Hotzenplotz und all die anderen – Oberhausen zeigt den kongenial illustrierten Figurenkosmos des Otfried Preußler

Illustration von F. J. Tripp, Mathias Weber (Kolorierung) aus Otfried Preußler „Der Räuber Hotzenplotz“ (© by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart)

F. J. Tripp, Winnie Gebhardt, Herbert Holzing, Daniel Napp, Thorsten Saleina, Annette Swoboda. Schon mal gehört? Wahrscheinlich nicht, oder?

Dabei hätten vor allem die ersten beiden eine gewisse Prominenz verdient. Es sind samt und sonders Illustrator(inn)en von Büchern des unvergessenen Otfried Preußler (1923-2013). Der hat sich bekanntlich Figuren wie den „Räuber Hotzenplotz“, „Die kleine Hexe“, „Das kleine Gespenst“ oder „Krabat“ ausgedacht. Und etliche andere.

So markant Preußlers Personal schon rein literarisch sein mag, so erlangt es doch durch die kongenialen zeichnerischen Vergegenwärtigungen erst recht nachhaltige Unverwechselbarkeit. Das war dem Autor sicherlich auch bewusst. Die fruchtbringende Wechselwirkung der Künste greift jetzt eine umfangreiche Bilderschau in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen auf, wo man sich seit vielen Jahren der beachtlichen Qualität im Populären verschrieben hat. Über 300 originale Zeichnungen sind zu sehen, hinzu kommen einschlägige Filmrequisiten, Bücher und Fotos. Dabei gerät der ganze, durchaus vielfältige Kosmos der Preußler-Geschichten in den Blick, da tummeln sich auch Gestalten wie die dumme Augustine, der starke Wanja, Tella oder die Schildbürger („Bei uns in Schilda“).

Illustration von Winnie Gebhardt aus Otfried Preußler „Die kleine Hexe“, 1957 (© by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart)

Preußler zählt längst zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur, seine 35 Bücher wurden in über 50 Sprachen übertragen und haben eine Gesamtauflage von mehr als 50 Millionen Exemplaren erreicht. Weit über solche dürren Zahlen hinaus, haben seine besten Geschichten einen festen Platz im kollektiven oder zumindest weit verbreiteten Bewusstsein – wie sonst nicht allzu viele Werke und Protagonisten; allen voran gewiss der erstmals 1962 in Buchform erschienene „Räuber Hotzenplotz“, der 2006 von Gernot Roll mit hochkarätiger Besetzung verfilmt wurde (Armin Rohde in der Titelrolle, dazu u. a. Piet Klocke, Rufus Beck und Katharina Thalbach).

Illustration von Herbert Holzing aus Otfried Preußler „Die Abenteuer des starken Wanja“, 1968 (© by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart)

Die Zeichnungen des eingangs erwähnten, 1915 in Essen geborenen F. J. Tripp zum „Hotzenplotz“-Buch haben auch die Verfilmung – und zahllose Theater-Inszenierungen – inspiriert, insofern kann der Einfluss kaum überschätzt werden. Dieser Wirkung steht Winnie Gebhardt kaum nach, die das Erscheinungsbild der (gleichfalls ambitioniert verfilmten) „Kleinen Hexe“ und des kleinen Wassermanns ein für allemal vorgeprägt hat. Über 50 ihrer Tuschzeichnungen zeugen in Oberhausen davon. Und ich muss sagen: Ihre filigrane und herzerwärmende Kunst hat es mir noch mehr angetan als die von Tripp, die zuweilen etwas klobig wirkt, aber damit just einen klotzigen Charakter wie Hotzenplotz ideal verkörpert. Es war wohl  genau richtig, dass sie die Hexe und er den Räuber übernommen hat.

Apropos: Unsere Tochter (11), langjährige Preußler-Kennerin seit Vorlese-Zeiten, hält vehement dafür, dass F. J. Tripp partout keine Füße malen konnte. Wenn man es recht bedenkt und besieht: stimmt! Als bewusst eingesetztes Stilmittel oder als Stilisierung lässt sich das Defizit jedenfalls schwerlich kaschieren. Aufs Ganze gesehen, sind Tripps Schöpfungen freilich mancher Ehren wert.

Beim abwechslungsreichen Rundgang, den ich hier lediglich anhand des Katalogs nachvollziehe, stößt man u. a. auch auf Zeichnungen, die Otfried Preußler selbst geschaffen hat (zu „Hörbe mit dem großen Hut“). Interessant zudem die Möglichkeit, verschiedene zeichnerische Auffassungen derselben Gestalten zu vergleichen. Von Zeit zu Zeit, so scheint es, muss eben auch das prägnanteste Figuren-Inventar behutsam neu interpretiert werden. Nichts hat ewigen Bestand.

Otfried Preußler – Figurenschöpfer und Geschichtenerzähler. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Bis zum 10. Januar 2021. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro, Familie 12 Euro. Katalog 29,80 Euro. www.ludwiggalerie.de

 




Flimmern, Vibrieren, erhabene Ruhe: Die malerischen Farbforschungen des Kuno Gonschior in Recklinghausen

Kuno Gonschior: „Gelbtrans“ (2003), Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 190 (Privatsammlung)

Vor manchen dieser Bilder bekommt man rasch Augenflimmern, so sehr scheinen die vielen kleinen farbigen Bildpunkte auf den Untergründen zu tanzen, zu pulsieren, zu vibrieren; all dies noch gesteigert, wenn der Künstler grelle Leuchtfarbe verwendet hat.

Doch dann wiederum, besonders im späteren Werk, verströmen einige Bilder eine geradezu erhabene Ruhe in Blau, Grün oder Gelb, die an gewisse Naturerlebnisse erinnert. Er hat sie dann auch gelegentlich „Landscapes“ genannt. Kuno Gonschior hat wahrlich weite Felder der Farbigkeit durchmessen. Anfangs im Banne von mancherlei Farbtheorien und nach eigenem Bekunden eher wie ein Chemiker oder Physiker zugange, ist er mit den Jahren zusehends den eigenen Emotionen gefolgt, bis hin zu kreativen Rauschzuständen. Auf seinen künstlerischen Spürsinn konnte er sich da längst verlassen.

Kuno Gonschior wurde 1935 in Wanne-Eickel geboren, sein Atelier hatte der Schüler von Karl Otto Götz in Hattingen, gestorben ist er 2010 in Bochum. Die regionalen Ortsmarken lassen schon ahnen, dass er dem Ruhrgebiet biographisch recht treu geblieben ist. Gleichwohl hat er auch international reüssiert, vor allem in den USA. Der Tod riss ihn dann mitten aus den Vorbereitungen zu einer Ausstellung in Japan.

Kuno Gonschior: V. Rot-Grün (1965), Leuchtfarbe auf Leinwand, 32 x 30 (Privatsammlung)

Es ist die erste Gonschior-Ausstellung im Revier seit dem Tod des Künstlers. 2002 hat ihn das Kunstmuseum Bochum gewürdigt, 2008 das Duisburger Museum Küppersmühle. Zu Lebzeiten hat Gonschior gern ganze Museumswände bemalt. Das ist in der Kunsthalle Recklinghausen naturgemäß nicht mehr möglich. Auch hat man – wie Museumsdirektor Hans-Jürgen Schwalm leise bedauert – extreme Großformate nicht ins Haus bringen können. Es ist zwar grundlegend für Kunstzwecke umgebaut, war aber nun mal früher ein Weltkriegsbunker. An großflächige Farbfeldmalerei hat damals gewiss niemand gedacht. Zumeist hat Gonschior jedoch mit „menschlichem Maß“ gearbeitet, sozusagen nach allseitiger Armspannweite. Deshalb dürften die gezeigten Werke wohl einigermaßen repräsentativ fürs gesamte Oeuvre sein.

Es ist eine konzentrierte Retrospektive mit 68 kleineren und durchaus imposanten mittelgroßen Bildern aus allen Schaffensphasen und mit allen wesentlichen Werkfacetten – von den 1950er Jahren bis ins Todesjahr 2010. Das mutmaßlich allerletzte Bild, das Gonschior schuf, ein unscheinbares Kleinformat, beschließt den Rundgang. Die chronologische geordnete Zusammenstellung, darunter viele Leihgaben aus Privatbesitz, enthält im zweiten Obergeschoss auch einige Bilder aus Gonschiors Nachlass. Kein ganz leichtes Unterfangen, denn alle Kinder des Künstlers mussten zustimmen.

Kuno Gonschior: „Landscape Orange-Blue-White“ (2006), Acryl und Gel auf Leinen, 100 x 95 (Privatsammlung / Courtesy Galerie Frank Schlag & Cie.)

Die ersten starken Signale setzt die Schau schon im Erdgeschoss, wo hauptsächlich Werke aus den 1960er Jahren präsentiert werden. So manche Flimmerbilder des „Farbforschers“ (auf diese griffige Bezeichnung haben sich viele Kunstbetrachter festgelegt) könnte man, was die Wirkung anbelangt, getrost „psychedelisch“ nennen. Der damalige Zeitgeist (im Vorfeld und ums Jahr 1968 herum) scheint darin zu wirken, zu walten und zu wabern, doch sind es letztlich ganz eigenwillige Schöpfungen, die weit über derlei Moden hinaus Bestand haben. Trotzdem hat die Zeit ihnen physisch etwas anhaben können: Makellos sind nicht mehr alle Bilder, hie und da beginnt die immer pastoser aufgetragene Farbe zu bröckeln und feine Risse zu zeigen.

In seinen Anfängen hat sich Gonschior entschieden vom Informel fortbewegt, hin zu Farb-Expeditionen und Experimenten, vielleicht auch in einer späten Nachfolge des Pointillismus, die man im bewundernden Sinne „besessen“ nennen kann. Faszinierend allein schon die offenbar nicht nachlassende Geduld, mit der Gonschior zu Werke gegangen sein muss. Hunderte, ja vielleicht manchmal gar Tausende von punkt-, strich-, keil-, tropfen- oder häufchenförmigen Farbaufträgen, zuweilen mit großem Regelmaß gesetzt, dann wieder grandios von allen Zwängen befreit, lassen auf den Bildflächen je ganz eigene Welten entstehen. Nur selten hilft uns Gonschior mit Titeln auf assoziative Sprünge, hier eigentlich nur bei den „Piccadilly“-Bildern, die metropolitanes Lichter-Gewimmel nachzuempfinden scheinen. Ansonsten tragen viele Werke entweder keine Titel oder führen lediglich die verwendeten Farben im Schilde.

Kuno Gonschior: Ohne Titel (Grau) (1987), Öl auf Leinwand, 190 x 140 (MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher)

Vielfältig die Farberfahrungen, die man hier machen kann: Wie geheimnisvolle Urgründe von unten her durchschimmern; wie die Farben immer wieder neue Dialoge miteinander aufnehmen und unverhofft aufeinander reagieren; wie solche Impulse gelegentlich auch in die dritte Dimension drängen und skulpturale Form annehmen, sei es als sanfte Wölbung oder Kugel!

Der Titel der Ausstellung – er lautet schlichtweg „Farben sehen“ – kann fraglos lückenlose Gültigkeit beanspruchen. Es scheint, als hätte Gonschior keinen einzigen Farbton ausgelassen, von Zeit zu Zeit waren sie ihm alle lieb und wert, ob nun Schiefergrau, schillerndes Blau, flammendes Rot, leuchtendes Gelb, schier grenzenloses Grün oder allerlei Mischformen und Verläufe, Experimente mit Gel, Wachs und Öl oder wechselnden Bildträgern inbegriffen.

Oh seltsamer Kontrast, wenn man danach das Museum verlässt und in die schmucklose Wirklichkeit eines Bahnhofsvorplatzes gerät.

Kuno Gonschior – Farben sehen. Kunsthalle Recklinghausen. 20. September bis 15. November 2020. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Eintritt 5, ermäßigt 2,50 €, samstags „pay what you want“ (Eintrittspreis nach Gutdünken). Telefon: 02361 / 50-1935.

Am 20.9. keine gewöhnlich terminierte Eröffnung, sondern ein ganzer Eröffnungstag von 11 bis 18 Uhr.




Olympische Spielstraße, München, 1972 – Erinnerungen an ein fröhliches Projekt, dem der Terror ein jähes Ende setzte

Abschnitt der Spielstraße mit erkennbar entspannten Besuchern. Weiße Luftballons markierten Hotspots des Parcours. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Der Mann im Hamsterrad hatte eine beeindruckende Ausdauer. Jeden Tag lief er seinen Marathon, und er schonte sich nicht. Die Fußverletzungen, die er sich im Rad zuzog, mussten schließlich sportärztlich behandelt werden.

Gleichwohl war er nicht Sportler, sondern Künstler: Timm Ulrichs, der vor wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feierte, prangerte vor bald 50 Jahren in seinem Hamsterrad – auch die Bezeichnung Tretmühle wäre wohl zulässig – die scheinbare Sinnlosigkeit körperlicher Leistungserbringung zu Sportzwecken an. Und seine Aktion wurde lebhaft wahrgenommen, stand das überdimensionale Hamsterrad doch auf der „Spielstraße“ der Olympischen Spiele in München. 1972 war das, verdammt lang her.

Wohl eine Performance, über die wir nichts Näheres wissen. Doch die Ballons kennen wir. (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Von Werner Ruhnau geplant

Die Spielstraße hatte der Essener Architekt Werner Ruhnau konzipiert, den man im Ruhrgebiet vor allem wohl wegen des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier kennt, das 1959 eröffnet wurde. Verbindendes zwischen einem Spaßparcours für die breiten Massen und einem opulent verglasten Musentempel springt möglicherweise nicht sofort ins Auge, doch wohnt beiden das Bestreben inne, Abgrenzungen in der Gesellschaft abzubauen, kulturelle Aktivitäten als partizipative Projekte zu gestalten und allen zu öffnen. Ruhnau war also durchaus der Richtige für die Münchener Spielstraße.

Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 

Dann kam der schreckliche Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, bei dem alle elf Geiseln starben. Zwar gingen die Spiele anschließend weiter, doch die Spielstraße wurde abgebaut, weggepackt und fast vergessen. Jetzt erinnert eine Ausstellung im Marler Kunstmuseum „Glaskasten“ an das Projekt.

Blick in die liebevoll zusammengestellte Ausstellung im Glaskasten Marl. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Wertvolle Eindrücke

Zusammen mit der Künstlerin Jana Kerima Stolzer und Britta Peters von Urbane Künste Ruhr hat Glaskastendirektor Georg Elben die Ausstellung konzipiert. Die Exponate stammen ausnahmslos aus dem Archiv Ruhnau, von irgendeiner Vollständigkeit kann natürlich nicht die Rede sein. Doch Timm Ulrichs’ Hamsterrad blieb als wohl größtes Exponat erhalten, außerdem einige skulpurale Arbeiten, Zeitungsartikel, Plakate, Siebdrucke und eine Widmung Andy Warhols, der sich die Sache damals auch einmal anguckte. Weiße Luftballons schweben über den Glasvitrinen gerade so, wie vor 48 Jahren solche Ballons die Stationen der Spielstraße markierten.

Viele Schmalfilme erzählen von der Spielstraße. Leider gibt es keinen Originalton dazu, nur kongenialen Sound. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Anita Ruhnau holte Künstler

Ruhnaus Frau Anita hatte etliche Künstlerinnen und Künstler zur Teilnahme bewegen können, was die Spielstraße, wenn man einmal so sagen darf, zu einem multifunktionalen Spektakel machte: Kunstpräsentation, Theater und Performances einerseits, Mitmachparcours andererseits.

Da liegt eine federnde Hüpfmatratze auf dem Weg und lädt sogar Anzugträger zum Selbstversuch ein, da gibt es Bühnenprogramme mit Publikumsbeteiligung, in der öffentlichen Siebdruckwerkstatt kann sich das Volk mit Rakel und Farbe versuchen. Super-8-Filme berichten von alledem. Glücklicherweise entstanden sie in reicher Zahl und wurden rechtzeitig digitalisiert, so dass sich Qualitätsverluste durch Alterung in Grenzen halten. In zwei relativ großen Räumen laufen diese Filme auf je drei Wänden, und wenn es in dieser ansonsten uneingeschränkt zu preisenden Ausstellung doch etwas zu kritisieren gibt, so ist es das weitgehende Fehlen von Sitzgelegenheiten in zentraler Position, von denen aus die alten Streifen mit möglicherweise noch mehr Genuss betrachtet werden könnten.

Ist es Sport oder ist es seine Verhöhnung? Mitunter spricht das alte Material keine klare Sprache (mehr). (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Langhaarige und Gamsbartträger

Erheiternd sind die Filme auch so, jedenfalls meistens. Langhaarige und Gamsbartträger dicht an dicht und trotzdem stressfrei, wie es scheint. Doch dann taucht in dem Gewusel eine merkwürdige Prozession auf, obskure Gestalten, ein rollendes Podest, ein Müllwagen… Das Straßentheaterstück „Olympiade 2000“, das auf der Spielstraße aufgeführt wurde und das Jana Kerima Stolzer für die Marler Ausstellung recherchierte und kunsthistorisch aufarbeitete, gefällt sich in der Dystopie eines pervertierenden, nurmehr wirtschaftlichen Interessen unterworfenen olympischen Sports. Das Stück schrieb seinerzeit der „Theatermacher“ Frank Burckner in Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk, und trefflich mag man sich darüber streiten, ob die düsteren Erwartungen der Autoren sich erfüllten oder mittlerweile längst schon überholt sind. Leider gibt es für die Filme keinen Ton, was besonders bei den abgefilmten (mehr oder minder spontanen) Bühnenereignissen schade ist.

Frühform der urbanen Künste

Die Spielstraße bot Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen, einst und jetzt und zukünftig. Warum aber beteiligt sich „Urbane Künste Ruhr“ an der Marler Schau, jene Organisation, die in der Nachfolge des Kulturhauptstadtjahres ganz überwiegend öffentliche Orte im Hier und Jetzt mit aktuellen Kunstprojekten bespielt? Nun, die Verwandtschaft der Themen ist nicht zu leugnen, und ursprünglich, so Britta Peters, sollte die „Spielstraße“ nur ein Teil des Urbane-Künste-Projekts „Ruhr Ding: Klima“ sein, das nun aber, Corona ist schuld, auf die Mitte nächsten Jahres verschoben wird.

  • „Die Spielstraße München 1972“
  • Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Creiler Platz, Rathaus
  • Bis 1. November 2020
  • Geöffnet Di – Fr 11 – 17 Uhr, Sa und So 11 – 18 Uhr
  • Kein Katalog



Befremdende Bilder aus dem Märchenwald – „Mühl“ von Bernhard Fuchs im Bottroper „Quadrat“

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© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Was hat er gesucht? Und was hat er gefunden? Es ist nicht eben so, daß diese Bilder des österreichischen Fotografen Bernhard Fuchs dem Betrachter ihre Botschaften aufdrängen wollten. Eher verschlossen wirkt diese Fotografie, und die formale Präsentation – quadratische Abzüge in einem insgesamt sehr quadratisch wirkenden Museum namens Quadrat – trägt das ihre dazu bei, das Publikum auf Abstand zu halten.

Fast nur Natur

Jenseits des Formalen wohnt den Arbeiten indes nur wenig Serielles inne. Zu sehen gibt es Bilder aus dem Wald im wilden oberösterreichischen Mühlviertel. Bäume, Zweige und Äste – blattlos, winterlich – kommen häufig vor, Steine, Wasser, Moos und Gräser sind mit dabei, Himmel und Erde schließlich auch. Die Kompositionen sind stets sparsam, mal zeigen sie zerklüftete, bemooste Felsen, mal Flächenkompositionen aus nackten Zweigen vor fahlem Himmel. Skurrile Ast- und Stammformen laden zu Assoziationen ein, einmal gar steht nur ein mäßig strahlender Mond über der schemenhaft erkennbaren nächtlichen Landschaft. Zivilisation fehlt weitgehend, wird in einigen Bildern lediglich angedeutet durch das Resultat menschlichen Handelns, durch auf dem Boden ausgebreitete, abgeschnittene Zweige beispielsweise.

© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Zurückhaltung

Ob man die Auseinandersetzung des Fotografen mit alledem als komponierendes Handeln wertet oder als das Resultat feinnervigen Erspürens besonderer Orte, ist letztlich fast egal. In beiden Fällen sind die Dinge sehr gut gesehen. Einige Male, bei den Steinbildern zumal, ist die Zentralperspektive zu erkennen, doch kompositorische Zurückhaltung herrscht vor. Die meisten Arbeiten übrigens könnte man glatt für Schwarzweißbilder halten, so farblos schwarz-weiß-grau sind sie in der unsommerlichen Zeit ihres Entstehens geraten. Und bei alledem erkennt man in Bernhard Fuchs den Becher-Schüler, der seine fotografischen Objekte gut behandelt und darauf vertraut, daß sie so bei Betrachterin und Betrachter wirksam werden.

© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Eine ewige Dunkelheit

„Oft schenkt während meiner Wanderungen das Betrachten und Erklettern eines Steinblocks dem Denken einen heilsamen Widerstand, weil in seiner Stärke und seiner Ruhe eine Art ,ewige’ Dunkelheit verborgen bleibt.“ So zitiert das Bottroper Museum den oberösterreichischen Künstler. Nicht alle Waldbesucher werden so intensive Empfindungen haben, da müssen Stichworte wie Heimat, Kindheit, Geborgenheit sicherlich hinzugedacht werden. Unzweifelhaft jedoch erschaffen Fuchs’ Bilder in ihrer Gesamtheit eine große, fast schon archaische Intensität, laden ein zu einer intuitiven Auseinandersetzung mit vertrauter Nähe und unerwarteter Fremdheit. Konsequenterweise gilt „Mühl“, ein winziges Schildchen auf der Wand erklärt es, als ein einziges „o.T.“, mithin als ein einziges, vielteiliges Werk „ohne Titel“, was etwas widersprüchlich ist. Aber gemeint ist wohl, daß kein einzelnes Bild sinnvollerweise einen Titel tragen kann, die Bilder in ihrer Gesamtheit indes schon.

Bei aller Radikalität, die der Fotografie Bernhard Fuchs’ im besten Sinne eigen ist, ist sie doch keineswegs unzugänglich – eine Position weit jenseits schneller Dramatisierungen mithin, die kennenzulernen allemal lohnt.

  • Bernhard Fuchs: „Mühl“
  • Josef Albers Museum, Quadrat, Bottrop
  • Bis 8. November 2020. Geöffnet Di bis Sa 11-17 Uhr, So 10-17 Uhr, Eintritt 6 EUR.
  • Das Buch zur Ausstellung erschien im Verlag Koenig Books, London, hat 96 Seiten und kostet 45,00 EUR.



Begehbarer Farbenrausch: Wie Katharina Grosse den Hamburger Bahnhof in Berlin verwandelt

Katharina Grosse „It Wasn’t Us“, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2020 (Courtesy König Galerie, Berlin/London/Tokyo / Gagosian / Galerie nächst St. Srephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien – @ Katharina Grosse / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: Jens Ziehe)

Was da seltsam zersplittert, in sich verschachtelt und aufgetürmt in der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs in Berlin liegt: Sind das Eisschollen oder Reste einer antiken Ruine, ein vom Himmel gefallener Vogel oder ein gestrandetes Fluggerät aus einem unbekannten Universum?

Und warum leuchtet das archaisch anmutende Objekt so grell und bunt, warum schillert es in Königsblau und Zitronengelb, blutigem Rot und saftigem Grün? Und wie schafft es das mit furiose Geste in den Raum geworfene Kunstwerk, uns magisch anzuziehen, fast zu verschlingen und unserer Fantasie Flügel zu verleihen?

Auf Dauer bleiben nur die Erinnerungen

Katharina Grosse stellt uns mit ihrem begehbaren Kunstwerk viele Fragen. Antworten müssen wir selber suchen. Denn die Künstlerin, die in Berlin und Düsseldorf als Kunst-Professorin gewirkt hat und seit vielen Jahren in allen wichtigen Museen der Welt ihre temporären Kunstwerke ausstellt, will kreative Störungen bewirken, Raum und Zeit aufheben, unser Denken verändern und der Kunst neue Möglichkeiten eröffnen. Welche, das können nur die Betrachter entscheiden, die bei Grosse zu Mitwirkenden werden. So auch bei „It Wasn´t Us“, diesem aus Spray und Kunststoff geschaffenen Farbrausch, der nur von relativ kurzer Dauer sein wird.

Katharina Grosse „It Wasn’t Us“. Ausstellungansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin 2020 (Courtesy König Galerie, Berlin/London/Tokyo / Gagosian / Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien / @ Katharina Grosse / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: Jens Ziehe)

Nach Ende der Berliner Ausstellung wird die Farbe vom Boden geschrubbt, die Kunststoff-Objekte werden dann geschreddert und recycelt. Bleiben werden Erinnerungen, Fotos, Filme und die Gespräche, die die Besucher miteinander geführt haben, während sie über den in leuchtende Farben getauchten Museumsboden flanierten und durch das große Glastor hinaus taumelten ins Freie und ins Licht. Dort tippelt man weiter über farbige Welten, ineinander verschlungene Farbsträhnen, kaleidoskopische Farbfelder, die die Pforten der Wahrnehmung weit öffnen, die Mauern einreissen und den Kunst-Bahnhof mit dem weitläufigen Gelände hinterm Museum zu einem neuen Fantasie-Raum verschmelzen. Die Schotter-Wege und auch die Hülle der angrenzenden Rieck-Hallen, in denen (noch) die Sammlung Flick mit ihren Kunst-Ikonen der Moderne untergebracht ist, wird zu einer riesigen poetischen Leinwand.

Portrait der Künstlerin Katharina Grosse (Foto: © Robert Schittko, Art/Beats)

Verluste in der Hauptstadt

Die Welt könnte so schön sein, wenn man sie in Ruhe ließe. Doch wo die Kunst groß ist, gedeiht auch der schnöde Kommerz. Auf dem Areal, wo nach der Wende neben verrosteten Gleisen und in alten Schuppen junge Künstler sich ansiedelten und an eine antikapitalistische Zukunft glaubten, werden heute schicke Appartements und Cafés aus dem Boden gestampft. Die Rieck-Hallen werden abgerissen, Flick und seine einzigartige Collection die Stadt verlassen. Damit wir sie noch einmal genießen und das bald Verlorene betrauern können, zieht uns Katharina Grosse über den von ihr bunt bemalten Asphalt mit einem magischen Farbstrahl hinein in die Halle und spricht dort mit den Objekten von Isa Genzken, den Skulpturen von Donald Judd, den Fotos von Thomas Struth.

Grosses Farbexpansionen begleiten uns in die von Bruce Neuman gebaute Apokalypse der Dunkelheit: „Room With My Soul Left Out, Room That Does Not Care“, in den Raum ohne meine Seele, den Raum, dem das gleichgültig ist. Es kann einem angst und bange werden. Aber solange es Katharina Grosse gibt, die mit ihren pulsierenden Farbskulpturen so viele Gegensätze überwindet, haben wir noch Hoffnung.

Katharina Grosse: „It Wasn´t Us“, Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin, Invalidenstraße 50/51. Bis 10. Januar 2021, Katalog: 44 Euro, geöffnet Di-Fr 10-18 Uhr, Sa und So 11-18, Besuch derzeit nur mit Zeitfenster-Ticket und unter Wahrung der Corona-bedingten Maßnahmen, Infos unter service@smb-museum, www.smb.museum




„Macht der Bilder“: Dresden feiert Raffael und seine famosen Wandteppiche

Raffael (Raffaelo Santi): „Das Opfer zu Lystra“. Bildteppich nach einem Karton von Raffael.
Teppich 431 x 647 cm
(Gemäldegalerie Alte Meister / © SKD, Foto: Herbert Boswank)

Es sollte das nächste große Ding, der nächste Superlativ auf dem internationalen Markt der Kunst-Events werden, der hunderttausende Besucher in die Musentempel lockt. Doch dann fraß sich das Corona-Virus über den Erdball und in Rom musste die große Feier, für die vorab über 50.000 Tickets verkauft waren, nach zwei Tagen abgebrochen werden. Die Meisterwerke des Renaissance-Genies Raffael wurden verhüllt, die Jahrhundertausstellung zu Ehren des vor 500 Jahren verstorbenen Universalkünstlers für Monate geschlossen.

Dasselbe Schicksal traf auch alle anderen Museen rund um den Globus, die ihre Kunst- Schätze durchforstet hatten, mit Raffael-Sonderschauen den Mythos des Meisters befeuern und die Kunstwelt beglücken wollten. Doch nun, mit der Lockerung der Corona- Beschränkungen, ist Licht am Ende des Tunnels. Museen können ihre Pforten öffnen und die Werke eines Kunst-Gottes in ihrer zeitlosen Schönheit erstrahlen lassen, von dem schon Zeitgenosse Giorgio Vasari schwärmte: „Mit welch großmütiger Freigebigkeit der Himmel bisweilen über einen einzigen Menschen den ganzen Reichtum seiner Schätze, alle Talente und hervorragenden Fähigkeiten ausschüttet, die er sonst im Lauf eines langen Zeitraums auf viele zu verteilen pflegt, zeigt sich deutlich an Raffael Sanzio von Urbino, der sich nicht minder durch sein einzigartiges Genie als durch seltene persönliche Liebeswürdigkeit auszeichnet.“

Raffael (Raffaelo Santi): „Der wunderbare Fischzug“. Bildteppich nach einem Karton von Raffael. Teppich 415 x 514 cm (Gemäldegalerie Alte Meister / © SKD, Foto Herbert Boswank)

Die im Dresdner Zwinger angesiedelte Gemäldegalerie Alte Meister hat es naturgemäß relativ leicht, Raffael zu würdigen. Sie verfügt in ihrem reichhaltigen Fundus nicht nur mit der „Sixtinischen Madonna“ über eines der wirkungsmächtigsten und berühmtesten Altargemälde der Kunstgeschichte, sondern auch über einige andere Werke, die Raffael geschaffen und ermöglicht hat. Zum Beispiel die grandiosen Bild-Teppiche, die Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen („August der Starke“) 1728 erwarb, um sich die Aura eines ebenso kunstsinnigen wie machtbewussten Herrschers zu verleihen. Frisch restauriert steht der großformatige Wand-Schmuck jetzt im Mittelpunkt der Ausstellung: „Raffael – Macht der Bilder. Die Tapisserien und ihre Wirkung“.

Im Auftrag von Papst Leo X. fertigte Raffael ab 1515 zehn riesige Kartons, nach denen dann in Spezialwerkstätten in Brüssel die herrlich leuchtenden und künstlerisch geradezu revolutionären Tapisserien für die Sixtinische Kapelle gewebt wurden. Erstmals wurden die Bildteppiche, die schon damals unendlich kostbar waren und deren Wert inzwischen kaum mehr zu beziffern ist, zu Weihnachten 1519 aufgehängt. Heute befinden sie sich in den Vatikanischen Museen und wurden nur selten, zum Beispiel zum 500. Todestag Raffaels, wieder für kurze Zeit in die Sixtinische Kapelle gebracht. Die Original-Kartons, die heute in der Sammlung des Victoria and Albert Museum in London zu Hause sind, wurden 1623 vom späteren englischen König Karl I. erworben und dienten britischen Tapisserie-Manufakturen als Vorlage für weitere Teppich-Serien im Geiste Raffaels. Hier entstanden schließlich auch die sechs Wand-Textilien, die jetzt im Dresdner Zwinger zu bestaunen sind, von unzähligen Werken flankiert werden und die Wirkungsgeschichte Raffaels belegen.

Ausstellungsansicht „Raffael – Macht der Bilder. Die Tapisserien und ihre Wirkung“ (Gemäldegalerie Alte Meister / © SKD, Foto: Alexander Peitz)

Mit Raffaels Skizzen und Kartons sowie den gewebten Wand-Bildern erleben wir den Ausnahmekünstler als Visionär der Gestaltung und Aussage. Die Werke sprechen zu uns, weil wir sofort spüren, wie Raffael den menschlichen Körper in all seinen Facetten und Bewegungsmustern, Muskelzuckungen und Gesten studiert und uns Geschichten erzählt von zeitloser Spiritualität, göttlicher Fügung und menschlichem Willen. Eingefügt in die Architektur filigran ausgefeilter Landschaften und detailreicher Bauwerke zeigt Raffael den von göttlichem Geist angehauchten und von des Gedankens Blässe gestreiften Menschen in seiner oft vergeblichen Suche nach Wahrheit und Erhabenheit: Biblische Szenen, die Apostelgeschichte vom Magier Elymas, der von Blindheit geschlagen wurde, als er versuchte, den Statthalter von Zypern vom Glauben an die Worte von Paulus und Barnabas abzuhalten. Die Heilung des verzweifelten Lahmen und das Weiden der (am Glauben zweifelnden) menschlichen Schafe. „Der wunderbare Fischzug“, bei dem sich jeder Muskel und jede Sehne der im gefährlich schwankenden Boot mit den Unbilden der Natur und dem rechten Glauben ringenden Fischer im Wasser spiegelt und die Geschichte vom Menschen, der sich selbst und den Sinn des Lebens nur erkennt, wenn er Gott versteht und vertraut, gleich mehrdimensional verschachtelt erzählt und mehrdeutig interpretiert.

Wie groß und vielfältig die Wirkung Raffaels ist, wird deutlich beim Blick auf die Gemälde, Skulpturen, Druckgrafiken und Zeichnungen, die den Tapisserien beigesellt sind. Von Dürer bis Rembrandt, von Rubens bis Poussin, die Liste der ausgestellten Werke ist lang, und sie dokumentiert, wie die Formensprache und Bildgestaltung Raffaels fortan die Kunstgeschichte und die Sicht auf den Menschen als ein vielleicht freies, aber doch ziemlich hilfloses und in die Welt geworfenes Wesen prägte. Wie fragil das Leben und wie gefährdet die Kunst ist, kann man auch an der Organisation der Ausstellung selbst ablesen: Die Kartons, Skizzen und Werke von Raffael, die aus amerikanischen Museen den Weg über den Atlantik an die Elbe finden sollten, mussten Corona-bedingt zuhause in Quarantäne bleiben. Schade. Dass im Gegenzug die Dresdner Schau Ende des Jahres ins Museum nach Columbus/Ohio reisen und dort die Raffael-Fans beglücken darf, ist ein toller Plan. In Corona-Zeiten könnte er sich aber schnell als schöne, aber haltlose Utopie erweisen.

„Raffael – Macht der Bilder. Die Tapisserien und ihre Wirkung.“ Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau am Zwinger, Theaterplatz 1. Bis 30. August 2020, täglich 11-17 Uhr (außer montags). Freitags 11-20 Uhr. Katalog im Museum 34 Euro, im Buchhandel 48 Euro.




Mit schnellem Stift Momente im Prozess skizzieren – Gerichtszeichnungen als rares Ausstellungsthema in Hamm

Stefan Bachmann: Moment aus dem Kachelmann-Prozess (2010/2011) – mutmaßliches Opfer und Angeklagter, zwischen ihnen Geräte für eine gerichtliche Video-Aufzeichnung.

Kaum zu glauben: Schon seit 200 Jahren besteht das Oberlandesgericht (OLG) in Hamm. Anno 1820 ordnete der preußische König Friedrich Wilhelm III. die Verlegung von Kleve in die westfälische Stadt an. Groß feiern kann man das Jubiläum heuer nicht, da ist Corona vor. Doch geht der Anlass auch nicht spurlos vorüber: So sind jetzt im Hammer Gustav-Lübcke-Museum rund 80 Gerichtszeichnungen zu sehen – Beispiele für ein ganz eigenes künstlerisches Genre und selten genug Ausstellungsthema.

Die Studioschau wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar, sie wartet aber mit zeichnerischen Vergegenwärtigungen spektakulärer Prozesse auf, so etwa mit dem Verfahren, bei dem der Wettermoderator Jörg Kachelmann sich wegen angeblicher Vergewaltigungen verantworten musste – und schließlich freigesprochen wurde. Martin Burkhardt, der wohl aktivste und gefragteste Gerichtszeichner der Republik, hat einige markante Szenen aus dem Prozessverlauf in aller nötigen Diskretion festgehalten – von der Aussage einer Zeugin bis hin zum Porträt des Angeklagten. Auch Yann Ubbelohde und Stefan Bachmann haben Momente dieses Prozesses zeichnerisch festgehalten, jeweils mit anderen Ansätzen. Bo Soremsky hat aus dem Geschehen sogar eine interaktive Arbeit destilliert, die im Stile einer Graphic Novel deutlich über die bloßen Tatsachen hinausgreift.

In den Gründungsjahren der Bundesrepublik waren noch Filmaufnahmen im Gericht erlaubt, seit 1964 heißt es jedoch „Fotografieren verboten!“ Diesen Titel trägt nun auch die Hammer Ausstellung. Ohne das Film- und Fotografierverbot gäbe es ja die Gerichtszeichnung nicht. Man kennt die weithin üblichen Fotos und Filmschnipsel, die die kurzen Momente vor Verfahrensbeginn zeigen: Die Angeklagten halten sich zumeist Aktenordner vors Gesicht, man sieht nur die Anwälte, die zuweilen nicht unfroh sind, wenn sie „prominent“ in den Medien auftauchen. Nach diesen eher nichtssagenden Schnappschüssen aber lautet das Gebot: Kamera aus!

Es bleibt also eine Lücke in der Berichterstattung, die nicht einmal durch noch so brillante Texte geschlossen werden kann. Bei einigen Prozessen möchte sich die Öffentlichkeit eben eine genauere visuelle Vorstellung von typischen Momenten, Gesten und Gesichtern machen. Es ist nicht nur blanker Voyeurismus, sondern mag auch der Wahrheitsfindung dienen. So kommt es, dass just die Fernsehanstalten Haupt-Auftraggeber für die Gerichtszeichnungen sind, die in angespannter Situation relativ schnell entstehen und sich am tagesaktuellen Redaktionsschluss orientieren müssen (darin der Karikatur vergleichbar, die aber eine völlig andere, ja fast gegenteilige Aufgabe hat). Printmedien drucken hingegen nur noch sehr selten Gerichtszeichnungen ab.

Der Zeichner oder die Zeichnerin, in aller Regel graphisch gründlich ausgebildet, manchmal auch auf Grundlage eines langen Kunststudiums arbeitend, sitzen also im Gerichtssaal und fertigen mit recht raschem Bleistift-Strich ihre Prozess-Ansichten, die sie hernach meist noch kolorieren und mit Fineliner-Stift umreißen. Dann kommen schon die eiligen Kamerateams und filmen die Zeichnungen ab.

Und siehe da: Diese Zeichnungen haben eine andere Intensität und Unmittelbarkeit als die meisten Film- oder Fotoaufnahmen aus dem Justizwesen. Da die Zeichner im Saale sitzen, fühlt man sich durch ihre Skizzen auch perspektivisch oft mitten ins Prozessgeschehen versetzt. Hinzu kommt das subjektive Moment, das – bei allem Bemühen um neutrale Dokumentation – dennoch insgeheim gegenwärtig ist. In Einzelfällen (sog. Wörz-Prozess) verdichten sich Zeichnungen auch zu stillen Dramen, so beispielsweise in der Gestalt des Vaters einer ermordeten Frau, der sichtlich als gebrochener Mann in den Zeugenstand tritt. Ein bewegendes, Mitleid erregendes Bild.

Martin Burkhardt: Rocker-Prozess in Kaiserslautern. Der Gerichtssaal wurde eigens umgebaut, Panzerglas und Stahldornen trennten den Zuschauerraum von den Verfahrensparteien.

Ganz anders, nämlich sozusagen explosiv und potentiell gewaltgeneigt, erschien die Stimmungslage bei einem Rocker-Prozess um „Hells Angels“-Mitglieder, bei dem Teile des (eigens umgebauten) Saales mit bedrohlich wirkenden Bikern angefüllt waren. Und wieder anders, atmosphärisch geradezu gediegen, die Bilder vom Verfahren gegen den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, das sich um Vorteilsnahme und Korruption rankte und mit Freispruch endete. Als eher kurioses Einzelstück sieht man noch ein Gerichtsporträt des Sängers Heino, der in ein Schadenersatz-Verfahren um abgesagte Auftritte verwickelt war.

Cony Teis: Prozess gegen die „Gladbecker Geiselgangster“ – hier der Angeklagte Hans-Jürgen Rösner mit seinem Finger-Tattoo („L-O-V-E“).

Manche Skizzen gelangen auch schon mal in die ARD-Tagesschau oder in die heute-Nachrichten des ZDF. Dennoch verdienen die freischaffenden Gerichtszeichner nicht übermäßig viel. Der übliche Tagessatz liegt bei rund 500 Euro plus Spesen. Große Prozesse und somit lohnende Aufträge gibt es beileibe nicht alle Tage. Und wie sieht es mit Verkäufen aus? Ganz schlecht. Ein Kunstmarkt für Gerichtszeichnungen existiert praktisch nicht. Hamms Museumsleiter Ulf Sölter hat sämtliche Exponate von den Urhebern selbst erhalten. Nur ganz vereinzelt soll es Anwälte geben, die Gerichtszeichnungen in ihren Kanzleien aufhängen. Keine üppigen Geldquellen also. Martin Burkhardt ist denn auch der einzige, der von Gerichtszeichnungen lebt, die weiteren künstlerischen Leihgeber betreiben ihr Gerichtsmetier lediglich als Nebentätigkeit.

Ein Sonderfall ist die Kölner Künstlerin Cony Teis, die zwar einst große Prozesse begleitet hat (Beispiele in der Hammer Auswahl: die Gladbecker Geiselnehmer Rösner und Degowski, der Kinderschänder Dutroux), inzwischen aber längst zur international beachteten freien Kunstszene zählt und Gerichtssäle nicht mehr aufsucht. Das gewiss auch für Zeichner seelisch sehr belastende Dutroux-Verfahren und andere haben sie bewogen, ein hauchzartes und im leisesten Luftzug wandelbares Mobile mit Täter- und Opfer-Porträts auf transparenten Folien zu entwerfen. Teis‘ Werk mit dem Titel „Justitia“ ist als genuin künstlerisches Statement und gleichsam als Summe, Vertiefung und Überhöhung ihrer vielen Gerichtszeichnungen in dieser Ausstellung zu sehen. Spätestens hier sollte man innehalten, um über die Unwägbarkeiten oder auch Untiefen von Recht und Gerechtigkeit nachzusinnen.

„Fotografieren verboten! Die Gerichtszeichnung“. Ausstellung zur 200-Jahr-Feier des Oberlandesgerichts Hamm. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. – Bis 3. Januar 2021. Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Ein Katalog kommt erst im September heraus. www.museum-hamm.de




Das Paradies liegt wohl in Giverny – prächtige Monet-Ausstellung im Potsdamer Museum Barberini

Claude Monet: „Getreideschober“, 1890, Öl auf Leinwand (© Hasso Plattner Foundation / Photo: Lutz Bertram, Berlin)

Es ist der wohl teuerste Heuhafen der Welt. Über 111 Millionen Dollar legte ein zunächst anonymer Käufer auf den Tisch eines Auktionshauses, als vor knapp einem Jahr ein Werk von Claude Monet versteigert wurde: Es stammt aus einer Serie von mindestens 25 ähnlichen Bildern, die Monet in Giverny gemalt hat.

In dem kleinen normannischen Dorf an der Seine lebte Monet von 1883 bis zu seinem Tode 1926. Monet, der vorher immer wieder zu neuen malerischen Ufern aufgebrochen war und seinen Wohnort mehrfach wechselte, wollte hier endlich zur Ruhe und der künstlerischen Perfektion nahe kommen. In Giverny fand er sein Paradies, schuf sich seinen eigenen wild wuchernden Garten, in dem er nach Lust und Laune malen, das Licht, die Stimmung und die Natur bei jeder Tages- und Jahreszeit einfangen und auf die Leinwand bringen konnte.

Immer wieder sah er seinen Seerosen-Teich mit anderen Augen, stapfte hinaus in die üppigen Felder und malte die an den Bächen und Flüssen stehenden Pappel-Reihen, mit ihren in der Sonne flirrenden Blättern. Und immer wieder zog ihn das landwirtschaftlich geprägte Umfeld seines Gartens magisch an: Die Studie der Heuhaufen und Getreideschober, die Monet im gleißenden Licht und im herbstlichen Nebel, in frischer Frühlingsluft und bei knisternder Kälte malte, sind seine erste vollständig durch-choreographierte Serie eines einzelnen Bild-Motivs und zeigen ihn als Vorläufer der modernen seriellen Kunst, die durch minimale Variationen ein Thema oder eine Idee von allen Seiten durchdringen und beleuchten, im innersten Wesen erfassen und entschlüsseln will.

Claude Monet: „Seerosen“, 1903, Öl auf Leinwand (The Dayton Art Institute, Ohio)

Bei Wind und Wetter hinaus in die Natur

Wir wissen jetzt, dass Kunstmäzen Hasso Plattner der anonyme Käufer des berühmten Heuhaufens war. Plattner, der als Mitbegründer der Internet-Schmiede SAP zu Reichtum kam und heute in Potsdam Wissenschaft und Kunst nach Kräften fördert, hat seinen Getreideschober an das von ihm inspirierte und finanzierte Museum Barberini weiter gereicht. Dort ist es jetzt Teil einer opulenten Ausstellung, in der nicht nur mehrere Getreideschober – mal im lilafarbenen Abendlicht, mal der klirrenden Kälte trotzend und von Schnee bedeckt – gezeigt werden.

Zu bestaunen sind über 100 Werke des genialischen Berserkers, der bei Wind und Wetter mit Farbe, Pinsel und Staffelei in die Natur hinaus stapfte, um sie künstlerisch zu zähmen und malerisch zu durchdringen: „Orte“ ist der schmallippige Titel der Schau. Denn die Orte, an denen Monet lebte und malte, waren für ihn von entscheidender Bedeutung. „Hier traf das von Wetter, Jahres- und Tageszeiten abhängige Licht auf landschaftliche Gegebenheiten. Hier ging er dem flüchtigen Spiel atmosphärischer Phänomene nach – dem, was zwischen ihm und dem Motiv lag.“ Ortrud Westheider, die Direktorin des Barberini, behauptet das im Katalog. Es ist, mit Verlaub, genauso richtig wie banal und trifft eigentlich auf fast jeden Künstler zu: Oder könnte sich irgendjemand William Turner ohne Londoner Nebel vorstellen, Andy Warhol ohne den Schmelztiegel von New York?

Streifzüge durch Holland, London und Venedig

Doch so banal der Titel, so prächtig die Ausstellung. Der Besucher reist mit Monet an die Orte, an denen er das Licht und die Stimmung als flüchtige Phänomene in sich aufnahm und in rauschhafte Farbwelten verwandelte. Mal ist es ein ärmliches „Gehöft in der Normandie“, der geheimnisvolle „Wald von Fontainebleau“ oder der düstere „Hafen von Le Havre am Abend“, der unter seinen Farbtupfern zum Leben erwacht. Mal fixiert er mit schnellem Strich das simultane Leben und komplexe Gewusel an der „Pont-Neuf in Paris“, am „Boulevard des Capucines“, im „Bahnhof Saint-Lazare“. In London malt er – mit schönem Gruß an William Turner – unzählige Variationen der Waterloo und der Charing Cross Bridge.

Claude Monet: „Der Palazzo Contarini“, 1908, Öl auf Leinwand (Privatsammlung)

Um nicht am deutsch-französischen Krieg teilnehmen zu müssen, lebt er eine zeitlang in Holland und vergnügt sich zwischen Windmühlen, Grachten und Tulpenfeldern. Später, in Argenteuil, blickt er auf die sich im Wasser der Seine spiegelnde Natur. In Vétheuil beobachtet er den Eisbruch auf dem zugefrorenen Fluss, den Sonnenuntergang, die Wiesen und Weizenfelder, in denen sich, kaum erkennbar, Kinder fröhlich tummeln und von der Natur regelrecht verschluckt werden. Er reist nach Venedig und malt den sich im Canale Grande spiegelnden Dogenpalast. An den Küsten Nordfrankreichs sieht er von steilen Klippen hinaus auf die stürmische See und schafft realistisch-dramatische Szenerien.

Dann ist es schließlich Zeit für das eigene Paradies, den Garten von Giverny, die unzähligen Seerosen-Bilder. Fantasievolle Impressionen, freie Pinselführung und expressives Kolorit verschmelzen miteinander, manchmal muten die Kompositionen abstrakt an und weisen in die Zukunft: Die Moderne, die Avantgarde, was wären sie bloß ohne Monet?

„Monet. Orte“: Museum Barberini, Potsdam. Verlängert bis zum 19. Juli, Mi-Mo 10-19 Uhr, Do 10-21 Uhr, 18 Euro, ermäßigt 12 Euro. Infos unter www.museum-barberini.de

Der empfehlenswerte Katalog ist im Prestel Verlag erschienen, er kostet  im Museum 30 Euro und im Buchhandel 39 Euro.




Zum Tod des Weltkünstlers Christo: Eine Erinnerung an seine Reichstagsverhüllung – und an ein Projekt in Oberhausen

Der verhüllte Reichstag 1995. (Foto: Bernd Berke)

Der verhüllte Reichstag (1995), eines der spektakulärsten Projekte von Christo und seiner künstlerischen Lebensgefährtin Jeanne-Claude. (Foto: Bernd Berke)

Der aus Bulgarien stammende Weltkünstler Christo ist kurz vor seinem 85. Geburtstag gestorben. In Erinnerung bleibt er vor allem auch als Stifter großer Gemeinschafts-Erlebnisse. Niemand, der 1995 dabei war, wird seine Reichstagsverhüllung in Berlin jemals vergessen. Meine damaligen Eindrücke, soweit sie (seinerzeit in alter Rechtschreibung) in der Zeitung gestanden haben:

Von Bernd Berke

Dortmund/Berlin. „Tschuldigen Sie, ist das der Sonderzug zu Christo?“ Frei nach Udo Lindenberg hätte man’s trällern können. Denn die Bahn schuf am Wochenende zusätzliche Kapazitäten zwischen Ruhrgebiet und Reichstag. Auf zur Verhüllung also, ab Dortmund in aller Frühe – am Samstag um 5.58 Uhr.

Zu Beginn der Fahrt sehen die meisten Leute noch ein bißchen unausgeschlafen aus. Aber zur Frühstückszeit – etwa kurz hinter Bielefeld – gibt sich das, und es macht sich eine leicht aufgekratzte, aber doch wohlgesittete Stimmung breit. Schließlich ist man unter Kunstfreunden.

Das schließt kleine Boshaftigkeiten nicht aus: Ein launig-ironisch aufgelegtes Trüppchen im Großraumabteil zerpflückt genüßlich einen pompösen Feuilleton-Artikel. Sie zeigen weltläufige Kennermiene, reden von gehabten Kunsterlebnissen in New York oder anderswo und haben sich schon am Bahnsteig dementsprechend begrüßt. Doch es sitzen auch „ganz normale“ Menschen im Zug, die sonst nur selten der Kunst nachreisen.

Alle haben ein gemeinsames Ziel

Das Schöne an einem Sonderzug ist, daß alle einem gemeinsamen Ziel zustreben. In diesem Fall haben alle Christo im Sinn. Man kommt also leicht ins Gespräch. Und da zeigt sich, daß Christos Sogkraft über die Maßen geht: Ein Künstler aus Velbert, der – kaum zu glauben – noch nie in Berlin gewesen ist, läßt sich durch die Verhüllungsaktion erstmals in die Hauptstadt locken.

Auch der städtische Beamte aus Gelsenkirchen war noch nie an der Spree. Jetzt zieht’s ihn hin. Nicht mal so sehr wegen der Kunst, sondern wegen des Spektakels an sich. Schließlich hat der Schalke-Fan vor zwei Wochen Borussias rauschende Meisterfeier in Dortmund miterlebt. Jetzt hofft er auf ein ähnliches Massenfieber in Berlin, wo sich am Wochenende wieder rund eine Million Menschen ums Reichstagsgebäude geschart haben. Und die Theater-Angestellte aus Dortmund ist zwar erst vor wenigen Tagen dort gewesen, jedoch: „Ich war so begeistert, daß ich gleich nochmal hin muß.“

...und noch eine Impression vom großen Ereignis. (Foto: Bernd Berke)

…und noch eine Impression vom großen Ereignis. (Foto: Bernd Berke)

Wie auf einer Pilgerreise

Allseits erwartungsfrohe Gesichter, als der Zug gegen Mittag in Berlin eintrifft. Es hat was von einer Pilgerreise. Und als die Wallfahrer aus dem Revier sich nachher im vielsprachigen Menschenstrom am Platz der Republik verlieren, als endlich der verhüllte Reichstag ebenso machtvoll wie feingliedrig am Horizont auftaucht, so ist es beinahe wie eine Erscheinung. Jeder will gleich mal den Verhüllungs-Stoff mit eigenen Händen greifen, alle reihen sich brav in die lange Schlange ein, an deren Ende es kleine Probestückchen des Textils gibt. Auch das ähnelt einer Liturgie.

Nur ist es keine gravitätische, sondern eine fröhlich-friedliche Kunst-„Religion“, der hier gehuldigt wird. Überall treiben Kleinkünstler und Gaukler ihr buntes Wesen. Man kann sich (gegen Entgelt) in Goldfolie einwickeln lassen und oder eine Stehleiter auf der Wiese mieten, damit man beim Fotografieren über die Köpfe hinweg den „Reichstag pur“ aufs Bild bekommt.

Auf dem Grün rundum lagern viele Tausende, als sei’s das legendäre Rockfestival von Woodstock. So gewaltig der Auftrieb auch ist, man sieht keine aggressive oder auch nur mürrische Miene. Kein Zweifel: Christo hat mit seiner physisch vergänglichen, aber unvergeßlichen Aktion ein Stück Utopie heraufbeschworen. Und selbst wenn es keine Kunst wäre, so wäre es doch schönstes Leben.

Besser läßt sich ein Tag kaum nutzen

Wirklich jammerschade, daß der Sonderzug am Abend schon wieder zurück ins Ruhrgebiet fahren muß. Man hätte die gleißende Hülle so gern auch noch im Licht der untergehenden Sonne gesehen. Viele haben sich tagsüber mit Christo-Devotionalien eingedeckt – vom Katalog bis zum T-Shirt („Reichstag – ich war dabei“), vom Poster bis zur Telefonkarte.

Auspacken, herzeigen, schwärmen, Preise vergleichen. Aber das Gewimmel hört bald wie von selbst auf, weil die Leute vor sich hin dösen wollen. Ankunft 1.15 Uhr nachts in Dortmund. Wir waren über 19 Stunden unterwegs. Es herrscht wohlige, zufriedene Erschöpfung. Besser läßt sich ein Tag kaum nutzen.

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Christo mit seiner Gefährtin Jeanne-Claude bei der Verleihung des Ellis Island Heritage Awards im April 2005. (Wikimedia Commons / Foto: Martin Dürrschnabel / Links zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/)

Auch im Ruhrgebiet hat Christo gewirkt. Unvergessen ist seine Großinstallation „The Wall“ (1999) mit 13 000 Ölfässern in Oberhausen. Dazu ebenfalls eine kurze Erinnerung:

Von Bernd Berke

Oberhausen. Dieser Christo schafft es einfach immer wieder: Anfangs, wenn man nur von den Projekten des Verhüllungskünstlers und seiner Gefährtin Jeanne-Claude hört, schüttelt man vielleicht noch den Kopf. Doch das ist bloßer Phantasiemangel. Man muß stets nur eine Weile abwarten. Und jetzt muß man’s nicht mehr: Das Ereignis ist da!

Sobald Christos Ideen verwirklicht sind, ist man überwältigt. So war’s 1995 beim verhüllten Reichstag, so ist es nun im Oberhausener Gasometer, wo Christo 13 000 bunte Ölfässer zur Riesenmauer („The Wall“) geschichtet hat. Christo und seine Gefährtin Jeanne-Claude kehren die üblichen Verhältnisse um: Die bloße Vorstellung klingt prosaisch, die reale Umsetzung erweist sich hingegen als poetisch…

Kein besserer Ort ließe sich für diese Installation finden als just der Gasometer. Sieht man die gigantisch aufgetürmte Ölfässer-Wand vor sich, so wird einem auch die ungeheure Ausdehnung des Industriedenkmals erst so recht bewußt. „The Wall“ füllt die gesamten 68 Meter Durchmesser des Gasometers aus und ragt 26 Meter auf; haushoch zwar, aber in den Dimensionen des 110 Meter hohen Gasometers fast bescheiden. Steht man ganz nah davor, so kann einem freilich ein wenig bange werden. Doch keine Angst: Das Wunderwerk wird von einer massiven Stütz-Konstruktion ehern gehalten.

Niemals an eine Verhüllung gedacht

Obwohl für den Faßanstrich handelsübliche Industriefarben verwendet wurden, ist die Leucht-Wirkung phänomenal, vor allem im Kontrast zum Grau-in-Grau der stählernen Industrie-Kathedrale. Koloriert wurden die Fässer, die später wieder in den Wirtschafts-Kreislauf zurückwandern, nach einem ausgeklügelten System: Rund 45 Prozent der Behälter gleißen hellgelb, 30 Prozent schimmern rötlich, der Rest weist blaue, graue, grasgrüne und weißliche Tönungen auf. Viele, viele bunte Kreise? Nein: Mehr Farbe, als das Auge trinken kann.

Projektleiter Wolfgang Volz, der den dreimonatigen Aufbau des „freundlichen Riesen“ für Christo überwachte, ist mit täglich 15 bis 20 Kräften ausgekommen – eine feine Organisationsleistung. Volz gestern zur WR: „Pannen hat es überhaupt nicht gegeben. Im Gegenteil: Es ging schon fast zu glatt.“

Christo und Jeanne-Claude sonnen sich derweil im Scheinwerferlicht etlicher Fernsehteams und im Blitzlicht zahlloser Pressefotografen. Auf die Frage, ob sie je an eine Verhüllung der Fässer gedacht hätten, reagieren sie allergisch. Ihre letzte Verhüllungs-Idee stamme von 1975. Jeanne-Claude: „Wir sind keine Verhüllungskünstler.“ Christo nickt. Weitere Frage: Ob wir bei „The Wall“ auch an die Berliner Mauer denken sollten? Jeanne-Claude schelmisch: „Es gibt auch eine chinesische Mauer…“

Nun denn. Jetzt nichts wie hin nach Oberhausen: nachzählen, ob es wirklich genau 13 000 Fässer sind.

Christo & Jeanne-Claude: „The Wall“ (und Doku-Ausstellung zu früheren Christo-Projekten). Gasometer Oberhausen (A 42, Abfahrt OB-Zentrum). Bis 3. Oktober, täglich 10-20 Uhr. Eintritt 10 DM, Familienkarte 20 DM. (Infos: 0208/80 37 45).




Heimkehr in schwieriger Zeit: Hagener Osthaus-Museum kann seine Expressionisten endlich wieder zeigen

Ungewöhnliche Ansicht während des Ausstellungs-Aufbaus Mitte Januar: drei Gemälde von Christian Rohlfs auf einem Transportwagen. Von links: „Der Trinker“ (um 1915), „Zwei Mädchen“ (um 1917) und „Pierrette“ (um 1911). (Foto: Bernd Berke)

Es scheint schon Jahre her zu sein: Bereits am 17. Januar 2020 hatte ich Gelegenheit, diese Ausstellung des Hagener Osthaus-Museums zu sehen – noch bevor sie richtig aufgebaut war. Schon bald nach der Eröffnung folgte die Schließung „wegen Corona“. Jetzt (ab 19. Mai) kann das Museum – unter den mittlerweile üblichen Auflagen – wieder öffnen und die nach Jahren heimgekehrten expressionistischen Schätze aus seinem Eigenbesitz wieder zeigen. Ein Text mit Verspätung, dennoch zeitlich passend:

Es ist wie die Heimkehr von guten alten Bekannten. Seit Oktober 2015 waren rund 110 Werke aus der Sammlung des Hagener Osthaus-Museums auf weitläufiger Tournee unterwegs. Jetzt sind sie allesamt zurückgekehrt und werden wieder in Hagen gezeigt; beinahe wie Neuerwerbungen und fast so, als kämen sie geradewegs aus einer Verjüngungskur. Tatsächlich kann man sie nun anders und vielleicht genauer wahrnehmen.

Die Rundreise der Bilder führte von Wien und Klagenfurt über Sardinien und das französische Evian am Genfer See bis in die Region Stockholm. Neun Stationen in sechs Ländern, insgesamt 241.779 zahlende Besucher. Jetzt weiß man vielerorts, wo Hagen liegt und dass dort etliche Spitzenstücke aus dem Kreis und Umkreis des Expressionismus daheim sind.

Ein gewisser Lokalstolz

Osthaus-Chef Dr. Tayfun Belgin mag denn auch nicht ganz verleugnen, dass er einen gewissen kulturellen Lokalstolz verspürt. Es sind beileibe nicht viele Museen, die ein solches Konvolut von Expressionisten aufweisen können: beispielsweise famose Schöpfungen von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein und Christian Rohlfs; beispielsweise auch imposante Arbeiten von Franz Marc, August Macke, Emil Nolde, Lyonel Feininger und Max Beckmann. Dem berühmten Mäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus (1874-1921) gebührt bleibender Dank für die Grundlegung der reichen Kollektion.

Im zentralen Schauraum sind nun gleich wieder einige Highlights beisammen, darunter die eindrucksvollen Porträtbilder, die Kirchner (1910) und Heckel (1917) voneinander angefertigt haben; so auch Kirchners „Badende (Fehmarn)“ von 1912. Im weiteren Verlauf verzweigt sich der Rundgang auch zu allerlei graphischen Meisterwerken. Weitere grandiose Ölbilder von Christian Rohlfs („Pierrette“, um 1911 – „Der Trinker“, um 1915), der über Jahrzehnte in Hagen gelebt hat, kommen ebenso hinzu wie etwa Alexej von Jawlenskys „Barbarenfürstin“ (um 1912) – ein unwiderstehliches Farbereignis, das als Leitmotiv auf Plakaten zum besonders erfolgreichen Gastspiel in Wien gelockt hat. Nicht chronologisch oder einer These folgend hat man die Bilder in Hagen gehängt, sondern so, dass sie möglichst ansprechend und „kulinarisch“ zur Geltung kommen.

Wie ein gänzlich neuer Auftritt

Vor der Tournee waren rund 30 dieser Bilder im Hagener Altbau zu sehen, sie wurden seinerzeit nur nebenher beachtet und zumeist nicht ihrem wahren Wert entsprechend geschätzt. Dauerhaftes Inventar eben. Jetzt aber haben sie im neuen Anbau ihren großen gemeinsamen Auftritt. Die 110 Reisebilder wurden durch weiteren passenden Eigenbesitz ergänzt, so dass nun 120 Werke zu sehen sind. In diesem Gebäudeteil werden sonst Wechselausstellungen gezeigt. Das Ganze wirkt denn auch wie eine Wechselschau mit Leihgaben aus mehreren Häusern. Doch alles gehört dem Osthaus-Museum. Kurz gesagt: Hagen leuchtet. Zumindest in diesen Räumen.

Da sage noch jemand, Ausstellungen von Eigenbesitz könnten nicht allzu aufregend sein, weil man die Exponate ja zu kennen glaubt. Hier und jetzt verhält es sich anders. Und das Wiedersehen nach so langer Zeit bereitet doppelt Freude. Tayfun Belgin wählt einen etwas kuriosen, aber sinnfälligen Vergleich: „Wenn ich über vier Jahre keine Banane mehr gegessen habe, will ich schließlich unbedingt Bananen haben!“

Zwiespältiger Emil Nolde

Waren die neun „Auswärtsspiele“ nicht auch mit Risiken behaftet? Nun, Belgin hat sich an jeder einzelnen Station vom tadellosen Zustand der Bilder überzeugen können, Restauratoren haben das gesamte Reiseprojekt eingehend begleitet und fortlaufend protokolliert. Es gibt keinerlei Schäden. Alles findet sich wohlbehalten in Hagen wieder. Überdies haben die Schätze auch noch Leihgebühren eingebracht. Aus Hagen in die Welt – für gutes Geld.

Eines darf man nicht unerwähnt lassen: Zur umfangreichen Schau zählen auch Arbeiten von Emil Nolde, der just in den letzten Jahren als williger Kollaborateur der Nazis in Verruf geraten ist (und dessen Werke trotzdem von den NS-Machthabern als „entartete“ Kunst verfemt wurden). Ein ausgewogener Begleittext stellt die betrübliche Sachlage nüchtern dar. Dennoch sind manche Nolde-Bilder nach wie vor betörend. Künstlerische Qualität und menschlicher Anstand sind (leider) zweierlei. Ein eigentlich bekannter Umstand, der aber immer wieder zu irritieren vermag.                                                      

Expressionisten. Aus der Sammlung. Verlängert bis zum 2. August 2020. Osthaus-Museum Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Di-So 12-18 Uhr. www.osthausmuseum.de

Das Hagener „Kunstquartier“ ist wieder komplett: Auch das unmittelbar benachbarte Emil Schumacher Museum öffnet ab 19. Mai. Die aktuelle Ausstellung über Emil Schumacher („Der Reiz des Materials“) wird verlängert und ist daher bis 29. November 2020 zu sehen. Weitere Infos: www.esmh.de

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Die ursprüngliche Fassung des Beitrags stand im Kulturmagazin Westfalenspiegel, das in Münster erscheint. (www.westfalenspiegel.de)




Nach und nach öffnen immer mehr NRW-Museen – unter strikten Sicherheits-Vorkehrungen (Update)

Ab 9. Mai wieder geöffnet: Kulturzentrum „Dortmunder U“ mit dem Museum Ostwall. (Foto: Bernd Berke)

Es ist so weit: Beginnend mit dem 5. Mai 2020, öffnen in Nordrhein-Westfalen und damit auch im Ruhrgebiet wieder einige Museen, nach und nach kommen weitere hinzu; hoffentlich nicht nur vorerst, sondern – unter strikter Einhaltung der Abstands- und Hygiene-Regeln – auf Dauer.

Hier nun ein paar Einzelheiten, den Mitteilungen der Institute bzw. der Städte folgend (Näheres auf den jeweiliges Homepages):

Das Museum Ostwall im „Dortmunder U“, das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) sowie die weiteren städtischen Museen können am Samstag, 9. Mai, ihre Pforten wieder öffnen, bis dahin sind noch einige Sicherheits-Installationen anzubringen und sonstige Vorbereitungen zu treffen, die dem Gesundheitsschutz dienen. Einstweilen noch nicht geöffnet wird das räumlich beengte Kindermuseum Adlerturm. Im Museum Ostwall wird nach der Öffnung u. a. wieder die neue Sammlungs-Präsentation „Body & Soul – Denken, Fühlen, Zähneputzen“ zu sehen sein. Die aus dem Brooklyn Museum zu übernehmende Schau über die legendäre New Yorker Disco „Studio 54″ muss aufs nächste Jahr verschoben werden. Weder das Kuratorenteam noch die Exponate können derzeit nach Dortmund kommen.

Noch vor den städtischen Museen wird das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund wieder loslegen, und zwar am 7. Mai. Mit digitaler Vorab-Anmeldung fahren Besucher(innen) besser, wie es heißt.

Die Dortmunder DASA (Arbeitswelt-Ausstellung) kann ab 13. Mai wieder besucht werden – neue Öffnungszeiten: Mo-Fr 10-16, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Es gelten Einschränkungen, besonders in Mitmach-Bereichen.

Das Osthaus Museum in Hagen und das Emil Schumacher Museum in Hagen (ESMH) – zusammen das so genannte „Kunstquartier“ – öffnen erst wieder am 19. Mai. Grund für die Verzögerung sind offenbar Probleme mit der angemessenen Reinigung, die zugleich mit der hygienischen Verbesserung an den Schulen bewältigt werden muss.

Ab 7. Mai (Donnerstag) öffnet das Museum Folkwang in Essen wieder für die Besucherinnen und Besucher. Verstärkte Hygienemaßnahmen, eine Maximalbesucherzahl, geregelte Wegeführung und Boden­markierungen zur Einhaltung des Mindestabstands sollen das Infektionsrisiko auf ein Minimum begrenzen. Außerdem werden Listen zum freiwilligen Eintrag von Kontaktdaten ausliegen, um mögliche Infektionsketten rückverfolgen zu können. Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung während des Museumsbesuchs ist Pflicht. Die Museumsgastronomie bleibt geschlossen. Führungen und Veranstaltungen finden bis auf Weiteres nicht statt. Aktuell gibt es neben der Sammlungspräsentation („Neue Welten“) zwei Sonderausstellungen: „Aenne Biermann. Vertrautheit mit den Dingen“ (noch bis zum 1. Juni 2020) und „Mario Pfeifer. Black/White/Grey“ (noch bis zum 24. Mai 2020).

Außenansicht des Museums Folkwang in Essen (Eingangsbereich). (Foto: Giorgio Pastore)

Das Ruhrmuseum in Essen (auf dem Gelände des Welterbes Zeche Zollverein) ist ab Donnerstag (7. Mai) wieder geöffnet.

Bereits seit 5. Mai ist das Lehmbruck Museum in Duisburg wieder zu besichtigen. Nach rund 7-wöchiger Schließungsphase werden damit alle Ausstellungsbereiche und die aktuelle Sonderausstellung „Lynn Chadwick. Biester der Zeit“ für Einzelbesucher(innen) zu den gewohnten Öffnungszeiten wieder zugänglich sein. Die Chadwick-Schau wird bis zum 20. September verlängert.

In den vergangenen Wochen haben gut 71.000 Menschen die Retrospektive der Gemälde von Erwin Bechtold und die Sammlung des MKM Museum Küppersmühle in Duisburg virtuell erlebt. Jetzt werden die Kunstwerke wieder direkt zu sehen sein: Ab Mittwoch, 6. Mai, öffnet das MKM seine Türen. Die Bechtold-Ausstellung dauert bis zum 24. Mai. Die ständige Sammlung umfasst u. a. Werke von Joseph Beuys, K.O. Götz, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Gerhard Richter, Emil Schumacher und Günther Uecker. Die derzeit üblichen Einschränkungen und Regeln beim Museumsbesuch gelten natürlich auch hier, insbesondere die Einhaltung eines Mindestabstands von 1,50 Meter.

Das Museum DKM in Duisburg wird ab 9. Mai geöffnet sein, jedoch nur am Samstagen und Sonntagen.

Auch die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen hat den Ausstellungsbetrieb ab 5. Mai wieder aufgenommen. Gezeigt wird zunächst die Zusammenstellung über Jacques Tilly, der u. a. als kreativer Karnevalswagen-Schöpfer in Düsseldorf bekannt wurde. Mit der neuen Schau „Rudolf Holtappel – Die Zukunft hat schon begonnen“ widmet man sich dann ab kommenden Sonntag (10. Mai) erstmals dem Lebenswerk des wohl wichtigsten Oberhausener Fotografen des 20. Jahrhunderts. Rund 250 Fotografien werden vom 10. Mai bis zum 6. September zu sehen sein.

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm ist seit 5. Mai wieder offen.

Das Märkische Museum in Witten kann ab 9. Mai besucht werden, zunächst jedoch nur samstags und sonntags.

Der Ausstellungsort Haus Opherdicke in Holzwickede (Kreis Unna) darf ab 12. Mai wieder besucht werden.

Die Emschertal-Museen in Herne sind seit 5. Mai wieder offen.

Die Kunsthalle Recklinghausen startet erst ab 6. Juni, das Ikonenmuseum in Recklinghausen ist hingegen schon jetzt (seit 5. Mai) wieder zu besichtigen.

Das Bergbaumuseum in Bochum kann seit 5. Mai wieder besucht werden, allerdings ist nur die Dauerausstellung zugänglich.

Das Kunstmuseum Bochum steigt am Donnerstag (7. Mai) wieder ein.

Ins Museum Gelsenkirchen wird man ab 12. Mai wieder eingelassen.

Die Museen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) sind seit dem 5. Mai wieder geöffnet. Museumsbesucher müssen sich – wie andernorts auch – auf Einschränkungen wie Mundschutzpflicht gefasst machen. Zur „Dosierung“ der Besucherzahlen gibt es Einlasskontrollen bzw. elektronische Zählsysteme. Bodenmarkierungen und Absperrbänder zeichnen Gehwege vor, markieren Mindestabstände und trennen Bereiche ab, in denen es eng werden könnte. Zudem wird es zunächst weder Führungen noch Gastronomie geben. Man richte sich darauf ein, dass der „Betrieb unter Corona“ noch Monate dauern könne, hieß es weiter.

LWL-Museum für Archäologie in Herne
Das LWL-Museum für Archäologie in Herne zeigt seine Dauerausstellung und hat wegen der bisherigen Schließung seine denkbar aktuell anmutende Sonderausstellung „Pest!“ bis zum 15. November verlängert.

LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund
In der Zeche Zollern ist die Sonderausstellung „Revierfolklore“ zu sehen, die Dauerausstellungen füllen die anderen Gebäude. Lediglich das Fördergerüst und das „Montanium“ bleiben geschlossen. Der Zugang zu den einzelnen Räumen wird reguliert.

LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster
Im LWL-Museum für Kunst und Kultur sind alle Ausstellungen geöffnet. Neu sind die Sonderausstellungen „Karel Dierickx“ und ab dem 10. Mai die Gemäldeschau über Norbert Tadeusz – diese wird am 9. Mai um 18 Uhr ohne Besucher per Live-Stream eröffnet. In der Tadeusz-Ausstellung dürfen sich pro Ausstellungsraum maximal vier Besucher(innen) gleichzeitig aufhalten, in den Sammlungsräumen maximal drei.

LWL-Museum für Naturkunde in Münster
Im LWL-Museum für Naturkunde kann man neben der Dauerausstellung die Sonderausstellung: „Beziehungskisten – Formen des Zusammenlebens in der Natur“ besichtigen. Das Planetarium bleibt bis auf Weiteres geschlossen.

Weitere LWL-Museen, die ab heute (5.5.) wieder zugänglich sind (Auswahl):

Industriemuseum Zeche Nachtigall in Witten
Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum
Industriemuseum Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop
Römermuseum in Haltern (Kreis Recklinghausen)
Freilichtmuseum in Hagen

…und „nebenan“:

In der Landeshauptstadt Düsseldorf sind seit 5. Mai die Kunsthäuser K20 und K21 sowie das Museum Kunstpalast und das NRW-Forum wieder geöffnet.

Diese Museen in Köln sind wieder zugänglich (Auswahl): Museum Ludwig, Wallraf-Richartz-Museum, Museum für Angewandte Kunst, Stadtmuseum. Das Römisch-Germanische Museum kann ab 8. Mai wieder besucht werden.

Die Bundeskunsthalle in Bonn und das Kunstmuseum Bonn öffnen ab 12. Mai.

Das Von der Heydt-Museum in Wuppertal wird ab 19. Mai wieder geöffnet sein – zu vorerst geänderten Zeiten.

Das Museum für Gegenwartskunst in Siegen ist seit 5. Mai wieder besuchbar.




Unter strikten Sicherheits-Vorkehrungen: Viele NRW-Museen öffnen jetzt wieder

Außenansicht des Museums Folkwang in Essen (Eingangsbereich). (Foto: Giorgio Pastore)

Es ist so weit: Beginnend mit dem morgigen Dienstag (5. Mai 2020), öffnen in Nordrhein-Westfalen wieder die ersten Museen, nach und nach kommen weitere hinzu; hoffentlich nicht nur vorerst, sondern – unter strikter Einhaltung der Abstands- und Hygiene-Regeln – auf Dauer.

In Dortmund wird am Dienstag (5. Mai) über das weitere Vorgehen entschieden. Es zeichnet sich aber ab, dass die städtischen Museen am nächsten Wochenende geöffnet werden. Auch in Hagen soll am 5. Mai eine Entscheidung fallen. Nähere Infos dazu und zu anderen Revier-Städten werden beizeiten ergänzt.

Hier nun ein paar bislang bekannte Einzelheiten, den Mitteilungen der Institute folgend (Näheres auf den jeweiliges Homepages):

Ab Donnerstag, 7. Mai 2020, öffnet das Museum Folkwang in Essen wieder für die Besucherinnen und Besucher. Verstärkte Hygienemaßnahmen, eine Maximalbesucherzahl, geregelte Wegeführung und Boden­markierungen zur Einhaltung des Mindestabstands sollen das Infektionsrisiko auf ein Minimum begrenzen. Außerdem werden Listen zum freiwilligen Eintrag von Kontaktdaten ausliegen, um mögliche Infektionsketten rückverfolgen zu können. Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung während des Museumsbesuchs ist Pflicht. Die Museumsgastronomie bleibt geschlossen. Führungen und Veranstaltungen finden bis auf Weiteres nicht statt. Aktuell gibt es neben der Sammlungspräsentation („Neue Welten“) zwei Sonderausstellungen: „Aenne Biermann. Vertrautheit mit den Dingen“ (noch bis zum 1. Juni 2020) und „Mario Pfeifer. Black/White/Grey“ (noch bis zum 24. Mai 2020).

Bereits ab Dienstag, 5. Mai, ist das Lehmbruck Museum in Duisburg wieder geöffnet. Nach rund 7-wöchiger Schließungsphase werden damit alle Ausstellungsbereiche und die aktuelle Sonderausstellung „Lynn Chadwick. Biester der Zeit“ für Einzelbesucher(innen) zu den gewohnten Öffnungszeiten wieder zugänglich sein. Die Chadwick-Schau wird bis zum 20. September verlängert.

In den vergangenen Wochen haben gut 71.000 Menschen die Retrospektive der Gemälde von Erwin Bechtold und die Sammlung des MKM Museum Küppersmühle in Duisburg virtuell erlebt. Jetzt werden die Kunstwerke wieder direkt zu sehen sein: Ab Mittwoch, 6. Mai, öffnet das MKM seine Türen. Die Bechtold-Ausstellung dauert bis zum 24. Mai. Die ständige Sammlung umfasst u. a. Werke von Joseph Beuys, K.O. Götz, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Gerhard Richter, Emil Schumacher und Günther Uecker. Die derzeit üblichen Einschränkungen und Regeln beim Museumsbesuch gelten natürlich auch hier, insbesondere die Einhaltung eines Mindestabstands von 1,50 Meter.

Auch die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen nimmt den Ausstellungsbetrieb wieder auf. Mit der neuen Schau „Rudolf Holtappel – Die Zukunft hat schon begonnen“ widmet man sich erstmals dem Lebenswerk des wohl wichtigsten Oberhausener Fotografen des 20. Jahrhunderts. Rund 250 Fotografien werden vom 10. Mai bis zum 6. September zu sehen sein.

Das Bergbaumuseum in Bochum kann ab 5. Mai wieder besucht werden.

Die Museen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) sind ab Dienstag (5. Mai) wieder geöffnet. Museumsbesucher müssen sich auf Einschränkungen wie Mundschutzpflicht gefasst machen. Zur „Dosierung“ der Besucherzahlen gibt es Einlasskontrollen bzw. elektronische Zählsysteme. Bodenmarkierungen und Absperrbänder zeichnen Gehwege vor, markieren Mindestabstände und trennen Bereiche ab, in denen es eng werden könnte. Zudem wird es zunächst weder Führungen noch Gastronomie geben. Man richte sich darauf ein, dass der „Betrieb unter Corona“ noch Monate dauern könne, hieß es weiter.

LWL-Museum für Archäologie in Herne
Das LWL-Museum für Archäologie in Herne zeigt seine Dauerausstellung und hat wegen der bisherigen Schließung seine denkbar aktuell anmutende Sonderausstellung „Pest!“ bis zum 15. November verlängert.

LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund
In der Zeche Zollern ist die Sonderausstellung „Revierfolklore“ zu sehen, die Dauerausstellungen füllen die anderen Gebäude. Lediglich das Fördergerüst und das „Montanium“ bleiben geschlossen. Der Zugang zu den einzelnen Räumen wird reguliert.

LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster
Im LWL-Museum für Kunst und Kultur sind alle Ausstellungen geöffnet. Neu sind die Sonderausstellungen „Karel Dierickx“ und ab dem 10. Mai die Gemäldeschau über Norbert Tadeusz – sie wird am 9. Mai um 18 Uhr ohne Besucher per Live-Stream eröffnet. In der Tadeusz-Ausstellung dürfen sich pro Ausstellungsraum maximal vier Besucher(innen) gleichzeitig aufhalten, in den Sammlungsräumen maximal drei.

LWL-Museum für Naturkunde in Münster
Im LWL-Museum für Naturkunde kann man neben der Dauerausstellung die Sonderausstellung: „Beziehungskisten – Formen des Zusammenlebens in der Natur“ besichtigen. Das Planetarium bleibt bis auf Weiteres geschlossen.

Weitere LWL-Museen, die ab morgen (5.5.) wieder zugänglich sind (Auswahl):

Industriemuseum Zeche Nachtigall in Witten
Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum
Industriemuseum Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop
Römermuseum in Haltern (Kreis Recklinghausen)

…und „nebenan“:

In der Landeshauptstadt Düsseldorf werden am 5. Mai die Kunsthäuser K20 und K21 wieder öffnen.

Das Museum für Gegenwartskunst in Siegen ist gleichfalls ab 5. Mai wieder besuchbar.




In diesen Zeiten muss man sich Gehör verschaffen: Gesammelte Aussagen zu „Corona und Kultur in Dortmund“

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann bei der heutigen Pressekonferenz. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Auch wenn die Aussagen noch nicht allzu konkret sein konnten: Es war schon einmal gut, dass diese Pressekonferenz überhaupt stattgefunden hat. Denn „die Kultur“ muss sich gerade in diesen Zeiten Gehör verschaffen. Unter dem Titel „Corona und die Kultur in Dortmund“ gab es heute im Rathaus der Stadt vor allem Statements auf der Chefebene der großen Kultureinrichtungen, aber auch aus der freien Szene. Ich habe den Termin via Live-Stream verfolgt.

Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann skizzierte eingangs die Lage und erkannte – bei allen Problemen – auch eine „positive Novität“: Im Gegensatz zu mancher früheren Debatte, in der Kultur als „erste Spardose“ gegolten habe, seien die kulturellen Einrichtungen diesmal von Anfang an in Überlegungen und Beratungen mit einbezogen worden.

Insgesamt aber müsse man von „gravierenden Erschütterungen“ sprechen, „wie wir sie bisher nicht kannten“. Das Thema habe etliche Perspektiven und Aspekte. Es gehe um die Situation der Institute, um die der ausübenden Künstlerinnen und Künstler und nicht zuletzt um das Publikum. Bleibe es durch die Krise hindurch loyal und stehe es treu zum Theater, zum Konzerthaus, zu den Museen und anderen Kulturstätten? Bislang, so Stüdemann, habe das Publikum eine erstaunliche Solidarität bewiesen, für die er herzlich danken wolle. Beispiel: Viele vorab bezahlte Tickets für abgesagte Vorstellungen würden nicht zurückgegeben.

Stüdemann mahnte dreierlei dringenden Bedarf an:

1.) Die inzwischen ausgelaufenen, weil hoch „überzeichneten“ Soforthilfe-Programme für Kulturschaffende müssten sehr bald verlängert werden. Als Beispiel nannte er Baden-Württemberg, wo es neuerdings eine Grundsicherung für Künstler(innen) von rund 1100 Euro im Monat gebe, die von anderen Bundesländern gut kopiert werden könne. Ein Appell ans Land NRW also.

2.) Die Einrichtungen der freien Szene bräuchten Infrastruktur-Programme, damit sie auch nach der Krise noch existieren könnten.

3.) Man müsse sehr zeitig „Exit-Strategien“ vorbereiten und einleiten, denn Betriebe wie Theater oder Konzerthaus könnten nicht einfach von heute auf morgen wieder die Bühnen bespielen, sondern bestenfalls nach einem Vorlauf von 6 bis 10 Wochen. In die entsprechenden Planungen sollten unbedingt die Fachleute aus den Kulturhäusern eingebunden werden.

Stefan Mühlhofer, Leiter der Kulturbetriebe Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Stefan Mühlhofer, Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe, sieht es als sicher an, dass man bei Wiederaufnahme des Spielbetriebs und anderer kultureller Angebote nicht einfach „den Schalter umlegen kann“. Es werde zunächst vieles anders sein als vor Corona. Man habe inzwischen einige Aktivitäten (Volkshochschule, Musikschule) auf digitale Verbreitung umgestellt, was auch recht gut funktioniere. Dennoch könne dies auf Dauer kein Ersatz für Präsenz-Veranstaltungen sein. Ein Originalbild im Museum sei eben etwas ganz anderes als eine Abbildung im Buch oder ein Video. Apropos: Wahrscheinlich bis Mitte dieser Woche solle ein Papier zur möglichen Öffnung der städtischen Museen vorliegen – mit einer Perspektive für Anfang oder Mitte Mai. Auch hier gilt freilich: Die Stadt allein kann nichts bewirken. Das Land NRW muss es zulassen. Übrigens: In Berlin dürfen die Museen schon wieder öffnen.

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund, berichtete, man habe sich in den letzten Wochen durch einen wahren Wust an Informationen, Erlässen und Verordnungen kämpfen müssen. Es sei aber gelungen, das alles zu strukturieren – vor allem im Sinne der Kulturschaffenden, denen häufig alle Verdienstmöglichkeiten weggebrochen seien. In der Kulturszene herrsche derweil keine Larmoyanz, im Gegenteil: Geradezu kraftvoll seien ständig neue Ideen entwickelt worden, um trotz Corona (digital) wahrgenommen zu werden.

Claudia Schenk, Sprecherin der freien Szene. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Claudia Schenk aus dem Leitungsgremium des „Depots“ trat als Sprecherin der freien Kulturszene an. Diverse Zentren der freien Szene wären ohne die bislang geleistete Landeshilfe vielleicht schon für immer geschlossen worden, befand sie. Streaming sei zwar gut, um im Gespräch zu bleiben, es generiere aber keine Einnahmen. Sie verwies auch auf Fälle wie etwa jene freiberuflichen Bühnentechniker, die auf einmal vor dem Nichts stünden. Man warte auf konkrete Handlungsanweisungen für einen Exit, also für die Wiederaufnahme des Betriebs unter veränderten Bedingungen. Frau Schenk stellte zudem mit Blick auf die nächsten Jahre die bange Frage, ob es im Kulturbereich wohl Streichungen und Kürzungen geben werde. Schließlich zähle Kultur leider immer noch zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen und nicht zu den Pflichtaufgaben.

Sprach fürs Theater: Tobias Ehinger. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Tobias Ehinger, geschäftsführender Direktor des Theaters, erinnerte sich an die letzten Monate vor der Krise, als das Dortmunder Theater ein Hoch erlebt und neue Besucherrekorde angepeilt habe. Dann wurde man jäh ausgebremst. Sehr schnell habe man dann umgedacht, beispielweise habe die Theaterwerkstatt Mundschutzmasken hergestellt. In der Krise habe sich überhaupt gezeigt, wie wichtig der soziale Aspekt und die Verankerung in der Gesellschaft fürs Theater seien. Streaming könne kein wirkliches Bühnenerlebnis ersetzen, auch seien die digitalen Möglichkeiten schnell ausgereizt. Als eine beispielhafte Aktion nannte Ehinger den Musik-Truck, der vor Altenheimen vorfahre und – draußen vor den Türen – z. B. mit Gesangs-Darbietungen den Senioren ein wenig zwischenmenschliche Wärme vermittle. Ehinger ist überzeugt, dass man ab Anfang September wieder spielen werde – allerdings völlig anders, mit eigens zugeschnittenen Inszenierungen und vor deutlich weniger Zuschauern. Im Hinblick auf den 1. September sei ein Planungsvorlauf von etwa 10 Wochen nötig. Das würde bedeuten: Bereits Mitte Juni müsste man in die Vorbereitungen einsteigen. Insgesamt gelte es, die gesellschaftlichen Errungenschaften durch die Krise zu erhalten. Dabei sei Kultur unbedingt „systemrelevant“.

Konzerthaus-Chef Raphael von Hoensbroech. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses Dortmund, betonte den Gedanken der Systemrelevanz noch stärker. Kultur solle nicht nur am Tisch Platz nehmen, an dem die Relevanz verhandelt werde. Vielmehr sei sie – einem Ausspruch des Cellisten Yo-Yo Ma zufolge – sozusagen selbst dieser Tisch, also die Grundlage der Gesellschaft. Das Konzerthaus mit seinem sehr großen Saal sowie ausgeklügelter Be- und Entlüftung sei bei reduziertem Publikum kein riskanter Ort. Er halte ansonsten nicht viel von pauschalen Obergrenzen, es komme stets aufs Einzelereignis an. Voluminöse Auftritte mit großen Chören und Orchestern seien jedoch vorerst auszuschließen. Die Stadt Dortmund habe sich zu den Perspektiven des Konzerthauses beherzt und klar positioniert. Was jedoch aus Regierungskreisen in Berlin und vom Städtetag komme, sei wenig hilfreich.

Jörg Stüdemann blieb das vorläufige Fazit vorbehalten. Als studierter Germanist quasi von Haus aus kulturaffin und biographisch auch als Mitarbeiter eines Kulturzentrums (schon länger ist’s her: Zeche Carl in Essen) mit der Szene vertraut, kann die Interessenlage von Kulturschaffenden wohl recht gut nachempfinden und in vernünftige politische Bahnen lenken. Allerdings vermag er – obwohl zugleich Stadtkämmerer – natürlich nicht beliebig viele Kulturmittel aus dem städtischen Etat zur Verfügung zu stellen. Für die nächste Zeit mahnte Stüdemann ethische und „wertsetzende Handlungsweisen“ in der Kulturpolitik an, die sich einer bloßen Einspar-Mentalität widersetzen und keinesfalls „autoritativ oder autoritär“ vorgehen solle. Wie sich gezeigt habe, müssten nun vor allem zwei Anforderungen vorrangig erfüllt werden: „Wir müssen mehr in die Digitalisierung investieren, auch in Qualifizierung und technische Ausrüstung.“ Und: In jeder Hinsicht müsse jetzt über „Gestaltungs-Alternativen“ nachgedacht werden. Wohlan denn!

Viel guter Wille also, aber noch unklare Perspektiven. Die Kultur, so ahnt man, wird (ebenso wie andere Bereiche) „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein können wie zuvor.




Corona sorgt für spezielles Kunsterlebnis beim Pressetermin: Bitte nur einzeln zu den Bildern gehen!

Die stellvertrende Museumsdirektorin und Kuratorin Dr. Tanja Pirsig-Marshall präsentiert in einem kurzen Video eine Vorschau auf die Münsteraner Tadeusz-Ausstellung. (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=4wB3rXY2z6k)

Vor Wochenfrist war hier die Rede von einer Orchester-Pressekonferenz per Videoschalte, wie sie einem immer noch etwas ungewohnt vorkommt, aber derzeit wohl ein Maß der Dinge ist. Nun ist abermals von einem kulturellen Pressetermin in spezieller Form zu berichten. So ist das nun mal: Das „neuartige“ Virus zieht eben neuartige Presse-Gepflogenheiten nach sich.

Schauplatz wird das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster sein. Dort soll es vom 10. Mai bis zum 2. August eine Ausstellung über den in Dortmund geborenen Maler Norbert Tadeusz (1940-2011) geben. Und tatsächlich findet vorab kein Video-Termin als virtuelle Führung statt, sondern mal wieder einer, der körperliche Präsenz erfordert. Doch die Journalistinnen und Journalisten werden an jenem Vorbesichtigungs-Tag nicht (wie ehedem üblich) im Pulk durchs Museum gehen, sondern jede(r) für sich, also einzeln.

Auf diese etwas umständliche Weise wird sich der gesamte Termin mutmaßlich von 10 bis 16 Uhr hinziehen. Das Ganze heißt deshalb nicht Pressekonferenz, sondern „Pressetag“. Es ist anzunehmen, dass die jeweilige Aufenthaltsdauer begrenzt werden muss, damit die Nachrückenden zeitig an die Reihe kommen – je nachdem, wie viele sich mit welchen Wunschzeiten anmelden. Kurze Gespräche mit der LWL-Kulturdezernentin, dem Museumsdirektor oder der Ausstellungskuratorin sind übrigens ebenfalls möglich.

Das alles hört sich nach einem geradezu exklusiven Kunsterlebnis an, bei dem einen nichts von den Bildern ablenkt – auch nicht all die liebenswerten Kolleg(inn)en. Man darf sich also ganz allein vor den Kunstwerken aufhalten; beispielsweise ohne Fernsehteams, ohne wichtig wuselnde Kameraleute und Mikrofonträger, ohne Hörfunk-Mitarbeiter, die gerade mal schnell ihre „O-Töne“ einfangen müssen; ohne Fotografen, die eben noch ein paar Gruppenbilder mit der Museumsleitung anfertigen wollen („Bitte vor dieses Gemälde, bitte den Katalog in die Hand nehmen, bitte hierher gucken – und läääächeln!“). Und sogar ohne klügelnde Fragesteller, die sich ihren imponierenden Auftritt wohl schon Tage vorher zurechtgelegt haben.

So. Jetzt hab‘ ich’s mir glücklich mit allen verdorben. Wie bitte? Nein, ich habe noch nie jemanden bei Presseterminen genervt. Niemals nicht. Wo denkt Ihr denn hin?




„Kunst und Verbrechen“: Von Räubern, Fälschern, Schmugglern, Händlern und zwielichtigen Experten

Vom Kunstmarkt vernimmt man hier nichts Gutes: Die Sitten auf diesem Gelände seien ziemlich verroht. Es gehe im Handel oft sehr intransparent zu, es fehlten wirksame Kontrollen. Häufig erfahre die Öffentlichkeit nichts über Kunst-„Entführungen“ („artnapping“), Erpressungen und Lösegeldzahlungen durch Versicherungen, bei deren Aushandlung Anwälte kräftig mitverdienen. Und das alles in den Gefilden der ach so hehren Kunst! Auf dem globalen, höchst lukrativen und vielfach irrational aus den Fugen geratenen Markt zählen kulturelle Werte freilich eh nur als begehrtes Statussignal.

Stefan Koldehoff und Tobias Timm erzählen in ihrem Buch „Kunst und Verbrechen“ zahlreiche spektakuläre Fälle nach – angefangen mit der 1911 aus dem Louvre gestohlenen „Mona Lisa“. Sogar Pablo Picasso ist damals vorübergehend in Verdacht geraten. Wie sich zwei Jahre später herausstellte, war es jedoch ein Insider-Diebstahl, begangen von einem Glaser mit Hilfe zweier Spießgesellen. Das Gerichtsurteil fiel dann übrigens recht milde aus – gerade einmal 7 Monate Gefängnis. Koldehoff und Timm finden überhaupt, dass Verbrechen mit und an der Kunst meist nicht angemessen bestraft werden. Wenn aber jemand eingesperrt wurde, konstatieren sie es zuweilen mit einer gewissen Genugtuung.

Heute geht es oft brutaler zu

Die Sache mit der Mona Lisa begab sich, folgt man diesem Buch, sozusagen noch in der guten alten Zeit des Kunstdiebstahls. Heute gehe es zumeist entschieden brutaler zu. Vielfach seien in den letzten Jahren ehemalige Soldaten aus osteuropäischen Ländern tätig geworden, die auf offener Museumsszene mit Schusswaffengebrauch drohten. Vorstellungen wie die vom Kunstliebhaber als Auftraggeber, der seine Herzenswerke im geheimen Keller nur für sich betrachten wolle, hätten hingegen nichts mit der rauen Wirklichkeit zu tun.

Fortan geht’s etwa um den Goya-Diebstahl aus der National Gallery in London von anno 1961 durch einen ehemaligen Lkw-Fahrer, der im allerersten James-Bond-Film („Dr. No“) seinen Niederschlag fand; darum, wie Werke von William Turner und C. D. Friedrich aus der Frankfurter Schirn „verschwinden“ konnten; um den Coup, bei dem jene unschätzbar wertvolle Goldmünze unlängst aus dem Berliner Bodemuseum gestohlen wurde.

Fall für Fall, Skandal für Skandal

Kurzum: Die Autoren handeln Fall für Fall und Skandal für Skandal ab, in streckenweise genüsslichen, manchmal gar zu detailreichen Ausführungen. Da dürfen wir auch schon mal erfahren, dass ein Angeklagter sein Gesicht hinter der Schrift „Wissen und Staunen“ verbarg oder bei welchen Worten des Richters einer sich selbst unwillkürlich den Nacken massiert hat. Ein beherzter Lektor hätte hie und da getrost zu Kürzungen raten dürfen. Die eine oder andere Korrektur (z. B. steht auf Seite 213 „Kaspar“ statt Kasper König) oder stilistische Glättung hätte auch nicht geschadet.

Im weiteren Fortgang des Buches werden auch etliche Fälle von Kunstfälschung aufgegriffen, geradezu notorisch bei Werken der russischen Moderne, zu denen sich besonders gut Provenienzen (Angaben zur Herkunft des Bildes) erdichten ließen. Auch waren einigermaßen talentierte Fälscher in der Lage, recht gut mit den Bildelementen dieser Kunstrichtung zu hantieren. Ein paar typische Grundformen nachgeahmt, vorsichtig variiert – und fertig war die täuschend ähnliche Schöpfung… Auch der Stil von Modigliani hat geradezu massenhaft Fälschungen nach sich gezogen.

Machenschaften von Kujau und Achenbach

Der nicht nur moralisch fragwürdige, schwunghafte Handel mit (häufig plump gefälschten) Nazi-Reliquien wird hernach ebenso aufgegriffen wie die Machenschaften des Meisterfälschers Konrad Kujau (angebliche „Hitler-Tagebücher“) oder die abenteuerlichen Geschichten um den windigen „Kunstvermittler“ Helge Achenbach, der das Vertrauen vieler steinreicher Leute hatte, aber schließlich vom Aldi-Clan (Berthold Albrecht) verklagt wurde, weil er offenbar Kaufpreise heftig zu seinen Gunsten manipuliert hatte und somit weit überhöhte Provisionen kassiert haben soll. Ferner geht es um zwielichtige Massen-Auktionen, gefälschte Bücher, Antiken-Schmuggel, Raubgräber und Geldwäsche mittels Kunstkauf. Und so weiter, beinahe ad infinitum.

Da kommt dermaßen viel kriminelle Energie zusammen, dass sich Koldehoff und Timm mehrfach bemüßigt sehen zu erwähnen, dass die weit überwiegende Mehrheit des Kunsthandels seriös zu Werke gehe. Sie reden also von den berühmt-berüchtigten „Schwarzen Schafen“. Nun ja. Nach Lektüre dieses Bandes sieht man gleichsam an jeder Ecke solche seltenen Tiere.

Kernfragen erst ganz am Schluss

Welche Verhältnisse und Strukturen den Kunstmarkt bestimmen, kommt neben all den windungsreichen Geschichten eher zwischendurch und nebenher zur Sprache. Gar zu süffig lassen sich manche Einzelheiten der Fälle nacherzählen. Da muss die eigentliche Analyse eben beiseite stehen und warten. Einige entscheidende Fragen werden tatsächlich erst ganz am Schluss gestellt, die gut und gern schon vorher explizit hätten einfließen und erwogen werden können. Aber man kann ja auch verstehen, das die vielen Recherchen nicht einfach verpuffen sollen. Also werden sie auserzählt. Auf der Zielgeraden (Seite 298) entfährt den Autoren dieser Stoßseufzer: „Es gäbe noch unendlich viele weitere solcher Geschichten zu erzählen…“ Gnade!

Jedenfalls wird im Laufe der Lektüre zunehmend klar, dass auf dem Kunstmarkt etliche Grauzonen existieren, in denen kriminelle Kumpanei und Korruption gedeihen. Gelegentlich erliegen in diesem Umfeld auch renommierte Experten der Versuchung, für allerlei Vergünstigungen zweifelhafte Echtheits-Expertisen auszustellen. Gefälligkeits-Gutachten scheinen demnach gar nicht so selten zu sein.

Noch ein bescheidener Wunsch, vielleicht für eine zweite Auflage, sofern es dazu kommen sollte: Wenn schon derart viele Fälle geschildert und so viele Personen genannt werden, warum dann eigentlich kein ausführliches Sach- und Personenregister, das den Band im Sinne eines Nachschlagewerks ungleich besser erschließen würde? Und warum nicht etwas mehr Bebilderung? War es eine reine Kostenfrage?

Stefan Koldehoff / Tobias Timm: „Kunst und Verbrechen“. Galiani Berlin. 320 Seiten. 25 Euro.




Das Leben der Maler: „Kunst sehen“ von Julian Barnes

Durchs Coronavirus sind bekanntlich nicht nur alle Bühnenkünste stillgelegt, auch die Museen und Bildungseinrichtungen sind geschlossen. Uns bleiben aber – mehr denn je! – die Bücher. Daher an dieser Stelle nun öfter dieser oder jener Lesehinweis.

Julian Barnes befasst sich in seinem neuen Buch mit Kunst und – vor allem – mit den Künstlern. Der spannendste Text seines Bandes „Kunst sehen“ handelt von Théodore Géricault und seinem Gemälde „Das Floß der Medusa“. Er leitet (nach einem Vorwort) diesen Band ein und trägt hier den Titel „Aus Katastrophen Kunst machen“. Barnes-Leser kennen ihn bereits als Bestandteil des Romans „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“. Dieser Auszug besteht auch für sich genommen, unabhängig vom Roman. In der Beschreibung des Bildes und seiner vielfältigen Beweggründe scheint nach und nach die gesamte Conditio humana auf. Ein großartiges Stück, das ein großartiges Gemälde aufschlüsselt, aber natürlich nicht völlig „erklären“ kann (was auch gar nicht der Anspruch ist)!

Ein wahrhaft furioser Text, der so gar nicht wichtigtuerisch oder gravitätisch daherkommt. Julian Barnes hat ja auch schon im Vorwort bekannt, dass er im Alter von 12 Jahren noch ein wahrhaftiger Banause gewesen sei, ohne jeden bildungsbürgerlichen Hintergrund, folglich auch ohne Dünkel. Erst ganz allmählich habe er sich den Künsten genähert, anfangs gleichsam von den Rändern her, als einsamer Besucher in eher schäbigen französischen Provinzmuseen. Vielleicht auch von daher sein angenehm unaufgeregter, unaufdringlicher „Plauderton“, der freilich auch ein angelsächsisches Erbteil sein mag.

Nun ist auch der Rest des Buches mancher Ehren wert. Und doch schien mir, als hätte ich mit den ersten Beiträgen schon das Allerbeste gelesen. Die weiteren Kapitel des Sammelbandes sind vorwiegend zuerst in Zeitungsbeilagen und Zeitschriften der Edelsorte erschienen – beispielsweise „Modern Painters“, „Times Literary Supplement“ oder „New York Review of Books“. Sie behandeln Werke und Werkabschnitte von Delacroix, Courbet, Manet, Cézanne, Degas, Redon, Bonnard, Vallotton, Magritte und anderen. Der Schwerpunkt liegt also eindeutig auf der französischen Kunst und dort wiederum auf der der Klassischen Moderne.

Man lernt auf jeden Fall einiges hinzu. Um nur wenige Stichpunkte zu nennen: Man erfährt vom erstaunlich krassen Gegensatz eines ausgesprochen ruhigen Lebens und einer exzessiven Kunstausübung bei Delacroix. Courbet wird als monströser Selbstvermarkter plastisch dargestellt, der neben sich allenfalls noch Victor Hugo gelten ließ. Odilon Redon hingegen, ein Vorläufer des Surrealismus, sei (entgegen allen Klischees und den Gepflogenheiten der Bohème) ein glücklich verheirateter Mann gewesen…

Man ahnt vielleicht schon den möglichen Schwachpunkt: Julian Barnes konzentriert sich oft gar nicht mehr so sehr auf die Werke, sondern auf deren Urheber; speziell darauf, wie so ein Künstlerleben verlaufen kann, ja, was eine Künstlerexistenz recht eigentlich ausmacht – wobei er natürlich auch sein eigenes Dasein als Schriftsteller stets mitbedenkt. Und so gerät er vielfach in Versuchung, beim Biographischen, ja mitunter auch beim Anekdotischen zu verharren.

Keine vollkommen ungetrübte Empfehlung also. Aber doch ein Buch, mit dem man gewiss keine kostbare Lebenszeit verschwendet.

Julian Barnes: „Kunst sehen“. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger und Thomas Bodmer. Kiepenheuer & Witsch. 352 Seiten, 25 Euro.

 




Corona-Update: Alles dicht! – Dortmunder Kultur-Absagen und tägliche Ergänzungen aus dem Revier

Ein Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Konzerthauses, das 1500 Plätze hat und  selbstverständlich auch von Absagen betroffen ist. (Foto: Bernd Berke)

Hier am Anfang zunächst der Stand vom 11. März, ständige Aktualisierungen weiter hinten:

Ausnahmsweise werden hier zwei ausführliche Pressemitteilungen aus den Dortmunder Kulturbetrieben wörtlich und unkommentiert wiedergegeben – weil es hier vor allem auf die sachlichen Details ankommt und nicht auf diese oder jene Meinungen.

Im Anhang folgen weitere Informationen, auch aus anderen Revier-Städten. 

Zuerst eine ausführliche Übersicht zu städtischen Kulturveranstaltungen, die in den nächsten Wochen ausfallen werden, übermittelt von Stadt-Pressesprecherin Katrin Pinetzki.

Danach eine gleichfalls längere Aufstellung aus dem Dortmunder Mehrsparten-Theater, auch das Konzerthaus betreffend, übermittelt von Theater-Pressesprecher Alexander Kalouti.

Wir zitieren:

„Öffentliche Kulturveranstaltungen fallen bis Mitte April aus – Museen, Bibliotheken und U bleiben geöffnet – Unterrichtsbetrieb in VHS- und Musikschule läuft weiter

Die Kulturbetriebe der Stadt Dortmund, das Theater Dortmund und das Konzerthaus Dortmund sagen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen bis Mitte April ab. Die Regelung gilt ab morgen (12. März) und ist unabhängig von der Zahl der erwarteten Besucherinnen und Besucher. Damit hofft die Stadt, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Es fallen aus:

  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund,
  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Theater Dortmund: Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Konzerte, Akademie für Theater und Digitalität,
  • Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und Führungen in den Städtischen Museen: Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Westfälisches Schulmuseum, Kindermuseum Adlerturm, Hoesch-Museum, Brauerei-Museum, schauraum: comic + cartoon,
  • städtische Veranstaltungen im Dortmunder U (z.B. auf der UZWEI, in der Bibliothek „Weitwinkel“, Veranstaltungen in der Reihe „Kleiner Freitag“),
  • Veranstaltungen und Festivals im Dietrich-Keuning-Haus (der Kinder- und Jugendbereich hat geöffnet!),
  • Lesungen und andere Veranstaltungen in den Bibliotheken und im Studio B,
  • Konzerte und Veranstaltungen der Musikschule (der Unterricht findet statt!),
  • Vorträge und andere Veranstaltungen der VHS (die Kurse und Workshops finden statt!),
  • Vorträge, Lesungen und andere Veranstaltungen in Stadtarchiv und in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache,
  • Konzerte und andere Veranstaltungen im Institut für Vokalmusik,
  • Spaziergänge und Fahrradtouren zur Kunst im öffentlichen Raum,
  • Veranstaltungen des Kulturbüros (Ausstellungseröffnungen im Torhaus Rombergpark, Gitarrenkonzerte in der Rotunde).

(…)

Der Kartenverkauf für Konzerte und Aufführungen in Theater und Konzerthaus für Vorstellungen nach Ostern läuft weiter.

Alle Theater- und Konzerthauskunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden kontaktiert. Wenn möglich, werden ausfallende Vorstellungen nachgeholt. Die Kunden werden über mögliche neue Termine sowie die Rückgabe von Tickets benachrichtigt.“

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten von Konzerthaus und Theater und auf www.dortmund.de

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Blick aufs Dortmunder Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Wichtige Informationen zu den Vorstellungen des Theaters Dortmund und des Konzerthauses Dortmund:

„Alle Vorstellungen bis einschließlich 15. April 2020 finden nicht statt.

Aufgrund des Erlasses der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen finden im Konzerthaus Dortmund und im Theater Dortmund bis einschließlich 15. April 2020 keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Konzerthaus-Intendant Dr. Raphael von Hoensbroech und der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund Tobias Ehinger unterstützen diese Vorgabe und bedauern zugleich, dass so viele erstklassige Konzerte und Vorstellungen abgesagt werden müssen.

Alle Kunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden informiert. In den kommenden 14 Tagen arbeiten wir intensiv daran, für die ausgefallenen Vorstellungen Ersatztermine zu finden. Die Ticketingstellen beider Häuser haben weiterhin geöffnet und der Kartenverkauf für Veranstaltungen nach Ostern läuft weiter. Das Restaurant Stravinski und die Klavier & Flügel Galerie Maiwald am Konzerthaus Dortmund bleiben ebenfalls bis auf weiteres geöffnet.

Das Konzerthaus Dortmund bietet für seine Eigenveranstaltungen folgende Regelungen: Für Ersatztermine behalten Tickets ihre Gültigkeit. Sollten Kunden an dem neuen Termin verhindert sein, wenden sie sich bitte telefonisch an das Konzerthaus-Ticketing unter T 0231 – 22 696 200. Sollte kein Ersatztermin gefunden werden, sendet das Konzerthaus an die Kunden einen Gutschein über die Höhe des gezahlten Kartenpreises, der für alle kommenden Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund einlösbar ist. Bei weiteren Fragen zur Rückerstattung steht das Ticketing ebenfalls gerne zur Verfügung. Für Partnerveranstaltungen können abweichende Regelungen gelten.

Das Theater Dortmund bietet folgende Regelungen: Bei Nichtwahrnehmung des Ersatztermins können die Karten vor dem jeweiligen Ersatztermin umgetauscht werden. Darüber hinaus bietet das Theater Dortmund folgende Kulanzregelungen für die Kartenrücknahme an: Kunden können die für diesen Zeitraum im Vorverkauf bereits erworbenen Karten bis Ende der Spielzeit 2019/20 im Kundencenter unter Vorlage der Originalkarten in spätere Alternativvorstellungen eintauschen oder in Wertgutscheine umwandeln. Bei Abonnentinnen und Abonnenten können die Karten in Abo-Gutscheine innerhalb der jeweiligen Sparte umgewandelt werden, die aus Kulanz auch für die nächste Spielzeit einlösbar sind. Karten, die bei externen Vorverkaufsstellen erworben wurden, können nur an diesen zurückgegeben werden. Für Rückfragen steht das Ticketing des Theater Dortmund unter der Telefonnummer 0231 – 50 27 222 gerne zur Verfügung.

Wir stehen weiterhin in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und informieren auf unseren Websites über alle weiteren aktuellen Entwicklungen, die den Spielbetrieb unserer Häuser betreffen.“

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Ausgewählte Ergänzungen (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit)

12. März:

Die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA hat die für 28./29. März geplante „Maker Faire Ruhr“ abgesagt, ein Erfinder- und Mitmach-Festival, das im Vorjahr einige Tausend Besucher(innen) mobilisiert hat. Nachtrag am 16. März: Die DASA schließt jetzt bis auf Weiteres ganz.

Die in Dortmund ansässige Auslandsgesellschaft streicht bis zum 15. April alle öffentlichen Veranstaltungen.

Das Szenetheater „Fletch Bizzel“ folgt dem Beispiel der städtischen Kultureinrichtungen und sagt alle Veranstaltungen bis Mitte April ab.

Auch im Fritz-Henßler-Haus gibt es bis Mitte April keine öffentlichen Auftritte.

Im Dortmunder Literaturhaus ist ebenfalls bis 15. April Veranstaltungs-Pause.

Die Messe „Creativa“ in den Dortmunder Westfalenhallen ist gleichfalls abgesagt und auf Ende August verschoben worden.

13. März:

Theater Dortmund: Alle Sparten haben ihre Spielpläne für diese und die kommende Saison gründlich umgeschichtet.

Schauspielhaus Bochum: Keine Veranstaltungen mehr (auch nicht mit weniger als 100 Personen). Sämtliche Aufführungen fallen aus – vorerst bis 19. April. Ähnliches gilt fürs Theater an der Ruhr in Mülheim, fürs Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) streicht alle öffentlichen Veranstaltungen in seinen Einrichtungen und schließt ab morgen (14. März) seine insgesamt 18 Museen, darunter das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Westfälische Industriemuseum mit seiner Zentrale in Dortmund (Zeche Zollern) und das LWL-Museum für Archäologie in Herne.

Das Duisburger Lehmbruck-Museum bleibt ab Samstag (14. März) zunächst bis zum 19. April geschlossen.

Das Museum Folkwang in Essen und das Emil Schumacher Museum in Hagen setzen alle Veranstaltungen bis auf Weiteres aus.

Die Kunstmesse Art Cologne (geplant für April) ist abgesagt worden.

14. März:

Das „Dortmunder U“ und das Museum Ostwall (im „U“) haben alle Veranstaltungen gestrichen. (Inzwischen ist das Haus geschlossen).

Dortmund: Keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr

15. März:

In einer Sondersitzung hat der Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gestern beschlossen, dass ab heute (Sonntag, 15. März) bis auf Weiteres keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Gaststätten und Restaurants dürfen vorerst geöffnet bleiben.

Museen, Bibliotheken und Sportstätten geschlossen

Der Krisenstab der Stadt Dortmund hat heute (Sonntag, 15. März) getagt und angeordnet, Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu schließen. In diesem Sinne werden bis auf Weiteres die städtischen Museen, die VHS, die Bibliotheken und die Musikschule sowie die städtischen Hallenbäder, Sporthallen und Sportplätze geschlossen.

Siehe dazu auch: www.dortmund.de

16. März

Auch anderorts bleiben ab sofort die Museen geschlossen, so z. B. in Essen (Folkwang), Bochum (Kunstmuseum) und Wuppertal (Von der Heydt).

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln fällt aus.

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Aber machen wir’s kurz:

Jetzt sind alle Museen geschlossen. Und alle Kinos auch. Und alle Bühnen.

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Weitere Nachträge/Aktualisierungen

24. März

Das Dortmunder Festival Klangvokal (geplant ab 17. Mai) musste ebenfalls abgesagt werden. Möglichkeiten für Nachholtermine (September 2020 bis Juni 2021) werden derzeit geprüft. Das zugehörige Fest der Chöre soll vom 13. Juni auf den 12. September verschoben werden. Einzelheiten: www.klangvokal-dortmund.de

25. März

Die Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni in Recklinghausen hätten stattfinden sollen, sind gleichfalls abgesagt. Teile des geplanten Programms sollen nach Möglichkeit im Herbst nachgeholt werden.

Das Klavierfestival Ruhr, ursprünglich ab 21. April geplant, soll nun erst am 18. Mai starten. Die vom 21. April bis 17. Mai geplanten 23 Konzerte sollen nach den Sommerferien und im Herbst nachgeholt werden.

Die Mülheimer Stücketage (geplant 16. Mai bis 6. Juni) sind abgesagt worden.

27. März

Neuester Stand beim Klavierfestival Ruhr: Sämtliche bis Ende Mai geplanten Konzerte werden auf die Zeit nach den Sommerferien bzw. in den Herbst 2020 verlegt. Der Spielbetriebwird voraussichtlich erst Anfang Juni (Woche nach Pfingsten) beginnen. Näheres unter www.klavierfestival.de/nachholtermine

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Nähere Infos auf den jeweiligen Homepages

 




Corona: Viele Absagen für Theater, Oper und Konzert in NRW – und auch jenseits der Landesgrenzen

Sagt bis 19. April alle Vorstellungen ab: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Werner Häußner)

Für die Kulturszene in NRW hat das Corona-Virus bereits Auswirkungen. Hier ein erster Rundblick:

Die Maßnahmen, die eine weitere Verbreitung von Sars-CoV-2 – so heißt das tückische Kleinteilchen – hemmen sollen, führten bereits gestern, 10. März, zur Einstellung des Spielbetriebs des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen bis voraussichtlich 19. April.

Soeben hat auch das Theater Hagen alle Vorstellungen im Großen Haus – nicht aber in den kleineren Spielstätten – abgesagt. In Dortmunder Konzerthaus sind der Auftritt von Bodo Wartke am heutigen 11. März auf den 23. Juni verschoben und alle öffentlichen Veranstaltungen bis 15. April abgesagt. Und nun hat auch das Beethovenfest Bonn alle Konzerte zwischen 13. und 22. März abgesagt,

Seit dem Erlass des Gesundheitsministeriums vom 10. März sollen die örtlichen Behörden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern grundsätzlich absagen. Liegt die Zahl darunter, sei – wie bisher – eine individuelle Einschätzung der örtlichen Behörden erforderlich, ob und welche infektionshygienischen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, heißt es auf der Homepage der Landesregierung.

Düsseldorf deckelt die Zahl der Besucher

Während bei der Theater und Philharmonie (TuP) Essen die Entscheidungsfindung noch im Gang ist, hat sich die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf entschieden, vorerst weiterzuspielen, den Verkauf von Karten aber so zu deckeln, dass die Zahl von 1.000 Menschen im Raum (Besucher und Mitwirkende) nicht überschritten wird. Auch die Wuppertaler Bühnen führen momentan den Spielbetrieb weiter. Die Historische Stadthalle begrenzt ihren Kartenverkauf ebenfalls, damit die 1000er-Marke nicht überschritten wird.

Nicht – oder noch nicht – betroffen scheinen die Museen: Das Essener Folkwang Museum sagt zwar seine Ausstellungseröffnung zu Mario Pfeifer, Black/White/Grey (am 12. März, 19 Uhr) ab, hat aber ansonsten wie üblich geöffnet. Auch die Beethoven-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn bleibt unberührt.

In Sachsen spielt man vorerst weiter

Ein Blick über die Grenzen: In Bayern sind alle Staatstheater geschlossen, die Theater in Bamberg, Würzburg und Regensburg haben bereits nachgezogen und ihre Vorstellungen bis Mitte April abgesagt. In Wien schließen Burgtheater, Staats- und Volksoper. Auch in den drei Berliner Opernhäuser gibt es bis 19. April keine Vorstellungen. Sachsen dagegen meldet derzeit keine Absagen: Semperoper, Staatsoperette Dresden, Theater Chemnitz spielen, und auch die Landesbühnen Sachsen kündigen die Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in der Regie von Manuel Schmitt – erfolgreicher Regisseur von Bizets „Perlenfischern“ in Gelsenkirchen – weiterhin für den 14. März an.

Fatale Folgen haben die Schließungen und Absagen für freie Künstler, vor allem, wenn Verträge keine Ausfallhaftung vorsehen. Sechs Wochen ohne oder mit deutlich vermindertem Einkommen führen in solchen Fällen schnell in eine prekäre Lage. Es wird sich zeigen, ob die Institutionen bzw. die Geldgeber zu unbürokratischen und großzügigen Lösungen bereit sind. Der Präsident des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat bereits einen Notfonds gefordert – „sehr schnell und mit wenig Bürokratie“.




Bloß nichts Erzählendes zeigen – eine Werkschau von Jobst Tilmann im Kunstmuseum Ahlen

Der Künstler Jobst Tilmann erläutert in Ahlen eines seiner Bilder. (Foto: Bernd Berke)

So kann’s gehen, wenn ein Künstler seine Retrospektive weitgehend selbst kuratiert: Der heute im ostwestfälischen Wiedenbrück lebende Jobst Tilmann (70) hat binnen zwei Jahren aus einem Fundus von rund 4000 Arbeiten fast 200 für die Werkschau im Kunstmuseum Ahlen ausgewählt – und sich dabei rückblickend die strenge Kernfrage gestellt: „Habe ich mein Leben verplempert?“ Oder ist Haltbares entstanden? Tilmanns trockene Bilanz nach der intensiven Selbstbefragung: „Es ist gut ausgegangen.“

Ausgegangen? Nicht im Wortsinne eines Aufhörens. Tilmann hat nach eigenem Bekunden „noch einiges vor“. Und seine Werkschau heißt ja auch vielsagend „Anfang ohne Ende“. Tatsächlich sind im Laufe der rund 35 Schaffensjahre, die diese Retrospektive umfasst, immer wieder Neuanfänge und neue Orientierungen zu erkennen. Von „Nullpunkt“ und „Reset“ an bestimmten Punkten seiner Biographie spricht der Künstler selbst. Doch es scheint auch so, als sei er sich und seiner Vorgehensweise durch all die Jahre letztlich treu geblieben. Oder mit der Zeit treu geworden, wenn man so sagen darf.

Wo der Blick des Betrachters zunächst einer Irrfahrt (wie einst bei Odysseus) gleicht: Jobst Tilmanns Bild „Ulysse“ (2008), Acryl auf Leinwand. (© VG-Bild Kunst, Bonn 2020)

Grundsatzentscheidung nach Gusto: Wer durch den Haupteingang das Museum betritt, somit von unten kommt und dann aufwärts geht, bewegt sich von neuesten Arbeiten bis in die 1980er Jahre zurück. Wer es lieber chronologisch vorwärts möchte, muss eben oben im zweiten Stockwerk beginnen. Das musste jetzt erst mal gesagt sein.

„Ich bin kein Malschwein“

Eine frühe Tätigkeit als „Kunsterzieher“ (Tilmann spricht das Wort beinahe angewidert aus) hat er rasch beendet und sich alsbald als freier Künstler eingerichtet, anfangs im zeitlichen Kontext der malwütigen „Jungen Wilden“, denen er sich freilich nie anschließen mochte. „Ich bin kein Malschwein“, stellt er unmissverständlich klar, einen ironischen Begriff jener Jahre verwendend, der ungefähr so klingt wie „Rampensau“ im Theaterwesen. Tilmann ist hingegen einer, der denkend, wenn nicht gar mitunter grübelnd zu Werke geht und fleißig an künstlerischen Problemen arbeitet. Man müsse in solchen Dingen konsequent sein und dürfe sich „keine Tricks“ gestatten, sagt er. Und außerdem: „Ich bin eben Niedersachse. Und Protestant.“ Aha.

Nach einem Kunststudium in Hannover und ersten, gar nicht mal erfolglosen Künstlerjahren mit Atelier in Springe/Hannover, hat Tilmann zu Beginn der 1980er Jahre gleichsam alle Brücken zum bis dahin geführten Leben abgebrochen – familiär und beruflich. Es war eine grundlegende Neuorientierung. Er zog bzw. es zog ihn 1982 nach Südfrankreich, in einen abseits der Touristenströme gelegenen Winkel der Provence, nach St. Restitut. Anderes Klima, andere Farben, anderer Menschenschlag. Als Künstler wecke man dort – auch in der einfachen Bevölkerung – ein wesentlich größeres Interesse als in Deutschland, befindet Tilmann. Sehr schnell habe er sich in der südfranzösischen Kunstszene vernetzen können.

Anregung durch Steinformationen

Eine wichtige Anregung waren seinerzeit die unterirdischen Steinbrüche der Region. Die in den Stein eingezeichneten Linien und Schnitte haben ihn fortwährend beschäftigt, auch hat er sich bis heute eine Neigung zum lichten Grau als einer Hauptfarbe bewahrt. Beides deutet nicht auf farblichen oder formalen Exzess, sondern eher auf Minimalismus hin. Tatsächlich fällt dieser Begriff gelegentlich, wenn von Tilmanns Werk die Rede ist. Doch natürlich verhält es sich vielfältiger, uneindeutiger und komplizierter. Jobst Tilmann selbst kann (anders als so manche seiner Berufskollegen) ausführlich, wort- und gestenreich über Beweggründe und Triebkräfte seiner Kunst sprechen.

Jobst Tilmann: „Marseille“ (1995), Tusche, Kreide und Tape auf Papier. (VG-Bild Kunst, Bonn 2020)

Sein Weg führte jedenfalls früh weg vom abbildhaften Realismus, hin zur entschiedenen Gegenstandsferne. Dem Begriff „Chaos“ kann Tilmann wenig abgewinnen, das sei nur ein hilfloses Wort für den Fall, dass wir etwas nicht begreifen und durchdringen. Tatsächlich walte im Chaos eine höhere Ordnung. Spontane Einfälle und Assoziationen (Sieht z. B. dies oder jenes Bild nicht aus wie eine Landkarte?) lässt er gelten, doch diese Sichtweise solle man möglichst schnell hinter sich lassen. Die Bilder sprächen durchaus für sich – ohne zusätzliche Sinnstiftung. Auch gebe es dafür keine Vor-Bilder in der Natur. Allerdings verlangten seine Arbeiten eine gewisse Einlässlichkeit und Zuwendung seitens der Betrachtenden. Welche Künstler würden sich das nicht wünschen?

Einhegung und Freisetzung

Auch „Themen“ sind bei Tilmann nicht gefragt, viele Bilder tragen keine Titel – und falls doch, dann manchmal eher belustigt klingende, nicht ganz ernst zu nehmende („Besserwisser“). Generell gilt: bloß nichts Erzählendes, bloß kein „Narrativ“. Stattdessen: stringente und strikte Arbeit an künstlerischen Problemen, ein nicht nachlassendes Bemühen, das oft genug ins Grundsätzliche mündet: Was ist überhaupt ein Bild? Wie kann man es aufbauen? Hat da jemand L’art pour l’art gesagt, also Kunst um der Kunst willen? Ganz falsch wäre es nicht.

Ein Strang, der sich durchs gesamte Werk in all seiner Vielfalt zu ziehen scheint, ist der beständige Wechsel zwischen Einhegung und Freisetzung von Formen. Der Spannungsbogen reicht von nahezu „mathematisch“ anmutenden Arbeiten bis hin zur tänzerischen Leichtigkeit. Nimmt das Eine überhand, wird das Andere bekräftigt. Und bald wieder umgekehrt. Oder es treten neue Elemente hinzu, wie in einer Phase die sogenannten „Störenfriede“. Das sind beispielsweise rundliche, klopsartige Formen, die den vorherigen Liniengerüsten etwas Spontanes und Eigenwilliges entgegensetzen. Und überhaupt: Sobald eine Reihe von Bildern gar zu „seriell“ zu geraten droht, sobald dem Künstler die Formalien allzu „beherrschbar“ und regelhaft erscheinen, braucht es wieder einen Entschluss und eine verändernde Tat.

Bei all dem kommt die Bewegung des Künstlers vor Leinwand und Papier, also das Gestische, wohl immerzu ins Spiel. Man muss nur sehen, wie Tilmann sich erklärend vor seinen fertigen Bildern bewegt, dann kann man sich den eigentlichen Malvorgang ein wenig vorstellen. Es ist, als würde er sich erläuternd noch einmal ans Werk begeben.

Um die Ecke gemalt: Ausstellungsansicht von Jobst Tilmanns Bild mit dem Titel „Besserwisser“, der freilich gar nichts über Machart und Texturen des Bildes besagt. (Foto: Bernd Berke)

Was sich aus dem „Sumpf“ erhebt

Ein neueres Verfahren besteht darin, anfangs eine Art urtümlichen farblichen „Sumpf“ (Tilmann) herzustellen, zuweilen auch mit Wischfeudel aufgetragen oder aus Eimern hingegossen. Daraus erwüchsen wie von selbst durchaus schöne Bilder. Aber: „Schöne Bilder interessieren mich nicht.“ Also ist es erst der Beginn. Hernach wird vorzugsweise jenes lichte Grau begrenzend eingesetzt, um aus den vorherigen Farbverläufen einzelne Formen (der Künstler nennt sie „Protagonisten“) individuell hervorzuholen. Es sei recht eigentlich keine Konstruktion, sondern es ergebe sich, wenn man die Formen in ihrem Eigenwert aufspürt und ihnen nachgeht.

Damit nicht genug: Im weiteren Prozess entsteigen just einige dieser Formen den Bildern und werden zu Skulpturen. Auch so eine Befreiung, eine Freilassung aus dem Bildgeviert. Ganz anders, gleichsam selbst-bewusster hängen diese Figurationen nun im Raum. Mit des Künstlers Worten eher philosophisch ausgedrückt: Es seien „neue Entitäten“ entstanden, es sind also – mag man paraphrasieren – neue Wesenheiten in die Welt geraten. Willkommen im Museum.

Tilmanns französische Zeit ist übrigens seit 2002 passé. Anno 2000 erhielt er einen Ruf an die HAWK (Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst) in Hildesheim. Da merkte er im Hinblick auf seine etwas älteren Tage, dass er denn doch im Hannoverschen besondere Heimatgefühle verspüre. Aus Ostwestfalen hat er’s ja nicht so weit dorthin.

Jobst Tilmann: „Anfang ohne Ende“. Kunstmuseum Ahlen, Kreuzung Museumsplatz 1 / Weststraße 98. Vom 8. März bis zum 24. Mai. Mi/Do/Fr 14-18 Uhr, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr, Mo/Di geschlossen. Begleitbuch 30 Euro.

 

 




„Body & Soul“: Dortmunds Ostwall-Sammlung mit Leib und Seele abermals neu präsentiert

Kuratorin Nicole Grothe erläutert ein Hauptstück der Sammlung: August Mackes Bild „Großer zoologischer Garten“. (Foto: Bernd Berke)

Ohne englische Titel geht praktisch nichts mehr im Museum Ostwall. Kürzlich eröffnete hier mit „The Other Side“ eine Schau zu neueren Positionen irischer Kunst. Und nun erhält die Präsentation der eigenen Sammlung wieder einen neuen Schub. Titel: „Body & Soul“. Im Dortmunder U, wo die Ostwall-Sammlung sich seit nunmehr 10 Jahren befindet, gibt man sich eben gern weltläufig und popkulturell anschlussfähig.

Aber Moment mal! Hatten wir nicht erst gegen Ende 2017 die Premiere eines ziemlich gründlich umgeschichteten Eigenbesitzes? Richtig. Seinerzeit hießt das Resultat „Fast wie im echten Leben“ und wurde an dieser Stelle gleichfalls gewürdigt. Damals kündigte der inzwischen nach Maastricht gewechselte Direktor Edwin Jacobs an, die Sammlung solle nachhaltig „dynamisiert“ werden. Auch die ersten Anstöße zur jetzigen Ausstellung stammen noch von ihm.

Beim Alltag des Publikums anknüpfen

Abermals werden nun bedeutsame Teile der Kollektion nicht etwa in kunstgeschichtlicher Abfolge, sondern in Form einer Themenausstellung gezeigt, die just Leib und Seele in den Blick nimmt und – so die Leitlinie – möglichst in den Lebenswelten und bei den Alltagserfahrungen des geneigten Publikums anknüpfen soll. Einen Körper und eine Seele haben wir halt alle. Mit solch daseinsnahen Ansätzen will man auch Leute ins Museum holen, die bisher nur selten mit Kunst in Kontakt gekommen sind.

Aus einem Fundus von rund 7500 Arbeiten im Besitz des Ostwall-Museums lässt sich ein derart umfassendes Doppelthema wie Leib und Seele natürlich allemal vielfach vergegenwärtigen. Rund 130 Werke hat die Sammlungsleiterin und Kuratorin Dr. Nicole Grothe mit ihrem Team ausgewählt. Die Präsentation meidet nach Kräften Beliebigkeiten, sie wirkt auch nirgendwo überfüllt oder beengt. Die Kunst hat genügend Platz zum „Atmen“ und Wirken.

Nacktheit, Kleidung, Bewegung, Ernährung, Schlaf und Tod

Der thematische Rundgang beginnt quasi elementar, nämlich mit nackten Körpern, also Aktdarstellungen. In diesen Kontext gehört auch eine „Ikone“ wie Otto Muellers „Drei Badende im Teich“, wie denn überhaupt deutlich wird, dass ein gehöriger Schwerpunkt der Sammlung dem Expressionismus und seinem Umfeld zuzurechnen ist. Damit eröffnet sich, nebenbei sei’s gesagt, eine wunderbare Möglichkeit zum Vergleich mit der Sammlung des Hagener Osthaus-Museums, das derzeit seine nach über vierjähriger Tournee heimgekehrten expressionistischen Schätze zeigt. Dazu demnächst ein paar Zeilen mehr.

Pablo Picasso (1881-1973): „Femme nue couchée“ (Schlafende Nackte), Öl auf Leinwand, 1965 (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto © Jürgen Spiler)

Doch zurück nach Dortmund: Auch die Relativität von Schönheitsidealen soll sich anhand mancher Körperbilder und Skulpturen zeigen (etwa mit einer rundlich-drallen Frauenfigur oder männlichen Bauchformen als Wandinstallation), ebenso wie die nicht zuletzt durch Kleidung markierte Zuschreibung von Geschlechter-Identitäten, welche – auch unserem waltenden Zeitgeist gemäß – als fließend zu denken sind.

Das Paradies und die Zivilisation

Apropos Kleidung. Ein immer wieder und immer wieder anders hervorgehobenes Hauptstück der Sammlung, August Mackes „Großer zoologischer Garten“, offenbart in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Lesart. Bisher galt das Bild meist als Vergegenwärtigung des paradiesischen Gartens Eden, die Zoobesucher tragen jedoch betont modische, zeitgenössische Kleidung, so dass man sie wohl zur gehobenen Gesellschaft rechnen muss. Es geht also nicht nur um Natur, sondern mindestens ebenso sehr um Zivilisation bzw. um das Verhältnis beider Wesenheiten zueinander.

In insgesamt neun Kapiteln kann man etliche Erkenntnisse gewinnen oder zumindest Aha-Momente erleben, so etwa auch zur Beschaffenheit sportlicher und tänzerischer Körper, wobei z. B. Radierungen von Karl Hofer direkt neben Barbara Hlalis Zeichnungen von DJs zu sehen sind. Die Lust an der Bewegung höret demnach quer durch die Generationen nimmer auf; es sei denn: im Tod, der in einer künstlerischen Körper-Ansammlung natürlich nicht übergangen werden kann und auch in Bildern des Schlafes gegenwärtig ist. Dass Sterben und Schlafen miteinander verquickt und verschwistert, ja mitunter kaum unterscheidbar sind, lässt Dieter Kriegs „Weiße liegende Figur“ ahnen.

Thomas Bayrle (*1937): „Super Colgate“, 1965. Holz, Metall, Elektromotor, Ölfarbe – Erworben aus der Sammlung Feelisch (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: © Jürgen Spiler)

Was es mit dem Zähneputzen auf sich hat

Auch Aspekte der Ernährung und Körperpflege kommen künstlerisch zum Vorschein, das Spektrum reicht von Willi Repkes konventionell anmutender „Marktfrau“ bis zu Thomas Bayrles Installation „Super Colgate“, die eine Zahncreme-Werbung der 1960er Jahre parodistisch aufgreift. Die lustige oder eben auch putzige Kunst-Maschine sorgt auf Fußschalter-Druck dafür, dass ganz viele Figürchen  sich gleichzeitig die Zähne putzen. Daraus leitet sich auch der Untertitel der gesamten „Body & Soul“-Unternehmung her, welcher da lautet: „Denken, Fühlen, Zähneputzen“. Warum nicht auch mal ein bisschen albern sein?

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938): „Stafelalp bei Mondschein“, 1919, Öl auf Leinwand (Foto © Jürgen Spiler)

Das Seelenleben wird sodann unter anderem am Beispiel von Naturempfindungen erkundet, so mit Ernst Ludwig Kirchners „Stafelalp bei Mondschein“ oder einem mit Angst befrachteten, surrealen Waldbild von Max Ernst („Forêt aux champignons“). Überhaupt ist den Ängsten, den Verletzungen und der Trauer ein weiteres Kapitel gewidmet, das sich existenziell durch die Jahrzehnte zieht. Hier wird vermutlich jede(r) dem persönlichen Dämon begegnen können, sei er nun von Norbert Tadeusz, Ina Barfuss oder anderen Visionären der Kunst imaginiert worden.

Nach eigenen Erinnerungen graben

Die eigenen Erinnerungen entdecken soll man nach dem Willen des Aktionskünstlers Wolf Vostell mit seinem (hier von Gregor Jabs re-inszenierten) Happening „Umgraben“ (1970), dessen Szenarium sich hinter einem Vorhang erstreckt. Das Grabefeld soll man nicht mit eigenen Schuhen, sondern mit bereitgestellten Gummistiefeln betreten – und dann mit dem Umgraben loslegen. Mag schon sein, dass sich dabei ein meditativer Sinn einstellt. Übrigens ist Vostells Arbeit diesmal eines der wenigen Beispiele aus dem Bereich der so genannten Fluxus-Kunst, die ja eigentlich einen weiteren Schwerpunkt der Sammlung ausmacht.

Wolf Vostell (1932-1998): „Umgraben“, Happening von 1970, Re-Inszenierung von Gregor Jabs, 2012 (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto © Jürgen Spiler)

Mönchsfigur mit Münzeinwurf

Nicht nur explizit religiöse Glaubensfragen sind ein weiteres Feld der hiesigen Seelenkunde. Dabei fällt auch eine Dortmunder Neuerwerbung auf, nämlich Michael Landys Mönchsfigur mit „Donation Box“ (Spendenbox), in die man echte Münzen einwerfen kann. Wofür die etwaigen Einnahmen der Ablasszahlungen verwendet werden (geringfügige Aufstockung des Museumsbudgets?), ist derweil noch nicht ausgemacht.

Und die Schlussakkorde? Sind wiederum betont sanftmütig und tröstlich, denn es werden Werke zum Thema Liebe, Zuneigung, Freundschaft und Fürsorge versammelt. All das, was den Menschen guttut. Auf dass man das Museum heiteren Sinnes verlasse.

Zur anders gewichteten Kunst kommt die neue „Inszenierung“: In Zusammenarbeit mit dem niederländischen Designbüro SODA (Ronald Buiel und Jorrit Noyons aus Arnheim) hat man neue farbliche und architektonische Akzente gesetzt. Wir würden uns ja den Kalauer schenken, die Kunstwerke seien nach den Interventionen von SODA nun einfach so da. Aber jetzt ist er nun einmal heraus und geht auch nicht ganz fehl.

Viel Freiraum für die Kunst: Blick in die neue Sammlungs-Präsentation. Die Figur in der Mitte ist übrigens nicht echt, sondern künstlich, Verzeihung: künstlerisch. (Foto: Bernd Berke)

Orientierung durch neue Farbakzente

Tatsache ist jedenfalls: Die schon auf den Fluren der 4. und 5. Etage dominierende Lachsfarbe soll die Orientierung im riesigen Haus erleichtern. Vordem hatten sich nicht wenige Besucher über labyrinthische Verwirrung beklagt. Mal sehen, ob diese Irritation nun nachlässt. Außerdem verändert: Reflektierende Flächen, die den Blick ablenken konnten, sind weitgehend verschwunden. Architektonische Charakteristika, wie etwa das Deckenraster im Dortmunder U, kommen besser zur Geltung.

Wohlfühl- und Willkommens-Faktor

Überdies wurden auch die alten (vormals dunklen) Sitzbänke hell gestrichen und alle abweisenden Kanten einladend abgerundet. Überhaupt haben die Museumsleute versucht, einen durchgehenden Wohlfühl- und Willkommens-Faktor zu erzeugen. Das reicht von helleren und wärmeren Farben über eine möglichst stets besetzte und auskunftsbereite „Rezeption“ am Eingang bis zu einer kuscheligen Landschaft mit Kissen und Sitzsäcken. Chillen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Auch das geht mit dem Zeitgeist konform.

Aber nun mal ganz ehrlich: Das Farbkonzept mit den verschieden abgemischten Lachstönen hat mich an die etwas weichgespülte Corporate Identity einer schwedischen Bank erinnert, die vor allem auf sanftes Rosa zurückgreift und ihre Bezahlvorgänge als „smooth“ (glatt, seidenweich, problemlos) bezeichnet. Egal. Jedem seine Assoziationen. Und es heißt gewiss nicht, dass die Bilder nicht zur Geltung kämen.

Alle zwei Jahre werden die Werke neu gemischt

Sammlungsleiterin Nicole Grothe möchte den Eigenbesitz auch künftig ungefähr im Zweijahresrhythmus immer wieder neu arrangieren, ihn gleichsam regelmäßig durchlüften und damit wechselnde Zusammenhänge stiften. Relativ kostengünstig sind derlei Schauen aus dem Bestand allemal, es werden keine Leihgebühren fällig, zudem riskiert man keine Transportschäden und muss daher auch keine horrenden Versicherungssummen zahlen.

Doch selbstverständlich hat der Umbau, der sich einige Monate hingezogen hat, ein paar Scheinchen gekostet, genauer: 422.000 Euro. Der Rat der Stadt hatte zu dem Zweck 500.000 Euro gebilligt, der Etat wurde also unterschritten. Es könnte ein gutes Omen sein.

„Body & Soul. Denken, Fühlen, Zähneputzen“. Neue Sammlungspräsentation des Museums Ostwall im Dortmunder U (4. und 5. Ebene), Leonie-Reygers-Terrasse (Navigation: Brinkhoffstraße 4 / Parkhaus).

Update: Ausstellung wird bis November 2022 verlängert

Ursprünglich vom 8. Februar 2020 bis 27. Februar 2022 (verlängert bis zum 13. November 2022).

Geöffnet Di/Mi/Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr.

Tel.: 0231/50 247 23. Mail: info@dortmunder-u.de

Kunstvermittlung/Führungen: 0231/50-277 86 oder 50-277 91.

www.museumostwall.dortmund.de

 




Das Motto „Macht und Mitgefühl“ passt immer: Ruhrfestspiele 2020 holen bewährte Produktionen nach Recklinghausen

Szene aus Anne Teresa De Keersmaekers Choreographie „Rain (live)“. (Foto: Anne Van Aerschot / Ruhrfestspiele)

„Macht und Mitgefühl“ lautet das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele, und das kann einfach nicht falsch sein. Egal, was folgt, die Überschrift paßt immer. Doch da Festival-Chef Olaf Kröck nun sein Programm präsentierte, wissen wir es genau. In summa sind es 90 Produktionen, die in 220 Veranstaltungen vorgeführt werden, in 13 Abteilungen von Schauspiel bis Kabarett. Vieles ist naturgemäß recht klein (die Kleinkunst zum Beispiel), und deshalb richten wir den Blick weitaus lieber auf das Große im Programm, traditionell also das Theater.

Lars Eidinger als Peer Gynt (Foto: Christiane Rakebrand / Ruhrfestspiele)

Einiges aus Berlin

Fünf hochwertige Produktionen hat man allein in Berlin eingekauft: Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ und Peter Handkes „Selbstbezichtigung“ beim Berliner Ensemble, René Polleschs „Number Four“ und Cervantes’ „Don Quijote“ beim Deutschen Theater, Ibsens „Peer Gynt“ (oder das, was davon noch übrig blieb) bei der Schaubühne. Jenen Peer Gynt, um kurz dabei zu bleiben, gibt der Bühnen-Exzentriker Lars Eidinger in einem Einpersonen-Projekt des ebenfalls recht exzentrischen Künstlers John Bock. Das wird lustig. Und „Don Quijote“ geht in einer Fassung von Jakob Nolte als Zweipersonenstück mit Ulrich Matthes und Wolfram Koch über die Bühne.

Szene aus „Tao of Glass“ von Philip Glass und Phelim Mc Dermott. (Foto: Tristram Kenton / Ruhrfestspiele)

Philip Glass

„Deutschlandpremiere“ immerhin darf unter zwei Produktionen stehen: „Tao of Glass“ entsteht als Koproduktion mit dem Manchester International Festival und befaßt sich irgendwie mit Kreativität; Phelim McDermott und Philip Glass werden als Väter dieser Produktion genannt, und da Letzterer ein weltberühmter Schöpfer von Minimalmusik ist, sehen wir der Sache mit Interesse entgegen.

Peter Brook

Außerdem ist Peter Brook wieder mit von der Partie. Zusammen mit Marie-Hélène Estienne hat der 95-Jährige, wie im Vorjahr auch, für das Théâtre des Bouffes du Nord in Paris ein Stück verfaßt. „Why?“ heißt es, fragt nach Sinn und Grund für das Theater und wird, so viel ist sicher, von der großen Peter-Brook-Fangemeinde hymnisch gepriesen werden. Premiere schließlich, das paßt jetzt ganz gut hier hin, hat ein „Zerbrochener Krug“ vom Schauspiel Hannover. Man sieht: Das Motto „Macht und Mitgefühl“ trifft es immer.

So oder so ähnlich soll es in der Recklinghäuser Kunsthalle demnächst aussehen: „Womb Tomb (Thema Active), 2015″ von Mariechen Danz. (Foto: Paula Winkler / Courtesy: Mariechen Danz und Wentrup Galerie / Ruhrfestspiele)

Mariechen Danz

Beim Tanz fällt die Choreographie „Rain (live)“ von Anne Teresa De Keersmaeker ins Auge, die seit einiger Zeit schon in der Hamburger Kampnagel-Fabrik gesehen werden kann.

Genderneutral

Drei Produktionen des Festivals, eine davon vom Rapper Robozee, variieren Strawinskys „Le sacre du printemps“, und die Bildende Kunst in der Recklinghäuser Kunsthalle kommt von Mariechen Danz, die sehr ansprechend Körper und Räume in Beziehung setzt. Übrigens glaube ich fest, daß der Name der Künstlerin ein Künstlername ist, der sich vom karnevalistischen (und politisch ganz bestimmt höchst unkorrekten) Befehl „Marieche, danz“ (hochdeutsch: (Funken-) Mariechen, tanz!) ableitet. Ist bestimmt ironisch gemeint, sonst hätten Kröck und die Seinen diese Künstlerin nicht einladen dürfen, war ihre Programmvorstellung doch bis weit über die Grenzen der Peinlichkeit hinaus von dem Bestreben geprägt, „genderneutrale“ Sprache mit besonderer Berücksichtigung der weiblichen Wortformen zu pflegen.

Mehr Unverwechselbarkeit wäre schön

„Kinder- und Jugendtheater“, „#Jungeszene“ (mit Hashtag), „Neuer Zirkus“, „Figurentheater“ und mit Einschränkungen „Für alle“ – viele Abteilungen wenden sich dezidiert an ein junges Publikum, was für sich genommen nicht zu kritisieren ist.  Weitere künstlerische Ansprüche des Festivals sind allerdings kaum auszumachen. Hier wurde zusammengekauft, was gut und teuer, meistens aber auch nicht ganz taufrisch ist.

Eigenproduktionen gibt es nicht, die Kooperationen sind eher finanzielle Beteiligungen. Etwas mehr Unverwechselbarkeit würde den Ruhrfestspielen nicht schaden. Immerhin aber bleibt der Trost, daß man demnächst nicht immer nach Berlin (oder nach Bochum) fahren muß, um gutes Theater zu sehen.

www.ruhrfestspiele.de




Duplikate für den historischen Ostfriedhof – warum muss das denn sein?

Hinweisschild am Dortmunder Ostpark. (Foto: Bernd Berke)

Hinweisschild am Dortmunder Ostpark. (Foto: Bernd Berke)

Der Dortmunder Ostfriedhof (oder auch Ostpark) ist, wie hier schon gelegentlich erwähnt, eine der schönsten Grünanlagen des gesamten Ruhrgebiets – mit etlichen historischen Grabstätten von Bedeutung. Gewiss: Hier liegen keine weltberühmten Geister begraben. Doch selbst bundesweit gehört das Areal auf eine Liste der ansprechendsten Friedhöfe. Viele Dortmunder lieben diese parkähnliche Anlage.

Umso mehr verblüfft jetzt eine Ankündigung, die auf den ersten Blick von Geschichtsvergessenheit zu zeugen scheint. Ein Schild mit diesem Text (siehe auch das Foto oben) ist neuerdings in den Eingangsbereichen des Ostparks zu finden:

„Zurzeit werden auf diesem Friedhof schützenswerte Grabmale demontiert. Die Arbeiten erfolgen im Auftrag der Stadt Dortmund. Von den sichergestellten Objekten werden Nachbildungen erstellt, die im Anschluss wieder montiert werden. Falls Sie Fragen haben, so wenden Sie sich bitte an unsere Mitarbeiter*innen auf dem Friedhof.“

Die Ankündigung kommt aus ziemlich heiterem Himmel. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Vorhaben in lokalen Medien dargelegt oder gar zur Diskussion gestellt worden wäre. Dabei ist es doch von öffentlichem Interesse. Tatsächlich wüsste man schon gern, um welche Grabstätten es sich im Einzelnen handelt. Doch nicht etwa um die letzten Ruhestätten der Industriellen-Dynastien Hoesch oder Jucho? Doch nicht etwa ums Grab der Kochbuch-Pionierin Henriette Davidis?

Nach dem Raub wertvoller Bronzen geht Sicherheit vor

Halt! Keine Panik! Es handelt sich überwiegend um vergleichsweise unscheinbare, jedoch wertvolle Objekte – und alles hat seine Richtigkeit. Uli Heynen, Betriebsleiter Technik für die Dortmunder Friedhöfe, erklärt auf Anfrage, die jetzige Maßnahme sei beschlossen worden, nachdem 2018 Grabräuber auf dem Ostfriedhof vier historische Bronzeteile (Grabplatten) gestohlen hatten. Aufmerksame Bürger hätten den Verlust damals bemerkt und Mitarbeiter des Friedhofs informiert. Heynen: „Es sind eigentlich immer Bürger, denen so etwas zuerst auffällt.“

Teilansicht einer historischen Grabstätte auf dem Dortmunder Ostfriedhof, die n i c h t durch eine Replik ersetzt wird. (Foto: Bernd Berke)

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof: Teilansicht einer historischen Grabstätte, die n i c h t durch eine Replik ersetzt wird. (Foto: Bernd Berke)

Da fragte sich, wie man fortan weitere Bestände (darunter auch Skulpturen) schützen sollte. Nach vielen Überlegungen stand schließlich fest: indem man sie auf dem Friedhof durch Repliken ersetzt und die Originale anderswo unter Dach und Fach verwahrt. Sehr betrüblich, dass so etwas überhaupt nötig ist. Aber Sicherheit hat eben Vorrang.

Um Weihnachten 2019 herum ging dann alles ganz schnell. Die Demontage einiger Bronze-Teile ist bereits erfolgt, nun geht es – unter fachkundiger Begleitung von Dr. Rosemarie Pahlke (Beauftragte der Stadt für Kunst im öffentlichen Raum) – an die Herstellung der Repliken. Ganz billig ist das nicht, doch das muss es dem Gemeinwesen wert sein.

Arbeiten von Benno Elkan und Bernhard Hoetger

Wenn auch die Duplikate mit größter Sorgfalt erzeugt werden, so dürften zumindest Fachleute bemerken, dass es sich nicht mehr um die Originale handelt. Uli Heynen: „Die Stücke werden ja nicht mehr aus Bronze bestehen.“ Hoffentlich nehmen das auch etwaige Grabräuber zur Kenntnis.

Im Mittelpunkt der Rettungsmaßnahmen stehen acht Arbeiten des Bildhauers Benno Elkan und eine Schöpfung von Bernhard Hoetger. Nach Fertigstellung der Repliken für den Ostpark sollen die Originale an einem öffentlichen Ort in der Stadt ausgestellt werden. Denkbar wäre eine Präsentation in Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße. Doch darüber ist noch keine Entscheidung gefallen.




Mit Emil Schumacher durch das Jahr 2020 – „Blätter aus dem Engadin“ als Kalender in limitierter Auflage

Das Novemberblatt. Bei Emil Schumacher heißt es GG-18 / 1993. Gouache auf Aquari-Bütten, 36,5 x 49,5 cm. (Bild: Emil Schumacher Museum Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2019)

Im Januar ist das nichts, jedenfalls nicht viel. Fahler Malgrund, darauf ein paar nackte Zweige. Oben eine Andeutung von kaltem Himmelblau. Noch schlimmer ist der Februar, keine Farben mehr, kalkiges Weiß, Schnee vielleicht, schwarze Konturen, kein Leben.

Pferd und Wagen

Doch im Märzen der Bauer. Könnte man jedenfalls so untertiteln, denn Emil Schumacher, der große informelle Maler, war sich nie zu schade dazu, auch mal einfach einen Pferdekarren ins Bild zu stellen und ein Pferd und einen Menschen, der es führt. Farbe ist hier zwar immer noch nicht zu sehen, doch die Agonie der ersten Monate scheint überwunden.

Und so geht das weiter. Mit dem sich ankündigenden Sommer schiebt sich Farbe in die düsterbraunen Frühlingsräume, sattes, glückliches Himmelblau dominieren die Bilder von Juni bis September. Doch während der August mit seinen runden Konturen noch ganz bei sich selbst ist, löst sich das Septemberblau zu seinen weißen Rändern hin unerfreulich auf. Man ahnt sein Dahingehen.

Behütende Erde

Unblau der Oktober. Dunkel, die Tage werden kürzer, der November. Fern von aller wunderbaren Sommerbläue schließlich der Dezember, der mit seinen gesättigten Brauntönen aber auch tröstlich ist, Rückzug in das Erdige, Bleibende, Behütende, um im nächsten Frühjahr zu neuem Leben zu erwachen, zu erblühen, zu ergrünen. Und das ohne irgendein Grün in den Bildern, anbei bemerkt.

„Blätter aus dem Engadin“ heißt wie im Vorjahr der  nunmehr 24. Emil-Schumacher-Kalender, den das Schumacher-Museum mit 800 Exemplaren für das Jahr 2020 herausgibt. Die Auswahl der Bilder traf Dr. Ulrich Schumacher, Sohn des 1999 verstorbenen Hagener Malers und fraglos der intimste lebende Kenner des gewaltigen Oeuvres. Seine Komposition des Jahreszyklus wirkt vertraut und läßt zuversichtlich hoffen, daß Vater Schumacher mit der Auswahl seines Sohnes einverstanden ist.

Eine hübsche, kleine, kongeniale Kollektion ist dieser Kalender, der durch den überaus fein gerasterten Computerdruck qualitativ auch als Mappenwerk bestehen könnte.

  • Kalender 2020 „Blätter aus dem Engadin“, 12 Monatsblätter und vollformatiges Deckblatt
  • 70 x 50 cm, Spiralbindung, 39,95 EUR
  • Erhältlich im Museumsshop des Hagener Emil Schumacher-Museums und in Hagener Buchhandlungen
  • www.esmh.de

 




Der Künstler und seine Frau – die kleinen Bilder, die Emil Schumacher „für Ulla“ malte

Emil Schumacher, Für Ulla-1/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 14,6 x 16 cm. © (Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019/Emil Schumacher Museum Hagen)

Man könnte sie leicht übersehen. Kaum so groß wie ein Blatt Schreibmaschinenpapier sind die Bilder, und auch in ihren Rahmen bleiben sie schmächtig. Es bedurfte eines speziellen Regals für Kleinformate, um sie im Magazin wiederauffindbar unterzubringen. Jetzt aber hängen sie ganz prominent in der Ausstellung. „Für Ulla“ heißt die Serie von Gouachen, die Emil Schumacher für seine Frau malte und die 1996 erstmalig in Jena gezeigt wurde, als der Maler dort die Ehrenbürgerwürde der Universität erhielt.

Emil Schumacher, Für Ulla-7/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 15 x 22,6 cm. © (Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Zum 100. Geburtstag

Warum Hagens berühmter Informel-Künstler 1996 für seine Frau eine Reihe von Bildern auf Packpapier schuf, ist bis ins Letzte nicht beantwortet. Weder standen runde Geburtstage an (Ulla war 77), noch begründeten andere Anlässe ein solches Geschenk. Und Emil Schumacher, der seine Werke eher mit leichter Hand datierte und signierte, steuerte auch nichts Erklärendes bei. Aber die Bilder sind „für Ulla“. Das steht drauf. Anlass dafür, sie jetzt zu zeigen, ist der 100. Geburtstag Ulla Schumachers.

Emil Schumacher, Für Ulla-15/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 14,6 x 16 cm. © Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Sehr persönlich

Die Motive dieser „Suite“ sind abstrakt, wie man es bei Emil Schumacher ja gewohnt ist. Doch der Begriff deutet Bezüglichkeit an, und in der Tat laden viele Bilder dieser Reihe zu assoziativer Vergegenständlichung ein. Landschaften mag man erkennen, Tiere, vor allem Pferde. Und Kreise können Räder sein, Sinnbilder der Reise wie der Wiederkehr, und alles ergibt Sinn. Zwar ginge es zu weit, hier ein strenges System der Chiffrierung erkennen zu wollen, doch sicherlich hat Ulla Schumacher diese Bilder so genau verstanden wie kaum ein anderer Mensch. Emil, unabweisbar dieser Eindruck, formulierte hier wie unter einem Brennglas das Gemeinsame, das gemeinsam Vertraute. Es ist eine Kunst der Intimität, vielleicht gar eine anhaltende Liebeserklärung. Dafür brauchte es keine Stichtagsregelung.

Emil Schumacher, Kirmes, 1948, 27 x 34,5 cm. (Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Biedere Familie

Und ein weiteres Mal ist man erstaunt über das biedere Leben, das dieser Künstler und seine Frau führten. Nichts ist bekannt über Ausschweifungen oder Exzesse, 60 Jahre waren sie verheiratet, und sie haben das als großes Glück empfunden, wie Rouven Lotz unterstreicht, wissenschaftlicher Leiter des Emil Schumacher Museums und Kurator dieser kleinen, hübschen Ausstellung. Und übrigens war das Jahr 1996 doch ein rundes, ein bißchen jedenfalls, weil sich die jungen Leute 60 Jahre vorher auf der Kirmes kennengelernt hatten, auf dem Kettenkarussell, in Hagen, wo sonst.

Traumberuf Telefonistin

Ulla Schumacher, als Ulla Klapprott 1919 in Hagen-Eppenhausen geboren, war gewiß nicht die andere Hälfte eines Künstler-Duos, wie beispielsweise Christos Frau Jeanne Claude. Auch eine Muse war sie nicht, eher schon Managerin ihres zur Zurückhaltung neigenden Gatten. Sie kümmerte sich um die Reisen, schuf und pflegte internationale Kontakte. „Sie war ein bißchen die Außenministerin für den Künstler“, sagt Rouven Lotz. In jungen Jahren hatte sie übrigens als Telefonistin gearbeitet, immer im Gespräch, immer online (wie man heute fast sagen könnte), ein Traumberuf für sie.

Ulla und Emil Schumacher, 1989. (Foto: Stefan Moses / Emil Schumacher Museum Hagen)

„Ach Emil, das wird schön“

Und Ulla war Emil Schumachers wichtigste Kritikerin. Der Maler legte größten Wert auf ihr Urteil, auch im Schaffensprozeß schon. Freunde der Familie berichten von einem unruhigen Künstler, der durch das Haus lief und seine Ulla suchte, damit sie im Atelier ihre Meinung kundtat. Wiederholt verbürgt ist ihr Ausruf „Ach Emil, das wird schön“, mit dem sie in aller Regel ja auch recht hatte und dem kreativen Prozeß gehörigen Schub verlieh.

Zeichnungen der frühen Jahre

Museumsleiter Lotz hat der „Für Ulla“-Suite einige Bilder aus dem Bestand beigesellt, etwas größer in aller Regel, die die enge Verbindung der Kleinformate zum damaligen aktuellen Schaffen Schumachers, frappierend mitunter, dokumentieren. Außerdem gibt es einen zweiten Raum mit frühen Werken, Zeichnungen aus den 30er und 40er Jahren, Alltagsszenen und Akte, auf denen die Dargestellte immer Ulla ist. Diese vergnügliche Reihe, die neben anderem auch deutlich macht, was für ein brillanter Zeichner Emil Schumacher war, beginnt – eben – auf der Kirmes in Hagen, 1936, am Kettenkarussell. Eine Zeichnung wie ein Holzschnitt, hartes Schwarzweiß, mit einer erotischen Figurine im linken oberen Bereich, erste Begegnung mit der Frau fürs Leben.

Emil Schumacher, Ulla, rauchend, 1947, Fettkreidezeichnung, 32,7 x 15,7 cm.(Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Immer wieder Ulla

Er hat sie, für ein Programmheft der Ruhrfestspiele, als „Irre von Chaillot“ gezeichnet (welche allerdings, ganz adrett und comme il faut, hinter einem Kaffeehaustischchen hockt), als Hausfrau und Mutter zu Hause, als rauchende Gesprächs- und Lebenspartnerin. Daran, daß Emil Schumacher die Seine gerne im Akt abbildete, war gewiß auch die lange Phase künstlerischer Abstinenz schuld, erläutert Lotz. In der Nazizeit hatte, wie hier und da bekannt, der Maler Emil Schumacher mit dem Malen aufgehört, weil seine Kunst nicht gelitten war. Er hatte als technischer Zeichner gearbeitet, um die Familie zu ernähren. Als ihn seine Frau nach 1945 ermunterte, doch wieder ein Künstler zu sein, mußte Emil üben. Auch Akte malen. Niemand konnte damals ahnen, daß er dereinst in Kunstrichtungen Furore machen würde, die man mit Informel oder abstraktem Expressionismus bezeichnete. Die frühen Bilder mit der abstrakten „Für Ulla“-Suite in räumlich-inhaltlichen Zusammenhang zu bringen, ist eine kluge, ja fast schon schöpferische Entscheidung.

Langes Leben

Rund 60 Jahre dauerte die Ehe der Schumachers; Emil starb 1999, 87-jährig immerhin, ohne Vorzeichen „als glücklicher Maler“ auf Ibiza. Seine Frau folgte ihm zehn Jahre später, 90-jährig. Die Baustelle des Hagener Schumacher-Museums hat sie noch besichtigt, die Eröffnung leider nicht mehr erlebt.

Nicht so viele Familiengeschichten!

Schluss jetzt! Wenn man über Schumachers schreibt, droht das immer zur Familiengeschichte zu werden, garniert mit unzähligen Anekdoten. Doch hier gilt’s der Kunst! Sie sei ausdrücklich anempfohlen, die anrührende „Für Ulla“-Sonderschau wie auch das Dauerhafte im Hagener Schumacher-Museum mit seinen stattlichen Großformaten.

  • Emil Schumacher: „Für Ulla“ – Ursula Schumacher zum 100. Geburtstag
  • 24.11.2019 bis 9.2.2020
  • Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1
  • Geöffnet Di-So 12-18 Uhr
  • Tel. 02331 207 31 38, www.esmh.de



Kreativer Kosmos, künstlerischer Klamauk – Martin Kippenberger in der Bonner Bundeskunsthalle

Ohne Titel: Martin Kippenberger (aus der Serie Window Shopping bis 2 Uhr nachts) 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Martin Kippenberger: Ohne Titel (aus der Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“), 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Was macht Spiderman im Atelier des Malers? Er könnte einfach als Besucher da sein, er könnte als Superheld eine Versinnbildlichung der Machtfülle des Künstlers sein. Er könnte aber auch, als Spinnenmann eben, Produzent jener „Spinnereien“ sein, die das Werk seines Schöpfers in herausragendem Maße prägen – Ausdruck jenes hoch assoziativen Schaffens Martin Kippenbergers, dem die Bonner Bundeskunsthalle jetzt eine große Werkschau ausrichtet.

Das Spiderman-Atelier Kippenbergers, der 1953 in Dortmund geboren wurde und 1997 viel zu früh in Wien starb, steht gleich am Eingang der Ausstellung mit dem etwas sperrigen Titel „BITTESCHÖN DANKESCHÖN“. 360 Arbeiten sind hier ausgestellt, Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Plakate, Multiples und so weiter, und sollen eine Annäherung an den Künstler ermöglichen, dem fraglos eine gewisse Neigung zum Dadaismus eigen ist, der so recht aber keiner bestimmten Gruppe oder Richtung zugeordnet werden kann.

Ohne Titel (aus der Serie „Das Floß der Medusa“), 1996. Öl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Alles hat er gemacht

Kippenberger hat Fotos gemacht und Holzplatten zu Skulpturen zersägt, er hat wundersam verbogene Straßenlaternen geschlossert und Zäune aufgestellt, Plastikfrösche ans Kreuz genagelt und aus Hotelrechnungen Malgründe gemacht. Er hat, so scheint es, eigentlich alles gemacht, was ihm gerade in den Sinn kam. Vor allem aber war er wohl Maler, wenngleich er eine seiner bekanntesten Bilderserien nicht selbst gemalt hat. „Lieber Maler, male mir“, so der Titel, ließ er nach Fotos von dem Plakatmaler Hans Siebert anfertigen. Und der Betrachter und die Betrachterin mögen nun nachsinnen über den Wert des Originals und darüber, was ein Original ausmacht.

Menschliches Leiden und Niedergang

Im großen Saal im Erdgeschoß der Bundeskunsthalle, wo Kippenberger jetzt ausgestellt ist, dominieren zu Beginn späte Gemälde, von fremder und von eigener Hand geschaffen. Tief beeindruckt der Zyklus „Das Floß der Medusa“, für den Kippenberger das berühmte gleichnamige Gemälde Théodore Géricaults sozusagen thematisch zerlegte, die unterschiedlichen Posen menschlichen Leidens und Niedergangs isolierte. In einem zweiten Schritt stellte er diese Posen für eine Fotoserie nach, die ihrerseits das Ausgangsmaterial für den gemalten Zyklus war und Bilder von einzelnen Körpern, Gliedmaßen, Gesichtern zeigt.

Ohne Titel (aus der Serie „Lieber Maler, male mir“), 1981. Acryl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Die Banane war weg

Große Bilder waren das Resultat von Kippenbergers Beschäftigung mit dem Ei, das er nach eigenem Bekunden zum Thema machte, weil die Banane ja schon von Warhol verwendet worden war. Auch die letzte Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“ von 1996 ist mit drei Arbeiten verteten. Es sind wohl eher Schaufensterpuppen, die er da gemalt hat, mit verschwimmenden Rümpfen, einmal auch mit vier Beinen, entfernt an Figuren Francis Bacons erinnernd. Auf den ersten Blick könnte man die Serien der letzten Jahre vergleichsweise glatt und gefällig finden; man könnte sie aber auch in Verbindung sehen mit Kippenbergers schwerer chronischer Erkrankung, als Befassung mit qualvoller Körperlichkeit und Vergehen.

Kippenberger arbeitete „mit großer Schnelligkeit, großem Antrieb und großer Empathie“, so Kuratorin Susanne Kleine. Er beherrschte „die Kunst des Weglassens“, „er vermeidet Wertungen in seiner Kunst, er demokratisiert“.

„Nieder mit der Inflation“ (aus der Serie „Die I.N.P.-Bilder“), 1984. Öl, Silikon auf Leinwand. Private Collection (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Schrebergarten

Kippenberger thematisierte den Schrebergarten als Analogie zum eigenen und anderer Künstler Schaffen, das in dem Kommentar „Kunst ist Schrebergarten“ seines Mitstreiters Michael Krebber einen Ausdruck fand, er bastelte Zimmerkarussells und stopfte eine Galerie mit eigenen Arbeiten buchstäblich zu, um ein skulpturales Pendant zur notorischen „Petersburger Hängung“ zu schaffen, er malte absurde Richtungsschildchen für die Kasseler „Documenta“, er entwarf Aufkleber, die das berühmte „I Love New York“-Motiv variierten bis hin zu „I love Uhu und Pattex“, und so weiter, und so weiter. Es ist ein großes Verdienst der Bonner Ausstellung, die enorme Vielseitigkeit dieses Künstlers deutlich zu machen und eine Ahnung zu geben von der Komplexität seines Schaffens.

Ausstellungsansicht: „Spiderman im Atelier des Künstlers“ (Foto: Peter-Paul Weiler, 2019 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Die Wilden

In seinen multiplen Bezüglichkeiten war Kippenberger nahe an den Großen der Zunft, an Anselm Kiefer, Sigmar Polke, Jörg Immendorff. Ein Originalgemälde Gerhard Richters, der auch damals schon prominent und teuer war, verarbeitete er kurzerhand zu einer Tischplatte. Aber er war eben auch etwas jünger als die westlichen Malerfürsten, was manche Betrachter veranlaßte, Kippenberger den „jungen Wilden“ zuzuschlagen, die in den 80er-, 90er-Jahren von sich reden machten. Auch da paßte er nicht hin, wenngleich einige „Wilde“ zu seinen Freunden zählten.

Person des Künstlers bleibt rätselhaft

Nach Besichtigung der Ausstellung verschwimmt die Person Kippenberger immer noch hinter ihrem Werk. Im hoch assoziativen Geflecht aus alltäglicher Banalität und letzten Menschheitsthemen hat sie sich, unfreiwillig vielleicht, gut versteckt. Oder sollte ihr Versteck ein Gewebe sein? Auch das wäre – rein assoziativ natürlich – eine schöne Erklärung für den Spiderman im Künstleratelier.

  • „Martin Kippenberger – BITTESCHÖN DANKESCHÖN“
  • Bis 16. Februar 2020
  • Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
  • Helmut Kohl-Allee 4, Bon
  • Di+Mi 10-21 Uhr, Do-So 10-19 Uhr, feiertags 10-19 Uhr
  • Eintritt 10.00 EUR
  • www.bundeskunsthalle.de
  • Sehr empfehlenswerter umfangreicher Katalog 49,00 EUR

Nachbemerkung:

Auch wenn er gewiß kein „typischer Dortmunder“ war, seine Heimatverbundenheit niemals an die, beispielsweise, Emil Schumachers heranreichte – die Hartleibigkeit, mit der Dortmunds fraglos berühmtester zeitgenössischer bildender Künstler in der Stadt nicht wahrgenommen wird, ist frappierend. Weil ein Stadtprobst Coersmeier vor neun Jahren die religiösen Gefühle seiner Mitmenschen durch Kippenbergers gekreuzigten Plastikfrosch verletzt sah und dies in einem Brandbrief der Bezirksvertretung West kundtat, ist kein Gäßchen, kein Plätzchen rund um das „U“ nach ihm benannt worden. Und nie gab es in dieser Stadt eine nennenswerte Ausstellung seiner Arbeiten. (Falls ich mit dieser Aussage falsch liegen sollte, bin ich für eine Richtigstellung dankbar.) Dafür aber Pink Floyd, mit einem finanziellen Verlust im zweistelligen Millionenbereich, was aber niemanden aufregt.

Ein anderer Dortmunder, dem Beachtung eher andernorts zuteil wird, ist Norbert Tadeusz (geb. 1940 in Dortmund, gestorben 2011 in Düsseldorf). Späte Großformate von ihm sind noch bis 2. Februar 2020 im Düsseldorfer Museum Kunstpalast zu besichtigen.




„Der montierte Mensch“ – eine vorzügliche Folkwang-Ausstellung fragt nach Individuum und Masse in der Kunst

Fernand Léger Le Mécanicien, 1920 Öl auf Leinwand, 116 × 88,8 cm National Gallery of Canada, Ottawa © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: NGC

Fernand Léger: „Le Mécanicien“, 1920. Öl auf Leinwand. National Gallery of Canada, Ottawa / © VG Bild-Kunst, Bonn 2019. Foto: NGC

Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende – der Wende in das 20. Jahrhundert hinein – begann die Kunst, schüchtern zunächst, mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit die konstruktiven Gegebenheiten der Welt abzufragen, die Baupläne von Natur und Technik, die Funktionalität von Gesellschaft und Individuum. Das war eigentlich erstaunlich, denn jenseits der Kunst war die Welt des 19. Jahrhunderts ja längst im Industriezeitalter angekommen.

Nur ein Schönheitsfleck

Zum einen gab es bahnbrechende Erfindungen am laufenden Band, zum anderen kapitalistische Exzesse der Ausbeutung und der Anhäufung von Reichtum in einem bis dahin unvorstellbaren Maß. Doch die Maler schwelgten in Spätromantik, blickten auf liebliche Flußauen und schroffe Felslandschaften, und bestenfalls war ganz im Hintergrund, der rauchende Schornstein verriet es, eine kleine Fabrik zu erahnen, zu nicht mehr nütze als dazu, dem schwelgerischen Duktus einen süßen Schönheitsfleck zu verpassen. Die Moderne zeigte erstes Leben, gewiß; doch in den Akademien berauschte man sich an mythologischen Stoffen, betrieb Heldenverehrung. Das deutsche Bürgertum pflegte den Luisenkult, haßte die Franzosen (nicht aber ihren Wein…) und hörte Wagner dazu. Ist ja alles bekannt.

Orlan: Le Baiser de l’artiste. Le distributeur automatique ou presque! n°2, 1977 (2009) Silbergelatine auf Diasec, 55 × 110 cm Erworben 2009, entre Pompidou, Paris (Bild: Museum Folkwang,  VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / ADAGP Foto: bpk / CNAC-MNAM / Georges Meguerditchian)

Zu Beginn Krupp

Der industriellen Wirklichkeit näherte sich die Kunst schließlich mit unübersehbarer Ambivalenz. Heinrich Kleys Gemälde „Tiegelstahlabguß bei Krupp“ zum Beispiel, entstanden 1909, schwankt mit seiner altmeisterlichen Lichtbalance etwas unschlüssig zwischen dramatischer Überhöhung, Bewunderung für die moderne Technik und dokumentarischer Beschreibung der Arbeitssituation, die die vielen Einzelnen entindividualisiert, sie gleich Soldaten unbedingtem Gehorsam unterwirft, weil sonst das Werk nicht gelingen würde.

Im großen Saal

Mit Kleys Bild beginnt der (ganz vorzügliche) Katalog zur Ausstellung „Der montierte Mensch“, die jetzt bis 15. März 2020 im Essener Folkwang-Museum zu sehen ist. Mehr als 200 Werke von 124 Künstlern beiderlei Geschlechts haben die Kuratorinnen Anna Fricke und Nadine Engel für diese eindrucksvolle Präsentation im großen Ausstellungssaal des schönen, zweckmäßigen Chipperfield-Baus zusammengetragen, Leihgaben und Eigenbestand. Der Gefahr allzu großer Beliebigkeit, die das Thema in sich birgt, sind sie mit konzeptioneller Strenge begegnet. Doch natürlich hat die Ordnung Grenzen, denn auf dem riesigen Themenfeld von Konstruktion, Dekonstruktion und Destruktion, wo irgendwo sicherlich auch der nicht allzu geläufige Begriff „montierter Mensch“ seine sinnhafte Verortung findet, haben die Dinge sich nicht nur linear entwickelt. Der Begriff „Der montierte Mensch“ stammt übrigens von dem Kulturwissenschaftler Bernd Stiegler.

Roy Lichtenstein; Study for Preparedness, 1968, Öl und Magna auf Leinwand, 142,5 × 255 cm, Museum Ludwig, Köln (Bild: Museum Folkwang, Estate of Roy Lichtenstein / VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: Rheinisches Bildarchiv, rba_d039366)

Zusammenhänge

Wenn auch nicht alles mit allem, so hängt doch vieles mit vielem, vielfältig zudem, zusammen. So lassen sich die fotografierten Bewegungsstudien Eadweard Muybridges, die 1887 noch vor der Erfindung des Kinos entstanden und die Zerlegung von Bewegung in viele Einzelschritte vorwegnahmen, durchaus sinnhaft in Zusammenhang bringen mit den Arbeiten Trevor Paglens. Der hat, beispielsweise für das ausgestellte, erschreckende Bild „Vampire (Corpus: Monster of Capitalism) Adversarially Evolved Hallucination“ (2017) den Computer nach der Evaluation menschlicher Statements zum Thema Vampire Algorithmen schreiben lassen, die in einem bildgebenden Programm zu eben jenem geplotteten Bild führten. Und wenn auch die Leistung des Computers uns Respekt abnötigt, so ist es mit seiner Künstlichen Intelligenz doch nicht weit her, denn im Kern reproduzierte er nur, was Menschen vorher äußerten. Muybridge verstand sich übrigens als Forscher, während Paglens Arbeit heutzutage problemlos als Kunst akzeptiert wird. Aber beide zerlegten und montierten.

Fortunato Depero: Motociclista (solido in velocità), 1927, Öl auf Leinwand, 117 x 163,5 cm, Privatsammlung (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Vittorio Calore (Milano Italy))

Der Erste Weltkrieg

Streift man durch die reizvoll heterogene Essener Schau, drängt sich allerdings der Eindruck auf, daß Zerlegung und Zerstörung weitaus mehr Platz beanspruchen als ein anschließendes „Montieren“. Vor allem die traumatisierenden Destruktionserfahrungen des 1. Weltkriegs veränderten die Kunst grundlegend und unwiderruflich. In einem Dreierzyklus (zweimal Kohle, einmal Öl) aus „Die Schlacht“ (1916/17), „Vorstoß“ (1916/17) und „Der Krieg“ (1914) löst beispielsweise Otto Dix die Ordnung der Welt in wilde, entmenschlichte Strukturen auf. Während die Kompositionen der ersten beiden Bilder noch kraftvoll einem Ziel entgegenzustreben scheinen, ist das letzte nur pures Chaos. Details erkennt man noch, Köpfe, Zahnräder, Schlote, Blitze, doch jeglicher funktionale Zusammenhang ist dahin. Viele Künstler teilten Dix’ Blick auf diese gänzlich entzauberte Welt.

Bettina von Arnim: Close Cycle Man, 1969, Öl auf Leinwand, 138 × 112 cm, Städel Museum Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Städel Museum – ARTOTHEK)

Kleine Püppchen

Zurück zur Montage. Dem Ausstellungstitel im Wortsinn am nächsten sind wohl Zeichnungen von Rodtschenko, Malewitsch, Kandinsky, El Lissitzky und einigen anderen, die in einer kurzen Aufbruchphase der Kunst nach dem 1. Weltkrieg – in Rußland zumal – ernsthaft, doch auch spielerisch aus Menschen mechanische Funktionsgebilde machten, kleine Püppchen, um zu kreativen Weiterungen zu gelangen.. Es ist eine etwas spröde Kunst, aber auch eine ohne Ballast, nüchtern forschend, unbestechlich. Genannt sei hier neben der Herren ausdrücklich auch Ella Bergmann-Michel, deren rätselhaft-konstruktive Gebilde „sans titre“ sind und von 1923 stammen.

Bellings Köpfe

Natürlich (ist man fast geneigt zu sagen) fehlen Rudolf Bellings maschinengleiche aufpolierte Bronzemenschenköpfe (1923) nicht, auch René Magritte ist mit Menschen in surrealen Wundern („L’âge des merveilles“, 1926) vertreten. Und Fernand Léger natürlich, der seine Figuren aus prallwurstigen Einzelteilen (es widerstrebt, Gliedmaßen zu schreiben) zusammensetzte. Auch sein „Mechaniker“ von 1920 ist so entstanden, doch trotz der klobigen Anmutung in Sonderheit der Arme und der Hand vermittelt er nicht nur Kompetenz und Gelassenheit, sondern sogar Eleganz. Ein montierter Mensch, nun gut, aber auch einer, der gepflegt daherkommt (Oberlippenbärtchen, die Haare gescheitelt) und, Zigarette in der Hand, zu genießen weiß. Im Hintergrund des Bildes ahnt man Maschinenteile, und offenbar läuft die Maschine von ganz allein. Doch die Augen zeigen: der Mechaniker muß wachsam sein. Légers Bild ist das Logo der Essener Ausstellung.

Willi Baumeister: Maschinenmensch mit Schraubenwindung II, 1929 – 1930, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Staatsgalerie Stuttgart, erworben 1968 (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgart)

Die Futuristen jubelten

Aber Léger war – in seinen Werken – ja auch eine Frohnatur, meistens jedenfalls. Viele andere Künstler begegneten der Technik mit Skepsis und Unverständnis, empfanden sie als bedrohlich. Eine Ausnahme bildeten die italienischen Futuristen. Sie bejubelten den Fortschritt, fanden Autos, Motorräder und Flugzeuge toll, liebten Wettrennen und Rekorde. Leider geizt die Essener Schau ein wenig mit Futuristen, gerade einmal Fortunato Deperos „Motociclista (solido in velocitá)“ von 1927 oder Giacomo Ballas „Automobile in Corsa“ (1913) fallen ins Auge, und die sind in ihrer dekorativen Auffassung des Themas nicht sehr typisch.

Unverstellten Futurismo gibt es eher auf Plakaten wie Romano di Massas „Circuito di Milano“ (nach 1924) und Lucio Vennas „Ammortizzatori Excelsior“ (1925) zu sehen, letzteres eine eindrucksvolle graphische Symbiose von Zahnrad und Einzelmensch. Russische Plakate aus jener Zeit, sie hängen gleich nebenan, frönen hingegen dem Kult der Entindividualisierung in der (revolutionären) Masse. Man ahnt die wahnhafte Vorstellung, Menschen und Gesellschaften könnten nach Idealbildern erschaffen werden.

Rudolf Belling: Skulptur 23, 1923, Messing, 41,5 × 22,5 × 21 cm, Museum Folkwang, Essen (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Jens Nober)

Viele Arbeiten von Frauen

Walter Drexel montierte aus wenigen entlarvenden Strichen Hitler und Mussolini, Fotomontagen John Heartfields sind natürlich vertreten, ebenso Willi Baumeisters „Maschinen-Komposition“ (1921) und „Maschinenmensch“ (1929/30). Einige Fotos, zumal von marschierenden Soldaten und Sportlern, hätte man wohl auch weglassen können, da wird es sehr allgemein, franst die Ausstellung thematisch aus.

In guter Erinnerung hingegen bleiben zeitgenössische Arbeiten wie die eigentümlich anthropomorphen Skulpturen von Katja Novitskova (Mamaroo (Smoldering Brain, Groth Potential)“ und „Mamaroo (Violent Origins)“, beide von 2019 – auch deshalb, weil sie sich so schön pumpend, „hervorbringend“ bewegen. Anderes, was für Bewegung geschaffen war, steht still, insbesondere zwei Tinguely-Maschinen. Zu alt und zu gebrechlich seien sie, sagt das Kuratorium, aber schade ist es doch. Unverständlicherweise steht auch Rebecca Horns „Überströmer“ (1970) still. Dabei weiß gerade diese Künstlerin, man erinnere sich nur an ihre letzte Ausstellung im Duisburger Lehmbruck-Museum, sehr wohl, wie Kunst sich in Bewegung bringen läßt.

Gruselige Maschinengestalten

Man freut sich, Malerei von Maria Lassnig zu sehen („Warlord II“ von 1996, „Innenansicht/Röntgenselbst I von 1987, „Harte und weiche Maschine/Kleine Sciencefiction“ von 1988), doch wesentlich näher am Thema sind sicherlich Bettina von Arnims gruselige Maschinengestalten, Zwitterwesen aus Rohren und Tuben (vor Rohren, zwischen Rohren) mit menschlicher Anmutung. Und so könnte man fortfahren, Namen zu nennen und Werke zu beschreiben, doch das würde bald schon langweilig und soll deshalb jetzt ein Ende finden.

Das beste Haus für große Ausstellungen

Viel Kunst gibt es also im Folkwang-Museum zu sehen, über hundert Jahre alt oder auch ganz frisch, vielfältig aufeinander bezogen. Die thematische Klammer, wie gesagt, läuft hier und da Gefahr zu brechen, doch das mindert den Reiz dieser opulenten Ausstellung nicht. Von allen Museen im Ruhrgebiet ist das Essener Folkwang fraglos am besten dafür geeignet, große Ausstellungen mit vielen Kunstwerken prominent zu präsentieren. „Der montierte Mensch“ beweist es.

  • „Der montierte Mensch“
  • Folkwang-Museum, Essen, Museumsplatz 1
  • Bis 15. März 2020
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do + Fr 10-20 Uhr, Mo geschlossen
  • Eintritt 8,00 EUR
  • Katalog 384 Seiten, 227 Abbildungen 38,90 EUR im Museum, 65,00 EUR im Handel
  • www.museum-folkwang.de



Schrecken und Schönheit der Natur – Münster zeigt grandiose Landschaftsbilder von William Turner

William Turner: „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour's Mouth..." (Schneesturm – Ein Dampfschiff...), 1842, Öll auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 - Inv.-Nr. N00530)

William Turner: „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth…“ (Schneesturm – Ein Dampfschiff…), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Da weiß man gar nicht mehr, wo vorn und hinten, oben oder unten ist: In seinem Ölbild „Three Seascapes“ (Drei Seeansichten, um 1827) hat der englische Maler William Turner (1775-1851) Zustände des Meeres – und des Himmels? – aufeinander geschichtet, miteinander überblendet. Man könnte es fast für ein Farbfeld-Werk des 1970 verstorbenen Mark Rothko halten. War Turner, der doch in der Romantischen Epoche lebte und wirkte, etwa schon ein Abstrakter avant la lettre, also bevor man Abstraktion als solche definiert und bezeichnet hat?

Die Kuratorin Judith Claus, die das Konzept zur Turner-Ausstellung im Münsteraner LWL-Museum für Kunst und Kultur entwickelt hat, hält dagegen: Turner habe niemals abstrakt gedacht. Erst recht nicht habe er angestrebt, die Gegenständlichkeit hinter sich zu lassen, sie zu „überwinden“. Das sei nur unsere rückblickende Auffassung – im Wissen um die seither entfaltete und auch schon wieder historisch entrückte Moderne.

William Turner: „Three Seascapes (Drei Seeansichten)", um 1827, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856. Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Three Seascapes“ (Drei Seeansichten), um 1827, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Man möchte freilich bezweifeln, dass einem reflektierten und belesenen Künstler wie Turner derlei Bilder gleichsam unwillentlich unterlaufen sind. Vielleicht ist ja die Abstraktion eine der Urformen künstlerischer Entäußerungen, die – unabhängig von der Epoche – hin und wieder aufgeleuchtet haben, bevor sie in einen breiten Zeitstrom eingeflossen sind? Ein weites Feld für Fragen und Erwägungen…

Auswahl aus einem riesigen Fundus

Erfreuliche Tatsache ist jedenfalls, dass Münster nun mit rund 80 Werken des berühmten – nennen wir nur einmal den vollen Namen – Joseph Mallord William Turner glänzen kann.

David Blayney Brown, Kurator für britische Kunst an der Tate in London, hat die Werke aus einem riesigen Turner-Fundus (rund 30.000 Arbeiten auf Papier, etwa 300 Gemälde und 280 Skizzenbücher) ausgewählt, den der Maler selbst einst der britischen Nation vermacht hat. Man könnte Dutzende von Turner-Ausstellungen bestreiten – mit immer wieder anderen Schwerpunkten. Jede Auswahl wäre ein anderes, ein weiteres Statement über diesen genialen Künstler.

Manche erinnern sich: Anno 2001/02 hat das Essener Folkwang-Museum mit Turner geprunkt, seither war in unserer näheren Umgebung praktisch nichts Wesentliches mehr von ihm zu sehen. Diese Münsteraner Schau, die anschließend in Nashville und Quebec gastieren wird, ist im Kern eine Übernahme aus dem Kunstmuseum Luzern (Schweiz). Dort hat man, nur zu verständlich, besonderen Wert auf Turners Reisebilder aus schweizerischen Gefilden gelegt. In Münster rückt dieser Aspekt etwas beiseite. Man hat hier zusätzlich 30 Werke von Vorbildern und Zeitgenossen Turners beschafft, darunter etwa Caspar Wolf, John Martin und John Constable. Hier kann man folglich – bei dezent gedämpftem Licht und auf Wänden in aparten Blau- und Petrol-Tönungen – vergleichen, kann eine Ahnung davon bekommen, was Turners Kunst eigentlich ausmacht.

Ungeahnte Erscheinungen aus Licht und Farbe

Wenn es noch einer Beweisführung bedurft hätte: Wo andere Künstler den romantischen Konventionen mehr oder weniger verhaftet blieben, hat Turner – nach einem gleichfalls „romantischen“ Frühwerk – der Kunst vordem ungeahnte, faszinierende Sphären erschlossen. Wie überaus duftig und schwebend zart sind seine Aquarelle, wie allseits entgrenzt viele seiner Landschaften. Da geht es nicht mehr um konkrete Konturen, sondern um subtile Stimmungswerte und ja: um manchmal geradezu überirdische Erscheinungen des Lichts und der Farbe. Es ist dies eine Ausstellung zum Schwelgen und zur bleibenden Erinnerung.

William Turner: „The Fall of an Avalanche in the Grisons" (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden, 1802, Exhibited 1810, Graphit, Kreide, Aquarell und Gouache auf Papier (© Tate: Accapted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „The Fall of an Avalanche in the Grisons“ (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden), um 1810, Graphit, Kreide, Aquarell und Gouache auf Papier. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Phänomene, die zuvor allenfalls Beiwerk waren, hat Turner beherzt in den Vordergrund gerückt. Man schaue etwa das Bild „The Fall of an Avalanche in the Grisons“ (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden, um 1810) an. Bereits in diesem recht frühen Werk löst sich jede fassbare Wirklichkeit in ein ungeheures Toben der Elemente auf. Der Untertitel der Ausstellung heißt denn auch „Horror and Delight“, also etwa Schrecken und Freude, die einen angesichts der gewaltigen Natur erfassen können. Zuweilen dies, zuweilen das, manchmal beides zugleich oder abwechselnd. Das Begriffspaar „Horror and Delight“ stammt aus dem Konzept des Erhabenen (englisch: sublime) des britischen Schriftstellers Edmund Burke (1729-1797), dessen Gedanken die Epoche der Romantik und somit auch Turner geprägt haben.

Im Sommer reisen und skizzieren, im Winter malen

Turner reiste (nach Napoleons gegen Großbritannien verhängter Kontinentalsperre – Insel vs. Kontinent ist beileibe nichts Neues) in den Sommermonaten immer wieder durch Europa, und zwar teilweise sehr beschwerlich und unbequem, auch schon mal mit dem Maulesel durchs Gebirge. Er fertigte, vorzugsweise in der Schweiz und in Italien, zahllose Skizzen an, deren Essenzen er hernach im Atelier während des englischen Winters zu Gemälden ausarbeitete. Er war also (auch mangels farbtechnischer Möglichkeiten) noch kein Freiluftmaler wie später die Impressionisten. Dennoch dürfte er auch dieser Richtung Wege gewiesen und geebnet haben.

William Turner: „Peace – Burial at Sea" (Frieden – Bestattung auf See), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Peace – Burial at Sea“ (Frieden – Bestattung auf See), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Er ist zwar im Sommer gereist, soll aber stets dann freudig erregt gewesen sein, wenn schlechtes und schweres Wetter herrschte. Extreme unter dramatisch bewölkten Himmeln kamen ihm entgegen. So verwundert es auch nicht, dass Turner ein Meister der stürmischen Seestücke gewesen ist. Ein grandioses Beispiel dafür ist ein Bild des Spätwerks mit schier endlosem Titel, das wir der Einfachheit halber mit dem ersten Wort als „Schneesturm“ (1842) bezeichnen wollen: Man sieht ein Dampfschiff („Ariel“) auf offenbar höchst gefährlicher Fahrt, es sendet Leuchtsignale aus.

Was ist schon der „Inhalt“ eines Bildes?

Doch solch nüchterner Beschreibungsversuch erfasst keineswegs ein Bild, auf dem alle Umrisse in ein gleißendes Irgendwo zerstoben sind; wie man denn überhaupt beim späten Turner Probleme bekommt, wenn man den „Inhalt“ eines Bildes schildern möchte. Allein auf die Atmosphäre kommt es an. Im länglichen Bildtitel war es Turner übrigens wichtig zu betonen, dass er selbst diesen Sturm erlebt habe. Die von ihm verbreitete Legende, mit der sich allerdings auch andere Maler bei ähnlicher Gelegenheit schmückten, besagt, dass er sich beim Unwetter sogar an einen Schiffsmast angebunden habe, um das Tosen der See am eigenen Leibe zu erfahren…

Der als wortkarg, in eigener Sache aber auch als eloquent geltende William Turner war eben ein geschickter Selbst-Vermarkter, der keine Chance ausließ, seine Werke auszustellen. Bereits mit 32 Jahren erhielt er an der Royal Academy School of Arts in London eine Professur – just für Perspektive, die er als Künstler so entschieden und nachhaltig auflöste. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Turner war damit recht bald ein gemachter Mann.

Schon mit 14 Jahren an der Kunst-Akademie

Die Academy war damals quasi noch eine Neugründung, Turner gehörte zur ersten Generation, die dort ausgebildet wurde, schon mit 14 Jahren studierte er dort. Erstaunlich genug: gleich in einem Pionier-Jahrgang der vielleicht allergrößte, nachher schwerlich übertroffene Künstler. Hatte er denn gar keine Schwächen? Nun ja. Er war so klug, sich sogleich auf Landschaftsmalerei (damals noch ein unterschätztes Genre) zu verlegen, als Porträtist oder überhaupt als Darsteller menschlicher Figuren wäre er hingegen wohl nicht zu solchem Ruhm gelangt.

Etliche Bilder, zumal im Spätwerk, gelten als „unvollendet“, doch in manchen Fällen ist es kaum auszumachen, ob Turner wieder unterwegs zu ganz neuen Ufern war oder ob er ein Bild aufgegeben hat. Vor allem sein Spätwerk überforderte die Auffassungsgabe vieler Zeitgenossen, Karikaturisten verspotteten ihn. Den Hämischen galt er als „Kleckser“, der die Farbe wild und willkürlich verteilte – auf einer furchtbar witzigen Zeichnung ging er gar mit einem Wischmop auf die Leinwand los. Welch eine gehässige Verkennung!

Die Sintflut – und der Morgen danach

Zum Finale hebt die Ausstellung geradewegs ins Metaphysische ab. Da finden sich etwa Bilder, mit denen Turner geisterhafte Meeresungeheuer beschwört. Solche Visionen steigern sich schließlich ins Universelle: Turner unternimmt 1843 nichts Geringeres, als den Abend des Weltuntergangs durch die Sintflut darzustellen, ein mystisches Licht erstrahlt über der Finsternis – und er zeigt auf einem zweiten Bild den Morgen danach, an dem aus kreisender Bewegung in verheißungsvoller Helligkeit etwas gänzlich Neues zu entstehen scheint.

William Turner: „Light and Colour (Goethe's Theory) - the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis" (Licht und Farbe (Goethes Farbenlehre) – der Morgen nach der Sintflut – Moses schreibt das Buch Genesis), 1843, Öl auf Leinwand. (©Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Light and Colour (Goethe’s Theory) – the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis“ (Licht und Farbe (Goethes Farbenlehre) – der Morgen nach der Sintflut – Moses schreibt das Buch Genesis), 1843, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Hochinteressanter Hintergrund: Damals waren Weltuntergangs-Bilder auch bei Künstlern wie John Martin sozusagen en vogue, weil allenthalben große gesellschaftliche und existenzielle Verunsicherung herrschte. Die Französische Revolution hatte vieles zuoberst und zuunterst gekehrt, die beginnende Industrialisierung weckte bis dahin unbekannte Ängste, ein katastrophaler Vulkanausbruch in Indonesien bescherte Europa einen weitgehend sonnenlosen Sommer. Ein baldiger Weltuntergang galt damals als wahrscheinlich. Kommt uns solch eine Zeitstimmung denn nicht bekannt vor?

Apropos Endlichkeit: William Turner hat über seine Lebenszeit hinaus gedacht, er war vehement auf Nachruhm aus. Der britischen Nation vermachte er seinen Nachlass unter der Bedingung, dass die 1824 gegründete National Gallery eigens eine Raumflucht für seine Werke errichtet und zwei seiner Bilder direkt neben Arbeiten seines großen Vorbildes Claude Lorrain (1600-1682) gehängt werden. All das ist eingetreten, er selbst hat eine Ehrengrabstätte in der St. Paul’s Cathedral zu London bekommen. Und das mit dem bleibenden Nachruhm ist ganz offensichtlich auch Wirklichkeit geworden.

„Turner. Horror and Delight.“ – 8. November 2019 bis 26. Januar 2020. Münster, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz. Geöffnet Di-Do 9-18, Fr 10-20 Uhr, am zweiten Freitag im Monat bis 24 Uhr (dann auch freier Eintritt ab 18 Uhr). Sonst: Eintritt 13 Euro, ermäßigt 6,50 Euro, freier Eintritt bis 17 Jahre. Besucherdienst: 0251 / 5907 201. Katalog in der Ausstellung 27 Euro (im Buchhandel 39,80 Euro).

Weitere Infos: www.lwl-museum-kunst-kultur.de

Unter www.turner2019.de gibt es ein neuartiges „Digitorial“, sprich: einen virtuellen Ausstellungsrundgang zur Vor- oder Nachbereitung des Besuchs.




Befürchtungen vor der Münsteraner Turner-Ausstellung: Was der Brexit für kulturellen Austausch bedeuten könnte

Deutsch-britisches Museumsteam: Kuratorin Dr. Judith Claus, Münsters Museumsleiter Dr. Hermann Arnhold (Mi.) und David Blayney Brown, Senior Curator of British Art der Londoner Tate. (Foto: Bernd Berke)

Deutsch-britisches Ausstellungs-Team mit Brexit-Befürchtungen: Kuratorin Dr. Judith Claus, Münsters Museumsleiter Dr. Hermann Arnhold (Mi.) und David Blayney Brown, Senior Curator of British Art der Londoner Tate. (Foto: Bernd Berke)

Münster lockt ab 8. November (bis zum 26. Januar 2020) mit einer Ausstellung über den ruhmreichen britischen Maler William Turner (1775-1851). Das LWL-Museum für Kunst und Kultur zeigt 75 Leihgaben aus der Tate London, ergänzt um einige Werke von anderen Künstlern jener Zeit. Wir werden darauf zurückkommen. Doch jetzt erst einmal zu einem anderen Thema. Um einen legendären Monty-Python-Spruch anzuwenden: „…and now to something completely different.“

Denn: Moment mal! Da war doch was? Etwas, was man eigentlich schon gar nicht mehr hören mag? Richtig: der unvermeidliche Brexit. Bei der heutigen Pressekonferenz im Vorfeld der Turner-Schau wurde deutlich, was der EU-Austritt Großbritanniens auch in kultureller Hinsicht bedeuten könnte. Nämlich nichts Gutes. Also doch kein völlig anderes Thema, sondern ein (fataler) Zusammenhang.

Strenge Grenzkontrollen und Zölle auch für die Kunst?

Museumsleiter Dr.  Hermann Arnhold ergriff die Gelegenheit, um seine Besorgnis auszudrücken. Er befürchte einen großen Rückschritt für den kulturellen Austausch mit Großbritannien. Mit Blick auf das ursprünglich vorgesehene Brexit-Datum (31. Oktober 2019) habe man alles daran gesetzt, sämtliche Bilder schon vor diesem Stichtag in Münster zu haben. Andernfalls hätten langwierige bürokratische Grenzkontrollen und diverse Zölle gedroht. Renommierte Kunstspeditionen haben sich für die Zukunft schon auf derlei Fährnisse eingerichtet, und zwar auch für den Fall eines geregelten Brexit; vom Chaos eines ungeregelten Austritts ganz zu schweigen. Oder sollte es doch noch ein paar Fünkchen Hoffnung für einen Verbleib geben? Das wäre ja…

Europa besteht nicht nur aus der Wirtschaft

Europa, so Arnhold weiter, sei eben nicht nur ein gemeinsamer Wirtschafts-, sondern auch ein Kulturraum. Gerade Menschen, die mit Kultur zu tun hätten, seien meistenteils überzeugte Europäer. David Blayney Brown, als Senior Curator of British Art der Londoner Tate für die Turner-Auswahl zuständig, pflichtete dem deutschen Kollegen bei, wobei gleichsam leise Seufzer mitklangen. Es kämen schwere Zeiten auf Großbritannien zu. Umso erfreuter zeigte sich Brown, jetzt noch diese bedeutsame Kunst-Kooperation mit Münster ins Werk zu setzen.

Das von Arnhold geleitete Haus am Münsteraner Domplatz hat in den letzten Jahren regelmäßig Ausstellungen mit britischer und US-amerikanischer Kunst gezeigt, u. a. „Das nackte Leben – von Bacon bis Hockney“ sowie Retrospektiven zu Henry Moore und Sean Scully. Die Planungs- und Vorlauf-Zeiten für solche Schauen müssten künftig – im Schatten des Brexit – länger veranschlagt werden. Trotz alledem oder jetzt erst recht hat man bereits mit den Vorbereitungen für eine Ausstellung begonnen, die 2023/24 zu sehen sein soll. Thema? Noch geheim. Aber es hat gewiss etwas mit England zu tun. Denn das kommt ja nun hoffentlich gar nicht in Frage: auf Kunst von der Insel zu verzichten.




Weltstädte, Technik und Jazz als Triebkräfte – die energetische Bildwelt des K. R. H. Sonderborg

K. R. H. Sonderborg: „12.4.66, 16h31-17h12", 1966. Eitempera auf Fotokarton über Leinwand. Leihgabe Osthaus Museum, Hagen (© Galerie Maulberger, 2019)

K. R. H. Sonderborg: „12.4.66, 16h31-17h12″, 1966. Eitempera auf Fotokarton über Leinwand. Leihgabe aus dem benachbarten Osthaus Museum, Hagen. (© Galerie Maulberger, 2019)

Als junger Mann vom Jahrgang 1923 lebte Kurt Rudolf Hoffmann, dem von Geburt an der rechte Arm fehlte, im Hamburg der NS-Zeit bewusst als Außenseiter. Statt in der Hitlerjugend mitzumachen, pflegte er im ganzen Auftreten einen britischen Stil. Der Sohn eines Bigband-Posaunisten (im damals sehr renommierten Telefunken-Swingorchester) hörte vorzugsweise Jazzmusik und galt daher als sogenannter „Swing Boy“.

Jemand, der so eigensinnig war, stand damals unter Beobachtung. 1941 holte ihn die Gestapo ab und inhaftierte ihn vier Monate lang im Konzentrationslager Fuhlsbüttel. So war es nur konsequent, dass er sich nach Kriegsende von deutscher Herkunft distanzierte, seinen eigentlichen Namen auf die Initialen K. R. H. zurückstutzte und statt dessen seinen dänischen Geburtsort Sonderborg hervorhob.

Bildnis des (späteren) Künstlers als junger Mann: K. R. H. Sonderborg als 17-Jähriger in Hamburg, An der Alster bei „Tante Loh", 1940/41. (in: K. R. H. Sonderborg, Arbeiten auf Papier, schwarz/weiß, Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart 1985/85, Seite 13)

Bildnis des (späteren) Künstlers als junger Mann: K. R. H. Sonderborg als 17-Jähriger in Hamburg, An der Alster bei „Tante Loh“, 1940/41. (aus: K. R. H. Sonderborg, Arbeiten auf Papier, schwarz/weiß, Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart 1985/86, Seite 13)

Unterschiede zu Emil Schumacher

Als K. R. H. Sonderborg also wurde er seit den 1950er Jahren mit informeller Malerei bekannt. Er gehörte damit im Grunde der gleichen oder zumindest verwandten Stilrichtung an wie der Hagener Emil Schumacher. Eine Sonderborg-Schau im Emil Schumacher-Museum zu Hagen (ESMH) erscheint mithin folgerichtig. Doch wie verschieden waren die beiden!

Nun gut, sie malten abstrakt und gestisch, ihre Werke setzen jeweils ungeahnte Energien frei. Doch der 1912 geborene Schumacher musste sich zunächst mühsam von Vorkriegs-Einflüssen befreien, während der über zehn Jahre jüngere Sonderborg sich gegen Ende der 1940er Jahre gleich aufs Abenteuer der Abstraktion einlassen konnte.

Der Unterschied zeigte sich auch im malerischen Duktus. Schumachers in die dritte Dimension geschichtete, durchgrabene, zumeist pastose Bilder tragen die Spuren und gleichsam die Wundmale eines unablässigen Ringens mit dem Material. Sonderborgs flächige Darstellungen wirken hingegen weniger erkämpft, sie sind sozusagen „selbstverständlicher“ vorhanden. Was beiderseits noch gar nichts über die Qualität besagen muss.

Überdies hatte Schumacher stets eigene, recht geräumige Ateliers, während Sonderborg ruhelos unterwegs war, vielfach in Hotelzimmern arbeitete und daher schon aus praktischen Gründen kleinere Bildformate vorzog. Auch das ist keine reine Äußerlichkeit, sondern hat Folgen für die Kunstausübung.

Im legendären Chelsea Hotel

Für die jetzige Ausstellung mit dem etwas lauen Allerwelts-Titel „Bilder von Zeit und Raum“ hat ESMH-Leiter Rouven Lotz einige prägnante Arbeiten versammeln können. Somit lassen sich gewisse Grundlinien des Oeuvres ziemlich gut verfolgen. Es ist seit über 15 Jahren die erste umfangreichere Auseinandersetzung mit Sonderborg.

K. R. H. Sonderborg im Jahr 1987 (© Foto: Manfred Hamm)

K. R. H. Sonderborg im Jahr 1987 (© Foto: Manfred Hamm)

Der über längere Zeitstrecken umtriebig in Weltstädten lebende und deren Eigenarten geradezu inhalierende Sonderborg (über Jahre hinweg im Winter New York, im Sommer Paris, später in Chicago) logierte in den 1960ern im legendären New Yorker Chelsea Hotel, das durch viele Pop-Größen wie Bob Dylan, Nico, Leonard Cohen und Janis Joplin berühmt wurde. Sonderborg war dort Nachbar und Freund zweier Heroen der Pop Art, Claes Oldenburg und James Rosenquist. Er selbst hat später nur episodische Ausflüge in Gefilde der Pop Art unternommen, beispielsweise im bleiernen deutschen RAF-Herbst 1977 mit dem hyperrealistischen Bild einer Maschinenpistole, das in Hagen zu sehen ist. Sarkastischer Titel: „Peacemaker“. Doch vermutlich war es Sonderborg sogar hierbei vornehmlich ums Bildliche und nicht so sehr ums Politische zu tun.

Immer freiere Bildauffassung

Ansonsten aber waltet allemal die Abstraktion. Um 1948 kann man noch eine Orientierung an Paul Klee vermuten. Auch bezieht sich ein frühes Bild von 1950 zwar noch deutlich auf Kran- und Stahl-Strukturen im häufig aufgesuchten Hamburger Hafen, doch derlei Lineaturen verselbständigen sich zusehends.

Während anfangs noch Hintergründe als eine Art perspektivischer Halt im Bildgeviert auszumachen sind, lebt sich alsbald die malerische Energie im gänzlich freien Bildraum aus. Kalligraphische Studien und ab 1953 der intensive Kontakt zur Künstlergruppe ZEN (u. a. Rupprecht Geiger, Willi Baumeister) dürften das geistige „Loslassen“ im Sinne der Zen-Philosophie begünstigt und zu jener freieren Bildauffassung beigetragen haben.

K. R. H. Sonderborg: „3. VII. 58, 16.11-17.23 h, 1958. Eitempera auf Fotopapier, auf Leinwand aufgezogen. Sammlung Grässlin, St. Georgen (© Galerie Maulberger, 2019)

K. R. H. Sonderborg: „3. VII. 58, 16.11-17.23 h, 1958. Eitempera auf Fotopapier, auf Leinwand aufgezogen. Sammlung Grässlin, St. Georgen (© Galerie Maulberger, 2019)

Sonderborg (1923-2008) muss in seinen besten Jahren recht lebenshungrig gewesen sein, er mochte nicht viel Zeit verlieren, oft nicht einmal fürs Malen. Nicht selten hat er seinen Arbeiten als Titel lediglich Tagesdaten und Uhrzeiten zwischen Beginn und Vollendung des Malprozesses gegeben, beispielsweise so: „3. VII. 58, 16.11-17.23 h“. Fertig in gerade mal 72 Minuten. Viele andere Künstler tun sich da ungleich schwerer.

Eine bevorzugte Arbeitsweise Sonderborgs war denn auch die Verwendung schnell trocknender Eitempera-Farben auf Fotokarton. Diese Materialien kamen der spontanen gestischen Aktion entgegen, die mitunter ungeheure Energien erzeugte, welche dann auch den Bildern einbeschrieben sind.

Die bleibende Liebe zum Jazz

Die seit jeher gehegte Liebe zum Jazz ging K. R. H. Sonderborg naturgemäß auch in den USA nicht verloren. In New Yorker Jazzkellern erlebte er mitreißende Konzerte von Thelonious Monk oder Charles Mingus. Wenn er malte, liefen häufig Platten von Ornette Coleman, Charly Parker und Miles Davis – „dieser ganze City Sound“, wie er es nannte. In bestimmten Bilderreihen sind Anklänge an Notenschriften und Partituren unverkennbar. Sie werden zu bildnerischen Zeichenfolgen ohne unmittelbaren Realitätsbezug, wenn auch in ungefährer Analogie zu musikalischen Schöpfungen.

Fotovorlage mit abgelegtem Rucksack: Foto vom 11. Dezember 1990, Schloss Solitude, Stuttgart (aus: K. R. H. Sonderborg, Manfred de la Motte/Georg Nothelfer, Berlin 1991)

Fotovorlage mit abgelegtem Rucksack: Foto vom 11. Dezember 1990, Schloss Solitude, Stuttgart (aus: K. R. H. Sonderborg, Manfred de la Motte/Georg Nothelfer, Berlin 1991)

Doch nicht nur Musik hat ihn inspiriert, sondern – siehe schon die Frühzeit mit dem Hamburger Hafenbild – vielfach auch technische Strukturen, zumal mit Energie geladene, so etwa Stromspulen, elektrische Leitungen, Hochspannungsmasten, Wassertürme auf Hochhäusern in New York und Chicago. Eher eine bildräumliche Rarität sind zwischendurch jene dynamisch schwingenden Saloon-Flügeltüren auf einzelnen Bildern. Sie eröffnen eine imaginäre Tiefendimension.

Was aus einem Rucksack wurde

Die vielleicht verblüffendste Malvorlage des mehrfachen Biennale- und documenta-Teilnehmers ist ein Foto, das Sonderborg selbst aufgenommen hat. Es zeigt einen Rucksack, der anscheinend (oder nur scheinbar?) achtlos in einer Fensternische des Stuttgarter Schlosses Solitude abgestellt worden war. Doch man schaue, was daraus auf Büttenpapier geworden ist! Dem Gegenstand ward ungeahntes, geisterhaftes Leben eingehaucht.

Künstlerischer Ertrag des Rucksack-Fotos: K. R. H. Sonderborg, Ohne Titel, Schloss Solitude, 1991, Tusche auf Bütten (© Galerie Geeorg Nothelfer)

Künstlerischer Ertrag des Rucksack-Fotos: K. R. H. Sonderborg, Ohne Titel, Schloss Solitude, 1991, Tusche auf Bütten (© Galerie Georg Nothelfer)

Das malerische Gesamtwerk Sonderborgs, so auch diese Ausstellung, setzt sich im Wesentlichen aus kraftvollen Schwarz- und Weiß-Tönungen zusammen. Allenfalls kommt akzentuierendes Rot hinzu. Das war’s. Ob das in der Summe auch schon mal eintönig werden kann? Berechtigte Frage. In Hagen darf man sich zuallermeist vom Gegenteil überzeugen lassen.

K. R. H. Sonderborg – Bilder von Zeit und Raum. Emil Schumacher Museum,  Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Di-So 12-18 Uhr. Katalog (Kettler Verlag, Dortmund) in der Ausstellung 29,90 Euro, im Buchhandel 34,90 Euro. Tel.: 02331 / 207 31 38. www.esmh.de




Der Zeit voraus in allen Wissenschaften – Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci

Von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv" (um 1490). (Galleria dell'Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Auch so ein berühmtes Bild, von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv“ (um 1490). (Galleria dell’Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Eigentlich muss man das nicht klarstellen, doch sei’s drum: Tayfun Belgin, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, hält also spaßeshalber fest, dass in seinem Haus weder die „Mona Lisa“ noch die „Anna selbdritt“ oder „Das Abendmahl“ zu sehen sind, obwohl die neue Ausstellung doch von Leonardo da Vinci handelt.

Na, sicher: Solche weltberühmten Bilder könnte man nimmermehr ausleihen, auch wenn man weder Mühen noch Kosten scheut. Außerdem ist die Malerei gar nicht Leonardos Hauptbeschäftigung gewesen, heute werden ihm lediglich rund 20 Gemälde zugeschrieben. Den Großteil seiner Zeit auf Erden (1452-1519) hat er mit teilweise visionären Erkundungen und Erfindungen zugebracht, die ihrer Zeit sehr weit voraus waren. Genau damit befasst sich die Schau – anhand von 119 handkolorierten Faksimile-Skizzen und von 25 Modellnachbauten, die recht exakt Leonardos Entwürfen folgen.

Das Ausstellung-Konvolut stammt vom Tübinger „Institut für Kulturaustausch“ (Leitung: Maximilian Letze). Anlass des Hagener Gastspiels der Wanderschau ist der 500. Todestag Leonardos. Der Aufbau der Ausstellung wirkt nur auf den ersten Blick womöglich etwas dröge. Sobald man sich aufs Thema einlässt, entsteht ein Sog.

Nach einer Leonardo-Skizze von 1495 gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Nach einer Leonardo-Skizze gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Der 1485 skizzierte Fallschirm funktioniert tatsächlich

Und siehe da: Die allermeisten Ideen des Universalgenies funktionieren tatsächlich, sie sind staunenswert ausführbar; so etwa auch ein Fallschirm, der einen sicher zu Erde bringt. Der Fallschirmspringer Adrian Nicholas hat es anno 2000 am eigenen Leibe ausprobiert, die Ideenskizze stammt von 1485!

Leonardo hat sich seinerzeit auch Gedanken über einen Hubschrauber-Vorläufer und eine Art Flugdrachen gemacht. Wahrlich, das waren Gedankenflüge sondergleichen, wenn auch die beiden zuletzt genannten Apparaturen sich zu Leonardos Zeit noch nicht dauerhaft in die Lüfte erhoben haben. Immerhin wandelte das Genie auch hierbei auf den richtigen Wegen. Unter anderem hatte Leonardo dafür intensive Studien zum Vogelflug absolviert. Pendant im anderen Element: Bevor er sich mit Schiffen befasste, widmete er sich genauesten Untersuchungen zur Wasserströmung.

Hin und her zwischen vielen Projekten

Die Ausstellung ist zwar thematisch recht säuberlich gegliedert, doch das täuscht über die wohl ziemlich chaotische, demiurgische Arbeitsweise Leonardos hinweg, der stets an einigen Projekten zugleich arbeitete, gar vieles ergriff und zwischendurch manches beiseite legte. Es ist ja überhaupt kaum zu glauben, über welche verschiedenen Gegenstände Leonardo da Vinci fundiert nachgedacht und dabei immer wieder geistiges und technisches Neuland entdeckt hat. In der Anatomie machte er ebenso bahnbrechende Fortschritte wie im Schiffs-, Brücken- und Kanalbau. Eine weit geschwungene Brücke, die im heutigen Istanbul von Europa nach Asien führen sollte, ist freilich nie gebaut worden, sie erschien dem Sultan gar zu visionär und wohl auch zu kostspielig. Sie war übrigens so konstruiert, dass sie Erdbeben überstanden hätte.

Leonardo zeichnete sich zudem als ebenso ebenso kühner wie umsichtiger Stadtplaner aus, u. a. für Mailand, wo er ein Kanalsystem ersonnen hat, das die gar zu eng gebaute Metropole hätte entlasten sollen. Auch Müllabfuhr und Gesundheitsvorsorge gehörten zum weitsichtigen Planungsumfang. Doch er kam mit seinen vielfältigen Ideen nicht zum Zuge.

Auch die Arterien-Verkalkung entdeckt

Müßig zu erwähnen, dass Leonardo auch als Architekt und Ingenieur Maßstäbe setzte. Die damals noch nicht so exakte Zeitmessung (mit Sonnen- und Sanduhren) reizte Leonardo zur Konstruktion ausgefeilter Uhrmechanik. Sein geradezu besessener, offenbar nie ermüdender Wissensdurst trieb ihn auch zu anatomischen Studien, die etwa zur ersten Entdeckung der Arterien-Verkalkung führten, also auch die Medizin voranbrachten. Seine Zeichnungen vom menschlichen Körper und dessen Innenleben sind von bis dahin unerreichter Präzision. Gruselige Kehrseite: Er sezierte dafür gelegentlich auch die Leichen vormaliger Strafgefangener.

Modellnachbau eines „Automobils" mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Modellnachbau eines „Automobils“ mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Für Leonardo bestand kein grundlegender Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, eins geht ersichtlich ins andere über. Erfindungen werden nicht zuletzt in ästhetischer Weise erwogen, geglückte Funktion erfüllt sich sozusagen auch im Anblick. Wenn er etwas Vorgefundenes aus der Natur zergliederte, diente dies auch der Verbesserung im Malerischen.

Ebenfalls keinen prinzipiellen Unterschied sah Leonardo zwischen Mensch und Maschine. Aufs „Funktionieren“ kam es beiderseits an. Wer weiß: Mit solchen Gedanken stünde er heute vielleicht an der Spitze einer Bewegung, die mit Nachdruck Künstliche Intelligenz erforscht und Mensch-Maschinen-Konstrukte in allerlei Abstufungen für denkbar oder gar für wünschenswert hält.

Eine Frühlingsgöttin auf dem „Automobil“

Die Modelle aus Holz und Metall, die auf der Basis von Leonardos Skizzen entstanden sind, kann man zum Teil selbst erproben, beispielsweise auch den Nachbau eines frühen „Automobils“, dessen Original sich per Federspannung (gespeicherte Kraft) immerhin rund 30 Meter weit selbsttätig fortbewegen konnte. Mit großem Pomp hatte das von den Medici in Auftrag gegebene Fahrzeug seine öffentliche Premiere, spektakulär beladen mit einer „Frühlingsgöttin“. Jammerschade, dass es davon keine Filmaufzeichnung gibt. Die entsprechende Erfindung (oder wenigstens Vorarbeiten dazu) hätte man Leonardo beinahe auch noch zutrauen dürfen. Nun gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Generell nahmen übrigens die Zeitgenossen manche seiner Erfindungen nicht ernst, weil sie die Tragweite nicht erkannt haben.

Je elf Läufe in drei Lagen: Modell eines Orgelgeschützes nach einer Skizze (1482) Leonardo da Vincis. (Foto: Bernd Berke)

Ein zwiespältiges Kapitel sind Leonardos Forschungen für militärische Zwecke. Obwohl im Herzen wohl eher Pazifist, erfand er beispielsweise martialische Belagerungsmaschinen oder einen fürchterlichen Sichelwagen, der durch die Reihen feindlicher Kämpfer rasen und sie massenhaft niedermähen sollte wie Gras oder Getreide. Allerdings hätten sich auch die Zugpferde schwer verletzt.

Furchtbar raffinierte Militärtechnik

Ein schon neuzeitlich anmutendes Orgelgeschütz konnte aus vielen Rohren zugleich feuern, die Geschützbatterien sollten sich durch Drehung rasch auswechseln lassen. Sogar ein trutziger Panzer, ebenfalls rundum mit Geschützen ausgestattet, zählte zu Leonardos Ideen-Arsenal. Derlei Kriegsgerätschaften beeindruckten so manchen italienischen Fürsten, der in jenen unruhigen Zeiten im Hader mit anderen lag. Auf lukrative fürstliche Aufträge war Leonardo angewiesen.

Die Skizzen sind oftmals dermaßen kleinteilig ausgeführt, dass man als Laie zumindest sehr lange hinschauen muss, um daraus halbwegs schlau zu werden – von der winzigen Beschriftung ganz zu schweigen. Verständnishilfe gibt’s an sechs Multimedia-Stationen, wo man mit mehr als 8000 Bildern etliche Einzelheiten über Leonardo und seine Zeit aufrufen kann. Mit einem allzu kurzen Aufenthalt im Museum sollte es also nicht getan sein. Erst recht nicht, wenn man am Schluss noch ein paar heutige Patente aus Hagen und Südwestfalen in Augenschein nehmen will. Erfindergeist regt sich noch, wenn auch nicht mehr im Sinne von Originalgenies.

Im Verlauf des Rundgang fragt man sich, woran ein Leonardo wohl heute arbeiten würde. Ob er sich mit Klimafragen beschäftigen würde? Oder mit etwas ganz anderem, was uns Heutigen noch gar nicht in den Horizont gerückt ist? Genügend Nahrung für Phantasie.

Leonardo da Vinci – Erfinder und Wissenschaftler. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 15. September 2019 bis 12. Januar 2020, geöffnet Di-So 12-18 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Katalogbuch erhältlich. Tel.: 02331 / 207 3138. www.osthausmuseum.de

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Direkt nebenan, im selben Kunstquartier, zeigt das Emil Schumacher Museum vom 15. September 2019 bis zum 9. Februar 2020 eine Sonderausstellung mit abstrakten Bildern von K. R. H. Sonderborg. Darauf werden wir in den nächsten Tagen zurückkommen. Infos: www.esmh.de

 

 

 




„All the good“: Das Lebensbild von Jan Lauwers als theatrale Kopfreise bei der Ruhrtriennale

Foto: Maarten Vanden Abeele

Szene aus „All the good“ (Foto: Maarten Vanden Abeele)

„,All the good‘ ist eine Chronik von Verlust und Hoffnung“, so sagt es die Ankündigung dieses Ruhrtriennale-Abends in der Maschinenhalle in Gladbeck-Zweckel, einem abgelegenen und dadurch anziehenden Ort für große Bühnenversuche.

Wir sehen das Resümee des Theaterkünstlers Jan Lauwers, der seine Needcompany samt Familie auf die Reise schickt, das bilderreiche Leben auf Teufel komm raus abzubilden und in eine theatrale Form zu bringen. Hier wird mit der Kunst gerungen.

„All the good“ ist eine internationale Koproduktion, an der sich u.a. das Zürcher Theater Spektakel, das Teatro Central de Sevilla, das Kaaitheater in Brüssel, das Toneelhuis Antwerpen und zahlreiche andere beteiligt haben.

Draußen zeugt schon der imposante Tieflader der Needcompany von Größe und Wichtigkeit. Jan Lauwers war und ist einer der Stars des „Freien Theaters“ seit Jahrzehnten, ein eigenwilliger Kreateur, der macht, was ihm in den Sinn kommt – und das ist in diesem Fall ziemlich viel. Manches erinnert an die Hochzeit des belgischen Theaters in Europa und weltweit, Ende der 90er, Anfang der 2000er.

Das Ensemble vereinigt Künstler verschiedener Genres. Die Musik spielt eine große Rolle und ist herausragend zu nennen. Der Cellist Simon Lenski ist maßgeblich verantwortlich. Die Musik insgesamt stammt von Maarten Seghers, der ebenso – wie alle anderen – als Performer in dieser „Familientragödie“ zur Geltung kommt.

Jan Lauwers (Foto: Maarten Vanden Abeele)

Jan Lauwers (Foto: Maarten Vanden Abeele)

Das Auge hat in den zwei Stunden viel zu tun. Versatzstücke werden verschoben und unterschiedlich eingesetzt. Im Mittelpunkt steht eine Skulptur aus Glasbeuteln, die (und hier wieder die Kunstproblematik „Ist das Kunst oder kann das weg?“) auch wie ein umgekippter Weihnachtsbaum anmutet. Darüber verzweifelt der Künstler Benoît Gob, der hier den Künstler Jan Lauwers spielt.

Allein Gobs Stimme ist den Besuch dieser Aufführung wert, die an manchen Stellen drastisch auf die nackte Pauke haut, indem eine gespielte Vergewaltigung gespielt wird, die Vagina per Minikamera untersucht wird und so dem einen oder anderen Zuschauer übel aufgestoßen ist. Einige verließen den Saal, ungeübte Zuschauer, denn diese Etüden des freien Theaters sind aufgewärmt. Aber man verweist eben auch auf Marina Abramovic, sowie es auch sonst allerlei Verweise gibt.

Besondere Szenen sind die, wo die Musik in eine gemeinsame Choreografie hineinführt, die der Tänzer Elik Niv prägt, der ebenfalls mit großen Namen bereits kooperierte wie Susanne Linke, Sascha Waltz oder Constanza Macras. Seine Biografie erstaunlich und ist auch Jan Lauwers einen Mittelpunkt seiner Inszenierung wert. Er war israelischer Elitesoldat und Kriegsveteran, bevor er eine Karriere als Tänzer startete.

Es ist eine zwiespältige Produktion, die manche ratlos macht, andere über die kreative Kraft der Macher zum Staunen bringt. Aber so ist das im freien Spiel der freien Kräfte, die dann aber doch etwas zu eitel daherkommen.

Weitere Aufführungen am 6. Und 7. September in der Maschinenhalle in Gladbeck-Zweckel. Infos hier




Ein kleines Weltwunder aus Westfalen: der in den Baum eingewachsene Roller

Da steckt der alte Roller in der Rinde... (Fotos: Bernd Berke)

Da steckt der alte Roller in der Rinde… (Fotos: Bernd Berke)

Das Schuljahr ist seit ein paar Tagen vorüber, die Sommerferien haben nun auch in Nordrhein-Westfalen begonnen. Die Theater sind ferienhalber dicht, die Museen zeigen erst einmal nichts Neues. Ergo tut sich das von allen Medien (und deren Konsumenten) gefürchtete „Sommerloch“ auf.

Mit anderen Worten: Die „Sauregurkenzeit“ bricht an – und man ist dankbar für jeden Sack, der in Peking oder sonstwo umfällt, enthalte er nun Reis oder anderes Zeug.

Was macht man da? Oder noch kürzer: „Was tun?“, wie schon Lenin fragte. Man grabbelt beispielsweise in der Bilderkiste. Und siehe da: Sensationelles kommt ans Licht. Ein neuntes Weltwunder aus Westfalen – oder so ähnlich.

„Hinter eines Baumes Rinde…“

„Hinter eines Baumes Rinde / wohnt die Made mit dem Kinde…“ So hob einst das vielleicht bekannteste Gedicht des unvergessenen Heinz Erhardt an. Wir wissen nicht, ob hinter unseres Baumes Rinde auch eine Madenfamilie wohnt und Tragisches erlebt, wir wissen aber: Hier ist ein veritabler alter Roller eingewachsen.

Weiß der Himmel, wie das zugegangen ist. Ob jemand ihn dorthin gehievt und sodann lange, lange gestützt hat, bis sich die Rinde drumherum gelegt hat und allmählich über dem Metallrohr zusammengewachsen ist? Egal.

...und noch eine Ansicht des wundersamen Wuchses.

…und noch eine Ansicht des wundersamen Wuchses.

Es muss, zieht man das altertümliche Rollermodell in Erwägung, wohl schon etwas länger her sein, dass dies geschah. Vielleicht in den 1960er Jahren? Mag sein. Vielleicht hat aber auch jemand viel später den längst ausgedienten Roller genommen und dem naturnahen Experiment ausgesetzt.

Der Baum jedenfalls, der übrigens auf Dortmunder Boden wurzelt, vereinnahmt geradezu liebevoll das Utensil aus hoffentlich glücklich gewesenen Kindertagen.

Das Arrangement, so will es scheinen, darf wohl als kleines Kunstwerk gelten. Es kündet nicht nur von zuwartender Geduld, sondern auch von traulicher Verschwisterung zwischen Fabrikation und Natur.




Zum 80. Geburtstag des Aktionskünstlers HA Schult: Kurze Erinnerung an einen Auftritt in Dortmund

Waren nach und nach in aller Welt zu sehen: „Trash People" (Müllmenschen) – hier im April 2006 vor dem Kölner Dom. (Foto: Wikimedia Commons / Leonce 49 - Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en)

Waren nach und nach in aller Welt zu sehen: HA Schults „Trash People“ (Müllmenschen) – hier im April 2006 vor dem Kölner Dom. (Foto: Wikimedia Commons / Leonce 49 – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en)

Du meine Güte, heute wird HA Schult auch schon 80 Jahre alt! Der Mann also, der recht frühzeitig, in den 1970er Jahren, Vermüllung und Ökologie zum plakativen Thema seiner Aktions- und Installationskunst machte. Offen gesprochen: Gemeinsam mit seiner Gefährtin Elke Koska, die früher stets „Muse“ genannt wurde (heute müsste man da wohl etwas umsichtiger sein), konnte Schult einem – dies- und jenseits seiner Kunstanstrengungen – ganz schön auf die Nerven gehen. Sollte es doch mehr Aktion als Kunst sein, die er betrieben hat?

Heute mal egal. Sein Geburtstag ist Anlass genug für eine kurze, willkürlich herausgegriffene Erinnerung an einen allerdings typischen Auftritt, den er vor rund 23 Jahren gemeinsam mit Elke Koska in Dortmund hatte. Der Text erschien am 6.7.1996 in der Westfälischen Rundschau:

Von Bernd Berke

Dortmund. Da eilte selbst Oberbürgermeister Günter Samtlebe herbei und hielt eine launige Ansprache. Denn nicht alle Tage gibt sich ein so prominenter Aktionskünstler wie HA Schult in Dortmund die Ehre. Mitten in die Empfangshalle des Hauptbahnhofs hat Schult ein Marmor-Auto postiert.

An diesem Kunstwerk werden bis zum 4. August wohl einige Millionen Menschen vorübergehen, denn täglich sind’s im Schnitt rund 120 000, die durch den Bahnhof hasten. Das meiste Aufsehen erregte gestern Schults schrille Muse Elke Koska, die übrigens aus Dortmund stammt und hier das Mallinckrodt-Gymnasium besucht hat. Sinnierte Günter Samtlebe: „Da kann man mal sehen, was aus den Leuten so wird.“

HA Schult 2018 vor seiner „Wall of Freedom" in der Ratingr Straße in Düsseldorf. (Foto: Wikimedia Commons / StagiaireMGIMO - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

HA Schult 2018 vor seiner „Wall of Freedom“ in der Ratinger Straße in Düsseldorf. (Foto: Wikimedia Commons / StagiaireMGIMO – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Das gar nicht aus Marmor bestehende, sondern marmorierend bemalte Fahrzeug (besser: „Steh-Zeug“) prangte 1994 als Symbol des politischen Zeitenwandels auf einem Sockel vor dem Marmorpalast in St. Petersburg, wo es einen Panzerwagen Lenins ersetzte. Seither hat das gute Stück eine Tournee durch acht deutsche Städte hinter sich. Nun aber spricht Schult, dem Regionalstolz schmeichelnd: „Das waren nur Fingerübungen, um es endlich in Dortmund zeigen zu können.“

Auch für Nutten und Penner

Warum der Bahnhof? Schult: „Weil hier so viele Leute sind, und weil hier auch Nutten oder Penner meine Kunst sehen können.“ Und die Finanzen? Schult läßt sponsern. Denn sein Auto ist nicht irgendeins, sondern ein Mittelklassemodell aus Kölner Fabrikation, welche mit dem Spruch „Die tun was“ beworben wird. Man muß sie nicht nennen, man kann getrost fortfahren…

Nein, man habe sich mit dem Auto keine Konkurrenz ins Haus geholt, meinte gestern Ernst Liedschulte von der Deutschen Bahn AG. Man begreife das Automobil als sinnvolle „Ergänzung“ zur Schiene. Und Dortmunds Oberbürgermeister Günter Samtlebe befand launig, mit HA Schult und Elke Koska habe man sich ein „Power-Paar“ in die Stadt geholt. Ökologisch korrekt, empfahl er Schult jedoch, bald ein Marmor-Fahrrad herzustellen.

Derweil bildete sich beim Eröffnungs-Zeremoniell eine neugierige Menschenmenge, angelockt auch vom gewohnt schrillen Erscheinungsbild Elke Koskas. Die erschien mit einem großen schwarzen Hund und trug statt eines Handtäschchens einen kleinen Silberkessel. Todschick. Mancher Urlauber machte hier gleich beim Reisestart sein erstes Erinnerungsfoto, und auf die Erläuterungstafel zu „Marmorne Zeit“ (Werktitel) hatte schon einer gekritzelt: „Schult, laß dich nicht unterkriegen, deine Kunst ist klasse“.

Stimmt das? Mal ehrlich: Mag das Auto in St. Petersburg noch von historischer Aura profitiert haben, so wirkt es in Dortmund relativ schlicht. Erst wenn Schult und seine Elke live dazu auftreten, wird s spektakulär. Sie selbst sind das Kunstwerk.




Kinder für Kultur gewinnen, Digitalisierung voranbringen – Neues Konzept beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger führt einen digitalen ZUgang zum archäologischen Fund (Gebeine einer 5300 bis 4500 v. Chr. gestorbenen Bäuerin) vor: Auf dem Tablet-Bildschirm sieht man, wie sich die Bäuerin die Gelenke ruiniert hat. (Foto: Bernd Berke)

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger führt einen virtuellen Zugang zum archäologischen Fund (Gebeine einer 5300 bis 4500 v. Chr. gestorbenen Frau) vor: Auf dem Tablet-Bildschirm sieht man, wie sich die Bäuerin ihre Gelenke ruiniert hat. (Foto: Bernd Berke)

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) will die Kultureinrichtungen seines weitläufigen Einzugsgebiets mit einem neuen Langzeit-Konzept unterfüttern, das im fertigen Druck rund 150 illustrierte Seiten umfassen wird. Zeitliche Zukunftsperspektive der Planung: die nächsten zehn Jahre. Eine Zwischenbilanz ist nach fünf Jahren vorgesehen. Und was steht drin im Konzept?

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger schickt voraus, dass es nicht um strikte Richtungsangaben gehe: „Wir verstehen das Konzept als Kompass und nicht als starren Fahrplan.“ Sie hat die wesentlichen Grundzüge heute im Herner Archäologiemuseum vorgestellt – ein Haus, das sie vormals selbst geleitet hat und das jetzt eine gewisse Vorreiterrolle auf dem Parcours der Reformen einnimmt.

Zwei von insgesamt zehn Punkten gelten als besonders wichtig: Wie gewinnt man Kinder und Jugendliche für Museen und sonstige Kultur, wie hält man sie bei der Sache? Und natürlich läuft auch hier, wie allerwärts, eine weitere Leitlinie auf „Digitalisierung“ hinaus. Auf diesem Felde will man zahlreichen kleineren Museen, die über wenig Mittel verfügen, beratend zur Seite stehen. Rüschoff-Parzinger: „Wenn die Schulen digitalisiert werden, müssen auch die Museen mitmachen. Sonst versteht man sich nicht mehr.“ Kinder und Digitalisierung also. Klingt zunächst noch nicht so furchtbar originell.

Fragebogen-Aktion in rund 1200 Schulen der Region

Doch zunächst zum Nachwuchs. Der LWL hat Fragebögen an alle westfälischen Schulen (rund 1200 an der Zahl) verschickt. Rund 1600 Bögen kamen zurück, weil nicht nur ganze Schulen, sondern auch einzelne Klassen teilgenommen haben. Es wurden so grundlegende Fragen gestellt wie die, was nach Auffassung der Schüler(innen) eigentlich mit Kultur zusammenhängt. Hier ragten – kein Witz – Reiz- und Schlüsselwörter wie Schloss (15,3% der Nennungen) und sogar Blaskapelle hervor. Nicht ganz leicht, daran sinnreich anzuknüpfen. Aber es gibt ja auch noch etliche andere Zugänge, die stets „auf Augenhöhe“ mit den Kindern eröffnet werden sollen.

Der genauerer Blick auf die virtuelle Szene mit der Bäuerin vermittelt einen Eindruck von der mühsamen steinzeitlichen Art des Getreidemahlens. (Foto: Puppeteers / Sebastian Heger)

Der genauere Blick auf die virtuelle Szene mit der Bäuerin vermittelt einen Eindruck von der steinzeitlichen Art des Getreidemahlens. (Foto: Puppeteers / Sebastian Heger)

90 Prozent aller Befragten hatten laut LWL-Umfrage schon mal ein Museum besucht, die allermeisten mit der Schulklasse, viele auch mit der Familie, wobei sich hier schichten- und schulformenspezifische Unterschiede abzeichnen. Kinder und Jugendliche wünschen sich weit überwiegend andere, zeitgemäßere Darbietungsformen in den Museen – weniger klassische Führungen und mehr kreative Aktionen, eigene Erfahrungen inbegriffen, etwa beim Herstellen einschlägiger Objekte. Auch sollen die vermittelten Inhalte möglichst mit dem eigenen Leben zu tun haben – und sei’s auf indirekte, aber nachvollziehbare Weise. Dass hier auch digitale Annäherungen ins Spiel kommen, versteht sich beinahe von selbst.

Eintritt frei, Anfahrt kostenlos

Seit 1. April lief die Versuchsphase, in der Kinder und Jugendliche in den 18 LWL-Museen keinen Eintritt mehr bezahlen mussten. Die Besucherzahlen mancher Häuser haben sich seither so rasant nach oben entwickelt, dass die Vergünstigung jetzt dauerhaft sein soll. Manche NRW-Städte haben es ja bereits in ähnlicher Weise vorgemacht. Kaum minder wirksam: Nach unbürokratischem Antrag (Formular auf der LWL-Internetseite) wird eine Klassen-Anfahrt zum gewünschten Museum vom LWL bezahlt – auch schon mal über mittlere Strecken wie von Detmold nach Herne. 300.000 Euro stehen für solche Bustouren vorerst bereit.

Doch der Verzicht auf Eintrittsgeld und die subventionierten Anfahrten genügen nicht. Die Museen müssen halt Attraktionen bieten. Inhalte und Formen der Darstellung sollen zur Zielgruppe passen, Spaß machen, spannend sein.

Original-Exponat plus virtuelle Darstellung

Und die Digitalisierung der Museumslandschaft? Nun, wohin die Reise in den nächsten zehn Jahren geht, kann eigentlich noch niemand genau wissen, denn die Technik entwickelt sich bekanntlich rasend schnell.

Einstweilen steuert man auf Installationen zu, die im Herner Archäologiemuseum auch schon an mehreren Stationen zu besichtigen sind: Ein Original-Vitrinenstück, beispielsweise ein Faustkeil, wird geradezu „geisterhaft“ holographisch ergänzt. Da sieht man im bewegten virtuellen Bild, wie das Stück in der Steinzeit verwendet worden ist. Auch eine in der Vitrine schwebende Textprojektion gehört dazu. Fraglich bleibt, ob und wie rasch sich solche Effekte abnutzen.

Frappierend auch die Möglichkeit, mit dem eigenen Smartphone oder Tablet ein Museums-Exponat wie jene Gebeine einer vor etwa 7000 Jahren gestorbenen Bäuerin anzusteuern und mit einer virtuellen Erscheinung („Augmented Reality“) auf- oder jedenfalls umzuwerten. Da sieht man, mit welchen Dauerbewegungen beim Getreidemahlen sich die Frau damals ihre Gelenke ruiniert hat. Solche technischen Zaubereien in allen Ehren. Ohne die Aura des Originals wären sie jedoch wenig wert.

Aufwertung des ländlichen Raumes

Unterdessen wird auch schon darüber nachgedacht, ob künftige Ausstellungen als virtueller Rundgang gespeichert werden sollen, sprich: Man könnte eine Schau, die längst geschlossen ist, noch Jahre später durchstreifen, beispielsweise auch zu Hause, mit einer Spezialbrille für Virtual Reality (VR) ausgestattet. Man ahnt schon, dass im Zuge einer solchen Entwicklung kiloschwere gedruckte Kataloge an Bedeutung einbüßen könnten.

Weitere gewichtige Zielvorstellung, die im Konzept dargelegt wird: die Stärkung des ländlichen Raumes auch auf kulturellem Gebiet. Außerdem in Planung: der Ausbau der Burg Hülshoff zum (anglo-neudeutsch so benannten) „Center for Literature“ (CfL) sowie die Stärkung von historischen „Erinnerungsorten“ wie dem Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in Schloß Holte-Stukenbrock (Kreis Gütersloh).

Politisch schon beschlossene Sache

All dies und ein maßvoll erweiterter Stellenplan sind Kostenfaktoren. Doch es handelt sich beim Konzept nicht um Traumgespinste, sondern um regionalpolitisch bereits einmütig beschlossene Maßnahmen. Barbara Rüschoff-Parzinger erwähnt in diesem Kontext eigens den Dortmunder Stadtdirektor Jörg Stüdemann, der Kulturdezernt und Kämmerer in Personalunion ist und vom neuen LWL-Konzept angetan sei. Und tatsächlich: Stüdemann dürfte qua Doppelamt nicht nur wissen, zu welchem Zweck man Kultur finanziert, sondern auch: woher das Geld kommen könnte.

Wie im gegenwärtigen Kulturmanagement üblich, ist in derlei konzeptuellen Zusammenhängen immer wieder von Bedarfen (in der Mehrzahl), Evaluierung, Vernetzung, Akteuren oder gar „Stakeholdern“ der Kultur die Rede. Man merkt allenthalben, dass Frau Rüschoff-Parzinger, der dieser Jargon nicht fremd ist, die Dinge systematisch und strategisch angeht. Dennoch betont sie, dass manches auch dem Geschick überlassen bleibt, dass wohl nicht alle Experimente gelingen werden. Auch hier gelten eben Bert Brechts legendäre Songzeilen: „Ja, mach nur einen Plan…“




Jonathan Meese mit „Lolita“ – und manches mehr: Theater Dortmund stellt sein Programm für die nächste Spielzeit vor

Die Optik betont die Unterschiede. Hier die neuen Programmhefte von Philharmonikern, Schauspiel und Ballett (Foto: Pfeiffer)

Was hat Jonathan Meese mit Dortmund zu tun? Nun, bisher eigentlich nichts. Allerdings hätte sich das in diesem Jahr ja ändern sollen, weil Edwin Jacobs – noch, aber nicht mehr lange Chef des „Dortmunder U“ – den Künstler eingeladen hatte, die Sammlung nach seinem Geschmack neu zu hängen. Daraus wird jedoch nichts.

 

Den Meese soll es aber auf jeden Fall geben, wenn auch im Theater und erst im nächsten Jahr. Für den 15. Februar 2020 plant das Schauspiel die Uraufführung des Stücks „Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer Selbst!“ aus der Feder des nämlichen Artisten. Man ahnt: Das wird konzeptionell. Erste Absichts-Erklärungen waren jetzt im Theater zu hören, bei der Spielplanpräsentation für 2019/2020, im Programmheft kann man sie nachlesen. Wie immer es auch werden mag – Meeses (erhoffter) Auftritt ist fraglos ein Höhepunkt im ansonsten nicht unbedingt prickelnden neuen Programm.

Wolfgang Wendland kommt wieder. Hier ist er noch in „Häuptling Abendwind“ zu sehen, in der neuen Spielzeit erleben wir ihn und seine Kapelle „Die Kassierer“ in der Punk-Operette „Die Kassierer und Die Drei von der Punkstelle“. Das kann ja heiter werden. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Voges hält Rückschau

Schauspielchef Kay Voges verabschiedet sich mit „PLAY / Abriss einer Reise“ von Dortmund, einer Produktion, in der Rückschau gehalten wird auf fast 10 Jahre Theaterarbeit in dieser Stadt. Uraufführung soll am 11. Oktober sein, und ganz unsentimental wird es dabei wohl nicht abgehen, denn das Ende einer Intendanz bedeutet fast immer auch das Ende für das Ensemble. Mit Spannung sehen wir den Plänen von Julia Wissert entgegen, die Voges’ Nachfolge antreten wird, besonders in Hinblick auf das Bühnenpersonal.

Neuer Schimmelpfennig

Dostojewskis „Dämonen“ kommen auf den Spielplan, ebenso „Hexenjagd“ von Arthur Miller und ein neues Stück von Roland Schimmelpfennig. „Das Reich der Tiere“ erzählt von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern, die in einer mäßig erfolgreichen Tier-Show auftreten und sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Eine „Komödie mit Live-Musik“, die hervorragend in die Dortmunder Wechselsituation paßt.

Beethoven zum 250. Geburtstag

Die zehn Konzerte der Philharmoniker sind in dieser Spielzeit Weltstädten gewidmet, beginnend mit New York und endend mit (na?) Dortmund und Belgrad. Gegeben wird am 28. Juni 2020 der „Beethoven-Marathon 2020“, alle neun Sinfonien an einem einzigen Tag, weil Ludwig van Beethoven 2020 vor 250 Jahren geboren wurde. Um 10 Uhr fangen die Dortmunder Philharmoniker an, um 20 Uhr schließlich wird die neunte Sinfonie angestimmt. Dann arbeiten die Dortmunder mit den Belgrader Philharmonikern, dem Slowakischen Philharmonischen Chor Bratislava und vier Solisten zusammen. Die Ost-Beziehungen haben ihren Grund darin, daß Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz auch Chefdirigent der Belgrader Philharmoniker ist.

Die Optik hat sich stark verändert

Was in den unterschiedlichen Sparten gespielt wird, suche man im Internet (www.theaterdo.de). Es steht aber auch in den gedruckten Programmheften, die es jetzt gibt und die beinahe die größte Überraschung der Präsentation sind. Das Theater Dortmund hat seinen medialen Auftritt grundlegend überarbeitet, was dazu führt, daß es jetzt fünf Programmhefte gibt statt eines einzigen dicken Programmbuchs wie bisher, und daß die Sparten Philharmoniker, Ballett, Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater sich nun in ihrem optischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.

Geschwundene Liebe zum Orange

Mit unterschiedlichen feinen Serifenschriften auf dem Cover und in den Überschriften präsentieren sich Oper, Philharmoniker und Ballett, während die Theaterabteilungen eine fette serifenlose Typographie bevorzugen. Das knallige Orange, lange Jahre „Logo-Farbe“ des Theaters Dortmund, dominiert nur noch das auf orangefarbenes Papier gedruckte Service-Heft. Übrigens ist es eine gute Idee, so all die Service-Angaben (Kartenvorverkauf, Preise, Aboreihen etc.) zu bündeln und in den Programmheften uneingeschränkten Raum für die Kunst zu lassen. Sinnvoll war überdies, die summa sechs Hefte in einen wertig wirkenden weißen Standschuber zu stecken. Vielleicht etwas teuer, sieht aber wirklich gut aus.




Dünen, Wellen, Windmühlen – Ausstellung im „Dortmunder U“ zeigt den niederländischen Aufbruch in die Moderne

Ferdinand Hart Nibbrig: „Auf den Dünen in Zandvoort", 1892 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Ferdinand Hart Nibbrig (1866-1915): „Auf den Dünen in Zandvoort“, 1892 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Da haben die beiden Holländer sicher recht: Die Freuden des Sommers genießen viele Deutsche, zumal aus dem Ruhrgebiet, sehr gerne in ihrem schönen Land, in den Dünen, am Strand und in den gemütlichen kleinen Städten. Diese sicherlich nicht ganz neue Erkenntnis hat Edwin Jacobs, (Noch-) Direktor des Dortmunder Kunst- und Kulturzentrums U, und Jan Rudolph de Lorm, Direktor des Museums Singer in Laren, auf die Idee gebracht, Kunst der Niederländischen Moderne sozusagen nach Urlaubsaspekten für eine Ausstellung auszuwählen. Es entstand „Ein Gefühl von Sommer…“, eine hübsche Bilderschau, die jetzt im Dortmunder U, im Museum Ostwall zu sehen ist.

Anton Mauve (1838-1888): Das neugeborene Lamm, um 1884 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Ein Deal

Nun ja; etwas nüchterner betrachtet verhält es sich wohl so: Die beiden Museen, eben Ostwall in Dortmund und Singer in Laren, zeigen im jeweils anderen Haus das Beste aus dem eigenen Bestand, ein Tauschgeschäft. Rund 70 Werke aus Dortmund sind derzeit in dem holländischen Museum zu sehen, 110 von dort nun hier. Hintergrund ist (auch) die derzeitige Schließung des Ostwall-Museums wegen (mal wieder) erforderlicher Umbauarbeiten, weshalb „Ein Gefühl von Sommer…“ im 6. Stock gezeigt wird, auf der Sonderausstellungsfläche.

Zeitlicher und thematischer Querschnitt

Sie hätten die von Regina Selter kuratierte Schau natürlich auch anders nennen können, denn präsentiert wird ein munterer zeitlicher und thematischer Querschnitt durch die niederländische Malerei der Jahrhundertwende, der man gut 40 Jahre einräumt. In Dortmund sind die Bilder auf 10 Kabinette verteilt, die Landschaften, Portraits, Modernes Leben usw. zum Schwerpunkt haben.

Es gab, erfahren wir, Vereinigungen wie die Bergener Schule oder den Kunstkreis De Ploeg, an Kunstrichtungen ist zwischen Impressionismus und Neuer Sachlichkeit alles vertreten, was zeitgleich auch in Deutschland wirkte. Die Namen der Künstler indes sind wohl nur wenigen Menschen in Deutschland geläufig, Piet Mondrian immerhin ist dabei, der seinerzeit aber noch durchaus verwechselbar arbeitete, oder Kees van Dongen. Doch mag das zu einem nicht geringen Maße an der nationalen Perspektive liegen, aus der heraus nicht nur in Deutschland die „eigenen“ Künstler bevorzugt werden.

Lou Loeber (1894-1983): Mühle, 1922 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Laren und die Künstlerkolonie

Gerade deshalb hat es jedoch seinen Reiz, einmal zu erfahren, wie sich das Kunstgeschehen vor etwa hundert Jahren jenseits der Grenze vollzog, die vielleicht auch damals schon ein bißchen weniger hoch als jene zu anderen Nachbarstaaten war. In Laren, jenem 12000-Seelen-Ort 30 Kilometer östlich von Amsterdam, Standort des Museums Singer Laren, existierte in jener Zeit eine bemerkenswerte Künstlerkolonie. Ihre Blütezeit erlebte sie zwischen den Jahren 1880 und 1920, und bemerkenswert ist zudem, daß sich das Schaffen der Künstlerinnen und Künstler in diesem Zeitraum erheblich modernisierte, sich von traditionellen „holländischen“ Malweisen und Genres zunehmend avantgardistischen Positionen zuwandte.

Gouden Eeuw

A propos holländisch: Denkt man an holländische Malerei, so denkt man an die Kunst des Barock, an das „Gouden Eeuw“, das goldene Zeitalter, das für die Niederlande das 17 Jahrhundert war, als man zu den Weltmächten zählte, international Geschäfte machte, Wohlstand anhäufte und nicht zuletzt die Malerei einen unerhörten Aufschwung erfuhr. Und, die Holländer sind Kaufleute, natürlich auch der Kunsthandel. Holländische Malerei – Landschaften, Stilleben, Seestücke, Portraits usf. – wurde geschäftsmäßig bestellt und geliefert, die Maler jener Zeit, nennen wir als die berühmtesten nur Rembrandt und Rubens, führten Unternehmen mit zahlreichen Angestellten und verdienten klotzig.

Kees van Dongen (1877-1968): Der blaue Hut, 1937 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Fahrräder und Telegraphenmasten

An diese Tradition versuchten die Maler der frühen niederländischen Moderne durchaus anzuknüpfen, und die Nachfrage war, glaubt man den Kuratoren, so gut, daß die kleinen Messingschildchen auf den Bilderrahmen für den Export von vornherein in den Sprachen der Empfängerländer verfaßt wurden. Ähnlich wie 200 Jahre zuvor bestimmen Kühe, Weiden, Wolkenhimmel das Erscheinungsbild, auf den ersten Blick wähnt man sich in einem modernisierten 17. Jahrhundert.

Gewiß, manches hat sich geändert, die engen Harmonievorstellungen der Altvorderen werden erschüttert durch harte oder indifferente Lichtführung, engere Bildausschnitte und erste leise Abstraktionen, durch verfremdende Maltechniken wie beispielsweise den Pointillismus, vor allem aber auch durch gewiß nicht ironiefrei eingefügte Elemente der neuen Zeit, durch Fahrräder, Telegraphenmasten oder gar, Schreck laß nach, durch ein Fußballfeld im Hintergrund. Manche Maler ließen es einfach etwas lockerer angehen, hat man den Eindruck, Gelassenheit galt wahrscheinlich damals schon als holländische Nationaltugend.

Maler aus den USA

So. Was und wo Laren ist und warum es zwischen dem kleinen Nest (pardon) und der Westfalenmetropole Dortmund einen so fruchtbaren Kunstaustausch gibt, müßte jetzt klar sein. Bleibt zu erzählen, wer die Singers sind. Der Amerikaner William Henry Singer jr. und seine Frau Anna Singer-Brugh kamen 1902 nach Laren, sammelten die Kunst ihrer Zeit, zeigten sie in ihrer 1911 errichteten Villa De Wilde Zwanen, die Anna Singer 1956 zu einem Museum machte. Singer war selber Maler, überdies Sproß einer überaus reichen Pittsburger Industriellenfamilie. Die Entscheidung des Sammlerehepaares, nach Laren zu gehen, läßt die Bedeutung erahnen, die der Ort, den die holländische Kunst in jenen Jahren hatte.

Albert Neuhuys (1844-1914): Mädchen mit Blume, um 1910 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Liebermanns Strandurlaub

Übrigens war die niederländische Kunstszene keineswegs nur eine Parallelveranstaltung zur deutschen, man kannte und man schätzte sich. Max Liebermann, dessen Hollandbilder in Deutschland recht bekannt sind, verbrachte samt Familie neun Sommerurlaube an der holländischen Küste und pflegte, das ist belegt, engen Kontakt mit den dortigen Kollegen, Max Beckmann tat dies ebenso.

Erinnerungen an das alte Laren

Eine Besonderheit der Dortmunder Bilderschau sind übrigens wandgroße Schwarzweiß-Reproduktionen alter Fotografien von Laren und Umgebung. Oft stören solche Elemente ja eher, hier aber, in einer ansonsten streng geordneten Präsentation, ist ihre verortende Wirkung sinnvoll und angenehm. Darüber hinaus vermitteln auch sie „Ein Gefühl von Sommer…“, zumal dann, wenn sie in ihrem ersten Leben Urlaubspostkarten waren.

  • „Ein Gefühl von Sommer… – Niederländische Moderne aus der Sammlung Singer Laren“
  • Museum Ostwall im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse
  • Bis 25. August. Geöffnet Di+Mi 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr
  • Eintritt 9 EUR, Katalog 24,95 EUR
  • Tel. 0231 / 50 2 47 23
  • Anmeldungen und Buchungen: www.mo.bildung@stadtdo.de
  • museumostwall.dortmund.de



Chef des „Dortmunder U“: Edwin Jacobs hört schon wieder auf und geht nach Maastricht

Künftig Akademie-Leiter in Maastricht: Edwin Jacobs verlässt das „Dortmunder U". (Foto: Patrick Temme)

Künftig Akademie-Leiter in Maastricht: Edwin Jacobs verlässt das „Dortmunder U“. (Foto: Patrick Temme)

Welch eine Überraschung! Edwin Jacobs (58), der vor nicht einmal zweieinhalb Jahren mit großen Ambitionen gestartete Direktor des Kulturzentrums „Dortmunder U“ (und somit auch des Museums Ostwall), gibt diesen Posten schon wieder auf. Er wechselt im Herbst auf eigenen Wunsch nach Maastricht.

Vor wenigen Tagen haben wir noch – durch Utrecht flanierend – im privaten Kreis eher scherzhaft gegrübelt, warum Jacobs seinerzeit wohl diese herrlich pittoreske Stadt gegen das zu weiten Teilen recht ernüchternde Dortmund eingetauscht hat. Jetzt haben sich solche müßigen Grübeleien erübrigt.

Den Niederländer Edwin Jacobs, im Januar 2017 just vom Centraal Museum in Utrecht nach Dortmund gekommen, zieht es beruflich in sein Heimatland zurück, und zwar nicht etwa als Museums-Chef, sondern als Leiter der Kunstakademien in Maastricht. Dort tritt er bereits im September 2019 an. Die Kunstakademien Maastricht sind Teil der Zuyd University of Applied Sciences  – mit Studiengängen u. a. in Bildender Kunst, Design, Architektur und Multimedia-Design.

„Eine sehr persönliche Entscheidung“

Jacobs beginnt also eine akademische Karriere. Eine Pressemeldung der Stadt Dortmund zitiert ihn so: „Es ist eine sehr persönliche Entscheidung. Ich habe das Gefühl, in Museen nun alles erreicht zu haben. Als Leiter einer Kunsthochschule habe ich die großartige Chance, meine Erfahrungen und mein Wissen weitergeben zu können – das ist ein Geschenk.“ In Dortmund, so Jacobs demnach weiter, habe er sich sehr wohl gefühlt, er bleibe dem „U“ und der Stadt weiter verbunden. Was man halt als netter Mensch so zum Abschied sagt.

Defizit mit spektakulärer Schau über „Pink Floyd“

Edwin Jacobs hatte internationales Aufsehen erregt, als er (nach Stationen in London und Rom) die spektakuläre „Pink Floyd Exhibition“ nach Dortmund holte. Doch die groß angekündigte und beworbene Schau lockte deutlich weniger Besucher an als angepeilt. Bis heute liegen dazu offiziell immer noch keine konkreten Zahlen vor. Klar ist aber, dass dabei auch ein nicht unerhebliches finanzielles Defizit entstanden ist. Man mag nun spekulieren, ob Jacobs‘ Rückzug auch damit zu tun hat.

„Gefühl von Sommer“ und Umbau der Sammlung

In wenigen Tag wird Jacobs noch eine weitere Ausstellung präsentieren, die unter seiner Leitung entstanden ist. Unter dem Titel „Ein Gefühl von Sommer…“ wird das Museum Ostwall ab 11. Mai Bilder der niederländischen Moderne aus der Sammlung Singer Laren zeigen. Im Gegenzug sind 70 expressionistische Werke aus der Dortmunder Sammlung im Museum Singer Laren zu sehen. Der Austausch trägt ersichtlich die Handschrift von Jacobs.

Außerdem hat Edwin Jacobs eine grundlegende Neuordnung der Dortmunder Ostwall-Sammlung angestoßen, die gegen Ende dieses Jahres zu besichtigen sein soll – ein durchaus auf Langzeitwirkung angelegtes Projekt. Inwieweit von der Dortmunder Personalie die Zusammenarbeit mit dem künstlerischen Enfant terrible Jonathan Meese berührt ist, wird sich weisen müssen.

Als Interims-Leiter des „U“ wird Stefan Mühlhofer fungieren, der Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe. Und schon wird die Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin eingeleitet. Dazu wird eine Findungskommission gebildet, der man nur Fortune wünschen kann, damit das „U“ nicht abermals für längere Zeit ohne adäquate Leitung bleibt. Das Haus mit den imponierenden Dimensionen braucht eine Perspektive.

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Nachtrag in Sachen „Pink Floyd“ am 10. Mai 2019:

Wie die Ruhrnachrichten heute berichten, hat das lange Schweigen über Besucherzahlen und Einnahmeverluste offenbar Vertragsgründe der geradezu grotesken Art. Demnach durfte die Stadt Dortmund nichts Näheres dazu verraten, weil sie sich auf einen komplizierten Vertrag mit dem New Yorker Unternehmen CPI eingelassen hatte, das die „Pink Floyd“-Ausstellung weltweit vermarktet. Hätte man die Zahlen ohne Genehmigung von CPI verkündet, so Dortmunds Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann laut Ruhrnachrichten, dann wäre eine Vertragsstrafe von 1,2 Millionen Euro fällig gewesen. Die CPI-Anwälte verstanden in dieser Hinsicht offenbar keinen Spaß.

Auch so sei der finanzielle Verlust schon gehörig. Das Defizit, das die Schau verursacht hat, dürfte laut RN noch weitaus höher liegen, als bisher befürchtet wurde. Demzufolge geht es nicht „nur“ um eine knappe Million Euro, sondern um etwas über zwei Millionen Euro! Rund 60.000 Besucher waren gekommen, mindestens das Doppelte hatte man veranschlagt…

Der Abschied von Edwin Jacobs, so Stüdemann, habe nichts mit diesem Defizit zu tun.




Dortmund im Juni: Kunst, Kultur und Kabarett beim Evangelischen Kirchentag

Wiederkehr zum Kirchentag: Pop Oratorium „Luther", hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015 – mit Frank Winkels (Mitte) in der Titelrolle. des Reformators.

Zum Kirchentag wieder zu erleben: das aufwendige Pop-Oratorium „Luther“ – hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015, mit Frank Winkels (vorn Mitte) in der Titelrolle des Reformators. (© Stiftung Creative Kirche, Witten)

Vier Bundespräsidenten, neben dem amtierenden drei seiner Vorgänger, die Bundeskanzlerin, der NRW-Ministerpräsident, zahlreiche Bundes- und Landesminister, sie alle haben zwischen dem 19. und 23. Juni Termine in Dortmund. Während der fünf Tage ist die Stadt Gastgeber des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags, der mit geballter Polit-Prominenz aufwartet.

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hält einen der Hauptvorträge und befasst sich mit „Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne“, Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht über die Frage „Vertrauen als Grundlage internationaler Politik?“ NRW-Ministerpräsident Armin Laschet findet sich zur Bibelarbeit ein, Bundesaußenminister Maas diskutiert mit Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, wie es sich mit der Verantwortung Deutschlands zum Schutz von Frauen und Kindern verhält – und Arbeitsminister Hubertus Heil erörtert mit Verdi-Chef Frank Bsirske, wie es um den Wert der Arbeit bestellt ist.

Insgesamt 2500 Veranstaltungen

Die Auftritte der Politiker sind Teil eines Programms mit rund 2.500 Veranstaltungen. Täglich werden rund 100.000 Besucher erwartet. Neben Debatten und Podiumsgesprächen gehören Gottesdienste, Workshops und Konzerte ebenso dazu wie Ausstellungen und Installationen. Kulturelle Angebote machen mit rund 600 Veranstaltungen fast ein Viertel des Programms aus. Mit dabei sind z. B. die Schauspielerin und Sängerin Anna Loos, der Musiker und Songwriter Adel Tawil, die Band Culcha Candela und das Bundesjugendjazzorchester. Konzertbühnen werden auf dem Hansa- und Friedensplatz sowie dem Alten Markt stehen.

Das „Depot“ an der Immermannstraße soll zu einer „Kulturkirche“ werden. Die Schwerpunktthemen sind hier Heimat und Kunstfreiheit. Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Programmchef des Deutschland Radio Kultur, Hans-Dieter Heimendahl, der Intendant der Ruhrfestspiele, Olaf Kröck, und Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), sind zu Gesprächsrunden eingeladen. Das Programmkino des Depots zeigt eine Reihe von aktuellen Filmen, unter anderem „The Cleaners – Im Schatten der Netzwelt“. Die Dokumentation berichtet über die Arbeit Zehntausender von Menschen, die im Auftrag von Internetkonzernen belastende Fotos und Videos auf den Portalen von Facebook, Twitter etc. löschen. Darüber hinaus wird der Regisseur Züli Aladag über seinen Film „Die Opfer – Vergesst mich nicht!“ sprechen, der sich mit den NSU-Morden befasst.

Vertrauen auch als literarisches Thema

Im Freizeitzentrum West (FZW) an der Ritterstraße gibt‘s Kabarett aus der und über die Kirche, die Gruppe Klangwerk aus Bayreuth bringt Deutschpop zu Gehör, der Dortmunder Liedermacher Fred Ape ist zu Gast und zudem wird die Veranstaltungsstätte Ort für einen Techno-Gottesdienst sein, Thema: „Menschenrechte – Gottes Wort!?“ Eine bunte Musikvielfalt bieten zahlreiche Songwriter im „domicil“ an der Hansastraße, in dem auch abends um 22.30 Uhr ein kabarettistischer Tagesrückblick gehalten wird. In den Westfalenhallen wird sich der Kabarettist Serdar Somuncu an einer Runde zur #MeToo-Debatte beteiligen. Eckhardt von Hirschhausen diskutiert mit Jugendlichen über Klima und Umwelt.

Im Industriemuseum Zeche Zollern (Stadtteil Bövinghausen) setzt sich unter dem Leitgedanken „Erinnern, Begegnen, Bedenken“ eine Ausstellung mit der Geschichte des Reviers auseinander. Darüber hinaus sind Aufführungen vorgesehen, die weltweite historische Ereignisse eingehen. Das Hoesch-Museum zeigt eine Ausstellung, die dem Thema „Migration und Religion im Ruhrgebiet“ gewidmet ist.

Da der Kirchentag das Motto „Was für ein Vertrauen“ trägt, steht auch das Literaturfest der Großveranstaltung unter dieser Losung. Zahlreiche Autoren aus der Region lesen aus ihren aktuellen Büchern passende Passagen. Nachmittags ab 15 Uhr sind Kinder eingeladen, sich zu einem Mitmachprogramm einzufinden, Zeit für Erwachsene nehmen sich Frank Goosen, Sarah Meyer-Dietrich, Ralf Thenior und weitere Autoren ab 19 Uhr.

Gewaltiges Pop-Oratorium über Luther

Freunde elektronischer Musik können sich auf die Uraufführung der Kammeroper „Nova – Imperfection Perfection“ des zeitgenössischen Komponisten Franz Danksagmüller freuen. Das Pop-Oratorium „Luther“ mit 2.000 Mitwirkenden erlebt eine weitere Aufführung am 20. Juni in den Westfalenhallen.

Während der gesamten Dauer des Kirchentages ist am Fredenbaumplatz eine Installation aus Klang und Licht zu sehen, die die evangelische Jugend aus dem Osten Berlins geschaffen hat. Die Klanginstallation Kuckucksuhrenorgel des Künstlers Erwin Stache, wird am Donnerstag von 10 bis 22 Uhr zwei Mal pro Stunde an St. Nicolai (Lindemannstraße) zu hören sein. Südkoreanische Künstler stellen ein Projekt vor, das das Thema Frieden in den Fokus rückt. Darüber hinaus öffnen Museen ihre Türen. Im Dortmunder U ist eine interaktive Ausstellung zur Skate-Kultur zu sehen.

Mit drei Gottesdiensten (am Ostentor, auf dem Hansa- und dem Friedensplatz) wird der Kirchentag am 19. Juni eröffnet, gefolgt vom Willkommensfest, das die Stadt und die Evangelische Landeskirche von Westfalen ausrichten. Der Abschluss erfolgt im Westfalenpark und im Westfalenstadion („Signal Iduna-Park“).

Infos unter https://www.kirchentag.de/




„Aufbruch im Westen“: Schau über die Essener Gartenstadt und die Künstlerkolonie Margarethenhöhe im Ruhr Museum

Blick in die Ausstellung „Aufbruch im Westen". Im einstigen Industrie-Ambiente kommen die Exponate speziell zur Geltung: in der Mitte Joseph Enselings monumentale Bronze-Skulptur „Säerin", links vorne Gustav Dahlers Bildnis der Fotografen-Tochter „Sabine Renger-Patzsch" (um 1929/31). (Ruhr Museum / Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung „Aufbruch im Westen“. Im einstigen Industrie-Ambiente kommen die Exponate speziell zur Geltung: in der Mitte Joseph Enselings Bronze-Skulptur „Die Säerin“, links vorne Gustav Dahlers Bildnis der Fotografen-Tochter Sabine Renger-Patzsch (um 1929/31). (Ruhr Museum / Foto: Bernd Berke)

Solch einen „Aufbruch im Westen“ könnte man wohl auch heute gut gebrauchen. Damals, um 1919, fügte sich eins zum anderen. Maßgebliche Leute in Wirtschaft, Politik und Kunst zogen gleichsam am selben Strang. Geld war (mit gutem Willen auch für kulturelle Zwecke) reichlich vorhanden, das Ruhrgebiet war eine Boom-Region, wie man heute sagen würde. Auch waren die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und der hieß Essen.

So konnte (schon seit 1909) in vielen Bauabschnitten die famose Essener Gartenstadt Margarethenhöhe entstehen, in der sich ab 1919 nach und nach eine beachtliche Kolonie von Künstlern und Kunsthandwerkern niederließ. Die Nachkriegszeit, zugleich die nach-wilhelminische Ära, verhieß ihnen neue Freiheiten.

Das Ruhr Museum auf dem Gelände der Welterbe-Zeche Zollverein widmet sich jetzt mit der Ausstellung „Aufbruch im Westen“ jener Künstlersiedlung, die seinerzeit weit hinaus wirkte, gerade deshalb in der NS-Zeit schon ab 1933 schnellstens auf Linie gezwungen wurde und nach 1945 leider nur rudimentäre Fortsetzungen erfuhr.

Impression aus der Gartenstadt Margarethenhöhe, um 1912 – mit dem „Schatzgräberbrunnen" von Joseph Enseling. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Meinholz)

Impression aus der Gartenstadt Margarethenhöhe, um 1912 – mit dem „Schatzgräberbrunnen“ von Joseph Enseling. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Meinholz)

„Hagener Impuls“ als Keimzelle

Immerhin lebte der damals entwickelte Folkwang-Gedanke museal und in Form von Ausbildungsstätten weiter; freilich, wie Museumschef Prof. Heinrich Theodor Grütter betont, als Folkwang-Hochschule nicht mehr im urbanen Zentrum der Stadt, sondern in Essen-Werden, draußen im Süden. Trotzdem hält Grütter dafür, dass ohne jene Aufbruchszeiten Essen und das Ruhrgebiet weit weniger Chancen gehabt hätten, 2010 europäische Kulturhauptstadt zu werden. Eine gewagte Hypothese? Oder einfach ein weiter Horizont? Jedenfalls haben in Deutschland allenfalls die Gartenstädte von Dresden (Hellerau) und Darmstadt (Mathildenhöhe) annähernd vergleichbare Bedeutung erlangt.

Die Folkwang-Idee (derzufolge Kunst und Kunsthandwerk als Gesamtkraft das ganze Leben durchziehen sollten) keimte anfänglich nicht in Essen, sondern zuerst in westfälischen Gefilden, genauer: in Hagen, wo der rührige Mäzen Karl Ernst Osthaus etliche hochkarätige Künstler um sich scharte oder zumindest mit ihnen korrespondierte. Von diesem „Hagener Impuls“, der sich sodann zum „Westdeutschen Impuls“ steigerte, handelt ein Prolog der Ausstellung. Nicht nur Osthaus‘ inspirierendes Netzwerk fruchtete Jahre später in Essen und anderen Revierstädten, 1927 ging die gesamte Osthaus-Sammlung nach Essen und bildete den reichen Grundstock des Museums Folkwang. Für Hagen ein unermesslicher Verlust, für Essen ein kaum zu überschätzender Zugewinn.

Krupp-Witwe als kunstsinnige Stifterin

Doch Geist und Ästhetik allein hätten nicht genügt, um die Margarethenhöhe zu gründen und zur Blüte zu führen. Es fehlten noch Geld und Macht. Nach dem Tod des Industrie-Magnaten Friedrich Alfred Krupp – wahrscheinlich durch Selbstmord – leitete seine kunstsinnige Witwe Margarethe (die der Gatte vordem wegen ihrer „Renitenz“ in die geschlossene Abteilung einer Anstalt hatte wegsperren lassen) treuhänderisch den Stahlkonzern. Nach dieser Interimszeit gründete sie am 1. Dezember 1906 eine bestens ausgestattete Stiftung für Wohnungsfürsorge, in deren Gefolge die Essener Gartenstadt entstand – unter der Ägide des Architekten Georg Metzendorf. Eine treibende Kraft bei dem Großprojekt war auch der 1918 bis 1922 amtierende Oberbürgermeister Hans Luther, später (1925/26) Reichskanzler an der Spitze einer kurzlebigen Koalition.

Die kunstsinnige Stifterin: Margarethe Krupp mit ihren Töchtern Bertha und Barbara, um 1895. (© Historisches Archiv Krupp, Essen - Foto: Rainer Rothenberg)

Die kunstsinnige Stifterin: Margarethe Krupp mit ihren Töchtern Bertha und Barbara, um 1895. (© Historisches Archiv Krupp, Essen – Foto: Rainer Rothenberg)

Um 1919 begann Margarethe Krupp, zahlreiche Künstler(innen) in die Siedlung zu holen – zuerst den Grafiker Hermann Kätelhön, der jüngst (beim Abschied von der Steinkohle) wieder als Chronist der Zechenära zu neuen Ehren kam. Ihm ist auch eine ergänzende Ausstellung im erhalten gebliebenen Kleinen Atelierhaus der Mathildenhöhe (6. Mai bis 9. Februar 2020) gewidmet.

Nach und nach gesellten sich Kätelhön in unmittelbarer Nachbarschaft zu: der Bildhauer Will Lammert, die Buchbinderin Frida Schoy, die Goldschmiedin Elisabeth Treskow, der Fotograf Albert Renger-Patzsch (dem die vorherige Ausstellung des Ruhr Museums galt), die Maler Kurt Lewy, Gustav Dahler, Josef Albert Benkert und Philipp Schardt, die Bildhauer Richard Malin und Joseph Enseling sowie einige andere. Enseling, der sich nach 1933 mit den neuen Machthabern einließ, war übrigens nach dem Krieg für ein paar Semester Lehrmeister von Joseph Beuys, bevor der sich Ewald Mataré zuwandte. Ein Kapitel für sich.

Bis ins Detail durchdachte Möblierung

Über 700 Exponate werden aufgeboten, um uns eine Ahnung der einstigen Aura und ihrer Hintergründe zu geben. Die Ausstellung zeichnet nicht nur die architektonische Entwicklung des stadtnahen Geländes nach, sondern vor allem und buchstäblich ganz zentral den künstlerischen Ertrag. Als immer mehr Künstler, Kunsthandwerker und Gewerke Quartier in der Siedlung bezogen, entstanden Atelierhäuser und Werkstätten (etwa für Keramik), in denen gemeinsam gearbeitet werden konnte. Reichlich Aufträge gab’s hier gleichfalls.

Entwurf des Gartenstadt-Architekten Georg Metzendorf: Türgriff der gehobenen Ausführung aus dem Jahr 1921. (© Sammlung Rainer Metzendorf, Mainz - Foto: Rainer Rothenberg)

Entwurf des Gartenstadt-Architekten Georg Metzendorf: Türgriff der gehobenen Ausführung aus dem Jahr 1921. (© Sammlung Rainer Metzendorf, Mainz – Foto: Rainer Rothenberg)

Der Wiener Architekt Bernhard Denkinger hat die Schau gestaltet. Um ein zentrales Rondell (vor allem mit Skulpturen der Margarethenhöhe, z. B. Joseph Enselings „Die Säerin“ sowie Katzen-, Hühner- und Bärendarstellungen) gruppieren sich Themenbereiche wie etwa die Entfaltung der Folkwang-Ideen in Essen oder die Ausstattung und Möblierung der Wohnhäuser auf der Margarethenhöhe. Hier war alles formal durchdacht und sorgsam durchgearbeitet – buchstäblich bis hin zur Türklinke und sogar bis zum Spülkasten der Toilette. In dieser Abteilung bewegt man sich sozusagen im tagtäglichen Innenleben des Themas. Wenigstens kann man es sich einigermaßen vorstellen.

Allen vorhin genannten Künstler(inne)n sind jeweils eigene Seiten-Kabinette oder – wie Denkinger es nennt – „Lauben“ mit prägnanten Beispielen fürs Lebenswerk gewidmet. Populärstes Ausstellungsstück dürfte die Meisterschale des Deutschen Fußballbundes von 1948/49 sein, die von der vormaligen Gartenstadt-Goldschmiedin Elisabeth Treskow geschaffen wurde und 1955 am Ort verblieb, als Rot-Weiss Essen den Titel gewonnen hatte. Lokalgeschichtlich kaum minder bedeutsam ist das prachtvolle „Stahlbuch“ (Gästebuch der Stadt), entworfen und gefertigt von der Buchbinderin Frida Schoy.

Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (Kopie), eine Schöpfung der Goldschmiedin Elisabeth Treskow von 1948/49. (© Rot-Weiss Essen / Foto: Rainer Rothenberg)

Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (Kopie), eine Schöpfung der Goldschmiedin Elisabeth Treskow von 1948/49. (© Rot-Weiss Essen / Foto: Rainer Rothenberg)

Die dunkelste Zeit der Siedlung

Auch die dunkelste Zeit der Siedlung wird nicht übergangen. Gleichsam als „Kehrseite“ der Blütezeit ist sie im hintersten Bereich der Ausstellung zu finden. Da lernt man, wie fürchterlich entschieden die Nazi-Machthaber den freiheitlichen Geist der Margarethenhöhe abgewürgt haben. Auch vereinzelte Hervorbringungen von NS-Kunst, eigentlich nur mit besonderer Umsicht in solcherlei kulturhistorischen Kontexten präsentabel, sind da zu gewärtigen. Dabei erfährt man, dass manche Protagonisten der Margarethenhöhe sich dem Ungeist der „neuen Zeit“ zumindest anbequemt haben, während die Aufrechten gemaßregelt oder drangsaliert und ins Exil getrieben wurden.

Das alles ist umso betrüblicher, als sich doch 1919 und in den frühen Zwanziger Jahren die Künste in vordem ungeahnter, endlich demokratisch verfasster Liberalität hatten entfalten können. Es war manches möglich, was man sich zuvor nur erträumt hatte. Ein veritabler Aufbruch auch in diesem Sinne. 1933 wurde all das zunichte.

In Essen stellt man die Künstlerkolonie nicht zuletzt in größere Zusammenhänge der Moderne – zuvörderst bezieht man sich aufs heuer vor 100 Jahren gegründete Bauhaus; ein Jubiläum, das derzeit ohnehin zahlreiche Ausstellungen nach sich zieht. Wie viele Kreuz- und Querverbindungen es da gibt und wie sehr man andererseits zwischen diversen Strömungen differenzieren sollte, damit könnte man wahrscheinlich ganze Fachtagungen bestreiten.

  • „Aufbruch im Westen“. Die Künstlersiedlung Margarethenhöhe. 8. April 2019 bis 5. Januar 2020. Täglich (Mo-So) 10-18 Uhr.
  • Essen, Ruhr Museum auf Zollverein. Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. (Navigation zu den Parkplätzen A1 und A2: Fritz-Schupp-Allee).
  • Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €. Katalog im Klartext-Verlag, 304 Seiten, 300 Abbildungen, 29,95 €.
  • Umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Exkursionen, Workshops etc. Infos/Buchungen (Führungen): 0201 / 24681 444. Internet: www.ruhrmuseum.de



Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der digitalen Kultur – eine Diskussion in Dortmund

Auf dem Dortmunder Diskussions-Podium (von links): Moderator Tobi Müller, Verlegerin Nikola Richter, Museums-Expertin Prof. Monika Hagedorn-Saupe, Dortmunds Schauspielchef Kay Voges, Inke Arns (Leiterin des Hartware MedienKunstVereins - HMKV) und der Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen. (Foto: Bernd Berke)

Auf dem Dortmunder Podium (von links): Moderator Tobi Müller, die Berliner Verlegerin Nikola Richter, Museums-Expertin Prof. Monika Hagedorn-Saupe (Berlin), Dortmunds Schauspielchef Kay Voges, Inke Arns (Leiterin des Dortmunder Hartware MedienKunstVereins – HMKV) und der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen. (Foto: Bernd Berke)

Dass sich praktisch alle Lebensbereiche „digitalisieren“ (sollen), hat sich inzwischen herumgesprochen – bis in Regierungskreise hinein. Zwar tut sich speziell Deutschland mit der entsprechenden Infrastruktur schwer, doch man kann ja schon mal über die Zukunft reden. Oder auch über die „ZUKUNST“. Unschwer erkennbar, dass das schon vielerorts verwendete Designerwort just die Künste im digitalen Futur meint. Es stand jetzt als verbales Signal auch über einer Dortmunder Diskussionsrunde.

Auf diesem Gebiet will sich Dortmund jedenfalls besonders hervortun: Eine veritable „Akademie für Digitalität und Theater“, die sich im Hafenviertel ansiedeln soll, startet derzeit in ihre dreijährige Pilotphase. 1,3 Mio. Euro Fördermittel von Bund, Land und Stadt sind bereits zugesagt. Doch als jetzt im Dortmunder Schauspielhaus eine Diskussion zur digitalen Kultur über die Bühne ging, stocherte man noch ziemlich im Nebel. Und vom Konzept der Akademie war praktisch gar nicht die Rede.

Dortmunds Schauspielchef Kay Voges hat mit dem Theater-Projekt „Die Parallelwelt“ bundesweites Aufsehen erregt; das Stück wurde (inhaltlich hie vorwärts, dort rückwärts) simultan im Dortmunder Theater und im Berliner Ensemble gespielt und wechselseitig in die jeweils andere Stadt übertragen – in digitaler Echtzeit, versteht sich. Überhaupt gilt Voges, der auch Gründungsdirektor der besagten Akademie ist, als geradezu vehementer Protagonist des Digitalen. In der Podiumsdiskussion zahlte er folglich in denkbar großer Münze aus: Das Theater müsse mit digitalen Mitteln neue Räume eröffnen, es könne gar „das Raum-Zeit-Kontinuum durchbrechen“. Klingt höchst agil, wenn auch noch ein wenig wolkig.

Aufbruch in neue Dimensionen?

Immerhin ist man auch in Berlin aufs Tun und Trachten des Dortmunder Theatermannes aufmerksam geworden. So war es denn auch die Staatsministerin für Kultur und Medien, Prof. Monika Grütters (CDU), die nach Dortmund eingeladen hatte. Die Dortmunder Digital-Diskussion gehört in eine Veranstaltungsreihe, die mit anders gelagerten Themen u. a. noch in Dresden und Frankfurt/Main Station macht. Frau Grütters stellte in ihrer kurzen Begrüßungs-Ansprache die Chancen der Digitalisierung in die Tradition des legendären Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann (1925-2018) und seiner basisdemokratischen Parole „Kultur für alle“.

Doch so weit sind wir noch nicht. Haben die Kulturschaffenden mit der Digitaltechnik vielleicht nur ein neues „Spielzeug“ entdeckt, mit dem sie sich noch nicht so recht auskennen und für das sie Technik-Freaks als Unterstützung brauchen? Oder erschließen sich hier wirklich neue Dimensionen? Wer das schon so genau wüsste!

Einige Grundlinien zeichnete eingangs der Debatte der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen vor – in einem (Achtung, Tagungs-Deutsch) „Impulsstatement“. Ihm zufolge hat im Zuge der Digitalität das Publikum eine vordem ungeahnte Macht erlangt, man könne von einer „publizistischen Selbstermächtigung“ breiter Kreise reden. Will heißen: Gar viele Menschen verbreiten im Internet – bei Facebook, Twitter etc. oder auch in Blogs – ihre Meinungen und ihre Befindlichkeiten. Zwar gebe es noch die herkömmlichen Medien, die den Nachrichtenstrom filtern und auf „Relevanz“ setzen, doch würden online ganz andere, ungemein virale Themen hochgespült, die nicht ins alte Raster der Wichtigkeit passen, sondern eher Emotionen ansprechen.

Eine Comic-Katze als Weltherrscherin

Zudem, so Pörksen, werde im Netz alles sofort sichtbar, nichts bleibe verborgen. Und schließlich stifte das Netz neue Gemeinschaften, für jede nur denkbare Vorliebe finde sich Genossenschaft. Kaum verwunderlich: Der Wissenschaftler empfahl verstärkte Reflexion über derlei mediale Prozesse. Von Medien-„Kompetenz“ wollte er nicht sprechen, weil das Wort sinnentleert sei. Statt dessen hörte man viel von Mündigkeit, von „Inszenierungs-Bewusstsein“, „Transformations-Bewusstsein“ und von diversen „Narrativen“. Nun ja, das Publikum im Saale war kulturfachlich vorbelastet, da mochten solche Begriffe angehen.

Dem Eröffnungsreferat folgten in aller Knappheit Erfahrungen und Anregungen aus mehreren Kultursparten: Ausstellungswesen, Buchverlag, Theater. Inke Arns vom Dortmunder Hartware MedienKunstVerein (HMKV), seit Jahren intensiv mit Netzkunst sowie Formen der Virtualität befasst und wohl mit dem Themenfeld besonders vertraut, stellte die Frage, ob die (digitale) Technik womöglich mächtiger werde als alle Politik. Dazu ließ sie einen Kurzfilm mit einer niedlichen Comic-Katze laufen, die sich als fürsorgliche Weltherrscherin vorstellte. Lustig oder grauslich?

Den Flügelaltar virtuell auf- und zuklappen

Beispiele aus der Praxis nannte Prof. Monika Hagedorn-Saupe, die das Projekt „museum4punkt0″ (vulgo 4.0) leitet. Unter ihrer Ägide laufen etwa Versuche mit so genannter augmented reality (vermehrte/gesteigerte Realität), das heißt: Besucherinnen und Besucher halten eigens programmierte Tablets vor Museumsobjekte – und erfahren sofort allerlei Hintergründe. Auch können sie auf dem Bildschirm virtuell z. B. Gemälde-Rückseiten betrachten, Flügelaltäre auf- und zuklappen oder Infrarot-Aufnahmen der jeweiligen Kunstwerke aufrufen und somit eventuell die Entstehungsphasen besser verstehen.

Freilich ist die Vorstellung, dass das „altmodische“ (?) Sinnen, Sich-Sammeln, Nachdenken und Phantasieren vor den Bildern durch allweil hochgehaltene Tablets unterbrochen, wenn nicht gar verhindert wird, doch arg gewöhnungsbedürftig. Die vielzitierten Digital Natives haben damit wahrscheinlich keine Schwierigkeiten. Aber wie ließe sich ihr Kunsterlebnis beschreiben? Vielleicht kann man Ausstellungs-Rundgänge ja einmal mit und einmal ohne Tablet absolvieren? Das wäre den Museumsleuten sicherlich recht.

Über andere Bauformen fürs Theater nachdenken

Schauspielchef Kay Voges begreift digitale Verfahren, wie er bekannte, mittlerweile als weitere Sparte des eh schon vielfältigen städtischen Theaterbetriebs (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Ballett, Orchester). In diesem Zusammenhang fiel auch das machtvolle Wort vom „Raum-Zeit-Kontinuum“, das es zu durchbrechen gelte. Die analoge Epoche hätten wir hinter uns, wir lebten bereits in der digitalen Ära, befand Voges. Das müsse Konsequenzen für die Künste haben. Selbst die Bauformen der Theater müssten neu gedacht werden. Allerdings: „Die Künstler brauchen jetzt die Techniker, und zwar auf Augenhöhe.“ Hört sich so an, als werde sich so manches Berufsbild verändern – beileibe nicht nur am Theater. Andererseits hieß es später, man dürfe die Kunst „nicht den Ingenieuren überlassen“.

In Urheberrechtsfragen verheddert

Nach der Pause ging’s in eine nicht allzu ergiebige Diskussion, moderiert vom Schweizer Tobi Müller, der aus seiner Wahlheimat Berlin angereist war. Alsbald verhedderte man sich in den jüngst so heftig umstrittenen Urheberrechtsfragen der Netzwelt. Gegen widerrechtliche Nutzungen eingesetzte Upload-Filter, da war man sich weitgehend einig, seien eine Gefahr für freie Meinungsäußerung und Kreativität im Internet, also auch für die digitale Zukunft der Kunst. Inke Arns meinte, die hintersinnigen Collagen eines John Heartfield würden heute wahrscheinlich als „Urheberrechts-Verletzungen“ ausgefiltert. Großen Beifall erhielt die Berliner Autorin und Verlegerin Nikola Richter (mikrotext, spezialisiert auf E-Books), die forderte, Google, Amazon, Facebook und Konsorten sollten endlich richtig besteuert werden. Das eingenommene Geld werde dann reichen, um kulturelle und mediale Schöpfungen angemessen zu vergüten.

Auch Prof. Pörksen hatte einen Vorschlag, um die Macht der Weltkonzerne einzuhegen und nach Transparenz-Gesichtspunkten zu kontrollieren – die Einrichtung von „Plattform-Räten“ (hoffentlich nicht nach dem Proporz-Vorbild deutscher Fernsehräte). Pörksen war es auch, der zu Beginn des Abends die beiden Extrem-Haltungen zur Digitalität ausgemacht hatte: Es gebe „Euphoriker“ und „Apokalyptiker“, er selbst schwanke zwischen beiden Polen. Doch man solle die Zukunft nicht zu düster sehen. Selbst im Falle des Scheiterns aller Bemühungen gelte: „Der Zweckoptimist hat immer noch das bessere Leben gehabt!“