Lebensbild mit Leerstellen: Monika Helfers Familienroman „Vati“

Als wenn es das nicht schon länger gegeben hätte: Vielfach scheint Lesenden seit einiger Zeit das zum Trend ausgerufene „autofiktionale Erzählen“ zu begegnen, also Autobiographisches mit mehr oder weniger prononcierter literarischer Dreingabe. Oder eben umgekehrt: große Literatur, basierend auf Selbsterlebtem, mit erfundenen Einsprengseln. Und was der Mischungsverhältnisse mehr sind. Wie schwer es doch ist, sich im Ureigenen zur allgemeineren Gültigkeit durchzuringen! Nur den Besten gelingt es zu erzählen, was jede(r) erzählen könnte, aber eben nicht kann.

Die famose Französin Annie Ernaux (Jahrgang 1940 – „Die Scham“, „Die Jahre“, „Eine Frau“) wäre beispielhaft zu nennen, neuerdings auch eine noch frühere Vorläuferin, die just „wiederentdeckte“ Dänin Tove Ditlevsen (1917-1976), die schon seit den späten 1960er Jahren ihre Kopenhagen-Trilogie („Kindheit“, „Jugend“, „Abhängigkeit“) vorgelegt hat. In unseren Breiten kämen neben etlichen anderen etwa Anna Mayr („Die Elenden“) und Christian Baron („Ein Mann seiner Klasse“) in Betracht. Die heftigste Zeile steht auf dem Roman von Andreas Altmann, der da heißt: „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“. Ungleich sanfter tritt jetzt, auch schon zum wiederholten Male, Monika Helfer an – diesmal mit dem fürs heutige Empfinden treuherzig klingenden Titel „Vati“.

Seltsamer Hang zur „Modernität“

Tatsächlich erzählt die Österreicherin, die 2020 bereits die Familiengeschichte „Die Bagage“ vorausgeschickt hat, vorwiegend von ihrem Vater, einem kleinen, betont ruhigen Mann, der eine natürliche Autorität ausgestrahlt haben muss und auch manch verschrobenen, wilden oder wüsten Leuten Respekt abnötigte. Mit spürbarer Zuneigung und regem Interesse, aber auch mit Verwunderung sammelt Monika Helfer Szenen, Erinnerungen und Zeugnisse über ihn, so dass nach und nach ein vielfältiges, in manchen Belangen nach wie vor rätselhaftes Lebensbild entsteht. „Vati“ wollte er ausdrücklich genannt werden, weil es modern sei. Aus gleichem Grund pries er das freie Stadtleben, das er doch nur ganz punktuell wirklich aufgesucht hat. Da kenne sich eine(r) aus.

Irgendwann erhebt sich die Frage, warum sich die 1947 geborene Autorin diesem Thema relativ spät zuwendet. Vielleicht galt es denn doch, starke innere und äußere Widerstände zu überwinden. Vielleicht wird sie auch just von der erwähnten Welle autofiktionalen Erzählens mitgetragen. Wer weiß. Es ist aber zweitrangig. Wichtig ist allein, was sie aus dem Lebensstoff gewoben hat. Angenehm ist es, dass sie sich an keiner Stelle sprachlich aufplustert oder mit auktorialem Wissen prunkt. Vor allem aber schafft sie es, dass man um diesen „Vati“ bangt, dass er zur exemplarischen, lebensgroßen Figur gerät.

Ganze Bücher Wort für Wort abschreiben

Da geht es also anfangs um „Vatis“ geradezu erbärmlich ärmliche Herkunft, alsbald aber schon um seine früh erwachte Bücher-Leidenschaft. Schon mit 5 Jahren hatte er sich das Lesen beigebracht und war seitdem von Bibliotheken zutiefst fasziniert. Zuerst hat es ihm die eher schmale und läppische Bücherei eines reichen Baumeisters angetan, der dem Jungen erlaubt, Tag für Tag seine Bücher umständlich Wort für Wort abzuschreiben – ein beinahe mönchisches Exerzitium. Hingegen wütet der dumme Sohn des Baumeisters, der mit dem Lesen nichts anfangen kann, später bei der SS. Wenn sich das doch immer so eindeutig und wunschgemäß herleiten ließe…

Viele Jahre später kommen fiese Gerüchte auf, „Vati“ habe Bestände aus einer anderen Bibliothek für sich beiseite geschafft. Jedenfalls hat es mit Büchern für ihn eine besondere Bewandtnis. Selbst sein früher Tod wird am Ende mit Büchern zu tun haben.

Doch erst einmal zurück. Damals beim Russlandfeldzug hat er schwere Erfrierungen erlitten, es musste ihm ein Bein amputiert werden. Eine Krankenschwester im Lazarett hat ihm einen Heiratsantrag gemacht, sie wurde seine Frau und die Mutter von vier Kindern. Fortan spielen auch etliche Kurzauftritte der vielköpfigen Verwandtschaft (Onkel, Tanten usw.) mit in die Handlung hinein. Manche derb-knorrige Figur könnte durchaus im Volkstheater ihren Platz haben. Besagte Autofiktion kommt ja auch meistens wahrhaftiger und wirkmächtiger „von unten her“. Umso mehr, wenn sie – wie hier – spürbar in einer bestimmten Region verankert ist. Doch dumpfe Trunksucht gibt es überall.

…bis die Herren aus Stuttgart kommen

Nach dem Krieg leitet „Vati“ im Auftrag einer Stiftung ein Erholungsheim für Versehrte – unkonventionell genug und selbstverständlich mit Bücherei. Die Tschengla, wie die hoch gelegene Örtlichkeit heißt, hat eine Anmutung von „Zauberberg“. Doch eines Tages tauchen geschäftige Herren aus Stuttgart auf, die das beinahe weltentrückte, nur saisonal genutzte Heim zum lukrativen Hotel mit Ganzjahresbetrieb ausbauen wollen. Die Bibliothek spielt in den Plänen keine Rolle. Im Gegenteil.

Nach dem finalen Gruppenfoto mit den Heimbewohnern humpelt „Vati“ in eine Hütte und trinkt eine lebensgefährliche Flüssigkeit. Ist nun alles, alles aus mit der Familie, wie es die kleine Monika befürchtet? Zumindest ist es eine schwere Erschütterung, „Vati“ muss lange in einer Klinik bleiben, auch innerlich entfernt von seinen Kindern. Dabei war Tochter Monika gerade in puncto Bücher schon früh zu einer Vertrauten des Vaters geworden. Fühlt sie sich nicht als Hüterin eines imaginären Familienschatzes? Schon als Kind beschließt sie, dass ihr Name eines Tages auf Buchrücken stehen solle. So ist es dann ja auch geschehen.

„Ich bin müde. Ich klappe meinen Laptop zu…“

Erzählt wird ganz unumwunden aus der Tochter-Perspektive. Monika Helfer benennt und zitiert ihre Gewährsleute (zumal die Stiefmutter und die ältere Schwester Gretel), auch kommt sie gelegentlich auf ihre Schreibsituation zu sprechen: „Ich bin müde. Ich klappe meinen Laptop zu, dehne mich, es ist erst früher Nachmittag. Nicht das Schreiben macht mich müde, auch nicht das Erinnern. Ich setze die Müdigkeit professionell ein. Ich muss näher an die Träume heranrücken…“ Wesentlicher Werkstatt-Einblick oder verzichtbare Mitteilung?

Sodann die doppelte dramatische Zuspitzung: Die inzwischen elfjährige Monika verirrt sich mit ihrer älteren Schwester im Tiefschnee. Aber wer fragt noch danach, bekommt doch am selben Tag ihre Mutter Grete eine Krebsdiagnose und stirbt bald darauf. Die vier Kinder werden auf zwei Tanten verteilt, es beginnen Zeiten der beengten Verhältnisse, der seelischen Entbehrung.

Letztlich bleibt er unbegreiflich

Abermals ein unfassbarer Verlust. So innig war das Verhältnis des Vaters zu seiner verstorbenen Frau, dass ihr Tod ihn erneut aus der Lebensbahn wirft. Er zieht sich in ein Kloster zurück, in eine winzige Klause. So vereinsamt scheint er, dass man in seinem familiären Umkreis sogar überlegt, ob nicht eine ortsbekannte, durchaus menschenfreundliche Hure ihn heiraten solle. Oder vielleicht doch lieber Tante Irma, wenn sie sich vorher scheiden ließe? Bloß nicht dieses Alleinsein… Dann aber fängt „Vati“ doch noch einmal unversehens ein neues Leben an, heiratet, zeugt zwei weitere Kinder, wird Finanzbeamter. Aus welcher Kraftquelle er bei diesem Umschwung wohl geschöpft hat?

Bei all diesen Fährnissen verliert sich Monika Helfer auch schon mal in Einzelheiten, als wollte sie keine Erinnerung auslassen. Doch die Autorin findet auch immer wieder schnell in die erzählerische Spur. Sie gibt nicht vor, alles über den Vater zu wissen, sondern lässt Raum für Geheimnisse. Wie gut, dass sie nicht alles schlankweg „auserzählt“, sondern Leerstellen lässt, die nicht zuletzt durchs beharrliche Schweigen des Vaters klaffen, welcher partout keine Daseinsbeichte ablegen mag. Es wäre auch wenig glaubhaft gewesen.

Erstaunlich, wie „Vati“, der bis dahin so überwiegend „grau“, schwerblütig und manchmal abweisend gewirkt hat, just in einem Berliner Schwulenlokal lachlustig aufblüht, als er seine Tochter Renate in der Hauptstadt besucht und sie dort speisen. Ist es die lang vermisste Stadtluft, die ihn animiert?

Am Ende fragt sich, was man denn eigentlich über diesen Menschen erfahren hat und was man wirklich weiß. Fast wie im richtigen Leben: Der Mann hat im Lauf des Romans zusehends Kontur gewonnen und bleibt doch letztlich unbegreiflich, vermutlich auch und gerade für seine Kinder.

Entsprechend vage und nahezu verzagt klingt der isoliert stehende Schlusssatz, wie ein gerade mal durchwachsenes Zeugnis übers ganze familiäre Sein und Treiben. Er lautet:

„Wir haben uns alle sehr bemüht“.

Monika Helfer: „Vati“. Roman. Carl Hanser Verlag. 173 Seiten. 20 €.

 




Wie Heimat zu erfahren und zu schildern sei: Judith Kuckarts Dortmunder Hörfilm „Hörde mon Amour“

Blick auf die Siedlung Am Sommerberg/Am Winterberg in Dortmund-Hörde. (Screenshot aus dem besprochenen Film / © Judith Kuckart)

Dortmund vergibt bekanntlich (und endlich) ein Literaturstipendium. Das temporäre Amt, das andernorts meist Stadtschreiber(in) heißt, nennt sich hier Stadtbeschreiber*in. Die literarisch etablierte Judith Kuckart hat den Anfang gemacht. Ihr Dortmunder Aufenthalt begann im August und dauert bis Ende Januar 2021. Leider wurde auch ihre Tätigkeit von Corona eingeschränkt. Anders als vorgesehen, hat sie keine theatrale Umsetzung ihrer Ortserkundungen verwirklichen können, sondern einen rund einstündigen „Hörfilm“ produziert. Es ist ein „Heimatfilm“ ganz eigener Art.

Die 1959 in Schwelm geborene Judith Kuckart hat als Kind – aus traurigen familiären Gründen – „vier oder fünf Sommer“ im Dortmunder Ortsteil Hörde verbracht und kennt also noch das Alltagsleben in der früheren Stahlwerksgegend. In jenen Jahren war sie etwa 9 bis 14 Jahre alt. „Hörde war eine Schule fürs Leben“, sagt sie. Und Hörde sei für immer Teil ihrer „inneren Landschaft“. Ein „Downtown“ Dortmund, also eine zentrale Innenstadt, habe es für sie damals nicht gegeben. Folglich trägt der Film den Vorort liebevoll im Titel: „Hörde mon Amour“.

Westfälische Witterung

2017, als der Kongress der Autorenvereinigung PEN in Dortmund stattfand, hatte die heute in Berlin lebende Judith Kuckart Gelegenheit, erneut westfälische Witterung aufzunehmen. Zwar hat sie für die Stipendienzeit in der Nordstadt am Dortmunder Borsigplatz gewohnt, sich aber auf den Spuren ihrer Kindheitserinnerungen weit überwiegend wieder „auf den Hügeln von Hörde“ umgetan. Das 1340 gegründete (und 1928 nach Dortmund eingemeindete) Hörde hat schon immer ein gewisses Eigenleben geführt und lange Zeit mit Dortmund auf Kriegsfuß gestanden. Auch daraus bezieht der ebenso eindringliche wie wohltuend ruhige Film untergründige Spannungsmomente.

Die Autorin und Dortmunder Stadtbeschreiberin Judith Kuckart – hier in Berlin, März 2019. (Foto: Burkhard Peter)

Äußerst langsam und behutsam tastet die Kamera (Martin Rottenkolber) Einzelheiten ab, die Erinnerung in sich bergen (könnten): die Siedlung „Am Sommerberg“/„Am Winterberg“ im vogelperspektivischen Überblick; sodann geht’s Fassade für Fassade an verwitterten Häusern entlang. Auch sieht man eine typische Wohnung daselbst mit allen Einzelheiten, die nicht gerade auf Wohlstand hindeuten und wirken, als seien sie rücklings aus der Zeit gerutscht. Hinzu kommt ein verfallenes, inzwischen auch verwunschenes früheres Schwimmbad („Schallacker“), dessen Areal zur Stätte des Urban Gardening mutiert ist. Lauter wehmütige Ansichten von zumeist menschenleeren Orten. Kein Wunder, wenn dabei Kopfkino entsteht, zumal als Bezugspunkt ein kartographierter, aber nicht existierender Phantom-Ort bei New York aufgerufen wird, der zur Kultstätte für Jugendliche von weither geraten ist. Auch Hörde ist nicht zuletzt ein imaginäres Gelände.

„Schäbiges Paradies“

Nicht in den Bildern, wohl aber in den Texten dieses „Hörfilms“ scheint auf, wie sehr hier einst das pralle, wenn auch oft etwas ärmliche Leben sich begeben hat. Im besagten Schwimmbad, so heißt es, sei gleichsam alles Lebendige geschehen, es seien auf den Liegedecken in diesem „schäbigen Paradies“ auch Kinder gezeugt worden. Mittlerweile gibt es einen machtvollen und scharfen Kontrast, ein ganz anderes Hörde, das gleichfalls, wenn auch eher schaudernd, ins Auge gefasst wird: die Gegend rings um den künstlich erstellten Phoenixsee mit ziemlich seelenlosen Neubauten zu exorbitanten Preisen. Dies sind keine Kindheitsräume mehr, aber vielleicht Orte für unstete „Wandermenschen“, die allüberall ihresgleichen finden.

Judith Kuckart erinnert sich hingegen lieber an die Jahre um 1968, als die Frauen in der Hörder Siedlung ganztags im Morgenmantel umher gingen, die bescheidenen Haushalte führten und Kinder versorgten, während die Männer bei Hoesch malochten oder in der Kneipe zechten. Eine 1979 aus Jamaika zugewanderte Frau bedauert den späteren Wandel gleich zu Beginn des Films: Früher sei ihr der Lichtschein des Hochofenabstichs stets wie eine wärmende, tröstende Sonne erschienen, später sei hier und in anderen Stadtteilen jedoch „alles den Bach runtergegangen“. Um in Hörde herzlich und herzhaft heimisch zu werden, muss man wahrlich nicht dort geboren sein.

Wo wir uns sicher bewegen können

Fixsterne in Kuckarts Hörder Kindheitssommern waren mehrere Tanten, die dort gelebt haben. Eine von ihnen ist mit 24 Jahren gestorben, ihr kurz vorher geborenes Baby hielt sie bis zuletzt fest umklammert. „Oma Schüren“ (in Dortmund heißen Großeltern familiär häufig nach dem Stadtteil) ist gegen Ende einer Kinovorführung in der – bis heute als letztes Vorort-Lichtspielhaus existierenden – „Postkutsche“ in Aplerbeck gestorben. Heute kann niemand mehr sagen, welchen Film die Großmutter zuletzt gesehen hat.

Man ahnt, dass der Ton zum Film sich keineswegs in „Dönekes“ erschöpft, sondern wesentlich tiefer lotet, manchmal ganz unversehens. Nach und nach stellt sich mit zunehmender, freilich allemal sanfter Dringlichkeit die Frage, was eigentlich „Heimat“ sei und wie von ihr zu erzählen wäre. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns immer sicher bewegen können“, heißt es an einer Stelle. Ob es zugleich ein konkreter Ort ist, steht allerdings dahin. Überhaupt ergeben sich viele Fragen: Ist die Heimat ein Ort oder ein Gefühl? Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht nach Heimat? Kann man eine Heimat gründen oder entwerfen? Kann Sexualität eine Heimat sein? Und so fort. Hier lagert Stoff fürs eine oder andere weitere Buch im Sinne des „autofiktionalen“ Erzählens, der Selberlebensbeschreibung, angereichert mit fiktionalen Elementen, wie sie seit einiger Zeit wieder vermehrt Teile der Literatur prägt (und nicht die schlechtesten).

Um das Erzählte noch genauer zu verankern, versichert sich Judith Kuckart der Kenntnisse einiger langjährig ortsansässiger „Heimatexpert(inn)en“. Jede(r) von ihnen trägt ureigene Bruchstücke zum Mosaik der Heimatlichkeit bei. Und nein: Das berühmte Diktum von Ernst Bloch („…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“) kommt an keiner Stelle vor.

„Hörde Mon Amour“. – „Hörfilm“ von Judith Kuckart, 2020. Zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Dortmunder Literaturhauses: 

https://www.youtube.com/watch?v=v9iAHql-NJI

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Im Mai 2021 soll Anna Herzig übernehmen

P.S.: Als nächste Dortmunder Stadtbeschreiberin wird – vermutlich ab Mai 2021 – Anna Herzig aus Salzburg in der Stadt sein. Sie hat keine Dortmunder Kindheitserfahrungen, will aber hier an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der in einem Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt…




Familienfreuden XXVII: Die Drei-Minuten-Lern-Biene

Zähne putzen ist ja so eine Sache, über die man als Erwachsener nicht mehr viel nachdenkt – es gehört einfach zum Tag dazu. Für Fiona hingegen gibt es viele Wege zu sauberen Zähnen. Der jüngste ist: die Drei-Minuten-Lern-Biene.

Zähneputzen wird zur existentiellen Begegnung. (Bild: Albach)

Vor einiger Zeit brachte ich den Müll raus. Plötzlich macht es „Platsch“. Eine dicke, weiße Pampe landete unmittelbar neben mir auf den Steinen. Erst hatte ich die Taube im Verdacht, die regelmäßig in unserem Baum nistet. Als ich aber nach oben blickte, sah ich keineswegs ein graues Federtier – sondern meine kichernde Tochter, die oben an der Brüstung des Badezimmerfensters lehnte. Im Schlafanzug, die Zahnbürste in der Hand, eine irgendwie für die Zahnpasta-Werbung verdrehte Version der Julia auf dem Balkon.

„Was machst Du denn da?“, fragte ich entgeistert und zugleich nicht besonders schlagfertig. „Zähneputzen!“, antwortete sie prustend. Hatte ja schließlich keiner gesagt, dass man das über dem Waschbecken machen müsste. Oder doch, ich, mindestens hundert Mal – nur dass das gleichbedeutend mit nichts ist, wenn man mit seinem Kind redet. Nur durch diesen Zufall also fand ich es heraus, dass unsere Tochter jeden Abend das Fenster sperrangelweit aufgerissen, sich an die Gitterstäbe gelehnt, in den Himmel geschaut, geschrubbt und dabei offensichtlich auch reichlich Spucke-Zahnpasta-Gemisch gen Erdboden geschickt hatte. Für die Nachbarn muss das eine herrliche Abendvorstellung gewesen sein. Und ich verstand nun immerhin, woher die weißen Flecken auf unseren Steinen stammten.

Blitzende Hauer

Diese Episode war allerdings nur eine auf dem holperigen Weg zu sauberen Zähnen. Keine Ahnung, wie es bei anderen Kindern ist – bei Fiona war immer ein gewisser Entertainment-Hunger bei diesem Thema vorhanden, der nicht allein durch Erzählungen von blitzenden Hauern gestillt werden konnte. Es fing recht harmlos an, mit einer kleinen, bunten Sanduhr, die wir an die Badezimmerwand pömpelten. Kurze Zeit war das Umdrehen und Rieseln des pinken Sandes eine ganz wörtlich feine Sache. Bis Fiona in den Kindergarten kam. Und sich dort einer fast ein Meter hohen Sanduhr gegenübersah, vor der sie mit einer Horde kichernder Freundinnen schrubbte und wuppte.

Für jede Lebenslage die passende App

Der nächste, immerhin langlebigere Versuch war digitaler Natur. Die Erkenntnis, dass es für jede Lebenslage die passende App gibt, bestätigte sich auch hier: Wir entdeckten eine Zahnputz-App. Darin konnte sich Fiona einen Zeichentrick-Charakter aussuchen und ließ sich von pinken Mäusen, frostigen Prinzessinnen und vergesslichen Fischen anfeuern, die drei Minuten durchzuwienern. Fortan tönte aus dem Bad eine eindringliche Melodie, die Normen und ich bis heute selbst dann summen können, wenn man uns aus dem Tiefschlaf weckt – beendet mit einem optischen und auditiven Feuerwerk. Jeder erfolgreiche Durchgang wurde außerdem mit einem Bild in einem virtuellen Sammelalbum belohnt. Dass dieses selbstverständlich vor jedem Zubettgehen durchgeblättert werden musste und sich entsprechend die Nachtruhe verschob, ist selbstredend.

Zum Wohle der Kauleiste

Die jüngste Erfindung zum Wohle der Kauleiste ist aber das, was ich die „Drei-Minuten-Lern-Biene“ getauft habe. (Vielleicht erinnert sich ja noch jemand an den in grauer Vorzeit geprägten Ohrwurm der Fünf-Minuten-Terrine?) Fiona muss allwöchentlich in der Schule neue Lernwörter verinnerlichen und so zum Beispiel auswendig lernen, dass man „Katong“ doch ein wenig anders schreibt, als es gesprochen wird. Ihre Lehrerin hatte den Tipp ausgegeben, die Wörter der Woche irgendwo hinzukleben, wo die Kinder sie täglich sehen. Fiona – welch Wunder – wählte den Badezimmerspiegel. Und so steht sie nun da, an jedem Morgen und jeden Abend, schaut auf einen mit Pferden und Herzen verzierten Zettel und sieht, wie essen, sein und haben durchkonjugiert werden. Drei Minuten lang, sechs Minuten täglich.

Sein oder Nicht-Sein hat bei uns nun plötzlich sehr viel mit Zähneputzen zu tun.




Ein paar Worte über „Pa“, der nicht mehr da ist

Bei Facebook haben ihn alle nur „Pa“ genannt. Anfangs dachte ich, das Kürzel bezeichne ihn als typische Vaterfigur. Und im Grunde war es ja auch so. Er hatte tatsächlich etwas Väterliches. Doch die beiden Buchstaben waren eine Kurzform seines Vornamens Paul.

Wie ich darauf komme? Weil es mich beschäftigt, nein: erschüttert, dass Pa gestorben ist. Weil mir nichts bleibt, als es schreibend zu vergegenwärtigen. Die unfassbare Nachricht ist heute früh eingetroffen, auch via Facebook. Einer seiner drei Söhne hat ihn aufgefunden. Es ist zum Heulen.

Pa hätte einen solchen Vergleich mit sanftem Spott bedacht, aber ich habe ihn mir immer auch ein wenig als „Herbergsvater“ vorgestellt. Er war jedenfalls einer, der Gruppengeist zu stiften wusste wie nur ganz wenige; einer, um dessen imaginäre Lagerfeuer sich im sonst manchmal so asozialen Netzwerk viele versammeln konnten – sei’s im Zeichen des Fußballs (er betreute seit etlichen Jahren geradezu hingebungsvoll eine vielköpfige Tipprunde); sei’s in Gefilden der Rockmusik, auf deren Feldern er profunde, weit ausgreifende Kenntnisse besaß. Er konnte einem so wertvolle Hinweise geben, wie es kein Algorithmus  der Welt vermocht hätte. Hätte er eine Radiosendung gehabt, so hätte man sie unbedingt hören müssen. Musik war bei ihm stets mit den Fährnissen des Lebens verwoben, seichtes Zeug mochte er nicht.

Seine Menschlichkeit erwuchs nicht zuletzt aus Leidenserfahrung. Aus dieser Erfahrung heraus hat er nach Kräften anderen Leuten geholfen, durch Zuhören, Zuspruch und mehr. Dass er selbst kein leichtes Lebensschicksal hatte, war zu erfahren und zu spüren, wenn man einander hin und wieder persönliche Botschaften geschrieben hat – jenseits des freundlich scherzenden, aber doch meist nicht so verbindlichen Gruppenwesens im Netzwerk. In (seltenen) Telefonaten kam eine weitere Dimension hinzu: seine beruhigende, sozusagen weltweise Stimme mit dem tief „geerdeten“ bayerischen Tonfall.

Einige Leute, die ihn – wie ich selbst – „nur“ übers Netz, aber nicht von Angesicht gekannt haben, sagen mehr oder weniger dasselbe. Etwa in diesem Sinne können wir uns alle einigen: Trotz der räumlichen Distanz und der virtuellen Beschränkungen hat man immer seine Warmherzigkeit gespürt – auch durch seinen gelegentlich knorrigen oder schnoddrigen Humor hindurch. Nein, herzig, gefühlig und oberflächlich sentimental war er nicht, aber herzlich und mitfühlend. Ein durch und durch feiner, grundanständiger Kerl. Man hätte so gern irgendwann noch ein zünftiges Weißbier mit ihm getrunken.

Pa, der als aufrechter Nach-Achtundsechziger in der bayerischen Provinz – fern vom Getriebe der Städte – gelebt hat, litt oft geradezu verzweifelt unter den politischen Zeitläuften, zumal unter populistischen und schlimmeren Umtrieben. Vielleicht hat ihn auch das ein Gutteil Lebenskraft gekostet. Aber wir können es nicht wissen.

Pfüat di, Pa.




Reichlich „Punk“ im Jammertal: Ralf Rothmanns Erzählband „Hotel der Schlaflosen“

„Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet…“ Solche Klappentext-Auszüge aus der Vita lassen lesende Revierbürger seit langer Zeit aufhorchen, denn allzu viele literarische Eigengewächse von Rang und Namen haben wir hier ja leider nicht. Und so kommt man von Zeit zu Zeit gern auf den Autor von „Milch und Kohle“ (sowie etlicher anderer Romane) zurück, der doch schon seit 1976 in Berlin lebt.

Jetzt hat Rothmann einen Band mit Erzählungen vorgelegt. In „Hotel der Schlaflosen“ zeigt er, welche staunenswerte Bandbreite sein Schaffen schon in der kleineren Form umfasst. Allein die Vielfalt der Schauplätze und des Personals verlangt wendige gestalterische Potenz von höheren Graden.

Jede Erzählung führt uns in eine andere und schließlich doch immer wieder in dieselbe Welt, denn da muss es doch wohl tiefere innere Zusammenhänge geben. Die aber haben die Lesenden zu erkunden, der Schreibende wird sie klugerweise nicht vorgeben. Eins aber wird vielfach klar: Um eine Formulierung Rothmanns aufzugreifen, mutet das Leben den Menschen oft reichlich viel „Punk“ zu. Früher hätte man wahrscheinlich vom „Jammertal“ auf Erden gesprochen.

Monolog eines stalinistischen Exekutors

Da folgen wir also einer Geigerin auf ihren letzten Wegen nach einer niederschmetternden ärztlichen Diagnose. Da ertragen wir – in der titelgebenden Geschichte „Hotel der Schlaflosen“ – den furchtbar abgründigen Monolog eines Mannes, der in einem stalinistischen Tötungs-Kommando massenhaft Exekutionen ausführt. Da erfahren wir von der grausam verpfuschten Jugend einer Frau, die ihres Lebens nimmer froh werden wird. Resignierender Titel dieser Erzählung: „Auch das geht vorbei“. Die spätere Story „Alle Julias!“ kontrastiert das seitherige Leben zweier ehemaliger WG-Genossinnen und oszilliert zwischen Geplapper, dürrer Hoffnung und stummer Verzweiflung.

Zwischendurch hat „Der dicke Schmidt“ seine zunächst rabiaten, dann aber anrührenden Auftritte. Für seine behinderte Tochter kämpft sich dieser Mann als Oberpolier beim Bau ruppig durchs Leben. Folgt eine ganz anders geartete Episode, eine bizarre Persiflage auf Berlin zur Zeit der Mauer – leichthändig durchgespielt anhand eines Filmprojekts und seiner Komparsen. Welch eine Farce, die die zeitgeschichtlichen Umstände verzerrspiegelt!

…und noch so ein gescheitertes Frauenleben 

Tragisch endet hingegen die auch pferdefachsprachlich ausgefeilte Erzählung über „Admiral Frost“, einen Deckhengst, der – per „Natursprung“ (und nicht via Samenspritze) – eine Stute begatten soll, was als durchaus animalischer, gewaltsamer Akt geschildert wird. Auch hier schimmert letztlich wieder ein kläglich gescheitertes Frauenleben hindurch – und es stellt sich mit ziemlicher Härte die Klassenfrage; wie denn überhaupt in diesem Band gar deutlich wird, wie durchlässig die gesellschaftlichen Schichten (geworden) sind – zumeist nach unten hin und zuweilen ins Bodenlose.

Weit, weit hinaus führt „Die Nacht in der Wüste“. Ein ergrauter deutscher Biochemie-Dozent, tätig in La Paz (Bolivien), nimmt eine junge deutsche Tramperin auf abenteuerlichen Wegen durch Mexiko mit. Das Land, so zeigt sich in drastischen Szenen, ist noch ungleich gewaltsamer als zu jener Zeit, als der Tochter des Biochemikers etwas widerfahren ist, was nicht konkret benannt wird. Aber man kann es sich denken. Die Tramperin freilich scheint trotzig entschlossen, ihren Weg allein fortzusetzen. Wenn das denn eine Hoffnung sein soll, so wagt sie sich nur scheu hervor und hat sich geschickt camoufliert.

Ein versoffener Bestatter in Ruhrgebiet

Schließlich, in der vorletzten Geschichte, eine „Rückkehr“ ins Ruhrgebiet. Hier geht es um den versoffenen Bestatter Egon, der seinen Vater sehr früh durch ein Zechenunglück verloren hat und nun – mit über 70 Jahren – aufbricht, um bei einer erneuten Grubenkatastrophe in Bottrop seine Dienste anzubieten… Auch dies eine herzzerreißende Handlung, durch keinerlei Moral oder gar segensreichen Trost gemildert.

Warum wir fast alle Geschichten kurz erwähnt haben? Weil man beim Lesen jede neue gleichsam als Bereicherung und Erweiterung der vorherigen begrüßt – und sei sie noch so schmerzlich. Weil man am Ende eigentlich keine einzige missen möchte. Weil Ralf Rothmann allerlei erzählerische und sprachliche Klippen gekonnt umschifft, wobei er aus wechselnden Lebenslagen keine „Lehren“, wohl aber Essenzen gewinnt.

Am Ende haben ja vielleicht sogar die Pelikane, die Rothmann in mehreren Geschichten erwähnt, etwas Besonderes zu bedeuten. Oder kommen sie etwa nur zufällig vor? Da haben wir es, das Pelikan-Problem.

Ralf Rothmann: „Hotel der Schlaflosen“. Erzählungen. Suhrkamp-Verlag. 206 Seiten, 22 Euro.




„Es ist, wie es ist“ – die frühen Jahre des Gerhard Richter

Gerhard Richter: „Sitzende“ (Oktober 1961), Öl auf Hartfaserplatte, 70×50 cm, Privatsammlung, Norddeutschland. (© Gerhard Richter 2020 (10042020) / Foto: Estel/Klut SKD)

Eigentlich geht es Gerhard Richter in der DDR gar nicht schlecht. Vom Erlös seiner Bilder kann er ganz gut leben. In Dresden, wo er studiert hat und an der Kunst-Hochschule weiterhin wirkt, gilt er manchen jungen Kollegen sogar schon als Bonze und Sprachrohr der Einheitspartei.

Doch Gerd (wie er sich damals nennt) sieht sich in einer künstlerischen und politischen Sackgasse. Auf der documenta in Kassel hat er den Surrealismus und die abstrakte und informelle Moderne kennengelernt. Jetzt hat er keine Lust mehr, sein Talent mit dem von der SED propagierten sozialistischem Realismus zu vertrödeln. Auch wenn es für den 29-jährigen Künstler ein enormes Risiko und Wagnis ist: Gerd will in den Westen und noch einmal ganz neu anfangen.

Im Westen erwartet ihn nichts und niemand

Im Februar 1961 verkauft er seinen Trabant, steckt ein paar Zeichnungen ein und fährt mit seiner Ehefrau Marianne von Dresden nach Berlin. Schon vorher hatte er, auf der Rückreise von einem Studienaufenthalt in Leningrad und Moskau, auf dem Berliner Bahnhof Zoo ein paar Koffer mit privaten Sachen deponiert. Die wird er jetzt brauchen: Denn außer einem kleinen Begrüßungsgeld und einigen warmen Worten erwartet ihn im Westen nichts und niemand.

Gerhard Richter: „Wunde 16″ (Nr. II/16/62), Februar 1962, Öl auf Hartfaserplatte, 70×100 cm, Sammlung Susanne Walther (©Gerhard Richter 2020 (10042020))

Trotzdem hofft er, an der Kunstakademie in Düsseldorf, wo sich in diesen Jahren um Joseph Beuys und der Künstlergruppe ZERO eine progressive Kunstszene entwickelt, Fuß fassen zu können. Doch bis er in die Klasse von Professor Ferdinand Macketanz aufgenommen wird und ein eigenes Zimmer in der Kirchfeldstraße 104 beziehen kann, ist es noch ein weiter Weg, muss er noch ein paar Wochen ins Aufnahmelager nach Gießen, um dort die Formalitäten seiner Übersiedelung zu beschleunigen.

„…beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“

An Helmut und Erika Heinze, seine in Radebeul (bei Dresden) gebliebenen Freunde, schreibt er in der Zeit des Wartens und Übergangs in eine ungewisse Zukunft immer wieder Briefe: „Es ist triste hier und beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“, notiert er. Ein anderes Mal: „Nicht dass ich irgendetwas bereue. Für mich war das Abbrechen logisch und notwendig, wie immer es auch ausgehen mag.“ Und immer wieder zieht er, zwischen vagen Hoffnungen und existenziellen Nöten schwankend, das lakonische Fazit: „Es ist, wie es ist.“

„Gerd Richter 1961/62: Es ist, wie es ist“: So heißt jetzt eine Ausstellung im Dresdner Albertinum, die sich ganz dieser weithin unbekannten Phase im Leben des inzwischen bekanntesten zeitgenössischen deutschen Künstlers widmet und Briefe und Dokumente, Zeichnungen und Bilder präsentiert, die bisher kaum jemand zu Gesicht bekommen hat. Die Schau ist klein und präsentiert nur wenige Werke, aber sie ist – will man wissen und verstehen, wie Richter zu dem wurde, was er heute ist – ungemein wichtig.

Zubrot mit Bemalung von Karnevalswagen

Die in Vitrinen präsentierten Briefe zeigen einen von Angst und Sorgen gepeinigten Künstler, der sich in einer Zeichnung als Gefangener im Gießener Lager stilisiert; der sich ein Zubrot mit dem Bemalen von Karnevalswagen und dem Verkauf von Mal-Utensilien verdient; der alles daran setzt, in Düsseldorf zu reüssieren, seine in Dresden erprobten figurativen Bildelemente mit den informellen und abstrakten Möglichkeiten der westlichen Moderne zu kombinieren.

Gerhard Richter: Ohne Titel („Emas Bluse“), 1962, Bluse mit Gips und Lack, 71,7 ×38,1 cm (gerahmt), Igal Ahouvi Art Collection (© Gerhard Richter 2020 (10042020))

Während seine „Sitzende“ noch sehr an Picassos kubistische Zeichenhaftigkeit erinnert, sind die verschmierte graue „Wunde“ und der bunt verkleckerte „Fleck“ schon abstrakte Farbfantasien, die er sich bei Karl Otto Götz abgeschaut haben mag, dem von Richter hoch verehrten Mal-Professor, in dessen Düsseldorfer Klasse er bald schon, im April 1962, wechseln wird.

Aufgeregte Debatten um Debüt in Fulda

Immer wieder schickt er Briefe zu seine Freunde nach Radebeul, reflektiert sein Werk, entwirft Skizzen für seine Bilder, legt Fotos bei, die er von seiner Wohnung macht. Natürlich berichtet er ihnen auch von seiner ersten Ausstellung: Gemeinsam mit Manfred Kuttner kann er im September 1962 in der „Galerie junge Kunst“ in Fulda einige seiner neuesten Werke zeigen. Sie erregen in der örtlichen Presse einiges Aufsehen, die an die Wand gehängten präparierten Kleidungsstücke – zum Beispiel ein lackiertes Hemd – lösen Debatten aus: Von „einfach toll“ über „großer Blödsinn“ bis „Kulturschande“ reichen die von der „Fuldaer Volkszeitung“ wiedergegebene Kommentare der Besucher. Verkaufen wird Richter kein einziges der in Fulda gezeigten Werke. Aber das macht nichts. Er weiß jetzt, dass alles ganz anders werden muss.

Bilderverbrennung und radikaler Neubeginn

Um sich von allem Ballast zu befreien, verbrennt er die Bilder in einem Baucontainer im Hof der Düsseldorfer Akademie: ein Befreiungsschlag und radikaler Neubeginn. „Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich mit den Bildern Erfolg gehabt hätte“, wird er viele Jahre später sagen. Nach dem Autodafé wird er Ende 1962 beginnen (Gemälde Nummer 1: „Tisch“), seine Werke zu nummerieren und zu katalogisieren. Doch das ist ein anderes Kapitel. Wer einige dieser Werke – zum Beispiel das nach einem Foto gemalte unscharfe Bild Nummer 14: „Sekretärin“ oder die mit dem Rakel gezogene Farbexplosion Nummer 722-3: „Abstraktion“ – bewundern will, braucht nur eine Treppe höher zu steigen: In der Dauerausstellung des Albertinums sind zwei Säle dem großen Meister gewidmet.

„Gerd Richter 1961/62: Es ist, wie es ist“, Albertinum, Dresden. Bis 29. November. Aktuelle Informationen zu Öffnungszeiten, Programm und Besuchsmodalitäten in Zeiten von Corona auf der Webseite www.skd.museum. Katalog (Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln), 125 Seiten, 29,80 Euro.




Kindheit im Ruhrgebiet – Erinnerung an versunkene Zeiten

Diese Fotografie aus dem Jahr 1958 ist zugleich ein Plakatmotiv der Schau: „Zwei Milchholer in Buer“ (Gelsenkirchen). (© Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Herbert Konopka)

Oh ja, so war es. Wirklich und wahrhaftig: Genau solche kurzen Lederhosen haben wir Jungs („My Generation“) damals Tag für Tag getragen. Robuster ging’s nimmer. Und ja: Das Tischfußballspiel aus Blech kennt man so auch noch. Ebenso grüßen die viele Jahrzehnte alte Spielesammlung und die Märklin-Eisenbahn aus versunkenen Zeiten herüber. Oder jene zerbeulten Kannen, mit denen man ins Milchgeschäft ging. Und, und, und.

Diese Ausstellung weckt Erinnerungen noch und noch, für und für. Überdies macht die Schau „Kindheit im Ruhrgebiet“ im Essener Ruhr Museum deutlich, wie sich auch hier die frühen Lebensjahre verändert haben. Nach dem Krieg herrschte vielfach noch Not. Die breite Mehrheit lebte in sehr schlichten Verhältnissen. Trotzdem erinnern sich die Menschen heute vor allem an Glücksmomente ihrer Kindheit.

Nach und nach drang dann die zuweilen grelle Konsumwelt – wie überall im Lande – mit wachsender Macht in die Kinderzimmer vor. Da gab’s dann in den späten 70er und frühen 80er Jahren die ersten, anfangs freilich noch sehr bescheidenen Spielkonsolen (mit dem Plop-Plop-Klassiker „Pong“ für den TV-Bildschirm) oder gar schon das erste eigene Fernsehgerät im farbstarken Stil der Zeit. Derweil verschwand allmählich die ehedem typische Ruhrgebiets-Kindheit vor rußigen Zechen- und Halden-Kulissen. Auch an Ruhr und Emscher zogen sich die meisten Kinder von draußen in die Häuser und Wohnungen zurück. Traurig genug: Je sauberer die Luft im Revier wurde, umso öfter blieben die Kinder drinnen.

Sichtlich oft und gern benutztes Spielzeug: drei Teddybären – mit dem Buch „Drei Bären“ von Leo Tolstoi, 1950er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Ausstellung, binnen zwei Jahren nicht zuletzt auf Anregung des Kinderschutzbundes (Ortsverband Essen e. V.) entstanden, reicht mit 66 Vitrinen-Exponaten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1989. Spätere Signaturen der Kindheit gelten (noch) nicht als aufbewahrenswert. Es fehlt noch die zeitliche Distanz. Wahrscheinlich tauchen diese Dinge ja eines Tages auf Dachböden oder in Kellern auf und werden wieder wertgeschätzt. Abwarten.

All die jetzt präsentierten Erinnerungsstücke kamen aufgrund zweier öffentlicher Aufrufe zusammen. 2018 meldeten sich zwar etliche Bürger, aber noch kaum mit nostalgischen Kleinoden aus den 80ern. So wurde im Sommer 2019 noch einmal nachgelegt. Michaela Krause-Patuto und ihr Kuratoren(innen)-Team hatten nunmehr eine reichere Auswahl. Sie führten zu jedem ausgesuchten Stück Gespräche mit den privaten Leihgebern, um jeweils einen Erzähl-Zusammenhang herzustellen. Aus diesen Geschichten wiederum ergab sich erlebte Geschichte. Wer das ausgiebig nachschmecken möchte, sollte sich den Katalog besorgen. Das wird jedes Exponat im persönlichen und zeitgeschichtlichen Kontext vorgestellt.

Zunächst galt es, für die Ausstellung den Zeitrahmen der Kindheit zu setzen: Er reicht vom 4. bis zum 14. Lebensjahr – von den ersten bewussten Erinnerungen bis zur Pubertät. So schieden beispielsweise niedliche Babymützen aus dem Angebot aus. Überhaupt wollte man das Ganze eben nicht putzig aufziehen, sondern durchaus ernsthaft und mit historischen Hintergründen angereichert. Darauf legt auch der Museumschef Prof. Heinrich Theodor Grütter großen Wert.

Zeittypische Sammlung: Glanzbilder in Zigarrenkiste, 1960er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Leihgaben verweisen vor allem auf die üblichen Phänomene und Stationen des Aufwachsens: Kindergarten, Schule, Spiele, Familie, Geburtstage, Weihnachten und sonstige Feste.

Die chronologisch angeordnete Galerieausstellung auf der 21-Meter-Ebene des Ruhr Museums wirkt sehr konzentriert. Jedes Exponat wird in einer eigenen Vitrine gezeigt. Das verleiht noch den unscheinbarsten Ausstellungsstücken eine ungeahnte Dignität. Selbst die Knicker-Kügelchen oder die Glanzbilder fürs Poesiealbum haben hier ihren veritablen Auftritt, sie wirken nicht wie Bestandteile eines Sammelsuriums, sondern wie Besonderheiten, die allerdings auch für ein Allgemeines stehen. Bekannter Effekt: Sieht man etwa Klassenfotos bestimmter Jahrgänge, so scheinen sie jeweils innig miteinander „verwandt“ zu sein. Doch natürlich ist jede Kindheit auch individuell verschieden.

Geradezu die Ikone einer ehemaligen Kindheit im Revier: „Henkelmann-Brücke“, Oberhausen, um 1960. (@ Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Rudolf Holtappel)

Und so lässt sich hier eine kleine Zeitreise in diverse Kindheiten der Region antreten. Sie führt vom Schulranzen, den der Bergmanns-Opa für seine Enkelin selbst angefertigt hat, und dem vom Vater gleichfalls selbst gebauten Puppenhaus (das der Elektriker mit winzigen Lichtleitungen versehen hat), übers liebevoll zusammengestellte Fußball-Autogrammalbum bis hin zur rasanten Carrera-Bahn, mit der man in der Ausstellung spielen darf. Überhaupt schließt der inspirierende Rundgang mit einigen „Spielinseln“, auf denen auch Erwachsene mal wieder ein wenig Kind sein dürfen.

Eines der größten Exponate ist eine „Seifenkiste“, die in keine Vitrine passte. Das vielleicht erstaunlichste Stück ist indessen das Holzfenster, das aus einem reviertypischen alten Kiosk (Büdchen) stammt. Als es bei einem Einbruch zerstört wurde, sicherte sich die Enkelin der Inhaberin das Fenster – zur bleibenden Erinnerung.

Nicht nur dreidimensionale Objekte sind zu sehen, sondern auch rund 120 Fotos zum Thema, die aus der ungeheuren Bild-Kollektion des Ruhr Museums stammen, welche rund 4 Millionen (!) Lichtbilder umfasst. Auch die Fotografien bringen, wie die Gegenstände, so manches wortlos auf den Begriff.

Einige Fotos zeigen beispielsweise auch die Kinder türkischer Familien oder anderer Migranten im Ruhrgebiet. Dazu muss man wissen, dass dieser Teil der Bevölkerung sich von den erwähnten Aufrufen überhaupt nicht angesprochen fühlte. Lediglich ganz vereinzelte haben Leute mit spanischen oder italienischen Wurzeln reagiert. Das gibt zu denken, weit über diese Ausstellung hinaus.

Zaghafte Anfänge einer neueren Zeit: Spielekonsole „tele-ball“, 1970er Jahre (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

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P.S.: Anno 2001 gab es mit „Maikäfer, flieg…“ eine entfernt vergleichbare Kindheits-Ausstellung im damaligen Essener Ruhrlandmuseum (Vorläufer des Ruhr Museums), die ich damals ebenfalls besucht habe. Die Besprechung findet sich hier.

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„Kindheit im Ruhrgebiet“. Ruhr Museum, Essen (Gelände der Zeche Zollverein, in der Kohlenwäsche, Galerie auf der 21-Meter-Ebene. Gelsenkirchener Straße 181 / Navi: Fritz-Schupp-Allee). Vom 7. September 2020 bis zum 25. Mai 2021, geöffnet täglich (auch Mo) 10 bis 18 Uhr. 24., 25. und 31. Dezember geschlossen.

Eintritt 3 €, ermäßigt 2 €, Kinder und Jugendliche unter 18 frei (Führungen gibt es schon für Kinder ab 5). Besucherdienst: Mo-Fr 9-16 Uhr, Tel. 0201 / 24681 444. Katalog 24,95 Euro.

Online Tickets buchen: https://ruhrmuseum.ticketfritz.de

Beim Besuch gilt die Corona-Schutzverordnung des Landes NRW. Aktuelle Details: www.ruhrmuseum.de/de/informationen-zum-besuch/ hygiene-und-vorsorgemassnahmen/

 




Die Rettung des Planeten kann auch aus Poesie erwachsen: Andri Snær Magnasons aufrüttelndes Buch „Wasser und Zeit“

Wenn ein Thema dieser Zeit global und entsetzlich entgrenzt genannt werden kann, dann das wohl dringlichste überhaupt: der Klimawandel. Es ist denn auch viel mehr als ein „Thema“ unter anderen, es geht ja um die ganze Existenz des Planeten und unseres Daseins.

So darf es auch nicht verwundern, dass der isländische Autor Andri Snær Magnason für sein streckenweise aufrüttelndes Buch eine geradezu verwegene Mixtur anrührt, indem er beispielsweise vorzeitlichen und immer noch nachwirkenden Bezügen zwischen seiner karstigen Heimat und dem Himalaya nachspürt. Dermaßen auffällig erscheinen ihm landschaftliche, spirituelle und mystische Querverweise, dass es kein Zufall mehr sein könne, sondern höherer und tieferer Sinn darin liegen müsse, der jede dürre Schulweisheit übersteigt oder jedenfalls überhöht. Nicht nur mit Daten, sondern auch und vor allem mit Dichtung lasse sich vor Augen führen, wie schön das Verlorene war und wie ernst die jetzige Situation ist.

„Mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite“

Der ungemein vielseitige Schriftsteller Magnason (Kinderbücher, Theaterstücke, Lyrik, Romane, Sachbücher), der auch schon mal bei der Präsidentschaftswahl seines Landes kandidiert hat, findet, dass wir noch gar keine adäquate Sprache gefunden haben für die drohenden Katastrophen, die ihn wiederum an die altisländischen Vorstellungen vom Ragnarök (Weltuntergang) gemahnen. Elemente der geistesgeschichtlich überlieferten „Romantik“, Naturanbetung und beseeltes Erzählen scheinen nach seiner Ansicht hierbei entschieden weiter zu führen als nur rationale Betrachtungen oder prognostische Berechnungen. In poetischer Diktion wird ein Gletscher-Erlebnis vollends überwältigend, so heißt es etwa in einem Text des Romantikers Helgi Valtysson: „Und dein Selbst verschmilzt wie eine bebend erklingende Saite mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite…“ Für Magnason ist es keine Frage mehr, dass dieses Gefühl und seine natürliche Grundlage bewahrenswert sind. Freilich ließe sich das alles auch als Esoterik denunzieren, aber es gibt ungleich Wichtigeres zu tun.

Nach einer passenden Sprache suchen

Traditionelle isländische Sprechgesänge, noch von den Großeltern des Autors überliefert, korrespondieren mit einer damals noch recht intakten Natur, vor allem mit den mächtigen Gletschern, die nun längst dahinschmelzen; ein höchst beunruhigendes Phänomen, das abermals auf die Himalaya-Region bezogen wird, wo das Leben vieler Millionen Menschen vom alljährlichen Zyklus des Gletscherwassers abhängt. Wasser und Zeit…

An einem etwas anders gelagerten Beispiel sucht Magnason zu erläutern, wie Menschen ihre Lage gar nicht begreifen können, wenn sie keine passenden Worte für akute Zustände haben. So habe schon um 1809 der dänische Abenteurer Jørgen Jørgensen den Isländern erzdemokratische Freiheitswerte und Unabhängigkeit gepredigt, doch das Volk habe überhaupt nicht gewusst, wovon er da redete – und sei der dänischen Fremdherrschaft hörig geblieben.

„Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe“

Das Buch führt in die Frühzeit der isländischen Gletscherforschung in den 1930er Jahren, die wiederum verwoben wird mit der Familiengeschichte des Autors, welche auch in andere Bereiche ausgreift. Wer kann schon von sich sagen, dass ein Großvater in die USA ausgewandert ist und dort als Arzt sowohl den Schah von Persien als auch Andy Warhol operiert hat? Wer kann mit Fug behaupten, ein Onkel sei weltweit ein Pionier bei der Rettung nahezu ausgerotteter Krokodile gewesen? Wie heißt es doch auf Seite 139 so allgemeingültig: „Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe…“

Was einem zwischendurch wie bloße Abschweifung erscheinen mag, markiert in Wahrheit wohl die Spannweite der möglichen und (prinzipiell jedem zugänglichen) Lebenserfahrung, die eben potentiell auch rückwärts bis zu den Vorfahren und vorwärts bis zu Kindern und Enkeln reicht. Auch schon vor ergänzender Lektüre begründet dies eine Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt. Die fassbare Dimension der Zeit umgreift mehr als das eigene Leben. Diese Einsicht bewirkt, dass man über sich und seine Generation hinausdenkt; dass man gewahr wird, wie sehr die Erde sich seit den Ahnen geändert hat, welche Verluste bereits eingetreten sind. Das Schicksal der Erde dreht sich derweil nicht mehr um zigtausend Jahre, es steht – so der glaubhaft erschreckende Befund – Jahr um Jahr mehr auf dem Spiel, ist vielleicht schon bald unwiderruflich besiegelt.

Welch eine Bürde für die Nachgeborenen!

Von immer neuen Seiten beleuchtet der Autor die gigantische Bedrohung. Gelegentlich scheint das Buch thematisch etwas auszufransen, doch nimmt es auch immer wieder die Hauptspur auf. Der Zufall (oder die Fügung?) wollte es, dass Magnason mehrfach Gespräche mit dem Dalai Lama führen durfte, dessen Weisheit in allen Dingen mit staunenswerter Zuversicht einhergeht, wie denn überhaupt gegen Schluss des Bandes einige Entwicklungen und Forschungen anklingen, in denen Lösungsansätze stecken könnten. Doch es geht eben nicht nur um Forschung, sondern zuallererst um Haltung und Entschlusskraft. Und Magnason ist überzeugt: Die jetzt heranwachsende ist die letzte Generation, die die Erde retten kann. Welch eine Bürde!

Andri Snær Magnason: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Insel Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.

 




Soziale Miniaturen (21): Vor dem Sprung

An der Straßenecke schaust du unwillkürlich nach oben: Da hängt einer im Fenster, vornüber gebeugt, die Beine weit voraus, überhaupt das Schwergewicht schon beinahe außerhalb des dahinter liegenden Zimmers.

Zuallererst könnte man es für eine unvernünftige Wette halten; eine Wette zwischen ihm dort oben und dem Mann, der hinter ihm im Raume steht. Doch schnell wird klar, dass es ernst ist, dass der Hintere ihn dringlich vom Sprung abhalten will, durch fortwährendes gutes Zureden. Vielleicht hat den Sprungbereiten eine Frau verlassen, vielleicht ist ihm jemand gestorben. Mag sein, dass er auch unter Drogen steht. In diesem Augenblick ist es zweitrangig.

Die Vorortstraße ist zu dieser nachmittäglichen Sonntagszeit nicht belebt, nur ganz vereinzelt stehen da ein paar Leute und schauen ebenfalls hoch, beklommen schweigend. Erst recht ist da niemand, der „Spring doch!“ oder dergleichen ruft. Muss man das eigens feststellen?

Es ist zwar ein Dachfenster, doch liegt es „nur“ im zweiten Obergeschoss. Es geht vielleicht fünf Meter hinab in einen Vorgarten. Der verzweifelte Mann, der erbärmliche, nahezu animalische Leidenslaute hervorwürgt, würde sich beim Sprung erheblich verletzen, aber wohl nicht zu Tode stürzen. Das mindert jedoch nicht das Desolate der Situation, es mischt ihr einen giftigen Schuss von Komik bei, welche die Verzweiflung umso greller hervortreten lässt. Für jedwede Lächerlichkeit hat dieser Mensch kein Empfinden mehr…

…und schon kommt ein Rettungswagen, den der Freund des Verzweifelten inzwischen gerufen hat. Nur einige Sekunden vor dem Eintreffen ist der Mann wimmernd ins Zimmer zurückgekrochen. Das Fenster ist nun geschlossen, die unmittelbare Gefahr ist offenbar vorüber. Was sich drinnen abspielt, geht uns weiter nichts an.

Fast wortlos, umsichtig, mit betonter, fast schon gespenstischer Routine wickeln die Sanitäter ab, was getan werden muss. Es möchte scheinen, als lebten wir immer noch in einer wohlversorgten Gesellschaft.

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen” erschienen und durch die Volltext-Suchfunktion auffindbar:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15), Peinlicher Moment (16), Ich Vater. Hier. Jacke an! (17), Herrscher im Supermarkt (18), Schimpf und Schande in der Republik (19), Der Junge mit der Goldfolie (20)

 




Neues Album „Rough and Rowdy Ways“ – Bob Dylan auf dem Höhepunkt seines Schaffens

Gastautor Bernd Huber über das neue Album von Bob Dylan:

Bob Dylan legt uns mit „Rough and Rowdy Ways“ die Blaupause seiner künstlerischen Persönlichkeit vor. Er destilliert das, was man von ihm halten darf und bleibt sich selbst treu. Er hatte mit den Musen nie ein Problem, er brauchte sich nie um sie zu bemühen. Aber jetzt ruft er sie an, augenzwinkernd.

Aber so hatte er auch angefangen. Die Musik und die Worte, das war für ihn nie billiger Karneval, kein Tingeltangel, kein Clap your hands und I love you all, immer war das Kunst für ihn. Und weil es immer Kunst war, man in ihm aber einen Botschafter für andere Dinge sehen wollte, schnallte er sich irgendwann die Stratocaster um. Dylan machte aus dem Rock’n’Roll keinen Zirkus, er nahm ihm jeden marktschreierischen Ansatz.

Ich weiß noch, wie er mich als junger Mann erschreckte, so schön war er, und er wusste schon sehr gut, wer er war. So etwas hatte ich nie erlebt. Als er einem Journalisten, der ihm vorwarf, gar nicht richtig singen zu können, antwortete, er sänge schöner als Caruso, war da auch schon Poesie in dieser Antwort.

Melancholie, aber auch Aufbegehren

Von William Blake und Shakespeare bis Jimmy Reed, Dylan hat alles verinnerlicht. Chopin, Beethoven, alles ist in seiner Musik und in seinen Lyrics. „Rough And Rowdy Ways“ ist die Konsequenz seines Schaffens, indem er sich selbst auf die Spitze treibt. Den Preis, den er für das alles bezahlt, nennt er uns, wenn er davon singt, dass man sowohl weinend als auch lachend dichten muss. Und dann ist auch noch der Wunsch unsichtbar zu sein, wie der Wind.

Ich stehe Alterswerken von Rockmusikern skeptisch gegenüber, aber Dylan ist ja kein Rockmusiker im eigentlichen Sinne und wäre er einer, dann wäre er eben auch mit dieser Platte eine Ausnahme, denn er lässt sich nicht hinreißen, „nur“ mit der Altersmelancholie zu kokettieren. Dylan wäre nicht Dylan, wenn da nicht Aufbegehren, ein Anflug von Zynismus und Kraft wären. „How long can it go on?“ Und der nächste Satz: „I crossed the rubicon“. Ich habe mich der Welt geöffnet, singt er, jedoch auch: „Ich zeige Euch vieles von mir, aber nicht alles“.

Den vergessenen Blues neu belebt

Die Musik ist unter all’ diesen Worten ist so wunderbar direkt, druckvoll und verletzlich gleichzeitig. Hier singt ein Narr zu einem Dieb, aber der Dieb hat dem Narren den Text untergeschoben. Haben einmal die Weißen den Blues von den Farbigen geklaut, aus ihm dann Rock’n’Roll gemacht, so steht es Bob Dylan zu, diesen vergessenen Blues wieder aus der Taufe zu heben, ihn mit Country und all’ den großen Songs der amerikanischen Geschichte zu versöhnen. Wenn er singt, er sei kein falscher Prophet, sondern nur einer, der sagt, was er denkt und fühlt, dann bin froh, dass einer so denken und fühlen kann und diesem Denken und Fühlen eine einmalige Form verleihen kann.

Der junge Bob Dylan ist als Intellektueller gestartet. Wenn einer Zimmermann heißt, sich aber selbst zu Bob Dylan macht, dann weiß er schon, wo er hin möchte. Mit seiner neuen CD ist er, wie er singt, ziemlich zwischen Himmel und Erde angekommen. Höher hinauf kommt keiner mehr. Zumindest ist niemand in Sicht, dem das ansteht.

Es ist ein weiter Weg gewesen von ALL ALONG THE WATCHTOWER bis zu ROUGH AND ROWDY WAYS, aber jede Etappe mit Dylan war es wert, dass man sie mitgegangen ist. Sein neues Album ist jetzt schon ein Meilenstein in der Pop-und Rockgeschichte. Wir erleben den größten Songwriter aller Zeiten auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Es gibt nichts Vergleichbares.




Vor jeder Haustür ein Paket mit Erinnerungen – auf Kurzbesuch in der alten Heimat Dortmund

Auch mit Erinnerungen verbunden: Impression der von Hilde Hoffmann-Schulte gestalteten Glasfenster einer Dortmunder Kirche. (Foto: © Marlies Blauth)

Unsere Gastautorin, die Künstlerin und Lyrikerin Marlies Blauth, die seit vielen Jahren bei Düsseldorf lebt, über einen Besuch in ihrer Heimatstadt Dortmund:

Mein Steuerberater wundert sich, lächelt, weil ich immer – also einmal im Jahr – mit dem Bus komme. Er hat nämlich sein Büro ganz in der Nähe meines Elternhauses (in dem längst jemand Anderes wohnt), also knapp 100 Kilometer von meinem aktuellen Wohnort entfernt. Ziemlich aufwändig, das alles.

Diese Fahrt „nach Hause“ genieße ich aber jedesmal, zelebriere sie fast.

Die Sonne scheint auf das Dach des Hauses, in dem meine erste riesengroße Liebe wohnte. Ich winke, in Gedanken oder vielleicht auch ein kleines bisschen wirklich. Dann, an der nächsten Haltestelle: Aussteigen.

Ein knapper Kilometer Fußweg, ich nehme meine Kamera aus dem Rucksack und entdecke immer wieder neue Perspektiven, die meine Erinnerungen nochmal extra aufwecken: Mir wird wieder gegenwärtig, wie wir als Kinder auf Bäume kletterten, Verstecken spielten, ich zum Muttertag mal einen peinlichen krautigen Strauß pflückte (der auch nicht liebevoll gemeint war …); wie ich später dann mit einer Schulfreundin hier spazieren ging und wir uns den ganzen Nachmittag auf Latein unterhalten haben. Oder zu den Partyzeiten: Hier kamen wir morgens um fünf Uhr an, nach einem Fußmarsch von über drei Stunden. Nachts sind alle Katzen grau, aber die Stimmung ist eine besondere. Damals habe ich die erste und einzige Fledermaus in freier Wildbahn gesehen.

Und wir haben diskutiert: für oder gegen die Atomkraft, was ist mit der DDR, muss unser Staat sozial(istisch)er werden, geht es nicht überhaupt viel zu ungerecht zu. Ich komme an meiner Konfirmationskirche vorbei, in der ich fürchterlich öde Stunden verbracht habe, die mir wenig später aber eine der schönsten Zeiten meines Lebens ermöglicht hat – durch eine wunderbare, neu gegründete Jugendgruppe. Ganz in der Nähe rauchte ich meine erste (und einzige, halbe) Zigarette: Ich fand sie sehr lecker, sie ist mir sogar gut bekommen. Noch heute bin ich meiner 14-jährigen Altklugheit sehr dankbar: Warum Geld ausgeben, wenn die Eltern doch alles andere Schmackhafte zahlen? Und so blieb ich zeitlebens Nichtraucherin.

Hier wohnte der Klassenkamerad, der bestimmt ADHS hatte; damals noch ganz selten, niemand wusste darüber Bescheid. Dort war ein Mädchen zu Hause, mit dem ich gern befreundet gewesen wäre, das mich aber jahrelang gemobbt hat. Ich glaube, das wurde kräftig unterstützt durch die Eltern – deren Wunschfreunde für ihr Kind was hermachen sollten. Für mich waren es schwere Jahre, aber auch lehrreiche.

Überall in der alten Heimat, vor jeder Haustür, an jedem Weg, Baum und Strauch, sehe ich Pakete mit Geschichten liegen, die man nur öffnen muss. Und das mache ich, wie gesagt, einmal im Jahr – und so gern! Von manchem bin ich immer wieder überwältigt, bei anderem konstatiere ich froh, es ein für allemal abgehakt zu haben. So, wie es wohl allen Menschen geht.

Diesmal beherrscht und verändert Corona sogar meinen alljährlichen Ausflug. Nicht nur, dass er deutlich später stattfinden musste als gewohnt; mein Steuerberater arbeitet nun im Homeoffice, ganz woanders also, so dass mein Wandeln durchs Revier meiner Kinder- und Jugendzeit diesmal flachfällt. Die andere Adresse – wieder mit dem Bus, wieder Lächeln – liegt an einer Straße, wo ich vielleicht zweimal im Leben war.

Aber auch hier liegen Erinnerungsgeschichten.
Ganz in der Nähe wohnte eine meiner Nachhilfeschülerinnen (ich hatte nur einen männlichen Schüler, der war erwachsen und lernte Deutsch als Fremdsprache): Sowohl die wunderbare Zusammenarbeit als auch der sich einstellende Erfolg (Note 2) mag meine Entscheidung angeschubst haben, Lehrerin werden zu wollen: Es machte mir Spaß, Lernstoff so aufzubereiten, dass „man“ ihn kapiert. Und wenn das dann der Fall war, freute ich mich wie eine Schneekönigin. Zwar habe ich letztlich doch nie an einer Schule gearbeitet (sieht man von ein paar kleineren temporären Projekten ab), immerhin aber war ich 21 Jahre lang Lehrbeauftragte an einer Hochschule.

Und dann sehe ich plötzlich die Kirche an meinem Weg! Deren Glasfenster sind von Hilde Hoffmann-Schulte (1937 – 2014) gestaltet, einer Dortmunder Künstlerin. Ich war noch ganz jung, und sie kaufte damals ein Bild von mir. Soooo stolz war ich … und überredete meine Mutter, mit mir jene Kirche anzusehen, weil ich wissen wollte, wie meine Bilderkäuferin arbeitete. Meine Mutter mochte eigentlich keine Kirchenbesichtigungen, aber der längere Spaziergang mit mir reizte sie wohl doch. Und ich fand es klasse, eine Künstlerin zu kennen, deren Entwürfe so einige Kirchen und andere Gebäude mitprägten.

Natürlich komme ich diesmal nicht hinein in den Kirchenraum. Auch wenn sich manche Öffnungszeiten gebessert haben, so macht spätestens Corona wieder einen Strich durch diese Rechnung. Ich kann nur – mit und ohne Kamera – ein bisschen durch die Buntglasstücke „spieksen“, wobei meine Fotos der Künstlerin natürlich nicht gerecht werden (können). Oder vielleicht doch, ein bisschen jedenfalls – indem wir uns künstlerisch für einen Moment verbinden?

Damals war noch nicht abzusehen, dass auch ich Kirchenräume mitgestalten würde, mit meiner Kunst und von mir kuratierten Wechselausstellungen. So schließen sich Kreise.

Und ich danke jedem, der meiner Biografie ein Mosaiksteinchen zugefügt hat. Viele davon durfte ich in „meiner“ Stadt Dortmund aufsammeln. Meine Kurzbesuche frischen das auf, und ich bin glücklich, alles für einen Moment aufleben zu lassen.

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Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin. Der Text ist zuerst im eigenen Blog von Marlies Blauth erschienen, in dem auch einige Beispiele ihrer künstlerischen Arbeit zu sehen sind:

kunst-marlies-blauth.blogspot.com
© Marlies Blauth, 2020




Schonungsloser Blick auf Missstände seiner Zeit: Vor 150 Jahren starb der englische Schriftsteller Charles Dickens

Zeitgenössische Illustration zu Charles Dickens‘ Roman „Oliver Twist“ – von George Cruikshank (1792-1878): Oliver Twist wird bei einem Einbruch verletzt. (Wikimedia public domain /gemeinfrei – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Oliver_Twist_-_Cruikshank_-_The_Burgulary.jpg)

Sein Blick war unbestechlich und schonungslos: Der englische Schriftsteller Charles Dickens hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ein ausgestoßenes, misshandeltes Kind zu sein. Die trüben Erfahrungen im gnadenlosen Kapitalismus des viktorianischen England ließ er in seine Romane einfließen.

Keine erbauliche Lektüre also, was er in Welterfolgen wie „Oliver Twist“ oder „David Copperfield“ festgehalten hat. Am 9. Juni 1870, vor 150 Jahren, ist der scharfsichtige und mit manchmal grotesker Ironie gesegnete Autor auf seinem Landsitz Gads Hill in Higham bei Rochester in England an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben.

Charles Dickens gehörte weder der englischen High Society an noch hatte er eine universitäre Erziehung genossen. Mit sieben Geschwistern wuchs er im Haushalt eines nahezu mittellosen Schreibers im Dienste der englischen Marine auf. Als Charles 12 Jahre alt war, ließen Gläubiger den Vater 1824 ins Schuldgefängnis stecken, weil er die hohen Lebenshaltungskosten in der expandierenden Großstadt London nicht mehr aufbringen konnte. Mit Kinderarbeit musste der Junge den Lebensunterhalt für die verarmte Familie verdienen. Er schuftete in einer Lagerhalle und einer Fabrik.

Zwei Jahre konnte er zur Schule gehen, nachdem sein Vater freigekommen war. Bildung erwarb sich der anfangs kränkliche, wissbegierige Junge durch einige Bücher aus seines Vaters Besitz und durch Besuche im British Museum. Als Schreiber bei einem Rechtsanwalt konnte er Menschen studieren: grausame, selbstsüchtige Typen, gütige und mildtätige Charaktere. Sie flossen in seine späteren Werke ein. In den „Sketches by Boz“ (sein Pseudonym), für verschiedene Londoner Blätter geschrieben, hielt er Stimmungen, Charaktere und soziale Verhältnisse der Metropole fest. Der 24-jährige weckte erste literarische Aufmerksamkeit, als er sie 1836 als Buch veröffentlichte: „Londoner Skizzen“ ist der deutsche Titel.

Bekehrter Geiz: „Eine Weihnachtsgeschichte“

Eine Geschichte, die auch durch mehr als 30 Verfilmungen bekannt geworden ist, erschien 1843: „A Christmas Carol“ („Eine Weihnachtsgeschichte“) verbindet die Kritik an den sozialen Missständen in der Industrialisierung in England mit der Schilderung eines kaltherzigen Eigenbrötlers. Ebenezer Scrooge kennt weder Mitleid noch Einfühlungsvermögen, hält die Feier des Weihnachtsfestes für Humbug und Spenden für Arme für überflüssig. Vom Kampf seines kärglich bezahlen Angestellten Bob Cratchit um den Unterhalt seiner Familie und die Gesundheit seines behinderten Kindes Tim nimmt er keine Notiz.

Dickens bricht den Realismus der Erzählung auf: Der Geist von Scrooges verstorbenem Teilhaber erscheint in der Christnacht, warnt den Geizhals vor den Folgen seiner Geldgier und kündigt drei Geister der Weihnacht an. Sie zeigen Scrooge schonungslos die Folgen seines Handelns – für die Familie von Cratchit, für sich selbst und für sein Schicksal nach dem Tod. So wandelt sich Scrooge zu einem Menschen, der erkennt, dass auch er selbst durch Freundlichkeit und Großzügigkeit ein besseres Leben führen würde. Die Weihnachtsgeschichte wurde u.a. 1983 als Zeichentrickfilm mit Disney-Figuren wie Onkel Dagobert als Scrooge und Mickey Mouse als Cratchit produziert; neun Jahre später entstand eine Version mit  Charakteren aus der „Muppets Show“ als Hauptdarsteller.

Kinderarbeit und Elend: „Oliver Twist“

Zu den bedeutsamsten Romanen des gesamten 19. Jahrhunderts wird „Oliver Twist“ gezählt. Der überwältigende Erfolg erschien 1837 bis 1839 in Fortsetzungen in einer Zeitschrift, wurde aber auch kritisiert – etwa wegen der idealisierten Charakterdarstellung seines Helden, wegen der unverblümt grausamen Schilderungen der sozialen Realität oder eines gewissen Zugs zum Melodramatischen.

In „Oliver Twist“ flossen die eigenen Erfahrungen ein, die Dickens mit Kinderarbeit, Elend, menschlicher Niedertracht und grausamem Verbrechen gemacht hatte. Der Waisenjunge, der aus dem Armenhaus flieht, gerät in die Fänge eines skrupellosen Gauners, der ihn zum Kriminellen ausbildet, lernt Mord und Misshandlung kennen, taucht tief in die menschlichen Abgründe ein, die sich bei den Ausgestoßenen, den Elenden, den Hoffnungslosen auftun. Aber Oliver erfährt auch Fürsorge und Liebe und lebt zuletzt dank einer Kette glücklicher Fügungen in geordneten Verhältnissen. Der soziale Realismus der Schilderungen hat damals in ganz Europa Aufsehen erregt und gab in England den Anstoß zu sozialpolitischen Reformen.

Vom Handlanger zum Schriftsteller: „David Copperfield“

Erfahrungen aus seinem Leben spiegelt auch Dickens‘ Roman „David Copperfield“, der ab 1849 entstand – ein Buch über die Entwicklung eines gedemütigten und misshandelten Kindes zu einem erfolgreichen Schriftsteller. Das Werk mit stark autobiographischen Bezügen wird unter die wichtigsten englischsprachigen Romane des 19. Jahrhunderts gezählt. Dickens selbst bezeichnete ihn als seinen „Lieblingsroman“. Auch der unmittelbar nach „Oliver Twist“ 1839 erschienene Roman „Nicholas Nickleby“ ist ein kritischer Gesellschaftsroman, der Dickens unter dem Pseudonym „Boz“ vor allem in Deutschland populär gemacht hat.

Seinen literarischen Ruhm begründete der zunächst als Parlaments-Stenograph, später als Journalist arbeitende Charles Dickens 1836/37 mit den humorvollen „Pickwick Papers“, zu Deutsch „Die Pickwickier“, erschienen ursprünglich als Zeitschriften-Fortsetzungsroman und geschickt an Interessen und Reaktionen der Leser angepasst. Seit 1842 begab sich Dickens immer wieder auf Reisen, zunächst in den USA, dann in England, bei denen er aus seinen Werken vorlas. Bei seinem Tod hinterließ er ein beträchtliches Vermögen, mehr noch aber einen literarischen Ruhm, der bis in die Gegenwart nicht verblasst ist.




„Bist Du’s, lachendes Glück?“ – Vor 150 Jahren wurde der Operettenschöpfer Franz Lehár geboren

„Dein ist mein ganzes Herz! Wo Du nicht bist, kann ich nicht sein. So wie die Blume welkt, wenn sie nicht küsst der Sonnenschein …“.

Der Tenor Richard Tauber hat diesem Lied aus „Das Land des Lächelns“ zum Welterfolg verholfen. Der Komponist war vorher schon in den Olymp der Operette aufgenommen worden: 1929, als die Liebesgeschichte eines chinesischen Prinzen und einer jungen Wiener Dame der besten Gesellschaft im Berliner Metropol-Theater uraufgeführt wurde, hatte Franz Lehár schon über 25 Jahre lang einen Erfolg an den anderen gereiht.

Wer kennt sie nicht, die unsterblichen Titel seiner verführerischen, ins Ohr gehenden Erfindungen? Das „Vilja-Lied“ aus der „Lustigen Witwe“, Lehárs 1905 uraufgeführtem erstem Welterfolg? „Bist Du’s, lachendes Glück“ aus dem 1909 im Theater an der Wien erstmals gegebenen „Graf von Luxemburg“. „Hör‘ ich Cymbalklänge“ aus der „Zigeunerliebe“ von 1910, einer „romantischen“ Operette, in der Lehár die melancholische Melodik seiner ungarischen Heimat in farbige Klänge und verwegene Harmonien verwandelt. Und dazu noch das „Wolgalied“ aus „Der Zarewitsch“, mit dem sich Richard Tauber und seine Nachfolger an Weltstadt- und Provinzbühnen in die Herzen des Publikums geschmachtet haben.

Vielsprachiger Bürger der Donaumonarchie

Heute liegt Komárom, wo der Lehár Ferencz am 30. April 1870 geboren wurde, in der Slowakei. Vor 150 Jahren gehörte das heutige Komárno zu Ungarn, aber in der Habsburgermonarchie waren Grenzen noch nicht so wichtig. Der Vater war Kapellmeister im Infanterieregiment Nr. 50 der k.u.k.-Armee, die Familie stammt aus Mährisch-Schlesien. Franz sprach zu Hause Ungarisch, beherrschte Tschechisch und eignete sich Deutsch und Italienisch an.

Der Vater achtet auf frühen Unterricht in allen möglichen Instrumenten. Schon als Zwölfjähriger kommt Franz aufs Prager Konservatorium und studiert bei den besten Lehrern der Zeit, Anton Bennewitz und Joseph Förster, später heimlich bei dem renommierten Opernkomponisten Zdenĕk Fibich. Antonín Dvořák rät ihm, sich aufs Komponieren zu verlegen. Als „vorzüglicher Orchester- und Solo-Spieler“ auf der Violine bekommt er mit Achtzehn nach der „Austritts-Prüfung“ eine Stelle in Elberfeld-Barmen (Wuppertal). Dort bildet er sich „deutlichere Begriffe“ vom Theater und begeistert sich für Wagners Opern und eine blonde Sopranistin. Eine Stelle in des Vaters Regiment lockt ihn weg: Er bricht seinen Vertrag und verschwindet nach Wien. Dreizehn Jahre lang sollte er in sechs Regimentern der Doppelmonarchie dienen, in dieser Zeit auch Lieder und Tanzmusik schreiben und mit Märschen wie „Jetzt geht’s los“ oder „Wiener Humor“ bekannt werden.

Erste Oper in Leipzig

Lehárs Laufbahn als Theaterkomponist beginnt mit einer Oper: „Kukuška“, eine tragische russische Liebesgeschichte auf das Libretto eines Korvettenkapitäns, bleibt bei der Uraufführung in Leipzig 1896 nicht ohne Erfolg. Der reicht nicht, um dem jungen Mann den Weg zum freien Komponisten zu ebnen. Das schafft erst der bis heute berühmte Walzer „Gold und Silber“: Franz Lehár wird Theaterkapellmeister am Theater an der Wien und schreibt gleich zwei Operetten: „Wiener Frauen“ für den Star Alexander Girardi und „Der Rastelbinder“ für das Wiener Carltheater. Letztere wird ein Riesenerfolg; Léhar ist in der Welt der wiedererstehenden Wiener Operette plötzlich ein Star. Die volkstümlichen Weisen, humorvollen Märsche und mal wienerisch, mal slowakisch eingefärbten Melodien kommen an. „Jetzt, liebe Mutter, bin ich glücklich und frei!“, schreibt er nach Hause.

Drei Jahre später festigt er seinen Erfolg 1905 mit der „Lustigen Witwe“, die ihn international berühmt macht: „Lippen schweigen, `s flüstern Geigen: Hab‘ mich lieb!“ wird in England und Amerika, China und Japan gesungen. Über eine halbe Million Aufführungen erlebt die Operette in hundert Jahren. Lehár traf unbewusst den Ton der Zeit und sagt von sich: „Mit der ‚Lustigen Witwe‘ hatte ich meinen Stil gefunden.“ Die Presse rühmt die „beste Operettenmusik, die wir je hatten“: Lehár erweitert die Klangpalette des Orchesters, baut Tänze in modernen Rhythmen ein und schafft Melodien zum Mitsingen, die im Ohr bleiben. Felix Salten, Erfinder von „Bambi“ und vermutlich auch von Josefine Mutzenbacher, hört in der Operette die modernen Empfindungen tönen. Sie wird als „Manifestation des Zeitgeistes“ gefeiert. Bis heute ist sie ein Lieblingsobjekt mehr oder weniger gelingender Regie-Ambitionen.

Der Weg zur romantischen Operette

Lehárs Stil sollte sich freilich noch wandeln und nicht nur zu Erfolgen führen: „Der Sterngucker“ auf ein Libretto des später so bedeutenden Fritz Löhner-Beda war 1916 ein Misserfolg. Auch „Die gelbe Jacke“ von 1923 wird erst in der Umarbeitung zum „Land des Lächelns“ ein Hit. Die mit Richard Tauber gedrehte Kinoversion von 1930 war der erste international erfolgreiche deutsche Tonfilm.

Atmosphärisch dicht: Die erste Szene von Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ am Aalto-Theater Essen. Die Bühne ist von Lukas Kretschmer. Foto: Bettina Stöß.

Das China-Drama zeigt exemplarisch, in welche Richtung sich Franz Lehár in seinen späten Jahren orientierte: Er rückt näher an die Oper. Seine „romantischen Operetten“ verzichten auf Modetänze wie Shimmy oder Foxtrott. Am Ende steht kein Happy End, sondern tragischer Verzicht nach dem kurzen Rausch eines gesellschaftlich unmöglichen Glücks. „Der Zarewitsch“, „Paganini“ oder „Giuditta“ – mit der Lehár 1934 endlich seine ersehnte Premiere an der Wiener Staatsoper bekommt – gehören diesem heute als sentimental empfundenen und kaum mehr auf der Bühne zu erlebenden Genre an. Im Dritten Reich laviert sich Lehár auch wegen seiner jüdischen Frau Sophie durch die Zeiten; für seine jüdischen Librettisten wie den in Auschwitz erschlagenen Fritz Löhner-Beda hat er allem Anschein nach wohl nichts getan. 1948 stirbt er als kranker Mann in seiner Villa in Bad Ischl, die heute als Museum zu besichtigen ist. Dass Hitler die „Lustige Witwe“ zu seiner Lieblingsoperette erkoren hatte, dazu konnte er nichts.

Wegen der Corona-Pandemie fallen nicht nur die Feierlichkeiten zu Lehárs Geburtstag aus. Es kann derzeit auch keine seiner Operetten auf der Bühne gespielt werden, etwa am Aalto-Theater in Essen, wo „Land des Lächelns“ auf dem Spielplan gestanden hätte. Das Lehár-Festival in Bad Ischl hat zwar seltsamerweise keine Operette seines prominenten Namensgebers im Programm, kündigt aber unverdrossen für 14. August 2020 die Uraufführung einer musikalischen Lebensgeschichte mit den „berühmtesten Hits“ von Lehár an, gestaltet von Jenny W. Gregor. Auch eine Ausstellung mit Fotos von Lehárs „Leibfotografen“ Hugo Hofer wird angekündigt. Und ob die Bühne Baden (bei Wien) ab 31. Juli Lehárs Operette „Die blaue Mazur“ in der Sommerarena bringen kann, ist noch nicht entschieden.




Corona-Wortsammlung – weitgehend ohne Definitionen, aber fortlaufend aktualisiert

Wohl unter „M“ einzuordnen: in diesen Tagen ratsame bzw. pflichtgemäße Mund-Nasen-Bedeckungen. (Update: Achtung, Achtung! Solche Stoffexemplare sind mittlerweile durch medizinische Masken zu ersetzen). (Foto: BB)

Hier ein kleines Corona-„Lexikon“, darinnen etliche Worte, Wendungen, Zitate, Namen und Begriffe, von denen wir zu Beginn des Jahres 2020 nicht einmal zu träumen gewagt haben; aber auch bekannte Worte, die im Corona-Kontext anders und häufiger auftauchen, als bislang gewohnt. All das zumeist ohne Definitionen und Erläuterungen, quasi zum Nachsinnen, Ergänzen und Selbstausfüllen. Und natürlich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, aber von Zeit zu Zeit behutsam ergänzt. Vorschläge jederzeit willkommen.

Dazu ein paar empfehlende Hinweise: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat sich einige Wochen lang in einer Serie mit den sprachlichen Folgen der Corona-Krise befasst, hier ist der Link.

Eine mit derzeit (März 2021) rund 1200 Einträgen sehr umfangreiche Liste von Corona-Neologismen hat das in Mannheim ansässige Leibniz-Institut für Deutsche Sprache online gestellt. Bitte hierher.

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) hat ein umfangreiches Corona-Glossar veröffentlicht, dazu bitte hier entlang.

Ein Glossar zum phänomenalen NDR-Podcast mit Prof. Christian Drosten und Prof. Sandra Ciesek findet sich hier.

Einige weitere Erklärungen hat die Zeitschrift GEO gesammelt, und zwar hier.

In ihrer Ausgabe vom 4. Januar 2021 (!) ist die „Süddeutsche Zeitung“ in Person des Autors und Dramaturgen Thomas Oberender schließlich auch auf den Trichter gekommen und bringt unter der Zeile „Die Liste eines Jahres“ eine recht umfangreiche Wortsammlung. Daraus habe ich mir auch ein paar Ausdrücke genehmigt. Oberender darf sich wiederum hier bedienen.

Nun aber unsere Liste der Wörter, Wendungen und Namen:

1,5 Meter Abstand
2 Meter Abstand
2-G-Regel („geimpft oder genesen“)
2-G-plus („geimpft oder genesen und getestet)
3-G-Regel („geimpft, genesen, getestet“)
3-G-plus (nur mit PCR-Test, nicht mit Antigen-Text)
6-Monats-Abstand (bzw. 3, 4 oder 5 Monate – zwischen Zweitimpfung und „Boostern“)
7-Tage-Inzidenz
15-Minuten-Regel (Gesprächsdauer, die das Risiko begrenzt)
15 Schüler(innen) im Klassenraum
15-Kilometer-Radius (um den Wohnort)
20 Quadratmeter pro Kunde (in größeren Geschäften ab 26.11.2020)
21 Uhr (Ausgangssperre)
23 Uhr (Sperrstunde)
-70 Grad (erforderliche Kühlung des BioNTech-Impfstoffs)
800 Quadratmeter (Verkaufsfläche)
50.000 Arbeitsschritte (zur Produktion des BioNTech-Impfstoffs)
100.000 Einwohner (Maßzahl zur Inzidenz)

Absagen
absondern
Abstand
Abstrich
achthundert Quadratmeter (Verkaufsfläche)
Adenoviren
Aerosol
Aerosolbildung
AHA-Formel (Abstand – Hygiene – Alltagsmaske)
AHA-Regeln
AHA+L (…plus Lüften)
Akkolade (französ. Wangenkuss-Begrüßung, nunmehr verpönt)
Alkoholverbot
#allesdichtmachen (umstrittene Schauspieler-Aktion)
#allesschlichtmachen
„Alles wird gut!“
Allgemeinverfügung
Alltagsmaske
Alpha (neuer Name für britische Mutante)
Altenheime
Alterskohorte
Aluhut
„an Corona“ (verstorben – vgl.: „mit Corona“)
„andrà tutto bene“
Antikörper
Antikörpertest
App (zur Nachverfolgung)
Armbeuge (Hust- und Nies-Etikette)
AstraZeneca (Impfstoff-Hersteller)
asymptomatisch
„auf dünnstem Eis“ (Merkel)
„aufgrund der aktuellen Umstände“
„auf Sicht fahren“
aufsuchende Impfung
Ausgangssperre
Autokino (Renaissance)
AZD1222 (Impfstoff von AstraZeneca)
AZD7442 (Medikament von AstraZeneca)

B.1.1.7 (britische Mutation des Corona-Virus / Aplha)
B.1.1.28.1 – P.1 (brasilianische Mutation)
B.1.1.529 (neue südafrikanische Variante, November 2021)
B.1.351 (südafrikanische Mutation)
B.1.526 (New Yorker Mutation)
B.1.617 (indische Mutation / Delta)
BA.2 (BA.1, BA.3) Subtypen der Omikron-Variante
Balkongesang
Balkonklatscher
Bamlanivimab (Antikörper-Medikament)
„Bazooka“ (massive Geldmittel – laut Olaf Scholz)
Beatmung
Beatmungsgerät
bedarfsorientierte Notbetreuung (Kita)
Beherbergungsverbot
behüllte Viren
Bergamo
„Bergamo ist näher, als viele glauben.“ (Markus Söder, 13.12.2020)
Bernhard-Nocht-Institut
Besuchsverbot (Alten- und Pflegeheime)
Beta (neuer Name für südafrikanische Mutante / B.1.351)
Bfarm-Liste (Auflistung der Antigen-Tests)
Bildungsgerechtigkeit
„Bild“-Zeitung (Kampagne gegen Drosten etc.)
Biontech / BioNTech (Impfstoff-Hersteller)
Black-Swan-Phänomen
Blaupause, keine
„Bleiben Sie gesund“ (Grußformel)
Blitz-Lockdown (vor Weihnachten/Silvester 2020)
Blutgerinnsel
BNT 162b2 (Biontech-Impfstoff)
Böller-Verbot
Booster
Booster-Impfung
boostern
Bremsspur („Das Virus hat eine unglaublich lange Bremsspur“ – Jens Spahn)
Brinkmann, Melanie (Helmholtz-Zentrum, Braunschweig)
„Brücken-Lockdown“ (Armin Laschet am 5. April 2021)
Bundesliga (Geisterspiele etc.)
Bundesnotbremse
Buyx, Alexa (Vorsitzende Deutscher Ethikrat)

C452R (Teil der indischen Doppelmutante)
CAL.20C (kalifornische Mutante)
case fatality
Casirivimab (Antikörper-Medikament)
Celik, Cihan (Leiter der Covid-Station am Klinikum Darnstadt)
China
Chloroquin
Ciesek, Sandra (Virologin, Frankfurt/Main)
Click & collect (Bestellung und Abholung)
Click & meet (Shoppen mit Termin)
Comirnaty (Handelsname des Biontech-Impfstoffs)
Contact Tracing
COPD (Lungenkrankheiten)
Corona
Corona-Ampel
coronabedingt
Corona-Biedermeier
Corona-Bonds
Corona-Blues
Corona-Chaos
Corona-Deutschland
„Corona-Diktatur“
Corona-Ferien
coronafrei
coronahaft
Corona-Gipfel
Corona-Hilfsfonds
Corona-Hotspot
Corona-Kabinett
Corona-Krise
Corona-Koller
Corona-Müdigkeit
Corona-Mutation
Corona-Notabitur
Corona-Pandemie („Wort des Jahres“ 2020)
Corona-Panik
Corona-Party
Corona-Schockstarre
Corona-Skeptiker
Corona-Tagebuch
Corona-Ticker
Corona-Verdacht
Corona-Winke (Gruß aus der Distanz)
Corona-Zoff
Coronials („Generation Corona“)
coronig
coronös
„Corontäne“ (Quarantäne wg. Corona)
Corozän (Corona-Zeitalter)
Cove (Impfstoff von Moderna)
Covid-19
Covidioten (Hashtag / siehe Verschwörungstheoretiker)
CovPass (App)
CureVac (Impfstoff-Hersteller)

Datenschutz (bei der Corona-Warn-App)
„Dauerwelle“
Decke auf den Kopf („Mir fällt die…“)
Dekontamination
Delta (neuer Name für die indische Mutante)
Delta Plus (Variante der Variante: B.1.617.2.1)
Desinfektion, thermische
Desinfektionsmittel
Desinfektionsmittel spritzen (Trump)
„Deutschland macht sich locker“
Dezemberhilfe(n)
Digitaler Impfnachweis
Digitaler Unterricht
„Distanz in den Mai“ (statt „Tanz in…“)
Distanzschlange
Distanzunterricht
Divi-Intensivregister
„Doppelmutante“ (indische Mutation, laut Prof. Drosten irreführender Begriff)
„dorfscharf“ (lokale Grenzziehungen beim Lockdown)
dritte Welle (befürchtet im Frühjahr 2021)
Drittimpfung
Drive-in-Test
Drosten, Christian (Charité, Berlin)
Drosten vs. Kekulé
durchgeimpft
Durchseuchung

E484Q (Teil der indischen Doppelmutante)
Ebola
Eindämmung
eineinhalb Meter (Abstandsregel)
eingeschränkter Pandemiebetrieb
eingeschränkter Regelbetrieb
Einreisestopp
„Einsperr-Gesetz“ (Ausgangsbeschränkungen laut „Bild“-Zeitung)
Einweghandschuhe
E-Learning
Ellbogencheck (Corona-Gruß)
Ema (Europäische Arzneimittel-Agentur)
Epidemie
Epidemiologie
„Epidemische Lage (von nationaler Tragweite)“
„Epidemische Notlage nationaler Tragweite“
Epizentrum
Epsilon (Virus-Variante B.1.427 / B.1.429)
Erntehelfer
Erstgeimpfte
Eta (Virus-Variante B.1.525)
Etesevimab (Antikörper-Medikament)
Exit-Strategie
exponentiell (Wachstum)

Falk, Christine (Präsidentin Dt. Gesellschaft für Immunologie, Hannover)
Fallsterblichkeit
Fallzahlen
fatality
Fatigue
Fauci, Anthony (US-Virologe)
Fax (Kommunikations-Instrument mancher Gesundheitsämter)
„…feiert keine stille Weihnacht.“ („Das Virus feiert…“ / Olaf Scholz am 13.12.2020)
Ffp2
Ffp3
flatten the curve
Fledermaus
Fleischfabriken
Flickenteppich (Föderalismus)
Fluchtmutation
forsch / zu forsch (Lockerungen, laut Merkel)
free2pass (App für Tests und Einlasskontrolle)
Freiheit
Frisöre / Friseure
Fuß-Gruß

G 5 (Verschwörungstheorie um den Mobilfunkstandard)
Gästeliste (Pflicht im Lokal)
Gamma (neuer Name für brasilianische Mutante / P.1)
„Gang aufs Minenfeld“ (Erfurts OB über Lockerungen in Thüringen)
Gangelt
Gastronomie
Gates, Bill
Geisterspiele (Bundesliga etc.)
Genesene
Genesenenstatus
Geruchs- und Geschmacksverlust (als Corona-Symptom)
geschlossene Räume
geteilte Schulklassen
Google Meet (Videokonferenz-Plattform)
Grenzkontrollen
Grenzschließungen
Großeltern (nicht) besuchen
„Grüner Pass“ (Israel / bescheinigt Corona-Impfung)
Grundimmunität
Grundrechte
Grundsicherung
Gütersloh (kreisweiter Lockdown wg. Tönnies)

Händedruck (kein)
Händewaschen
Härtefall-Fonds
häusliche Gewalt
hammer and dance
Hamsterkäufe
hamstern
Heimbüro
„Heimsuchung“ (Angela Merkel am 25. Oktober 2020)
Heinsberg
Heizpilze (herbstliche Option für Gastro-Betriebe)
„Held / Heldin des Alltags“
Helmholtz-Gemeinschaft
Hepa-Filter
Herdenimmunität
Herold, Susanne (Uniklinik Gießen)
heterologe Impfung (zwei verschiedene Impfstoffe bei Erst- und Zweitimpfung)
Hildmann, Attila
Hintergrundimmunität
Hintergrundinfektion
Hirnvenenthrombosen
Hochrisikogruppe
Hochzeitsfeier
Home-Office
Home-Schooling
Hospitalisierungs-Inzidenz
Hospitalisierungsrate
Hotspot
Husten
Hust- und Nies-Etikette
Hybrid-Unterricht
„Hygiene-Demos“
Hygieneplan
Hygiene-Konzept
Hygiene-Regeln
Hygiene-Standards
Hyperglobalisierung

Ibuprofen
Imdevimab (Antikörper-Medikament)
Immunabwehr
Immun-Escape
Immunologe
Impfangebot
Impfbereitschaft
Impfbus
„Impfchaos“
Impfdosen
Impfdosis
Impfdrängler
Impfdurchbruch (Infektion trotz Impfung)
Impfgegner
Impfgipfel
Impfling
Impflücke
Impfneid
Impfpass
Impfpflicht
Impfquote
Impfreihenfolge
Impfskeptiker
Impfstau
Impfstoff
„Impfstoff-Nationalismus“
Impfstraße
Impfstrategie
Impftermin
Impfung
Impfversprechen
Impfverweigerer
Impfvordrängler
Impfwilligkeit
Impfzentrum
Impfzwang
„Impfzwang durch die Hintertür“
inaktivierte Vakzine
Infektionsampel
Infektionskette
Infektions-Notbremse
Infektionsschutzgesetz (IfSG)
„Infodemie“
Inkubationszeit
Insolvenz(en)
„Instrumentenkasten“ (verfügbare Corona-Maßnahmen)
Intensivbetten
Intensivkapazität
Intensivstation
Inzidenz
Inzidenz-Ampel
Inzidenzwert
„In (den) Zeiten von Corona“
Iota (Virus-Variante B.1526)
Ischgl
Isolation
Israel (weltweites Impf-Vorbild)
Italien

„Jens, jetzt keine Emotionen!“ (Angela Merkel zu Jens Spahn – beim Impfgipfel am 1.2.2021)
Johns-Hopkins-Universität
Johnson & Johnson (Impfstoff-Hersteller)

Kappa (Virus-Variante B.1.617.1)
Kappensitzung (Heinsberg etc.)
Kariagiannidis, Christian (Leiter Insensivbettenregister)
Kassenumhausung
Kaufprämie (für Autos)
Keimschleuder
Kekulé, Alexander S.
„…kennt keine Feiertage.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Ferien.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Grenzen.“ („Das Virus kennt…“)
Kita-Schließungen
„Kleeblatt-Prinzip“ (bei Verlegung von Intensiv-Patienten in andere Bundesländer)
Kliniken (im RKI-Jargon auch „Klinika“)
Knuffelcontact (Belgisch/Flämisch für den möglicherweise einzigen Kuschelkontakt)
„körpernahe Dienstleistungen“
Kontaktbeschränkung
kontaktlos
kontaktloses Bezahlen
Kontaktperson
Kontaktsperre
Kontaktsport(arten)
Kontakttagebuch
kontaminierte Oberfläche
Kreuzimpfung (z. B. Erstimpfung mit AstraZeneca, Zweitimpfung mit Biontech)
„Krise als Chance“
Krisengewinn(l)er
Krisenreaktionspläne
Kulturschaffende
Kurzarbeitergeld

laborbestätigt
Lambda (Virus-Variante C.37)
Laschet, Armin
Lauterbach, Karl (Gesundheitsminister ab Dez. 2021)
Leopoldina
Letalität
„(das) letzte Weihnachten mit den Großeltern…“ (Angela Merkel)
Lieferketten
Liquiditätshilfen
Lockdown
Lockdown Light
Lockerung
„Lockerungsdrängler“ (Röttgen)
Lockerungsperspektive
Lockerungsübung
Lolli-Test
Lombardei
Long-Covid (Langzeit-Nachwirkungen)
Luca (Warn-App)
Lüftung
Lungenentzündung

„macht sich locker“ („Deutschland macht…“)
Marderhunde (mögliche Virusquelle, laut Drosten)
Maske
Maskenintegrität
Maskengutschein
Maskenmuffel
Maskenpflicht
Maskenverweigerer
Maßnahmen
„mehr als 90 Prozent“ (Imfstoff-Wirksamkeit)
Meldeverzug
Merkel, Angela
MERS
Meyer-Hermann, Michael (Helmholtz / Braunschweig)
„mit Corona“ (verstorben)
mobile Impfteams
Moderna (US-Impfstoff-Hersteller)
Molnupiravir (Corona-Medikament)
Mortalitätsrate
mRNA-1273 (Impfstoff von Moderna)
mRNA-Impfstoff
„mütend“ (Corona-Gefühlslage, Mischung aus mürbe und wütend – oder müde und wütend)
Mund-Nasen-Schutz (MNS)
Mundschutz (Plural: Mundschutze)
Mutanten
Mutation

Nachverfolgung
„Nasenbohren“ (saloppe Umschreibung für manche Schnelltests)
Nena (Corona-Verharmloserin)
neuartig(es)
„Neue Normalität“
Neuinfektionen
New York
niederschwellige Basisschutz-Maßnahmen
Nies-Etikette
No-Covid-Strategie
Normalität
Notbetreuung
Notbremse (harte N. / flexible N.)
Notstand
Novavax (Impfstoff-Hersteller)
Novemberhilfe(n)
Null-Covid-Strategie

Obergrenze für Neuinfektionen
„Öffnungsdiskussionsorgien“ (Merkel)
Öffnungsschritte
„Öffnungsrausch“ (Markus Söder)
Olympische Spiele (in Tokyo praktisch ohne Live-Zuschauer)
Omikron / Omicron (neue südafrikanische Variante, November 2021)
Omikron-Wand (Steigerung der Omikron-Welle)
on hold („angehaltenes“ Leben)
Online-Aufführung
OP-Maske

P.1 (brasilianische Virus-Mutation)
Palmer, Boris (OB Tübingen)
Pandemie
Pandemie-Müdigkeit
Pangolin (Gürteltier als möglicher Zwischenwirt)
„Paranoia-Promis“ (Hildmann, Naidoo, Wendler, Jebsen etc.)
Party
Patentfreigabe
„Patient Null“ (ursprünglicher Überträger)
Paul-Ehrlich-Institut
Paxlovid (Corona-Medikament von Pfizer)
PCR-Test
PEG (Polyethylenglykol / Inhaltsstoff von Impfmitteln)
Penninger, Josef (speziell für unsere österreichischen Freunde)
persönliche Schutzausrüstung (PSA)
Pest (Referenz-Seuche)
Pflegeheime
Pflegekräfte
Pflegenotstand
physical distancing
„Piks“ (etwas infantile Bezeichnung für die Impfung)
Plateau
Pleitewelle
Pneumokokken
Pneumonie
„Pobacken zusammenkneifen“ (Appell von RKI-Chef Wieler am 12.11.2020)
Positivrate (z. B. pro 1000 Tests)
Postcorona (die Zeit „danach“)
Präsenzunterricht
Präsenzveranstaltung
Präventions-Paradox
Prepper
Preprint (vorveröffentlichte Wissenschafts-Studie)
Priesemann, Viola (Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen)
Prio (neuerdings gängige Abkürzung)
priorisieren
Prioritätsgruppe
Prof.
proteinbasierte Impfstoffe

Quarantäne
„Querdenker“ (Euphemismus für Verschwörungstheoretiker)

Rachenabstrich
Ramelow, Bodo (Vorreiter der Lockerung)
Regelbetrieb
Regeneron (US-Hersteller von Antikörper-Cocktails)
Reiserückkehrer
Reisewarnung
Remdesivir
Reproduktionsrate (gern 0,7 oder niedriger)
Respiration
Restart (Bundesliga)
Rettungsschirm
Rezeptoren
Rezession
R-Faktor
R-Wert
Risikogebiet
Risikogruppe
RKI
Robert-Koch-Institut
Rückholaktion
„Ruhetage“ (Gründonnerstag & Ostersamstag 2021 / verkündet 23.3.2021 – zurückgenommen 24.3.2021)

SARS
SARS-CoV-2
Schaade, Lars (RKI-Vizepräsident)
Schichtunterricht
Schlachthöfe (Coesfeld etc.)
Schlangenmanagement
Schlauchboot-Party (Berlin, Landwehrkanal)
Schleimhautschutz
Schmidt-Chanasit, Jonas (Bernhard-Nocht-Institut, Hamburg)
Schmierinfektion
„schmutzige Impfung“ (absichtliche Infektion mit erhoffter Genesung)
„Schnauze voll“ (Hessens Ministerpräs. Bouffier im Feb. 2021: „Die Leute haben die…“)
Schnelltest
Schnutenpulli
Schulschließungen
Schutzkittel
Schutzmaske
Schutzschirm
schwedischer Sonderweg
schwere Verläufe

Seife
Seitwärtsbewegung (Minister Spahn über kaum noch sinkende Infektionszahlen)
Selbstisolation
Sentinel-Testung (Stichproben statt Massentests)
Sequenzierung
Shutdown
Sieben-Tage-Inzidenz
Sieben-Tage-R
Sinovac (chinesischer Impfstoff)
Sinusvenen-Thrombosen
Skype
social distancing
Soloselb(st)ständige
soziale Distanz
Spahn, Jens (Gesundheitsminister, auch infiziert)
Söder, Markus
Soforthilfe
Soloselbstständige
Spanische Grippe
Sperrstunde
Spike-Protein
Speicheltest (Schnelltest)
Spuckschutz
Spucktest (Schnelltest)
Sputnik V (russischer Impfstoff)
Statistik
Stay-at-home
sterile Immunität
Stiko (Ständige Impfkommission)
Stoßlüftung
Streeck, Hendrik (Virologe, Bonn)
Stürmer, Martin (Virologe, Frankfurt)
Südkorea
Superspreader
Superspreading-Ereignis
systemrelevant

„Team Vorsicht“ (Formulierung von Markus Söder)
Tegnell, Anders (Schwedischer Epidemiologe)
Telearbeit
Telefonkonferenz (Telko)
Temperaturscanner
Test
Testkapazität
Testzentren (teilweise unter Betrugsverdacht)
Theaterschließungen
Theta (Virus-Variante P.3)
Thrombose (angebliche Impffolge)
Tönnies
Toilettenpapier
Totimpfstoff
Tracing-App
Tracking-App
„Treffen Sie niemanden!“ (Österreichs Kanzler Kurz am 14.11.2020)
Triage
Tröpfcheninfektion
„trotz Corona“
Trump, Donald (Erkrankter)
Twitter (Plattform auch für Corona-Dispute)
„Tyrannei der Ungeimpften“ (Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes)

Überbrückungsgeld
Übersterblichkeit
„Unheil“ (Angela Merkel am 14. Oktober 2020)
Untersterblichkeit

Vakzine
Variant of concern
Vaxzevria (neuer Name des AstraZeneca-Impfstoffs, seit 26.3.2021)
Verdoppelungsrate
verimpft („Sie haben 2000 Dosen verimpft“)
Vektorimpfstoff
Vektorwechsel
Verschwörungserzählung
Verschwörungsmythen
Verschwörungstheoretiker (Jebsen, Hildmann, Schiffmann, Soost, Naidu u.a.)
verzeihen
Verzeihung
Videokonferenz (Viko)
vierte Welle (befürchtet für und dann eingetreten im Herbst 2021)
Virologe(n)
Virologie
Virulenz
Virus, das
Virus, der
Virusvariantengebiet
viruzid
Volksmaske
vollständig geimpft
„Vom Verbot zum Gebot“
Vorerkrankungen
vulnerabel

„Wand“ (siehe Omikron-Wand)
Watzl, Carsten (Immunologe, Leibniz-Institut, Dortmund)
Wechsel-Unterricht
„wegen Corona“
Wellenbrecher
Wellenbrecher-Lockdown
Wendler, Der (noch so’n Corona-Leugner)
Westfleisch
WHO
Wieler, Lothar H. (RKI-Präsident)
Wildtyp
„Wir bleiben zu Hause“
Wodarg, Wolfgang
Wohnzimmerkonzert
Worst-Case-Szenario
Wuhan
„Wumms“ („Mit Wumms aus der Krise“ – Finanzminister Olaf Scholz)

Zarka, Salman (Corona-Regierungsberater in Israel, genannt „Corona-Zar“)
Zero Covid (niedrigstes Ziel)
Zero-Covid-Strategie
Zeta (Virus-Variante P.2)
Zoom (Plattform für Online-Konferenzen)
Zoonose
Zweihaushalte-Regel
„Zweimal ,Happy Birthday‘ singen“ (Zeitmaß fürs Händewaschen)
zwei Meter (Abstand)
zweite Welle
Zweitgeimpfte

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Danke für Anregungen und Ergänzungen, die mich u. a. via Facebook erreicht haben.

Bei Virologe, Immunologe etc. bitte jeweils die weiblichen Formen hinzudenken.




Von Unna aus ein wenig die Welt verändern – Nachruf auf den vielseitigen Theatermann Peter Möbius

Peter Möbius (1941-2020). (Foto: Thomas Kersten)

Gastautor Horst Delkus mit einem Nachruf auf den Theatermann, Autor und Grafiker Peter Möbius, den älteren Bruder des legendären Rocksängers Rio Reiser („Ton Steine Scherben“). Peter Möbius hat vor allem in Unna und Dortmund gewirkt.

Ist das nicht der Bruder vom Rio? Ja, er war es. Rios großer Bruder, der mich da vor rund neun Jahren in meinem Büro bei der Wirtschaftsförderung des Kreises Unna aufsuchte. Die Kollegin outete sich als große Verehrerin von Rio Reiser: Das ist mein Lieblingsmusiker. Peter hat es gefreut.  War doch eine solche klammheimliche Liebe von notwendigerweise kapitalfreundlicher Wirtschaftsförderung zu dem exorbitant kapitalkritischen Möbius-Bruder eine ausgesprochen ungewöhnliche.

Was es mit „Hermann von Unna“ auf sich hat

Peter holte damals irgendwelche Unterlagen ab. Es ging um „Hermann von Unna, eine Geschichte aus der Zeit der Vehmgerichte“. Erzählt von Benedicte Naubert, die diesen Roman 1788 (!) veröffentlichte. Die Handlung ist simpel, aber der Roman förderte Unnas guten Ruf Anfang des 19. Jahrhundert in ganz Deutschland: Das Städtchen Unna hat ein wichtiges Salzwerk Königsborn; berühmter  aber ist es durch den viel gelesenen Vehmgerichts-Roman: Hermann von Unna!, schrieb 1834 ein gewisser Carl Julius Weber in seinen „Brief(n) eines in Deutschland reisenden Deutschen“.

Der Roman ist von nicht allzu großer literarischer Qualität. Aber sein Stoff wurde selbst in Schweden und Dänemark aufgegriffen und zu einem Theaterstück umgewandelt. Zu einem Schauspiel in fünf Akten. Mit Chören und Tänzen.

Feuer und Flamme für ein spezielles Vorhaben

Mehr als 200 Jahre später war dieser Stoff für den leidenschaftlichen Theatermann Peter Möbius eine Steilvorlage. Er schrieb mir: „Die Texte der Arien und Chöre sind grauenvoll: „Reim Dich , oder ich fress Dich“. Interessant dagegen sind die musikalischen Regieanweisungen, die Bemerkungen, wo und wie Tanzeinlagen und musikalische Überbrückungen in diesem Schauspiel vorgesehen waren. Du fragst Dich, wie es an der Zeitenwende vom Achtzehnten zum Neunzehnten Jahrhundert zu dieser Modewelle kommen konnte, die sich schwärmerisch dem Mittelalter hingab? Heute, bei uns, nennt man das Ostalgie, wenn die Ossis von vergangenen Zeiten schwärmen (…). Wenn die vertraute Wirklichkeit im Umbruch ist, verklärt sich die Vergangenheit. Das war auch in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so (…) Das Buch ist ein herrliches und kluges Plädoyer für die Flucht in eine fassbare Fantasiewelt, wenn die Wirklichkeit unfassbar geworden ist. Mehr dazu und was das mit dem Schauspiel „Hermann von Unna“ zu tun haben könnte, ein andermal.“

Peter hatte Feuer gefangen für dieses Projekt. Als ich ihm nachts schrieb, ich hätte endlich die Partitur gefunden für diese Oper, kam seine Antwort prompt. Am nächsten Morgen, kurz nach fünf Uhr: Deine Nachricht beflügelt mich, das Stück abzuschreiben und mit Reinhard Fehling über das Projekt zu reden. Ich kenne sonst niemanden, der so ein musikalisch-theatralisches Vorhaben fachkundig betreuen könnte. Doch das Projekt „Hermann von Unna“ wurde nach diesem kurzen Strohfeuer von uns beiden auf Eis gelegt, nicht weiter verfolgt. Ich bedaure es noch heute.

Argwöhnisch beobachteter Nachlassverwalter

Kennengelernt haben Peter und ich uns Mitte der neunziger Jahre, als ich wirtschaftsförderlich bei der Kreisstadt Unna anheuerte. Peter war für mich von Anfang an mehr als „der große Bruder von Rio“, dem Sängerpoeten, mit bürgerlichem Namen Ralph, dem jüngsten der drei Möbius-Brothers. Und der bekannteste. Als Rio am 20. August 1996 starb, gab es Berlin wenige Tage später zu seinem Abschied ein „Konzert der Freunde“. Ich wäre gerne hingefahren, konnte aber nicht. Aus beruflichen Gründen. Peter schenkte mir den Konzertmitschnitt. Zwei CDs mit Rios Liedern, gesungen von den Rest-„Scherben“, Ulla Meinecke, Marianne Rosenberg, Herbert Grönemeyer und anderen.

Peter wurde mit seinem Bruder Gert Rios Nachlassverwalter. Kein leichter Job, argwöhnisch beobachtet und verbunden mit viel Kritik von Rios ehemaligen Weggefährten und Fans aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit. Zum Beispiel dafür, dass sie ein Zeile aus dem Kassenschlager „König von Deutschland“ an einen Elektronikkonzern verkauften, um damit das Rio Reiser-Haus in Nordfriesland als Begegnungsstätte für zwei weitere Jahre finanzieren zu können. Nachlassverwalter war nun weiß Gott nicht der Traumjob dieses Multitalentes, dem es –  das Schicksal vieler Allrounder – leider nicht vergönnt war, mit nur einem Werk oder nur einer Begabung, den ganz großen Durchbruch und die damit verbundene Anerkennung  als Künstler zu erreichen.

Schon mit 16 Jahren Bühnenbild-Assistenz bei Heinz Hilpert

Geboren wurde Peter 1941 in Berlin. Sein Vater war Ingenieur für Kartonverpackungen bei der Siemens AG; da er immer wieder mal versetzt wurde, musste die  Familie mehrmals umziehen. Peters Bruder Gert erinnert sich in seinem Buch „Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser“: „Während ich Lehrling bei der Versicherung war, hatte Peter, nachdem er bei der privaten Kunstakademie März in Stuttgart eingeschrieben gewesen war, mit sechzehn Jahren schon einen Job als Bühnenbild-Assistent am Göttinger Stadttheater, damals noch unter der Intendanz von Heinz Hilpert. Nach seiner Rückkehr nach Schmiden [bei Stuttgart; HD] bewarb er sich bei der Stuttgarter Kunstakademie die Professor Gerhard Gollwitzer, dem Bruder des progressiven Theologen Helmut Gollwitzer und wurde sofort ohne Prüfung aufgenommen.

…und auch noch ein hochbegabter Schauspieler

Die Folge war, dass Rio und mir dieser Bruder immer unheimlicher wurde. Dann bekam er auch noch eine kleine Rolle in dem Film von Frank Wisbar „Hunde, wollt ihr ewig leben“, einem kritischen Stalingradfilm. Mehr ging damals in unserer Familie nicht. Wir alle stürmten das Dorfkino in Schmiden, um zu prüfen, wie künstlerisch nachhaltig unser Familienmitglied den von Kugeln durchsiebten Reichswehrsoldaten darzustellen in der Lage war. Natürlich waren wir einhellig der Meinung, dass Peter das großartig gemachte hatte, und natürlich waren wir felsenfest davon überzeugt, dass er auch in Zukunft andere Rollen glaubwürdig darstellen würde. Eine Schauspielausbildung, diesen teuren Quatsch, so unser Vater, hätte Peter nicht nötig. Von Null auf hundert war er nun nicht nur ein begnadeter Maler, sondern auch ein hochbegabter Schauspieler – am besten Filmschauspieler.“

Später studierte Peter an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart, wo er mit Andreas Weißert Theater spielte. Wohl prägend waren für Peter die jungen Jahre in Nürnberg. Hier gründete er das Comic Teater, auch damals schon ohne „h“ geschrieben. Mit sechs anderen jungen Leute, die sich von der Nürnberger Kunstakademie kannten, zog er im Mai 1965 mit Traktor, einem umgebauten Bauwagen und 30 selbst angefertigten Masken und Kostümen einen ganzen Sommer durch Franken und Oberbayern.

Ohne erfolgreiches Theaterspiel kein Abendbrot

„Doktor, Tod und Teufel“ hieß das Stück, das sie auf Dorfplätzen und Märkten spielten. Eine harte Schule für das Comic Teater: „Wir mussten so spielen, dass das Publikum blieb. Sonst hätten wir kein Abendbrot gehabt. Denn gesammelt wurde erst zum Schluss“, erinnert er sich später in einem Interview.

Politisch prägend für Peter war – wie für viele seiner Generation – der  2. Juni 1967: Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration am Ku’damm gegen den Schah von Persien. Peter war bei dieser Demonstration dabei. So wurde aus ihm ein Achtundsechziger. Als Andreas Weißert 1975 in Dortmund Oberspielleiter wurde, holte er Peter Möbius vom Theater am Turm, wo er bei Rainer Werner Fassbinder spielte, nach Dortmund.

Bundesweit beispielloses Engagement in Unna

In Dortmund wurde Peter Möbius Leiter des Kinder- und Jugendtheaters. Mit seiner Comic-Truppe inszenierte er 1975 „FeuerZirkus“  und „Die Struwwelpeter Revue“, Stücke die er selbst geschrieben hatte und zu denen Rio Reiser mit den Scherben die Musik machte. Die agile Truppe wurde in Dortmund gekündigt – man unterstellte ihnen Kontakte zu den Möchtegern-Stadtguerilleros vom „2.Juni“, einer RAF-ähnlichen Gruppierung.

Die Stadt Unna hatte damals den Mut, sie über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme einzustellen, der ersten für eine Schauspielertruppe bundesweit. Mit dem Hoffmans Comic Teater (HCT) bekam Unna die kritische Masse an Akteuren, die Unna als Kulturstadt geprägt haben. Peter war der Motor und Spiritus Rector. Dabei waren unter anderem Hartmut Hoffmeister, Ingeborg Wunderlich, Andy Koch, Rio Reiser, Martin Paul, Uta Rotermund, Claudia Roth und etliche andere. Daraus entstanden sind zahlreiche kulturelle Einrichtungen, die bis heute das kulturelle Leben von Unna prägen: der Kinderzirkus Travados, das Werkstatt Theater Unna (seit 1999 das „Narrenschiff“), das soziokulturelle Zentrum Lindenbrauerei, das Stadtspielwerk und die Jugendkunstschule, zu deren 40jährigem Jubiläum Peter noch eine viel beachtete Laudatio hielt.

Rio Reiser lieferte oft die Songs zu Peters Projekten

Peters Stärke lag vor allem darin, künstlerische Projekte mit Breitenwirkung zu entwickeln. Immer wieder dabei: sein Bruder Rio Reiser, der zu vielen Projekten die Songs lieferte. Zu diesen Projekten gehörte das „Ruhrschrei-Festival“ unter der Liedbachbrücke in der Massener Heide, die „Märzstürme“ (1981), eine „große Freiheitsrevue“ zur Erinnerung and die Märzrevolution 1920 im Ruhrgebiet, die Unnaer Stadtoper „Wasser des Lebens“ (1989), das Musical „Die Braut der Brüder“, aufgeführt bei den Ruhrfestspielen 1995 sowie seine letzte große Inszenierung „Das Tor zum Paradies , „ein musikalisches Portrait in sieben Bildern“ über den streitbaren Prediger und Komponisten heute noch bekannter Choräle, Philipp Nicolai (1997).

Mit den „Märzstürmen“ zog das Hoffmanns Comic Teater durchs Ruhrgebiet. Zur Vorbereitung interviewte man noch Zeitzeugen, die von den Greueltaten der präfaschistischen Freikorps-Truppen im Ruhrgebiet berichteten. Rio Reiser schrieb dazu wunderbare Lieder. Ton Steine Scherben machte die Musik. Der Schreiber dieser Zeilen kann sich noch heute gut an die Aufführung in einem Zirkuszelt vor dem Dortmunder Stadthaus am heutigen Friedensplatz erinnern. Damals dabei unter anderem, als rotbackige Krankenschwester, die heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth und die Dortmunder Kabarettistin Uta Rotermund.

Die Geschichte des inzwischen legendären Hoffmans Comic Teater wollte Peter immer aufschreiben. Ob er es noch geschafft hat, weiß ich nicht. Immerhin gab es 2018 in Unna noch eine Ausstellung: „51 Jahre Hoffmanns Comic Teater 1965 – 1981. Spuren und Impulse einer aufsässigen Künstlerbande“. „Dario Fo“, sagte er einmal, „das war unser Vorbild.“

Grafik und frühe Computer-Experimente

Peter Möbius war nicht nur Theatermann mit Leib und Seele, sondern auch ein hervorragender Grafiker. Er gestaltete etliche Programmhefte für das Summertime-Kulturprogramm in Unna, das er ebenfalls inspiriert und künstlerisch betreut hatte. Ein anderes Projekt von Peter, Jahre später, konnte leider nicht realisiert werden: Ein Computerspiel, das er in unzähligen Stunden in den neunziger Jahren am Computer entwickelte. Mit magischen Bildern und einer phantastischen Geschichte, alles am Computer mühevoll „gezeichnet“. Grafikprogramme gab es damals noch nicht. Daraus sollte eine CD entstehen. Diese Silberlinge kamen damals gerade auf  und waren so „in“ wie heute das Streamen. Ich konnte im den Kontakt zu einem Produzenten von CDs vermitteln. Der spezialisierte sich allerdings, wie sich dann herausstellte, mehr auf Pornos. Die waren marktgängiger. Das Projekt verschwand im digitalen Nirwana.

Einer, der sich ins politische Geschehen einmischte

Peter betätigte sich auch als Filmregisseur. 1990 war er als Autor und Koregisseur (mit Uwe Penner) von „Türmers Traum“. Der Film war ein Beitrag zur 700jährigen Geschichte der Stadt Unna. Mit rund 300 Mitwirkenden, darunter viel Volk, einigen Kommunalpolitikern, sowie Roman Marczewski, dem  heutigen Präsidenten des Ruhrgebiets-Karnevals Geierabend, und Cäcilie Möbius, Peters Tochter, heute Schauspielerin beim Theater Narrenschiff und anderswo. 1997 drehte Peter ein TV-Porträt seines Bruders Rio Reiser: „Ich bieg’ dir den Regenbogen – ein biografischer Dokumentarfilm“.

Als politischer Mensch mischte sich Peter Möbius immer wieder ein in das politische Geschehen seiner Wahlheimat Unna. Das brachte ihm nicht nur Freunde. Er war Mitgründer der Alternativen Liste in Unna, der GAL. Schrieb ein lesenswertes Memorandum zur Weiterentwicklung der Kulturpolitik in Unna, das leider viel zu wenig Beachtung fand. 2008 war er Mitinitiator eines Bürgerbegehrens. Verkleidet als Kommerzienrat, schlug er mit einer Glocke Alarm gegen den Abriss historischer Bausubstanz in Unnas historischer Innenstadt und ihren vermeintlichen Ausverkauf an Investoren. Der Mann mit Hut und Weste wusste, wie man Theater für`s Volk macht.

Peter Möbius starb in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag, am 13. April, im Alter von 78 Jahren an einer Krebserkrankung.




Home Office: Notizen aus der Inneren Coronei

Das Virus, das Papier und ich. (Foto: Herholz)

Wirklich kaum zu beschreiben, was ich gerade fühle, denke, wie ich gerade lebe. Alles schwankt zwischen Idyll und Apokalypse, Frühlingserwachen und Totenstarre. Oder, um im schrägen Bild zu bleiben: Ich sitze auf dem Rasiersitz unterm Damoklesschwert. Von hier aus sieht vieles ziemlich verzerrt aus, selbst so ein klitzekleines Virus wirkt erdballgroß. Da hilft nur kräftiges Gegensteuern.

Also Terrasse kärchern, Fenster putzen, Türen abwaschen, Hilfskoch lernen und der Frau auch sonst zu Diensten sein, selbst eine schöne Wohnung würde sonst sehr schnell sehr eng werden. Man könnte natürlich an Flucht denken, aber dann denkt man zugleich an das unerträgliche Leid von Flüchtlingen und bleibt lieber daheim, wo’s noch Sauvignon Blanc gibt. Doch selbst unter Alkoholeinfluss schlägt der Aktionismus langsam um in Lethargie. Eine Art existenzieller Lähmung. Ich zum Beispiel schlafe viel, aber nicht gut. Selbst die Träume strengen an, oft bin ich froh, morgens endlich aufwachen zu dürfen.

Muße im Auge des Orkans?

Viele empfehlen mir jetzt zu lesen, mich weiterzubilden, zu bewegen. „Don’t worry, be happy“? Als ob dieses „Stay At Home“ eine Kur ohne jeden Schatten wäre, in der man ganz entspannt zur Ruhe käme, Muße fände, gar in einen Zustand der Kontemplation geriete. Ich aber bin durchaus nervös, manchmal sogar ängstlich, schließlich kommt das Virus täglich näher, ich gehöre zur Risikogruppe der über Sechzigjährigen und schon jetzt ist absehbar, dass es demnächst kaum Beatmungsgeräte für alle geben dürfte. Und dabei bin ich doch gesetzlich versichert und zahle seit über vierzig Jahren ein! Habe schon überlegt, ob ich alles daransetze, mich in den nächsten Tagen noch rechtzeitig zu infizieren, damit man mich auf der Intensivstation von St. Euthanasius fristgerecht aufnimmt, bevor Triage-Ärzte mich als unwertes Leben aussondern müssen; Stichwort: alter weißer Mann, Vorerkrankung: chronische Patriarchitis.

ALDI lieben Leute

Gestern habe ich aus diesem Grund freiwillig gleich drei Supermärkte aufgesucht. Uns mangelte es tatsächlich an Toilettenpapier – und Walnusskernen (für leckeren Flammkuchen, Henkersmahlzeit à l’Alsace). Einkaufen war bisher eigentlich durchaus okay. Bei REWE haben wir neulich alle miteinander laut gelacht, als ein freundlicher Hüne einer Verkäuferin zurief: „Toilettenpapier? Keines? Was ist bloß los mit den Leuten. Haben die alle zwei Jahre lang nicht geschissen?“ Gute Frage.

Gestern bei ALDI in Buer jedoch wurde schon stärker am Lack der Zivilisation gekratzt. Ein Verkäufer dort hatte mir am Montag gesteckt, dass am Mittwoch ab 10 Uhr Toilettenpapier nachgeliefert würde. (Uhrzeit aus naheliegenden Gründen geändert.) So war’s dann auch, ungefähr. Nachdem ich mich schon eine Viertelstunde bei ALDI herumgedrückt hatte, wurde um 10.25 Uhr die Palette mit dem guten Vierlagigen in den Gang vors leere Mehlregal geschoben.

Ich stand vorne in der Warteschlange. Dass da gleich Bückware käme, hatte sich herumgesprochen. Der Verkäufer forderte uns diabolisch grinsend auf, die Plastikverpackung der hochgestapelten Lieferung „kokett. supersoft & saugstark“ doch selbst aufzureißen. Gesagt, getan. Weil von hinten gedrängelt wurde und von der Seite Querulator-Omas und eine Kopftuchfrauen-Gruppe heranstürmten (Wo ist die infektionsverhütende Burka, wenn man sie braucht?), gab ich in Notwehr einige Packungen nach hinten und zur Seite durch, dann nahm ich mir selbst eine und entkam der schwer atmenden Menschentraube in Richtung Kasse. Geschafft! Denkste.

Kasse und Schlange

Plötzlich hörte ich hinter mir die Stimme eines älteren Herrn, der eine durchaus gut situierte Dame zu mehr Distanz aufforderte, weil die nicht auf die Markierung des Sicherheitsabstandes geachtet hatte. Doch die zündelte zurück: „Jaja, nu bleibense ma ruhig.“ Der Herr allerdings wies mit Recht darauf hin, dass es hier auch um seine Gesundheit ginge und der Sicherheitsabstand nun mal sinnvolle Vorschrift sei. Zugegeben, er klang etwas besserwisserisch, aber kein Grund dafür, dass die Dame erst loskeifte, sich dann in Rage brüllte und den gesamten Kassenbereich als Bühne nutzte, um sich als Mansplaining-Opfer zu inszenieren.

„Diese Striche da sind mir scheißegal. Ich habe vor zwei Tagen meinen Vater verloren, da habe ich ganz andere Sorgen als Ihren Scheißsicherheitsabstand.“ Ob dieser Logik waren wir alle etwas perplex. Über allen Kunden standen Comic-Denkblasen: Vater tot, herzliches Beileid, aber deshalb sollen als Kollateralschaden zur Not auch ein paar andere dran glauben? Als der Herr es wagte, noch etwas einzuwenden wie „Tut mir leid für Sie, aber das ist kein Grund hier so …“ konterte die Dame mit einem herzhaften „Dann bleiben Sie doch mit Ihrem Arsch zu Hause, wenn Ihnen das hier nicht gefällt.“
So viel zur Nächstenliebe in den Zeiten von Corona.

Was wird erst geschehen, wenn Produzenten und Transporteure wichtiger Nahrungsmitteln massenweise erkranken, wirklicher Mangel eintritt und härtere Verteilungskämpfe ausgefochten werden?

Hellsichtiges in dunklen Zeiten

Und wem könnte das nützen? „Follow the money“, dieses Motto zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität drängt sich doch regelrecht auf. In den besten Momenten meiner derzeitigen Unruhe sehe ich alles sehr, sehr klar:

Das Corona-Virus wurde in geheimen Laboratorien der CIA entwickelt, um amerikanische Heuschrecken zu stärken und deutsche Ökonomie zu schwächen. Details gefällig? Die Strippenzieher gehen von der begründeten Hoffnung aus, dass der Ex-BlackRocker Friedrich Merz spätestens 2021 Kanzler wird. (Zwar ist der jetzt selbst an Corona erkrankt, doch das ist bloß ein Ablenkungsmanöver, so wirkt er umso unverdächtiger. Außerdem gibt’s längst ein Antivirus für den Inner Circle des großen Geldes und seine Handlanger.)

Merz wird also Kanzler und kann dann ungehindert die profitable Privatisierung der Rentenversicherung vorantreiben und dafür sorgen, dass die DRV an den US-amerikanischen Hedgefonds BlackRock verscherbelt wird, der für eine Übergangszeit alle Einnahmen und Ausgaben der DRV zu übernehmen hat, bevor er mit dem Pensionsfonds zu spekulieren beginnt. Damit sich die Übernahme für BlackRock aber richtig lohnt, muss die DRV zuvor ihre Rücklagen sichern und Ausgaben senken. Verstehen Sie? Je weniger Rentner/innen das Corona-Virus 2020 überleben, desto besser für BlackRock, weil die Ausgabenseite der DRV grundbereinigt wird. Für alle aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung, die an diesem Deal beteiligt sind, wird gesorgt werden, versprochen. Noch Fragen? Na, sehen Sie.

Auf was man so alles kommt, wenn man mit dem Arsch zu Hause bleibt.




In diesen Tagen der Langsamkeit

Eine ruhige Stelle. (Foto: BB)

Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht. Mir fällt es (u. a. als einstigem Einzelkind) ziemlich leicht, mich auch über Stunden oder gar Tage selbst zu beschäftigen; zuvörderst mit Büchern. In Zeiten des äußerst ratsamen Abstandes ist das wohl ein unschätzbarer Vorteil.

Ich beneide schon sonst nicht, aber derzeit überhaupt nicht die Hyperaktiven aller Art, die ständig möglichst viele Leute um sich scharen müssen und immerzu im „Party“- oder Selbstverwirklichungs-Modus unterwegs sind. Auch die allgegenwärtigen „Aktivisten“ jeder Couleur zählen hinzu. Es mag Schwarmintelligenz geben, aber es gibt eben leider auch Schwarmdummheit.

Es ist keine gute Zeit für die Vergnügungssüchtigen und Hedonisten, die schnell vom Horror vacui befallen werden: Wie, du hast heute noch nichts vor? O je, da müssen wir sofort etwas losmachen, wenn noch nichts los ist. Wie dumpf derlei selbstzweckhafte Zeitfüllerei oft anmutet! Jetzt liegt man damit völlig neben der Spur.

Dann schon weitaus lieber diese heilsame, schon oft beschworene, aber selten praktizierte Entschleunigung, die jetzt gefragt ist und die häufig einhergeht mit einer beobachtenden, meditativen oder kontemplativen Lebensweise. Irgendwo in einem literarischen Werk steht der schlichte Satz geschrieben: „Ich schaue zu, wie die anderen leben.“ Das bedeutet ganz und gar nicht, dass man kein eigenes Leben habe. Es ist nur eine andere Daseinsform; eine, die es auch geben muss und der eben manche nachgehen – mehr oder weniger bewusst.

Es können nicht alle voranstürmen. Es müssen sich auch Menschen seitwärts oder in der Nachhut bewegen oder zeitweise dort verharren. Überdies die Wachenden, von denen Kafka literarisch in der Einzahl gesprochen hat: „Einer muss wachen, heißt es. Einer muss da sein.“

Doch nur nicht kläglich vereinsamen! Ich kann da, wie wir alle, nur für mich sprechen. Nicht am äußersten Rande des Geschehens halte ich mich am liebsten auf, sondern gleichsam an der Peripherie des Zentrums. Dort, wo man noch etwas erlebt, erfährt und mitbekommt. Und gewiss nicht ohne andere Menschen. In vollends unbevölkerter Umgebung hielte ich es wohl auch nicht allzu lange aus. Aber es müssen nicht die Vielen sein, die einen umschwirren. Schon gar nicht mag ich den Vielen besinnungslos nacheilen.

Und ja: Wir dürfen uns schon im Voraus auf die Tage freuen, an denen all diese gegenwärtigen Einschränkungen sich mildern werden und der Alltag sich langsam normalisieren wird. Dann werden wir dies oder jenes nachholen.




Frank Goosen huldigt den Beatles – ein amüsanter Abend im Dortmunder „Fletch Bizzel“

Das Gesamtwerk der Beatles sollte man schon in wesentlichen Zügen kennen, sonst würde man ihm nicht so recht folgen können: Frank Goosen, mit trockenem Ruhrgebiets-Humor gesegneter Rock-, Fußball- und Revier-Fachmann, ist mit seinem neuen Buch „The Beatles“ angerückt. Im Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“ plaudert er freiweg über seine innigen biographischen Verbindungen zu den „Fab Four“. Im Publikum ist die Generation 60 plus bestens repräsentiert.

Der freundliche Herr Goosen beim Buchsignieren nach seinem Dortmunder Auftritt. (Foto: Bernd Berke)

Im Gegensatz zu Leuten, die in den 1950er Jahren geboren wurden und deren Adoleszenz zeitlich direkt mit dem Aufstieg der Beatles verknüpft war, ist Goosen (Jahrgang 1966) ein „Nachgeborener“, wie er sich selbst bezeichnet. Als ihm Musik überhaupt zu Bewusstsein kam, lag das Oeuvre der Beatles schon fertig vor – abgesehen von dieser oder jener Soloplatte, zumal von Sir Paul McCartney.

Dass nun aber dieser „Nachgeborene“ so überaus viel über die Beatles weiß, das hat mich – als etwas älteren Fan der Liverpooler – beinahe schon gewurmt. Nun gut, ich fasse mich: Es hat mir vor allem Bewunderung abgenötigt, wie sehr sich der Mann in die Materie eingelebt (eingehört, eingelesen) hat. Und wie sinnreich er das mit seiner Jugend verwoben hat, das ist aus Erfahrung gekonnt (und nicht wohlfeil gewollt): Es waren jene Zeiten, als man angehimmelten Mädchen in heißer Hoffnung selbst zusammengestellte Audio-Cassetten zusteckte. In diesem Fall hieß sie Regina. Aber es war zwecklos. Da musste dann halt eine gewisse Michelle herhalten. Moment mal. Michelle? Nein, mehr wird hier nicht verraten. Nur, dass Frank Goosens Opa einmal ziemlich irritiert war, als John Lennons Gefährtin Yoko Ono auf einer Scheibe aufstöhnte, als hätte sie vor dem Mikro einen echten Orgasmus gehabt.

Das konnte doch kein Zufall sein!

Dass sein Vortrag gewohnt unterhaltsam ist, hat man von Goosen nicht anders erwartet. Zwar legt er zwischendurch keine einschlägigen Platten auf (Hallo, GEMA, nix zu holen!), aber am Schluss darf ihm das Publikum Fragen stellen, die er nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet.

Der ebenso bodenständige wie weltoffene Bochumer hat gleich eingangs berichtet, dass die Beatles gerade mal 25 Tage nach seiner Geburt in der Essener Grugahalle gespielt haben. So nah sind sie sich dann nie wieder gekommen – rein räumlich besehen… Und bald darauf sind die Beatles gar nicht mehr mehr live aufgetreten. Sonnenklar: Das konnte doch kein Zufall sein! Sondern? Es war wohl ein Zeichen. Fast so magisch wie die Bedeutung der Zahl 9 im Leben John Lennons (und sei’s in der Quersumme).

Seit den späten 70er Jahren hat sich der pubertierende Frank Goosen denkbar intensiv mit John, Paul, George und Ringo befasst. Los ging’s mit den beiden roten und blauen Doppelalben für den ersten Überblick, dann folgte nach und nach alles Weitere. Mit den Beatles, so dozierte Frank G. schon damals auf dem Schulhof, sei recht eigentlich Farbe in die vordem schwarzweiße oder auch graue Welt gekommen – bis hin ins seinerzeit auch nicht gerade bunte Ruhrgebiet. Goosens mehr oder weniger exklusive Entdeckung: Die zunächst allmähliche, dann explosive Farbwerdung habe sich ja schon an ihren Albumhüllen und an so manchen Songtexten gezeigt. Der selbsternannte Beatles-Experte Michael („Name geändert“), der damals blasiert widersprechen wollte, habe übrigens keinen blassen Schimmer gehabt. Damit das mal klar ist.

Den Vatikan reißt man ja auch nicht ab

Überhaupt waren die Beatles für ihn eine bis heute nachwirkende Offenbarung. Unverzeihlich findet es Goosen, dass der berühmte Cavern Club in Liverpool abgerissen und durch einen weit weniger auratischen Nachbau ersetzt worden ist. Nachvollziehbare Analogie: „Den Vatikan reißt man doch auch nicht ab!“

Dennoch war es ein Lebens-Höhepunkt, als Goosen vor einiger Zeit mit Frau und Kindern endlich einmal Liverpool aufsuchte und auf den Spuren der frühen Beatles unterwegs war – mit dem geradezu besessenen Guide namens Steve, der an Beatles-Detailwissen alle anderen in den Schatten stellte. Welch‘ ein Gänsehaut-Erlebnis, tatsächlich einmal durch die Penny Lane zu schreiten oder die wahrhaftigen Strawberry Fields (bzw. deren Nachfolge-Areal) zu sehen! Allerdings merkt Goosen auch an, welch massentouristische Untiefen dort zu gewärtigen sind. Da wird man an manchen Punkten von allen Seiten dermaßen mit Beatles-Titeln beschallt, dass es kaum auszuhalten ist. Noch weitaus unerträglicher: die idiotische Anmaßung mancher Touristen, sich in New York vor dem Dakota Building (dort wurde am 8. Dezember 1980 John Lennon ermordet) mit dem heutigen Doorman fotografieren zu lassen…

Noch eine Erkenntnis der Marke Goosen gefällig? Nun, wenn man bestimmte Beatles-Titel auf ordentlichen Vinyl-LPs gehört und dabei ungeahnte Instrumente entdeckt habe, so könne man seine CD-Sammlung eigentlich wegwerfen.

Weitere NRW-Tourneedaten mit dem Programm „Acht Tage die Woche – die Beatles und ich“: 3.3. Menden, 4.3. Bottrop, 17.3. Oberhausen, 18.3. Essen, 23.3. Duisburg, 31.3. Waltrop, 1.4. Haltern, 2.4. Gladbeck, 21.4. Herne, 25.4. Hagen. Gesamtprogramm: www.frankgoosen.de

Frank Goosen: „THE BEATLES“. KiWi Musikbibliothek (Kiepenheuer & Witsch). 182 Seiten. 12 €.




Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart: Heftige Kindheit im Schatten der Hörder Hochöfen

„Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart, deren letzter Roman von 2019 sinnigerweise „Kein Sturm, nur Wetter“ heißt. (Aufnahme vom März 2019 in Berlin: © Burkhard Peter)

Dortmunds erste Stadtbeschreiberin Judith Kuckart hat sich heute im Literaturhaus am Neuen Graben 78 vorgestellt. Ihren Lebensmittelpunkt hat die renommierte Autorin seit etlichen Jahren in Berlin, doch kann sie auf Dortmunder Erinnerungen zurückgreifen. Genauer: auf Kindheitserinnerungen aus dem Stadtteil Hörde, wo es, wie sie sagt, damals ziemlich heftig zugegangen ist.

Irgendwann liefen dort ziemlich viele 15- oder 16-jährige Mädchen herum, die bereits schwanger waren. Da beschloss ihre Familie denn doch, dass diese Gegend nicht ganz das Richtige für Judith sei – und zog wieder zurück in ihre betulichere Geburtsstadt Schwelm.

Ohne Sattel auf dem Fahrrad

Zuvor hatte Judith Kuckart ein paar gleichsam typische Ruhrgebiets-Kindheitsjahre im Malocherviertel erlebt. „Ich habe in Hörde Fahrradfahren gelernt – ohne Sattel.“ Auch habe sie damals tagtäglich aus der Nähe gesehen, wie kompliziert es zwischen Männern und Frauen zugeht. Gar nicht zu vergessen das Milieu der knochenharten Arbeitswelt: Ein Onkel habe am Hochofen gearbeitet und sei schon mit 40 Jahren gestorben.

Die damalige Wohnadresse: Am Winterberg 72 a. Die Straße lag im Schatten der gewaltigen Hoesch-Hochöfen, heute erstreckt sich auf dem früheren Werksgelände der Phoenixsee. Vor zwei Jahren, als ein Bundeskongress der Schriftstellervereinigung P.E.N. sie wieder einmal nach Dortmund führte, hat Judith Kuckart (Jahrgang 1959) in Hörde eine Cousine besucht, die sich mit der Gentrifizierung rund um den künstlichen See so gar nicht abfinden mag.

Niemand sitzt mehr auf den Stufen

Jedenfalls stellten beide fest, dass in diesen Straßenzügen – ganz anders als früher – niemand draußen auf den Stufen saß, um nachbarschaftlich zu plaudern. Es ist eine dieser Beobachtungen, aus denen schließlich Literatur erwachsen kann. Judith Kuckart fragt sich, ob es heute Berührungspunkte zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen gebe. Oder liegt hier eine eklatante gesellschaftliche Spaltung vor? Kuckart wird versuchen, es herauszufinden, mit ihren Mitteln. Einsam Spaziergänge um den Phoenixsee seien ihre Sache nicht, sie wolle mit vielen Menschen reden.

Derlei sinnfällige Veränderungen eines Stadtteils, so Kuckart, könnten ein Ansatzpunkt für ihre Stadtbeschreiberinnen-Arbeit in Dortmund sein, die im Mai beginnen und bis Oktober dauern wird. Schon vor ihrer Bewerbung ums Dortmunder Stipendium hat sie fürs Romanprojekt „Die Unsichtbaren“ eine Figur entwickelt, die aus Dortmund-Hörde stammt. Auch hierzu dürften sich weitere Recherchen anlagern. Sprich: Die Kindheit und ihre Schauplätze sind keineswegs vergessen, da regt sich immer noch einiges im Gemüt. Mehr noch: Als die Presseleute nicht allesamt Ralf Rothmanns Ruhrgebiets-Roman „Milch und Kohle“ (2000) kennen, ruft sie aus: „Na, ihr seid mir ja schöne Dortmunder!“

Interessanter als Heidelberg

Und überhaupt. Sie bewerbe sich eigentlich nicht mehr um Stadtschreiber-Ämter, in diesem Falle aber habe sie es getan, „w e i l es um Dortmund geht. Heidelberg hätte mich zum Beispiel nicht so interessiert.“ Obwohl sie dort schon gearbeitet hat – als Mitglied der Tanzcompagnie von Johann Kresnik. Tanz und Choreographie waren nämlich ihr ursprüngliches Metier, bevor sie immer mehr zum Schreiben kam. Also kennt sie sich auch mit Bühnenpraxis aus, was in ihrer Dortmunder Zeit durchaus eine Rolle spielen könnte. An einer Stelle fällt das Wort Erzähltheater. Bürgerinnen und Bürger sollen dabei mitmachen. Hört sich schon mal vielversprechend an.

Ein Satz, der Schülern gefallen dürfte

Damit nicht genug der medialen Auffächerung. Kuckart denkt auch schon an ein visuell angereichertes Dortmunder Tagebuch, das eventuell im Internet erscheinen könnte. Und sie kann sich gut vorstellen, hie und da in Schulen am Unterricht mitzuwirken. In Hamburg hat sie mal mit Achtklässlern einen „Schulhausroman“ erarbeitet, in dem ein verschwundener Lehrer gesucht wurde. Mit einer Aussage, die offensichtlich von Herzen kommt, dürfte Judith Kuckart manche Schüler rasch auf ihre Seite bringen: „Warum müssen Kinder im Achtklässler-Alter überhaupt zur Schule gehen? Furchtbar!“

Um die Dortmunder Gretchenfrage aufzuwerfen und flugs zu beantworten: Ja, Judith Kuckart kennt sich auch mit Fußball aus. Das erwähnte P.E.N.-Treffen nutzte sie seinerzeit auch, um den BVB gegen den 1. FC Köln spielen zu sehen. Einschlägige Texte gehören hin und wieder ebenso zu ihrem Repertoire wie auch schon mal eine Lesung im Stadion.

Bestimmt nicht wegen des Geldes beworben

Die Dotierung des Stipendiums beläuft sich monatlich auf 1800 Euro. Dazu befragt, erklärt Judith Kuckart sehr glaubhaft, sie habe sich gewiss nicht wegen des Geldes beworben. Sie wird sich auch nicht in einem schicken Viertel ansiedeln, sondern höchstwahrscheinlich eine (seit jeher schwarzgelb dekorierte) Schreibwohnung in der bundesweit bekannt-berüchtigten Dortmunder Nordstadt beziehen. „Heftige“ Zustände kennt sie ja von damals aus Hörde.

Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann (Kulturdezernent und Kämmerer in Personalunion) versichert, mit 1800 Euro bewege man sich finanziell im „oberen Drittel“ vergleichbarer Stipendien. Man habe sich in dieser Angelegenheit von Autoren und anderen Kennern des Literaturbetriebs eingehend beraten lassen.

Keinen Auftrag zu erfüllen

Stüdemann betont außerdem, dass – anders als bei vielen sonstigen Stadtschreiber-Posten – der Preisträgerin nichts Konkretes abgefordert werde. Sie habe keinen Auftrag zu erfüllen, sondern könne sich nach Belieben in der Stadt umsehen. Die ungewöhnliche Bezeichnung Stadtbeschreiberin lässt (im Vergleich zur Stadtschreiberin) ja schon ahnen, dass es hier nicht um Dienstbarkeiten für die Kommune geht, sondern ums Wahrnehmen und Aufzeichnen.

Judith Kuckart macht deutlich, dass es ihr nicht um „Meinungen“ über Dortmunder Verhältnisse zu tun sei, auch nicht um investigative Nachforschungen („Das kann ich gar nicht“), sondern just um möglichst genaue Beobachtungen und hernach ums Erzählen. Nur dann könne Verborgenes sichtbar gemacht werden. Und nun lasst uns mal ganz wohlwollend abwarten, wie die angenehm unprätentiöse Schriftstellerin ihre Vorhaben umsetzen wird.




Zahnfee, Du Verräterin!

Weihnachten liegt hinter, Ostern vor uns – und beide Feste sind ganz anders als zuvor. Vorbei ist es mit Wispern, Raunen und Fabulieren: Unsere Tochter glaubt nicht mehr. Weder an den Weihnachtsmann noch an den Osterhasen. Und wer ist schuld? Die Zahnfee!

Weihnachtsmann! Ostern! Zahnfee! Alles ihr! (Zeichnung: Nadine Albach)

Ich muss diesen Text mit einem kurzen, nostalgischen Seufzer anfangen.

Hach.

Als Fiona noch an Weihnachtsmann & Co. glaubte, lag ein bisschen Magie in der Luft. Wir konnten zehn gefärbte Eier so oft verstecken, dass es eigentlich 50 waren. Und als wir per Fernbedienung Glockengeläut von Spotify aktivierten und eher ungeplant eine tiefe Männerstimme ansagte „Die Glocken des Kölner Doms“, rief Fi mit weit aufgerissenen Augen: „Der Weihnachtsmann! Ich habe den Weihnachtsmann gehört!“ Warum der so merkwürdige Sachen sagte, geschweige denn, was der Kölner Dom damit zu hatte, wurde nicht hinterfragt.

Du lachst ja!

Das ist jetzt vorbei. Die Zahnfee hat den ganzen Spaß mit dem mythischen Personal zunichte gemacht. Wahrscheinlich gab es beim Auftritt dieser jungen Dame schon ein Grundproblem: Ich kenne sie nicht. Als ich klein war, wurde ich für meine ausgefallenen nur mit neuen Zähnen belohnt. Fiona hingegen war von ihren Freundinnen schon gebrieft. Mit dem ersten Wackelzahn kamen auch die Nachfragen: Wie das genau funktionieren würde, dieser Tausch, Zahn gegen Geschenk? Ich versuchte zu erklären. Dichtete herum, wand mich. Da rief Fiona plötzlich: „Du lachst ja! Du bist die Zahnfee!“

Ich wehrte mich noch ein wenig. Aber dann gab ich doch auf. Richtig lügen geht schließlich auch nicht. Wie Trumpfkarten warf Fiona mir daraufhin ihre Erkenntnisse hin: „Weihnachtsmann! Osterhase! Nikolaus! Alles ihr!“

Geschenkespürsinn

Traurig machte sie all das nicht. Ganz im Gegenteil: Ihr detektivischer Spürsinn ist seitdem geweckt. Und leider ist er dank Justus Jonas & Co. auch mächtig geschult.

Weihnachten zum Beispiel ahnte sie (zurecht), dass die Pakete im Waschkeller versteckt sein könnten. Fiona schloss sich in ihr Zimmer ein und entwarf einen Plan, der Sherlock Holmes hätte blass werden lassen. „Nachz prüfen ob alle schlafen“ stand da als erster Punkt. „Luft rein, ja / nein“ folgte als Option zum Ankreuzen. Runterschleichen, Suchen, Geschenk aufreißen – Informatiker sprechen bei so etwas glaube ich von einer „If-else-Schleife“. Bei den Zeilen „Wen das Aufreisen nicht klapt nem ein Meser“ wurden Normen und ich allerdings blass.

Ein letztes Geheimnis

Jetzt haben wir einen Geschenke-Verstecken-Pakt mit den Nachbarn abgeschlossen. Aber das – bleibt unser Geheimnis!




…und immer wieder die Frage nach Wembley – Zum Tod der Dortmunder Torwart-Legende Hans Tilkowski

Große Trauer – nicht nur beim BVB: Die Torwartlegende Hans Tilkowski ist mit 84 Jahren gestorben. Aus diesem Anlass noch einmal ein (erstmals im Juli 2017 in ähnlicher Form erschienener) Beitrag des Gastautors Heinrich Peuckmann über den legendären Torhüter von Borussia Dortmund und Westfalia Herne:

Untrennbar war seine Fußballkarriere mit einem einzigen Tor verbunden. „Herr Tilkowski“, riefen ihm bis zuletzt wildfremde Menschen zu, „ich habe da mal eine Frage.“ Und noch im Umdrehen antwortete er: „Der war nicht drin!“ Hans Tilkowski und das Wembley-Tor, er wurde es einfach nicht los.

Torwart-Legende Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion "Die Kirsche" - Permission: Wikimedia Commons) - Permission: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Hans_Tilkowski.jpg&action=edit

Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion „Die Kirsche“ – Wikimedia Commons)

1966 hat dieses Tor, das keines war, das WM-Finale entschieden, die Engländer wurden  Weltmeister, Hans Tilkowski blieb die Ehre, Torhüter im Endspiel einer Fußball-Weltmeisterschaft gewesen zu sein.

Vor oder hinter der Torlinie?

Der aserbaidschanische Linienrichter Tofiq Bachramow hat die folgenreiche Entscheidung nach einem Schuss von Geoff Hurst getroffen. Tilkowski hatte den Ball noch mit den  Fingerspitzen berührt und an die Unterkante der Latte gelenkt, von wo er, da war er sich sicher, auf und nicht hinter die Torlinie tickte. Schiedsrichter Dienst aber folgte der Meinung von Bachramov und erkannte auf Tor. Es war das 3:2 für England und die Entscheidung bei dieser WM. 

Als 2009 die deutsche Fußballnationalmannschaft in einem WM-Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan antreten musste, sind Tilkowski und ich im Vorfeld des Spiels nach Baku gereist. Bachramow war nämlich nicht einfach nur ein Linienrichter, er war später der berühmteste Fußballfunktionär des Landes geworden, er hat den Verband nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion gegründet. Es gibt eine Briefmarke mit seinem Konterfei, nach seinem Tod wurde das Nationalstadion nach ihm benannt und überlebensgroß, in Bronze gegossen, steht sein Denkmal davor.

Eine versöhnliche Rede an den früheren Linienrichter

Der aserbaidschanische Fußballverband und Vertreter der deutschen Industrie wünschten sich vor dem Länderspiel eine versöhnliche Geste. Was lag da näher, als Hans Tilkowski einzuladen? Und wenn es um Werte wie Versöhnung oder soziales Engagement geht, war Tilkowski immer ansprechbar. Da lebte fort, was er als Kind einer Bergarbeiterfamilie in Dortmund-Husen erfahren hat, Solidarität nämlich und ein tief empfundenes Gerechtigkeitsgefühl.

Vor der versammelten Presse, vor Fernsehen, Funktionären und Regierungsvertretern hat er in Baku, unter dem Bachramow-Denkmal stehend, eine beeindruckende Rede zur Fairness im Sport gehalten. Der erste Satz stand natürlich schon beim Abflug fest: „Der Ball war nicht drin.“ Aber dann wies Tilkowski auf die völkerverbindende Funktion des Fußballs hin, der es immer wieder schaffe, Menschen zusammen zu führen und so seinen Beitrag zu leisten zu einer friedlichen Welt. Zum Schluss hob er den Kopf und  sprach das Denkmal direkt an: „Tofiq, wenn du noch leben würdest, hätten wir garantiert ein schönes Gespräch über Fairplay im Sport.“

Es begann beim Vorortverein SV Husen

Das kam gut an, Tilkowski war ein überzeugender Botschafter des deutschen Fußballs. Trotz solcher Momente, seine Karriere auf das  Wembley-Tor zu reduzieren, ist aber ebenso falsch  wie ungerecht. Beim SV Husen, dem Dortmunder Vorortverein, hat er begonnen, Fußball zu spielen. Ganz nebenbei hat er auch noch geboxt, es waren die beiden Sportarten, die Arbeiterjungen im Ruhrgebiet damals gerne ausübten. Samstags boxen, sonntags Fußball.

Der Fußball war aber doch Tilkowskis große Liebe. Nach der Zwischenstation beim SuS Kaiserau, dem Verein im Schatten der Sportschule, wo er schon als ganz junger Mann in der ersten Mannschaft spielte, wechselte er 1955 zu Westfalia Herne in die Oberliga. Fußballlegende Ernst Kuzorra hätte ihn gerne „auf Schalke“ gesehen, aber Tilkowski hatte die Sorge, an deren Stammtorwart Orzessek nicht vorbeizukommen. Und er wollte vor allem eins, nämlich spielen.

Als Sepp Herberger aufmerksam wurde

Seine Entscheidung erwies sich als goldrichtig, Trainer Fritz Langner vertraute dem jungen Torwart und Westfalia konnte, nicht zuletzt dank seiner tollen Paraden und seines noch besseren Stellungsspiels, jahrelang die Klasse halten. Schnell fiel er Bundestrainer Herberger auf, der Torhüter ohne Showeinlagen liebte, und im April 1957 war es so weit. Beim Länderspiel in Amsterdam, das 2:1 gewonnen wurde, stand der junge Hans Tilkowski zum ersten Mal im Tor der deutschen Nationalmannschaft. Auf insgesamt 39 Einsätze hat er es gebracht und war damit für einige Zeit Rekordnationaltorhüter.

1959 wurde dann zum großen Jahr von Westfalia Herne. Noch vor den Großvereinen Schalke und Borussia Dortmund wurde völlig überraschend die westdeutsche Meisterschaft gewonnen. Bei der darauf folgenden Endrunde zur Deutschen Meisterschaft fehlte den Spielern allerdings die Kraft. Fritz Langner, unsterblich mit der Trainingsanweisung „Ihr fünf spielt jetzt vier gegen drei“, hatte wohl zu hart trainieren lassen.

Funkstille mit dem Bundestrainer

In dieser Zeit stieg Tilkowski zum Stammtorhüter der Nationalmannschaft auf. Er bestritt alle Qualifikationsspiele für die WM 1962 in Chile, beim Turnier selbst aber  erlebte er eine bitterböse Überraschung. Nicht er durfte nämlich spielen, sondern der unerfahrene Wolfgang Fahrian. Vier Jahre vorher hatte Herberger Tilkowski nicht zur WM in Schweden mitgenommen, weil er zu jung sei und zu wenige Länderspiele bestritten hätte. Vier Jahre später war Fahrian noch jünger und hatte noch weniger Länderspiele als Tilkowski 1958 bestritten. Der hat mit dem Bundestrainer danach für einige Zeit kein Wort mehr gewechselt.

Eineinhalb Jahre lang herrschte Funkstille zwischen den beiden, denn Tilkowski hatte seinen Stolz und ein bisschen war er auch ein westfälischer Dickkopf. Er stand in dieser Zeit trotzdem im Blickpunkt des Fußballs. 1964, mit Einführung der Bundesliga, war er  zu Borussia Dortmund gewechselt und lieferte mit dem Verein glanzvolle Spiele im Europapokal, vor allem gegen Titelverteidiger Benfica Lissabon.

1966 Europapokalsieger mit dem BVB

Tilkowski hielt in diesen Spielen, was zu halten war und immer auch ein bisschen mehr. Sogar in eine Europaauswahl wurde er berufen. Schließlich war es Herberger, der ganz gegen seine Gewohnheit nachgab. Ob er ihn mal anrufen dürfe, hat er ihn beim Bankett nach einem Europapokalspiel gefragt. Er durfte und am Neujahrstag 1964 stand Tilkowski wieder im Tor der Nationalmannschaft. Es war aber kein guter Neueinstand, das Spiel gegen Algerien ging mit 0:2 verloren.

Mit Borussia Dortmund feierte Tilkowski weiter Erfolge. 1965 wurde die Mannschaft Pokalsieger und im Jahr darauf gewann sie als erste deutsche Mannschaft einen Europapokal, den der Pokalsieger. Nach Libudas sagenhaftem Heber aus vierzig Metern wurde Liverpool in Glasgow mit 2:1 geschlagen.

Die deutsche Meisterschaft hätte die Mannschaft  auch gewinnen können. Trainer „Fischken“ Multhaup wollte den Feiern aus dem Wege gehen und die Mannschaft für die letzten Bundesligaspiele abseits vom Trubel in aller Ruhe vorbereiten, aber das ließ sich in Dortmund, das im Freudentaumel lag,  nicht durchsetzen. Nach vielen Feiern gingen die letzten drei Spiele allesamt verloren,  1860 München überflügelte im letzten Moment die Borussia und wurde Deutscher Meister. So blieb Tilkowski, 1965 Fußballer des Jahres, der Meistertitel verwehrt.

Zwei Jahre spielte er noch bei Eintracht Frankfurt, dann begann er eine Karriere als Trainer. Werder Bremen, der 1. FC Nürnberg, auch AEK Athen waren u.a. seine Wirkungsstätten.

Soziales Engagement – vor allem für Kinder

Danach engagierte sich Tilkowski für Sozialprojekte, für das Friedensdorf in Oberhausen zum Beispiel, wo in Kriegen verwundete Kinder operiert und wieder  gesund gepflegt werden. Er sammelte Geld für Aktionen der Unicef, für leukämiekranke Kinder und vieles mehr. Eine Hauptschule in Herne ist nach ihm benannt worden. Natürlich sorgte Tilkowski dafür, dass diese  Multikulti-Schule einen Bolzplatz bekam, getreu seinem Motto, dass der Fußball über alle Unterschiede hinweg Gemeinschaft stiftet.

Außerdem war er Botschafter für den westfälischen Fußball-  und Leichtathletikverband und wies beharrlich daraufhin, dass Westfalen und das Ruhrgebiet viel zu bieten haben, auch im Sport. Er musste in dieser Eigenschaft oft in die Sportschule Kaiserau, wo er als junger Spieler unter Leitung von Dettmar Cramer seine Torwartausbildung erfuhr und wo inzwischen ein Neubau nach ihm benannt wurde. So schloss sich bei ihm, der immer wieder gerne nach Kaiserau zurückkam, der Kreis.

Auch mit über 80 noch drahtig und rege

Skandale ware Tilkowski fremd. Er war noch immer mit seiner Frau Luise, mit der er drei Kinder hat, verheiratet.

Wer diesen drahtigen, geistig regen und immer, wenn es um eine gerechte Sache ging, streitbaren Mann sah, mochte ihm das Alter von über 80 Jahren kaum abnehmen. Er müsste, so dachte man, nur seine Torwartkluft anziehen, dann könnte es wieder losgehen…




„Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen“: Neu aufbereitete Interviews mit Christa Wolf zur Wendezeit

Jubelnde Menschen in Ost und West: Diese Bilder prägten 2019 die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Ein ungleich facettenreicheres Porträt der Wendezeit bieten indes die Interviews, die der Filmemacher und Publizist Thomas Grimm mit der Schriftstellerin Christa Wolf im Beisein ihres Mannes Gerhard Wolf vor elf Jahren geführt hat.

Jetzt hat Grimm die Gespräche gemeinsam mit dem Ehemann der 2011 verstorbenen Autorin aufbereitet und um Reden sowie weitere Dokumente erweitert – womit man sich mitten im Geschehen jener Jahre befindet.

„Für unser Land“ heißt ein denkwürdiger Aufruf, den Wolf und eine Reihe von Weggefährten aus Kultur, Kirche und Wissenschaft in den Novembertagen 1989 verfasst haben, wollten sie doch die DDR von der Basis her reformieren. Eine deutsche Einheit, die gern in einem Atemzug mit der Grenzöffnung genannt wird, war für sie nicht das vorrangige Ziel, wie es auch in Christa Wolfs Rede auf dem Alexanderplatz deutlich wird. Vielmehr hatten zahlreiche Intellektuelle vor Augen, „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“ zu schaffen – ohne Honecker & Genossen.

„In völlig andere Strukturen hinübergehoben““ 

Bekanntlich kam es anders, Kanzler Kohl habe schlau und geschickt agiert, resümiert die Schriftstellerin. Sehr feinfühlig, oftmals mit dem Neuen hadernd, gibt sie wieder, welche Entwicklung fortan ihren Lauf nahm. Man sei im Kulturbereich in völlig „andere Strukturen hinübergehoben worden“, heißt es an einer Stelle, an einer anderen beschreibt Christa Wolf die Veränderung an den Universitäten: „Über Nacht übernahmen die westdeutschen Gesandten die Gremien, und selbst hoch angesehene DDR-Wissenschaftler mussten sich von zweitklassigen Professoren aus dem Westen evaluieren lassen. Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen.“

Sozialistisch klingt es, wenn sie erklärt, dass mit der Einheit „das Privateigentum an den Produktionsverhältnissen“ wiedereingerichtet worden sei. So sehr sie das vereinte Deutschland mit vielen Bedenken betrachtet, so kritisch sieht sie aber auch das DDR-System, das die Menschen vereinnahmt, entmündigt und in ihrer Würde verletzt habe. Schließlich wirbt sie dafür, den einstigen DDR-Bürgern Verständnis entgegenzubringen, die es eben nicht gelernt hätten, ihre Meinung zu sagen und sich in demokratischen Spielregeln einzuüben.

Als ein Umbruch noch unwahrscheinlich zu sein schien

Dass sich in dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ überhaupt ein Umbruch anbahnen könne, das schien der Schriftstellerin auch noch in den letzten Monaten vor dem Mauerfall unwahrscheinlich zu sein. Die Hoffnung, die DDR-Führung würde sozusagen von oben einen Wandel einleiten, haben nach Aussagen von Wolf wohl viele Bürger spätestens nach einem Interview mit Funktionär Kurt Hager im Jahr 1987 begraben. Auf die Frage, ob nicht Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion Vorbild für die DDR sein könne, stellte er sinngemäß die Gegenfrage, ob man, wenn der Nachbar die Wohnung neu tapeziere, das denn auch machen müsse.

Den Anfang vom Ende des Systems verortet Christa Wolf allerdings weniger in den Reformprozessen, die Gorbatschow einleitete, vielmehr habe der Zerfall bereits mit der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermanns 1976 begonnen. En passant erwähnt Wolf, dass die Entscheidung Honecker ganz allein getroffen habe, selbst seine Ehefrau sei aus Angst um die Folgen dagegen gewesen. Nun sei zwar Biermann nicht besonders bekannt gewesen in der DDR, dass aber überhaupt jemand ausgebürgert wird und dann noch jemand, dessen jüdischer Vater im KZ umgebracht wurde, hat nach Wolfs Darstellung den Protest katalysiert.

Offene Worte über die Kontakte zur Stasi

Der Zusammenbruch 1989 geht, wie Christa Wolf anschaulich beschreibt, auf mehrere Ereignisse zurück, wozu Aktionen der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung ebenso gehören wie die öffentlichen Berichte zu den Manipulationen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 und schließlich die Übergriffe der Staatsmacht bei den Demos im folgenden Oktober. Wie schwierig die Aufarbeitung solcher Vergehen sich gestalten kann, darauf geht Christa Wolf ein, als sie über ihre Mitarbeit in der Untersuchungskommission berichtet, die beispielsweise einen Erich Mielke interviewen musste. Sehr offen spricht sie über ihre Kontakte zur Stasi, berichtet davon, wie überrascht sie bei Sichtung der eigenen Akten gewesen sei, als IM geführt worden zu sein. Ihre kritische Haltung zu Partei und Staat, so mutmaßt Wolf, habe wohl dazu beigetragen, dass man an ihr als Informantin dann doch wohl kein Interesse hatte. Selbst hätte sie es sowieso nicht gewollt.

Wenn man heute ein solches Buch liest, das vertiefende Einblicke in Strukturen und Zusammenhänge der DDR bietet, kommt unweigerlich die Frage auf, ob sich irgendwo Erklärungsmuster für das Erstarken von Populismus und Rechtsextremismus finden. Einen Hinweis gibt Christa Wolf direkt selbst. Der Aderlass an jungen Menschen gleich mit Öffnung der Mauer hat nach ihrer Ansicht die ostdeutsche Gesellschaft anfälliger für solches Gedankengut gemacht. Zudem hebt Wolf darauf ab, wie sehr doch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Staat während in der DDR ausgeprägt war, woraus sich die Frage ergibt, welche Folgen das für eine spätere Gesellschaft haben kann. Und schließlich spricht sie davon, dass – wenn auch eher auf alternative Lebensformen bezogen – sich Menschen in Zirkeln und Vereinigungen Nischen suchen, um der Globalisierung zu entkommen.

Christa Wolf: „Umbrüche und Wendezeiten“, hg. von Thomas Grimm unter Mitarbeit von Gerhard Wolf, Suhrkamp, 141 Seiten, 12 Euro.




„Dann habe ich meinen Job ja wohl richtig gemacht“ – eine persönliche Erinnerung an Martin Schrahn (1959-2019)

Sein Lachen klingt mir noch im Ohr, wenn wir am Telefon die neuesten Neuigkeiten aus dem Kulturbetrieb ausgetauscht haben.

Martin Schrahn †

Martin Schrahn †

Ich sehe seine hochgewachsene Gestalt vor mir, die mir vom anderen Ende eines Opern- oder Konzerthausfoyers zuwinkt, um mich gemeinsam mit seiner Frau Anke zur Bar zu locken, damit wir vor dem Kulturgenuss noch schnell ein Erfrischungsgetränk zu uns nehmen konnten.

Pointierte, feinsinnige und fachkundige Artikel verfasste er über das Musikgeschehen im Ruhrgebiet und darüber hinaus: Erst lange Jahre in der Kulturredaktion der Ruhrnachrichten in Dortmund und dann (nach seinem gesundheitsbedingten Ausscheiden) als freier Journalist, u. a. für die Revierpassagen. Kritisch waren seine Artikel, aber immer mit Witz und mit Liebe zu den Künstlern geschrieben. Beschwerden von diversen Kulturschaffenden, die sich in ihrer Eitelkeit verletzt oder auf den Schlips getreten fühlten, nahm er immer äußerst sportlich. „Dann habe ich meinen Job ja wohl richtig gemacht“, sagte er und lachte fröhlich.

Wie viele nette Stunden haben wir auf der Terrasse des Ehepaares Schrahn/Demirsoy verbracht oder auf ihrem gemütlichen Sofa. Einmal im Jahr gab es Apfelkuchen für alle Freunde – sozusagen aus dem eigenen Garten. Denn das Bäumchen, das wir beiden zur Hochzeit geschenkt hatten, trug ziemlich schnell Früchte.

Wir sind gemeinsam auf Berge gefahren, wir haben Münchens Museumslandschaft unsicher gemacht. Dabei war Martin Schrahn seit seiner Geburt aufgrund eines schweren Herzfehlers gehandicapt. Doch ich habe nie einen Menschen getroffen, der weniger Aufhebens von seiner Krankheit machte als Martin. Er thematisierte sie einfach überhaupt nicht. Wer nicht wusste, wie es um ihn stand, bemerkte oft gar nichts. Ich glaube, das war ihm wichtig: Seinen Interessen nachzugehen und so gut zu leben wie möglich, ganz ohne Wehleidigkeit.

Letztes Jahr hatten wir schon einmal große Angst um sein Leben: Aber er hat sich tapfer aus dieser Krise herausgekämpft und war schon wieder fast der Alte. Doch diesen Winter schlug das Schicksal erneut zu, auf grausame Art. Die letzten Wochen waren wir sehr in Sorge um ihn, aber hofften alle, dass er auch diesen Angriff auf seine Gesundheit abwehren könnte. Dass er bald aus dem Krankenhaus herauskäme und wir wieder zusammen die Kulturlandschaft durchwandeln würden.

Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt und das ist unendlich traurig; alle Worte, die diesen Schmerz zu beschreiben versuchen, kommen mir unfassbar schal vor.

Wir, seine Freunde, seine Kollegen, seine Weggefährten, seine Angehörigen und bestimmt auch seine Leser werden ihn unsagbar vermissen.




Beim Archivieren älterer Zeitungsbeiträge für die Revierpassagen – eine Selbstbegegnung und Selbstbefragung

Die WR-Kultur- und Wochenend-Rdekation, ca. Anfang der 1990er Jahre, der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend, dahinter (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, Johann Wohlgemuth, Hildegard Dörre. (Foto: Bodo Goeke)

Die WR-Kultur-/Fernseh- und Wochenend-Redaktion, ca. Anfang der 1990er Jahre, noch mit „altertümlich“ klobigem Computer-Gerät nebst mechanischer Schreibmaschine. Der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend; stehend (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Christel Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, der damalige Ressortleiter Johann Wohlgemuth und Hildegard Dörre, Leiterin der Wochenendbeilage. (Foto: Bodo Goeke)

Wisst Ihr, womit ich mich seit einiger Zeit plage (und auch amüsiere)? Nun, ich bin dabei, ein kleines Archiv für die Revierpassagen aufzubauen, das ältere Artikel aus meiner „Feder“ umfasst. Weitergehendes steht mir ja nicht zu. Zur Zeit reicht dieser ausgesprochen lückenhafte Rückblick von Anfang 1993 bis 2006, rückwärtige Verlängerungen bis in die 80er Jahre hinein sind vorgesehen (Update: und inzwischen begonnen).

Ab 2007 setzen dann allmählich die Texte für „Westropolis“ und ab April 2011 für die eigentlichen Revierpassagen ein, womit dann endlich auch andere Autorinnen und Autoren ins mehr- bis vielstimmige Spiel kommen. Gut so. Übrigens ist dies just der 4000. Beitrag, der bei den Revierpassagen zu finden ist. Nicht übel, oder?

Immerhin auffindbar

Was das Archiv anbelangt: Der eine oder andere Rückblick in die jüngere kulturelle Revier-Geschichte mag dabei abfallen. Und was soll ich Euch sagen: Es ist schon ein eigenes Ding, dermaßen in die eigene (berufliche) Vergangenheit zu blicken. Dazu gleich noch mehr.

Offenbar nehme ich mich ja selbst wichtig genug, um die eigenen Hervorbringungen der digitalen Mit- und womöglich Nachwelt zu hinterlassen. Muss mir das jetzt unangenehm sein? Wenn man sich zu sehr oder auch gar nicht wichtig nähme, wäre es womöglich gleichermaßen ein Alarmsignal.

Irgendwann im WR-Konferenzraum: das damalige Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Irgendwann während der 1980er Jahre im WR-Konferenzraum, als dort noch geraucht werden durfte: das damals noch bestehende, eigene Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Vieles ist jetzt schon von gestern oder vorgestern, punktuell meinetwegen auch „historisch“ im Sinne einer deutlich wahrnehmbaren und vom Jetzt abgesetzten Vergangenheit. Sicherlich gibt es prägnantere Zeugnisse jener Zeiten, doch was die Region angeht, dürfte hier die eine oder andere Kleinigkeit zu holen sein.  Vielleicht sucht ja mal jemand nach Dortmunder Theateraufführungen bzw. Kunstausstellungen der 80er oder 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Besser, als wenn es überhaupt nicht auffindbar wäre, nöch?

Frühes Internet, Euro-Einführung, Rechtschreibreform

Zu ahnen sind – etwa gegen Mitte bis Ende der 90er Jahre – die Anfänge des Internets, zunächst noch tastend und zaghaft, später dann immer selbstverständlicher, schließlich auch schon vereinzelt im Überdruss. Sodann die wandelbaren deutsch-deutschen Fährnisse, der Sprung von den DM- in die Euro-Zeiten. Das Hin und Her um die Rechtschreibreform und um die Kulturhauptstadt Ruhr. Du meine Güte, 2010 ist bald auch schon wieder eine Dekade her.

Was subkutan noch alles zu gewärtigen wäre, möchte ich selbst nicht näher untersuchen, es liefe über die Maßen auf Selbstbespiegelung hinaus. Redaktionell ließe sich sagen, dass zeitweise einzelne Rezensionen unwichtiger genommen wurden. Stattdessen sollten – nach dem Willen gewisser Chefredakteure – Alltags-Phänomene aus feuilletonistischer Sicht betrachtet werden. Merksatz, den man nun wirklich nicht mehr hören mag: „Die Leute da abholen, wo sie sind…“ Das war vielleicht gar ein Vorläufer von „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ Vom Populären zum Populistischen sind es manchmal nur ein paar Schritte.

Wirkliche Debatten haben unterdessen die überregionalen Zeitungen angezettelt. Gelegentlich bis zum Exzess. Man sprach ja auch hochwichtig von „Debatten-Feuilleton“. Ganz ehrlich: Dazu hatten wir im östlichen Revier nicht die freien Köpfe und nicht die ausreichenden Mittel. Von der Personalstärke ganz zu schweigen.

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, vermutlich anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer zu Frank Bühnte. (Foto: Bodo Goeke)

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer (ganz rechts vorn) zu Frank Bünte (vorn Mitte, direkt links neben der hochgehaltenen Zeitung). (Foto: Bodo Goeke)

Seitenproduktion unter erschwerten Bedingungen

Über viele Jahre hinweg konnte das sehr überschaubare Team sich ja nicht einmal auf die Kulturseite konzentrieren, sondern musste gleichzeitig die Fernseh-/Medienseite sowie zeitweise auch noch die Wochenendbeilage erstellen und dabei etlichen „populären“ Phänomenen hinterher laufen, die einen von Kultur eher ablenkten.

Trotzdem glaube ich, dass wir – angesichts der Verhältnisse – oft ein passables bis achtbares Blatt gemacht haben. Jawoll! Vor allem, wenn man es mit manchen heutigen Entwicklungen im regionalen Kulturjournalismus vergleicht. Hie und da ist Kultur als eigenständiges Ressort ja schon gar nicht mehr richtig vorhanden… Auch hätten wir damals Firlefanz wie gereckte Daumen oder Sternchen-Wertungen nicht mitgemacht.

Technisch geht das rückwärtige Vordringen ins Gestrige so vor sich: Eitel genug, habe ich meine Print-Artikel aus der Westfälischen Rundschau (deren Kulturredaktion ich von 1982 bis 2009 angehört habe – ab 1998 als deren Leiter) über die Jahre hinweg getreulich aufgehoben. Neuerdings gibt es taugliche Apps, mit denen man per Smartphone solche Texte hurtig scannen und in digitale Dateien umwandeln kann. Es ist immer noch ein mühseliges Geschäft, weil die OCR-Programme beileibe noch nicht alle Buchstabenfolgen korrekt erkennen, doch immerhin: Man kommt recht zügig voran.

Woher stammen Schlingensief und Kerkeling?

Damit ich’s nur gestehe: Beim Verarbeiten der alten Texte sind mir vereinzelt auch peinliche Fehler aufgefallen, die „damals“ im hektischen Aktualitäts-Getümmel untergegangen sind. Gewiss: Man hat nach Möglichkeit die Texte der Kolleg(inn)en gegengelesen und selbst gegenlesen lassen. Doch nicht immer waren derlei Bemühungen von Erfolg gekrönt. Andere Ressorts waren da ganz bestimmt nicht besser, ich glaube sogar: Wir haben genauer hingeschaut. Dies und das hat sich freilich „versendet“, wie man in anderen Medien traditionell zu scherzen beliebt. Blöd nur, dass das Gedruckte so hartnäckig stehenbleibt.

Was man nicht alles geknipst hat: Hinweisschild im WR-Aufzug... (Foto: Bernd Berke)

Was man nicht alles geknipst hat: Etagen-Wegweiser im Dortmunder WR-Aufzug… (Foto: Bernd Berke)

Beim Archivieren habe ich die erkannten Fehler selbstverständlich korrigiert. Als da beispielsweise wären: die bodenlose Behauptung, Christoph Schlingensief sei in derselben Ruhrgebietsstadt geboren wie Hape Kerkeling. Humbug! „Schlinge“ stammte aus Oberhausen, Hape aus Recklinghausen. Richtig unangenehm auch ein Buchstabendreher dieser Sorte: „Konservationsstück“ statt „Konversationsstück“. Puh!

Ein andermal habe ich tatsächlich bei einer Uraufführung den Vornamen der (damals wie heute herzlich unbekannten) Stückeschreiberin verhunzt und Eva statt Vera hingesetzt. Nur schwer verzeihlich. Normalerweise gucke ich in derlei Fällen eher dreimal hin. Denn Namen sind eben nicht nur Schall und Rauch. Nichtsdestotrotz ist es mir gleich zweifach passiert, dass ich den Namen von Armin Rohde „geringfügig“ falsch geschrieben habe. Und einmal ist mir der allerpeinlichste Fehler unterlaufen, als ich „Leientheater“ statt „Laientheater“ hingetippt habe. Das tut immer noch richtig weh. Drum schnell noch eine falsche Zahl hinterher: 1972 hätten die „Jungen Wilden“ bei der documenta Furore gemacht? Denkste. Es war natürlich 1982.

Ein ziemlich interessanter Beruf

Schon seltsam, sich selbst Jahrzehnte danach bei solchen Fehlern zu ertappen. Meistens aber waren die Sachen doch ziemlich korrekt, es geht ja insgesamt um mehrere Tausend Artikel. Und auch im Nachhinein bin ich noch mit manchen Beiträgen recht zufrieden oder einverstanden, obwohl ich im Rückblick die eigenen Marotten erkenne – und obwohl das Medium Regionalzeitung in der WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) dem Schreiben hie und da recht enge Grenzen gesetzt hat.

Schon allein die Beschränkung auf maximal rund 140 bis 150 Zeilen à 27 Anschläge, ganz ohne Ansehen des Themas… Aber das war noch relativer Luxus, verglichen mit heute, wo es auch mit dem Betriebsklima bei etlichen regionalen Medien hapert. Ich könnte Rösser, Reiter und Gerittene nennen, lasse es aber füglich bleiben.

Viele Jahre lang die zweite, wenn nicht gar die erste „Heimat": Blick in den Raum der WR-Kulturredaktion, anno 2008. (Foto: Bernd Berke)

Viele Jahre lang zweite, wenn nicht gar erste „Heimat“: Blick in die leere WR-Kulturredaktion am Brüderweg 9, anno 2008, nunmehr mit Flachbildschirmen. (Foto: Bernd Berke)

Und weiter: Ja doch, man hat über die Jahrzehnte einen ziemlich interessanten Beruf ausgeübt. Manchmal hat es sich schön geballt. Etwa so: Am einen Tag ein Konzert von Neil Young erlebt, kurz darauf den großen Frank Sinatra (1993). Oder eine Ausstellung mit Christo. Bei ein- und derselben Buchmesse (1995) mit Rühmkorf und Gernhardt sprechen zu dürfen. Oder so ähnlich. Berühmte Kulturschaffende wie Günter Grass, Gerhard Richter oder David Hockney persönlich erlebt zu haben. Mit schreibenden Menschen wie Martin Walser, Dieter Wellershoff, Harry Rowohlt oder Wilhelm Genazino und etlichen anderen gesprochen zu haben. Wenn auch oft nur unter Zeitdruck in engen Verlagskojen der Frankfurter Buchmesse. Nur zu schade, dass man die entsprechenden Tonkassetten nicht aufgehoben hat, darauf war viel mehr Material, als dann gedruckt erscheinen konnte. Dahin, dahin.

Andere Namen, andere Zeiten

Apropos: Im Rückblick habe ich auch bemerkt, dass ich das Hauptaugenmerk auf eine damals zeitgemäße Autorengeneration gerichtet habe, die inzwischen längst abgetreten ist. Zwar nicht mehr Böll. Und nur noch halbwegs Grass. Aber noch Walser, Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Rühmkorf und Handke, sodann (bereits während des Studiums) Brinkmann und Nicolas Born, hernach beispielsweise Alexander Kluge, Botho Strauß, Paul Nizon oder eben Wilhelm Genazino. Jenseits der Landesgrenzen Cees Nooteboom, Milan Kundera, Lars Gustafsson. Um nur einige wenige zu nennen.

Noch deutlicher im Bereich Rock und Pop: Musikalisch in den 60ern und 70ern sozialisiert, war man in den frühen 80ern – wenn auch schon etwas widerwillig – noch halbwegs auf der Höhe. Dann wurde immer klarer: Man hat auch hierin „seine Zeit gehabt“. Der Rückgriff auf die eigenen „Idole“ hat nicht einmal mehr nostalgischen, sondern nur noch historischen Sinn. Wie bitte? Jaja, natürlich war die Musik nie wieder so gut wie damals.

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach „Feierabend". (Foto: Bernd Berke)

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach Spätschicht-„Feierabend“ abgelichtet. (Foto: Bernd Berke)

Bleisatz, grünes Flimmern usw.

Auch technisch ist so einiges an einem vorübergezogen. Los ging’s wahrlich noch mit Bleisatz, später flimmerten die frühen Computer-Terminals (alias „Tömmels“, wie wir sie nannten) grünlich vor sich hin, das waltete die Firma Atex. Jede Befehlskette war elend umständlich. Es ratterten noch die Fernschreiber („Ticker“) und der nach heutigen Begriffen ungemein langsame Bildfunk der Nachrichten-Agenturen. Wie schneckenhaft die Fotos aus dem Gerät gekrochen sind…

Irgendwann kam dann (Tele)-Fax auf, was einem anfangs geradezu hexerisch modern erschienen ist und neuerdings wieder eine kleine Renaissance erlebt. Dann der „Lichtsatz“, gleichfalls als letzter Schrei wahrgenommen und ebenfalls schon bald veraltet. Schließlich der Ganzseiten-Umbruch, die vielteilige Bildschirm-Wand im Konferenzraum, das Internet, das sich in allen Vorgängen rasant ausbreitete. Nun konnte jede(r) jedem in die Karten gucken. Zuweilen gar in Echtzeit.

Und heute? Online-Abos, Streaming, YouTube-Kanäle von allerhand „Influencern“ und „Aktivisten“, so genannte soziale Netzwerke etc. Eines nicht so fernen Tages wird einem die gedruckte Gazette wie ein liebenswertes Relikt vorkommen. Oder wie ein Kleinod.

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Gar nicht zu vergessen: Nach und nach sind immer mehr Kolleginnen und Kollegen „von früher“ verstorben, mittlerweile auch aus Jahrgängen, die einem nicht fern liegen.




Charakterstärke und sonstige Vorzüge: „Vorbilderbuch“ mit anregenden Texten aus dem Ruhrgebiet

Ist es nicht angesichts von so vielen YouTube-Stars, Influencern und Promis ein bisschen antiquiert, ein Buch über Vorbilder auf den Markt zu bringen? Der Verlag Henselowsky Boschmann hat genau das getan. Und er hat gut daran getan.

Herausgekommen ist eine lesenswerte, anregende und angenehme Lektüre. Über 30 Autoren schreiben sehr persönlich über ihre Vorbilder und darüber, wo vielleicht auch Trennlinien zu ziehen sind. So nimmt für die Pädagogin Margret Martin ihr Ausbildungslehrer im Referendariat wegen seiner Offenheit und sozialen Einstellung einen besonderen Stellenwert ein. Vieles habe sie für den eigenen Unterricht übernommen, schreibt sie, doch am Ende müsse man selbst seinen eigenen Weg suchen.

Es gibt sie auch nebenan

Die Geschichte steht aber noch für ein weiteres Merkmal dieses Bandes: Vorbilder müssen nicht z. B. Nelson Mandela oder Mutter Teresa heißen, es gibt sie auch nebenan. Ludger Claßen erzählt von einer Tante, Kosename Tanmaria, die immer half, wenn es erforderlich war. Ihre Gelassenheit, aber ebenso die Skepsis gegenüber manchen Neuheiten haben den Autor nachhaltig beeindruckt. Den Beat-Club im Fernsehen, den durfte er damals dennoch bei ihr – und nur bei ihr – sehen, der Vater lehnte die Sendung ab.

Apropos Musik: Pete Townshend von den Who ist für Zepp Oberpichler einer, zu dem er bis heute aufschaut. Dessen Shows und Songs sind für ihn unübertroffen. Ähnlich denkt René Schiering über Christoph Schlingensief, wenn er sich dessen Wirken vor Augen führt. „Was er jetzt wohl tun würde?“, fragt sich der Autor und spielt dabei insbesondere auf das gesellschaftskritische Bewusstsein des 2010 verstorbenen Künstlers sowie dessen Selbstreflexion an.

Fair und frei von Skandalen

Wie man mit Charakterstärke überzeugen kann, dafür sind in dem Band zahlreiche Beispiele zu finden. Hans Tilkowski und Norbert Nigbur gehören dazu. Der eine, der einst für den BVB und 1966 beim WM-Endspiel in Wembley für Deutschland im Tor stand, imponiert den Autor bis heute durch Fairness und gesellschaftliches Engagement, der andere, früherer Torhüter auf Schalke, beeindruckte seinerzeit nicht zuletzt, weil er am Bundesligaskandal 1971 n i c h t beteiligt war.

An Menschen, die sich aus ihrem Selbstverständnis heraus für Andere engagieren, erinnern eine Reihe von Verfassern. Da gab es den Missionar, der soziale Projekte voranbrachte, den Altkommunisten in Bottrop, der als Anwalt des „kleinen Mannes“ erst spät im Leben Anerkennung fand, und den Dortmunder Pfarrer, der sich auf die Seite von Kirchenbesetzern geschlagen hat. Beeindruckend ist auch die Geschichte über die Unternehmerin, die als Kind jüdischer Eltern von diesen 1939 nach England geschickt wurde, schon früh eine Technologiefirma aufbaute und sich bis heute dafür stark macht, dass Autisten in der IT-Branche unterkommen.

Saboteur des Alltags

Wie schwierig, aber vor allem wie bereichernd der Umgang mit Autisten sein kann, davon berichtet Gerd Herholz, der vor Jahren eine Zeitlang einen Jugendlichen betreut hat. Er ist ihm bis heute ein „flackerndes Vorbild“ geblieben, hat er ihn doch als „professionellen Dulder und Alltagssaboteur“ erlebt. Dass destruktives Verhalten auch ein „Vorbild“ im negativen Sinn sein kann, davon erzählt Margit Kruse. Der Junge aus ihrer Nachbarschaft hatte ob seiner Diebstähle einen zweifelhaften Ruhm, als er ins Gefängnis kam, war dann wohl die abschreckende Wirkung vollendet.

Wenn die Autoren auf ihre Vorbilder eingehen, vermitteln sie nicht nur Biografisches, sondern erzählen auch immer ein Stück Zeitgeschichte. Da es sich häufig um das Ruhrgebiet als Schauplatz handelt, lädt der Band auch zu einer regionalen Zeitreise ein. Denjenigen, die sich gern etwas grundsätzlicher mit dem Thema Vorbilder auseinandersetzen wollen, bietet das Buch auch genügend Stoff, beispielsweise durch Zitate namhafter Literaten wie Erich Kästner.

Die Geschichte, die wohl am meisten berührt, findet sich gegen Ende des Buches: Ein Vater beschreibt den Menschen, der ihm einen ganz anderen Blick auf das Leben geöffnet hat: Es war sein Sohn, der mit 17 Jahren an einer unheilbaren Krankheit starb.

„Vorbilderbuch – Kleine Galerie der Menschlichkeit“. Verlag Henselowsky Boschmann, Bottrop. 240 Seiten, 9,90 Euro.




Der Mensch ist nur ein flüchtiger Schatten – Lars Gustafssons letzte Gedichte: „Etüden für eine alte Schreibmaschine“

Es ist, als solle einen schon der Titel unserer Zeit entrücken: „Etüden für eine alte Schreibmaschine“ heißt der (erst) jetzt bei uns erschienene Lyrikband von Lars Gustafsson. In Schweden ist das schmale, doch gehaltvolle Buch bereits 2016 herausgekommen, also im Todesjahr Gustafssons, der am 3. April 2016 gestorben ist. Diese Gedichte sind kein großes Vermächtnis, sondern wirken wie ein letzter, elegischer, wissend lächelnder Abschiedsgruß, der eben schon auf andere Sphären verweist.

Das erste Gedicht „Der Mann, der Hund, die Schatten“ lässt vage, schattenhafte Erscheinungen vorüberhuschen. Auch die weiteren Seiten enthalten vielfach Zeilenfolgen, die sich beinahe im Nichts verlieren und entschwinden, vor allem in nächtlichen und winterlichen Landschafts-Kulissen.

Etliche Gedichte sind so federleicht wortsparsam wie Haikus. Bloß nichts Überflüssiges hinsetzen! Unscheinbar, bescheiden, ja nahezu demütig und wie nebenher verfasst kommen einige dieser kleinen Schöpfungen daher. Aber das kann ja nicht stimmen. Der Dichter hat gewiss noch einige Mühen darauf verwendet. Das lyrische Ich sucht dabei nicht zuletzt Orte der Kindheitserinnerungen auf. Wie es gegen das Ende hin so zu sein pflegt.

Auf den Titel des Bandes kommt ziemlich früh das äußerlich fassbarere Gedicht „American Typewriter“ zurück. Es beschwört den länger zurückliegenden Augenblick, in dem am Metropolitan Desk der New York Times eine einsame Remington-Schreibmaschine betätigt wurde, nein: „…in einer Kaskade von Anschlägen aufbrauste“. Sodann heißt es:

„Es war eine Zeit,
als man die Menschen
noch denken hörte.“

Ja, es war noch eine ganz andere Materialität im Spiel, als beim vergleichsweise „lautlosen“ Geklapper auf Computern, bei dem freilich inhaltlich oft genug Getöse herauskommt.

Ansonsten geht es luftiger zu. Da erahnen wir beispielsweise: Verlassene Dinge, vorzugsweise in der schwedischen Provinz, von denen die Farbe abgeblättert ist; den Möglichkeits-Moment, bevor ein Solist im Konzert den ersten Ton spielt; die längst „erledigten“, niemals eingelösten Verheißungen abgelaufener Kalender; die Buchstelle, die ein vergilbtes Lesezeichen von 1929 noch markiert und hinter der vielleicht eine ganze Lebensgeschichte aufscheint…

Mehrfach werden Grenzgelände erwähnt: Grenzen des Erzählens, Grenzen der Galaxis, des Universums gar. Hinaus, hinaus ins Endlose? Im allerletzten Gedicht, dem „Epilog für die Ratlosen“, lesen wir jene Aufforderung, die in eine andere Welt führen könnte:

„Komm, müder Körper!
Komm, müde Seele!“

Und wie vergänglich waren Tun und Trachten im Leben! Gustafsson resümiert sein Metier, seine viele Jahrzehnte währende, wahrlich fruchtbare Autorenschaft im lyrischen Zuschnitt so lakonisch:

„Ich habe mein Leben damit verbracht
die Buchstaben des Alphabets
auf verschiedene Arten zu ordnen.“

Mehr noch: Einem anderen Gedicht zufolge scheint die ganze – ziemlich groteske – Geschichte der Philosophie sozusagen hinter Schneegestöber zu verschwinden. Ist denn alles Geistige nur ein Sortiervorgang oder flüchtige Illusion? Sollte auch jeder Mensch nichts als ein letztlich einsamer Schatten sein, wie es im Gedicht „Solipsismus“ heißt?

Kein Wunder, dass in diesem Band entscheidende Fragen angeschnitten werden, die (eventuell) letzten Dinge betreffend, allerdings mit Drall zur Komik:

„Ich frage mich:
Wenn man also in der Hölle ankommt, woher weiß man, dass man wirklich in der Hölle angekommen ist?
Und nicht nur in einer Ecke des Üblichen?“

Lars Gustafsson: „Etüden für eine alte Schreibmaschine“. Gedichte. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Carl Hanser Verlag. 80 Seiten, 18 Euro.




Von der Primzahlenforschung bis zur Kanaldeckel-Kunde: Enzensbergers kurzweilige „Experten-Revue in 89 Nummern“

Erst durch die immer mehr verfeinerte Arbeitsteilung habe sich die Gattung Mensch zur Weltbeherrschung aufschwingen können. Diese Hypothese ist der Ausgangspunkt von Hans Magnus Enzensbergers „Experten-Revue in 89 Nummern“. Ob es im Verlauf dieser Entwicklung auch Verlierer gegeben hat? Das wäre ein anderes Thema. Insgesamt habe Arbeitsteilung die Menschheit stetig vorangebracht, befindet der Schriftsteller.

Schritt für Schritt erfahren wir hier, in welche Bereiche, Nischen, Höhen oder Abgründe sich menschliche Leidenschaften und Fähigkeiten verzweigt oder auch verstiegen haben. In diesem durchaus kurzweiligen, weil denkbar abwechslungsreichen Buch des inzwischen 89-jährigen (!) Enzensberger geht es nach und nach so ziemlich um alles. Um nur ein paar Beispiele fürs allfällige Spezialistentum zu nennen:

Da wird das „Wettrüsten“ zwischen Tresor-Produzenten und Panzerknackern geschildert. Sodann geht’s um die Erfindung des Fahrrad-Vorläufers durch Drais und um den erstaunlichen Hintergrund. Stichwortartig: Verdunkelung auch des europäischen Himmels durch indonesischen Vulkanausbruch, daher Mangel an Pferdefutter mit entsprechenden Folgen, deshalb neue Transport- und Fortbewegungsmittel nötig…

Wissenswertes über Taschendiebe und Henker

Ferner lässt Enzensberger – stets im angenehm unaufgeregten Duktus – den Blick z. B. über folgende Gebiete und die jeweiligen profunden Kenner der Materien schweifen: Pigment-Spezialisten, Schaben-Experten, mathematische Unendlichkeit(en), Geheimnisse der Primzahlenforschung und der Eulerschen Zahl (Enzensberger kann und mag sein Faible für Mathematik nicht leugnen). Außerdem spürt er dem Fachwissen der Wachszieher und Feuerwehrleute, der Vogel-Präparatoren und der Falkner nach, er berichtet von der immensen Vielfalt der Hobel, der Schrauben und der Mausoleen, der Parfüme, Äpfel (rund 1500 Sorten), Kaleidoskope, Helme, Matratzen, Fahnen und Flaggen.

Auch unternimmt der Autor kurze Streifzüge etwa durch die Lebenswelten der Taschendiebe, der Müßiggänger, der Hochstapler oder der Henker. Letztere brauchten – gleichsam ex negativo – gehörige medizinische Kenntnisse und mussten oftmals von den Hinterbliebenen der Hingerichteten entlohnt werden. Auf gewisse Weise ebenso bizarr: Wer hat schon mal von Dolologie gehört? Nun, das ist die von manchen Leuten mit flammendem Eifer betriebene Kanaldeckel-Kunde. Man glaubt ja nicht, was es da auf Erden so gibt!

Offenkundige Tatsache ist, dass jedes, aber auch wirklich jedes Fachgebiet nicht nur skurrile Formen annehmen kann, sondern vor allem auch weitaus komplizierter, vielfältiger und spannender ist, als es zunächst den Anschein hat. Überall haben sich besondere, hie und da bis ins Groteske reichende Fachvokabulare herausgebildet. Enzensberger dazu: „Mit den Worten der Spezialisten tut sich eine Welt auf, von deren Reichtum der Laie keine Ahnung hat.“

Der Mann, der unbedingt Busfahrer werden wollte

Überdies hält das Buch ungemein viel Erzählstoff bereit. Die meisten Kapitel handeln von besonderen Passionen, so etwa die Geschichte vom Hochbegabten, der alle Gymnasial-Empfehlungen in den Wind schlug und partout Busfahrer werden wollte. Als das nach vielen Berufsjahren nicht mehr so weiter ging, heuerte er bei einer Modellbaufirma an und entwarf originalgetreue Busse, mit denen er sich so gut auskannte wie sonst niemand. Man muss sich diesen Mann wohl als glücklichen Menschen vorstellen.

Ähnlich brannte auch der Rotwelsch-Spezialist Siegmund Andreas Wolf für sein Wissensgebiet. Niemals mit einem Professorentitel dekoriert, wusste er mehr über diese frühere Gaunersprache als wohl alle anderen. Mit ungeheurem Fleiß hat er Wörterbücher und Lexika zusammengestellt, die noch heute von Belang sind. Doch er starb ohne sonderliche akademische Weihen – übrigens abseits der Metropolen in Lünen, nördlich von Dortmund. Auch von dem Augsburger Feuerkopf Johann Most wird man bislang noch nicht viel gehört haben. Er verdingte sich als Journalist, sozialistischer Politiker und schließlich zusehends radikaler Anarchist mit Neigung zum Bombenbau samt praktischer Anwendung. Kein System, mit dem er sich nicht angelegt hätte. Enzensberger sieht in ihm einen Ahnherren des Terrorismus.

Von manchen genial wahnwitzigen Leuten, die hier vorkommen, würde man gern noch mehr erfahren, doch es ist Enzensberger just um die vielfältige Fülle zu tun. Das und nicht das Beharren auf wenigen Aspekten kommt seinem immer noch höchst beweglichen Geist entgegen.

Rückblick auf einen bewegenden Briefwechsel

Wer auf die Zeiten der literarischen Anfänge Enzensbergers zurückkommen möchte, sollte sich einen vor wenigen Monaten gemeinsam von den Verlagen Suhrkamp und Piper herausgebrachten Band besorgen, der den Briefwechsel mit der gewiss nicht minder einflussreichen Ingeborg Bachmann enthält. Es ist eines jener Bücher, in denen die Anmerkungen und Kommentierungen aus gutem Grund mehr Raum einnehmen als die Primärtexte, gilt es doch, Zusammenhänge zu erschließen, die längst nicht mehr zum Allgemeingut gehören.

Aber welch ein Gewinn ist das, wenn man tiefer eintaucht! Im Vergleich zur häufig grübelnden Bachmann erscheint einem Enzensberger in seinen Briefen geradezu jungenhaft unbekümmert, aber natürlich auch schon geistig fundiert und intellektuell so wendig, wie man ihn kennt und schätzt. Eben diese Mischung mag für Ingeborg Bachmann aufmunternd und tröstlich gewesen sein. Ihre Briefe lesend, bangt man geradezu nachträglich noch um sie; so wie man seinerzeit atemlos ihren Briefwechsel mit Paul Celan verfolgen konnte, sich unentwegt fragend, ob sie seiner ungeheuren Verletztheit und Verletzlichkeit hat gerecht werden können. Aber wer, wenn nicht eine wie sie? Und wer wiederum hätte sie zuweilen beruhigen können, wenn nicht jemand wie Enzensberger?

Solche Briefbände sind jedenfalls inzwischen Denkmäler, wenn nicht Monumente der letzten (oder meinetwegen vorletzten) Generation, die sich überhaupt noch dermaßen der Mühsal des Briefeschreibens unterzogen hat. Wir gedenken dieser Zeiten mit großem Respekt, ja mit Ehrfurcht und Sehnsucht.

Hans Magnus Enzensberger: „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“. Suhrkamp-Verlag, 336 Seiten, 24 €.

Ingeborg Bachmann / Hans Magnus Enzensberger: „Schreib alles was wahr ist auf“. Briefe. Suhrkamp-Verlag/Piper Verlag, 480 Seiten, 44 €.

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P. S.: Zwei Korrekturen am Experten-Buch erlaube ich mir noch: Auf Seite 326 wird der Universalgelehrte „Anastasius“ Kircher genannt. Er heißt aber Athanasius. Das weiß ich auch deswegen, weil ich im selben Dörfchen geboren wurde wie der ruhmreiche Mann.

Auf derselben Seite ist dem Lektorat noch ein kleiner Lapsus durchgegangen. Die Zeile aus dem Beatles-Song „Lucy in the sky with diamonds“ ist geringfügig falsch zitiert. Ein „the“ ist überflüssig: „A girl with kaleidoscope eyes“ wäre richtig gewesen.




Queen für ein ganzes Zeitalter: Vor 200 Jahren wurde die britische Königin Victoria geboren

Queen Victoria mit ihrem Mann Albert

Queen Victoria mit ihrem Mann, Prince Albert, im Jahre 1854. (Wikimedia – gemeinfreies Bild / Historische Fotografie von Roger Fenton – Royal Collection of the United Kingdom)

Queen Victoria gab einer ganzen Epoche ihren Namen. Von 1837 bis 1901 regierte sie das Vereinigte Königreich, länger als je ein gekröntes Haupt in England, Schottland, Wales oder Irland. Erst ihre Ur-Ur-Enkelin Elisabeth stellte 2015 diesen Rekord ein, regiert nun schon 67 Jahre und ist die dienstälteste aller lebenden Monarchen. Queen Victoria hat europäische Geschichte geschrieben und dem 19. Jahrhundert auf den britischen Inseln die Bezeichnung „viktorianisches“ Zeitalter eingebracht. Am 24. Mai 1819, vor 200 Jahren, wurde sie geboren.

Die Bilder der rundlichen Matrone mit dem mürrisch-ernsten Gesichtsausdruck, die seit dem Tod ihres über alles geliebten Ehemanns Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha nur noch schwarze Witwentracht trug, sind zu Ikonen geworden.

Als Alexandrina Victoria im Londoner Kensington Palace geboren wurde, dachten die Mutter Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld und der Vater, Edward Augustus, Duke of Kent nicht daran, dass ihre Tochter jemals Königin werden könnte. Da König William IV. und seine Brüder kinderlos blieben, rückte Victoria in die Thronfolge. Das als robust und willensstark beschriebene Kind wurde bewusst nicht auf eine Rolle als Regentin vorbereitet. Nur auf ihren Onkel Leopold, König von Belgien, konnte sie sich verlassen. Er schickte einen Vertrauten, der die junge Victoria beraten und von den Einflüssen des Hofes schützen sollte.

Die Queen als kleines Kind: „The Duchess of Kent with her daughter Victoria", Gemälde von Henry Bone (1824/25) -(Wikimedia - gemeinfreies Bild / Quelle: https://www.telegraph.co.uk/culture/donotmigrate/3560626/Queen-Victoria-the-original-peoples-princess.html)

Die Queen als kleines Kind: „The Duchess of Kent with her daughter Victoria“, Gemälde von Henry Bone (1824/25) – (Wikimedia – gemeinfreies Bild / Quelle: https://www.telegraph.co.uk/culture/donotmigrate/3560626/Queen-Victoria-the-original-peoples-princess.html)

Das 18jährige, nur 1,52 Meter große Mädchen, das am 28. Juni 1838 in Westminster Abbey gekrönt wurde, war schlecht vorbereitet, aber bereit, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Julia Baird beschreibt Victoria in ihrer neuen Biografie als „ein Mädchen, das von den Menschen in seiner Umgebung so lange schikaniert worden war, bis es schließlich zu einer Persönlichkeit mit einem eigenen, unbeugsamen Willen heranreifte.

Entschlossene Regentin

So regierte Victoria auch – entschlossen, machtbewusst, manchmal autoritär, nicht immer klug und auf den richtigen Rat hörend. Auch ihren Ehemann Prinz Albert versuchte sie zuerst, aus der Politik herauszuhalten. Nach 1840 zwangen jedoch die häufigen Schwangerschaften Victoria dazu, ihrem Mann mehr Einfluss zu gewähren. Die Königin drückte in einem Brief aus, was Albert in 21 glücklichen Ehejahren für sie bedeutete: „Er war für mich alles, mein Vater, mein Beschützer, mein Führer, mein Ratgeber in allen Dingen … . Ich glaube, niemand ist so völlig verwandelt worden wie ich durch (seinen) Einfluss.“

Der Tod Alberts mit erst 42 Jahren im Dezember 1861 war ein tiefer Schock für Victoria. „Mein glückliches Leben ist beendet!“, schrieb sie in einem Brief. „Wenn ich weiterleben muss (…), so fortan nur für unsere armen, vaterlosen Kinder, für mein unglückliches Land, das durch seinen Verlust alles verloren hat …“. Für den Tod ihres geliebten Albert machte Victoria ihren Sohn Edward verantwortlich: Albert war, bereits krank, zu dem leichtlebigen „Bertie“ gereist, um ihm wegen einer Affäre ins Gewissen zu reden. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn blieb bis zum Tod der Queen getrübt; in politische Angelegenheiten hat sie den späteren König Edward VII. nie einbezogen.

Beziehungen gegen die Einsamkeit

Das Bild der schwarzverhüllten trauernden Witwe spiegelt die Wirklichkeit nicht wieder: Victoria fasste sich und regierte 39 Jahre weiter, ließ sich aber öffentlich kaum sehen und lebte bevorzugt in ihrem schottischen Landsitz Balmoral Castle oder in Osborne House auf der Isle of Wight, wo sie 1901 im Alter von 81 Jahren auch starb. Erst ihre Ur-Ur-Enkelin Elisabeth II.

Nicht einmal Regierungskrisen bewogen die Königin, ins ungeliebte London zurückzukehren. Die „wunderliche Einsiedlerin“ erledigte jedoch ihre Staatsgeschäfte weiterhin gewissenhaft und war durchaus in der Lage, eigensinnig und selbstbewusst zu entscheiden. Das zeigte sich auch in den beiden engen, nicht standesgemäßen und daher heftig kritisierten Freundschaften, die sie in ihrer Witwenzeit pflegte: Die eine verband sie mit dem ehemaligen Jagdgehilfen Prinz Alberts, John Brown, der ihr von 1865 bis zu seinem Tod 1883 als Diener und Vertrauter zur Seite stand. Ob der Klatsch über eine sexuelle Beziehung zutreffend ist, lässt sich bis heute nicht sicher sagen.

Eine andere Beziehung ab 1887 führte sie mit Abdul Karim, einem Inder, der bis zu ihrem Tod an ihrer Seite lebte. Mit ihm pflegte sie ihr Interesse an der britischen Kolonie Indien, zu dessen Kaiserin sie 1876 ernannt worden war, lernte indische Sprachen und richtete indisch ausgestattete Räume ein. Der 2017 entstandene Film „Victoria und Abdul“ schildert diese Beziehung und zeigt zutreffend, wie die alternde Queen an Einsamkeit und mangelndem Verständnis gelitten hat.

Die „Mutter Europas“, die 40 Enkel und 88 Urenkel hatte, prägte mit ihrem Namen das „viktorianische“ Zeitalter und ist bis heute ein in rund 80 Filmen verarbeiteter Mythos. Die „echte“ Viktoria hinter den Attrappen und Legenden beginnt man allerdings jetzt erst zu entdecken. Ein einziges Mal weilte die Queen übrigens auch in der hiesigen Region: Am Abend des 11. August 1858 besuchte sie Schloss Jägerhof in Düsseldorf-Pempelfort auf ihrer Reise von London nach Potsdam zu ihrer ältesten Tochter Victoria, die kurz zuvor den preußischen Prinzen Friedrich Wilhelm geheiratet hatte.




„Brüder und Knechte“: Erinnerung an den Autor Willy Kramp

Gastautor Heinrich Peuckmann über den Schwerter Schriftsteller Willy Kramp (1909-1986):

Bis zu seinem Tode 1986 wohnte in Schwerte-Villigst der Schriftsteller Willy Kramp. Ich kam mit ihm in Berührung, weil ich damals seine Enkeltochter Katharina unterrichtete, die heute unter dem Pseudonym „Kathryn Taylor“ Bestsellerromane schreibt. Zwei Bücher vor allem haben aus Kramps umfangreichen Werk bis heute Strahlkraft.

Der Schriftsteller Willy Kramp (Foto: Durkadenz / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: )

Der Schriftsteller Willy Kramp (Foto: Durkadenz / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Da ist einmal der Romanbericht „Brüder und Knechte“, Kramps erfolgreichstes Buch, das wochenlang auf der Bestsellerliste des „Spiegel“ stand.

Mitte der dreißiger Jahre unterrichtete er an einer privaten Mädchenschule. Nach Heirat und Geburt des ersten Kindes reichte das Gehalt aber nicht, so dass er, nicht mit dem drohenden Weltkrieg rechnend, die harmlos erscheinende Stelle eines Heerespsychologen annahm. Eine Entscheidung mit Folgen, denn es blieb kein Job in Friedenszeiten.

Heerespsychologe unter Hitler

Durch Major Hößlin, der ihn als Ordonnanzoffizier anforderte, kam Willy Kramp mit dem Widerstand rund um den Kreisauer Kreis in Berührung, wurde nach dem Scheitern des Putsches aber unter Hößlins weiser Voraussicht an die Ostfront geschickt, wo er nur noch von der Verhaftung und Hinrichtung seines Vorgesetzten hörte.

Die Gruppe Hößlin war dazu ausersehen, bei Gelingen des Putsches den Gauleiter und Oberpräsidenten Koch, der später erst zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslanger Haft „begnadigt“ wurde, zu stürzen und die Macht in Ostpreußen zu übernehmen. Kurz vor Kriegsende geriet Kramp in russische Gefangenschaft und kam erst 1950 zurück.

Innenansicht des Widerstands

Diese Kriegserlebnisse hat er in „Brüder und Knechte“ geschildert. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Widerstand, er protokolliert detailliert die internen Diskussion zwischen den Verschwörern, ihre Skrupel, ihre Hoffnungen, aber auch die Gespräche während der Offiziersabende, in denen die Verschwörer mit jenen blind gehorsamen Nazioffizieren zusammentrafen und es ihnen schwer fiel, sich bei Gesprächen über den Fortlauf des Krieges nicht selbst zu verraten. Dabei war gerade Hößlin derjenige, der am wenigsten mit seiner Abneigung gegen Hitler hinter dem Berg zu halten vermochte und der damit sich und andere gefährdete. Das Bild eines entschlossenen Offiziers mit fast jugendlicher Unbekümmertheit entsteht vor den Augen des Lesers. Die Leute des Kreisauer Kreises, getragen von ihrem christlichen Anspruch und in ihrem Bündnis mit politisch linken Kräften, hatten, dies nebenbei, eine relativ klar entwickelte demokratische Vorstellung für die Zeit nach den Nazis, anders als Stauffenberg.

Der Putsch misslang, und Hößlin vernichtete umsichtig alle Papiere, die Kramp und die anderen hätten belasten können. Wozu waren überhaupt die Listen mit den Namen der Verschwörer nötig, die es den Nazis später so leicht machten, sie zu enttarnen und hinzurichten? Sie waren es, weil sich die Verschwörer untereinander nicht kannten und im Falle eines Gelingens des Attentats sofort jene Offiziere bei den einzelnen Truppenteilen anrufen mussten, die dazu gehörten, damit sie die Macht übernahmen.

In russischer Gefangenschaft

Im zweiten Teil schildert Kramp seine Erlebnisse an der Front bis hin zur Gefangennahme und seine Zeit in russischer Gefangenschaft. Kramp vermeidet hier jede pauschale Verurteilung der Sowjets, er weiß, wer die wirklichen Verursacher waren, die ihn in diese Situation gebracht hatten. Als irgendwann ein deutscher Offizier stöhnt, so schlimm wie die Russen seien die Deutschen nicht mit ihren Gefangenen umgegangen, erzählt Kramp ihm, was er hat sehen müssen. In dem Lager, in dem sie jetzt waren, starben einige an der Ruhr, in einem Gefangenenlager mit russischen Gefangenen in Deutschland dagegen waren alle an der Ruhr erkrankt und starben bis auf wenige Ausnahmen. Eine Aussage, die den anderen beschämt.

In dieser Extremsituation geht es ihm um eines: Wie weit zwingt die Situation den Menschen, und damit auch ihm selbst, ihr Handeln auf und macht ihn zu ihrem „Knecht“? Wieweit gelingt es ihm und seinen Mitgefangenen, sich dem zu entziehen und wenigstens momenthaft „Bruder“ des anderen zu bleiben? Eine Frage, die ihre Gültigkeit nicht verliert.

Auf den Spuren des „Waldmenschen“

In der Zeit der großen Friedensdemonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Gefahr eines Atomkriegs veröffentlichte Kramp ein zweites wichtiges Buch. „Das Versteck“ heißt die Erzählung.

Mit Sohn und Enkeltochter (eben jener Katharina) verbringt der Erzähler ein paar Urlaubstage in einem Haus im Hessischen. Zufällig findet der Erzähler in einem Buch einen Zeitungsbericht über den „Waldmenschen“ Engelbert Lohmeyer, der vierzig Jahre lang einsam in hessischen Wäldern gelebt hat.  Gerade in dem Haus, in dem die drei ihre Ferien verbringen, wurde er geboren. Erste Auskünfte eines Dorfbewohners ergeben, dass Engelbert 1918 desertiert ist und nach Kriegsende keinen Anschluss mehr an das normale Dorfleben gefunden hat.

Im Gespräch mit Sohn und Enkeltochter entwickelt der Erzähler Engelberts Geschichte neu, wobei vieles, was sich der Erzähler ausdenkt, später von den Dorfbewohnern bestätigt wird. Die entscheidende Frage ist dabei natürlich, warum Engelbert nach Kriegsende nicht nach Hause zurückgegangen ist, und die Antwort darauf ist erschreckend. Für viele in Engelberts Dorf waren nämlich nicht der Kaiser, seine Militärs und die Rüstungsindustrie Schuld am Krieg und dem folgenden Elend, sondern Leute wie der Deserteur Engelbert. Er wurde verfolgt und hatte also allen Grund, nach zwischenzeitlicher Rückkehr zu seinen Eltern wieder in sein Waldversteck zu fliehen. Es war ein mutiges Buch, das Kramp da veröffentlicht hatte. In der Zeit der Kriegsangst aufgrund der Nachrüstung ergriff es Partei für die Friedensdemonstranten.

Willy Kramp ist heute unverdient weitgehend vergessen. Wer ihn liest, entdeckt eine funkelnde Prosa, denn er hat sein Handwerkszeug beherrscht. Und der Leser entdeckt literarische Texte, die um entscheidende Grundfragen des Lebens kreisen. Christliche Weltsicht ist hier, wie sie sein sollte. Sie ist einer humanen und friedlichen Gesellschaft verpflichtet.

 

 




Chef des „Dortmunder U“: Edwin Jacobs hört schon wieder auf und geht nach Maastricht

Künftig Akademie-Leiter in Maastricht: Edwin Jacobs verlässt das „Dortmunder U". (Foto: Patrick Temme)

Künftig Akademie-Leiter in Maastricht: Edwin Jacobs verlässt das „Dortmunder U“. (Foto: Patrick Temme)

Welch eine Überraschung! Edwin Jacobs (58), der vor nicht einmal zweieinhalb Jahren mit großen Ambitionen gestartete Direktor des Kulturzentrums „Dortmunder U“ (und somit auch des Museums Ostwall), gibt diesen Posten schon wieder auf. Er wechselt im Herbst auf eigenen Wunsch nach Maastricht.

Vor wenigen Tagen haben wir noch – durch Utrecht flanierend – im privaten Kreis eher scherzhaft gegrübelt, warum Jacobs seinerzeit wohl diese herrlich pittoreske Stadt gegen das zu weiten Teilen recht ernüchternde Dortmund eingetauscht hat. Jetzt haben sich solche müßigen Grübeleien erübrigt.

Den Niederländer Edwin Jacobs, im Januar 2017 just vom Centraal Museum in Utrecht nach Dortmund gekommen, zieht es beruflich in sein Heimatland zurück, und zwar nicht etwa als Museums-Chef, sondern als Leiter der Kunstakademien in Maastricht. Dort tritt er bereits im September 2019 an. Die Kunstakademien Maastricht sind Teil der Zuyd University of Applied Sciences  – mit Studiengängen u. a. in Bildender Kunst, Design, Architektur und Multimedia-Design.

„Eine sehr persönliche Entscheidung“

Jacobs beginnt also eine akademische Karriere. Eine Pressemeldung der Stadt Dortmund zitiert ihn so: „Es ist eine sehr persönliche Entscheidung. Ich habe das Gefühl, in Museen nun alles erreicht zu haben. Als Leiter einer Kunsthochschule habe ich die großartige Chance, meine Erfahrungen und mein Wissen weitergeben zu können – das ist ein Geschenk.“ In Dortmund, so Jacobs demnach weiter, habe er sich sehr wohl gefühlt, er bleibe dem „U“ und der Stadt weiter verbunden. Was man halt als netter Mensch so zum Abschied sagt.

Defizit mit spektakulärer Schau über „Pink Floyd“

Edwin Jacobs hatte internationales Aufsehen erregt, als er (nach Stationen in London und Rom) die spektakuläre „Pink Floyd Exhibition“ nach Dortmund holte. Doch die groß angekündigte und beworbene Schau lockte deutlich weniger Besucher an als angepeilt. Bis heute liegen dazu offiziell immer noch keine konkreten Zahlen vor. Klar ist aber, dass dabei auch ein nicht unerhebliches finanzielles Defizit entstanden ist. Man mag nun spekulieren, ob Jacobs‘ Rückzug auch damit zu tun hat.

„Gefühl von Sommer“ und Umbau der Sammlung

In wenigen Tag wird Jacobs noch eine weitere Ausstellung präsentieren, die unter seiner Leitung entstanden ist. Unter dem Titel „Ein Gefühl von Sommer…“ wird das Museum Ostwall ab 11. Mai Bilder der niederländischen Moderne aus der Sammlung Singer Laren zeigen. Im Gegenzug sind 70 expressionistische Werke aus der Dortmunder Sammlung im Museum Singer Laren zu sehen. Der Austausch trägt ersichtlich die Handschrift von Jacobs.

Außerdem hat Edwin Jacobs eine grundlegende Neuordnung der Dortmunder Ostwall-Sammlung angestoßen, die gegen Ende dieses Jahres zu besichtigen sein soll – ein durchaus auf Langzeitwirkung angelegtes Projekt. Inwieweit von der Dortmunder Personalie die Zusammenarbeit mit dem künstlerischen Enfant terrible Jonathan Meese berührt ist, wird sich weisen müssen.

Als Interims-Leiter des „U“ wird Stefan Mühlhofer fungieren, der Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe. Und schon wird die Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin eingeleitet. Dazu wird eine Findungskommission gebildet, der man nur Fortune wünschen kann, damit das „U“ nicht abermals für längere Zeit ohne adäquate Leitung bleibt. Das Haus mit den imponierenden Dimensionen braucht eine Perspektive.

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Nachtrag in Sachen „Pink Floyd“ am 10. Mai 2019:

Wie die Ruhrnachrichten heute berichten, hat das lange Schweigen über Besucherzahlen und Einnahmeverluste offenbar Vertragsgründe der geradezu grotesken Art. Demnach durfte die Stadt Dortmund nichts Näheres dazu verraten, weil sie sich auf einen komplizierten Vertrag mit dem New Yorker Unternehmen CPI eingelassen hatte, das die „Pink Floyd“-Ausstellung weltweit vermarktet. Hätte man die Zahlen ohne Genehmigung von CPI verkündet, so Dortmunds Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann laut Ruhrnachrichten, dann wäre eine Vertragsstrafe von 1,2 Millionen Euro fällig gewesen. Die CPI-Anwälte verstanden in dieser Hinsicht offenbar keinen Spaß.

Auch so sei der finanzielle Verlust schon gehörig. Das Defizit, das die Schau verursacht hat, dürfte laut RN noch weitaus höher liegen, als bisher befürchtet wurde. Demzufolge geht es nicht „nur“ um eine knappe Million Euro, sondern um etwas über zwei Millionen Euro! Rund 60.000 Besucher waren gekommen, mindestens das Doppelte hatte man veranschlagt…

Der Abschied von Edwin Jacobs, so Stüdemann, habe nichts mit diesem Defizit zu tun.




Wenn der Affe Walter Geburtstag hat, singen die Zoobesucher aus voller Brust „Happy Birthday“

Geburtstags-Affe Walter (re.) mit Lebensgefährtin Toba im Freigelände am Regenwaldhaus. (Foto: Bernd Berke)

Großer Aufschlag im Dortmunder Zoo: Geburtstags-Affe Walter (re.) mit Lebensgefährtin Toba im Freigelände am Regenwaldhaus. (Foto: Bernd Berke)

Das hat man nicht mehr alle Tage in Dortmund, wo sich das Medienangebot zuletzt arg ausgedünnt hat. Ein Presseauftrieb wie heute ist recht selten geworden. Etliche Print-Journalisten, Fotografen, Hörfunkreporter, Kamerateams und Hunderte von Schaulustigen waren zugegen, als… BVB-Kapitän Marco Reus einen öffentlichen Auftritt hatte? Angela Merkel in der Stadt zu Gast war? Gar irgend etwas Klimagerechtes mit Greta Thunberg stattfand? Nichts von alledem! Ein Affe hatte Geburtstag!

Walter heißt der Orang-Utan, dem heute im Dortmunder Zoo zünftig gehuldigt wurde. Der Affe mit bewegter Frankfurter, Leipziger und schwedischer Vergangenheit beging in der Außenanlage des Regenwaldhauses „Rumah hutan“ seinen 30. Geburtstag mit einer veritablen Torte, die vorwiegend aus gefrorenen Frucht- und Gemüsesäften bestand.

Walter erlangte einen gewissen Bekanntheitsgrad, als er 2006 zum Fußball-WM-Orakel bestellt wurde – und einige Ergebnisse korrekt „vorhersagte“. Ein Fußballkenner also, wie es sich für Dortmund gehört. Und wehe allen, die jetzt „Mein Gott, Walter“ sagen! Sie haben es verwirkt.

Bei solchen Anlässen werden auch schon mal KInder vom Fernsehen befragt. (Foto: Bernd Berke)

Bei solchen Anlässen werden auch schon mal Kinder vom regionalen Fernsehen befragt. (Foto: Bernd Berke)

Allerdings geht mit dem Kerl auch schon mal das Animalische durch. Aus schierer Eifersucht hat Walter seinem Ziehkind Yenko einmal einen Arm abgebissen. Das arme, tapfere kleine Wesen klettert trotzdem höchst geschickt durch die Anlage. Da seufzen alle Mütter. Und nicht nur die.

Wie sein Pfleger verriet, ernährt sich Walter übrigens ziemlich vernünftig. Niemals überfresse er sich. Wenn man ihm eine ganze Kiste Bananen hinstelle, nehme er nur zwei bis drei zum sofortigen Verzehr. Den Rest lasse er zunächst einmal liegen. Er hat also offenbar beste Chancen, das ehrwürdige Orang-Greisen-Alter von rund 60 Jahren zu erreichen.

Nachdem die (ferienhalber sehr ansehnliche) Zoobesucher-Schar aus voller Brust „Happy Birthday“ angestimmt hatte, die Torte weitgehend aufgegessen und überhaupt alles recht gesittet und manierlich verlaufen war, wurde Walter dann doch wieder etwas rabiat. Er zerschlug plötzlich mit wenigen Hieben die große Kiste, auf der die „30″ aufgemalt war.

 

 




Investigativ-Reporter Hans Leyendecker: „Wir hatten noch nie einen so guten Journalismus“

Als Gast beim Presseverein Ruhr in Dortmund: der prominente Journalist und aktuelle Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. (Foto: Pal Delia)

Als Gast beim Presseverein Ruhr in Dortmund: der prominente Journalist und aktuelle Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. (Foto: Pal Delia)

Dortmund. Es war quasi ein Heimspiel für Hans Leyendecker, als er bei der Jahreshauptversammlung des Pressevereins Ruhr zu Gast war. Denn der langjährige Redakteur der Süddeutschen Zeitung ist nicht nur seit Kindheitstagen bekennender BVB-Fan (mit Dauerkarte), er hat jetzt auch das Amt des Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentags inne, der vom 19. bis 23. Juni in Dortmund stattfindet.

Die ersten Begegnungen mit der Westfalenmetropole liegen aber schon über vier Jahrzehnte zurück, als er Redakteur der Westfälischen Rundschau (WR) war. Damals, so erinnerte er sich, sei es gelungen, den Mitbewerbern auf dem Medienmarkt Paroli zu bieten. Die WR habe seinerzeit publizistische Chancen genutzt und Akzente gesetzt. Lang ist’s her…

„Panama-Papers“ als Sternstunde des Berufslebens

Schon ein wenig nach Demut klang es, als Leyendecker schilderte, dass er 1979 eine Stelle beim Spiegel bekam. 1997 schied er im Streit. Mehrfach nannte Leyendecker den Namen Stefan Aust, lautstark müssen die Auseinandersetzungen gewesen sein. Sein Glück habe er dann bei der Süddeutschen Zeitung gefunden, bekannte der Journalist.

Die Recherchen und Veröffentlichungen zu den Panama-Papers waren für ihn eines der „größten Ereignisse seines Berufslebens, eine Sternstunde“. Dabei schwang auch ein bisschen Stolz mit, schließlich hatte das Investigativ-Ressort der SZ, das er lange Jahre leitete, „die Geschichte ausgegraben“.

Beeindruckend fand es Leyendecker vor allem, dass Journalisten aus 76 Ländern mitgearbeitet haben. Das Projekt gehört zu den Belegen für eine überraschende Einschätzung: „Wir haben noch nie einen so guten Journalismus gehabt“. Den Boom, den gerade der investigative Journalismus erlebe, den wiederum habe insbesondere Donald Trump bewirkt. Journalisten verfolgen, so Leyendecker, sehr genau, was denn der Mann im Weißen Haus jeden Tag treibe und twittere. In der Zeit seit dem Amtsantritt steigen die Auflagen einiger US-amerikanischer Zeitungen (u.a. New Yorker, New York, Washington Post).

Manche Verlage entwickeln sich zu „Bad Banks“

Dass in vielen anderen Zeitungshäusern die Realität durch gegensätzliche Entwicklungen geprägt ist, dürfe man nicht verkennen, meinte Leyendecker. „Die Auflagen sinken ins Bodenlose, das Anzeigengeschäft ist kaputt und das Digitale fängt das alles nicht auf“. Manchmal könne er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich Verlage zu „Bad Banks“ entwickelt hätten.

Wie sehr die Branche in Aufruhr sei, zeige der Fall Neven Du Mont. Der Verlag will Medienberichten zufolge seine Titel („Kölner Stadtanzeiger“, „Express“) zum Verkauf anbieten. Um sich für die Zukunft zu wappnen, sollten Zeitungen Print und Digital verknüpfen, meinte Leyendecker. Das werde „uns Journalisten“ schon gelingen.

Schwarzmalerei hält er – selbst angesichts der gefälschten Reportagen des ehemaligen Spiegel-Redakteurs Claas Relotius – für unangebracht. Bemerkenswert ist aus Leyendeckers Sicht vielmehr, wie es „ein begnadeter Schreiber“ und „Trophäenjäger“ geschafft habe, genau die Geschichten zu erzählen, die das Publikum auch genau so lesen wollte.

Mit Leidenschaft für die Menschenwürde

Leyendecker wünscht sich im Journalismus „mehr Zurückhaltung, weniger Zuspitzung und mehr leise und weniger laute Stimmen“. Und wenn man schon über „Basics“ spricht, dann passt es auch, auf die Bedeutung der Grundwerte und des Grundgesetzes, das die Pressefreiheit garantiert, hinzuweisen. Eindringlich forderte Leyendecker, dass sich Journalisten mit Leidenschaft für die Menschenwürde einsetzen sollten.

Er selbst bezeichnete sich als „gläubigen Menschen“ mit Gottvertrauen. Damit schlug er die Brücke zum Kirchentag, der das Motto trägt „Was für ein Vertrauen“. Vier Bundespräsidenten, der aktuelle und drei frühere Amtsinhaber, sind in Dortmund mit dabei. „Aber kein Obama wie 2017“.




Meistens streng – auch zu sich selbst: Briefe von Elias Canetti

Man kann es im Register nachschlagen: Die hier versammelten, rund 600 Briefe von Elias Canetti („Die Blendung“, „Masse und Macht“) richten sich mitunter an illustre Adressaten. Gleich zu Beginn des voluminösen Briefbandes, der 1932 einsetzt und bis zu Canettis Todesjahr 1994 reicht, sind beispielsweise Schreiben an Thomas Mann, Alban Berg, Hermann Broch und Hermann Kesten zu lesen. Um nur wenige Namen anzuführen. Und dabei hat sich Canetti selbst einen schlechten Briefschreiber genannt.

Nun muss aber ein weiterer Teil der Wahrheit heraus: Elias Canetti hat zahllose Briefe offenbar vor allem dann geschrieben, wenn es um Nutz‘ und Frommen fürs eigene Werk ging. Nicht so sehr (literatur)theoretische Reflexionen hat er im Sinn, sondern häufig strategische oder taktische Winkelzüge, um sich Leute gewogen zu machen – Schmeicheleien inbegriffen. Der Titel des Buches („Ich erwarte von Ihnen viel“) bezeichnet hingegen eher die offensivere Variante.

Die Mühen der Ebenen

Schier endlos kommen einem etwa die Episteln an Lektoren und Zeitschriften-Herausgeber vor, die heute allenfalls noch Fachleuten namentlich bekannt sind. Gar vieles dreht sich zudem um die alltäglichen Mühen der Ebenen und dabei wiederum nicht selten um finanzielle Bedrängnisse.

Zunächst vor allem aus dem Londoner Exil (seit 1938), viel später dann vorwiegend aus Zürich kommen seine Briefe. Die jeweiligen Antworten der Briefpartner(innen) enthält der auch so schon sehr umfangreiche Band nicht, so dass das Ganze über weite, weite Strecken wie ein Monolog ohne Echo wirkt, wie ein ständiges, zuweilen fruchtloses Anschreiben gegen allerlei Widrigkeiten.

Canetti hat, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg, ziemlich genaue und manchmal rigide Vorstellungen davon, wann, wie und wo seine Schriften herauskommen sollen. Das ist – auf Länge gesehen – eine Lektüre, die uns Heutigen nicht immer allzu spannend vorkommen mag, sofern man sich nicht auf Canetti spezialisiert hat.

Zorn auf Enzensberger und Reich-Ranicki

Natürlich zeigen sich, allerdings vielfach eher nebenher und gleichsam in gedämpfter Form, auch zeitgeschichtliche Zusammenhänge und Debatten früherer Tage. Allerdings scheint Canetti sich beispielsweise nicht allzu viel aus „1968 in Paris“ gemacht zu haben, obwohl er im legendären Mai/Juni dort gewesen ist. In den Briefen spiegelt es sich jedenfalls kaum wider. Gorbatschows „Glasnost“ weckte mit allen Folgeerscheinungen gegen Ende seines Lebens Canettis Hoffnung auf eine friedlichere Welt. Aber auch das handelt er eher en passant ab.

Ist man für Literaturbetriebs-Tratsch empfänglich, erhält man stellenweise Nahrung. Canetti regt sich geradezu königlich über negative Rezensionen auf, die ihn betreffen. Prominentes Beispiel, bezogen auf Kritiken über den 1963 erneut publizierten Canetti-Roman „Die Blendung“: „Enzensberger fand ich armselig, ich hab mich für ihn geschämt. Es ist offenkundig, dass er das Buch nicht wirklich gelesen hat, er hat nur, ein Schmetterling, da und dort genascht.“ Anno 1968 über den einflussreichen Großkritiker: „Über den Reich-Ranicki lohnt es kaum, ein Wort zu verlieren. Ich habe es nicht besser erwartet.“ Und in einem weiteren Brief desselben Jahres: „…denn das ist schon geistig ein schwer erträglicher Mensch, ein ahnungsloser Schulmeister…“

Gelegentlich scharfe, aber meist treffliche Urteile

Überdies erfährt man nach und nach etwas über Canettis Meinungen zu gleichaltrigen oder jüngeren Zeitgenossen wie z. B. Theodor W. Adorno, Jean Améry, Günter Grass, Uwe Johnson, Arno Schmidt, Thomas Bernhard (von dem er zusehends abrückte), Wolfgang Koeppen, Lars Gustafsson („der seltene Fall eines Dichters, der einen als Person nicht enttäuscht“) oder Paul Nizon. Nehmt alles nur in allem, so sind seine Urteile gelegentlich scharf, aber zu allermeist trefflich.

Und die großen Vorläufer? Man findet Lichtenberg, Büchner und Kafka gepriesen als Gipfel deutschsprachigen Schrifttums, als weitere Fixsterne werden Stifter, Hebbel, Robert Musil und Karl Kraus benannt. Und man findet immer wieder Sätze, die man sogleich unterschreiben möchte: „Ich kann von Svevo nie genug bekommen.“ Bedenkenswert auch diese Charakterisierung der Prosa Franz Kafkas: „Die deutsche Sprache, deren Reichtum und Überschwang man immer gekannt hat, ist hier von einer Enthaltsamkeit und Strenge, die man ihr kaum zugetraut hätte.“

Hofmannsthal hingegen ist nach Canettis Auffassung bei weitem überschätzt, und ein fremde Schöpfungen anzapfender Spaßvogel wie der heute weitgehend vergessene Parodist Robert Neumann findet erst recht keine Gnade.

„Das Recht, in Ruhe davonzugehen“

Ganz entschieden grenzt sich Canetti gegen die grassierende Bestselleritis ab. Also muss sein Verdikt über das in Dortmund erscheinende Branchen-Magazin „Buch-Report“ im Jahr 1977 auch besonders harsch ausfallen. Zitat aus einem Brief an Fritz Arnold (nach Herbert Göpfert neuer Lektor Canettis beim Hanser Verlag): „Ich kann nicht glauben, dass Sie von mir ernsthaft erwartet haben, dass ich für diese erbärmliche Bestseller-Retorte etwas schreibe. Das würde ich unter gar keinen Umständen tun.“

Was sein Lebenswerk angeht, legt Canetti bei sich selbst strengste Maßstäbe an. Er findet, dass man erst dann „in Ruhe davongehen“ (also in Frieden sterben) dürfe, wenn man das persönlich Zugedachte und Aufgetragene erfüllt habe. Er sieht sich 1971 noch lange nicht am Ziel: „Schon ich z. B. hätte nicht das Recht, in Ruhe davonzugehen, denn wie wenig habe ich geleistet, gemessen an dem, was ich leisten sollte. Es gibt kein Erbarmen für den, der sich sehr ernste Ziele gesteckt hat.“ Wohlgemerkt: Das schreibt einer, der kurz darauf den Büchnerpreis (1972) und später den Literaturnobelpreis (1981) erhalten hat.

Passagen über seine erste Frau Veza und seine zweite Frau Hera, die er beide durch frühen Tod verloren hat, sind in der vorliegenden Auswahl relativ spärlich und angenehm diskret gehalten. Anrührend sodann die spürbare Begeisterung des „späten Vaters“ Canetti (Jahrgang 1905) über das Aufwachsen seiner 1972 geborenen Tochter Johanna. Hier wird der oft zu sich und anderen so strenge Mann als sanftmütiger Mensch sichtbar, der er wahrlich auch gewesen sein muss.

Elias Canetti: „Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe“. Carl Hanser Verlag, 864 Seiten, 42 €.

 

 

 




Das Furchtbare, so nah: Es hat gebrannt

Es hat gebrannt. In „unserer“ kleinen Straße. Es war schrecklich. Zwei Menschen sind dabei ums Leben gekommen.

Wir haben sie gar nicht näher gekannt – und sind nachträglich fast froh darum. Es gibt in dieser Straße Nachbarn, die uns ungleich mehr bedeuten. Doch auch so betrifft es einen schon. Man ist benommen und bekommt kaum etwas Alltägliches zustande.

Wie bedrohlich nah einem das Schicksal rücken kann. Wie sehr man an Vergänglichkeit erinnert wird, die ja eigentlich allgegenwärtig ist. Nur denkt man sonst meistens nicht daran. Doch der Anblick der hoch lodernden Flammen weckt, mag auch der Brandherd über hundert Meter entfernt liegen, unmittelbar Urängste. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es in Kriegsgebieten ist. Doch. Man sollte es sich vor Augen halten.

Seltsames Gefühl, die Straße, durch die man tagtäglich geht, urplötzlich als landesweiten Aufmacher in den Fernseh-Nachrichten zu sehen – mit jenem Haus, das lichterloh in Flammen steht. Mit womöglich giftigen Rauchwolken, die sich weithin verbreitet haben. Wir sollen alle Fenster geschlossen halten und Radio hören. In der nahen Grundschule behalten sie die Kinder aus unserer Straße nach der letzten Stunde wohlweislich in Obhut – bis Eltern oder Großeltern sie abholen. Eine sehr vernünftige Entscheidung.

Ein TV-Team von SAT.1 (sie betreiben in Dortmund ihr NRW-Landesstudio) hat auch bei uns geschellt und wollte sicherlich Spektakuläres hören. Das kam natürlich nicht in Frage. Selbst wenn wir Genaueres gewusst hätten. Inzwischen gibt es Online-Beiträge bei Bild, Spiegel und dergleichen. Wenn die Medienmaschinerie einmal in Gang gekommen ist… Ähnliches habe ich vor Jahr und Tag nach einem Hurrikan in der Karibik erlebt. Diese ausgebufften, notgedrungen abgestumpften Vollprofi-Katastrophen-Reporter. Machen auch nur ihren Job? Naja. Lassen wir das.

Viele Löschzüge und zahllose Feuerwehrleute im gesamten Viertel, es mögen um die hundert Einsatzkräfte gewesen sein; mit schwerem Gerät und Atemmasken, etlichen Leitern, wahren Wassermassen. Ein Großeinsatz. Viele Stunden lang haben sie das wütende Feuer bekämpfen müssen. Wie es heißt, konnten sie zunächst nicht in das Reihenhaus vordringen, das offenbar mehrfach verriegelt war. Irgendwann muss die Treppe eingestürzt sein. Jetzt steht da eine Ruine. Die Brandursache ist noch unbekannt.

Immer noch, rund acht Stunden nach dem Alarm, muss man letzte Glutnester eindämmen und höllisch aufpassen, dass die beiden direkten Nachbarhäuser nicht noch mehr in Mitleidenschaft gezogen werden.

Es klingt vielleicht wohlfeil, sei aber eigens gesagt: Großen Respekt vor der gefährlichen Arbeit der Feuerwehrleute! Selbst für sie war es kein gewöhnlicher Einsatz, manche mussten psychologisch betreut werden, wie man hört. Und man fragt sich umso mehr, wie Leute auch nur auf die Idee kommen können, solche Retter bei ihren Einsätzen anzupöbeln.

Im Lauf des Vormittags immer wieder Gruppen und Grüppchen in der Nachbarschaft, die das so schwer Fassbare bereden wollen. Nur zu verständlich: Man will nicht allein sein mit solchen furchtbaren Geschehnissen.

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P. S.: Selbstverständlich wabern auch wüste Gerüchte zu Umständen und Ursachen. Und vereinzelt gerieren sich Leute als wahre Feuer- und Brandschutzexperten. Aber auch das ist menschlich.

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Nachtrag am 10. Januar

Kein Gerücht, sondern bestätigt: Inzwischen ermittelt in dem Fall eine Mordkommission. Das berichten u. a. die Ruhrnachrichten. Ja, sind wir denn mitten in einem „Tatort“ angekommen? Wird morgen Dortmunds Kommissar Faber alias Jörg Hartmann hier auftauchen?




Das Ruhrgebiet als Heimat – zwischen Grau und Grün, zwischen Solidarität und gelegentlicher Kulturferne

Der Dortmunder Phoenixsee mit Florianturm im Hintergrund. (Foto vom März 2016: Bernd Berke)

Ein weithin sichtbares Beispiel für den Strukturwandel im Ruhrgebiet: Teil des Dortmunder Phoenixsees mit Florianturm im Hintergrund. (Foto, März 2016: Bernd Berke)

Gastautor Heinrich Peuckmann über das Ruhrgebiet als Heimat:

Wenn auf der Kamener Zeche Monopol Kokskohle abgestochen wurde, rannte meine Mutter in den Garten und trug die zum Trocknen aufgehängte Wäsche ins Haus. Kurz darauf segelten nämlich Rußpartikel durch die Luft und wäre sie nicht schnell genug gewesen, hätte sie noch einmal waschen müssen.

Abends schimmerte der Himmel im Westen rosa und wir wussten, dies ist kein Abendrot wie an der Nordsee. Jetzt fließt bei Phoenix in Dortmund wieder flüssiger Stahl aus der Thomasbirne, dort, wo sich jetzt ein wunderbarer See erstreckt. Die Emscher, die in meiner Nähe entspringt, habe ich eines Tages lila gesehen. Giftig lila. Unglaublich, welche Abwässer in den armen Fluss gekippt worden sind. Und die wunderbaren Fußballspiele mit meinen Freunden fanden nie bei strahlendem Sonnenschein statt. Bei uns war es immer diesig.

Integration und Toleranz – sogar für Bayern

Das ist also meine Heimat und da kann ein normaler Mensch nur denken: weg hier, so schnell und so weit wie möglich. Aber ich bin immer noch hier. Was ist los mit mir? Liebe ich verstaubte Luft und eine zerstörte Umwelt? Nein, natürlich nicht. Denn diese Kindheitsbilder sind ja nur der eine Teil des Ruhrgebiets. Jener freilich, der außerhalb als einziges Bild zur Kenntnis genommen wurde und immer noch wird.

Aber das Ruhrgebiet ist mehr als das. Solidarität, oft beschworen, vor allem in den Sonntagsreden von Politikern, gibt es hier wirklich. Ich weiß, wenn ich irgendwann im Dreck liege, kommt jemand angelaufen, um mir zu helfen. Ob es mir nützt, ist eine andere Frage, aber versuchen wird er es.

Solidarität zeigt sich auch beim Umgang mit Migranten, mit den Türken etwa, die hier in großer Zahl leben. Bei uns gibt es keine „Ruhr-Pegida“, undenkbar, bis jetzt jedenfalls. Wir sind doch seit jeher Schmelztiegel. Als es losging mit Kohle und Stahl, sind die Arbeiter von überall hergekommen, aus Schlesien, Ostpreußen und – ja – aus Bayern. Bis heute gibt es hier Alpenvereine, Leute in krachledernen Hosen, die furchtbar schreien, was sie jodeln nennen, aber egal, wir ertragen das. Wie so vieles.

Das Stahlwerk abgerissen, der Phornixsee nur als Großbaustelle vorhanden: Aufnahme vom 18. September 2009. (Foto: Bernd Berke)

Nach dem Abriss des Stahlwerks war das Gelände des späteren Phoenixsees eine Großbaustelle. Aufnahme vom 18. September 2009, Blick vom Florianturm herab.. (Foto: Bernd Berke)

Geholfen bei der Integration hat übrigens der Fußball, was erklärt, weshalb er bei uns eine so wichtige Rolle spielt. Dieser oder jener kam aus Polen und katholisch war er auch noch, aber lass ihn in Ruhe. Der schwärmt für Borussia oder Schalke. Wenn ich heute türkischstämmige Jugendliche nach ihrem Lieblingsverein befrage, nennen sie einen aus dem Ruhrgebiet, dazu einen aus Istanbul. Was dann doch ein Problem aufzeigt. Halb geglückt die Integration, aber noch nicht ganz. Das bestätigt auch die wachsende Zahl an AfD-Wählern, auch wenn dahinter weniger Ausländerhass steckt als eine sich verschärfende soziale Situation. Während Dresden kaum Migranten hat, wir dagegen jede Menge, darunter auch welche, die unsere Freunde sind, ist das Problem bei uns mit deutlich weniger AfD-Wählern immer noch überschaubar.

 

Und wir können Ironie vertragen. Gut, wir verstehen sie nicht immer, das stimmt, aber wenn, dann können wir lachen. Sogar über uns selbst. Wer kann das schon? Dafür nehme ich sogar, schweren Herzens, die Kulturferne in Kauf. „Wat willze mit dat Buch?“

Anquatschen, wie wir das nennen, kann man im Ruhrgebiet jeden. Wir sind offen bis zur Treuherzigkeit. Und grün ist es geworden seit dem Ende von Kohle und Stahl. Oberhausen, eine Stadt mit Rekordverschuldung, gehört zu den grünsten Städten Deutschlands. Als ich eine Gruppe Schriftsteller durch Dortmund führte, habe ich zum Schluss gesagt, dass es einen Satz gibt, den wir nicht mehr hören wollen. „Das ist aber grün hier.“ Wir leben nicht mehr auf der Kohlenhalde, habe ich erklärt. Worauf eine Kollegin antwortete: „Dass es hier grün ist, wusste ich. Aber dass es sooo grün ist …“

Wie kommt es dann, dass ich in meinen Geschichten so gerne vom alten Ruhrgebiet berichte? Ich bin doch kein Nostalgiker, im Gegenteil, ich bin froh, wie schön der halb bewältigte Strukturwandel Teile des Ruhrgebiets gemacht hat. Das ist dann wohl Heimat, denke ich. Denn was sollte sie anders sein als die Erinnerung an eine geglückte Kindheit, selbst in Lärm und Staub?

 

 




Ganz kultiviert: Auf ein gutes neues Jahr!

Schaufensterblick in eine Dortmunder Geigenbauer-Werkstatt. (Foto: Bernd Berke)

Gediegenes Handwerk gehört zur gediegenen Kultur: Schaufensterblick in eine Dortmunder Geigenbauer-Werkstatt. (Foto: Bernd Berke)

Möge im neuen Jahr der Himmel voller Geigen hängen,

möge das Leben erfüllt sein von harmonischen Klängen!

Jedenfalls hin und wieder.

(Und mögen auch kleinere Wünsche Wirklichkeit werden).




Erich Fried: Schriftsteller, Philanthrop, Vor-Denker und Zu-Viel-Schreiber – ein Versuch, Widersprüche zu verstehen

Lachte gerne: Erich Fried. Foto-Copyright: Jörg Briese

Lachte gerne: Erich Fried.
(Foto: © Jörg Briese)

Vor dreißig Jahren, am 22. November 1988, starb der große Schriftsteller Erich Fried in Baden-Baden. Im Sommer zuvor war er auch Gast einer Lesereise quer durchs Ruhrgebiet und schlug privat sein Quartier bei Gerd Herholz auf, dem Autor dieses Beitrags:

Kult und Legendenbildung um Erich Fried dauern ebenso an wie die rigorose Abwertung seines Werks. Höchste Zeit, sich Texte und Leben Frieds wieder einmal genauer anzuschauen.

Wer war Erich Fried?

1921 wird Fried in Wien als einziges Kind der Graphikerin Nellie Fried und des Spediteurs Hugo Fried geboren. Als kleiner Junge spielt er als Mitglied einer Kinderschauspielgruppe auf Bühnen Wiens und der Umgebung. Fried besucht ein Gymnasium im neunten Bezirk, bis dieses im Mai 1938 aufgelöst wird und man die jüdischen Schüler separiert. Im selben Monat stirbt Hugo Fried nach der Haftentlassung an den Folgen eines Gestapo-Verhörs.

Drei Monate später flieht Erich Fried nach London. Seiner Mutter Nellie gelingt es 1939, nach London zu kommen. Am 26. März 1943 stirbt die Großmutter Malvine Stein im Konzentrationslager Auschwitz.

Erich Fried arbeitet in London als Hilfsarbeiter, Bibliothekar, Redakteur. Ab 1950 ist er freier Mitarbeiter/Rundfunk-Kommentator des „German Service“ des BBC World Service. In den letzten Kriegsjahren erschienen seine ersten Gedichtbände unter den Titeln „Deutschland“ und „Österreich“. Seit 1958 publizierte er zahlreiche Bände mit Gedichten und Erzählungen, einen Roman, ein Opernlibretto, Hörspiele und Übersetzungen, vor allem von Shakespeare, Dylan Thomas und T.S. Eliot.

Sein politisches Engagement (u.a. gegen den Vietnam-Krieg, gegen Aspekte der Politik Israels und die Formen der Terrorismus-Bekämpfung in der Bundesrepublik) hat viele politische Kontroversen ausgelöst.

Erich Fried war Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Nach langem Krebsleiden starb er während einer Lesereise am 22. November 1988 in einem Baden-Badener Krankenhaus.

So. Das also war Erich Fried?

Seine 2015 verstorbene Frau Catherine Boswell Fried nannte ihn zärtlich einen „Weisen und Narren in einem“ und schrieb weiter, er sei „unterhaltsam, erhellend oder peinlich“ gewesen „und häufig auch alles zugleich oder in rascher Folge.“
(Catherine Fried: „Über kurz oder lang. Erinnerungen an Erich Fried“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008)

Lebenshunger – Erich Fried an Herholz‘ Küchentisch.
(Foto: © Jörg Briese)

Aber hören wir doch auch einmal in ein Stimmengewirr, eine Pro-und-Contra-Montage von Äußerungen einiger Kritiker und Kollegen Frieds, hören wir, was Walter Hinck, Helmut Heißenbüttel, Matthias Schreiber oder Henryk M. Broder und viele andere über ihn gesagt haben, hören wir Fried-Hasser und seine Bewunderer.

Erich Fried war …
– … ein Stören-Fried!
– … nein, ein wirklicher Dichter. Und das wollte er auch werden. Mit 17 Jahren erklärte er 1938 in London vor dem Jüdischen Flüchtlingskomitee: „Meine Absicht ist, ein deutscher Dichter zu werden.“
– Dieser Emigrant? Ein deutscher Dichter? Dieser Österreicher mit britischem Pass?
– Dieser Sinn-Stifter!
– Dieser Unruhe-Stifter!
– Nein, ein großer alter Mann der Lyrik, ein Mahner…
– … ein „dichtender Verschwörungsneurotiker“.
– Nein, nein. Ein Tabubrecher, ein „Genie im Auffinden öffentlicher Fettnäpfchen“.
– Ach was, ein Nestbeschmutzer, „immer dieselbe Mischung aus ergreifender Naivität, entwaffnender Weltfremdheit und pueriler Selbstgefälligkeit“.
– Als Jude, mit dieser Biographie?
– … als Heimatloser, als Antizionist, als jüdischer Selbsthasser zwischen allen Stühlen eben.
– Hasser? Dieser Menschenfreund? Ein Moralist im besten Sinne!
– Ein Querulant! Ein Demagoge!
– Ein „genialer Lyrikerneuerer“, ein „Sprachakrobat“ …
– … ein Vielschreiber, ein „flotter Platitüdensammler“, Erich Fried, der „rasende Verworter“!
– Ein couragierter Menschenrechtler, der …
– … vor allem eins lieferte: „Trauerarbeit vom lyrischen Fließband“, eben nur ein „Schreihals vom Dienst“.
– … Quatsch, ein „ironischer Dialektiker“, „ein virtuoses Schreibtalent, ein sprachbesessener Wortspieler“ ….
– O Gott. Dieser lyrische Weichzeichner, dieser zum Kitsch, zum Pathos neigende, immer sturzbetroffene „Wanderrabbi“?

Reich-Ranicki und der „revolutionäre Überwachungsdienst“

Jaja. Und in Israel ist Fried nach dem Erscheinen seines Romans „Ein Soldat und ein Mädchen“ für einen der Rezensenten gar ein „schlecht getarnter Nazi“. Die FAZ bezeichnet Fried im Oktober 1977 nach der Veröffentlichung des Gedichtes „Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback“ als einen Verfasser von „Mörderpoesie“. Und in seinem Nachruf auf Fried, den er mit „Mein Freund Erich Fried“ begann, erklärte Marcel Reich-Ranicki, Erich Fried „verkörperte den permanenten Protest“, er sei so etwas gewesen wie ein „revolutionärer Überwachungsdienst“.

„Revolutionärer Überwachungsdienst“? Das hieße doch, zu Ende gedacht, Fried wäre eine Art Ein-Mann-Über-Ich der Linken mit umfassenden Stasi-Kompetenzen gewesen? Da soll ausgerechnet dem Dichter, der nie eine andere Macht als die des Wortes zur Verfügung hatte, genau der Machtmissbrauch unterstellt werden, den M.R.-R. aus der FAZ heraus gelegentlich selbst betrieb?

Am deutlichsten wurde am 3. November 1977 die CDU in der Bremer Bürgerschaft. Sie stellte einen Missbilligungsantrag gegen Fried-Gedichte im Schulunterricht. Anlass war in erster Linie das Gedicht „Die Anfrage“. Der Vorsitzende der CDU-Fraktion Bernd Neumann erklärte „(…) so etwas würde ich lieber verbrannt sehen (…)“.

Und wissen Sie noch, welches Amt Bernd Neumann später bekleidete? Genau. Er war Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Immer lesend, immer schreibend: Erich Fried.
(Foto: © Jörg Briese)

Schreibzwang und Dialektik

Anders als solche Schmähungen ist aber weder Legende noch übler Nachruf: Erich Fried hat in der Tat Abertausende von Gedichten geschrieben. Darunter viele schlechte. Zu viele davon hat er leider auch veröffentlicht.

Erich Frieds dritte Frau, Catherine Boswell Fried, schreibt in ihren „Erinnerungen“ (a.a.O., S. 75):
„Erich war ungeheuer produktiv; er schrieb Gedichte in hohem Tempo. Aber wer weiß, wahrscheinlich war er mit vielen schon ein halbes Leben unterwegs gewesen. Ich kam morgens nach unten und fragte mich, wo er wohl war, weil er mir gewöhnlich gern eine Tasse Tee heraufbrachte, und dann saß er am Tisch, grinste fröhlich und erzählte mir von sechzehn Gedichten, die er schon geschrieben habe, auch wenn er später vielleicht einräumte, dass nicht alle besonders gut seien.“

Fried bewertete die Texte aus den Bänden „Deutschland“ und „Österreich“ später selbstironisch mit den Worten: „… im Grunde Jugendgedichte von recht konventioneller Form, wenn auch inhaltlich für mich noch heute nicht ganz veraltet. (…) einige bedienen sich auch noch des Volksliedtones – oder fallen ihm zum Opfer.“

Sicher, oft gelang es Fried nicht, bei seiner enorm hohen Produktivität, die souveräne Haltung des aufgeklärten Aufklärers in seinen Texten glaubhaft durchzuhalten und ihr sprachlich Ausdruck zu verleihen. Selbstverständlich geriet er in seinem missionarischen Eifer oft in die Gefahr, pathetisch zu werden, besserwisserisch zu belehren, platte Appelle statt Gedichte zu produzieren, Leitartikel nur pseudo-literarisch zu illustrieren. Sein „Ausdruckszwang“ (wie Hans Mayer das nannte) führte eben immer auch zu Gedichten zweiter und dritter Wahl, viel zu oft schlichtweg zu Poesie-Placebos und Laber-Lyrik.

Vielleicht ein Versteckenspielen vor den eigenen traumatischen Kindheits- und Jugenderfahrungen, ein Versteckenspielen vor den Möglichkeiten und Abgründen der Sprache, Versteckenspielen vor der Komplexität der Wirklichkeit. Und nicht nur der junge Fried schrieb Unfertiges, Epigonales, Plattes. Immer wieder führten Frieds Schreibwut und sein Mitteilungsdrang tatsächlich nur in die belanglose Spielerei, ins Politgeplapper, in die Langeweile.

Andererseits:
Franz Fühmann schrieb einmal den Satz: „Das fast völlige Verschwinden der politischen Lyrik ist ein Phänomen, das beunruhigen sollte.“ Angesichts des Kasinokapitalismus, des Syrienkrieges, angesichts des alltäglich gewordenen Nationalismus und Rassismus fehlt heute eine komplexe politische Lyrik, wie sie die besten Gedichte Frieds lieferten. Die nämlich erhellten verdeckte Zusammenhänge, entlarvten mit Hilfe der Montage von Medienmeldungen deren Desinfomationsstrategien und Lügengebäude. Nie gab sich der Dichter Erich Fried zufrieden mit der Rolle des pseudo-neutralen Chronisten, schon gar nicht mit der des bloß betroffen zeilenschindenden Dichter-Darstellers.

Die grundsätzlicheren und von Erich Fried immer wieder selbst reflektierten Fragen sein Schreiben betreffend müssten also eher so lauten: Wie radikal verhält sich der Autor zu seiner eigenen Moral, seiner Betroffenheit? Inwieweit gelingt es Fried, Betroffenheit sprachlich so zu übersetzen, dass er Larmoyanz und öffentliche Heuchelei vermeiden kann?

Erich Fried 1988 als Gast des Literaturbüros Ruhr im Mülheimer Theater an der Ruhr. (Foto: © Jörg Briese)

Stilmittel gegen Stillstand

Die Gegner des Dichters Erich Fried kleideten ihre politischen Angriffe oft in fadenscheinige literaturkritische Gewänder und hätten gerne erreicht, dass man Frieds Werk mit seinen schlechtesten Texten verwechseln und also besser nicht zur Kenntnis nehmen sollte. Der Dichter Erich Fried hat Abertausende von Gedichten geschrieben, darunter auch viele sehr gute, jedenfalls mehr als die von Gottfried Benn bei jedem Dichter allein für möglich gehaltenen fünf oder sechs.

Indem man Erich Fried als Dichter zu demontieren versuchte, wollte man auch seine politischen Einmischungen als Torheiten enttarnen. Angriffe auf Frieds ästhetisches Programm oder gar die Unterstellung, Fried sei zu wahrhaft ästhetischer Gestaltung gar nicht in der Lage, zielten oft nur auf die von ihm vorgetragenen Inhalte.

Entgegen solcher Diffamierung aber war es so – und man kann dies an Frieds Texten auch jederzeit nachvollziehen –, dass er ein großes Repertoire an Kunstmitteln entwickelte. Zudem erweiterten Frieds Lektüre- und Übersetzer-Erfahrungen schon in jungen Jahren seine Palette literarischer Gestaltungsmittel.

Das ernsthafte Wortspiel

In Interviews, Briefen, Vor- und Nachworten ging Fried immer wieder auf das Stilmittel des ernsthaften Wortspiels ein, verteidigte es gegen seine Kritiker und erklärte seine Möglichkeiten. Das ernsthafte Wortspiel, so Fried, sei ein „Kunstmittel der Aussage durch Montage von Wortklangassoziationen“, es sei ein Stück „Spracherotik“ und stoße deshalb – wie alle wirkliche Erotik – auf einiges Unverständnis in Deutschland.

Man könnte über Fried hinaus auch argumentieren, dass das ernsthafte Wortspiel vor allem alle Möglichkeiten der „écriture automatique“ eröffnete, des automatischen Schreibens also, des zunächst unzensierten sprachlichen Assoziierens, des Springens zu ähnlichen Wortklängen und ihren unterschiedlichen Bedeutungen, des Beim-Wort-Nehmens und des In-die-Sprache-Fallens. Nicht nur, aber auch durch das ernsthafte Wortspielen gelang es Fried in seinen Texten immer wieder, das Politische mit dem Unbewussten, das Private mit dem Öffentlichen, die Sprache mit der Geschichte zu verschränken.

Mit dem ernsthaften Wortspiel tritt am deutlichsten der „Fried-Gestus“ (Alexander Bormann) hervor: „Frieds Sprachspiele lösen alte Zuschreibungen auf, erproben neue Lesarten, zeigen, wie die Alltagssprache Wirklichkeit feststellen möchte.“

Erich Frieds Gedichte setzten zudem immer genaue Lektüre, seine Recherchen, sein Informiertsein en détail voraus, bevor sie Zusammenhänge erhellen konnten und zum Mitdenken gegen die „Verschwörung des Ver-/Schweigens“ einluden. Alexander von Bormann schrieb: „Was in Kritiken immer wieder auffällt: dass Erich Frieds poetische Leistung (…) gar nicht wahrgenommen wird. Sie besteht in einer Brecht weiterführenden Wiederversöhnung von Poesie und Rhetorik, die in der deutschen Poetik seit der Klassik als unvereinbar galten.“

Und in der Tat, neben dem „ernsthaften Wortspiel“ arbeitete Fried mit allen möglichen rhetorischen Figuren (behauptete aber oft, dass er dies nie bewusst getan habe). Etwa mit der Frage als vorherrschender Redefigur, mit Figuren der Wiederholung, der Häufung, der Überkreuzstellung, der Paradoxie usw. Mit Hilfe dieser rhetorischen Figuren entwickelt Fried seine Aphorismen, Sentenzen und Sprüche, seine Grotesken, seine Warn- und Gegengedichte, aber manchmal eben auch seinen hohen oder hohlen Ton, sein Pathos.

(Foto: © Jörg Briese)

Politik und Gedicht

Wer Fried liest, das haben Sie zu Anfang dieses Beitrags zu lesen bekommen, befindet sich – ob er will oder nicht – im Schilderwald der deutschen Literaturkritik, und das ist immer auch der Wald von Schilda. Auf den Schildern in diesem Schilda-Wald stehen unzählige Ge- und Verbote, die das Schreiben und Lesen verregeln, also verriegeln sollen:

Du sollst nicht komisch sein. Komik und Literatur vertragen sich nicht./ Du sollst nicht realistisch schreiben. Realismus ist überholt. In einer korrumpierten Sprache lässt sich Wirklichkeit nicht mehr erfassen./ Du sollst nicht formalistisch sein./ Du sollst nicht experimentell sein./ Du sollst nicht moralisch sein./ Du sollst nicht politisch sein. Wer in der Literatur politisch wird, bringt sich um seine ästhetischen Möglichkeiten./ Du sollst mit Literatur nicht eingreifen wollen./ Du sollst nicht obszön werden. Du sollst, du sollst, du sollst …

Dazu einige Passagen aus einem Interview, das ich im Juni 1988 mit Erich Fried führte:

Du unterscheidest bei deinen politischen Gedichten zwischen Agitationstexten für den Tag, Gedichten als Informationsträgern und solchen, in denen es um Haltungen geht.

Fried: Das erste sind Kampftexte, die haben eigentlich nur Sinn, wo es Situationen gibt, in denen diese Texte auch wirklich von bewegten Massen aufgenommen werden können. (…) Informationsträger sind Gedichte oft dann, wenn sie statt Agitation, die immer auch Forderungen stellt, mehr aufklären, Informationen geben möchte, die sonst nicht zu haben sind.

Ein Beispiel?

Fried: In einem meiner Gedichte sage ich etwas über die israelische Einheit 101. Das sind Leute, die über die Grenze nach Jordanien gefahren sind und einfache Menschen erschossen haben, die ihnen vor das Auto kamen. Auch Frauen und Kinder. Das muss die Öffentlichkeit erfahren. Ich kann diese Aussagen natürlich belegen.
Bei der letzten Art von politischen Gedichten geht es oft um Haltungen, Verhaltensmuster, die ich kritisiere oder solche, die ich mir wünsche. In den Liebesgedichten, z. B. in dem „Dich dich sein lassen“, versuche ich, überholten Haltungen wie dem Besitzdenken im Hinblick auf die Partnerin zu begegnen. Von da aus sind die Übergänge fließend zu den nichtpolitischen Gedichten. Jedes Gedicht ein politisches Gedicht zu nennen, das sprengt den Begriff des Politischen Gedichts.“

Peter Rühmkorf meinte vor allem Frieds Gedichte aus „und vietnam und“, als er von ihnen als „Dechiffriergeräte(n)“ sprach und bewunderte an ihnen „die schritt- und zeilenweise vorangetriebene Aufklärung bis hin zum erlösenden Aha-Erlebnis“. „Der vom Gedicht beabsichtigte Aufklärungsvorgang“, so Rühmkorf, lasse „wohltuend entqualmte Köpfe zurück“.

Frieds Verse ermöglichen nicht nur „das plötzliche Erfassen der Zusammenhänge“, wenn man ihnen folgt, nein, indem sie Denken vormachen, ermöglichen sie es auch dem Leser. In vielen seiner Gedichte ist Fried eben nicht der Besserwisser, Prediger oder belehrende Mahner, sondern ein verletzlicher Vor-Denker, der sein Denken, aber auch seine Gefühle so weit offenlegt, dass man sich als Leser selbst öffnet, dass man der Einladung folgt, dem Vor-Denker nach zu denken, im Nachdenken auch dem Vorgedachten zu widersprechen.

Und, indem sich Fried auch selbst in Frage stellt, stellt er zugleich uns Fragen.

In seinem Gedicht „Realistischer Realismus“ schreibt er ironisch: „Die ewigen/ Wahrheiten/ meiner Gedichte/ langweilen mich// Wann/ kommen endlich/ ihre Irrtümer/Träume/ und Lügen//“

Salman Rushdie hat einmal gesagt, dass für ihn der Zweifel die Grundhaltung der Moderne sei. Insofern war Fried ein sehr moderner Autor. Für Fried schloss der Zweifel immer auch den Selbstzweifel mit ein. Am deutlichsten wird dies in Erich Frieds Gegengedichten. Im Vorwort zu „Befreiung von der Flucht. Gedichte und Gegengedichte“ schreibt Fried: „Der Gedanke, Gegengedichte zu meinen eigenen Versen zu schreiben, kam mir, als mein vergriffener (…) Band Gedichte neu aufgelegt werden sollte. Beim Wiederlesen wurde mir klar, wie sehr ich mich seither geändert habe, aber auch, dass ich nicht nur deshalb und nicht nur aus ästhetischen Gründen anders schreibe, sondern mehr noch weil die Zeit, die sich auch in den Gedichten spiegelt, nicht mehr dieselbe ist.“
(Erich Fried: Gesammelte Werke, Band 1, S. 521)

Erich Fried 1988 – wenige Monate vor seinem Tod.
(Foto: © Jörg Briese)

„Ein Dichter muss lernen, seine Einfälle jederzeit zu respektieren.“

Vor allem Frieds politische Gedichte wurden oft als verkopfter Agitprop abgewertet, einmal sogar als „Gedachte“ statt als Gedichte bezeichnet. An der offensichtlichen Tatsache, dass er kein Dichter der heftigen Bilder war, litt auch Fried selbst ein wenig.

Dazu noch einmal ein kleiner Auszug aus meinem Interview mit Erich Fried (Interview-Auszug DVZ/die tat, Nr. 48, 2. Dez. 1988):

Möchtest du noch auf andere Weise schreiben können?

Fried: Nein. Das, was mir in den Kopf kommt und was mir am Herzen liegt, will ich ordentlich formulieren können. Dafür mach’ ich mir nicht zu viele Regeln. Wenn ich jetzt hergehen würde und darüber nachdächte: Wie will ich jetzt schreiben und nach welchen Regeln?, das wäre das Ende. Es ist wichtig, dass man sich nicht verbaut. Es ist auch wichtig, dass man seine Einfälle respektiert. Wenn man zu Einfällen ein ausbeuterisches oder gleichgültiges Verhältnis hat, dann trocknet die Phantasie mit der Zeit aus. Ein Dichter muss lernen, seine Einfälle jederzeit zu respektieren.

Du bist kein Dichter der heftigen Bilder.

Fried: Bilder habe ich überhaupt nicht viele. Wenn ich Liebeslyrik schreibe, gelingen mir Bilder noch am leichtesten. Im Allgemeinen: viel Gedankenlyrik im Verhältnis zur Bilderlyrik. Bei mir ist es so, dass der Bilderreichtum abnahm, je genauer ich formulieren lernte. Und das scheint mir keine rein erfreuliche Sache. Ich hab deshalb immer Anlässe gesucht, bilderreich zu sein. (…) Ich – als Erich Fried – wenn ich nicht Celan oder Hölderlin nachempfinde, dann fällt es mir schwer bilderreich zu sein. Weil ich doch versuche – letzten Endes – die Welt mit Hilfe der Ratio – trotz meiner Sinnlichkeit – zu bewältigen, mich der Welt zu erwehren, überhaupt leben zu bleiben. ‚Bewältigen‘: Darin liegt schon eine ungeheure Hybris.“

Liebes- und Leibesgedichte

Sich lebend zu spüren, hieß für Fried auch, sich liebend zu spüren. In den Liebesgedichten aber artikulierte sich nicht etwa ein ganz anderer Erich Fried. Obwohl er in den Liebesgedichten seiner Wort-Lust und Sinnenfreude freien Lauf lassen konnte, sind auch sie von der gleichen Haltung durchdrungen wie die politischen Gedichte: von der Skepsis gegenüber allen Illusionen und Fremdbestimmungsversuchen, und von der Hoffnung auf Menschlichkeit.

Und auch zu seinen Liebesgedichten behielt Fried ironische Distanz. Ich zitiere noch einmal aus Catherine Frieds Erinnerungen an Erich Fried (a.a.O., S. 56):
„Seine Gedichte standen auf Transparenten, auf Plakaten, an Brücken. Einmal sahen wir sein ungeheuer populäres Gedicht ‚Es ist was es ist‘, Vers um Vers sorgfältig abgeschrieben, auf der Mauer einer Unterführung. ‚Manchmal wünschte ich, ich hätte das Ding nie geschrieben‘, seufzte Erich.“

Sie aber seufzen bitte nicht, sondern lesen sie wieder, die Gedichte Erich Frieds, dieses Autors zwischen Dilettantismus und Dichterhimmel, zwischen argumentativer Schärfe und Geschwätz, zwischen Pathos und Poesie, Bild und Begriff, zwischen Dialog und Dialektik, Moral und Moralin, Mut und Melancholie.

In Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ fand ich die Worte, von denen ich finde, dass sich mit ihnen Leben und Werk Erich Frieds am treffendsten charakterisieren lassen: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst. (…) der Mensch ist immer ein Lernender, die Welt ist ein Versuch.“

– Erich Fried: Gesammelte Werke. Band 1-4. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 1993
– Erich Fried: Ein Leben in Bildern und Geschichten. Herausgegeben von Catherine Fried-Boswell und Volker Kaukoreit. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1996
– Catherine Fried: Über kurz oder lang. Erinnerungen an Erich Fried. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2008




Erinnerungen an die letzte Diva des Belcanto: Zum Tode von Montserrat Caballé

Herzlich und humorvoll war die Caballé im Umgang auf und hinter der Bühne. Foto Agentur Schmerbeck

Herzlich und humorvoll war die Caballé im Umgang auf und hinter der Bühne. Foto Agentur Schmerbeck

Ihre balsamischen Piani, ihre schwerelos gebildeten musikalischen Linien, die enorme Beweglichkeit ihrer Stimme sind unerreicht: John Steane, einer der bedeutendsten Sänger-Kritiker überhaupt, zählt Montserrat Caballé gemeinsam mit Lilli Lehmann, Rosa Ponselle und Maria Callas zu den vier besten auf Tonträger dokumentierten Sängerinnen des verzierten lyrisch-dramatischen Fachs. Am 6. Oktober kam die traurige Nachricht: Montserrat Caballé, die letzte große Belcantistin der Callas-Ära, ist im Alter von 85 Jahren in Barcelona gestorben.

Der Weg zur Hohepriesterin des schönen Gesangs war ihr nicht in die Wiege gelegt: Die Katalanin stammt aus einfachen Verhältnissen, wurde – wie sie einmal erzählte – wegen ihres ärmlichen Kleides von anderen Kindern in der Schule verlacht.

Das Studium am Conservatorio del Liceo in Barcelona vermittelte ihr die phänomenale Atemtechnik, die ihr ermöglichte, flutenden Piani ebenso zu singen wie die endlosen Melodiebögen Bellinis oder die Attacken eines Richard Strauss. Nach ersten Erfahrungen mit Zarzuelas, den unterhaltenden Operetten ihrer Heimat, bekam sie 1956 ihr erstes Engagement in Basel. In Italien, wo man damals hochdramatisch dröhnende Organe bevorzugte, wollte sie niemand haben.

In der Schweiz und bei einzelnen Gastauftritten an deutschen Bühnen sang sie das Repertoire, das sie zunächst für sich bevorzugte: Mozart, Verdi, Strauss. Pamina und Donna Elvira gehörten dazu, Salome, Aida, aber auch Marta in Eugen d’Alberts „Tiefland“, Renata in Prokofjews „Der feurige Engel“ und Marie in der szenischen Uraufführung der Oper „Tilman Riemenschneider“ von Casimir von Paszthory. Zwei Mal sang sie 1959 an der Wiener Staatsoper, hinterließ aber offenbar keinen Eindruck: als Donna Elvira in Mozarts „Don Giovanni“ und in der Titelpartie von Richard Strauss „Salome“.

Als sie 1971 nach Wien zurückkehrte, war das anders. Inzwischen hatte sie ihre „Galeerenjahre“ hinter sich. Ihre Auftritte an deutschen Theatern wie Saarbrücken und Bremen haben sie, wie sie selbst sagte, musikalisch geformt. 1965 kam der überraschende internationale Durchbruch, als sie für Marilyn Horne in New York in Gaetano Donizettis damals kaum gespielter Oper „Lucrezia Borgia“ einsprang. Für die damals 32jährige Sängerin war das zunächst auch nur ein – wenn auch erfolgreicher – exotischer Ausflug neben ihrer „Figaro“-Gräfin und einer Rosenkavalier-Marschallin in Glyndebourne oder der Marguerite in Gounods „Faust“ in New York.

Triumphe – aber nicht in Deutschland

Als sie 1970 ihre erste Norma sang, hatte Caballé sich auf der Schallplatte als Bellini-, Rossini- und Donizetti-Sängerin einen Namen gemacht, also in jenem Repertoire, das außer Maria Callas in den Nachkriegsjahren nur sehr wenige Sängerinnen adäquat beherrschten. Hinfort, so beklagte Caballé einmal in einem Interview, wurde sie auf dieses Genre festgelegt.

Nach Wien kehrte sie 1971 zu einer ihrer 44 Vorstellungen an der Staatsoper zurück – als Leonora im „Troubadour“ und als Elisabetta in „Don Carlo“. Man hatte nicht das Repertoire für eine Sängerin, die sich den Belcantisten des 19. Jahrhunderts verschrieben hatte; Opern wie Donizettis „Anna Bolena“ oder gar Raritäten wie Giovanni Pacinis „Saffo“ waren damals im deutschsprachigen Raum nahezu undenkbar. So sang Caballé in Wien Partien wie Leonora („Il Trovatore“ und „La Forza del Destino“), Tosca, Maddalena („Andrea Chenier“) und ihre Belcanto-Paraderolle, die „Norma“ Vincenzo Bellinis. In ihrer Heimatstadt Barcelona, in USA und in Mailand dagegen triumphierte sie als Maria Stuarda, als Lucrezia Borgia, als Adriana Lecouvreur in Francesco Cileas Oper oder als Lina in Verdis „Aroldo“.

Eine der zahlreichen "Best of"-Platten der Caballé (EMI Classics)

Eine der zahlreichen „Best of“-Platten der Caballé (EMI Classics)

Caballés Repertoire war bewundernswert breit. Über 90 Rollen hat sie in über 4.000 Auftritten verkörpert. Ein Pensum, von dem man bei den heutigen hochgezüchteten Rennpferdchen im internationalen Opernzirkus nur träumen kann. Das britische Fachmagazin „Gramophone“ hat in einer Würdigung als Beispiel ihre Bühnenrollen des Jahres 1979 aufgezählt: von den großen Verdi-Partien in der „Macht des Schicksals“, „Don Carlo“ und „Aroldo“ über die Belcanto-Herausforderungen Norma und Donizettis Elisabetta in „Roberto Devereux“ und „Maria Stuarda“ geht es bis zu den Materialschlachten einer „La Gioconda“ von Amilcare Ponchielli und einer Maddalena in Umberto Giordanos „Andrea Chenier“. Dazu trat Richard Strauss‘ „Salome“ und für die Platte die höchst diffizile Rolle der Elvira in Bellinis „I Puritani“ und – ganz gegensätzlich – Santuzza in Pietro Mascagnis „Cavalleria rusticana“. Das alles aber in einer Qualität, die – von prinzipiellen Auffassungsfragen oder Details der Interpretation einmal abgesehen – stupend und technisch unanfechtbar gesungen ist.

An deutschen Bühnen trat Montserrat Caballé in ihren erfolgreichen Jahren kaum auf – außer in Hamburg. Ihr Debut in der Hansestadt gab sie am 30. Mai 1973 als Elisabeth in „Don Carlos“. Weitere Rollen waren u. a. Elisabeth in „Roberto Devereux“, Tosca, Norma und Gioachino Rossinis Semiramide. Zuletzt hatte sie am 20. Dezember 1997 einen Gastauftritt in der „Fledermaus“.

Archivbild von einer konzertanten Aufführung von Gioachino Rossinis "Semiramide" in Hamburg mit Montserrat Caballé. Augf dem Foto (von links): Ferruccio Mazzoli, Francisco Araiza, Montserrat Caballé, Marilyn Horne und Samuel Ramey. Archivbild: Hamburgische Staatsoper.

Archivbild von einer konzertanten Aufführung von Gioachino Rossinis „Semiramide“ in Hamburg mit Montserrat Caballé. Augf dem Foto (von links): Ferruccio Mazzoli, Francisco Araiza, Montserrat Caballé, Marilyn Horne und Samuel Ramey. Archivbild: Hamburgische Staatsoper.

Erst im Herbst ihrer Bühnenkarriere nahm sie das breite Publikum in Deutschland wahr. Mit der Hymne „Barcelona“ an ihre Heimat wurde sie 1992 auch außerhalb der Opernszene weltbekannt: Das Stück hatte sie mit dem Queen-Frontman Freddy Mercury aufgenommen. In Wien sang sie 1988/89 eine Serie von Vorstellungen der damals wiederentdeckten Rossini-Spezialität „Die Reise nach Reims“ und brillierte mit ihrem komischen Talent als Duchesse de Crakentorp in Donizettis „Regimentstochter“ (2007). Längst hatte sie die anspruchsvollen Belcanto-Partien aufgegeben und sich – nach Herzproblemen 1985 und der Entdeckung eines gutartigen Hirntumors ein Jahr später – auf Konzerte konzentriert. Ihre Auftritte mit Marilyn Horne waren Publikumsmagneten, aber auch stets in Gefahr, große Belcanto-Nummern als das zu verkaufen, was sie gerade nicht sein wollen: Primadonnenzirkus.

Ein Instrument von „superber Qualität“

Maria de Montserrat Bibiana Concepción Caballé i Folch – der erste Vorname verweist auf eine berühmte schwarze Madonnenstatue in der Benediktinerabtei Santa Maria de Montserrat bei Barcelona – wollte keine Diva sein, obwohl sie Maria Callas selbst wenige Tage vor ihrem Tod in einem Interview zu ihrer einzigen legitimen Nachfolgerin gekürt hatte. In der Tat war die Stimme der Caballé prädestiniert für den Belcanto: perfekt ausbalanciert in den Registern, weich und flutend in der Tongebung, schmelzend in den leisen Tönen. Ihre Atemtechnik ist stupend. Die Töne strömen schier endlos. Ihr Atemholen ist fast unmerklich, stört das Ausschwingen der Phrasen in keinem Moment.

In ihren besten Jahren zwischen 1965 und 1985 verband Caballé diese vokalen Tugenden auch mit ausdrucksvoller Eloquenz, mit brillanter, aber nie übertriebener Attacke und mit einem nuancenreichen Vortrag. Ihr dunkel schimmerndes Timbre, das erst in späteren Jahren zu einzelnen Schärfen neigte, wurde gerühmt. Keine geringere als Giulietta Simionato sagte ihr „superbe Qualität“ nach.

Es gab aber auch harsche Kritik: Cathy Berberian, Gesangs-Ikone der modernen Musik, die nicht im entfernten über die Technik der Caballé verfügte, warf ihr vor, nicht darüber nachzudenken, was sie singe und sich auf den reinen Klang zu konzentrieren. Für Berberian bedeutete eine schöne Stimme nichts – Reflex der aus dem Verismo kommenden Kritik an den Stimmen der Ära vor Caruso und dem distanzierten Stil eines Singens, das Ausdruck durch Klang statt durch Rhetorik erzielen will.

Fröhliche Genussfreude und Lust auf Familie

In Deutschland sprach Ulrich Schreiber von einem „fossilartigen künstlerischen Zustand“ und beschrieb damit den Geschmack, der offenbar an deutschen Opernhäusern vorherrschte und der zuließ, dass italienisches Repertoire von Sängern interpretiert wurde, die weit von den stilistischen und vokalen Anforderungen der Partien entfernt waren. Jürgen Kesting gibt sich milder, konstatiert ein Fehlen „entscheidender Momente einer kommunikativen Kraft“ in Caballés sängerischem Ausdruck. Dass die Sängerin in Deutschland so selten auf der Bühne stand, hatte also nicht nur mit dem Regietheater der achtziger Jahre zu tun.

Was Caballés „kommunikative Kraft“ betrifft, konnte sich jeder, der sie persönlich erlebt hat, vom Gegenteil überzeugen. Als entschiedener Familienmensch lebte die wohl auf den Hunger ihrer Kindheit mit fröhlicher Genussfreude reagierende Sängerin ihre Lust auf Gemeinschaft aus. Im Umgang warmherzig, offen, nicht selten schalkhaft humorvoll, war sie so gar nicht der Typ der unnahbaren Diva oder Kunstpriesterin. Als sie ihren 75. Geburtstag im April 2008 mit einem Konzert in der Philharmonie Essen beging, scherzte sie ungeniert mit dem Publikum von der Bühne herab und nahm ihre unüberhörbaren stimmlichen Verschleißerscheinungen mit selbstironischem Humor.

Nach einem Schlaganfall und Sturz 2012 wurde es still um Montserrat Caballé. Jahrelang hatte sie versucht, mit den Resten ihrer Stimme und mit charmantem Humor Konzerte zu geben; viele Menschen kamen, weil sie sich bewusst waren, die letzte Protagonistin einer vergehenden Ära zu erleben. Abschiedsauftritte wurden angekündigt und abgesagt; zuletzt – wie bei ihrem letzten Auftritt zu ihrem 85. Geburtstag in Kiew im April – konnte sie nur noch sitzen. Ihr Vorhaben, „auf der Bühne zu sterben“, konnte sie nicht erfüllen: Am Morgen des 6. Oktober 2018 hat sie im Krankenhaus ihr Leben in die Hände ihres Schöpfers zurückgegeben.




Wo die legendären Alben lebendig werden: Dortmund lockt mit „The Pink Floyd Exhibition“

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd"-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer bricht durch die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall" nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd“-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer durchbricht die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall“ von 1981 nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Ein berühmter Song von Pink Floyd trifft hier und jetzt besonders zu: „Wish You Were Here“, eh schon eine der eingängigsten Schöpfungen der 1965 gegründeten britischen Kultband. Ja, man wünscht sie sich zurück, am liebsten gleich und genau hierher: die alten Zeiten, die eigene Jugend, all die verheißungsvollen Aufbrüche der damaligen Pop- und Rockmusik.

Tatsächlich wird einem jetzt in Dortmund dabei aufgeholfen: „The Pink Floyd Exhibition“ mit dem britisch-sarkastischen Untertitel „Their Mortal Remains“ (Ihre sterblichen Überreste) erweist sich als durchaus anregendes Unterfangen, das so manche Phase und manchen Moment der über 50-jährigen Band-Historie überraschend lebendig werden lässt. Auch jüngeren Besuchern dürfte sich bei der Zeitreise hoch droben auf der sechsten Ebene des „Dortmunder U“ der eine oder andere Zugang zum Werk der Supergruppe eröffnen.

Dritte Station nach London und Rom

Die Abfolge der Ausstellungsstationen klingt geradezu märchenhaft: erst London (Victoria and Albert Museum), dann Rom, jetzt Dortmund. Schon einmal hat Dortmund ziemlich zentral im „Pink Floyd“-Universum gelegen: 1981 gab es in der Westfalenhalle gleich sieben Aufführungen der gigantischen Show „The Wall“. Ansonsten stemmten damals nur Los Angeles, New York und London die ungemein aufwendige Konzertserie.

Schier endlos gespiegelt: das ohnehin schon vielschichtige Cover des „Pink Floyd"-Albums „Ummagumma". (Foto: Bernd Berke)

Schier endlos und überlebensgroß gespiegelt: das irritierende Cover des „Pink Floyd“-Albums „Ummagumma“. (Foto: Bernd Berke)

Auch an diesen Mythos, an den sich etwas ältere Dortmunder noch heute mit leuchtenden Augen erinnern, konnte „U“-Direktor Edwin Jacobs anknüpfen, als er Aubrey Powell (Gestalter vieler legendärer „Pink Floyd“-Plattencover) von einem lohnenden Gastspiel der Schau in Dortmund überzeugte. Powell fungiert denn auch auch Ko-Kurator der Ausstellung. Und wer, wenn nicht er, könnte den Geist der Cover (und somit auch der Musik) gleichsam wieder einfangen und staunenswert neu aufleben lassen?

Auf einmal erhebt sich die Mauer

Hier und da steht man beim Rundgang ganz plötzlich inmitten altbekannter Szenarien; da wird etwa das ohnehin schon rätselhaft vielschichtige Cover von „Ummagumma“ beiderseits endlos gespiegelt. Am spektakulärsten ist jedoch der Effekt, wenn sich auf einmal ein nachempfundenes Stück der Mauer aus den „Wall“-Konzerten vor einem erhebt – mitsamt dem grässlichen Lehrer und dem erbärmlich leidenden Schüler.

Ganz klar: Da erinnern sich Kenner natürlich sogleich an die – zugegeben – auch etwas wohlfeile Zeile „We don’t need no education“ (Wir brauchen keine Erziehung) und den Schlachtruf „Hey! Teachers! Leave them kids alone“ (Ey, Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe). Überhaupt ist die Verschränkung von Sound und Bildern in dieser Ausstellung streckenweise besonders stimmig gelungen. Eins hebt das andere hervor, hebt es auf eine neue Stufe.

Die Musiker als Ingenieure und Tüftler

Wer sich entsprechend Zeit nimmt, kann gut und gerne zwei bis drei Stunden durch diese Ausstellung streifen, die eine labyrinthische, abgedunkelt höhlenartige Anmutung hat – fast wie so ein Underground-Club seligen oder auch erschröcklichen Angedenkens.

Reichlich Exponate: Eine von vielen Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd"-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Reichlich Exponate: Eine von vielen gut gefüllten Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd“-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Ziemlich getreulich chronologisch, sozusagen Album für Album (siehe Anhang), kann man hier voranschreiten – von den psychedelischen Anfängen durch alle (über)ambitionierten Klangexperimente und bombastischen Aufgipfelungen von quasi wagnerianischen Gesamtkunstwerk-Ausmaßen, die freilich bei dieser Band mit den Jahren nicht immer mit überbordendem Erfindungsreichtum einher gingen. Dass und wie „Pink Floyd“ auch Anschluss an die Avantgarde der E-Musik suchte, hat längst nicht alle Kritiker gleichermaßen überzeugen können.

Nicht ohne fliegendes Schwein

Die Mannen von Pink Floyd, so zeigt sich hier abermals, waren nicht zuletzt kreative Ingenieure und ehrgeizige Soundtüftler, die stets das jeweils neueste elektronische Equipment bis an die Grenzen austesteten. Zahlreiche Gerätschaften sieht man hier, die heute liebenswert altmodisch und reichlich verwittert aussehen, die zu ihrer Zeit aber der letzte Schrei und State of the Art waren – vom heute vorsintflutlich wirkenden „Azimuth Co-ordinator“ bis zum frühen Synthesizer.

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U“. (Foto: Bernd Berke)

Ansonsten sieht man einen vielfältigen medialen Mix aus Fotografien, Filmausschnitten, Plakaten, Bühnenskizzen, Briefen und weiteren Objekten. Hie und da sind es eher bloße Devotionalien, doch manch ein Stück gibt auch näheren Aufschluss. Und ja: Das fliegende Schwein hat selbstverständlich auch seine gebührenden Auftritte, und zwar erstmals schon ganz unten überm Foyer.

Der Gentleman Nick Mason gab sich die Ehre 

Offenbar hat man sehr zeitig und vorausschauend begriffen, dass es zur sich immer mehr entfaltenden Band-Geschichte jede Menge aufhebenswerte Gegenstände gibt. So gehören denn auch zahlreiche Gitarren zu den Exponaten, aber auch ein im Stile des japanischen Malers Hokusai verziertes Schlagzeug oder gar hübsch aufgefächerte gebrauchte Drumsticks von Nick Mason und ein halb zerfetztes Schlagfell, das er offenbar etwas wuchtiger traktiert hat.

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Dabei hat sich dieser Nick Mason, der mitten aus der aktuellen Tournee heraus als einziges Band-Mitglied zur Ausstellung nach Dortmund kam, in der Gruppe musikalisch zumeist vornehm im Hintergrund gehalten, jedoch dem großen Ganzen ein höchst solides rhythmisches Gerüst und Fundament verliehen. Er macht übrigens den sehr angenehmen Eindruck eines feinsinnigen, mit Ironie gesegneten britischen Gentleman. Indeed!

Wechselvolle Bandgeschichte

Die Alphatiere der Gruppe, Roger Waters und David Gilmour, sind – nach allem, was man so hören und lesen kann – hingegen ganz andere, mächtig auftrumpfende Kaliber. Roger Waters, der seit etlichen Jahren im Sinne der dubiosen Organisation BDS für einen rigiden Boykott gegen Israel eintritt, wehrt sich übrigens in einem just heute veröffentlichten Interview der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ-Magazin) nochmals gegen den oft erhobenen Vorwurf des Antisemitismus‘. An dieser Stelle genug davon.

Die wechselvolle, oft sehr turbulente Bandgeschichte, die anfangs Syd Barrett früh in den Drogenwahn trieb und später in mancherlei persönliche und juristische Grabenkämpfe mündete, wollen wir hier auch nicht im Detail nachbeten. Teile kann man sich in der Ausstellung erschließen, anderes wird man füglich nachlesen können. Vom optischen und akustischen Genuss des finalen Konzertfilms sollte man sich jedenfalls nicht abhalten lassen.

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd" und Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd"-Drummer Nick Mason,, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U") und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd“ und Ko-Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd“-Drummer Nick Mason, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U“) und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Ob die Schau doch noch eine oder mehrere weitere Stationen ansteuern wird, steht dahin. Gespräche laufen offenbar. Man könnte den Verdacht haben, dass die USA noch an die Reihe kommen werden.

Dortmund aber hat die Exklusivität in ganz West- und Mitteleuropa für sich. Die Besucherzahl könnte und sollte deshalb weit oberhalb der 100.000er-Marke liegen. Viele Gäste werden wohl vor allem aus den Niederlanden, aus Belgien, der Schweiz und Österreich anreisen – und wer weiß, woher sonst noch. Wie schön, wenn die Stadt mal außerhalb der Fußball-Zusammenhänge dermaßen viele Leute anlockt.

„The PINK FLOYD Exhibition. Their Mortal Remains“. Ausstellung im „Dortmunder U“, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse. Tel. 0231 / 50-247 23. www.dortmunder-u.de

15. September 2018 bis 10. Februar 2019. Geänderte Öffnungszeiten: Mo-Mi 10-18, Do/Fr 10-20 Uhr, Sa/So 10-22 Uhr. Letzter Einlass jeweils eine Stunde vor Schließung.

Tickets gibt es im Vorverkauf über die Firma Eventim, die sonst vor allem Konzertkarten anbietet. Die ungewöhnlichen Preise: Normal 29,76 Euro, ermäßigt 23,16 Euro. www.eventim.de Bestell-Hotline 01806 / 57 00 70.

Durch den Rundgang geleitet wird man übrigens von hochmodernen Audioguides, die jeweils die passenden Sounds zu den gerade besehenen Ausstellungsstücken liefern – ganz gleich, wie und in welcher Richtung man sich bewegt.

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Die wichtigsten Alben von Pink Floyd“

The Piper at the Gates of Dawn (1967)
A Saucerful of Secrets (1968)
Ummagumma (1969)
Atom Heart Mother (1970)
Meddle (1971)
The Dark Side of the Moon (1973)
Wish You Were Here (1975)
Animals (1977)
The Wall (1979)
The Final Cut (1983)
A Momentary Lapse of Reason (1987)
The Division Bell (1994)




Junge Frau, ganz auf sich gestellt: Wuppertal würdigt das künstlerische Werk von Paula Modersohn-Becker

Paula Modersohn-Becker: „Kopf eines kleinen Mädchens mit Strohhut" (1904). Öl auf Leinwand (© Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Kopf eines kleinen Mädchens mit Strohhut“ (1904). Öl auf Leinwand (© Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Man muss es sich immer wieder vor Augen halten: All die Bilder der Paula Modersohn-Becker (1876-1907) stammen von einer sehr jungen Frau. Schon recht früh zeigt ihr Werk alle Anzeichen von Reife.

Mit ungefähr 20 begann sie vorsichtig tastend ihren künstlerischen Weg. Anfangs malte sie noch sichtlich unbeholfen. Aber dann! In wenigen Jahren hat sie das Ihre gefunden. Schon mit 31 Jahren ist sie gestorben und hat bis dahin nach ihrer eigensinnigen, sanft beharrlichen Art eine gewisse Vollendung erreicht. Ihre besten Bilder erstrahlen vor Innigkeit, sie sind von manchmal geradezu bestürzender Wahrhaftigkeit. Eher unscheinbaren Motiven wie Kinderbildnissen oder einfachen armen Leuten verleiht  sie etwas beispielhaft Monumentales, aber ganz und gar nichts Auftrumpfendes.

Spannungsfeld zwischen Worpswede und Paris

Als sie zwölf Jahre alt war, zog die Familie (der Vater war preußischer Bahn-Baurat) mit sieben Kindern von Dresden nach Bremen. Doch zwei andere, denkbar gegensätzliche Orte sind entscheidend für ihren künstlerischen Werdegang gewesen, den jetzt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum in den Blick nimmt: das bei Bremen gelegene Dörfchen Worpswede mit seiner kleinen Künstlerkolonie, den vielen schlanken Birken, dem Teufelsmoor – und das leuchtende Paris! In der Silvesternacht 1899/1900 reist sie erstmals an diese Stätte ihrer Sehnsucht. Sie kehrt mehrmals dorthin zurück, manchmal für einige Monate.

Paula Modersohn-Becker: „Alte Armenhäuslerin", um 1905. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Alte Armenhäuslerin“, um 1905. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Zahllose Ausstellungen der damals avantgardistischen Künstler und Kunstströmungen (u. a. Cézanne, Gauguin, Van Gogh, Nabis, Fauves) sieht sie dort, sie studiert an der Académie Calarossi, lernt später den leidenschaftlich bewunderten Bildhauer Auguste Rodin kennen – durch Vermittlung des Dichters Rainer Maria Rilke, der zu jener Zeit Rodins Privatsekretär ist. Nach vorherigen Lehrjahren in Berlin, wo sie Einflüsse von Arnold Böcklin und Walter Leistikow aufnimmt, entfaltet sie an der Seine nach und nach ihr Talent.

Exemplarischer Lebenslauf

Eigentlich wird Paula die kleine Welt von Worpswede nun zu eng. Und doch kehrt sie immer wieder dorthin zurück. Ein Zwiespalt. Auch sonst sammelt sie Widersprüche: Eigentlich sehnt sie sich nach einem üblichen Familienleben, doch durch ihr Werk und ihr künstlerisches Streben emanzipiert sie sich zunehmend, ohne zur Feministin zu werden.

Sie heiratet den Maler Otto Modersohn, aber nach ein paar unerfüllten Jahren will sie sich von ihm trennen. Es kommt jedoch zu einer Art Versöhnung und sie, die immer Kinder haben wollte, wird endlich schwanger. Unfassbare Tragik: 18 Tage nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde stirbt Paula an einer Embolie. Ein als exemplarisch empfundener weiblicher Lebenslauf um 1900, der – mit erfinderischen Zutaten – vor zwei Jahren auch fürs Kino taugte, als Christian Schwochows Film „Paula“ mit Carla Juri in der Titelrolle herauskam.

Übrigens: Es hat sich eingebürgert, sie lediglich Paula zu nennen – ohne den etwas sperrigen Doppelnamen. Bei welchem männlichen Künstler verfahren wir ebenso? Sagen wir nur „Max“ zu Ernst oder Beckmann? Sagen wir bloß Pablo oder Salvador?

Zu Lebzeiten rundweg unterschätzt

Zurück ins Museum. Nach Bremen besitzt Wuppertal das zweitgrößte Konvolut an Werken Paula Modersohn-Beckers, immerhin 22 Gemälde umfassend. Sie bilden den Kern der Schau, die zuerst fürs Rijksmuseum Twenthe in Enschede (Niederlande) zusammengestellt wurde und nun quasi als „Re-Import“ in Wuppertal zu sehen ist, wo Beate Eickhoff als Kuratorin wirkt. Paula Modersohn-Beckers Schaffen wird (mit aufschlussreichen Seitenblicken auf einige Zeitgenossen) anhand von etwa 80 Arbeiten weitgehend chronologisch aufgeblättert, so dass man das zu ihrer Zeit weithin unbeachtete Aufblühen ihrer Fähigkeiten nachvollziehen kann.

Paula Modersohn-Becker: „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen", um 1907. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen“, um 1907. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Zu Lebzeiten hat sie nur ganz selten ausgestellt, sie wurde in Abhandlungen über Worpswede kaum je erwähnt, auch hat sie so gut wie keine Bilder verkauft. Wenn überhaupt einmal ein männlicher Kritiker über sie schrieb, ging es gleich recht ruppig und verletzend zu. Folglich glaubte sie zunächst nicht an sich selbst, sie war aber gottlob hartnäckig. Viele ihrer Bilder blieben unsigniert und trugen nur eine Jahreszahl.

„Hände wie Löffel…“

Selbst ihr Mann Otto Modersohn ahnte zwar ihre Begabung, mäkelte aber auch über ihren Malstil, und zwar wortwörtlich derart anmaßend: „Sie haßt das conventionelle und fällt nun in d. Fehler alles lieber eckig, häßlich, bizarr, hölzern zu machen. Die Farbe ist famos, aber die Form? Der Ausdruck! Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins…“ Außerdem sei sie auch noch – wie man heute sagen würde – beratungsresistent.

Paula Modersohn-Becker: „Sitzende Mutter mit Kind auf dem Schoß", 1906. Öl auf Pappe (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Sitzende Mutter mit Kind auf dem Schoß“, 1906. Öl auf Pappe (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Richtig ist, dass sie einem Ideal der Einfachheit frönte: „Es brennt in mir ein Verlangen, in Einfachheit groß zu werden.“  Insbesondere als Porträtistin wollte sie wahre, ungeschönte Menschen zeigen. Eine Frau mit grotesk langer Nase wird zu allem Überfluss im unvorteilhaften Profil dargestellt. Das Gegenteil von gefälliger Auftragskunst. Wenn das nicht authentisch ist…

„Die roten Rosen waren nie so rot…“

Auch der hochmögende Rilke erkannte ihr Wesen wohl erst recht spät, doch umso inbrünstiger. In Gedanken an sie schrieb er ein Gedicht, das so beginnt: „Die roten Rosen waren nie so rot / als an dem Abend, der umregnet war. / Ich dachte lange an dein sanftes Haar… / Die roten Rosen waren nie so rot.“  Manche Kunstfreunde, die es gerne menscheln sehen, spekulieren bis heute, ob Rilke nicht die bessere Wahl für Paula Becker gewesen wäre. Ach, wie müßig ist das!

Während die schöpferischen Herren in Worpswede (Otto Modersohn, Heinrich Vogeler, Fritz Mackensen u. a.) die Akademien verabscheuten und sich möglichst nur noch schwärmerisch in freier Natur ergehen mochten, erstrebte Paula gerade umgekehrt eine akademische Ausbildung, die ihr damals jedoch weitgehend verwehrt blieb. Private Institute standen ihr allenfalls offen, keine staatlichen. Vielleicht hat sie ihre Anlagen gerade deswegen umso eigenständiger entwickeln können. Sie war ganz auf sich gestellt. Schmerzliche Verheißung der Freiheit!

Ungeheuerliche Aktdarstellung mit Kind

Die Heimattümelei der allzeit in Worpswede verbliebenen Männer, die sich geradewegs stur weigerten, Einflüsse aus Frankreich aufzunehmen, machte sie später anfällig für nationalistische oder noch schlimmere Versuchungen. Geradezu revolutionär muten hingegen die „späten“ Bilder von Paula an: Wenn sie sich etwa selbst als Akt mit Kind darstellt (damals eine Ungeheuerlichkeit) oder wenn ihr aparte Mädchendarstellungen im deutlichen Gefolge des exotischen Gauguin gelingen, so wagt man kaum sich vorzustellen, was aus ihr noch hätte werden können.

Paula Modersohn-Becker auf der Veranda ihres Hauses, 1901 (Ausschnitt) (Foto: Atelier Schaub, Hamburg / Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen)

Paula Modersohn-Becker auf der Veranda ihres Hauses, 1901 (Ausschnitt) (Foto: Atelier Schaub, Hamburg / Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen)

Auzfgrund ihrer jeweils allerneuesten Kunst-Erfahrungen in Paris ließ Paula Modersohn-Becker alsbald impressionistische Anwandlungen hinter sich. Courbet sagte ihr mehr als Monet. Sie hat nicht bloß die Natur nachgeahmt, sondern sich draußen ins Gras gelegt, die Augen geschlossen, sozusagen „innere Bilder“ aufgerufen und diese Bilder schließlich flächig konstruiert, in kühnen Perspektiven zugespitzt oder stilisiert. So darf sie bereits als eine Vorläuferin des Expressionismus gelten. Bei etlichen Besuchen im Pariser Louvre wurde sie überdies auf altjapanische Kunst und auf altägyptische Totenbilder von erhabener Einfachheit aufmerksam. Auch solche Spuren, welche die Wuppertaler Ausstellung getreulich nachzeichnet, finden sich in ihrem Oeuvre.

Riesiger Nachlass – nachlässig behandelt

So wenig Anerkennung war der Lebenden insgesamt zuteil geworden, dass man überrascht war, als sich etwa 700 vielfach beachtliche Gemälde und rund 1000 Zeichnungen in ihrem Nachlass fanden, der – das Wortspiel sei erlaubt – leider recht nachlässig behandelt wurde. Zudem ging hernach vieles im Gefolge der schandbaren Nazi-Ausstellungsaktion „Entartete Kunst“ verloren, anderes wurde im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs zerstört.

Und wie kam es, dass gerade in Wuppertal viele Bilder von ihr vorhanden sind? Nun, letztlich ist es dem vielfach in Bremen wirkenden Künstler Bernhard Hoetger (aus Hörde stammend, heute ein Stadtteil von Dortmund) zu verdanken, der den eigentlichen Gründervater des heutigen Museums, den Wuppertaler Bankier August von der Heydt, recht früh auf Paula Modersohn-Beckers Schaffen hinwies. So konnte es auch nicht ausbleiben, dass im nahen Hagen Karl Ernst Osthaus von ihrem Wirken erfuhr. Es waren Zeiten und Kreise, in denen Region keineswegs „Provinz“ bedeuten musste.

„Paula Modersohn-Becker. Zwischen Worpswede und Paris“. 9. September 2018 (Eröffnung ab 11:30 Uhr) bis zum 6. Januar 2019 im Von der Heydt-Museum, Turmhof 8, Wuppertal. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12 €, ermäßigt 10€, Katalog 20 €.

Weitere Informationen: http://vdh.netgate1.net/