthilfe. In Honduras richteten sie nach einem Hurrikan das erste langfristig angelegte medizinische Hilfsprojekt ein. In großen Konflikten wie den Kriegen im Libanon und in Afghanistan halfen Ärzte oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens. So überquerten nach 1979 kleine Teams die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan. Mit Maultieren versuchten sie, abgelegene Bergregionen zu erreichen und der Zivilbevölkerung zu helfen. In Thailand unterstützten sie Anfang der achtziger Jahre Kambodschaner, die vor dem Pol-Pot-Regime geflüchtet waren. Hunger in Äthiopien, Bürgerkrieg in Liberia, Krieg in Bosnien, Genozid in Ruanda, der verheerende Tsunami 2004 und das Erdbeben in Haiti 2010, schließlich Aids-Programme in Asien und Afrika und die Covid19-Pandemie des Jahres 2020 waren riesige Herausforderungen für die humanitäre Hilfe.

Schwester Séraphine unterzieht sich dem ersten Schritt der Dekontamination nach ihrer Runde durch die Hochrisikozone des Hospitals in Mangina in der Demokratischen Republik Kongo während eines Ebola-Ausbruchs. (Foto: Carl Theunis/MSF)

Das Preisgeld des Friedensnobelpreises nutzten die „Ärzte ohne Grenzen“, um Menschen den Zugang zu medizinischer Behandlung zu erleichtern. Ihre „Medikamentenkampagne“ tritt dafür ein, Arzneien, Tests und Impfungen erreichbar, bezahlbar, für alle geeignet und an den Orten, an denen die Patienten leben, verfügbar zu machen. Seit mehr als 30 Jahren setzt sich die Organisation auch für die Behandlung von Menschen mit seltenen tropischen Krankheiten ein. „Hunderttausende wurden behandelt, die sonst nicht überlebt hätten“, heißt es in einem zum Jubiläum erschienenen geschichtlichen Überblick.

Außerdem suchen die Ärzte nach einer Antwort auf den tödlichen Ebola-Virus. Dazu gehören Methoden, einen Ausbruch zu begrenzen und die Übertragung zu vermeiden. Migrationsströme, Flüchtlingsrettung auf See, aber auch die Folgen von Naturkatastrophen, verursacht durch Klimawandel, Ressourcenknappheit und Naturzerstörung durch den Menschen sind neue Herausforderungen für die Organisation, die sich aus Spenden finanziert – 2020 waren das weltweit 1,9 Milliarden Euro von mehr als sieben Millionen Spendern – und die in Deutschland im letzten Jahr mehr als 770.000 Spender mit 204,5 Millionen Euro unterstützten.

Weitere Informationen im Internet unter www.aerzte-ohne-grenzen.de

Ein Überblick über die Geschichte mit vielen Fotos unter 50years.msf.org/home/de




Lange Schatten der Vergangenheit – Das Westfälische Landestheater verhandelt Ferdinand von Schirachs „Fall Collini“

Junger Idealist und alter Hase: Tobias Schwieger (links) als Pflichtverteidiger Caspar Leinen, Burghard Braun (rechts) als abgebrühter Nebenkläger Mattinger. Im Hintergrund schmachtet Collini (Guido Thurk) in seiner Zelle. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Warum hat Collini den Industriellen Hans Meyer erschossen? Dass er es tat, steht außer Frage, doch Collini schweigt. Caspar Leinen, ein ehrgeiziger, junger Anwalt, wird vom Gericht zum Pflichtverteidiger ernannt. „Der Fall Collini“ ist seine erste Mordsache. Ferdinand von Schirachs gleichnamiger Roman lieferte die Vorlage für das Theaterstück, das nun am Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel seine Uraufführung erlebte.

Sonderlich originell ist Schirachs Einstieg in die Geschichte sicherlich nicht, viele Krimis, amerikanische zumal, kommen ähnlich daher. Doch geht es dem Autor, der von Beruf Strafverteidiger ist und erst im fortgeschrittenen Alter zum überaus erfolgreichen Literaten wurde, ja nicht nur um Unterhaltung. Nein, von Schirach will auch politisch aufklären. Und deshalb erfährt das Publikum dank fleißiger Recherchen von Rechtsanwalts Leinen im Staatsarchiv bald, dass Collini zum Mörder wurde, weil Hans Meyer seinen Vater 1943, in Italien, als Geisel hinrichten ließ. Eine Klage, die Collini 1968 gegen Meyer erhob, wurde wegen Verjährung abgewiesen. Grundlage dieser Entscheidung war ein Gesetz aus dem selben Jahr, das die Verjährung der Taten der „Helfer“ von Nazi-Mördern regelte. 1968 lebten noch viele von ihnen. So weit, so skandalös.

Gang der Handlung ist nicht völlig überzeugend

Warum aber wartete Collini noch Jahrzehnte, bis er seinen Mord beging? Nun, er wartete, bis ein geliebter Verwandter gestorben war, der Mord, Verhandlung, Haft nicht miterleben sollte. Ein wirklich überzeugender Abschluss ist das eigentlich nicht, immerhin aber sind die juristischen Abhandlungen von Schirachs, die im Roman breiten Raum einnehmen, von Interesse.

Collini schweigt, der Anwalt wartet; Szene mit Tobias Schwieger (links) und Guido Thurk. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Intensive Form

Was nun macht das WLT aus diesem Roman? Auf eine Stunde 45 Minuten ohne Pause hat diese Inszenierung (Karin Eppler) den Stoff eingedampft, was dieser erstaunlich gut überstanden hat.

Nüchtern betrachtet rankt sich die Geschichte um zwei umfangreiche historische Rückblenden: Da ist zum einen die Erinnerung des kleinen Fabrizio Collini an den Überfall deutscher Soldaten auf sein Dorf und die Vergewaltigung seiner Schwester, späterhin an den Bericht über die Erschießung seines Vaters, zum anderen jene an das Gesetz von 1968, das die Taten von Nazi-Befehlsempfängern für verjährt erklärte.

Wenn all dies auf der Bühne zur Sprache kommt, hätte man Vorträge in großer Erregtheit erwarten können, Emotion, Betroffenheit, Fassungslosigkeit. Den ungeheuerlichen Ereignissen, um die es hier geht, wäre das allemal angemessen. Gerade deshalb jedoch erweist sich die sachliche, emotionsarme Darstellung in dieser Inszenierung als die richtige. Gewalttaten und Kriegsverbrechen, so wie sie sich hier darstellen, brauchen keine dramatische Überhöhung, um verstanden zu werden. Im Gegenteil. Die kleine Form gebiert das Grauen.

Der rote Faden verheddert sich

Leider verheddert sich der rote Faden im weiteren Gang der Handlung ein wenig. Wo juristische Sachlichkeit zwingend wäre – es geht immerhin um einen Mord –, findet die Inszenierung Gefallen an der Vorstellung, Collinis Schuld an dem zu messen, was die Nazis ihm und seiner Familie antaten. Das ist ein bisschen leichtfertig, auch wenn die Vorgeschichte bei der Frage nach der Schwere der Schuld gewiss eine Rolle spielt. Collinis Selbstmord setzt dieser thematischen Irritation ein abruptes Ende.

Bemerkenswertes Sound-Design

Das Mobiliar – Stühle, Tische – ist sparsam, dominiert wird die Bühne von einer Art Guckkasten, eine Gefängniszelle wohl, in der Collini sich befindet. Von einer Wanderbühne wie dem WLT sollte mehr Ausstattung auch nicht erwartet werden. Die Oberbekleidung der Damen und Herren (Garderobe: Regine Breitinger) ist weitgehend unspektakulär. Lediglich die Ausstaffierung des Polizisten („Kommissar Balzer“, gespielt von Mario Thomanek) mit Springerstiefeln und altertümlicher Lederjacke, auf der Polizei steht, ist etwas unpassend. Erwähnt werden muss noch das Sound-Design (Ton: Lukas Rohrmoser) das unaufdringlich den Gang der Handlung akzentuiert.

Erfahrene Kräfte

Burghard Braun lässt als Rechtsanwalt Mattinger einmal mehr den in sich ruhenden, unaufgeregt aufspielenden Bühnenprofi erkennen, gleiches lässt sich über Andreas Kunz in der Rolle des Oberstaatsanwalts Reimers sagen; auch Vesna Buljevic als Richterin weiß ihre Rolle mit Ruhe und Konzentration anzulegen, ohne deshalb beliebig zu werden.

Leinen (Tobias Schwieger, links) erläutert Johanna Meyer (Franziska Ferrari) seine Beweggründe. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Zu viel des Guten

Tobias Schwieger jedoch, der hier die Hauptrolle spielt, möchte man nachdrücklich mehr Zurückhaltung empfehlen. Er überspielt den jungen Anwalt, besonders anfangs, so sehr, dass man sich im Kindertheater wähnt (nichts gegen das Kindertheater). Wenn Pathologe Wagenstett (Mike Kühne) detailverliebt die Schussverletzungen Hans Meyers beschreibt, übergibt Caspar Leinen sich mehrere Male kunstvoll, fast schon slapstickhaft. Eine Lachnummer, die allerdings auch den Verdacht nährt, dass dieses aufgekratzte Spiel ein – reichlich unangemessener – Regieeinfall sein könnte.

Auch Franziska Ferrari als empörtem Mitglied des Meyer-Clans wäre Mäßigung anzuraten. Wenn sie allerdings die leicht zwanghafte Frau Dr. Schwan vom Bundesarchiv gibt, die dem Gericht im munteren Expertenton erläutert, wann beispielsweise die Erschießung von Geiseln nach dem Völkerrecht (auch heute noch) erlaubt ist und wann man vielleicht von einem Gesetzesverstoß reden könnte, dann weiß sie wohl zu überzeugen.

Wohltuende Aufgeräumtheit

„Der Fall Collini“ im Westfälischen Landestheater beeindruckt vor allem durch seine dokumentarischen Valeurs, erinnert in seinem Hang zur Belehrung durchaus auch an Fernsehspiele der 60er-Jahre. Die Aufgeräumtheit dieser Inszenierung ist wohltuend, und das Ensemble liefert eine alles in allem überzeugende Arbeit ab. Das Publikum in der voll besetzten Europa-Halle spendete begeisterten Beifall.

  • Weitere Termine:
  • 24.10.2021    Nettetal Haus Seerose
  • 29.10.2021    Marl Theater
  • 30.10.2021   Castrop-Rauxel Studio
  • 2.11.2021    Brilon Kolpinghaus
  • 3.11.2021    Gladbeck Stadthalle
  • 20.11.2021    Sulingen Stadttheater im Gymnasium
  • 3.11.2021    Herne Kulturzentrum
  • 2.12.2021    Rheda-Wiedenbrück Aula des Ratsgymnasiums
  • 12.12.2021    Gifhorn Stadthalle
  • 13.01.2022    Solingen Theater und Konzerthaus
  • 18.03.2022    Bad Oeynhausen Theater im Park
  • 12.05.2022    Bottrop Josef-Albers-Gymnasium

WLT-Kasse: 02305 / 97 80 20.

tickets@westfaelisches-landestheater.de




Deutsche Depressionen – Durs Grünbeins geschichtliche Sondierungen „Jenseits der Literatur“

Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der Gegenwart. Für sein vielfältiges Werk aus Lyrik und Essays, Tagebüchern, Übersetzungen und autobiographischer Prosa hat er den Büchner-, den Hölderlin-, den Nietzsche-Preis bekommen. Sein neues Buch heißt „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Genau genommen sind es die „Lord Weidenfeld Lectures“, ins Leben gerufen vom Journalisten, Verleger und Diplomaten George Weidenfeld, dem großen Briten mit österreichisch-jüdischen Wurzeln, einem Brückenbauer über nationale, politische und religiöse Grenzen hinweg.

Eingeladen wurden und werden Geisteswissenschaftler und Schriftsteller: Umberto Eco, Amos Oz, Mario Vargas Llosa, und jetzt Durs Grünbein. Eine passende Wahl: Denn auch Grünbein ist ein notorischer Brückenbauer, er kennt keine künstlerischen Grenzen, seine Dichtung kreist immer um Poesie und Politik, Literatur und Philosophie. In den Vorlesungen versucht er allem, was sein Denken und sein Leben ausmacht, was sein Schreiben bestimmt und ihn mit den politischen Verwerfungen und historischen Bewusstseinsströmen verbindet, auf den Grund zu kommen.

Vom Verstummen, Vergessen und Verdrängen

„Jenseits der Literatur“ ist etwas, was alles Schreiben infrage stellen und unmöglich machen kann, was uns verstummen und verzweifeln lässt, uns belastet und bedrängt, was wir aber erinnern und bearbeiten müssen, um frei atmen, denken und schreiben zu können: Es ist die Erfahrung, Teil eines Geschichtsprozesses zu sein, einer Nation, einer Sprache, einer Familie, die das Denken beeinflusst und die Sicht auf die Welt bestimmt.

„Jenseits der Literatur“ liegen Verstummen, Vergessen, Verdrängen der jüngeren deutschen Geschichte: die Verbrechen des Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust, das Stalin-Trauma der DDR, der Opportunismus der Mitläufer, die Unfähigkeit zu trauern, die Nachwirkung von Propaganda, Manipulation und Gehirnwäsche, die sich wie eine Grabplatte über die deutsche Geschichte gelegt hat und bis heute die deutsche Gegenwart verdunkelt. „Jenseits der Literatur“ sind die „Abgründe der Geschichte“, vor denen es einen graust. Aber es gilt, das Vergessene auszugraben und sich von den Schwindelgefühlen der Geschichte zu befreien. Denn, da ist sich Grünbein sicher, „es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt“, es ist die Literatur „als Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem“.

„Eine violette Briefmarke“ als Ausgangspunkt

Grünbein taucht hinab in seine Kindheitserinnerungen, macht eine „violette Briefmarke“ zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Er findet sie beim Stöbern in einem alten Album, die „violette Briefmarke“ zeigt den Kopf von Adolf Hitler, und Grünbein verfällt sofort in eine von Scham und Schuld belastete „Erinnerungs-Depression“. Schon als Kind in der DDR ahnte er, dass Briefmarken von diesem Dämon, der mit einem Bilder-Verbot und einem Tabu belegt war, etwas Verbotenes und Ungeheuerliches waren. In einem Akt der Teufelsaustreibung hatte er sie deshalb verkehrt herum, kopfüber ins Album sortiert.

Als er zufällig im Haus seiner Großeltern auf ein vergilbtes Exemplar von „Mein Kampf“ stößt, ahnt er, etwas Obszönes und Verbotenes in den Händen zu halten, etwas, worüber er auf keinen Fall reden darf. Dieses Verstecken, Verdrängen, Vergessen, von seinen Eltern und Großeltern auf ihn, den Jungen aus Dresden, übertragen, dient ihm heute dazu, über die gesellschaftliche Amnesie nachzudenken, über die Mechanismen der Inszenierung von Macht und die Manipulation der Massen, über die Rumpelkammer der deutschen Geschichte, in die er gefallen ist wie einst Alice in den Kaninchenbau des Wunderlandes.

Von der „violetten Briefmarke“, die früher von allen Deutschen – in einem Akt erotischer Symbiose mit dem politischen System – angeleckt, auf Postkarten geklebt, an die Front und in die Vernichtungslager geschickt wurde, ist die Unruhe ausgegangen, die Grünbein bis heute verfolgt: „Ich werde das dumpfe Gefühl nicht los“, schreibt er, „daß sie auch in Zukunft hier und da noch meinen Weg kreuzen wird.“

„Keiner springt aus der historischen Zeit…“

Grünbein bohrt historisch tiefer und holt empor, was bis heute als Gespenst durch die Geschichte geistert und den Traum von Rechtspopulisten beherrscht, was rückwärts gewandte Visionen ausmacht, regressive Fantasien, aggressive Massenbewegungen, die von einem Unbehagen an der Kultur und einer Verklärung der Vergangenheit gespeist werden. Um die Anhänger von „Retropia“ zu verstehen, reist Grünbein in die faschistische Vergangenheit, fährt über Hitlers Autobahnen, deren Bau als „heroische Arbeitsschlacht“ inszeniert wurde und zur Militarisierung der Gesellschaft diente. Er steigt in den Himmel, um den „Luftkrieg der Bilder“ zu beschreiben, den von Deutschland angezettelten Bombenkrieg, die totale Zerstörung.

Schließlich landet Grünbein bei seiner Kindheit in Dresden, als auf dem Weg zur Schule ein russischer Militär-Konvoi an ihm vorbei donnert und ihm das erste Mal dämmert, in was er da hineingeboren wurde. „Keiner springt aus der historischen Zeit, niemand entzieht sich der Formung durch Geschichte“, schreibt Durs Grünbein und beendet seinen Versuch, die Welt mit eigenen, poetischen Augen zu sehen, mit Worten von Ingeborg Bachmann: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“

Durs Grünbein: „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 168 Seiten, 24 Euro.




Mit Marionetten aus der Finsternis heraus: „Herzfaden“ – Thomas Hettches Roman über die Augsburger Puppenkiste

Auf diese Idee musste mal einer kommen: einen Roman rund um die legendäre „Augsburger Puppenkiste“ zu schreiben, innig verwoben mit den Zeitläuften in Weltkriegs- und Nachkriegszeit – und mit Ausläufern ins Heutige. Thomas Hettche ist derjenige, welcher. „Herzfaden“ heißt sein Buch. Der (auf Seite 64 erläuterte) Titel bezieht sich auf jenen unsichtbaren Faden, mit dem die Marionetten „am Herzen der Zuschauer festgemacht“ seien. Eben dies und ihre (im Gegensatz zu Schauspielern aus Fleisch und Blut) völlige Uneitelkeit machten ihre besondere Grazie aus.

So jedenfalls stellt es sich – im fernen Gefolge eines Heinrich von Kleist („Über das Marionettentheater“) – der Puppenkisten-Begründer Walter Oehmichen vor, mit dessen Fernseh-Aufführungen Generationen von bundesrepublikanischen Kindern aufgewachsen sind. Die äußerlich windungsreiche, aber letztlich auch gradlinige Handlung, die etwa mit Beginn des Zweiten Weltkriegs einsetzt und bis weit in die 1950er Jahre reicht, wird jedoch nicht aus seiner Perspektive erzählt, sondern aus der seiner 1931 geborenen Tochter Hannelore, genannt Hatü. Damit kommt im Wesentlichen eine Erzählhaltung aus kindlicher und sodann jugendlicher Unschuld, kommt auch unverdorbene Empathie ins Spiel, die mit Verwunderung und Irritation die Geschehnisse registriert – vom NS-Biolehrer mit seinen rassistischen Auslassungen bis zum „Verschwinden“ der jüdischen Einwohner, darunter auch eine Mitschülerin und deren Eltern.

Niemand entgeht der Verstrickung

Ganz ohne Verstrickung kann freilich auch Hatü nicht bleiben. Hettche verdichtet diesen Befund anhand eines Kasperle-Kopfes, den zunächst die immer leidenschaftlicher zu Werke gehende Hatü geschnitzt hat – freilich unbewusst nach dem Muster jener grauenhaften „Stürmer“-Zerrbilder von „nichtarischen“ Menschen. Vater Walter „korrigiert“ die Kasper-Fratze, weil Hatü vor ihrem eigenen Marionettengeschöpf Angst hat. Auf diese Weise wird ein ach so lustiger Heil- und Trostbringer im Ungeist der Truppenunterhaltung daraus. Auch noch nicht das Wahre. Doch es wird klar: Niemand kann sich aus seiner Zeit gänzlich heraushalten. Selbst der Kasper ist politisch. Harmlosigkeit geht nicht mehr.

Das changierende Bild des Kaspers, das auch in einer teilweise geisterhaften Gegenwarts-Handlung aufgegriffen wird, erweist sich als sinnhafte Verkörperung des allgemeinen Zwiespalts, ja der Verderbnis. Gegenwarts-Handlung? Jawohl. Ein Mädchen von heute, Scheidungskind mit allfälligem iPhone, verirrt sich auf einem labyrinthischen Dachboden mit den Augsburger Marionetten und trägt – wie einst Hatü, die ihr nun aus dem Jenseits hilft – Konflikte des Erwachsenwerdens aus, allerdings eher auf symbolischer Ebene und nicht auf lebensgefährlichem Terrain. Die entsprechenden Passagen sind rot gedruckt, während die (weit überwiegenden) Vergangenheits-Texte bläulich schimmern. Hat man den Lesenden nicht zugetraut, die Trennlinien selbst zu ziehen? Egal. Auch im „roten Bereich“ entwickeln die Marionetten (allen voran das Urmeli, Kalle Wirsch und Jim Knopf, aber z. B. auch der klapprige Tod, Kater Mikesch und der Kalifen-Storch) jedenfalls ein Eigenleben, von dem allzu erwachsene Menschen nichts ahnen.

Verfilmung ist bestens vorstellbar

Thomas Hettche hat zahlreiche Alltagsdetails aus den Jahrzehnten der Puppenkisten-Geschichte recherchiert. Teilweise trägt er das jeweilige Zeitkolorit ziemlich pastos auf. Damit wir nur ja glauben, dass wir jetzt in den Fünfzigern angelangt sind, müssen Stichworte wie Caprihosen, Pepitamuster und Jeans wie Trümpfe gezogen werden. Zuweilen wirken die Zeitenwechsel somit etwas konstruiert, stellenweise beinahe schon (um im Metier des Marionettentheaters zu bleiben) nach Art einer Kulissenschieberei. Bloße Signale stehen dann für die eigentliche Signatur jener Zeiten. Zum Glück erschöpft sich der Roman darin beileibe nicht.

Aufs Ganze gesehen, gelingt es dem Autor ja, die fragilen (und doch haltbaren) Träume vom Theater in entbehrungsreichen Zeiten so fasslich und anschaulich zu erzählen, dass man sich auch eine baldige Verfilmung bestens vorstellen kann. Vielleicht ist eine solche schon geplant. Bei entsprechender Begleitung dürften das Buch und ein etwaiger Film auch für Kinder ab etwa 11 oder 12 Jahren geeignet sein. Phasenweise erinnern manche Szenerien an die beachtliche Kinoversion von Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Kerr war jedoch zutiefst und schmerzlich in der erzählten Zeit verwurzelt, während Hettche (Jahrgang 1964) sich eben einiges zusammenreimen muss. Gewiss kein Vorwurf, sondern Feststellung. Jemand ohne Hettches schriftstellerische Erfahrung wäre an einem solchen Unterfangen wohl gescheitert.

In den frühen Fernsehtagen

So entfaltet sich die facettenreiche Geschichte denn doch zum vielfach aufschlussreichen Zeitbild. Nur ein paar Stichpunkte: Da ist der Vater Walter Oehmichen, von Hatü und ihrer Schwester Ulla arg vermisst, als er zum Kriegsdienst eingezogen worden ist und hernach (welch‘ eine Form der „Bewältigung“) für die Idee einer künftige Märchenbühne entbrennt. Nach und nach, in wechselnden Besetzungen, wird der mit heißen Herzen verfolgte Traum – mit allerlei Rückschlägen – Wirklichkeit, bis im Januar 1953 gar die erste NWDR-Fernsehübertragung der Puppenkiste („Peter und der Wolf“) ansteht, anfangs noch pausenlos live durchgespielt, später dann stückweise aufgezeichnet.

Just in jenen wirren Nachkriegsjahren übernimmt die nebenher in erste Liebesdinge eingesponnene Hatü zusehends die Geschicke der Puppenkiste und es beginnt das Ringen um neue, zeitgemäße Stoffe jenseits der Märchen. Dafür steht St. Exupérys „Kleiner Prinz“, dafür steht schließlich – gegen Ende des Romans – die Begegnung mit Michael Ende, der sich die wunderbare Geschichte von Jim Knopf ausgedacht hat, deren Umsetzung zum wohl allergrößten Erfolg der Augsburger Puppenkiste wurde.

Im Sinne eines stets wachen Bewusstseins, welchen finsteren Zeiten man entronnen ist und was der Finsternis allzeit entgegenzustellen wäre, gehen die blaue und die rote Geschichte glimpflich oder gar „gut“ aus. Und so darf auch das Mädchen von heute (das mit dem iPhone) am Schluss erleichtert aus der Dunkelheit ins Freie treten und ihr Leben recht eigentlich beginnen. Im Dachboden-Land der Marionetten, das wundersam Vergangenheit und Gegenwart umschließt, hat sich für sie so manches geklärt.

Thomas Hettche: „Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste“. Kiepenheuer & Witsch. 288 Seiten, 24 Euro.

 

 




Hitlers Hunde, Görings Löwen und die Kartoffelkäfer – aufschlussreiches Buch „Tiere im Nationalsozialimus“

Mal von der Selbstverständlichkeit abgesehen, dass man immer wieder auf jene Zeit zurückkommen muss: Ist über die Abgründe der NS-Herrschaft nicht schon alles Wesentliche gesagt, ist nicht jede dunkle Schattierung ausgeleuchtet worden? Nun ja. Selbst der damalige, gleichgeschaltete Alltag hatte etliche Aspekte; einer, der bislang eher episodisch abgehandelt worden ist: der oft recht widersprüchliche Umgang der Nazis mit der Tierwelt.

Sage niemand, diese Sichtweise führe geradewegs in die Verharmlosung und Relativierung. Nein, die Ansichten und Aussagen über Tiere sind zutiefst in der NS-Ideologie verwurzelt und eröffnen auch ungeahnte Zugänge. Just im vermeintlich Nebensächlichen scheinen neue Zusammenhänge auf. Und so ist es von Anfang an ein durchaus aussichtsreiches, schließlich auch verdienstvolles Unterfangen, wenn der Journalist und Autor Jan Mohnhaupt das Thema „Tiere im Nationalsozialismus“ umfänglich aufgreift.

Ideologie der Rassereinheit und der Zuchtwahl

Gewiss, es fallen auch ein paar „Anekdoten“ ab, die einer ernsthaften Betrachtung anscheinend eher entgegenstehen: dass etwa Adolf Hitlers Geliebte Eva Braun dermaßen eifersüchtig auf des „Führers“ Schäferhund „Blondi“ (wir lernen: Er hatte drei Tiere dieses Namens) gewesen sei, dass sie ihm – dem Hund – gelegentlich unterm Tisch Tritte versetzt habe, auf dass der durch sein Jaulen den überaus hundevernarrten GröFaZ verärgere und vielleicht weggeschickt werde…

Doch das Buch reicht weit über derlei wohlfeile Erzähl-Stöffchen hinaus. Vor allem die Konzepte der Rassen- und Zuchtwahl sowie wild wuchernde Phantasien über „Schädlinge“ verweisen direkt auf den Umgang mit menschlichen Minderheiten, ja, sie haben das mörderische Regime recht eigentlich mitgeprägt. Tierzucht und Menschenzucht im Sinne einer angestrebten „Rassereinheit“ betreffen den Kern der kruden NS-Vorstellungswelt. Noch höher als Rassenpurismus rangierte in der parteilich erwünschten Hundeschulung freilich der absolute Gehorsam des Tieres, das für alles abgerichtet werden sollte – nicht zuletzt für die grausame Hatz auf KZ-Häftlinge.

Zigtausend Pferde bestialisch in den Tod getrieben

Wie Mohnhaupt zeigen kann, hielten sich die Nazis selbst ein „anständiges“ Verhältnis zum Tier zugute und schrieben tatsächlich ein paar dauerhafte Regeln des Tierschutzes in die Gesetzbücher hinein. Allerdings handelten sie oft völlig konträr zu den Schutzbestimmungen, indem sie zum Beispiel zigtausend bis aufs Blut geschundene Pferde im Russland-Feldzug zu Tode brachten. Entgegen allem hohltönenden Geschwafel („Kamerad Pferd“) wurden allein auf der Krim rund 30.000 Pferde von der Wehrmacht binnen weniger Tage exekutiert, damit sie nicht den Sowjets in die Hände fielen.

Ansonsten war Tier nicht gleich Tier. So priesen die auf agrarische Autarkie versessenen Nazis das Schwein, das für „arische Sesshaftigkeit“ stehe – im konstruierten Gegensatz zum verachteten Nomadentum anderer Völker. Geschlachtet wurden die Schweine natürlich trotzdem. Erst kommt das Fressen, dann die angebliche „Moral“…

Katzen als „Juden unter den Tieren“

Grotesk wurde die Zuschreibung im Falle der Katzen, die als unzuverlässige, „orientalische“ Wesen galten. Der unsägliche NS-Autor Will Vesper verunglimpfte sie als „Die Juden unter den Tieren“. Die tieftraurige Geschichte des nachmals zum Ruhm gelangten Sprachwissenschaftlers Victor Klemperer, der – aus Selbstschutz für sich und seine Frau – seinen innig geliebten Kater Mujel einschläfern lassen musste, weil er als Jude kein Tier halten durfte, kann einem Mitleids- und Zornestränen in die Augen treiben.

Ungleich mehr als von Katzen hielten die Nazis von gefährlichen Raubtieren wie Wölfen, Tigern und Löwen, mit deren „gnadenloser Wildheit“ (so die Legende) sie sich selbst identifizierten. Auch hier geriet manches zur Farce. Vor allem der prunksüchtige „Reichsjägermeister“ Hermann Göring tat sich dabei hervor, er ließ für sich höchstpersönlich Löwen und Bären halten. Die Zoodirektoren von Berlin und München (übrigens Brüder) hatten bei der Auswahl zu Diensten zu sein. Eine auf Görings Wunsch angefertigte, heroisierende Hirsch-Statue findet sich noch heute im (Ost)-Berliner Tierpark – ohne jeden historisch einordnenden Hinweis, wie Mohnhaupt kritisch anmerkt. Der Vegetarier Hitler soll derweil von erzdeutschen Wald- und Jagdmythen nichts gehalten haben. Eine Randnotiz.

Raupen züchten für die Fallschirmseide

Ein auf den ersten Blick kurioses, aber wohl weit verbreitetes Phänomen mit Tierweltbezug war damals die von oben verordnete Raupenzucht, der sich im ganzen Reich zahllose Schulklassen widmen mussten, um die heimische Seidenproduktion (deren Zentrale in Celle angesiedelt war) anzukurbeln. Vor allem wurde der edle Stoff für militärische Fallschirme benötigt. Zugleich entbrannte ein internationaler (Propaganda)-Krieg um die Kartoffelkäfer, von denen Deutschland behauptete, die Franzosen setzten sie – quasi als „Biowaffe“ – gezielt gegen die deutsche Ernte ein. Paris erhob derweil die umgekehrte Anschuldigung.

Wie auf anderen Feldern auch, so wirkte gar vieles ungut in die Nachkriegszeit hinein, so etwa die Jagdregeln, die vollends erst im „Dritten Reich“ neu begründet und ausformuliert wurden. Auch darf von personellen Kontinuitäten der erschreckenden Art nicht geschwiegen werden. Was heute wohl nur wenige wissen: Der prominente Verhaltensforscher Konrad Lorenz (ja, der mit den Graugänsen) war in jenen finsteren Jahren ganz offenkundig ein NS-Parteigänger reinsten Wassers und ein ideologischer Protagonist mit Einfluss. Nach dem Krieg war auch sein schäbiges Verhalten allzu schnell vergessen. In der wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik galt er erneut als Autorität.

Jan Mohnhaupt: „Tiere im Nationalsozialismus“. Hanser Verlag. 256 Seiten. 22 Euro.




Wertegemeinschaft? Man heuchelt sich so durch! – Notizen aus der Inneren Coronei (3)

Stempel drauf: der Autor kurz vor der Entwertung. (Foto: Herholz)

Von Karl Kraus stammt der Satz: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner schaut es zurück.“ Genau diese Erfahrung mache auch ich in meiner Eber-Einzelbucht während der Pandemie noch häufiger als sonst.

Aber ferner schauen nicht nur einzelne Wörter zurück, sondern auch Begriffshubereien, ganze Sätze und der sowieso überall anzutreffende Holy Shit aus Politik, Medien und Religionen.

The Orange One

Womit man gleich bei ihm wäre: diesem von Evangelikalen mit Bräunungscreme gesalbten Donald Trump. Den hat die Sorge um sein Land so krank gemacht, dass er darüber zuletzt sogar graue Haare bekam. Über Nacht. Und Maske trägt er jetzt auch. Wie oft habe ich gedacht, dem müsste mal einer die Maske vom Gesicht reißen? Aber nun, da er sich sogar eine zweite aufgesetzt hat, würde das ja nichts mehr bringen. Immerhin bleiben jetzt große Teile seines Gesichts verdeckt. Fake America great again.

Aberglaubensgemeinschaften

Apropos Fake: Kürzlich las ich vom „Sektenbeauftragten der katholischen Kirche“. Müsste das nicht „Sektenbeauftragter für die katholische Kirche“ heißen? Mit zwei zurzeit noch lebenden Päpsten jedenfalls überbietet diese Sekte durch Vielfalt jede anderswo herrschende Einfalt und schrammt nur knapp an einer diesseitigen Heiligen Dreifaltigkeit vorbei.

Müdes Lachen, hellwach

Der Kalauer, schrieb einst Wolfgang Hildesheimer, sei der müde gewordene Witz. Mich aber hält er schön wach.

Überall Würstchen

In Köln, der nördlichsten Stadt Italiens, haben sie zurzeit große Probleme, weil die kommende Karnevalssession unter dem Motto „Nur zesamme sin mer Fastelovend“ gefährdet ist. Ach, irgendwie sitzen wir doch alle in einem Boot. Zum Glück nicht in einem vor Sizilien. Aber vielleicht reicht es zumindest im Frühjahr 2021 doch noch für ein solidarisch-interkulturelles „Alaaf un‘ Nacktbar!“. Dazu Bratwurst mit Senf, am besten vom Schlachter Tönnies, denn wo Tönnies draufsteht, ist oft auch Würstchen drin.

„Division Sausages: Die Nummer 1 …“ (Tönnies‘ Homepage)

Clemens Tönnies zählt zu den reichsten Menschen der Welt und soll ein Vermögen von zwei Milliarden Euro angehäuft haben. Man muss schon sehr viel Schwein … haben, um so viel Geld beim Ausnehmen von Schlachtvieh und Werkverträglern zu ergattern. Alles legal, ich weiß. Anderenfalls würden es Gabriel & Co. mit flammendem Lobbyisten-Schwert sicher schon richten. Müssen sie aber gar nicht. Vor knapp vierzehn Tagen ist bei Tönnies endlich der Bereich ‚Blutverarbeitung‘ wieder in Betrieb genommen worden. Das lässt doch für alle hoffen.

Die Träume der Soldaten

..,Blutverarbeitung‘ …, da fällt mir ein: Im Osten machen wir auch wieder mobil. Der MDR berichtet: „Der EU- und Nato-Partner Ungarn hat eine erste Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern erhalten. Deutschland plant in den nächsten Jahren Waffenlieferungen für mehr als 1,7 Milliarden Euro nach Ungarn.“ Bisher hat die Waffenschmiede Krauss-Maffei-Wegmann allerdings nur vier gebrauchte Leopard zu Schulungszwecken an Ungarn verscherbelt, doch der ungarische Verteidigungsminister gerät schon jetzt ganz aus dem Häuschen: „Der Traum vieler Panzersoldaten geht heute in Erfüllung.“

Ab 2023 erhält Ungarn dann 44 neue Leopard 2A7. Und feste dabei als Zulieferer ist – Kölner, merkt auf! – die Rheinmetall Group aus Düsseldorf. In deren Pressearchiv kann man nachlesen: „Rheinmetall ist bei dem Vorhaben Partner von Krauss-Maffei Wegmann (KMW). KMW hatte im Dezember 2018 von den ungarischen Landstreitkräften den Auftrag zur Lieferung von 44 neu gefertigten Kampfpanzern Leopard 2A7+ und 24 neu gefertigten Panzerhaubitzen PzH2000 erhalten.

Was macht Ungarn mit den deutschen Panzern?

Was macht Ungarn nur mit all den Panzern? Laut Faktenfinder der Tagesschau hat der Antidemokrat, Antisemit und Gegenaufklärer Viktor Orbán schon im Juli 2018 vor allerlei Anti-Christen gewarnt: „In Europa läuft gerade ein Bevölkerungswechsel. Teilweise deswegen, damit Spekulanten, (…), viel Geld verdienen können. Sie möchten Europa zerstören, weil sie sie sich davon große Profite erhoffen. Anderseits haben sie auch ideologische Motive. Sie glauben an ein multikulturelles Europa, sie mögen das christliche Europa nicht, sie mögen die christlichen Traditionen Europas nicht, und sie mögen Christen nicht.“

Ja, wenn das so ist. Da ist es nur recht und billig, dass bundesdeutsche Rüstungskonzerne Viktor Orbán bei der Verteidigung des Abendlandes unter die Arme greifen und die EU dazu äußerst hörbar schweigt. Sonst wüchse ja nicht zusammen, was zusammengehört.




Gartenvernichtung mit Oberhalunkenmaschine

gartenfrevel - die riesige Oberhalunkenmaschine

Thomas Scherl: »Die riesige Oberhalunkenmaschine«, Tusche auf Zeichenpapier, 25x30cm, 2020

Der Nachbar hat ja das Haus verkauft – da, wo mein Atelier war, Ende April war Übergabe (an einen Arzt aus dem Krankenhaus übrigens, die hams ja) und seither sind dort alle möglichen Halunken zugange, die renovieren und was weiß ich.

Wer diese Burschen kennt, weiß, daß 98,7% der aufgewandten Energie in Schall umgesetzt werden, 92,3% in Dreck, 91,7% in Gestank und der Rest in das gewünschte Ergebnis.

Jetzt wütet in dem schönen alten Garten mit den schönen alten Bäumen und den schönen alten Büschen seit dem frühen Morgengrauen ein ruchloser Oberhalunke mit einer riesigen Oberhalunkenmaschine, die gleichzeitig schon tragende Bäume fällt und mundgerecht zerlegt, die Hecke und die blühende Büsche, in denen Vögel brüten, bis unter die Grasnarbe schneidet, den üppigen Rasen bis unter dieselbe mäht, die gute Mutter Erde bis dicht über den Erdkern aufwühlt und die Steine, ja, die Steine, alles gleich shreddert, pulverisiert, atomisiert und die Atome dann unter lautem Schreien der geschundenen Materie in ihre Elementarteile zerreißt, zerfetzt, zerbeißt, verletzt und meine armen Trommelfelle gleich mit und der Fallout der vernichteten Existenz legt sich wie ein Leichentuch über meine Skizzenbücher und mich.

Die Meisen, die Schmetterlinge, die Hummeln und die Bienen, die Katze, der Hund und ich verachten ihn und seine Maschine, deren Erfinder und den neuen Besitzer, der das nicht selber von Hand machen kann wie alle anderen auch, und den Geist, der meint, daß er nur genug Krach machen muß, damit was »Arbeit« ist, mit jeder Faser unserer Körper, Seelen und… tja, was noch?

Ich kann so nicht arbeiten.

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(Text und anderes auch auf scherl.blogspot.com)




„Der montierte Mensch“ – eine vorzügliche Folkwang-Ausstellung fragt nach Individuum und Masse in der Kunst

Fernand Léger Le Mécanicien, 1920 Öl auf Leinwand, 116 × 88,8 cm National Gallery of Canada, Ottawa © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: NGC

Fernand Léger: „Le Mécanicien“, 1920. Öl auf Leinwand. National Gallery of Canada, Ottawa / © VG Bild-Kunst, Bonn 2019. Foto: NGC

Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende – der Wende in das 20. Jahrhundert hinein – begann die Kunst, schüchtern zunächst, mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit die konstruktiven Gegebenheiten der Welt abzufragen, die Baupläne von Natur und Technik, die Funktionalität von Gesellschaft und Individuum. Das war eigentlich erstaunlich, denn jenseits der Kunst war die Welt des 19. Jahrhunderts ja längst im Industriezeitalter angekommen.

Nur ein Schönheitsfleck

Zum einen gab es bahnbrechende Erfindungen am laufenden Band, zum anderen kapitalistische Exzesse der Ausbeutung und der Anhäufung von Reichtum in einem bis dahin unvorstellbaren Maß. Doch die Maler schwelgten in Spätromantik, blickten auf liebliche Flußauen und schroffe Felslandschaften, und bestenfalls war ganz im Hintergrund, der rauchende Schornstein verriet es, eine kleine Fabrik zu erahnen, zu nicht mehr nütze als dazu, dem schwelgerischen Duktus einen süßen Schönheitsfleck zu verpassen. Die Moderne zeigte erstes Leben, gewiß; doch in den Akademien berauschte man sich an mythologischen Stoffen, betrieb Heldenverehrung. Das deutsche Bürgertum pflegte den Luisenkult, haßte die Franzosen (nicht aber ihren Wein…) und hörte Wagner dazu. Ist ja alles bekannt.

Orlan: Le Baiser de l’artiste. Le distributeur automatique ou presque! n°2, 1977 (2009) Silbergelatine auf Diasec, 55 × 110 cm Erworben 2009, entre Pompidou, Paris (Bild: Museum Folkwang,  VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / ADAGP Foto: bpk / CNAC-MNAM / Georges Meguerditchian)

Zu Beginn Krupp

Der industriellen Wirklichkeit näherte sich die Kunst schließlich mit unübersehbarer Ambivalenz. Heinrich Kleys Gemälde „Tiegelstahlabguß bei Krupp“ zum Beispiel, entstanden 1909, schwankt mit seiner altmeisterlichen Lichtbalance etwas unschlüssig zwischen dramatischer Überhöhung, Bewunderung für die moderne Technik und dokumentarischer Beschreibung der Arbeitssituation, die die vielen Einzelnen entindividualisiert, sie gleich Soldaten unbedingtem Gehorsam unterwirft, weil sonst das Werk nicht gelingen würde.

Im großen Saal

Mit Kleys Bild beginnt der (ganz vorzügliche) Katalog zur Ausstellung „Der montierte Mensch“, die jetzt bis 15. März 2020 im Essener Folkwang-Museum zu sehen ist. Mehr als 200 Werke von 124 Künstlern beiderlei Geschlechts haben die Kuratorinnen Anna Fricke und Nadine Engel für diese eindrucksvolle Präsentation im großen Ausstellungssaal des schönen, zweckmäßigen Chipperfield-Baus zusammengetragen, Leihgaben und Eigenbestand. Der Gefahr allzu großer Beliebigkeit, die das Thema in sich birgt, sind sie mit konzeptioneller Strenge begegnet. Doch natürlich hat die Ordnung Grenzen, denn auf dem riesigen Themenfeld von Konstruktion, Dekonstruktion und Destruktion, wo irgendwo sicherlich auch der nicht allzu geläufige Begriff „montierter Mensch“ seine sinnhafte Verortung findet, haben die Dinge sich nicht nur linear entwickelt. Der Begriff „Der montierte Mensch“ stammt übrigens von dem Kulturwissenschaftler Bernd Stiegler.

Roy Lichtenstein; Study for Preparedness, 1968, Öl und Magna auf Leinwand, 142,5 × 255 cm, Museum Ludwig, Köln (Bild: Museum Folkwang, Estate of Roy Lichtenstein / VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: Rheinisches Bildarchiv, rba_d039366)

Zusammenhänge

Wenn auch nicht alles mit allem, so hängt doch vieles mit vielem, vielfältig zudem, zusammen. So lassen sich die fotografierten Bewegungsstudien Eadweard Muybridges, die 1887 noch vor der Erfindung des Kinos entstanden und die Zerlegung von Bewegung in viele Einzelschritte vorwegnahmen, durchaus sinnhaft in Zusammenhang bringen mit den Arbeiten Trevor Paglens. Der hat, beispielsweise für das ausgestellte, erschreckende Bild „Vampire (Corpus: Monster of Capitalism) Adversarially Evolved Hallucination“ (2017) den Computer nach der Evaluation menschlicher Statements zum Thema Vampire Algorithmen schreiben lassen, die in einem bildgebenden Programm zu eben jenem geplotteten Bild führten. Und wenn auch die Leistung des Computers uns Respekt abnötigt, so ist es mit seiner Künstlichen Intelligenz doch nicht weit her, denn im Kern reproduzierte er nur, was Menschen vorher äußerten. Muybridge verstand sich übrigens als Forscher, während Paglens Arbeit heutzutage problemlos als Kunst akzeptiert wird. Aber beide zerlegten und montierten.

Fortunato Depero: Motociclista (solido in velocità), 1927, Öl auf Leinwand, 117 x 163,5 cm, Privatsammlung (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Vittorio Calore (Milano Italy))

Der Erste Weltkrieg

Streift man durch die reizvoll heterogene Essener Schau, drängt sich allerdings der Eindruck auf, daß Zerlegung und Zerstörung weitaus mehr Platz beanspruchen als ein anschließendes „Montieren“. Vor allem die traumatisierenden Destruktionserfahrungen des 1. Weltkriegs veränderten die Kunst grundlegend und unwiderruflich. In einem Dreierzyklus (zweimal Kohle, einmal Öl) aus „Die Schlacht“ (1916/17), „Vorstoß“ (1916/17) und „Der Krieg“ (1914) löst beispielsweise Otto Dix die Ordnung der Welt in wilde, entmenschlichte Strukturen auf. Während die Kompositionen der ersten beiden Bilder noch kraftvoll einem Ziel entgegenzustreben scheinen, ist das letzte nur pures Chaos. Details erkennt man noch, Köpfe, Zahnräder, Schlote, Blitze, doch jeglicher funktionale Zusammenhang ist dahin. Viele Künstler teilten Dix’ Blick auf diese gänzlich entzauberte Welt.

Bettina von Arnim: Close Cycle Man, 1969, Öl auf Leinwand, 138 × 112 cm, Städel Museum Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Städel Museum – ARTOTHEK)

Kleine Püppchen

Zurück zur Montage. Dem Ausstellungstitel im Wortsinn am nächsten sind wohl Zeichnungen von Rodtschenko, Malewitsch, Kandinsky, El Lissitzky und einigen anderen, die in einer kurzen Aufbruchphase der Kunst nach dem 1. Weltkrieg – in Rußland zumal – ernsthaft, doch auch spielerisch aus Menschen mechanische Funktionsgebilde machten, kleine Püppchen, um zu kreativen Weiterungen zu gelangen.. Es ist eine etwas spröde Kunst, aber auch eine ohne Ballast, nüchtern forschend, unbestechlich. Genannt sei hier neben der Herren ausdrücklich auch Ella Bergmann-Michel, deren rätselhaft-konstruktive Gebilde „sans titre“ sind und von 1923 stammen.

Bellings Köpfe

Natürlich (ist man fast geneigt zu sagen) fehlen Rudolf Bellings maschinengleiche aufpolierte Bronzemenschenköpfe (1923) nicht, auch René Magritte ist mit Menschen in surrealen Wundern („L’âge des merveilles“, 1926) vertreten. Und Fernand Léger natürlich, der seine Figuren aus prallwurstigen Einzelteilen (es widerstrebt, Gliedmaßen zu schreiben) zusammensetzte. Auch sein „Mechaniker“ von 1920 ist so entstanden, doch trotz der klobigen Anmutung in Sonderheit der Arme und der Hand vermittelt er nicht nur Kompetenz und Gelassenheit, sondern sogar Eleganz. Ein montierter Mensch, nun gut, aber auch einer, der gepflegt daherkommt (Oberlippenbärtchen, die Haare gescheitelt) und, Zigarette in der Hand, zu genießen weiß. Im Hintergrund des Bildes ahnt man Maschinenteile, und offenbar läuft die Maschine von ganz allein. Doch die Augen zeigen: der Mechaniker muß wachsam sein. Légers Bild ist das Logo der Essener Ausstellung.

Willi Baumeister: Maschinenmensch mit Schraubenwindung II, 1929 – 1930, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Staatsgalerie Stuttgart, erworben 1968 (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgart)

Die Futuristen jubelten

Aber Léger war – in seinen Werken – ja auch eine Frohnatur, meistens jedenfalls. Viele andere Künstler begegneten der Technik mit Skepsis und Unverständnis, empfanden sie als bedrohlich. Eine Ausnahme bildeten die italienischen Futuristen. Sie bejubelten den Fortschritt, fanden Autos, Motorräder und Flugzeuge toll, liebten Wettrennen und Rekorde. Leider geizt die Essener Schau ein wenig mit Futuristen, gerade einmal Fortunato Deperos „Motociclista (solido in velocitá)“ von 1927 oder Giacomo Ballas „Automobile in Corsa“ (1913) fallen ins Auge, und die sind in ihrer dekorativen Auffassung des Themas nicht sehr typisch.

Unverstellten Futurismo gibt es eher auf Plakaten wie Romano di Massas „Circuito di Milano“ (nach 1924) und Lucio Vennas „Ammortizzatori Excelsior“ (1925) zu sehen, letzteres eine eindrucksvolle graphische Symbiose von Zahnrad und Einzelmensch. Russische Plakate aus jener Zeit, sie hängen gleich nebenan, frönen hingegen dem Kult der Entindividualisierung in der (revolutionären) Masse. Man ahnt die wahnhafte Vorstellung, Menschen und Gesellschaften könnten nach Idealbildern erschaffen werden.

Rudolf Belling: Skulptur 23, 1923, Messing, 41,5 × 22,5 × 21 cm, Museum Folkwang, Essen (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Jens Nober)

Viele Arbeiten von Frauen

Walter Drexel montierte aus wenigen entlarvenden Strichen Hitler und Mussolini, Fotomontagen John Heartfields sind natürlich vertreten, ebenso Willi Baumeisters „Maschinen-Komposition“ (1921) und „Maschinenmensch“ (1929/30). Einige Fotos, zumal von marschierenden Soldaten und Sportlern, hätte man wohl auch weglassen können, da wird es sehr allgemein, franst die Ausstellung thematisch aus.

In guter Erinnerung hingegen bleiben zeitgenössische Arbeiten wie die eigentümlich anthropomorphen Skulpturen von Katja Novitskova (Mamaroo (Smoldering Brain, Groth Potential)“ und „Mamaroo (Violent Origins)“, beide von 2019 – auch deshalb, weil sie sich so schön pumpend, „hervorbringend“ bewegen. Anderes, was für Bewegung geschaffen war, steht still, insbesondere zwei Tinguely-Maschinen. Zu alt und zu gebrechlich seien sie, sagt das Kuratorium, aber schade ist es doch. Unverständlicherweise steht auch Rebecca Horns „Überströmer“ (1970) still. Dabei weiß gerade diese Künstlerin, man erinnere sich nur an ihre letzte Ausstellung im Duisburger Lehmbruck-Museum, sehr wohl, wie Kunst sich in Bewegung bringen läßt.

Gruselige Maschinengestalten

Man freut sich, Malerei von Maria Lassnig zu sehen („Warlord II“ von 1996, „Innenansicht/Röntgenselbst I von 1987, „Harte und weiche Maschine/Kleine Sciencefiction“ von 1988), doch wesentlich näher am Thema sind sicherlich Bettina von Arnims gruselige Maschinengestalten, Zwitterwesen aus Rohren und Tuben (vor Rohren, zwischen Rohren) mit menschlicher Anmutung. Und so könnte man fortfahren, Namen zu nennen und Werke zu beschreiben, doch das würde bald schon langweilig und soll deshalb jetzt ein Ende finden.

Das beste Haus für große Ausstellungen

Viel Kunst gibt es also im Folkwang-Museum zu sehen, über hundert Jahre alt oder auch ganz frisch, vielfältig aufeinander bezogen. Die thematische Klammer, wie gesagt, läuft hier und da Gefahr zu brechen, doch das mindert den Reiz dieser opulenten Ausstellung nicht. Von allen Museen im Ruhrgebiet ist das Essener Folkwang fraglos am besten dafür geeignet, große Ausstellungen mit vielen Kunstwerken prominent zu präsentieren. „Der montierte Mensch“ beweist es.

  • „Der montierte Mensch“
  • Folkwang-Museum, Essen, Museumsplatz 1
  • Bis 15. März 2020
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do + Fr 10-20 Uhr, Mo geschlossen
  • Eintritt 8,00 EUR
  • Katalog 384 Seiten, 227 Abbildungen 38,90 EUR im Museum, 65,00 EUR im Handel
  • www.museum-folkwang.de



In diesem Jahr kein Nelly-Sachs-Preis – Jury zieht Entscheidung für Kamila Shamsie zurück

Der befürchtete Skandal um den Dortmunder Nelly-Sachs-Preis (siehe unseren Bericht vom 11. September) ist gerade noch einmal abgewendet worden. Der Ausweg erinnert rein äußerlich ans Verfahren beim (aus ganz anderen Gründen) ins Zwielicht geratenen Literaturnobelpreis, der 2018 nicht vergeben wurde: Es wird also in diesem Jahr kein Nelly-Sachs-Preis verliehen. Kamila Shamsie, die ursprünglich als Preisträgerin ausgewählt worden war, wird die Auszeichnung doch nicht erhalten. Und auch sonst niemand.

Problematische Preisträgerin? Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Wird den Nelly-Sachs-Preis doch nicht erhalten: Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Wir geben die Pressemitteilung der Stadt Dortmund mitsamt einer Stellungnahme der Jury des Nelly-Sachs-Preises, die uns heute um 14:43 Uhr per Mail erreicht haben, kommentarlos wieder. Wortwörtlich:

„Die Stadt Dortmund wird ihren Literaturpreis, den Nelly-Sachs-Preis, in diesem Jahr nicht vergeben. In einer Sitzung am Wochenende entschied die achtköpfige Jury, ihre am 6. September getroffene Entscheidung über die Preisvergabe an die Autorin Kamila Shamsie zu revidieren. Gleichzeitig wurde beschlossen, für das Jahr 2019 keine andere Preisträgerin zu benennen. Damit wird der Nelly-Sachs-Preis erst wieder im Jahr 2021 vergeben.

Die Jury des Nelly-Sachs-Preises nimmt dazu wie folgt Stellung:

„Mit Ihrem Votum für die britische Schriftstellerin Kamila Shamsie als Trägerin des Nelly-Sachs-Preises 2019 hat die Jury das herausragende literarische Werk der Autorin gewürdigt. Zu diesem Zeitpunkt war den Mitgliedern der Jury trotz vorheriger Recherche nicht bekannt, dass sich die Autorin seit 2014 an den Boykottmaßnahmen gegen die israelische Regierung wegen deren Palästinapolitik beteiligt hat und weiter beteiligt.

Der § 1 der Satzung des Nelly-Sachs-Preises bestimmt, dass auch ,Leben und Wirken‘ einer Persönlichkeit bei einer Juryentscheidung einzubeziehen sind. Aufgrund der bekannt gewordenen Sachverhalte über die Autorin Kamila Shamsie trat die Jury am 14. September nochmals zur Beratung zusammen.

Die Jury fasste den Beschluss, ihr ursprüngliches Votum aufzuheben und die Preisvergabe an Kamila Shamsie zurückzunehmen. Die politische Positionierung von Kamila Shamsie, sich aktiv am Kulturboykott als Bestandteil der BDS-Kampagne (Boykott-Deinvestitionen-Sanktionen) gegen die israelische Regierung zu beteiligen, steht im deutlichen Widerspruch zu den Satzungszielen der Preisvergabe und zum Geist des Nelly-Sachs-Preises.

Mit dem kulturellen Boykott werden keine Grenzen überwunden, sondern er trifft die gesamte Gesellschaft Israels ungeachtet ihrer tatsächlichen politischen und kulturellen Heterogenität. Auch das Werk von Kamila Shamsie wird auf diese Weise der israelischen Bevölkerung vorenthalten. Dies steht insgesamt im Gegensatz zum Anspruch des Nelly-Sachs-Preises, Versöhnung unter den Völkern und Kulturen zu verkünden und vorzuleben.

Die Jury bedauert die eingetretene Situation in jeder Hinsicht.“




Der Zeit voraus in allen Wissenschaften – Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci

Von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv" (um 1490). (Galleria dell'Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Auch so ein berühmtes Bild, von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv“ (um 1490). (Galleria dell’Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Eigentlich muss man das nicht klarstellen, doch sei’s drum: Tayfun Belgin, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, hält also spaßeshalber fest, dass in seinem Haus weder die „Mona Lisa“ noch die „Anna selbdritt“ oder „Das Abendmahl“ zu sehen sind, obwohl die neue Ausstellung doch von Leonardo da Vinci handelt.

Na, sicher: Solche weltberühmten Bilder könnte man nimmermehr ausleihen, auch wenn man weder Mühen noch Kosten scheut. Außerdem ist die Malerei gar nicht Leonardos Hauptbeschäftigung gewesen, heute werden ihm lediglich rund 20 Gemälde zugeschrieben. Den Großteil seiner Zeit auf Erden (1452-1519) hat er mit teilweise visionären Erkundungen und Erfindungen zugebracht, die ihrer Zeit sehr weit voraus waren. Genau damit befasst sich die Schau – anhand von 119 handkolorierten Faksimile-Skizzen und von 25 Modellnachbauten, die recht exakt Leonardos Entwürfen folgen.

Das Ausstellung-Konvolut stammt vom Tübinger „Institut für Kulturaustausch“ (Leitung: Maximilian Letze). Anlass des Hagener Gastspiels der Wanderschau ist der 500. Todestag Leonardos. Der Aufbau der Ausstellung wirkt nur auf den ersten Blick womöglich etwas dröge. Sobald man sich aufs Thema einlässt, entsteht ein Sog.

Nach einer Leonardo-Skizze von 1495 gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Nach einer Leonardo-Skizze gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Der 1485 skizzierte Fallschirm funktioniert tatsächlich

Und siehe da: Die allermeisten Ideen des Universalgenies funktionieren tatsächlich, sie sind staunenswert ausführbar; so etwa auch ein Fallschirm, der einen sicher zu Erde bringt. Der Fallschirmspringer Adrian Nicholas hat es anno 2000 am eigenen Leibe ausprobiert, die Ideenskizze stammt von 1485!

Leonardo hat sich seinerzeit auch Gedanken über einen Hubschrauber-Vorläufer und eine Art Flugdrachen gemacht. Wahrlich, das waren Gedankenflüge sondergleichen, wenn auch die beiden zuletzt genannten Apparaturen sich zu Leonardos Zeit noch nicht dauerhaft in die Lüfte erhoben haben. Immerhin wandelte das Genie auch hierbei auf den richtigen Wegen. Unter anderem hatte Leonardo dafür intensive Studien zum Vogelflug absolviert. Pendant im anderen Element: Bevor er sich mit Schiffen befasste, widmete er sich genauesten Untersuchungen zur Wasserströmung.

Hin und her zwischen vielen Projekten

Die Ausstellung ist zwar thematisch recht säuberlich gegliedert, doch das täuscht über die wohl ziemlich chaotische, demiurgische Arbeitsweise Leonardos hinweg, der stets an einigen Projekten zugleich arbeitete, gar vieles ergriff und zwischendurch manches beiseite legte. Es ist ja überhaupt kaum zu glauben, über welche verschiedenen Gegenstände Leonardo da Vinci fundiert nachgedacht und dabei immer wieder geistiges und technisches Neuland entdeckt hat. In der Anatomie machte er ebenso bahnbrechende Fortschritte wie im Schiffs-, Brücken- und Kanalbau. Eine weit geschwungene Brücke, die im heutigen Istanbul von Europa nach Asien führen sollte, ist freilich nie gebaut worden, sie erschien dem Sultan gar zu visionär und wohl auch zu kostspielig. Sie war übrigens so konstruiert, dass sie Erdbeben überstanden hätte.

Leonardo zeichnete sich zudem als ebenso ebenso kühner wie umsichtiger Stadtplaner aus, u. a. für Mailand, wo er ein Kanalsystem ersonnen hat, das die gar zu eng gebaute Metropole hätte entlasten sollen. Auch Müllabfuhr und Gesundheitsvorsorge gehörten zum weitsichtigen Planungsumfang. Doch er kam mit seinen vielfältigen Ideen nicht zum Zuge.

Auch die Arterien-Verkalkung entdeckt

Müßig zu erwähnen, dass Leonardo auch als Architekt und Ingenieur Maßstäbe setzte. Die damals noch nicht so exakte Zeitmessung (mit Sonnen- und Sanduhren) reizte Leonardo zur Konstruktion ausgefeilter Uhrmechanik. Sein geradezu besessener, offenbar nie ermüdender Wissensdurst trieb ihn auch zu anatomischen Studien, die etwa zur ersten Entdeckung der Arterien-Verkalkung führten, also auch die Medizin voranbrachten. Seine Zeichnungen vom menschlichen Körper und dessen Innenleben sind von bis dahin unerreichter Präzision. Gruselige Kehrseite: Er sezierte dafür gelegentlich auch die Leichen vormaliger Strafgefangener.

Modellnachbau eines „Automobils" mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Modellnachbau eines „Automobils“ mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Für Leonardo bestand kein grundlegender Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, eins geht ersichtlich ins andere über. Erfindungen werden nicht zuletzt in ästhetischer Weise erwogen, geglückte Funktion erfüllt sich sozusagen auch im Anblick. Wenn er etwas Vorgefundenes aus der Natur zergliederte, diente dies auch der Verbesserung im Malerischen.

Ebenfalls keinen prinzipiellen Unterschied sah Leonardo zwischen Mensch und Maschine. Aufs „Funktionieren“ kam es beiderseits an. Wer weiß: Mit solchen Gedanken stünde er heute vielleicht an der Spitze einer Bewegung, die mit Nachdruck Künstliche Intelligenz erforscht und Mensch-Maschinen-Konstrukte in allerlei Abstufungen für denkbar oder gar für wünschenswert hält.

Eine Frühlingsgöttin auf dem „Automobil“

Die Modelle aus Holz und Metall, die auf der Basis von Leonardos Skizzen entstanden sind, kann man zum Teil selbst erproben, beispielsweise auch den Nachbau eines frühen „Automobils“, dessen Original sich per Federspannung (gespeicherte Kraft) immerhin rund 30 Meter weit selbsttätig fortbewegen konnte. Mit großem Pomp hatte das von den Medici in Auftrag gegebene Fahrzeug seine öffentliche Premiere, spektakulär beladen mit einer „Frühlingsgöttin“. Jammerschade, dass es davon keine Filmaufzeichnung gibt. Die entsprechende Erfindung (oder wenigstens Vorarbeiten dazu) hätte man Leonardo beinahe auch noch zutrauen dürfen. Nun gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Generell nahmen übrigens die Zeitgenossen manche seiner Erfindungen nicht ernst, weil sie die Tragweite nicht erkannt haben.

Je elf Läufe in drei Lagen: Modell eines Orgelgeschützes nach einer Skizze (1482) Leonardo da Vincis. (Foto: Bernd Berke)

Ein zwiespältiges Kapitel sind Leonardos Forschungen für militärische Zwecke. Obwohl im Herzen wohl eher Pazifist, erfand er beispielsweise martialische Belagerungsmaschinen oder einen fürchterlichen Sichelwagen, der durch die Reihen feindlicher Kämpfer rasen und sie massenhaft niedermähen sollte wie Gras oder Getreide. Allerdings hätten sich auch die Zugpferde schwer verletzt.

Furchtbar raffinierte Militärtechnik

Ein schon neuzeitlich anmutendes Orgelgeschütz konnte aus vielen Rohren zugleich feuern, die Geschützbatterien sollten sich durch Drehung rasch auswechseln lassen. Sogar ein trutziger Panzer, ebenfalls rundum mit Geschützen ausgestattet, zählte zu Leonardos Ideen-Arsenal. Derlei Kriegsgerätschaften beeindruckten so manchen italienischen Fürsten, der in jenen unruhigen Zeiten im Hader mit anderen lag. Auf lukrative fürstliche Aufträge war Leonardo angewiesen.

Die Skizzen sind oftmals dermaßen kleinteilig ausgeführt, dass man als Laie zumindest sehr lange hinschauen muss, um daraus halbwegs schlau zu werden – von der winzigen Beschriftung ganz zu schweigen. Verständnishilfe gibt’s an sechs Multimedia-Stationen, wo man mit mehr als 8000 Bildern etliche Einzelheiten über Leonardo und seine Zeit aufrufen kann. Mit einem allzu kurzen Aufenthalt im Museum sollte es also nicht getan sein. Erst recht nicht, wenn man am Schluss noch ein paar heutige Patente aus Hagen und Südwestfalen in Augenschein nehmen will. Erfindergeist regt sich noch, wenn auch nicht mehr im Sinne von Originalgenies.

Im Verlauf des Rundgang fragt man sich, woran ein Leonardo wohl heute arbeiten würde. Ob er sich mit Klimafragen beschäftigen würde? Oder mit etwas ganz anderem, was uns Heutigen noch gar nicht in den Horizont gerückt ist? Genügend Nahrung für Phantasie.

Leonardo da Vinci – Erfinder und Wissenschaftler. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 15. September 2019 bis 12. Januar 2020, geöffnet Di-So 12-18 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Katalogbuch erhältlich. Tel.: 02331 / 207 3138. www.osthausmuseum.de

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Direkt nebenan, im selben Kunstquartier, zeigt das Emil Schumacher Museum vom 15. September 2019 bis zum 9. Februar 2020 eine Sonderausstellung mit abstrakten Bildern von K. R. H. Sonderborg. Darauf werden wir in den nächsten Tagen zurückkommen. Infos: www.esmh.de

 

 

 




Von der Eiszeit bis zur Digitalisierung – eine umfangreiche Geschichte der Ostsee

Seltsame Wesen sollen einst an den Gestaden der heutigen Ostsee gelebt haben. Der römische Naturforscher und Universalgelehrte Gaius Plinius Secundus Maior (ca. 23-79 n. Chr) vermochte über mutmaßliche Menschen des hohen Nordens freilich nur vom Hörensagen zu schreiben: 

Man erzähle von Inseln, „auf denen Menschen mit Pferdefüßen geboren werden (…) und von anderen, auf denen die Bewohner ihre sonst nackten Körper durch ihre übergroßen Ohren völlig bedecken sollen.“

Klingt ein bisschen spekulativ, oder? Die Landstriche wurden von Süden her erst recht spät entdeckt. Dieser Umstand ließ viel Raum für Phantasien, die das gänzlich Unbekannte und Fremde zu imaginieren suchten. Erst 1539 fertigte der Schwede Olaus Magnus, Bischof von Uppsala und Kartograph, eine einigermaßen brauchbare Landkarte an, die den wirklichen Umrissen schon ähnelt.

Heute wissen wir’s etwas besser. Manche, wie der Kieler Historiker Prof. Martin Krieger (Spezialgebiet: Geschichte Nordeuropas), kennen sich so gut mit der Materie aus, dass sie ein Buch daraus machen, welches über weite Strecken als Standardwerk gelten darf und sich als vorbereitende oder begleitende Lektüre zum nächsten Ostsee-Urlaub empfiehlt: „Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte“ ist eine umfassende Darstellung so gut wie aller Aspekte, die das relativ kleine Meer (es würde ungefähr zweimal in die Nordsee und rund 300 Mal in den Atlantik passen) betreffen. Manches kann freilich nicht tiefgreifend erläutert, sondern nur gestreift werden. Wie denn auch anders?

Lange unter einer Eisschicht verborgen

Zunächst die erdgeschichtliche Dimension: Als im heutigen Frankreich und Spanien schon die Höhlenmaler zugange waren, lastete auf dem späteren Ostsee-Areal noch eine dicke Eisschicht. Die nachfolgende Erderwärmung war dazumal eine günstige Entwicklung, sie ermöglichte Leben und später die dauerhafte Besiedlung des europäischen Nordostens. Die Ostsee-Anrainer hießen später Norddeutschland, Dänemark, Schweden, Polen und Baltikum sowie Finnland, auch gehörte ein Teil Russlands um St. Petersburg hinzu.

Im Vergleich zu südlichen Gefilden des Kontinents war der Nordosten stets mit ziemlicher Verspätung an der Reihe, auch die Christianisierung vollzog sich hier erst mit großer Verzögerung. Kehrseite: Die Gegenden rund um dieses oft stille, zuweilen aber auch tosend gefahrvolle Meer galten mitsamt den Bewohnern als urtümlich. Ein rätselhafter Ostsee-Fund, nämlich eine Buddha-Figur aus dem 6. Jhdt. n. Chr., scheint jedoch darauf hinzudeuten, dass es schon zu jener frühen Zeit keine völlige Isolation von aller Welt gegeben haben kann.

Als Schiffe in Heringsschwärmen steckenblieben

Und so entwirft der Kieler Professor ein historisches Ostsee-Panorama, das über die Stein-, Bronze- und Eisenzeit sowie die (auch nicht so leicht einzugrenzende) Wikingerzeit zunächst bis zur Hanse reicht. Hier halten wir kurz inne. Wir erfahren, dass es sich gar nicht um einen festgefügten Städtebund gehandelt habe, sondern eher um lose Verbindungen ohne Gründungsakt oder übergreifende Verträge. Deshalb könne man auch nicht exakt sagen, welche Stadt zu welcher Zeit dazugehört hat. Jedenfalls begann im 13. Jahrhundert der Aufstieg Lübecks, und die Hansekogge ersetzte alsbald zunehmend die alten Formen der Wikinger-Schiffe, denn in den bauchigen Koggen ließ sich erheblich mehr Ware transportieren, was den aufblühenden Handel begünstigte.

Eine vielleicht nur unwesentlich übertriebene zeitgenössische Darstellung des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus besagt, die Heringsschwärme seien damals so ungeheuer dicht gewesen, dass Schiffe sie kaum durchdringen konnten, manche seien buchstäblich im Fisch steckengeblieben…

Backsteingotik, Reformation und Aufklärung

Und weiter geht’s durch die Epochen: die Zeit des Deutschen Ordens (Besiedlung und Kolonisierung ostwärts), das Aufkommen der Backsteingotik, die auch im Norden furchtbar grassierende Pest, sodann die Reformation, der Dreißigjährige Krieg, der Fernhandel im Zeichen des Kolonialismus (in dem die Ostseeregion wegen der gar zum umständlichen Seewege nach Indien eher eine Nebenrolle spielte). Allerdings gab es auch dänische Sklavenhändler, die Waffen produzierten, für den Gegenwert in Afrika Sklaven kauften, die wiederum auf karibischen Inseln beim Zuckeranbau ausgebeutet wurden. Eine schreckliche Frühform der „Globalisierung“.

Großen Anteil an der Entwicklung eines Regionalbewusstseins (nicht nur rund um die Ostsee) hatte in der Aufklärung Johann Gottfried Herder, der jeder Region einen unvergleichlichen Eigenwert beimaß. Dass mit Immanuel Kant einer der größten Köpfe der Aufklärung just an der Ostsee, nämlich in Königsberg höchst sesshaft war, dürfte sich herumgesprochen haben.

1793 eröffnet mit Heiligendamm das erste Seebad

1793 beginnt eine bis heute reichende Entwicklung, die auch einen Ausgangspunkt des Buches bildet, nämlich die Entstehung der Urlaubsregion Ostsee. Im genannten Jahr eröffnete das Seebad Heiligendamm in Mecklenburg. Auch hierbei pflegte man sorgsam das Bild von der Ostsee als einer unverdorbenen und ursprünglichen Landschaft.

Allerdings ging auch die Industrialisierung nicht spurlos an der Ostsee vorbei. Kanäle und Eisenbahnbau durchschnitten die Landschaft, es wurden große Werften und andere Betriebe gegründet.

Relativ kurz abgehandelt werden die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Dazu heißt es, die Ostsee sei – mit wenigen Ausnahmen (Stichwort: Kieler Matrosenaufstand) – eher ein Nebenschauplatz gewesen. Wahrscheinlich ergibt es ja auch wenig Sinn, im Rahmen einer Gesamtschau näher auf grundstürzende Ereignisse einzugehen, für die man keine einzelnen Kapitel, sondern ganze Bücher braucht.

Weiterer Haltepunkt ist die „Wende“ um 1989, in deren Gefolge rund um die Ostsee alte, im Kalten Krieg abgeschnittene Handelswege wieder bedeutsam wurden. Man kann nur hoffen, dass das so bleibt.

Im Schlussteil, der „Bedrohungen und Chancen der Zukunft“ abwägt, geht Krieger seltsamerweise nicht auf den Klimawandel und einen womöglich ansteigenden Meeresspiegel ein, sondern – für sich schon bedrohlich genug – auf Vermüllung und Überfischung der Ostsee. Und die Chancen? Sieht Krieger vornehmlich darin, dass rund um Helsinki und Stockholm, aber auch in Dänemark und im Baltikum die Digitalisierung rasante Fortschritte mache. Deutschland wird dabei nicht eigens erwähnt…

Übrigens: Gerade angesichts der hervorragenden Druckqualität hätte man sich noch mehr prägnante Bebilderung gewünscht. Vielleicht in einer späteren Auflage?

Martin Krieger: „Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte“. Reclam Verlag, 296 Seiten mit 7 Karten und 65 Abbildungen, Literaturverzeichnis und Register. Gebundene Ausgabe, Großformat (ca. 27 x 21 cm). 39 €.

 




„Brüder und Knechte“: Erinnerung an den Autor Willy Kramp

Gastautor Heinrich Peuckmann über den Schwerter Schriftsteller Willy Kramp (1909-1986):

Bis zu seinem Tode 1986 wohnte in Schwerte-Villigst der Schriftsteller Willy Kramp. Ich kam mit ihm in Berührung, weil ich damals seine Enkeltochter Katharina unterrichtete, die heute unter dem Pseudonym „Kathryn Taylor“ Bestsellerromane schreibt. Zwei Bücher vor allem haben aus Kramps umfangreichen Werk bis heute Strahlkraft.

Der Schriftsteller Willy Kramp (Foto: Durkadenz / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: )

Der Schriftsteller Willy Kramp (Foto: Durkadenz / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Da ist einmal der Romanbericht „Brüder und Knechte“, Kramps erfolgreichstes Buch, das wochenlang auf der Bestsellerliste des „Spiegel“ stand.

Mitte der dreißiger Jahre unterrichtete er an einer privaten Mädchenschule. Nach Heirat und Geburt des ersten Kindes reichte das Gehalt aber nicht, so dass er, nicht mit dem drohenden Weltkrieg rechnend, die harmlos erscheinende Stelle eines Heerespsychologen annahm. Eine Entscheidung mit Folgen, denn es blieb kein Job in Friedenszeiten.

Heerespsychologe unter Hitler

Durch Major Hößlin, der ihn als Ordonnanzoffizier anforderte, kam Willy Kramp mit dem Widerstand rund um den Kreisauer Kreis in Berührung, wurde nach dem Scheitern des Putsches aber unter Hößlins weiser Voraussicht an die Ostfront geschickt, wo er nur noch von der Verhaftung und Hinrichtung seines Vorgesetzten hörte.

Die Gruppe Hößlin war dazu ausersehen, bei Gelingen des Putsches den Gauleiter und Oberpräsidenten Koch, der später erst zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslanger Haft „begnadigt“ wurde, zu stürzen und die Macht in Ostpreußen zu übernehmen. Kurz vor Kriegsende geriet Kramp in russische Gefangenschaft und kam erst 1950 zurück.

Innenansicht des Widerstands

Diese Kriegserlebnisse hat er in „Brüder und Knechte“ geschildert. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Widerstand, er protokolliert detailliert die internen Diskussion zwischen den Verschwörern, ihre Skrupel, ihre Hoffnungen, aber auch die Gespräche während der Offiziersabende, in denen die Verschwörer mit jenen blind gehorsamen Nazioffizieren zusammentrafen und es ihnen schwer fiel, sich bei Gesprächen über den Fortlauf des Krieges nicht selbst zu verraten. Dabei war gerade Hößlin derjenige, der am wenigsten mit seiner Abneigung gegen Hitler hinter dem Berg zu halten vermochte und der damit sich und andere gefährdete. Das Bild eines entschlossenen Offiziers mit fast jugendlicher Unbekümmertheit entsteht vor den Augen des Lesers. Die Leute des Kreisauer Kreises, getragen von ihrem christlichen Anspruch und in ihrem Bündnis mit politisch linken Kräften, hatten, dies nebenbei, eine relativ klar entwickelte demokratische Vorstellung für die Zeit nach den Nazis, anders als Stauffenberg.

Der Putsch misslang, und Hößlin vernichtete umsichtig alle Papiere, die Kramp und die anderen hätten belasten können. Wozu waren überhaupt die Listen mit den Namen der Verschwörer nötig, die es den Nazis später so leicht machten, sie zu enttarnen und hinzurichten? Sie waren es, weil sich die Verschwörer untereinander nicht kannten und im Falle eines Gelingens des Attentats sofort jene Offiziere bei den einzelnen Truppenteilen anrufen mussten, die dazu gehörten, damit sie die Macht übernahmen.

In russischer Gefangenschaft

Im zweiten Teil schildert Kramp seine Erlebnisse an der Front bis hin zur Gefangennahme und seine Zeit in russischer Gefangenschaft. Kramp vermeidet hier jede pauschale Verurteilung der Sowjets, er weiß, wer die wirklichen Verursacher waren, die ihn in diese Situation gebracht hatten. Als irgendwann ein deutscher Offizier stöhnt, so schlimm wie die Russen seien die Deutschen nicht mit ihren Gefangenen umgegangen, erzählt Kramp ihm, was er hat sehen müssen. In dem Lager, in dem sie jetzt waren, starben einige an der Ruhr, in einem Gefangenenlager mit russischen Gefangenen in Deutschland dagegen waren alle an der Ruhr erkrankt und starben bis auf wenige Ausnahmen. Eine Aussage, die den anderen beschämt.

In dieser Extremsituation geht es ihm um eines: Wie weit zwingt die Situation den Menschen, und damit auch ihm selbst, ihr Handeln auf und macht ihn zu ihrem „Knecht“? Wieweit gelingt es ihm und seinen Mitgefangenen, sich dem zu entziehen und wenigstens momenthaft „Bruder“ des anderen zu bleiben? Eine Frage, die ihre Gültigkeit nicht verliert.

Auf den Spuren des „Waldmenschen“

In der Zeit der großen Friedensdemonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Gefahr eines Atomkriegs veröffentlichte Kramp ein zweites wichtiges Buch. „Das Versteck“ heißt die Erzählung.

Mit Sohn und Enkeltochter (eben jener Katharina) verbringt der Erzähler ein paar Urlaubstage in einem Haus im Hessischen. Zufällig findet der Erzähler in einem Buch einen Zeitungsbericht über den „Waldmenschen“ Engelbert Lohmeyer, der vierzig Jahre lang einsam in hessischen Wäldern gelebt hat.  Gerade in dem Haus, in dem die drei ihre Ferien verbringen, wurde er geboren. Erste Auskünfte eines Dorfbewohners ergeben, dass Engelbert 1918 desertiert ist und nach Kriegsende keinen Anschluss mehr an das normale Dorfleben gefunden hat.

Im Gespräch mit Sohn und Enkeltochter entwickelt der Erzähler Engelberts Geschichte neu, wobei vieles, was sich der Erzähler ausdenkt, später von den Dorfbewohnern bestätigt wird. Die entscheidende Frage ist dabei natürlich, warum Engelbert nach Kriegsende nicht nach Hause zurückgegangen ist, und die Antwort darauf ist erschreckend. Für viele in Engelberts Dorf waren nämlich nicht der Kaiser, seine Militärs und die Rüstungsindustrie Schuld am Krieg und dem folgenden Elend, sondern Leute wie der Deserteur Engelbert. Er wurde verfolgt und hatte also allen Grund, nach zwischenzeitlicher Rückkehr zu seinen Eltern wieder in sein Waldversteck zu fliehen. Es war ein mutiges Buch, das Kramp da veröffentlicht hatte. In der Zeit der Kriegsangst aufgrund der Nachrüstung ergriff es Partei für die Friedensdemonstranten.

Willy Kramp ist heute unverdient weitgehend vergessen. Wer ihn liest, entdeckt eine funkelnde Prosa, denn er hat sein Handwerkszeug beherrscht. Und der Leser entdeckt literarische Texte, die um entscheidende Grundfragen des Lebens kreisen. Christliche Weltsicht ist hier, wie sie sein sollte. Sie ist einer humanen und friedlichen Gesellschaft verpflichtet.

 

 




„Alles nur geklaut?“ – Dortmunder Schau auf Zeche Zollern zeichnet „abenteuerliche Wege des Wissens“ nach

Vorführung des von Karl Drais erfundenen Laufrades anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Wichtige Station in der Erfindungsgeschichte des Rades: Vorführung des vom Karlsruher Karl Drais erfundenen Laufrades – anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Das gibt’s beileibe nicht in jeder Ausstellung: In der Dortmunder Schau mit dem flotten Fragezeichen-Titel „Alles nur geklaut?“ (ebenfalls geklaut: beim gleichnamigen Song der „Prinzen“) wird das Rad gleichsam noch einmal neu erfunden.

Auch sonst werden „Die Abenteuerlichen Wege des Wissens“ (Untertitel) beschritten. Es geht um Entstehung und Weitergabe des Wissens, aber auch um Geheimhaltung und Spionage – mit historischen und aktuellen Weiterungen bis zum Datenschutz. Ein weites Feld, fürwahr, das da mit 370 Exponaten auf 1000 Quadratmetern ausgeschritten wird.

Symboltier der Ausstellung für „geklautes" Wissen: die diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Steht als Symboltier der Ausstellung für „geklautes“ Wissen: eine diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Kurz zurück zum Rad. Das älteste Exponat im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern ist ein jungsteinzeitliches hölzernes Scheibenrad, aufgefunden im Moor bei Aurich und daher staunenswert gut konserviert. Es stammt aus der Zeit um 2350 v. Chr.

Sodann kann man wesentliche Entwicklungsschritte bis hin zum heutigen Formel-1-Reifen verfolgen. Zwischendurch hat eine holographisch erzeugte „Geistererscheinung“ ihren Auftritt. Da spricht im Kleinformat ein dreidimensionaler Schauspieler zu uns, stilecht gewandet als Freiherr Karl von Drais, welcher anno 1817 das Laufrad („Draisine“) erfunden hat. Gleich daneben kann man Drais‘ Antlitz als Lebendmaske bewundern, zusätzlich versehen mit echten Wimpern des Mannes. Ein Stück wie aus der Wunderkammer.

Diese Ausstellung arbeitet mit verschiedensten Medien und Methoden, um eben auch möglichst viele Menschen anzusprechen. Herkömmliche museale Exponate und Vitrinenstücke werden vielfach flankiert von künstlerischer „Intervention“ (mit einer Arbeit von Jean Tinguely bis hin zur Performance) und vor allem (multi)medialer Aufbereitung. Wo irgend möglich, geht es betont spielerisch zu, im nicht gar so schönen Neusprech gesagt: „Gamification“ genießt im Zweifelsfalle Vorrang.

Wer knackt die Codes in den Geheimkammern?

Ein Clou sind die sechs „geheimen Kammern des Wissens“. Nach dem Muster der schwer angesagten Escape Rooms (man darf ins Freie, wenn man vorher Rätsel gelöst hat) soll man in diesen abgetrennten Räumen knifflige Fragen beantworten und Codes knacken; natürlich alles auf freiwilliger Basis. Wer es schafft, wird in die „Loge des Wissens“ aufgenommen. Und selbstverständlich bleibt niemand, der die Antworten nicht findet, hilflos in der Raumzelle gefangen…

Die Loge in allen Ehren. Aufschlussreich ist aber schon der ganz normale Rundgang durch die Schau. Eingangs wird der Prometheus-Mythos aufgegriffen, demzufolge alles Wissen ursprünglich von den Göttern herrührt, das ihnen jedoch vom Menschen entwunden („geklaut“?) wurde.

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England entscheidend erweiterte. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man gesagt: ein „Spionier". (Foto: LWL/Hudemann)

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England erwarb. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man die Worte kombiniert: ein „Spionier“. (Foto: LWL/Hudemann)

Doch allmählich wurde offenbar, dass der Mensch auch selbst neues Wissen generieren konnte. Und zwar mit der Zeit dermaßen viel Wissen, dass es irgendwie gespeichert werden musste: Da steht man unversehens zwischen einem 243 Bände umfassenden Lexikon des Universalgelehrten Johann Georg Krünitz und einem Bildschirm mit Wikipedia-Zugriff. Vertreter dieser Online-Enzyklopädie wollen die Schau besuchen, Workshops veranstalten – und dabei auch um potenzielle Mitarbeiter werben, an denen es zunehmend mangelt; womit auch eine Frage zur Weitergabe des Wissens berührt wäre.

Wissen schützen, Wissen stehlen

Weitere Themen-Facette: der Schutz des Wissens und die Verletzung dieses Schutzes. Als sinnfälliges Beispiel dient die ehedem äußerst lukrative Porzellanherstellung, die über lange Zeit ein bestens gehütetes chinesisches Geheimnis blieb. Erst 1710 kam man im sächsischen Meißen auf den „Trichter“ (Kaolin hieß das Zauberwort), führend daran beteiligt war Samuel Stöltzel. Sein Expertenwissen galt unter August dem Starken quasi als Staatsgeheimnis. Stöltzel freilich übte Verrat. Er ließ sich vom Kaiser in Wien das wertvolle Wissen abkaufen – und kehrte hernach wiederum mit frischen Erkenntnissen um Porzellan-Bemalung nach Sachsen zurück. Ein Doppelagent also. Auch er begegnet uns als sprechendes Hologramm und versucht, seine Beweggründe zu erklären.

Besonderes Exponat: In sauerstoffarmem Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

Heikles Exponat: im sauerstoffarmen Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

An etlichen Stellen stößt man in der Schau auf Ambivalenzen und Widersprüche, manchmal auch auf schreckliche Untiefen: Wernher von Braun war mit seiner Raketenforschung zunächst den Nazis zu Diensten. In Dortmund sind Teile einer V2-Rakete, der in Peenemünde entwickelten, so genannten „Wunderwaffe“ zu sehen, bei deren Fertigung mindestens 12.000 Zwangsarbeiter aus dem KZ Mittelbau-Dora (Thüringen) ums Leben gekommen sind. Wissens-Weitergabe der überaus wendigen Art: Später war von Braun eine treibende Kraft der Raketenentwicklung und des Weltraumprogramms in den USA. Sein Weg führte sozusagen von Hitler zu Kennedy, was in Dortmund durch ein irritierendes Kippbild veranschaulicht wird. Allemal ist es ein Denk- und Lehrstück zur angeblich wertneutralen Wissenschaft.

Kein Patent auf Röntgenstrahlen

Manche Leute waren aufs Eigentum an Wissen bedacht, andere zeigten sich freigebig: Wilhelm Conrad Röntgen verzichtete tatsächlich auf ein Patent für seine bahnbrechende Entdeckung der Röntgenstrahlen (Ausstellungsstück: durchleuchteter Schädel Sigmund Freuds), er befand, solches Wissen gehöre der ganzen Menschheit. Konrad Adenauer kämpfte hingegen vergebens um ein Patent für eine ungleich geringere Erfindung. Der nachmalige Bundeskanzler hatte sich einen beleuchteten Stopfpilz ausgedacht…

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma" aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma“ aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Um Geheimhaltung und Entschlüsselung geht es an einer anderen Station: Ein Exemplar des legendären, weil weltweit beispiellosen deutschen Verschlüsselungs-Apparats „Enigma“ steht für den Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg. Rund 10.000 Menschen arbeiteten in London an der Entschlüsselung deutscher Militär-Nachrichten, lediglich vier deutsche Fachkräfte waren als „Enigma“-Abwehr eingeteilt, wie Ausstellungs-Kurator Georg Eggenstein zu berichten weiß.

Bochum mit James Bond und Stasi

Natürlich konnte man auch diesen populären Aspekt nicht verschenken: In Sachen Spionage wirft man einen kecken Seitenblick auf James Bond, der ja bekanntlich aus dem heutigen Bochumer Stadtteil Wattenscheid stammt. Zudem wird die abenteuerliche Geschichte des Bochumer Stasi-Spitzels Karl Heinz Glocke angerissen, wie es denn überhaupt einige frappierende regionale Bezüge gibt.

Spionage-Chefin aus Dortmund setzte Mata Hari ein

Am erstaunlichsten vielleicht diese Verbindungslinie nach Westfalen: Haben Sie schon einmal den Namen Elsbeth Schragmüller gehört? Ihre Geschichte ist ein Thema für sich, sie ist wohl noch lange nicht auserzählt und dürfte weitere Recherchen lohnen. Die Frau wurde im später zu Dortmund gehörenden Vorort Mengede geboren und besaß offenbar einen scharfen analytischen Verstand. In Berlin brachte sie es im Ersten Weltkrieg zur Leitung der Spionage-Aktivitäten gegen den „Erzfeind“ Frankreich. Mancherlei Legende rankte sich um „Mademoiselle Docteur“. Genaueres wusste kaum jemand. Sie selbst hat sich – erst 1929 – nur ein einziges Mal öffentlich zu ihrer Funktion geäußert.

Verantwortliche Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (v. li.): LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor der Zeche Zollern) und Kurator Georg Eggenstein). (Foto: Bernd Berke)

Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), von links: LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor des Industriemuseums Zeche Zollern), Kurator Georg Eggenstein. (Foto: Bernd Berke)

Frau Schragmüller setzte auch die berühmte Mata Hari ein, die vormals halbseidene Tänzerin, die nach ihrer Bühnenkarriere weiter ein glamouröses Leben führen wollte und sich daher auf Spionage einließ. Hilfreich waren dabei ihre teils hochrangigen Nachtclub-Bekanntschaften. Auch dazu gibt es neue Einsichten, weil erst seit Ende 2017 die französischen Prozessakten gegen Mata Hari eingesehen werden dürfen. 1917, also 100 Jahre zuvor, hatte das Verfahren zur Hinrichtung der Spionin geführt.

Gar vieles könnte man noch erwähnen: Besucher-Selfies, die in einer Cloud auf Stoffbannern auftauchen; einschlägige Objekte zu „Fake News“ und sonstigen Fälschungen von Schülern aus Irland, Polen und Deutschland; eine ebenso niedliche wie gruselige Spielzeugpuppe, die ins Kinderzimmer hinein lauscht und in Deutschland verboten ist. Und, und, und. Nun ist’s aber auch genug der Vorrede: Ein Besuch der schlauen Schau ist schlichtweg ratsam.

„Alles nur geklaut? Die abenteuerlichen Wege des Wissens“. Vom 23. März bis zum 13. Oktober 2019. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund, Grubenweg 5. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 8 Euro, Kinder/Jugendliche (bis 17) frei. Katalog 29,95 Euro. Tel. Führungen/Museumspädagogik: 0231/6961-211. Internet: allesnurgeklaut.lwl.org




Der Zweite Weltkrieg und die kleine Stadt Kamen

Ein Beitrag von Gastautor Heinrich Peuckmann:

Es ist erstaunlich, welchen Anteil Menschen aus der kleinen Stadt Kamen, in der ich geboren wurde und immer noch lebe, am Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatten. Vier Beispiele:

Berühmte Dresdner Brücke, genannt „Das blaue Wunder". (Foto vom September 2003: Bernd Berke)

Berühmte Dresdner Brücke, genannt „Das Blaue Wunder“. (Foto vom September 2003: Bernd Berke)

„Blaues Wunder“

Ein Kamener, hörte ich erst kürzlich, sei für die Rettung der Brücke in Dresden, des sogenannten „Blauen Wunders“, kurz vor Kriegsende verantwortlich. Die Dresdner sind noch immer dankbar für diese Rettung. Als ich mich umhörte, kam heraus, was ich von Anfang an geahnt hatte. Ich kenne diesen Mann, es ist der alte Herr Erhards, der seit Ewigkeiten am Alten Markt wohnt und früher ein Elektrogeschäft betrieb.

Die Geschichte stimmt nur etwa zur Hälfte, aber immerhin das. Er sei bei der Elitetruppe „Hermann Göring“ gewesen, erzählte er mir, als ich ihn darauf ansprach. In den letzten Kriegstagen hätte die Truppe am Ostufer der Elbe in Dresden gelegen. Die Brücke sei ihre letzte Fluchtmöglichkeit nach Westen gewesen, um den russischen Truppen zu entgehen.

Er war abkommandiert, um Material über die Brücke hin und her zu schaffen. Bei einer dieser Fahrten habe er bemerkt, wie sich Soldaten an den Brückenpfeilern zu schaffen machten. Auf seine Frage hin, was sie da machten, hätten sie geantwortet, dass sie Sprengstoff anbrächten, um die Brücke zur Sprengung vorzubereiten. Er hat sofort seinen Kommandanten, der auf einer Anhöhe residierte, informiert und der hat dann, nicht zuletzt aus Eigennutz, die Sprengung verhindert. Immerhin, er war zwar nicht der Hauptverantwortliche, aber ein kleines Rädchen bei der Rettung dieser schönen Brücke, die die Dresdner bis heute erfreut, war er doch.

Einer aus seiner Einheit hätte darüber mal einen Artikel in einer Kölner Zeitung geschrieben, erzählte er mir. Um alle Fakten zu kennen, sei er nach Kamen gekommen und hätte ihn, seinen Frontkameraden Erhards, nach letzten Details befragt. Den Artikel hätte er noch, aber den Journalisten würde ich bestimmt nicht kennen. Als er mir eine Kopie zeigte, las ich den Namen des Verfassers. Es war Dieter Wellershoff, der über die letzten Kriegstage nicht nur diesen Artikel, sondern sogar ein Buch geschrieben hat. Ich war es dann, der ihn aufklärte, wer sein alter Kriegskamerad gewesen war, mit dem zusammen er im Schützengraben gelegen hatte. Einer der besten Autoren der Nachkriegszeit.

Über die Brücke hat sich die Einheit, der Erhards angehörte, dann tatsächlich aus dem Staub gemacht.

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Stauffenbergs Tasche

Hermann „Hermi“ G. ist wahrscheinlich der biologische Vater meiner alten Freundin Gabi gewesen. Ihre Mutter hat ihr den Namen des Mannes, der sie als junge Kriegerwitwe Anfang der fünfziger Jahre  schwängerte, niemals verraten. Aber aus den wenigen Angaben, die sie dann doch machte, habe ich Gabis Vater nach Befragen von Altersgenossen ausfindig machen können.

Bei der Machtergreifung 1933 war er blutjung gewesen und damit leicht formbar zum fanatischen Nazi. Im Krieg wurde er zur Wolfsschanze abkommandiert und machte genau an jenem Tag Dienst, als Stauffenberg dort mit der Bombe in der Tasche ankam. „Hermi“ hat später immer wieder erzählt, dass er Stauffenberg, dem nach einer Kriegsverletzung die rechte Hand amputiert wurde und dem an der linken Hand zwei Finger fehlten, angeboten hat, die Tasche zu tragen. Jene mit der Bombe darin.

„Darf ich Ihnen Ihre Tasche tragen, Herr Oberstleutnant?“, hat er hilfsbereit gefragt. Stauffenberg hätte nicht reagiert und erst, als er die Frage zum zweiten Mal hörte, gereizt geantwortet:  „Meine Tasche kann ich selber tragen.“

Tatsächlich bestätigen Quellen, dass „ein paar junge Offiziere“ Stauffenberg diese Frage gestellt haben. Hermi war wohl einer von ihnen gewesen. In seinen Erzählungen hat er später ehrlich hinzugefügt, dass er Stauffenberg ganz sicher, hätte er gewusst, was in der Tasche war, verraten hätte. Er gehörte zu den Verführten. Später wurde er zuerst Journalist und danach, bis zu seinem frühen Tod, Pressesprecher bei einem Autokonzern.

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Zur Siegesfeier auf dem Roten Platz

Mein alter Freund Hans, der kürzlich gestorben ist, hat auf der anderen Seite gekämpft. Nur wenige unter unseren Freunden wissen, dass er einer Adelsfamilie entstammte. Er ließ sich nur mit seinem schlichten Nachnamen anreden, aber ich habe mir früher gerne den Spaß erlaubt und ihn mit „Herr von und zu“ angeredet. Alle anderen haben dann gegrinst, aber wir beide haben uns zugeblinzelt, denn wir wussten, dass es kein Gag war.

Er stammte aus einer alten Militärfamilie. Sein Großvater war Stadtkommandant einer süddeutschen Stadt gewesen, sein Vater war ebenfalls Offizier gewesen. Als der Vater im Krieg irgendwann auf Urlaub nach Hause kam, hat er seinen Sohn Hans zur Seite genommen. „Wenn du demnächst die Nachricht kriegen solltest, dass ich an einer Lungenentzündung oder etwas Ähnlichem gestorben bin, glaube ihnen nicht. Dann haben sie mich erschossen.“

Hans schloss daraus, dass sein Vater irgendwie in das Attentat vom 20. Juli eingeweiht war. Welche Rolle er dabei gespielt hat, hatte er ihm nicht verraten. Tatsächlich kam einige Zeit später die scheinheilige Nachricht von seinem Tod. Hans kämpfte damals an der Ostfront und schon beim nächsten Angriff der Russen hat er sich überrollen und gefangen nehmen lassen. Für die Mörder seines Vaters wollte er nicht weiter kämpfen. Die Sowjets fanden den Brief in seinem Gepäck und verstanden sofort die Hintergründe. Ob er nicht bei ihnen mitkämpfen wolle, um die Mörder seines Vaters zu besiegen, haben sie ihn gefragt. Hans wollte.

Als es darum ging, die Weichsel zu überqueren, gehörte Hans als stellvertretender Führer zum Stoßtrupp, der den Brückenkopf schlagen sollte. Sein Truppenführer fiel schon beim ersten Angriff durch Bauchschuss, also musste Hans die Verantwortung übernehmen. Er hatte gleich gemerkt, dass ihnen auf dem anderen Ufer eine Eliteeinheit der Nazis gegenüber stand und hat seine Truppe deshalb mit Booten flussabwärts treiben lassen, um von dort aus überzusetzen, die Nazieinheit zu umgehen und sie aus ihrem Rücken heraus anzugreifen. Der Plan ist aufgegangen, mein Kamener Freund Hans ist ursächlich mitverantwortlich, dass der kriegswichtige Übergang der Roten Armee über die Weichsel geklappt hat. Wäre sein Plan misslungen, das weiß er, hätten die Sowjets ihn wegen Nichtbefolgens des Befehls sofort erschossen.

So aber gehörte er zu den Auserwählten seiner Truppe, die bei der Siegesfeier auf dem Roten Platz an Stalin vorbeifahren durften. Immer nur ein paar aus jeder Einheit wurden dafür ausgesucht, Hans gehörte dazu. Bei dieser Vorgeschichte hätte er in der DDR garantiert Karriere machen können, aber er wollte nicht. Er ist in den Westen gegangen, wo er in einem nur halb fertigen Haus im Süden von Kamen lebte, umgeben von viel Viehzeugs, das er aufopferungsvoll pflegte. Nichts sollte mehr gequält werden, das ihn umgab. Das war die Schlussfolgerung, die er aus seinen Kriegserlebnissen gezogen hat.

Er hatte dieses merkwürdige Haus selber bauen wollen, aber seine Frau verließ ihn gerade zu jener Zeit zusammen mit den drei Kindern. Danach gab Hans auf, zog noch eine Außenmauer hoch und wohnte seither in einer Halbruine. Erst nach dem Fall der Mauer war er zu seiner alten Einheit, die in der Nähe von Berlin stationiert war, zurückgekehrt, um zu sehen, wie es den Soldaten der Roten Armee nun ergeht. Sie hatten ihn respektvoll empfangen, erzählte er, aber Hans war trotzdem enttäuscht gewesen. „Derselbe Gehorsam, dieselbe Hierarchie“, hat er geurteilt. „Sie haben nicht viel gelernt seit dem Krieg.“

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Gewissenlos Hitlers Finanzen geregelt

Derjenige unter den Kamenern, der das „größte Rad“ in der Nazizeit drehte, hat nie in dieser Stadt gelebt. Aber er war hier oft zu Besuch bei seinen Verwandten von Plettenberg, die in dem Wasserschloss im Vorort Heeren leben und er ist hier nach seinem Tod 1977 auf dem kleinen Schlossfriedhof begraben worden.

Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigh, genannt Lutz, war Hitlers Finanzminister. In all den Jahren, in denen Hitler an der Macht war,  hat er ihm die Finanzen geregelt, hat dem Mörder also die Waffen in die Hand gegeben. Pflichtbewusst, so wie er Pflicht auffasste, hat er das getan, nichts hat ihn an dieser Tätigkeit zweifeln lassen. Nicht die Entfesselung des Krieges mit zig Millionen Toten, nicht der Genozid, einfach gar nichts. Ludwig Johann hat ausdauernd die Finanzen geregelt.

Dafür ist er später als Kriegsverbrecher angeklagt und zu 10 Jahren Haft verurteilt worden. Das Verbrechen, das man ihm hauptsächlich vorwarf, war die Plünderung des Eigentums deportierter Juden durch die von Schwerin von Krosigh geleiteten Finanzämter. Die gerechte Strafe für eine falsche Schuld, soll er später – immerhin – geurteilt haben. Die eigentliche Schuld sei sein eingeschläfertes und abgestumpftes Gewissen gewesen.

Nach Hitlers Tod und der Machtübernahme durch Dönitz war er für 5 Tage leitender Minister, also auch so etwas wie der Außenminister. Er war es schließlich, der über den Sender Flensburg die bedingungslose Kapitulation verlas. Viele Filme über den Zweiten Weltkrieg enden also mit seiner Stimme, mit der Kapitulationserklärung, die er verlas.

Nicht einmal zwei Jahre hat er von seiner Strafe absitzen müssen, schon Anfang 1951 ist er aus der Haft entlassen worden. Danach ist er als Journalist tätig gewesen.

 

 

 

 

 

 

 

 




Olympia-Medaille führte auf die Spur eines KZ-Verbrechers

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen Segel-Wettbewerb mit ungeahnter Folgewirkung:

Zufälle prägen unser Leben, manche davon sind schier unglaublich. 1960 überflog der Frankfurter Staatsanwalt Joachim Kügler die Sportberichte von den Olympischen Spielen in Rom. Im Flying Dutchman, las er, hatte der Hamburger Segler Rolf Mulka, zusammen mit Ingo von Bredow, die Bronzemedaille gewonnen.

Eine Medaille, die Erfolg und Enttäuschung zugleich war, denn 1956 und 57 war Mulka Weltmeister geworden und galt als Favorit auf die Goldmedaille. Kügler stutzte. Mulka, ein seltener Name, der ihm aber etwas sagte. Ob der Segler etwas mit jenem Robert Mulka zu tun hatte, den er suchte? Kügler recherchierte, und tatsächlich, sein Verdacht bestätigte sich. Der Medaillengewinner bei Olympia war der Sohn des Adjutanten von Rudolf Höß, der Lagerkommandant des Vernichtungslagers Auschwitz gewesen war.

Kurz nach dem Krieg war Robert Mulka in Hamburg verhaftet worden, nach gut einem Jahr aber als „entlastet“ wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Danach hatte er seine alte Tätigkeit als Exportkaufmann wieder aufgenommen. Erst als Ende der fünfziger Jahre nach den Auschwitz-Verbrechern gesucht wurde, geriet auch Robert Mulka wieder ins Visier der Staatsanwaltschaft, es war aber nicht bekannt, wo er sich aufhielt.

Der Medaillengewinn seines Sohnes brachte Staatsanwalt Kügler auf die Spur. Wenige Monate nach Olympia wurde Robert Mulka verhaftet und saß im 1. großen Auschwitz-Prozess 1963 auf der Anklagebank. Der Schriftsteller Peter Weiß hat aus den Aussagen der Angeklagten und Zeugen das bedrückende Theaterstück „Die Ermittlung“ verfasst.

Bei Peter Weiß kann man nachlesen, wie Robert Mulka, der für die Beschaffung des Giftes Zyklon B und für den Transport der Gefangenen in die Gaskammern verantwortlich war, immer neue Ausreden erfand. Obwohl er im Apparat ganz oben stand, will er von der Massenvernichtung der Menschen nichts mitbekommen haben, wie all die anderen Angeklagten auch nicht. Zu 14 Jahren Zuchthaus wurde Robert Mulka verurteilt, überlebte einen Suizidversuch und wurde schon 1968 schwerkrank entlassen. Im Jahr darauf starb er.

Der 2012 gestorbene Sohn Rolf Mulka blieb Segler. Als zu einem großen Empfang der Stadt Hamburg auch die prominenten Sportler eingeladen wurden, fehlte sein Name auf der Einladungsliste. So etwas nennt man wohl Sippenhaft.




Große Ernüchterung, doch Freude am Chaos: Enzensberger erzählt „Anekdoten“ aus seiner Kindheit und Jugend

Ja, so glaubt man Hans Magnus Enzensberger zu kennen – nicht gerade als Mann des ehernen Wortes, sondern als allzeit wendigen Geist des Flüchtigen und Flüssigen, wenn nicht des quasi Gasförmigen. Und so leitet er auch sein neues Buch „Eine Handvoll Anekdoten“ mit zwei recht vagen Erklärungen ein, als wolle er sich lieber nicht festlegen oder gar festlegen lassen.

Bei Anekdoten, so teilt er vorab mit, handele es sich um „eigentlich etwas aus Gründen der Diskretion noch nicht schriftlich Veröffentlichtes, bisher nur mündlich Überliefertes.“ Den Untertitel „Auch opus incertum“ erläutert er so: „… lateinisch = unregelmäßiges Werk, römischer Mauerbau aus Fundsteinen.“ Ja, woran soll man sich da halten, auf was kann und soll man sich verlassen?

Im Familienalbum blättern

Auf dem hinteren Einbanddeckel liest man zudem Enzensbergers Sätze: „Ich behalte mir vor, durch Verschweigen zu lügen. Es sei denn, dass ich mir’s anders überlege.“ Da fallen einem vielleicht Bert Brechts Worte aus dem Jahrhundert-Gedicht „An die Nachgeborenen“ ein: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“

Nun endlich zum Inhalt. Enzensberger nennt sich selbst abgekürzt „M.“ und erzählt (in der dritten Person, von sich selbst distanziert) zumeist knappe Episoden aus seiner Kindheit und Jugend, beginnend mit der Geburt, die sich zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise 1929 begab. Es ist, als blättere der Autor ein Familienalbum auf. Tatsächlich stehen bei jedem Kurzkapitel markante, oft aussagekräftige Fotografien. Das Buch gibt sich ausgesprochen zugänglich und lesefreundlich.

Der Fünfjährige klaut ein Wörterbuch

Wir erfahren nach und nach etwas über Enzensbergers Großeltern und Eltern; über seinen Vater (Oberpostdirektor für Fernmeldetechnik in Nürnberg), seine drei jüngeren Brüder, eine Tante namens Theres, einen epilepsiekranken Onkel. Und so fort. Anfangs möchte man meinen, hier werde nur harmlos familiär geplaudert. Doch da kommt ein Mosaiksteinchen (oder halt ein Bruchstein) zum anderen, bis sich allmählich denn doch ein vielschichtiges Bild oder Bauwerk ergibt – wie wacklig auch immer.

Zusehends weitet sich der Blick über den Kreis der Familie hinaus, die Dinge gewinnen Kontur und Tiefenschärfe. Ein gar nicht so nebensächlicher Grundzug scheint darin zu bestehen, bestimmten Menschen im Laufe des Lebens nicht gerecht geworden zu sein und nun späte Abbitte leisten zu sollen. Wer von uns allen müsste in solcher Hinsicht nicht bußfertig sein?

Weil es längst verjährt ist, können wir ein Bubenstück-Geständnis weitergeben: Im zarten Alter von 5 Jahren hat Hans Magnus Enzensberger ein Lilliput-Wörterbuch geklaut. Schon damals Lektüre! Also kein unnützes Zeug. Eher anekdotisch heiter auch die später aufgegriffene, vom Großvater geführte Familienchronik, die zu jedem erdenklichen Fest denselben lakonisch bilanzierenden Schlusssatz enthält: „Die Kinder freuen sich.“ Hauptsache.

Suff und Kotze beim Reichsparteitag

Zunächst kaum merklich, sickert in die Schilderungen nicht nur Zeitkolorit ein, sondern es fallen grelle Schlaglichter auf zeitgeschichtliche Verhältnisse – aus der Perspektive des Kindes. Der Hausmeister trägt SA-Uniform und an „besonderen Tagen“ auch die der SS. Die in der unmittelbaren Nachbarschaft residierende Nazi-Größe Julius Streicher soll es häufig mit Huren treiben, munkelt man. Später materialisiert sich der Nürnberger Reichsparteitag aus der Nahansicht zuvörderst in den ekligen Spuren, die er auf den Straßen hinterlässt. Als Stichworte mögen Suff und Kotze genügen.

Und weiter: Im Luftschutzkeller erweist sich just so mancher vormals martialische NS-Mann als bloßer Popanz und Jammerlappen. Im weitläufigen Haus, zugleich Dienstsitz des Vaters, dessen Behörde für reibungslose Telefonverbindungen zuständig ist, macht sich auch eine NS-Abhörzentrale breit. Als ein Luftangriff Güterwaggons trifft, wird die Fracht geplündert: „Alte Frauen mit Schürzen und Kopftüchern schabten Butterreste von den Schienen.“ Ein Bild der Not, das man schwerlich wieder los wird.

Dieser grundsätzliche Widerwille

Der Junge zerbricht sich jedoch über solche Vorgänge nicht übermäßig den Kopf, er ist aber schlichtweg „enttäuscht“, auch von einer vielfach umjubelten Vorbeifahrt Adolf Hitlers im Auto. War da was? Von Widerstand kann im Kindesalter selbstverständlich keine Rede sein, wohl aber von einem grundsätzlichen Widerwillen, einer Abneigung, die ihn gegen Versuchungen etwa der Hitlerjugend immunisiert, die den desinteressierten, renitenten Jungen denn auch ‚rausgeworfen hat. Das gab es also.

Rivalisierende Kinderbanden in der Gegend erweisen sich derweil – im Nachhinein betrachtet – als Einübung in Grundformen politischen Handelns, ebenso wie die Schule nicht so sehr als Lernort fürs Lesen, Rechnen und Schreiben erscheint, sondern eher als permanentes Verhaltenstraining in diesem Sinne: „…Erproben von Machtverhältnissen, Intrigen, wechselnden Bündnissen, Kriegslisten und Kompromissen.“ Wie die alsbald reichlich verwahrloste Kriegs- und Flakhelfer-Generation mit ratlosen Lehrern umsprang, ist einige weitere Absätze wert.

Nachmittage mit Sprengstoff

Gegen das zunehmende Chaos in der Stadt hat der Jugendliche im Grunde nichts einzuwenden, nachmittags experimentiert man mit gefundenem Sprengstoff, in der Clique trägt der tollkühne Kerl den Spitznamen „Tito Spreng“. Früh war er freilich das Geballer leid und glaubt heute, dass ihm dadurch eine „Terroristenkarriere“ erspart geblieben sei.

Das Buch berichtet nicht nur von fortwährender Ernüchterung in finsteren Zeiten, es ist dementsprechend in einem (angenehm) nüchternen, unprätentiösen Tonfall geschrieben. Manche Ungeheuerlichkeit wird gleichsam nebenbei erwähnt, eben nicht großartig reflektiert, sondern einfach so hingestellt, zuweilen nahezu flapsig. Das wirkt umso stärker. Enzensberger hat es gar nicht nötig, weitschweifig zu werden. Seine im besten Sinne schlanken Texte enthalten auch und gerade auf diese Weise etwas von der Essenz jener Jahre.

Dolmetscher und Schwarzhändler

Enzensberger erinnert sich, dass die Tage nach der deutschen Kriegsniederlage eine der schönsten Zeiten seines Lebens gewesen seien. Viele hätten sie als Katastrophe empfunden. Zitat: „M. dagegen ließ die Auflösung der gewohnten Ordnung nicht nur kalt, sie begeisterte ihn. (…) Es war niemand da, der einen überwachte.“ Fürwahr eine spezielle Variante jugendlichen Freiheitsgefühls, wahrscheinlich von vielen geteilt.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit, sozusagen in den Kaugummi- und Comic-Jahren, hat sich Enzensberger als Dolmetscher für US-Soldaten, zeitweise auch als Barmann und Schwarzhändler verdingt und beispielsweise einen schwunghaften Handel mit Kuckucksuhren aufgezogen. Nur für den Fall, dass das mal bei Trivial Pursuit oder bei Günther Jauchs Millionenquiz vorkommt…

Studentenzeit, wie sie sein soll

Spätestens mit der Währungsreform von 1948 sind allerdings die (schon ehedem dienstbaren) Bürokraten wieder da – und es wabert wieder das beinahe schon vergessene „Aroma der Alltäglichkeit“, wie Enzensberger schreibt. Es ist abermals eine Ernüchterung.

Doch welch eine Befreiung muss dann in frühen Nachkriegs-Begegnungen mit gleichaltrigen Franzosen oder Engländern gelegen haben! Eine Fotografie von damals zeigt einen sichtlich inspirierten Enzensberger in heimischer, nunmehr internationaler Tischrunde. Daran schließt sich eine Studienzeit an, wie sie sein soll und wie es sie leider gar nicht mehr gibt – mit schier grenzenlosem Trampen, Sorbonne, Bohème und allem sonstigen Zubehör. Wohl dem, der so etwas erleben durfte.

Keine Lust auf einen Bildungsroman

Das Ganze mündet schließlich in eine mutwillige Verbrennung: Schon nach zwei, drei Semestern zündet Enzensberger „peinliche“ Belegstücke aus seiner Jugend an, weil er schon damals keine Lust hat, „an der deutschen Tradition des Bildungsromans mitzuwirken.“ Ganz nüchtern heißt es am Schluss des Buches: „Sonst ist in seinen jungen Jahren nicht viel passiert.“

Nein, ein Bildungsroman ist dies wahrlich nicht, aber ein kaum weniger gehaltvolles Unterfangen, das übers rein Anekdotische weit hinaus gelangt.

Hans Magnus Enzensberger: „Eine Handvoll Anekdoten – auch Opus incertum“. Suhrkamp Verlag. 239 Seiten, 25 €.




Beklemmendes Nachdenken: Concerto Köln und Joachim Król zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

Flotte Märsche klingen durch das Foyer der Philharmonie Essen. Das Concerto Köln intoniert Joseph Haydns „March for the Prince of Wales“, danach zwei Märsche für das Derbyshire Cavalry Regiment und einen „Ungarischen Nationalmarsch“. Fröhliches Dur, die Zuhörer wippen im Takt mit. Man hat viel getan, um den Menschen im 18. Jahrhundert den Krieg schmackhaft zu machen, damals, als in manchen deutschen Territorien junge Männer verkauft wurden, um für andere Potentaten ins Scharmützel zu ziehen.

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Übermütig ging’s auch anno 1914 zu, als die Männer Europas in den Krieg zogen. Sie hielten den Krieg für ein Abenteuer. Den Gesichtern auf den über das Podium projizierten seltenen Farbfotos aus der Sammlung Reinhard Schultz ist es abzulesen. Die schneidigen Burschen in buntem, blinkendem Waffenrock lockten die jungen Frauen. Jaja, der „Zauber der Montur“.

Nichts von all der Kriegsfolklore war wahr. Schon vor 500 Jahren nicht. Auf der Bühne des Großen Saales las Joachim Król, was Erasmus von Rotterdam zum Krieg geschrieben hatte. „Wer ihn erfahren hat, schaudert allein bei der Vorstellung über die Maßen“. Dazu wird das Luftbild Essens in herbstlicher Sonne überblendet vom Blick auf die Ruinenlandschaft 1945. „Über Wunden“ hieß dieses Gedenkkonzert zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Hier waren zunächst nur die Wunden im Stadbild zu erkennen. Dachlose Häuser, hohl wie verfaulte Zähne, klaffende Löcher in Straßenzügen.

Die 90 Minuten Programm – eine Mischung aus Lesung und Konzert – hatten Ilka Seifert und Folkert Uhde zusammengestellt. Die Betroffenheit sollte ein Gesicht bekommen: Verarbeitet wurden nicht nur literarische Texte wie aus dem bekannten Anti-Kriegs-Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, sondern vor allem Erinnerungen, die in den Familien der Musikerinnen und Musiker des Concerto Köln weitergegeben wurden. Aus aller Herren Ländern kommen sie, und kaum jemand war nicht vom Schlachten und Morden der beiden Weltkriege betroffen. Manches haben wir Europäer gar nicht im Blick: Etwa die Gräuel im japanisch-chinesischen Krieg, die Vorfahren einer japanischen Musikerin erlitten.

Bombenwetter, Schusslinie und Marschrichtung

Dass es den lustigen Operettenkrieg der Propaganda nie gegeben hat, brachte Król seinen betroffen stillen Zuhörern mit diesen Texten aus Familien-Erinnerungen nahe. Es schnürt die Kehle zu, wenn die Großmutter einer Geigerin einen Brief mit wundervoll liebenden Worten an ihren Mann im Felde richtet. Er hat ihn nie gelesen, denn er war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Das Schreiben kam zurück – ohne Vorwarnung. Mit dem zynisch beschönigenden Vermerk „gefallen für Großdeutschland“.

Bis heute sind die Spuren des „Jahrhunderts der Grausamkeiten“ präsent, zum Beispiel in der Sprache: Wer weiß schon, was er sagt, wenn er von einem „Bombenwetter“ spricht? Nehmen wir einen Politiker „aus der Schusslinie“ oder geben wir die „Marschrichtung“ vor? Wir sind groß geworden mit solchen Begriffen, deren wahre Bedeutung nicht mehr bewusst ist.

Der Abend am Volkstrauertag war eher eine Zeit beklemmenden Nachdenkens als ein Konzert. Die Musik mit dem wie stets untadelig aufspielenden Concerto Köln war ernst und gesammelt: Eine Fantasie Henry Purcells über John Taverners damals beliebtes „In nomine“-Thema, ein kaum bekannter düsterer Triumphmarsch Beethovens zum noch unbekannteren Schauspiel „Tarpeja“, dazu die Stimme Kaiser Wilhelms II. mit der verlogenen Ankündigung des Waffengangs 1914.

Ein tragischer Zug klingt in der Ouvertüre zu Mozarts „La Clemenza di Tito“, und die wundervolle Perfektion der „Jupiter“-Sinfonie KV 551 klingt zu einem solchen Anlass geradezu schmerzend schön. Ob das alles reicht, immer wieder vor dem Verderben des Krieges zu warnen? Man muss es hoffen, auch wenn die lebenden Generationen das Inferno nur aus Games, Hollywood-Filmen und Schwarzweiß-Dokus kennen. Ob wir kapieren, welch unverschämtes Glück wir mit 73 Jahren Frieden haben?




Aus dem Geisterreich der Geschichte: Johan Simons inszeniert in Bochum „Die Jüdin von Toledo“ nach Feuchtwangers Roman

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo". (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo“. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Große Erwartungen an der Königsallee: Der neue Schauspielhaus-Intendant Johan Simons (zuvor Chef der RuhrTriennale) zeigt seine erste Bochumer Premiere und hat mit „Die Jüdin von Toledo“ nach Lion Feuchtwangers Roman gleich einen höchst gewichtigen Stoff gewählt, der sich trotz historischer Ferne immer wieder aufs Heute beziehen lässt und verblüffende bis bestürzende Aktualität gewinnt. Und das keineswegs nur gedanklich, sondern mit genuin theatralischen Mitteln.

Das Grundgerüst der vielfältigen Ereignisse: Der kastilische König Alfonso (Ulvi Erkin Teke) sinnt mit anderen christlichen Fürsten auf einen neuen Kreuzzug gegen die andalusischen Gebiete Spaniens, in denen Muslime herrschen, seinerzeit als Garanten einer kulturellen Blüte sondergleichen. Zur Abwehr christlicher Angriffe rufen sie hernach freilich andere, weit weniger tolerante Glaubensbrüder zur kriegerischen Hilfe – ein Umstand, der sich womöglich durch all die Jahrhunderte fatal ausgewirkt hat.

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

König Alfonso, hier eher mit trottelhaften Zügen als bruchlos imponierende Heldenfigur, verfällt derweil einer Amour fou mit der schönen, muslimisch erzogenen Jüdin Raquel (gegen jedes Klischee besetzt: Hanna Hilsdorf) und lässt gar eigens ein Lustschloss errichten. Lässt ihr Vater etwa zu, dass sie sich als eine Art Hure verdingt?

Jedenfalls zieht Raquels mit manchen Wassern gewaschener Vater Jehuda (Pierre Bokma), vormals zum Islam konvertiert und nun wieder zum jüdischen Glauben zurückgekehrt, geschickt die Fäden in Alfonsos Staats- und Wirtschaftswesen. Derlei Aufschwung aber braucht Frieden als Grundlage, während der Ritterkönig Alfonso trotz anders lautender Verträge zum „Heiligen Krieg“ gegen die Muslime drängt und vom christlichen Scharfmacher De Castro (Guy Clemens) zusätzlich angetrieben wird. Zur gleichen Zeit werden Juden in Europa zunehmend verfolgt.

Gewalt macht grässlich geil

Es entsteht eine kreuz und quer verwobene, mitunter auch verworrene Gemenge-, Gefühls- und Gefechtslage, die tief bis in die Körperlichkeit hineinreicht. Macht und „Heldentum“, so sieht man vielfach, machen mitunter grässlich geil. Die abgründige Faszination durch schrankenlose Gewalt ist ein Kernthema des Stücks. Blutrünstige Vorstellungen erfassen nicht zuletzt die Frauen, die Königin (Anna Drexler) ebenso wie Alfonsos jüdische Geliebte. Hie und da erkundigen sie sich lechzend nach Leichenzahlen, bevor sie es bereitwillig treiben.

In einer Szene steigert sich der Befund zur ebenso bizarren wie lachhaften Gruppen-Orgie. Unbedingt nötig war diese Aufgipfelung nicht, sie brachte freilich die lautesten Lacher des Abends. Auch wirkte das anfängliche Gezerre des zehnköpfigen Ensembles um ein Tuch noch ein paar Spuren zu harmlos und „sportlich“ verhampelt für die verwickelten Interessenlagen. Doch das sind Ausnahmen in einer ansonsten sehr ernsthaften Aufführung, die gleichsam von Szene zu Szene an Dringlichkeit gewinnt. Übrigens erleichtern englische Obertitel auch deutschsprachigem Publikum den Zugang, falls denn mal ein Satz vernuschelt sein sollte.

Einige Zeitebenen sind zu bedenken

Regisseur Johan Simons und sein Dramaturg Koen Tachelet haben den Roman (als Aufbau-Taschenbuch immerhin 511 Seiten) zu einer knapp dreistündigen Theaterfassung konzentriert und dialogisch gekonnt aufbereitet. Das Ganze ist wahrlich nicht unkompliziert, sind doch einige Zeitebenen zu bedenken: Der Roman über die Kreuzzugszeit des 12. Jahrhunderts beschreibt die Beziehungen zwischen Christen, Muslimen und Juden in jener frühen Epoche. Gewiss ist er nicht ohne die Erfahrungen des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger im erzwungenen Exil ab 1933 zu verstehen. Feuchtwangers Roman erschien 1955, umfasst also auch das furchtbare Wissen um den Holocaust. Schließlich spielen nunmehr heutige Konflikte zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen hinein. Solche Fülle will erst einmal bewältigt sein.

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hana Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hanna Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Der Bühne (Johannes Schütz) merkt man die Vielschichtigkeit nicht direkt an, im Gegenteil: Sie ist radikal reduziert auf eine im Grunde simple Geometrie aus Kreis (Drehbühne) und raumgreifendem Rechteck. Eine große weiße Mauer (Aus Styropor? Aus Rigips?) teilt die Spielfläche die ganze Zeit über in zwei variierende Hälften. Immerzu werden Figuren voneinander getrennt oder auch wieder zueinander gebracht. Beinahe unaufhörlich rotiert die Drehbühne, so dass die Darsteller stets in Bewegung sein müssen, sollen sie vorne sichtbar bleiben; es sei denn, sie lägen leblos Boden, was überaus häufig geschieht. Dabei sieht es manchmal so aus, als würden sie beinahe von der Mauer zermalmt. Doch selbst dann vollführen sie zwangsläufig die Drehung der Bühne mit.

Auch eine Klagemauer

Auf diese Weise entstehen – wie von Geisterhand – immer wieder neue Situationen und Konfrontationen oder auch Allianzen, wie denn überhaupt die Figuren gelegentlich wirken, als seien sie flackernde, schwankende, wankende Gestalten aus einem geschichtlichen Geisterreich, die aber jederzeit wiederkehren können. Sie tragen ja auch einen „ewigen“ Streit aus; jedenfalls einen, der nicht und nicht aufhören will und immer wieder ins falsche Heldentum „Heiliger Kriege“ mündet, die schon hier (jüdische) Flüchtlingsströme und deren rigide Abwehr nach sich ziehen. Die dominierende Trennwand ist daher auch und vor allem eine Klagemauer.

Zu schrecklichen Opfern bereit

Feuchtwangers historisch weitgehend faktengetreuem Roman folgend, ist dies ein vielfältig und oft gedanklich haarfein differenzierendes Stück, reich an Zwischentönen, die am Ende allerdings brutal erstickt werden. Mehrere Protagonisten, wie Alfonsos Beichtvater Rodrigue (Michael Lippold) oder auch der muslimische Arzt Musa (Gina Haller) unternehmen – aus unterschiedlicher Motivation (Menschenliebe, Pragmatismus, Fatalismus etc.) – immer wieder Anläufe zur Friedensstiftung und zur Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen, ungefähr im guten Geiste von Lessings „Nathan“-Drama. Doch die kriegerischen Gegenkräfte scheinen übermächtig.

Die eifersüchtige Königin sorgt dafür: Den Juden wird am Ende, als alles zerstört ist, die Schuld an der christlichen Niederlage zugeschoben, weil die lüsterne Raquel Alfonso von Kriege abgelenkt habe. Die Juden haben keine Armeen und sie sind, wie es einmal raunend heißt, oft auf schreckliche Weise zu allen erdenklichen Opfern bereit. Wehe, wenn das aufgehetzte Volk auf sie losgelassen wird. Zunächst werden hier „nur“ Raquel und ihr Vater umgebracht, doch sind diese Morde Vorboten der Pogrome kommender Zeiten.

Neben all dem steht ein blinder Bettler und etwas entrückter „Seher“ (Risto Kübar), der – mal weise, mal opportunistisch – weitere Perspektiven ins Geschehen einbringt. Ist er nicht ein Nachfahr Shakespearescher Narren?

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Wenn alles zertrümmert ist

Als Kriegslüsternheit und tödliche Intrigen die Oberhand gewonnen haben, wird minutenlang die weiße Mauer in Stücke geschlagen, bis die Bühne wie ein Schlachtfeld aussieht – oder wie das Eismeer auf Caspar David Friedrichs berühmten Gemälde. Es ist, als sei auch die Schutzmauer der Zivilisation gefallen.

Schon zu Beginn hat eine schrille Alarmsirene aufgeheult, zwischendurch haben immer wieder (Wach)hunde bedrohlich gebellt und schlimmste Assoziationen geweckt, auch haben anschwellende Motorengeräusche an Schlachten und Abtransporte neuerer Zeiten gemahnt. Am Schluss fährt die Bühne zurück und wird in Richtung Zuschauerraum gekippt, so dass alle Trümmerteile und alle Schauspieler haltlos hinunter rutschen. Ein immens starkes Katastrophen-Bild, das in Erinnerung bleiben wird.

Erstmals sind mit dieser Produktion Teile des völlig neu formierten Bochumer Ensembles zu erleben. Man darf annehmen, dass sie sich mit der Zeit noch mehr aufeinander einspielen, doch schon jetzt war ein von Simons geweckter Ensemble-Geist zu spüren. Niemand spielt sich über Gebühr in den Vordergrund, alle miteinander sind sie aufs bestmögliche Ergebnis aus. Ungeschmälerte Bewunderung ist indes Pierre Bokma als Jehuda zu zollen. Er ist denn doch ein Zentralgestirn, um das diese Aufführung zu wesentlichen Teilen kreist.

Großer, anhaltender Beifall für alle Beteiligten. Gut möglich, dass das Haus mit solchen Inszenierungen wieder nachdrücklicher auf der überregionalen Theater-Landkarte auftaucht. Eine ganz andere Frage ist, ob auch nennenswert viele muslimische Zuschauer sich das Stück ansehen werden.

Nächste Vorstellungen: 3., 4., 7., 16. November, 14., 16., 26. Dezember. Karten-Telefon: 0234 / 3333 5555. 

www.schauspielhausbochum.de




Aufbruch zu einer Landpartie führt in die Schrecken des Ersten Weltkrieges – Jean Cocteaus Roman „Thomas der Schwindler“

Wenn eine Reisegruppe Kekse, Orangen und Likör einpackt, dann wird es sich wohl um Proviant für eine Landpartie handeln, möchte man meinen. Doch die edel gekleideten Frauen und Männer, die da im Paris des Jahres 1914 die Kisten entsprechend gefüllt haben und sich auf den Weg machen, verfolgen ganz andere Absichten.

Ihr Ziel ist die Stadt Reims oder anders gesagt: die französische Front. Sie wollen den verwundeten Soldaten helfen und (wenn möglich) die Kämpfe aus nächster Nähe verfolgen. In den Lazaretten angekommen, treffen sie aber auf eine Welt, mit der sie nun überhaupt nicht gerechnet haben und die ihr Vorstellungsvermögen übersteigt. Verstörende Szenen wie diese prägen den Roman „Thomas der Schwindler“, den der Regisseur, Maler und Schriftsteller Jean Cocteau (1889-1963) im Jahr 1923 verfasst hat.

Der Manesse-Verlag hat das Werk in einer ansprechenden Edition als Neuübersetzung herausgegeben und bietet mit einem Nachwort von Iris Radisch, einem Anmerkungsapparat und einer editorischen Notiz einige Verständnishilfen. Das Buch weist eine ganze Reihe biographischer Züge des Autors auf. Für Iris Radisch war Cocteau ein Dichter, der in der Zeit des noch jungen 20. Jahrhunderts dem „Typ des Künstler-Dandy zu neuem Glanz“ verholfen habe.

Cocteaus Roman beruht auf realen Begebenheiten. Historisch belegt sind seine Besuche zusammen mit weiteren Mitgliedern der feinen Gesellschaft an der Front. Er verarbeitet seine eigenen Erlebnisse mit dem Krieg, wobei er selbst überhaupt kein Soldat war, sondern für untauglich befunden wurde. Er hatte sich freiwillig zum Dienst gemeldet.

Und so erzählt Cocteau von einem jungen Mann, der schon bei der Angabe seines Alters und seiner Herkunft schwindelt, um besser dazustehen. Als Neffe eines bekannten Generals gibt er sich aus. Denn nur so, davon ist er überzeugt, wird es ihm gelingen, zur Front und zu den Verletzten durchzukommen.

Aber spätestens, als der junge Thomas die Schützengräben besuchen darf, werden ihm die Schrecken des Krieges überdeutlich vor Augen geführt. Dem jungen Mann erscheint es ähnlich zu ergehen wie seinem literarischen Vater, der zu Beginn des Krieges zunächst einen Waffengang ungleich spannender fand als Langeweile und Tristesse des Alltags. Daran konnten auch die Aussichten auf amouröse Abenteuer und Liebeleien, die der Kontakt zu adeligen Frauen versprach, nicht wirklich etwas ändern.

Jean Cocteau, der unter anderem mit Pablo Picasso, Charlie Chaplin, Edith Piaf und Marcel Proust befreundet war, führt mit dem Buch keine laute Klage gegen den Krieg, allein die Beschreibungen der Realität reichen aus, um die Unmenschlichkeit und die Brutalität zum Ausdruck zu bringen. Denn was Krieg eigentlich bedeutet, das wusste die kleine Reisegruppe wahrlich nicht, als sie meinte, mit einigen Lebensmitteln die Not lindern zu können.

Jean Cocteau: „Thomas der Schwindler“. Roman. Aus dem Französischen neu übersetzt von Claudia Kalscheuer. Manesse Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.




Stilles Heldentum in finsteren Zeiten – Erich Hackls bewegender Recherche-Bericht „Am Seil“

Seit der ehemalige Lehrer und Lektor Erich Hackl 1987 mit der Erzählung „Auroras Anlass“ als Schriftsteller debütierte, wächst das literarische Werk des Autors langsam aber stetig an. Seine in über 25 Sprachen übersetzten Romane und Erzählungen werden von der Kritik regelmäßig gelobt und mit Preisen bedacht. Trotzdem ist dem in Wien und Madrid lebenden Schriftsteller der ganz große Durchbruch in die Liga der Bestseller-Autoren – leider – nie so recht gelungen.

Sein neues Buch trägt den Titel „Am Seil. Eine Heldengeschichte“. Es geht um den authentischen Fall einer gefährlichen Lebensrettung, über der viele Jahre der Mantel des Schweigens lag: Denn der Retter – der Handwerker Reinhold Duschka – war bis zu seinem Tode 1993 der Meinung, er habe nur seine menschliche Pflicht getan; und die Geretteten (die Jüdin Regina Steinig und ihre Tochter Lucia) wollten nach dem Krieg lieber verdrängen als sich erinnern.

Vor dem Vernichtungslager bewahrt

Doch irgendwann war der Wunsch von Lucia einfach zu groß, den passionierten Bergsteiger und wortkargen Handwerker zu würdigen und dem Autor Erich Hackl in allen Einzelheiten zu berichten: wie Duschka es schaffte, sie und ihre Mutter von 1941 bis 1945 vor der Deportation ins Vernichtungslager zu bewahren; wie sie zu dritt an ein unsichtbares Seil gebunden waren und dann mit Glück und Vertrauen überlebten.

Hackl berichtet, was Lucia ihm über die Lebensrettung erzählt hat, er befragt Bekannte, Verwandte, Freunde, macht die Widersprüche in den Erinnerungen deutlich und füllt die Leerstellen der Geschichte mit eigenen Vermutungen: so entsteht ein literarisches Puzzle über stilles Heldentum, Moral und Menschlichkeit.

Vier Jahre lang im gefährlichen Versteck

Als der Abtransport in die Vernichtungslager bevorsteht, tauchen Regina und Lucia in die Illegalität ab und finden bei Reinhold Unterschlupf: in seiner Werkstatt hausen sie vier Jahre lang, immer in der Gefahr, von Kunden, die bei ihm aus Kupfer, Messing und Zink gefertigte Gegenstände kaufen wollen, als Juden erkannt und denunziert zu werden. Nur selten trauen sie sich zu einem kleinen Spaziergang ins Freie. Als die Werkstatt kurz vor Kriegsende ausgebombt wird, besorgt Reinhold einen neuen Unterschlupf und versorgt die beiden mit Nahrung, Kleidung und Büchern.

Nach dem Krieg: Traum vom „normalen Leben“

Als der Krieg vorbei ist, versucht jeder, in ein normales Leben zurück zu finden: Reinhold heiratet eine Musikerin und wird kaum je ein Wort über die Ereignisse verlieren, schon weil er fürchtet, dass im notorisch antisemitischen Österreich Bergkameraden und Kunden sich von ihm abwenden könnten. Regina wird jahrelang darum kämpfen müssen, ihre Arbeitsstelle als Chemikerin in einer Klinik wieder zu bekommen. Erst mit 91 lässt sich Reinhold überreden, seine Heldentat öffentlich zu machen und erklärt sich bereit, von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet zu werden.

Es ist ein Glücksfall akribischer Recherche und literarischer Fantasie, wie Erich Hackl diese fast vergessene Heldengeschichte rekonstruiert und uns davon erzählt: ohne jeden moralischen oder politischen Zeigefinger; ganz so, als wäre Zivilcourage das Normalste von der Welt.

Erich Hackl: „Am Seil. Eine Heldengeschichte.“ Diogenes, Zürich. 118 Seiten, 20 Euro.




Es bleiben lauter ungelöste Rätsel: Michael Ondaatjes ziellos mäandernder Roman „Kriegslicht“

Plötzlich sind das blutige Schlachten, der Bombenhagel und das allgegenwärtige Sterben vorbei. Keine Nächte mehr im Schutzbunker. Kein Umherirren mehr im schummrigen Dämmerlicht des Krieges. Jetzt könnte es beginnen, das richtige Leben.

Jetzt könnten der 14jährige Nathaniel und seine 16jährige Schwester Rachel ihre Freiheit genießen, Freundschaften schließen, die Liebe kennenlernen. Doch daraus wird nichts werden. Das weiß der Leser schon mit dem ersten Satz, mit dem Michael Ondaatje seinen neuen Roman „Kriegslicht“ eröffnet. Ein Satz wie ein dunkles Geheimnis, ein grausames Menetekel, ein unabwendbarer Schicksalsschlag, der alles ändern und das Leben der beiden Jugendlichen fortan bestimmen wird: „Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.“

Ich-Erzähler Nathaniel wird später versuchen, sich in diese seltsame Zeit der Ungewissheiten hineinzuversetzen, in der die Eltern plötzlich verschwunden waren und das Vertrauen in die Welt der Erwachsenen erschüttert wurde. Immer wieder wird er sich fragen, wohin seine Eltern gegangen sind, warum sie ihre Fürsorgepflicht aufgaben und ihre Kinder mysteriösen Figuren überließen, die geheimnisvolle Existenzen führten, Rennhunde vom Kontinent nach England schmuggelten, wilde Partys feierten und kuriose Tarnnamen führten.

Sind die Eltern skrupellose Spione gewesen?

Irgendwann wird Nathaniel Geheimdienstunterlagen entdecken, aus denen hervorgeht, dass seine Eltern wahrscheinlich Agenten und Spione waren und vor Mord und Verrat nicht zurückschreckten: „Meine Sünden sind vielfältig“, wird Rose, die Mutter Nathaniels, die wie aus dem Nichts wieder auftaucht, sich aufs Land zurückzieht und dort auf ihren Mörder wartet, später einmal auf die insistierenden Fragen ihres Sohnes antworten.

Nichts genaues weiß man nicht, der Krieg ist längst vorbei, doch alle Geschehnisse und alle Einbildungen, alle Rätsel und alle Realien bleiben im Verborgenen, werden umkreist und mit immer wieder neuen Erinnerungen und Erfindungen zu einem unlösbaren Puzzle aus Fragmenten und Fakten.

Warum turnen lebensmüde Studenten nachts über die Dächer Londons? Wer sind, woher kommen und wohin gehen jene dubiosen Gestalten, der „Falter“ und der „Boxer“, die sich um die beiden verwaisten Kinder kümmern und dann plötzlich ins Vergessen abtauchen? Was hat Rose als Agentin in Italien erlebt und warum wurde sie fast zu Tode gefoltert? Wieso erinnert Nathaniel die Jugend als großes Abenteuer, während seine Schwester Rachel am Verlassensein zerbricht und sich von der Familie löst? Und was ist aus Nathaniels Vater geworden, der nie wieder aus dem Schatten der Vergangenheit ins Licht der Gegenwart tritt?

Nie wieder das Niveau von „Der englische Patient“ erreicht

Gerade eben hat Michael Ondaatje für seinen 1992 veröffentlichten und genial verfilmten „Der englische Patient“ den „Golden Booker“ bekommen, nach Meinung der Briten ist das der beste Roman, der jemals den „Booker-Preis“ bekommen hat. Zu Recht. Denn „Der englische Patient“ handelt, von einem furios mit unzähligen Handlungsfäden und verknäuelten Figurenkonstellationen traumwandlerisch jonglierenden Autor verfasst, von den ganz großen Fragen, Liebe und Tod, Verrat und Krieg, Schuld und Sühne. Ein Roman, der wie ein genialer Fels aus der Brandung der ihn umgegebenen literarischen Mittelmäßigkeit herausragt.

Doch seien wir ehrlich: Weder mit „Anils Geist“ (2000), „Divisadero“ (2007) oder „Katzentisch“ (2012) hat Ondaatje jemals wieder das literarische Niveau des „englischen Patienten“ erreicht. Die Erwartungen an das „Kriegslicht“ waren dennoch hoch. Und die Enttäuschung ist nun umso größer. Denn es ist, man mag es kaum laut sagen, ein misslungener Roman. Ondaatje hangelt sich von einem Einfall zum nächsten, lässt Ideen und Personen kurz aufscheinen und wieder verschwinden, mäandert durch seine Geschichten und Geheimnisse wie Nathaniel auf nächtlichen Bootstouren über die dunklen Kanäle Londons.

Eine Erzählkunst, die sich selbst genügt

Ondaatje kann sich nicht entscheiden, was er uns erzählen und wohin er uns führen will. Kein einziges der vielen Rätsel wird gelöst, alles verschwimmt im Nebel einer Erzählkunst, die sich selbst genügt und keine Lust hat, sich dem Leser mitzuteilen. Ondaatje stellt seinem Roman ein geheimnisvoll-rätselhaftes Zitat voraus: „Die meisten großen Schlachten werden in den Falten von Landkarten ausgetragen.“ Wer das gesagt hat und was es bedeuten könnte, das verrät uns der Schriftsteller leider nicht.

Michael Ondaatje: „Kriegslicht“. Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube. Carl Hanser Verlag, München. 320 Seiten, 24 Euro.




Mitten im syrischen Krieg läuft eine Fabrik wie geschmiert – Dokumentarstück „The Factory“ bei der Ruhrtriennale

Ein Stück auf Arabisch über den Krieg in Syrien – wäre man da nicht verloren und hilflos angesichts des Schreckens, den es buchstäblich schwer fällt zu begreifen? Aber wenn sich das Theater dieses Themas annimmt, sollte man als Zuschauer nicht zumindest den Mut haben zuzusehen? In Koproduktion mit der Volksbühne Berlin zeigte die Ruhrtriennale jetzt „The Factory“ von Mohammad al Attar in der Regie von Omar Abusaada auf PACT Zollverein in Essen.

Fotos: © Ant Palmer/Ruhrtriennale 2018

Brutale Kriegshandlungen gibt’s auf der Bühne zum Glück nicht so viele zu sehen, auch ist die Aufführung deutsch und englisch übertitelt, so dass man den drei Schauspielern und einer Schauspielerin gut folgen kann.

Dennoch tun sich Abgründe auf, und zwar durch den Einblick in das Machtgefüge des kriegsgebeutelten Landes, in das die politischen und wirtschaftlichen Akteure schuldhaft verstrickt sind.

„The Factory“ gehört zum Genre des Dokumentartheaters: Durch eine E-Mail eines ehemaligen Arbeiters (Mustafa Kur) beginnt die französische Journalistin Maryam (Lina Murad) die Geschichte der syrischen Dependance des Französischen Zementwerks Lafarge zu recherchieren. Erstaunlicherweise lief die Produktion im umkämpften Gebiet im Norden Syriens jahrelang nahezu ungestört weiter – selbst als der IS die Region einnahm. In Form von Interviews mit verschiedenen Akteuren deckt Maryam nach und nach auf, dass sich die Interessen des französischen Konzerns mit denen der verschiedenen Kriegsparteien vor Ort durchaus überschneiden können: Jeder von ihnen fand ein Zementwerk wohl recht nützlich, da ließe sich beim Wiederaufbau des Landes bestimmt eine Menge Geld verdienen; egal, wer hinterher regiert.

Fotos: © Ant Palmer/Ruhrtriennale 2018

Das Schicksal der Arbeiter schien dabei aber zweitrangig: Während diese noch in den schlimmsten Kämpfen in die Fabrik gezwungen werden und unter Kidnapping zu leiden haben, sitzen die Bosse im Exil und ziehen die Fäden. Doch auch ihren Argumenten geht man leicht auf den Leim: Da ist zum Beispiel der syrische Tycoon Firas (Ramzi Choukair), Sohn eines Generals, der dem Assad-Clan nahesteht. Schließlich hätten ja auch die Arbeiter ein Interesse daran gehabt, das Werk weiter zu betreiben. Immerhin lebten sie davon. Und warum eine gut funktionierende Fabrik zerstören? Hieße das nicht, total zu resignieren und jede Hoffnung aufzugeben?

Auch der syrisch-kanadische Manager (Saad Al Ghefari) beteuert, nur aus edlen Motiven gehandelt zu haben – er regelte das mit den Bestechungsgeldern, wobei die Empfänger vom IS bis zu verschiedenen Kurdenparteien reichten. In der Außenansicht ist man schließlich gar nicht so sehr verwundert oder vielleicht an solche Geschäftspraktiken zu sehr gewöhnt. Denn gab es das nicht schon immer, auch von deutscher Seite: Paktieren mit zweifelhaften Machthabern im wirtschaftlichen Interesse? Bei gleichzeitiger moralischer Überlegenheit auf dem Gebiet der demokratischen Kultur? Vielleicht tragen deswegen die Schauspieler am Ende Masken, ein wenig, als hätte man ihre Gesichter einzementiert. Auf der dunklen Bühne leuchten nunmehr die kleinen Lämpchen an ihren Schutzhelmen und schaffen eine Verbindung zur Bergarbeiterkultur des Spielortes.

Letztlich schafft es der Artikel der Journalistin Maryam, wenigstens in Frankreich eine Untersuchung zu dem Fall einzuleiten. Doch der Krieg geht trotzdem weiter.

www.ruhrtriennale.de




„Gefährliches Spiel“ – Heinrich Peuckmanns wahre Geschichten über Fußball mit schrecklichen Folgen

Ein Fußballspiel auf dem Roten Platz in Moskau? Es klingt wie eine skurrile PR-Idee für die bevorstehende WM in Russland. In Wahrheit traten dort wirklich einmal zwei Mannschaften gegeneinander an – mit brutalen Folgen.

Es kämpften damals, 1936, Dynamo Moskau und Spartak Moskau um den Sieg. Diktator Stalin sollte mal ein Fußballspiel zu sehen bekommen, deshalb ein Ort in unmittelbarer Nähe zum Kreml. Dass vier Spieler, die bekannten Brüder Starostin, wegen des Erfolgs von Spartak Jahre später in einen Gulag deportiert wurden, hat Stalins Geheimdienstchef Berija entschieden. Der war ein entschiedener Gegner der Siegerelf.

An diese Begegnung erinnert Heinrich Peuckmann in seinem Buch „Gefährliches Spiel“, das unter dem Gattungsbegriff Novelle erschienen ist.

Wie fatal das Zusammenspiel von Fußball und Politik sein kann, zeigt der in Kamen lebende Schriftsteller auch in der zweiten Novelle. Peuckmann beschreibt eine fiktive Begegnung des einstigen HSV-Stürmers und Kapitäns der deutschen Fußballnationalmannschaft in den 20er Jahren, Tull Harder, mit seinem ehemaligen Mannschaftskollegen Björn Halvorsen.

Täter und Opfer aus den Reihen des Hamburger SV

Es ist ein Treffen von Täter und Opfer, ließ sich doch Harder von der SS anheuern, wurde Kommandant in mehreren Konzentrationslagern und war damit auch für das KZ Neuengamme zuständig, in das die Nazis Halvorsen deportiert hatten. Der Norweger, der mit dem HSV mehrere Titel holte, war mit der Machtergreifung der Nazis in seine Heimat zurückgekehrt und hatte sich nach der Besetzung Norwegens durch NS-Deutschland dem Widerstand angeschlossen.

Der Autor zeichnet in Rückblenden nach, wie der beliebte Stürmer („Wenn er spielt, der Harder Tull, steht es bald drei zu Null“) sich von der SS ködern ließ, die ihn zum Helden stilisierte, als seine Karriere schon Geschichte war. Gern sang man auch gemeinsam deutschnationale Lieder, die ganz nach dem Geschmack des Spielers waren.

Auch wenn die Darstellung in dem Buch den Eindruck erweckt, als habe sich Harder eher überwältigt als freiwillig den Nazi-Schergen angeschlossen, wird er zu deren willfährigem Lakai. Halvorsen wiederum kam in Haft, zunächst in ein KZ in Norwegen. Nach der Deportation in ein deutsches Konzentrationslager erkrankte er an Typhus und litt auch nach Ende des Krieges bis zu seinem frühen Tod 1955 unter den Spätfolgen von Krankheit und Unterernährung.

Tull Harder wollte von seiner SS-Zeit nicht mehr hören

Das Aufeinandertreffen der einstigen Mannschaftskameraden vor der Kulisse des WM-Qualifikationsspieles Deutschland-Norwegen im Jahr 1953 geht unter die Haut. Die drängende Frage von Halvorsen, ob sein Teamkollege ihn denn nicht gesehen habe, damals im KZ Neuengamme, quittiert Harder mit dem Verweis, nichts mehr hören zu wollen von alledem. Das sei doch alles lange her.

Überhaupt betreibt der frühere HSV-Stürmer – Peuckmann zufolge – eine Geschichtsklitterung, die ihresgleichen sucht und kann sich darin auch bestätigt fühlen. Nachdem er von einem britischen Militärgericht als Kriegsverbrecher zu 15 Jahren Haft verurteilt wird und bereits nach fünf Jahren freikommt, wird ihm überall Lob und Ehre zuteil.

Peuckmann geht in dem Buch noch auf ein Begebenheit viele Jahre nach dem Tod von Harder ein, die auch zeigt, welch schwieriges Erbe der Umgang mit seiner Person darstellt: Als 1974 zur WM der HSV eine Broschüre drucken ließ, in der Harder als Vorbild für die Jugend präsentiert wurde (neben Uwe Seeler und Jupp Posipal, dem Weltmeister von 1954) hat der „halbe Vorstand“ des Vereins noch in letzter Minute vor der Veröffentlichung die Seite über den früheren Erfolgsstürmer herausgerissen.

Karlsruher Stürmer ins Exil getrieben

Im dritten Kapitel schildert Peuckmann das Schicksal von Gottfried Fuchs, der ein für die deutsche Nationalelf einen immer noch gültigen Rekord aufstellte, gelang es ihm doch, 1912 gegen Russland zehn Tore (Endstand: 16:0) zu erzielen. Auch darüber hinaus hatte Fuchs eine sehr ansehnliche Torbilanz. Der Stürmer des Karlsruher FV war jüdischer Abstammung, die er selbst gern mit gewisser Ironie betrachtete. Er sah sich dann aber mit dem Aufstieg der Nazis zur Flucht gezwungen und fand in Kanada eine neue Heimat.

Sepp Herberger, erster Bundestrainer im Nachkriegsdeutschland, wollte 1972 Fuchs zur Einweihung des Münchner Olympiastadions und zum Spiel Deutschland-Sowjetunion auf Kosten des DFB einladen. Doch die Spitze des Verbandes lehnte mit dem Hinweis ab, man würde einen Präzedenzfall schaffen und das sei angesichts der Finanzlage problematisch. Godfrey Fochs, wie er später hieß, erhielt diese Nachricht nicht mehr, er war kurz vorher gestorben. Herberger hatte sich damals übrigens an den DFB-Vize Hermann Neuberger gewandt, der als Verbandschef im Jahr 1978 über den Juntachef von Argentinien, das vor 40 Jahren WM-Gastgeber war, meinte: „Ich halte ihn für eine Taube. So wird er ja auch allgemein, glaube ich, gesehen.“ (Quelle: Süddeutsche Zeitung)

Peuckmanns Geschichten geben mancherlei Anlass, über die Rolle des Fußballs und seiner Akteure nachzudenken – übrigens auch mit Blick auf den aktuellen WM-Gastgeber Russland.

Heinrich Peuckmann: „Gefährliches Spiel. Fußball um Leben und Tod“. Kulturmaschinen-Verlag. 122 Seiten, 10,80 Euro.

Infos zum Verlag: https://kultur-und-politik.de