Spannende Seelenschau bei Kerzenschein – Händels „Giulio Cesare in Egitto“ konzertant in der Essener Philharmonie

Das ausgezeichnete Ensemble Accademia Bizantina hat sich auf die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts spezialisiert. Foto: Giulia Papetti

„Alte Musik bei Kerzenschein“ ist ein über die Jahre gewachsenes und beliebtes Konzertformat der Essener Philharmonie, das vor allem den Kompositionen des Barock ein Podium bietet. Dass Werke zwischen Gregorianik und Renaissance eine eher kleine Rolle in der Programmgestaltung spielen, mag bedauerlich sein. Doch die meisten Spezialensembles, die besonders in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, widmen sich eben vornehmlich der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts.

Wenn dann große Namen wie etwa Cecilia Bartoli, Magdalena Kožená oder Joyce DiDonato sich als Ausgräberinnen barocker Raritäten präsentieren, ist der Zuspruch des Publikums gewiss. Die Sängerinnen, und viele andere mehr, haben gewissermaßen den zweiten Hype um die Barockmusik ausgelöst – nach der ersten großen Welle, die den Pionieren der Originalklangbewegung zu danken ist, wie etwa den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, Christopher Hogwood oder Trevor Pinnock.

In Essens Philharmonie hat nun die „Kerzenschein“-Reihe mit einer der schon seinerzeit beliebtesten Händel-Opern begonnen, dem „Giulio Cesare in Egitto“. Die konzertante Aufführung, in italienischer Sprache mit deutscher Übertitelung, ganz ohne trendige Regieeinsprengsel, geschickt komprimiert auf drei Stunden Spieldauer, entpuppt sich als äußerst spannende, musikalisch ziemlich hochkarätige Angelegenheit.

Die Gesangskunst und mimische, teils auch körperbetonte Gewandtheit der Solisten illustriert disparateste Seelenzustände aufs Feinste. Und die Accademia Bizantina unter Leitung von Ottavio Dantone musiziert auf historischem Instrumentarium so gefühlvoll wie zupackend. Nur gelegentlich vermissen wir den kernigen Impuls, die vorwärtsdrängende Dramatik. Andererseits verfügt das Ensemble über einen sehr homogenen Klang, gibt sich elastisch in der Phrasierung.

Impulsiv in der Rolle des Caesar: Der Countertenor Lawrence Zazzo. Foto: Justin Hyer

Händels Oper, 1724 in London uraufgeführt, erzählt von Julius Caesar, der in Ägypten ein Reich und das Herz der Königin Cleopatra gewinnt. Das können auch ihr intriganter Bruder Tolomeo und dessen willfähriger Lakai Achilla nicht verhindern.

Caesar will den besiegten Feind Pompeo eigentlich großmütig begnadigen, der allerdings von Tolomeo bereits gemeuchelt wurde. Pompeos Frau Cornelia und beider Sohn Sesto schwören blutige Rache. Über drei Akte spannt sich ein dichtes Geflecht aus Drohungen, Kampf, Todessehnsucht – und Liebesschwüren. Händels Figuren sind alles andere als schematisch geformte Charaktere, vielmehr menschliche Wesen mit Stärken und Schwächen.

Entsprechend entgeht die Musik des barocken Meisters jedweder Gleichförmigkeit, keine Arie ist wie die andere, es herrscht die fantasievollste Vielfalt. Sei es, dass Soloinstrumente die menschliche Stimme unterstützen, sei es, dass Rezitative und Arien zu größeren Szenen ausgeweitet werden.

Verzichtet hat Händel hingegen auf den Einsatz von Chören und einkomponierten Exotismen. Würde dieser „Caesar“ auf der Bühne szenisch reduziert gegeben, ohne Ausstattungspomp und Massenaufzüge von Statisten, hätte er als ein solches Kammerspiel durchaus seinen Reiz. Dafür ist die konzertante Essener Aufführung, in der es auf die Agilität der Stimmen, Mimik und Gestik ankommt, jedenfalls kein schlechtes Beispiel.

Emöke Paráth singt die Cleopatra gleichermaßen kokett, stolz und melancholisch. Foto: TUP

Dabei wirkt der Countertenor Lawrence Zazzo in der Titelrolle fast schon zu impulsiv. Andererseits gibt er aufs Schönste den verliebten Schmeichler und findet wunderbar verschattete Töne als ein Zweifler, der weiß, dass auch ein Mächtiger sterblich ist.

Die Sopranistin Emöke Baráth entpuppt sich als so kokette, stolze wie charmante Cleopatra, deren Auftrittsarie einen Hauch von Chanson versprüht. Mit großer Leichtigkeit meistert sich die Koloraturen. Und als Gefangene ihres tyrannischen Bruders Tolomeo formt sie ein ergreifendes Lamento. Den Erzschurken singt Filippo Mineccia, ebenfalls ein Counter, mit überbordender Energie. Ihm zur Seite, mit markantem Bariton, Riccardo Novaro (Achilla).

Auch das Racheduo Sesto/Cornelia ist mit Julie Boulianne/Delphine Galou stark besetzt. Boulianne besticht mit furiosem Mezzo, während Galous Alt zwar ein wenig zu fein klingt, ihre sanften Arien aber durchaus berühren. Mitreißend hingegen die Gestaltung der Rezitative, voller Emotionen. Alles im übrigen zur Begeisterung des Publikums, das jede große Arie lustvoll beklatscht.




Romantischer Zauberklang und impressionistische Fehlfarben – der russische Pianist Arcadi Volodos zu Gast in Essen

Arcadi Volodos, Meister des Klangs und Virtuose. Foto: Marco Borggreve

Arcadi Volodos sahen und hörten wir zuerst im Jahr 2001. Damals eröffnete der russische Pianist die groß angelegte Reihe „The Next Generation“, die der Dortmunder Verleger und Kunstliebhaber Bodo Harenberg ins Leben gerufen hatte. Es war ein gleichermaßen aufregendes wie denkwürdiges Konzert.

Denn da präsentierte sich ein kraftvoll zupackender Virtuose, ein flinker Fingerakrobat, dessen Raserei am Klavier das Publikum taumeln ließ. Volodos, zu jener Zeit 28 Jahre jung, war schon kein gänzlich Unbekannter mehr, doch sein künstlerischer Reifeprozess sollte erst noch folgen. Ja, der Russe zählte gewiss zu jener Generation, die das 21. Jahrhundert pianistisch prägen würden.

Doch Volodos, den findige PR-Strategen sofort als neuen Horowitz anpriesen, war von Beginn an mehr denn ein kraftstrotzender Tastenlöwe. Sein subtiler Klangsinn bestach mindestens genauso, und sein Dortmunder Konzert bestand ja nicht nur aus Liszt’schem Furor, sondern etwa auch aus der Annäherung an Brahms’ Tiefsinn. Fortan jedenfalls wollte Volodos weg vom Effekt, hin zur reflektierenden Deutung.

Wir erlebten den russischen Pianisten dann oft, nicht zuletzt als Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und jetzt wieder in der Essener Philharmonie, in der Reihe „Piano solo“. Er wirkt gelassen, die Musik fließt ihm wie von selbst aus den Fingern, und die vor allem leisen Zauberklänge, die er seinem Instrument entlockt, sind von enormer Sogkraft. Im Saal ist es auffallend still, wenn Volodos im diffusen Dämmerlicht die Melodien modelliert, wenn sich nahezu impressionistische Momente auftun, und das bei Werken von Robert Schumann, Johannes Brahms und Franz Schubert.

So offenkundig also des Solisten Stärke in klangvoller Gestaltungsmacht liegt, so ohrenfällig offenbart sich zugleich seine Schwäche. Volodos kann ein Legato derart verdichten, dass jegliche Trennschärfe verloren geht. In Schumanns „Papillons“ erscheinen diese aparten Charakterstücke als teils martialisch aufgeplusterte Gebilde, exaltiert in ihrer Art, künstlich dramatisiert durch seltsame Tempoverzögerungen. Der kindlich naive Geist, den Schumanns Miniaturen oft prägen, ist vertrieben. Stattdessen spricht hier bereits der ernste, vergrübelte Brahms.

Bei dessen Klavierstücken op. 76 ist Volodos in seinem Element. Der Pianist wühlt sich ins dichte Klanggeflecht dieser Musik hinein, gibt den je vier Capriccios und Intermezzi ihr eigenes dramatisches Gewand, mal extrovertiert, mal ganz intim klingend. Volodos erzählt und reflektiert, hier tatsächlich ohne seinem Hang nachzugeben, sich allzu lang auf Inseln des Klangs zu verlieren. Dann nämlich entstehen jene pointillistisch-impressionistischen Effekte, die im Gefüge der musikalischen Romantik wie Fremdkörper wirken.

Frei davon ist auch Volodos’ Deutung von Schuberts später A-Dur-Sonate nicht. Die oft schlicht gewebten Melodien, ihre vielbeschworenen „himmlischen Längen“ können sich bisweilen nicht in aller Ruhe ausbreiten, wirken klanglich überfrachtet. Nur in zweiten Satz gelingt es dem Interpreten, das stille, kleine Thema als traurige Weise aufklingen zu lassen, im schärfsten Kontrast zur abrupt folgenden, wie improvisiert dahingeworfenen Raserei, kulminierend in hämmernden Schmerzakkorden. Welch’ ein Albtraum!

Am Ende aber, im Rahmen der sechs (!) Zugaben, besinnt sich Arcadi Volodos seiner spieltechnischen Wurzeln. Ernesto Lecuonas „Malagueña“, in des Pianisten Arrangement, sprüht und funkelt, grollt und lodert flammenhell. Zirzensik auf höchstem Niveau – Jubel!

 




Mit seligem Schwung zum Beifall: Die Essener Philharmoniker eröffnen unter Tomáš Netopil die Serie ihrer Sinfoniekonzerte

Tomás Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomáš Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Kaum jemand kennt sie mehr, die alten Studentenlieder. Nur „Gaudeamus igitur“ dürfte noch vertraut sein: Wie einen Hymnus auf die alte Burschenherrlichkeit setzt Johannes Brahms die Melodie an den Schluss seiner „Akademischen Festouvertüre“. Mit einem Humor, wie er dem Meister der „deutschen Tonkunst strengeren Stils“ angemessen ist, gibt Brahms der Universität Breslau die Ehre. Sie hatte ihn zum Ehrendoktor gekürt.

Die Essener Philharmoniker eröffnen in der Philharmonie mit Brahms’schem Hintersinn das neue Konzertjahr, und ihr Chef Tomáš Netopil lässt die abwechslungsreiche Verarbeitung von Melodien wie dem einst berühmten „Fuxenritt“ mit gekonnter Geste in Blechmajestät münden. „Gratulor“ würde der flotte Bursch von einst komplimentieren.

„Strengen“ Stils befleißigt sich auch Antonín Dvořák in seinen „Sinfonischen Variationen“ op. 78, mit denen er sich die Anerkennung von Brahms errungen hat. Netopil setzt mit diesem oft aufgenommenen, im Konzertsaal aber seltener zu hörenden Stück sein Vorhaben fort, das Publikum mit musikalischen Schätzen seiner Heimat bekannt zu machen. Wundervoll gesponnene Melodik, spritzige Rhythmen, leise Idyllen: Dvořák entfaltet das Spektrum seiner Ausdruckskraft und zeigt sich als Meister der Form. Die Posaunen haben einen wirkungsvollen Auftritt, die Streicher dürfen mit Seele singen.

Ein anderer Tonschöpfer aus Tschechien, Bohuslav Martinů, hat’s in seinem originellen Konzert für Streichquartett mit Orchester nicht so mit dem Kantablen: 1932 uraufgeführt, orientiert es sich an der Form des concerto grosso aus dem 18. Jahrhundert, aber auch an der Freude am Experimentellen, die Martinů in Paris pflegte. Die Lust an der Polyphonie und an der Dissonanz lebt er ähnlich exzessiv aus wie Igor Strawinsky oder Darius Milhaud.

Der atemlose Ton der modernen Zeit

Die vortrefflichen Musiker des Pavel Haas Quartetts stellen das thematische Material vor: spritzig, unruhig, rastlos wie die moderne Zeit, die sich auch bei Martinů in der Musik spiegelt. Das Orchester nimmt diesen atemlosen Ton auf. Das Prinzip der Variation schlägt die Brücke zu Dvořák, aber die Atmosphäre des dichten, von den Essenern kühl durchschauten Orchestersatzes mit seinen Reibungen und harmonischen Zusammenstößen hat mit dem böhmischen Altmeister wenig zu tun. Den Mittelsatz spielen Veronika Jarůšková, Marek Zwiebel, Radim Sedmidubský und Peter Jarůšek mit heiliger Ruhe und intensivem Vibrato zu den knöchern aufs Holz durchschlagenden Streicher-Pizzicati des Orchesters. Und im Finale genießen die Bläser spitz und ironisch ihren virtuosen Beitrag.

Zum Schluss ein Tribut an den kulinarischen Geschmack: Aber Richard Strauss‘ „Rosenkavalier“-Suite will Netopil nicht so recht gelingen. Der Einstieg ist massiv und laut statt leuchtend, vorlaut statt elegant. Die Sphärenklänge der „silbernen Rose“ bleiben irdisch durchschaubar. Doch das ans Missgeschick des lerchenauischen Ochs erinnernde Spukgepolter und der selig schwingende Walzer versöhnen zum freundlichen Beifall.

Heute Abend, am 12. September 2017, gastieren Netopil und die Essener Philharmoniker im Rudolfinum in Prag beim diesjährigen Dvořák Festival, das er am Samstag, 23. September am Pult der Wiener Symphoniker mit Dvořáks „Te Deum“, der Sechsten Symphonie und Johannes Brahms‘ „Tragischer Ouvertüre“ abschließen wird.

Das Zweite Sinfoniekonzert der Saison am 28. und 29. September in der Philharmonie Essen bringt als Hauptwerk die „Reformations“-Symphonie Felix Mendelssohn-Bartholdys und geistliche Musik des 1946 geborenen lettischen Komponisten Pēteris Vasks: „The Fruit of Silence“ für gemischten Chor und Streichorchester.




Renaissance und Moderne auf Augenhöhe – Das Chorwerk Ruhr zelebriert bei der Ruhrtriennale die Schönheit des Klangs

Das ChorWerk Ruhr unter Leitung von Florian Helgath mit Axel Portal (Bratsche), Dirk Rothbrust (Schlagzeug) und Sebastian Breuing (Celesta). (Foto: Pedro Malinowski)

Zwischen der Musik des spanischen Renaissance-Meisters Tomás Luis de Victoria und den Werken eines John Cage oder Morton Feldman liegen vier Jahrhunderte. Doch bei aller historischen Distanz sticht ein gemeinsames Merkmal heraus: die Fokussierung auf das Phänomen des Klangs. Auf dessen Spuren hat sich nun, in der Maschinenhalle der Dortmunder Zeche Zollern, das ChorWerk Ruhr begeben; wie stets höchst professionell, intonationsstark, sensibel und äußerst differenziert. „Memoria“ ist das Konzert überschrieben, das im Rahmen der Triennale zu hören war.

Um in Klang geronnene Erinnerungen also geht es, bei de Victoria in Form eines Requiems auf den Tod der habsburgischen Kaiserin Maria (1603). Feldmans „Christian Wolff in Cambridge“ wiederum bezieht sich auf eine zwiefache Begegnung mit seinem Freund (eben Wolff) am exakt gleichen Ort, allerdings im Abstand von 15 Jahren – Feldman konstruierte daraus ein Werk, das ausgedehnte Klangfolgen wiederholt, mit nur leichten Varianten.

Cages „Four2“ mag nicht ganz ins „Memoria“-Raster passen, ist aber ebenfalls ein Stück für Chor a cappella, das zuerst aufs Erleben ruhiger, meditativ anmutender Klangflächen zielt. Der Höreffekt ist verblüffend: vermeintlich alte und neue Musik begegnen sich auf Augenhöhe.

Was nicht heißen soll, dass hier nur statische Tongebilde gewissermaßen zum Aushorchen einladen. Vielmehr liegt in all der Ruhe viel Bewegung, ein steter Fluss charakterisiert die Werke, oder, auf die Moderne bezogen, der kontinuierliche Fortgang.

Das exzellente ChorWerk Ruhr, unter Florian Helgaths umsichtiger Leitung, kostet jede Nuance aus, zelebriert die Schönheit des Klangs und manchmal sogar, bei Feldman und Cage, die tönende Stille. Das Requiem de Victorias andererseits besticht durch seine Wechsel von polyphoner Leuchtkraft und gregorianischer Schlichtheit, darüber die große Melancholie schwebt.

Arbeitet der spanische Altmeister naturgemäß mit einem vorgegebenen Text, setzen die Amerikaner lediglich auf einzelne Buchstabenlaute, oder noch puristischer, auf gesummte Vokalisen. Wie Feldman in „Rothko Chapel“, sein Versuch, mit Stimm- und Instrumentalfarben die großen, satten Farbflächen des Malers Mark Rothko in Klang zu verwandeln. Zum Chor gesellt sich dabei das dunkle Raunen der Bratsche oder die sonnenhell blinkende Celesta. Faszinierend auch die irisierenden Sopranhöhen, die sich aufs Feinste mit den Obertönen der Röhrenglocken mischen. Das mutet bisweilen ein wenig sakral an, ist indes alles andere als pathetisch. Feldmans Werk schreitet sanft, kennt aber auch den energischen Puls, am Ende gar melodisches Aufblühen.

Natürlich bedarf es in dem Riesenraum, der etwa zur Hälfte fürs Konzert genutzt wird, ein wenig der elektronisch-technischen Unterstützung. So wird das Klangerlebnis kompakter, die Atmosphäre der Kontemplation nahezu greifbar.

Ein spannender, bewegender Abend. Auch wenn draußen, von irgendwo her, stampfende, monotone Beats sich einmischen wollen – sie haben keine Chance gegen die tönende Schönheit im Innern.




Erstmals Intendant: Raphael von Hoensbroech wechselt im September 2018 vom Berliner Konzerthaus nach Dortmund

Dr. Raphael von Hoensbroech (Mitte) mit Kulturdezernent Jörg Stüdemann und Bürgermeisterin Birgit Jörder, Vorsitzende des Aufsichtsrats des Konzerthauses Dortmund. (Foto: Anja Kador/Dortmund Agentur)

Ein Schächtelchen Schokolade gab es als Willkommensgeschenk. „Das BVB-Trikot haben wir ihm ersparen wollen“, witzelte Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann, als er im Hanse-Saal des Rathauses den Mann begrüßte, der vom 15. September 2018 an neuer Intendant und Geschäftsführer des Konzerthaus’ Dortmund wird: Dr. Raphael von Hoensbroech, 40 Jahre alt, promovierter Musikwissenschaftler, Unternehmensberater und derzeit noch Geschäftsführender Direktor des imposanten, von Karl Friedrich Schinkel gebauten Berliner Konzerthauses am Gendarmenmarkt. Vor versammelter Presse unterzeichnete der Musik-Enthusiast mit den zwei Dehnungsvokalen im Namen einen Sechs-Jahres-Vertrag, der ihm erstmals die Position eines Intendanten sichert.

Warm, aber inhaltlich wolkig blieben die Worte, mit denen Dr. von Hoensbroech seinen Blick auf Dortmund und seine kommende Tätigkeit richtete. Noch ist es zu früh für Konzepte, für eine eigene Handschrift gar, zumal die Spielzeit 2018/19 noch komplett von seinem Vorgänger Benedikt Stampa geplant wurde, der als Intendant an das Festspielhaus Baden-Baden wechselt.

So viel immerhin wird deutlich: Der 1977 in Tokio geborene, in Köln und Arnsberg aufgewachsene Kulturmanager ist keiner, der das Rad mit Gewalt neu erfinden will. Er formuliert den (wenig überraschenden) Anspruch, das Publikum emotional bewegen zu wollen, das Haus gut zu vermarkten, es mit allen Partnern, Sponsoren und Kooperationspartnern gut zu vernetzen und stets kreativ nach vorne zu denken. Am eingespielten Team der Mitarbeiter will er festhalten.

Konkrete Aussagen zu Inhalten und Konzertformaten trifft der Neue vorerst nicht. Immerhin bejaht er auf Nachfrage, am bisher gepflegten Geist der Kooperation mit der Philharmonie Essen festhalten zu wollen, der im Februar dieses Jahres mit der „Ruhr Residenz“ der Berliner Philharmoniker einen glanzvollen Höhepunkt erreichte. Auch möchte er weiterhin konzertante Opernaufführungen im Konzerthaus realisieren.

Raphael Graf von und zu Hoensbroech, Spross einer alten limburgischen und später niederrheinischen Adelsfamilie, spricht verhalten im Ton und in der Sache. Er wirkt wie einer, der lieber zu wenig sagt als zu viel. Erst, als er über Musik spricht, beleben sich Gestik und Tonfall. Er, der bereits mit drei Jahren Geige lernte und auf dem besten Wege war, professioneller Dirigent zu werden, entschied auch aus familiären Gründen, in die Welt der Wirtschaft abzubiegen. Vier Söhne und eine Tochter hat er mit Ehefrau Christina, die an diesem Tag der Vertragsunterzeichnung ebenfalls nach Dortmund gekommen ist. Der Umzug von Berlin nach Dortmund ist bereits beschlossene Sache.

Das Konzerthaus Berlin hat mit 1.420 Plätzen im großen Saal eine ähnliche Größe wie das Dortmund Konzerthaus mit seinen rund 1.500 Plätzen. Ein eigenes Orchester wie in Berlin besitzt die Philharmonie für Westfalen freilich nicht. Von Hoensbroech wirkt am lebhaftesten, wenn er von magischen Momenten im Konzertsaal spricht: von knisternder Live-Atmosphäre, von der Spannung nach dem letzten Ton, in die niemand hinein applaudieren sollte. Solche Momente will er ermöglichen, will dafür die richtigen Künstler und die richtige Programmatik auswählen. Wir sind gespannt.




Gesang macht glücklich: Umjubeltes Konzert mit Diana Damrau und Arien von Meyerbeer in der Philharmonie Essen

Diana Damrau sang in der Philharmonie Essen ein umjubeltes Konzert. Foto: Simon Fowler

Diana Damrau gab in der Philharmonie Essen ein umjubeltes Konzert. Foto: Simon Fowler

Es gab ein bisschen Hin und Her vor dem Konzert mit Diana Damrau in der Essener Philharmonie. Zuerst verkündete ein Einleger im Programm, dass Bassbariton Nicolas Testé krank sei und listete eine geänderte Folge von Arien, Ouvertüren und Intermezzi auf. Dann trat Intendant Hein Mulders vor die vollen Reihen des Saals und teilte mit, Testé habe sich trotz Erkrankung entschlossen, einen Teil der vorgesehenen Opern-Ausschnitte zu singen. Letztendlich war alles gut: Dem Ehemann von Diana Damrau war die Indisposition kaum anzumerken; sie selbst riss mit flammendem Temperament alle Herzen an sich. Und der Jubel über zwei Stunden vollendete Gesangskunst war riesengroß.

Schönheit des Klangs als Mittel zum Ausdruck von Gefühlen, nicht als Selbstzweck. Vollendeter Gesang nicht als aufpolierte Schau perfekter Technik, sondern im Dienst einer Aussage. Das ist der Weg, mit dem Diana Damrau überzeugt. Die Sängerin ist auf dem Höhepunkt ihrer Kunst. Selbst wer mit kritischen Ohren nach minimalen Körnchen im Bild des vollendeten Singens sucht, wird nur schwer fündig.

Wenn die Damrau wie eine blonde Verkörperung des puren Optimismus, der ungetrübten Lebenslust auf die Bühne strebt, hebt sich schon die Stimmung. Dabei hat sie nicht nur glitzernde, mit Freude an der Ironie und der Koketterie getränkte Koloraturpiècen zu bieten. In den melancholischen Szenen von Giacomo Meyerbeer leuchtet so etwas wie eine heitere Weisheit. Sie macht das Traurige nicht leicht, aber tröstlich.

Damraus erste Zugabe ist wie eine Zusammenfassung dieser Gefühlswelten: Ganz alleine schwebt die Stimme im riesigen Raum. Eine einsame Flöte ist ihr Echo, Abschied und Wehmut ihr Thema. In der Romanze der Inès „Adieu mon doux rivage“ aus Giacomo Meyerbeers letzter Oper „Die Afrikanerin“ lässt Diana Damrau noch einmal spüren, wie ergreifend dieser weltoffene jüdische Pariser aus Berlin Emotionen in einfache Töne fassen konnte, schlicht und raffiniert zugleich. Von wegen Wirkung ohne Ursache, wie der neidische Richard Wagner geätzt hat.

Ganz die Diva - aber nur auf den Werbefotos für das neue Meyerbeer-Album: Diana Damrau. Foto: Jürgen Frank

Ganz die Diva – aber nur auf den Werbefotos für das neue Meyerbeer-Album: Diana Damrau. (Foto: Jürgen Frank)

Auf Diana Damraus vor gut zwei Wochen erschienenem Album ist nachhörbar, was die Premiere von Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“ im April im Aalto-Theater hörbar gemacht hatte und was jede Premiere, jedes Konzert bestätigt. Von Wagner niedergemacht, von den Nazis verfemt, vom Opernbetrieb lange fast vergessen, gehört Meyerbeer zu den großen Musikdramatikern des 19. Jahrhunderts, er ist eine entscheidende Figur in der Geschichte der Oper. Giuseppe Verdi hörte schon in seinem „Nabucco“ genau auf den Pariser Opernkönig, folgte nicht nur in der „Sizilianischen Vesper“ seinem Vorbild. Selbst die strahlende Koketterie einer Manon Lescaut in Jules Massenets gleichnamiger Oper zeugt eine Generation später noch vom prägenden Einfluss Meyerbeers. Damraus Programm ließ sinnlich erfahren, wie er von Paris aus Geschichte geschrieben hat. Erst in den letzten Jahren ist diese Geschichte wieder Gegenwart geworden, Meyerbeer wieder auf wichtige Bühnen der Welt zurückgekehrt.

So erhöht die Sängerin „Nobles Seigneurs“ aus „Les Huguenots“ vom brillanten Schaustück zu einer psychologischen Studie. Der Page Urbain sieht sich unversehens vor einer aufgekratzten Gesellschaft von – so würden wir heute sagen – gesellschaftlichen Entscheidungsträgern. Er reagiert rasch und angemessen und überbringt eine Botschaft seiner Königin im Ton eines anzüglichen Flirts. Dafür steht Diana Damrau nicht nur ein nahezu makelloses Französisch, sondern auch eine Palette von Farben zur Verfügung, die einen Cézanne vor Neid erblassen ließe.

Auch die virtuose Koloratur von „Ombre légère“ aus der vergessenen Oper „Dinorah“ (Maria Callas hat die Arie bekannt gemacht und John Dew hat das Werk 1999 in Dortmund szenisch spielen lassen) ist für Damrau ein Anlass, unendliche Farben und Nuancierungen schillern zu lassen: Ein vor Liebe umnachtetes Mädchen spricht mit ihrem Schatten – und die Sängerin offenbart den wunderlichen, traurigen Hintersinn dieser Szene. Auch hier erleben wir keine virtuose Exaltation, sondern eine psychologisch genau durchdrungene Ausdeutung mit den Mitteln des Ziergesangs. Dass Diana Damrau dabei in die Rolle schlüpft, Mimik und Gestik einsetzt und sich tanzend dreht, ist nicht wie bei manch anderem Sänger anbiedernde Masche. Sondern da regt sich das Bühnentier: Damrau braucht eigentlich die Szene, sie kann nicht steif vortragen, das würde ihrem Temperament die Flügel stutzen. Wir erleben kein beifallheischendes Kokettieren, sondern ein Bekenntnis: Bühnen-Musik braucht die Bühne!

In einer Arie aus „Emma di Resburgo“ wird erfahrbar, wie perfekt sich Meyerbeer die musikalische Sprache der italienischen Oper seiner Zeit angeeignet hatte. Die dritte Oper Meyerbeers für Italien, 1819 in Venedig uraufgeführt, schwimmt auf der Welle der damaligen literarischen Mode und schildert ein Schottland à la Sir Walter Scott mit Harfenklängen, schwermütigen Legati und einem stupenden, fordernd schnellen Teil. Diana Damrau macht auch aus dieser eher stereotypen Arie ein innerliches seelisches Drama in wohl ausgeformten Tönen.

Damraus Partner und Ehemann, der Bassbariton Nicolas Testé, sang mit verständlicher Vorsicht Teile des angekündigten Programms: Dalands Arie „Mög‘st du, mein Kind“ aus Wagners „Fliegendem Holländer“ und die düster-leuchtende Arie „Si, morir ella de‘“aus Amilcare Ponchiellis „La Gioconda“.

Emmanuel Villaume leitete die PKF – Prague Philharmonia mit bedächtigen Tempi, achtete auf Balance und plastischen Klang. Die kurzfristig eingeschobenen Ouvertüren von Verdi („La Forza del Destino“) und Gounod („Roméo et Juliette“) sind ebenso beliebte wie routiniert gespielte Füllstücke. Und das abschließende Duett „Bess, you is my woman now“ aus George Gershwins „Porgy and Bess“ erklärt sich eher als Ergebnis einer Improvisation als aus einer konsequenten Programm-Idee. Das Publikum jubelte zu Recht: Gesangskunst, wie sie Diana Damrau bietet, macht einfach glücklich.

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Diana Damrau kommt in der Spielzeit 2017/18 zwei Mal nach Essen in die Philharmonie zurück:

Am 15. September 2017 singt sie, begleitet vom Royal Conceergebouw Orchestra unter Thomas Hengelbrock Arien von Wolfgang Amadeus Mozart. Am 18. Februar 2018 ist sie gemeinsam mit Jonas Kaufmann zu Gast. Mit Helmut Deutsch als Partner am Flügel widmen sich die beiden Sänger Hugo Wolfs „Italienischem Liederbuch“.

Auf Damraus Webseite www.diana-damrau.com sind bei den Münchner Opernfestspielen und im Herbst eine Reihe von Vorstellungen von Donizettis „Lucia di Lammermoor“ angekündigt. Weiter in Planung ist die Titelpartie von Donizettis „Maria Stuarda“ im April/Mai 2018 in Zürich.




Moers ist ganz woanders – eine Nachlese zum Festival

Mit Sorge sahen langjährige Besucher der Zukunft ihres Festivals entgegen. Im vorigen Jahr waren der Künstlerische Leiter und der Geschäftsführer des Moers Festivals nach Querelen mit den Stadtobersten vorzeitig aus ihren Verträgen ausgestiegen. Es ging um Geld, um einen Anteil der Stadt an dem von vielen Seiten geförderten Festival, aber auch, wie schon öfter in der wechselvollen 45-jährigen Geschichte, um die Vermittlung zwischen den hohen künstlerischen Ansprüchen der Festivalmacher und den Interessen der Stadtbewohner.

Festival-Plakat (© Moers Festival)

Diese begegneten mitunter nie gesehenen Gestalten, von denen manche den Namen ihrer Stadt „Mars“ aussprachen und ihrerseits von einem fremden Planeten, auf dem man ein seltsames Verständnis von Musik hatte, zu stammen schienen. Während der Parkplatz vor der Haustür, eine der verständlichen Hauptsorgen der Anwohner, eher von Fahrzeugen aus Münster, Bonn oder den benachbarten Niederlanden zugestellt war.

From Mars to Moers

„Jemand, der sich schon lange aus dem Jazz verabschiedet hat (…) und der ganz woanders ist“, diese Worte wählte Tim Isfort, der neue Künstlerische Leiter, als er am Samstagabend den Ausnahmekomponisten Anthony Braxton ankündigte. Ganz woanders sein, zumindest für die Dauer von vier Tagen, das möchten auch viele der Moers-Pilger – nicht in einer mittelgroßen Stadt am Niederrhein, sondern auf einem den Kosmos musikalischer Möglichkeiten erkundenden Raumschiff. So treffen seit Anbeginn diejenigen, die Moers als Metapher der Grenzenlosigkeit verstehen, auf Menschen, die ganz konkret hier leben.

Vom neuen Festivalleiter erwarten die Stadtväter nicht mehr und nicht weniger, als die verschiedenen Welten einander näherzubringen. Seinem ersten Programmheft stellt Tim Isfort ein 1978 entstandenes Foto voran, das ihn, auf seinem Bonanzarad stehend, mit seiner Familie am Bretterzaun des Festivals zeigt: Er ist ein Kind der Stadt; hier, ganz nah am jährlichen Festival, ist er aufgewachsen.

Auch Anthony Braxton ist in Moers ein alter Bekannter – in den Jahren von 1974 bis 1978 trat er hier regelmäßig auf – und zugleich ein noch zu entdeckender großer Unbekannter. Braxton schreibt täglich Musik, hat mehr als zweihundert Alben aufgenommen, ist mit Jazz und Neuer Musik gleichermaßen vertraut, kombiniert Notation und Improvisation und ist vor allem ein Freigeist.

Braxton-Projekt so komplex wie Stockhausens „Licht“-Zyklus

Braxtons Opernprojekt mit 36 Teilstücken ließe sich in Dauer und Komplexität mit Stockhausens Zyklus „Licht“ vergleichen. Seine Kompositionen Nr. 169 aus dem Jahr 1992 und Nr. 199 von 1997 aus dem Konvolut „Ghost Trance Music“ wurden am 20. Mai dieses Jahres im Großen Sendesaal des WDR vom Ensemble Musikfabrik in Braxtons Abwesenheit, aber mit seinem langjährigen Mitarbeiter, dem Trompeter Taylor Ho Bynum, als Gastmusiker, der die schwierigen Passagen auch dirigierte, aufgeführt.

Anthony Braxton begeisterte am Samstagabend. (© Moers Festival)

Eingerahmt waren seine Stücke von Werken ähnlich anspruchsvoller Komponisten, Harrison Birtwistle und Richard Barrett. Keine leicht zugängliche Musik, aber wohl wenige Erdenbewohner fassen die Welt so durch und durch musikalisch auf wie der Verfasser des 1.700-seitigen Manifests mit dem Titel Tri-Axium Writings. Entsprechend groß waren die Erwartungen an sein einziges Konzert in Europa in diesem Jahr, und sie wurden nicht enttäuscht.

Anthony Braxton reiste mit dem ZIM Sextet aus den USA an; ein Gastauftritt der Saxophonistin Ingrid Laubrock erweiterte die Formation an diesem Abend zum Septett. Zur Aufführung kam ein hochkomplexes Werk für zwei Harfen, Cello, Tuba, verschiedene Saxophonformen einschließlich des riesigen Kontrabasssaxophons und Klarinetten sowie mehrere Blechblasinstrumente (Trompeten, Posaune, Flügelhorn, Kornett), die Taylor Ho Bynum spielte. Eine Komposition mit Noten und Freiräumen zur Improvisation, zusammengehalten durch ein gestisches System der Verständigung. Ein Konzert der Meisterklasse.

Empfehlung: Swans leise hören

Als Anthony Braxton nach einer kurzen Zugabe seinen Auftritt beendete, bereit, mit einigen Freunden in seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag hineinzufeiern, waren die Swans auf ihrer Abschiedstour soeben aus Barcelona eingetroffen. Trotz längerer Umbaupause und Soundcheck konnte der Auftritt zur angekündigten Uhrzeit 23:11 beginnen (fast alle Anfangszeiten im Programmheft wirkten wie gewürfelt).

Zuvor hatten die Zuhörer ausreichend Gelegenheit, sich mit Ohrstöpseln zu versorgen. Der Schaumstoff in den Ohren ließ das Gewitter aus drei Gitarren, zwei Keyboards und einem unentwegt wirbelnden Schlagzeuger zwar dumpfer, jedoch nicht spürbar leiser klingen. Im Publikum vor der Bühne sah ich eine einzelne Frau ausgelassen tanzen. Vielleicht reagierte sie angemessener auf die in der Lautstärke angelegte physische Destruktion als wir Vorsichtigen in den hinteren Stuhlreihen, die wir uns von den vibrierenden Lehnen den Rücken massieren ließen. Auch der Sänger der Swans arbeitete wie Braxton mit Gesten, aber die seinen dienten weniger der Kommunikation mit den Mitmusikern; er schien vielmehr seine Fans beschwören oder verhexen zu wollen.

Ich verließ die Festivalhölle nach etwa einer halben Stunde und schaffte es, zu Hause im Livestream nicht nur das Ende des Auftritts, sondern auch die während der Autofahrt verpassten Teile nachzuhören – und stellte bei selbstbestimmter Lautstärke fest, es steckten sehr wohl Feinheiten in dem massiv wirkenden Sound, die mir zuvor mit Ohrstöpseln und zusätzlich zugehaltenen Ohren entgangen waren. Swans-Fans werden mich für den wohlmeinenden Rat, ihre Musik in Zimmerlautstärke zu hören, steinigen wollen, denn, wie der Frontman der Gruppe, Michael Gira, im Programmheft zitiert wird, wirke die Musik durch ihre Energie, „seelisch beflügelnd und körperlich zerstörend“.

Kommerzielles Kalkül und künstlerisches Konzept

Diese beiden gegensätzliche Auftritte am Samstagabend – die schnell gespielten kleinen, feinen Töne Anthony Braxtons und die betäubende Lautstärke der Swans – mögen stellvertretend stehen für eine nur allzu auffällige Eigenart des diesjährigen Festivals, die mindestens ebenso sehr kommerzielles Kalkül sein dürfte wie künstlerisches Konzept. Um es in der Sprache von Online-Shops zu sagen: Wer Anthony Braxton mag, dem wird vermutlich auch Miller’s Tale gefallen, das Trio mit der großartigen Pianistin Sylvie Courvoisier aus der Schweiz, dem britischen Saxophonisten Evan Parker, der zuletzt 2012 mit Rocket Science in Moers auftrat, und der Japanerin Ikue Mori an der Elektronik (sie war hier 2013 mit John Zorns „Electric Masada“ zu erleben).

Und wer sich Karten für diese beiden Auftritte kaufen würde, ließe sich sicherlich auch für die beiden Kompositionen „Vogelfrei“ und „Contemporary Chaos Practices“ von Ingrid Laubrock begeistern, die am Pfingstmontag mit dem EOS Kammerorchester Köln aufgeführt wurden, das erste Stück zusätzlich mit zwei Chören, das zweite als Kompositionsauftrag der Kunststiftung NRW eine Welturaufführung.

Verschiedene Schnittmengen im Publikum

Das gleiche Zielpublikum wird auch bereits am Freitagabend dem Auftritt des Streichquartetts um Carolin Pook mit Genuss gelauscht haben, das mit seinem Programm „cosmic string time travel“ auf das New Yorker Powertrio Spacepilot traf. Vier großartige Konzerte für einen bestimmten Teil des Publikums, eventuell auch fünf, wenn man das medidativ-minimalistische Saxophonquartett Battle Trance aus New York hinzunimmt. Bezeichnenderweise fanden diese Konzerte an vier verschiedenen Tagen statt, sodass das Festivalticket die preisgünstigste Option war.

Unmittelbar vor oder nach solchen Höhepunkten standen Musiker auf der Bühne, die eine andere Schnittmenge im Publikum ansprachen. Ich kann mir vorstellen, dass Verehrer der Swans dem Auftritt der belgischen Crust Punks von Cocaine Piss mehr Lustvolles abgewannen als manche Hörer neuer Kammermusik, für die Aurélie Poppins‘ Kreischen geklungen haben könnte, als habe sich die Sängerin einen Finger in der Autotür eingeklemmt, vierzig Minuten lang. Doch freilich schickt der Künstlerische Leiter nicht einfach irgendeine Punkband auf die Bühne. Er brachte die vier Crusties aus Liège mit der dänischen Saxophonistin Mette Rasmussen zusammen, die ihr Instrument so punkgemäß malträtierte, dass beides gut zueinander passte.

Jedem sein eigenes Moers

„Ich bin sicher, dass nach den vier Festivaltagen jeder ‚sein eigenes Moers‘ erlebt haben wird“, schreibt Tim Isfort in der Einleitung des Programmhefts. Die Vielfalt an musikalischen Stilen war auf dem Festival selbstverständlich sehr viel reicher, als die bisher genannten Beispiele vermuten lassen. Da war das Dub Trio aus den USA, das genau die Musik spielte, die der Name der Band versprach. Es waren neue Kostproben aus der Singer-Songwriter-Szene zu hören, von der 21-jährigen Julien Baker in der Kirche St. Josef, oder von Brian Blade, der eigentlich Schlagzeuger ist, aber für sein Projekt Mama Rosa als Sänger mit Gitarre auf die Bühne der Festivalhalle kam, begleitet von fünf Musikern.

Stimmgewaltig und theatralisch präsentierte sich Dorian Wood am Piano, der seine ersten Auftritte in der Gay-Bar-Szene von Los Angeles hatte. Er sang, vielmehr: er performte seine Songs auf Spanisch, Englisch und Bulgarisch, unterstützt von dem sechsköpfigen Ensemble CRUSH, bestehend aus vier Streichinstrumenten, Akkordeon und E-Gitarre. Einen bewegenden Song widmete er den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.

Dorian Wood widmete einen Song den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.
(© Moers Festival)

Und es war auch weiterhin gediegener Altherren-Jazz auf dem Festival vertreten, etwa von der isländischen Formation ADHD oder von The Bad Plus aus den USA.

Dagegen hoben sich erfrischend einige jüngere deutsche, österreichische oder belgische Jazzer ab, das Quartett Philm des Berliner Saxophonisten Philipp Gropper etwa, das Trio De Beren Gieren und nicht zu vergessen: der diesjährige „Improviser in residence“ in Moers, John-Dennis Renken. Mit seiner Gruppe „Tribe“ spielte er unter anderem drei Stücke, die er für seine kleine Tochter geschrieben hat, die am Samstag ihr erstes Konzert besuchte. Eines der Stücke heißt „Quatschkopp“ und klingt ziemlich chaotisch, ein anderes, „Charlie‘s Lullaby“, langsamer und sehr emotional. Dennoch: Charlotte muss ein ganz besonderes Kind sein, wenn es ihr gelingt, zu der Musik ihres Papas einzuschlafen. Moers war, für diejenigen, die lange genug im Saal blieben, ein Wechselbad der Gefühle.

Likembe ekuba und die Bohrmaschine

Zu den temperamentvollsten Auftritten gehörte am späten Sonntagabend die kongolesische Gruppe Radio Kinshasa mit der kraftvollen Sängerin und Trommlerin Huguette Huguembo und dem ausdrucksstarken Sänger und Performer Strombo, der seine Instrumente selbst baut. Sie tragen Namen wie likembe ekuba, clavier mesa oder guitard miliki.

Die beiden und drei weitere afrikanische Perkussionisten/Drummer spielten zusammen mit FM Einheit, alias Frank-Martin Strauß, langjähriges Mitglied der Einstürzenden Neubauten, der seine Instrumente ebenfalls selbst herstellt, meterlange Metallspiralen, die er auf der Bühne mit dem Elektrobohrer bearbeitet, oder ein Blech mit Steinen. Dazu spielte der Tenorsaxophonist und Pianist Pavel Arakelian, der an seinem Wohnort Minsk nicht allein von der Musik leben kann und sich ein Zubrot als Bodybuilder verdient. Der Trompeter Markus Türk vervollständigte den energiegeladenen Auftritt von Radio Kinshasa, der im Programm an der Stelle stand, an der früher die African Dance Nights stattfanden. Die Musik lädt nicht nur ein, sie treibt das Publikum geradezu zum Tanzen.

Ausblick

Viele gute Ideen sind in der kurzen Vorbereitungszeit von nur fünf Monaten realisiert worden, und das bei spürbaren finanziellen Einschnitten, die Tim Isfort auf der Bühne ansprach. Aber auch die eingangs erwähnten Sorgen sind nicht unberechtigt. Freunde des Festivals hoffen, dass Moers keine ähnliche Entwicklung wie das benachbarte Traumzeit-Festival nehmen wird, dessen künstlerische Leitung nach der Trennung von Tim Isfort 2012 vom Festivalbüroleiter der Duisburger Marketing Gesellschaft zusätzlich zur kaufmännischen Leitung übernommen wurde und seitdem mit erheblichen Zugeständnissen an den Mainstream fortgeführt wird. Für dieses Jahr jedenfalls erwies sich die Befürchtung, das Moers Festival könnte zu viele Kompromisse eingehen, als unbegründet. Doch andererseits sollte der Wunsch nach Besonderheit nicht in einem Kuriositätenkabinett sämtlicher Musikstile münden.

Deutlicher noch als Vorgänger Reiner Michalke hat die neue Programmleitung das Festival an verschiedene Spielorte verlagert, in die Innenstadt, in den Park, wo Kunstinstallationen zu sehen waren, ins Festivaldorf; moersify nennt sich eine der Reihen. Auch innerhalb der Festivalhalle sucht Isfort neue Formen, wie die discussions, Sessions, die in einer Art Boxring im unteren Teil der Tribüne stattfanden.

Auf der Startseite des Moers Festivals ist im Newsletter zu lesen, das gesamte Team freue sich sehr darauf, „nächstes Jahr mehr Zeit zu haben für – – – Alles!“ Das lässt hoffen.

Das vollständige Programm kann auf der folgenden Website nachgelesen werden: www.moers-festival.de/programm/programmuebersicht/




Sprühende Laune, fülliger Klang: Das Toronto Symphony Orchestra und Jan Lisiecki in der Philharmonie Essen

Der Pianist Jan Lisiecki. Foto: Mathias Bothor DG

Der Pianist Jan Lisiecki. Foto: Mathias Bothor DG

In Europa hätte Oskar Morawetz im Jahr 1945 wohl kaum sein Debüt als Orchesterkomponist mit einer Karnevals-Ouvertüre geben können. Da feierten nicht die fröhlichen Narren ihre fünfte Jahreszeit, sondern die grausamen Schlächter ihre Götterdämmerung. Aber der vor 100 Jahren im heutigen Tschechien geborene Morawetz, einer der vielen von den Nazis vertriebenen Künstlern, wirkte zu dieser Zeit in Kanada.

Eigentlich Pianist und Dirigent, landete er mit der „Carnival-Ouvertüre“, seinem ersten Orchesterwerk, einen großen Erfolg als Komponist. Das Toronto Symphony Orchestra eröffnete sein Gastspiel in der Philharmonie Essen in der Reihe der Pro-Arte-Konzerte mit diesem prunkvoll instrumentierten, rhythmisch-feurigen Werk und schlug damit die Brücke zwischen Europa und der Neuen Welt.

Auch Pianist Jan Lisiecki verbindet beide Welten: Der junge Kanadier stammt aus einer Familie mit polnischem Ursprung und hat mit dem polnischen Europäer Frédéric Chopin im Alter von 14 Jahren seine Karriere begonnen. Inzwischen ist er 22 und spielt in allen großen Konzertsälen. Im a-Moll-Konzert Robert Schumanns offenbart Lisiecki seine Stärke: Die sanften Lyrismen, die weich geformten Harfenklänge scheinen aus einer Traumsphäre herüberzuwehen. Sein zweites Solo lässt er so versunken perlen, dass es um ein Haar in Einzelmomente à la Pogorelich zerfällt. Im Mittelsatz setzt er auf die melodische Grazie, die Schumann wohl beabsichtigt hat. Das alles ist sehr empfindsam, sehr fein modelliert, sehr leuchtend poliert. In Schönheit verströmt sich Schumanns Poesie.

Das klingt wundervoll, aber es bleibt kraftlos gefangen im milden Glanz der Schönheit. Wir sprechen nicht von ein paar mulmigen Läufen, nicht von der Verzärtelung der feinsinnig-leisen Töne. Aber ihnen fehlt die andere Seite, das dunkle Gewölk über Schumanns Seele, der ferne Klang der drohenden Zerrüttung. Sicher, das a-Moll-Konzert ist nicht „Manfred“, aber die bewegte Kadenz des ersten Satzes hat bei Lisiecki nicht den Hauch der romantischen Entäußerung, den Steigerungen zur Reprise und Kadenz geht der entschiedene Zugriff ab, die Bassläufe des dritten Satzes haben kein Gewicht. So bleibt von der inneren Zerrissenheit Schumanns eher anmutige Wehmut als tiefer, bohrender Schmerz. Und auch das Orchester unter seinem Chefdirigenten Peter Oundjian bleibt in süßer Piano-Seligkeit weit weg von Abgründen, Schmerz und Bitternis.

Die Musiker kommen genau auf den Punkt

Reduziert auf die technisch-ästhetische Seite haben wir es mit einer hochklassigen Wiedergabe zu tun: Die Holzbläser stellen sich sensibel auf den Pianisten ein; die Celli erinnern im zweiten Satz daran, dass die Musik nicht nur im Weltvergessen schwelgt. Die sinfonisch verwobene Einheit des Solisten mit dem Orchester, das „schöne zusammenhängende Ganze“ war tadellos realisiert.

Schon in der vor Energie sprühenden Ouvertüre von Oskar Morawetz zeigt das Orchester, wie genau die Musiker auf den Punkt kommen. In Nikolai Rimski-Korsakows „Scheherazade“ brillieren die Solisten, allen voran Fagott und Oboe. Die Violinen meiden den stromlinienförmig amerikanischen Ton und geben sich mit individuell herben Zügen. Oundjian wählt weiche Konturen, einen fülligen Klang, der allerdings zu schnell zum Höhepunkt kommt, und gemessene Tempi. Ein Genuss: Jonathan Crowes leuchtender Ton in den Violinsoli. Erst verhaltener, dann herzlich langer Beifall, der zu zwei Zugaben führt, dem Walzer aus Aram Khachaturians „Masquerade“ und „Nimrod“ aus Edward Elgars „Enigma“-Variationen.

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Jan Lisiecki spielt in der Region wieder am 26. Juni, 20 Uhr, beim Klavier-Festival Ruhr im Anneliese Brost Musikforum Ruhr Bochum Werke von Bach, Schumann, Chopin und Beethoven. Am 13. Januar 2018 bringt er in der Tonhalle Düsseldorf Werke von Chopin, Schumann, Ravel und Rachmaninow. Mit diesem Programm gastiert er am 31. Januar 2018 auch im Konzerthaus Dortmund. Am 23. Mai 2018 spielt Lisiecki in der Philharmonie Köln mit dem London Symphony Orchestra Beethovens Drittes Klavierkonzert.

Die Reihe der Pro-Arte-Konzerte in Essen startet für die Saison 2017/18 am 2. November 2017 mit einem Konzert des BBC Scottish Symphony Orchestra unter Thomas Dausgaard. Nikolaj Znajder spielt dabei das Violinkonzert von Johannes Brahms. Am 5. Dezember kommt mit Nemanja Radulovic ein junger Geiger mit Tschaikowskys Violinkonzert nach Essen, dem eine große Karriere vorausgesagt wird. Info und Abo-Bestellungen: www.pro-arte-konzerte.de




In Wagners Welt: Marek Janowski dirigiert eine sensationelle „Rheingold“-Aufführung im Konzerthaus Dortmund

Götter unter sich: Loge (Daniel Behle), Donner (Markus Eiche), Froh (Lothar Odinius) und Wotan (Michael Volle, v.l.. Foto: Pascal Amos Rest)

So ist es wohl häufig im Leben: Große Momente pflegen sich nicht lautstark anzukündigen. Längst war bekannt, dass Dirigent Thomas Hengelbrock die Leitung der konzertanten Aufführung von Richard Wagners „Rheingold“ mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester aus Krankheitsgründen abgeben musste.

Im Voraus konnten sich womöglich enttäuschte Hengelbrock-Fans damit trösten, dass statt seiner Marek Janowski am Pult stehen würde, ein Opernmann durch und durch, in Sachen Richard Wagner so erfahren wie gefeiert. Auch hatte der Blick auf die Sängerbesetzung verraten, dass mit Michael Volle als Wotan und mit Johannes Martin Kränzle als Alberich Exzellentes zu erwarten sei.

Was sich dann aber abspielt im Konzerthaus Dortmund, der zweiten Station der bald in Baden-Baden endenden Aufführungsserie, gleicht einem Märchen. Denn in den folgenden zweieinhalb Stunden hören wir nicht einfach Musik. Vielmehr baden wir in goldgrünen Fluten, fliegen hinauf zu den Göttern, rasen in höllischer Fahrt hinab in Unterwelten und werden Teil eines phantastischen Spiels, in dem es um Alles geht, um Untergang oder Fortbestand der Welt. Wir sind nicht dabei, wir sind mittendrin.

Ein Opernmann durch und durch: Marek Janowski übernahm die Aufführungsserie für Thomas Henbelbrock. (Foto: Pascal Amos Rest)

Marek Janowski, das Elbphilharmonie Orchester und ein unglaublich stark besetztes Sänger-Ensemble haben uns komplett im Griff. So bestechend dicht ist diese Aufführung, so über die Maßen plastisch und bildhaft im Klang, dass sie filmische Qualitäten erreicht. Da wogen die Wellen, da lodern die Flammen, und 18 Ambosse auf der Chorempore hämmern uns – live! – den Sound von Nibelheim ins Ohr. Das Orchester klingt unter Janowskis Leitung wie ein Naturereignis: wogend und sausend, flirrend und brausend, gleichwohl niemals lärmend.

Johannes Martin Kränzle sorgt als Alberich für Gänsehaut-Momente. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nicht von dieser Welt scheint auch, was Michael Volle als Wotan und Johannes Martin Kränzle als Alberich vollbringen. Einen Göttervater mit solch überragender stimmlicher Autorität findet man kaum noch einmal. Das Volumen dieses Sängers lehrt das Staunen: Sein Wort, seine Stimme sind Gesetz. Johannes Martin Kränzle scheint als Alberich in die Fußstapfen des legendären Gustav Neidlinger treten zu wollen. So dämonische Züge er dem Schwarzalben einerseits gibt, so zeigt er ihn andererseits auch als bedauernswerten, stets verachteten Tropf. Seine warme, höchst facettenreiche Interpretation ist ein Lehrstück, wie aus Verbitterung allmählich Bosheit wird.

Triumph für ein großartiges Sänger-Ensemble (Foto: Pascal Amos Rest)

Welcher Hörgenuss auch vom Rest des Ensembles! Zum Beispiel von einer Fricka, die lyrisch-dramatisch singt statt hysterisch zu keifen (Katarina Karnéus), von einer Erda, die Wotan mit herrlich warm timbrierter Altstimme warnt (Nadine Weissmann), von zwei wunderbar stimmstarken Riesen (Christof Fischesser und Lars Woldt) und von drei Rheintöchtern, die Jubel und Übermut trefflich in Angstgeschrei und Klage umschlagen lassen (Mirella Hagen, Julia Rutigliano, Simone Schröder). Niemand stemmt, niemand forciert, niemand verfällt ins Deklamieren, auch nicht Donner und Froh, die ihre Kraft stets hell und leuchtend ins Spiel bringen (Markus Eiche und Lothar Odinius). Was macht es da schon, dass Elmar Gilbertsson als Mime ein wenig zur Überzeichnung neigt. Das letzte Wort behält Loge, der unstete Halbgott des Feuers. Daniel Behle gibt ihm wendige Eleganz, herrlich zwielichtigen Charme und die leisen Untertöne eines Zynikers, der sich stets ein Hintertürchen offen hält.

Ein laut jaulender Aufschrei der Begeisterung zerreißt die Stille nach dem Schlussakkord. Eine Männerstimme? Oder eine Frau? Wer weiß. Einen Wimpernschlag später toben auch die anderen los. Marek Janowski, in den Jahren 1975 bis 1979 GMD am Theater Dortmund, kehrt im größtmöglichen Triumph zurück.




Belcanto-Feuerwerk: Das Dortmunder Festival „Klangvokal“ beginnt mit Gioacchino Rossinis Oper „Le Comte Ory“

Der Graf Ory (Lawrence Brownlee, Mitte) und sein Page Isolier (Jana Kurucová, l.) buhlen um die Gunst der Gräfin Adèle (Jessica Pratt,r.) Foto: B. Kirschbaum

Wie ein französischer Don Juan stürmt der Graf Ory durch die gleichnamige Oper von Gioacchino Rossini. Er hat es auf die Gräfin Adèle abgesehen, die mit ihren Damen jedoch ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat. So lange der Schlossherr und seine Ritter Kriegsdienst leisten, verwehren sie jedem männlichen Wesen den Zutritt zum Schloss.

Die amüsante kleine Mittelalter-Parodie, in der Rossini viel musikalisches Material aus seiner Oper „Die Reise nach Reims“ wiederverwendet hat, war am vergangenen Sonntag zur Eröffnung des Dortmunder Festivals „Klangvokal“ zu erleben. Eine Starbesetzung mit Belcanto-Spezialisten der Mailänder Scala und der MET in New York hatte Intendant Torsten Mosgraber im Vorfeld angekündigt. Dass er damit nicht zuviel versprochen hat, bewies die nicht-szenische Aufführung im Konzerthaus Dortmund. Die achtköpfige Solisten-Riege, die zum Festival-Auftakt vokalen Glanz verströmte, hätte kaum stärker und homogener besetzt sein können.

Er heckt immer wieder neue Streiche aus: Lawrence Brownlee (r.) als Comte Ory und Gheorghe Vlad als Coryphée (Foto: B. Kirschbaum)

Es ist das pure Vergnügen, den amerikanischen Tenor Lawrence Brownlee und die australische Sopranistin Jessica Pratt in den Hauptrollen zu hören. Brownlees betörend helles und elegantes Timbre beantwortet unmittelbar, warum er jüngst bei den International Opera Awards neben Anna Netrebko als „Bester Sänger des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Seine umwerfend strahlkräftigen Spitzentöne wirken nie aufgesetzt, sondern entströmen organisch dem melodischen Fluss: ohne Krampf, aus purer Lust, fast übermütig hingezaubert.

Als wahre Belcanto-Königin triumphiert an seiner Seite Jessica Pratt, zu deren Paraderollen Donizettis „Lucia di Lammermoor“ zählt. Ihr äußerst beweglicher Sopran, mädchenhaft leuchtend und doch voller Kraft, klingt bis in die Spitzen durchgeformt und edel. Wie im Blindflug manövriert diese grandiose Sängerin durch alle tückischen Kurven des virtuosen Ziergesangs. Ihre kurz angestoßenen Staccato-Töne sind zum Niederknien, federleicht und unfehlbar treffsicher. Rossinis Meisterschaft findet in ihr eine ideale Interpretin.

Jana Kurucová in der Hosenrolle des Pagen Isolier (l.) und Jessica Pratt als Gräfin Adèle (Foto: B. Kirschbaum)

Stark sind die übrigen Solisten, die nicht verblassen neben diesem überragenden Duo. In der Hosenrolle als Page ist die Mezzosopranistin Jana Kurucová dem Grafen Ory ein ernst zu nehmender Rivale: durchaus in der Lage, dem Casanova dann und wann die Schau zu stehlen. Wunderbar auch Stella Grigorian als Ragonde, Monika Rydz als Alice, Roberto de Candia als Raimbaud, Oleg Tsybulko als Gouverneur und Gheorghe Vlad als Coryphée.

Das WDR Funkhausorchester Köln, überwiegend im Bereich der Unterhaltungsmusik zu Hause, fällt gegenüber dieser Sänger-Riege künstlerisch ab. Trotz des präzisen, Vitalität verbreitenden Dirigats von Giacomo Sagripanti reichen die Musiker nicht an das Niveau und den Esprit der Sänger heran. Freilich macht die Konzerthaus-Akustik es ihnen zusätzlich schwer, denn da das Orchester auf der Bühne sitzt, statt im Operngraben zu verschwinden, führen die Nachhallzeiten zu einem teilweise verwaschenen Klangbild. Gut gelingt aber die Gewittermusik im zweiten Akt, die viel Farbe und Stimmung liefert, ohne die Sänger zu übertönen. Auch der WDR Rundfunkchor ist engagiert bei der Sache (Einstudierung: Robert Blank).

Rossinis vorletzte Oper endet unvermittelt, ja abrupt. Die Kreuzritter kehren vom Krieg zurück, der Graf Ory muss fliehen. Beinahe scheint es, als habe Rossini keine Lust gehabt, das Stück fortzuführen. Das Programm von „Klangvokal“ aber erstreckt sich noch bis 25. Juni, unter anderem mit Edward Elgars Oratorium „The Dream of Gerontius“ und Henry Purcells „King Arthur“.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)
Informationen http://www.klangvokal-dortmund.de, Ticket-Hotline 01806/57 00 70)




Fünf Sparten des Dortmunder Theaters präsentieren für 2017/18 ein üppiges Programm – Personalkarussell dreht sich

Das Programm ist üppig, das Programmbuch ein Schwergewicht. Wenn das Theater Dortmund seine Pläne für die neue Spielzeit vorstellt, mangelt es an Masse nicht. Trotzdem aber wohnt der munteren Zusammenkunft im Opernfoyer, wo die fünf Sparten Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel sowie Kinder- und Jugendtheater ihre Pläne dartun, etwas Passageres, Flüchtiges inne. Das ist auch kein Wunder, denn das Personalkarussell dreht sich.

Wie berichtet, wechselt Opernchef Jens Daniel Herzog nach der kommenden Spielzeit 2017/18 als Intendant an das Nürnberger Staatstheater, und wenige Stunden vor der Konferenz wurde bekannt, daß die langjährige Dortmunder Verwaltungschefin Bettina Pesch bereits zur kommenden Spielzeit nach Magdeburg geht. Verwaltungsdirektorin und stellvertretende Generalintendantin ist sie dann dort. Ihre Nachfolge ist noch nicht geregelt, während der Nachfolger Herzogs feststeht. Heribert Germeshausen, bislang noch Heidelberger Operndirektor, soll ihm – wie berichtet – nachfolgen.

Pesch dankte Herzog, Herzog dankte Pesch, wie sich das gehört.

Megastore ist bald Vergangenheit

Schauspielchef Kay Voges ist zwar nach wie vor im Dortmunder Boot, war aber durch die Bauarbeiten im Schauspielhaus für längere Zeit auch mehr oder weniger abwesend. Gänzlich schuldlos, wohlgemerkt, war sein Schauspiel doch gezwungen, in einer unfreundlichen Industriehalle mit dem sinnreichen Namen „Megastore“ zu spielen, wo manches gar nicht und vieles nur mit Abstrichen lief. Am 16. Dezember aber soll es jetzt wirklich wieder im Schauspielhaus losgehen, ein „Doppelabend“ aus Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ und Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ macht den Anfang, erstaunlicherweise nicht in der Regie von Voges.

Musentempel in Schwarz-Gelb: Die Ausweichspielstätte „Megastore“ im Hörder Gewerbegebiet (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kay Voges ist, gleichermaßen erstaunlich, auch nur ein einziges Mal für Regie eingetragen, Thomas Bernhards „Theatermacher“ hat er sich vorgenommen, Premiere am 30. Dezember. Grund für diese Abstinenz, so Voges, seien alte Verträge mit Gastregisseuren, die man abgeschlossen habe – lange bevor man um die sich endlos hinziehenden Bauarbeiten wußte. Jetzt sollen die engagierten Kräfte auch das Vereinbarte liefern, sonst werden Vertragsstrafen fällig, muß ja nicht sein.

Voges hat aber noch so einiges im Sack, deutet er an, will aber noch nicht darüber sprechen. Auf jeden Fall steht zu hoffen, daß das Schauspiel Ende des Jahres wieder unter zumutbaren Bedingungen in ein ruhiges, produktives, kreatives Fahrwasser zurückfindet. Angekündigt werden unter anderem „Übergewicht, unwichtig: Unform – Ein europäisches Abendmahl“ von Werner Schwab im Studio (Premiere 17.12.), ein Tschechowscher „Kirschgarten“ als opulentes Ensemblestück ebenfalls im Studio (29.12.), „Orlando“ nach Virginia Woolf (ab 11.2.2018) und leider auch wieder „Die Kassierer“.

Die Kassierer mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland (vorn) kommen wieder. Ihr neues Stück heißt „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Drei von der Punkstelle“

Die Punk-Rentnerband um Wolfgang „Wölfi“ Wendland droht die „Punk-Operette“ „Die Drei von der Punkstelle“ an (ab 26.5.2018). Und wo wir schon dabei sind: Unter den Extras und noch ohne festes Datum kündigt sich in der „Gesprächsreihe für wahre Freunde der Trashkultur“ Jörg Buttgereits Beitrag „Nackt und zerfleischt“ an. Freut euch drauf!

Auf dem Opernzettel stehen „Arabella“ von Richard Strauss (ab 24.9.), „Eugen Onegin“ von Peter Tschaikowski (ab 2.12.), „Nabucco“ von Verdi (ab 10.3.2018) und schließlich „Die Schneekönigin“ von Felix Lange als „Familienoper“ (ab 8.4.2017). Die Abteilung Leichte Muse wird von Paul Lincke, dem Erfinder des Lincke-Ufers, mit der Revue-Operette „Frau Luna“ beschickt (ab 13.1.2018), und als obligate Musicalproduktion erwartet ein geneigtes Publikum „Hairspray“ von Marc Shaiman (ab 21.10.). Kammersänger Hannes Brock, Dortmunder (Verzeihung) „Opern-Urgestein“, Homeboy, Publikumsliebling und was nicht sonst noch alles wird sich mit dieser Produktion in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden. Eine festliche Gala mit Philharmonikern und Band ist zudem am 17. Februar 2018 für Hannes Brocks Verabschiedung geplant, der Titel ist, wenn ich nicht irre, ein Satz des letzten österreichischen Kaisers Franz-Josef I.: „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“ sprach er einstmals in einen Edison-Phonographen, die Aufnahme ist erhalten.

Xin Peng Wangs Ballett „Faust II – Erlösung!“ bleibt im Programm (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Abstraktes Ballett

Drei Klavierkonzerte von Rachmaninow, 6 Symphonien von Tschaikowski liefern das musikalische Material, mit dem Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang ein neues, abstraktes Ballett gestalten will, das die Namen dieser beiden Komponisten zum Titel hat. Außerdem kommt „Alice“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventure in Wonderland“, zu dem die italienische Frauenband Assurd die Musik machen wird (ab 10.2.2018). Wiederaufnahmen sind „Der Nußknacker“, ein Ballett von Benjamin Millepied, sowie „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Und die traditionsreiche Internationale Ballettgala trägt mittlerweile hohe Ordnungsziffern, XXVI und XXVII (30.9. u. 1.10.2017, 30.6. u. 1.7.2018).

Mahlers Vierte und Achte

Den meisten Platz in den gedruckten Programmankündigungen, so jedenfalls scheint es, beansprucht jedes Jahr Generalmusikdirektor Gabriel Feltz. Das liegt aber einfach daran, daß die Philharmoniker schon lange vor Spielzeitbeginn festlegen, was sie spielen werden, Reihe für Reihe, Konzert für Konzert. Und das schreiben sie dann eben auch schon auf, daher der Umfang.

Zweimal ist in der Konzertreihe nun Mahler im Angebot (die Vierte im Oktober 2017, die Achte im Juli 2018). An Mahler habe er sich in seinen ersten Dortmunder Jahren nicht herangetraut, erklärt Feltz, erst wollte er den Klangkörper besser kennenlernen. Nun aber traut er sich; auch an die Achte, die gern die „Sinfonie der Tausend“ genannt wird. Gut, tausend Mitwirkende wie bei der Uraufführung bringt Dortmund nicht auf die Bühne, aber 330 sind es schon, vor allem wegen der machtvollen Chöre. Neben dem Knabenchor der Chorakademie Dortmund werden der Tschechische Philharmonische Chor Brno und der Slowakische Philharmonische Chor Bratislava zu hören sein.

Blick in das Dortmunder Konzerthaus (Foto: Anneliese Schuerer/Theater Dortmund)

90 Prozent Auslastung im Blick

Um die 80 Prozent Auslastung können die Philharmoniker derzeit vorweisen, das ist nicht schlecht. Wäre es da nicht an der Zeit, den Montagstermin wieder aufleben zu lassen? Feltz’ Vorgänger Jac van Steen hatte den dritten monatlichen philharmonischen Aufführungstermin wegen mangelnder Nachfrage abgeschafft, was die Dortmunder nicht begeisterte. Feltz sagt, er sei in dieser Frage unentschieden, im Orchester werde die Frage kontrovers diskutiert. Unter einer Auslastung von 90 Prozent allerdings sei ein weiterer regelmäßiger philharmonischer Termin schwer vorstellbar. Aber bei Mahlers 8. Sinfonie mit ihrem aberwitzigen Aufwand sollte man vielleicht mal eine Ausnahme vom Zweierzyklus machen – zumal nicht so viele Menschen ins Konzerthaus paßten wie sonst, der großen Chöre wegen.

Die Violinistin Mirijam Contzen (Foto: Mirijam Contzen/Tom Specht)

Übrigens: Die beiden Mai-Konzerte der Dortmunder Sinfoniker waren restlos ausverkauft, zweimal 1260 Plätze. Grund war, wie wir vermuten wollen, der Auftritt der Violinsolistin Mirijam Contzen, die familiäre Wurzeln in Asien, Lünen und Münster hat. Ein „Home-Girl“, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Sie spielte Tschaikowskis Violinkonzert d-Dur op. 35.

Meinung aus zweiter Hand

Schließlich das Kinder- und Jugendtheater unter Leitung von Andreas Gruhn, das mit sorgfältiger Alterszuordnung eine erstaunliche Vielzahl von Stücken stemmt. Kafkas „Verwandlung“ bringen sie für Menschen ab 14 heraus (ab 22.9.), den „Gestiefelten Kater“ (ab 10.11.) finden wir – als Weihnachtsmärchen – auf der Liste der Premieren ebenso wie etliche pädagogisch unterfütterte Projekt-Stücke, Stück-Projekte, die sich um Themen wie Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Existenzangst drehen, um Schwierigkeiten und Chancen und manchmal auch um dumme Rollenbilder. Von Omas und Opas in meinem Alter, die dort mit den Enkeln hingehen, höre ich immer wieder begeisterte Berichte über die Qualität des Kinder- und Jugendtheaters. Ich gebe das mal so weiter, Meinungen aus zugegeben zweiter Hand, trotzdem recht seriös in meinen Augen.

So viel erstmal in groben Zügen. Natürlich wird in allen Sparten noch viel mehr gemacht, als in diesem Aufsatz erwähnt werden konnte. Das dicke Programmbuch, das man mit seiner Orange-Dominanz und seinen 60er-Jahre-Schriften gestalterisch nicht unbedingt gelungen nennen muß, liefert eine Menge Informationen zur kommenden Spielzeit, die Lektüre ist ausdrücklich anempfohlen. Dem Schauspiel schließlich sei gewünscht, daß dessen karge Megastore-Zeit nun recht bald enden möge und sich der Vorhang wieder im angestammten Theater hebt.

 




Rauschhaftes aus Rom: Das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Antonio Pappano in Essen

Sir Antonio Pappano wurde 1959 als Sohn italienischer Eltern in London geboren. (Foto: ©Musacchio & Ianniello)

Boshaft gesprochen, gleichen die Tondichtungen des Italieners Ottorino Respighi einem musikalischen „Malen nach Zahlen“. Wenn dieser Komponist die Brunnen oder die Pinien von Rom in Musik setzt, geht der bildhafte Realismus bis in die genaue Beschreibung von Einzelheiten. Jeder Wassertropfen, jeder Sonnenstrahl, jedes Blätterrauschen und Vogelgezwitscher ist mit solcher Kunst instrumentiert, dass der Hörer der Illusion erliegt, an Ort und Stelle zu sein: mitten in der ewigen, der glorreichen Stadt.

Zum herablassenden Lächeln über derlei Programm-Musik besteht in der Philharmonie Essen indes kein Anlass. Hier zeigt uns ein Orchester aus Rom, welch rauschhaften Sog Respighis grandiose Instrumentationskunst entfalten kann, die er einst in St. Petersburg von Nikolai Rimski-Korsakow lernte. Wie fulminant er die Feinheit des französischen Impressionismus mit der Farbenglut des Südens verschmolz, demonstriert das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, das diese Werke schon unter Herbert von Karajan einspielte. Respighi selbst war einst Direktor am Conservatorium di Santa Cecilia.

In der virtuosen Handhabung orchestraler Klangfarben steht dieser Komponist niemandem nach, nicht einmal dem Großmeister Richard Strauss. Unter der Leitung des in London geborenen Italieners Antonio Pappano lassen die Musiker den Brunnen im Giulia-Tal zunächst verschlafen in der Morgendämmerung murmeln. Sie breiten ein funkelndes Gespinst samt Celesta, Harfen, Triangel und Glockenspiel aus, bevor sie sich zum imperialen Pomp des Trevi-Brunnens am Mittag aufschwingen.

Absolut staunenswert, wie üppig dieses Orchester klingen kann, ohne je zu dick aufzutragen. Noch im überschäumendsten Tanz der mythologischen Wasserwesen bleibt alles transparent und sprühend. In ruhevoller Abendstimmung klingt die Tondichtung aus. Ein letzter Glockenschlag verhallt.

Starke Kontraste faszinieren in „Pinien von Rom“. Das strahlend helle Allegro vivace bietet zum Auftakt nicht nur interessante Effekte durch den Einsatz von Becken und Holzratsche, sondern auch durch harmonische Querstände der Trompeten. Das Lento führt dann hinab in düstere Katakomben. Wir hören nachtschwarze, archaische Wucht, dann wieder zarte Vogelstimmen und Klarinetten-Soli, wie sie delikater und samtiger gar nicht klingen könnten.

Mit dem Triumphmarsch auf der Via Appia erreichen Pappano und das Orchester schließlich den Gipfel. Gespenstisch dumpfer Marschtritt schwillt allmählich zu einer Überwältigungsmusik an, die den gesamten Raum erobert. Klug hat Antonio Pappano einzelne Blechbläser auf den Rängen der Philharmonie postiert. Mit dem Gespür eines wahren Maestro moduliert er den Orchesterklang, zieht ihn förmlich auf die Spitze, ohne je in grobe Lautstärke-Exzesse zu verfallen.

Alles bleibt durchgeformt, kultiviert und rund. Es ist eine Meisterleistung, die das Publikum in frenetischen Jubel ausbrechen lässt. Befremdlich nur, dass der Konzertmeister des Orchesters durch Fußstampfen und Bewegungen mit seinem Geigenbogen zum Klatschmarsch animiert. In den fällt das Publikum dann auch freudig ein. So führt die Via Appia unverhofft in die Manege.

Die chinesische Pianistin Yuja Wang und Antonio Pappano. (Foto: ©Musacchio & Ianniello)

Zu diesem Zeitpunkt ist die Pianistin Yuja Wang beinahe vergessen. Dabei hat die gerne glamourös auftretende Chinesin alles getan, um ihre technische Perfektion in Szene zu setzen und uns über das Wunder ihrer fliegenden Finger staunen zu lassen. Die donnernden Oktavläufe und ausgedehnten Kadenzen in Peter Tschaikowskys 1. Klavierkonzert sind dafür wie geschaffen. Die bombastisch vollgriffigen Akkorde nach der einleitenden Horn-Fanfare spielt Yuja Wang freilich etwas leiser und arpeggiert: mithin in der Variante, wie Tschaikowsky sie ursprünglich notiert haben soll.

Das Schlachtross des Repertoires voll im Griff zu haben, bereitet der technisch überragenden Künstlerin keine Probleme. Als Interpretin wirkt Yuja Wang an diesem Abend aber oft ratlos vor dem Koloss, der von so vielen Pianisten so häufig aufgeführt und aufgenommen wurde, dass neue Lesarten des Werks kaum noch möglich scheinen.

Gleichwohl sucht sie tapfer einen eigenen Zugang. Sie bringt einerseits dramatische Zuspitzungen, lässt sich andererseits auch auf Träumerisches und Verspieltes ein. Probleme bekommt sie, sobald die Musik beginnt, von Einsamkeit oder Schmerz zu erzählen. Dann überhastet sie, als wolle sie eine unangenehme Situation eilends hinter sich lassen. Das macht ihren Zugriff blass, stellenweise auch gefühlsarm.

Die Zugaben unterstreichen den Eindruck, dass es die supervirtuosen Parforce-Ritte sind, die Yuja Wang am meisten liegen. Die mit Extra-Schwierigkeiten aufgedonnerten Volodos-Versionen von Mozarts berühmtem „Rondo alla turca“ und der „Carmen“-Suite von George Bizet reißen das Publikum erwartungsgemäß von den Sitzen.

Über die nächsten Konzerte in der Philharmonie Essen informiert die Homepage: http://www.philharmonie-essen.de




Programmlinien langfristig verfolgen: Pläne von Philharmonie und Aalto-Theater Essen in der nächsten Spielzeit

240 Seiten in Gold: Das Jahresheft der Philharmonie Essen. Abbildung: TuP

240 Seiten in Gold: Das Jahresheft der Philharmonie Essen. Abbildung: TuP

Ein Afrika-Festival, die Erstaufführung eines neuen Violinkonzerts von Anthony Turnage durch den Artist in Residence Daniel Hope, ein Porträt des Komponisten Jörg Widmann, der 100. Geburtstag von Leonard Bernstein, Heinrich Marschners romantische Oper „Hans Heiling“ und Giuseppe Verdis beliebter „Troubadour“ mit drei Gästen: Die Theater und Philharmonie Essen – kurz TuP genannt – will auch in der Spielzeit 2017/18 trotz angespannter finanzieller Lage ein vielfältiges und anspruchsvolles Programm bieten. Das Aalto-Theater hat erstmals seit zehn Jahren die Zahl seiner Neuproduktionen auf sechs erhöht und bietet Operettenfreunden mit Johann Strauß‘ „Eine Nacht in Venedig“ wieder einmal eine Premiere in diesem einst beliebten, heute an den Rand gedrängten Genre.

Im Gespräch mit den Revierpassagen zieht Intendant Hein Mulders die programmatischen Linien weiter: Der seit 2013 gepflegte Blick auf das weite Feld der „slawischen“ Musik richtet sich diesmal auf Bedřich Smetanas beliebte Oper „Die verkaufte Braut“, dirigiert von GMD Tomáš Netopil (Premiere am 14. Oktober) und inszeniert von dem tschechischen Team SKUTR (Martin Kukučka und Lukáš Trpišovský). Flankierend dazu erklingen im Programm der Essener Philharmoniker zwei Raritäten: Antonín Dvořáks „Sinfonische Variationen“ op. 78 und Bohuslav Martinůs Konzert für Streichquartett und Orchester mit dem Pavel Haas Quartett (7./8. September).

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Auch für 2018/19 kündigt Mulders weitere Entdeckungen aus dem Erbe dieser an Musik so reichen Länder an. Dvořáks sinfonische Musik steht auch im Programm von Gastorchestern: die Siebte erklingt am 11. März 2018 mit dem Houston Symphony Orchestra unter Andrés Orozco-Estrada, die Achte unter Thomas Hengelbrock am 15. September mit dem Royal Concertgebouw Orkest.

Eine Oper über Bergbau

Das Aalto-Theater nimmt das Ende des Bergbaus im Ruhrgebiet 2018 zum Anlass, Heinrich Marschners „Hans Heiling“ in einer Regie von Andreas Baesler zu zeigen. Die selten gespielte romantische Oper, die in den letzten Jahren nur in Wien und Regensburg zu sehen war, handelt von einem Erdgeist, dessen Kameraden in der Tiefe nach verborgenen Schätzen graben. Hans Heiling allerdings sehnt sich danach, Mensch zu werden und folgt gegen den Rat seiner Mutter, der Königin der Erdgeister, seiner Liebe zu dem Bauernmädchen Anna – mit fatalen Folgen. Frank Beermann wird sich der Musik Marschners annehmen, die in ihrer innovativen Art erheblichen Einfluss auf Richard Wagner hatte.

Das Repertoire des Essener Opernhauses wird mit Neuproduktionen von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Giuseppe Verdis „Il Trovatore“ und Richard Strauss‘ „Salome“ in einer Inszenierung von Mariame Clément und mit Netopil am Pult erweitert. Offen bleibt der Wunsch nach Aufführungen zeitgenössischer Opern – ein Thema, dem schon Mulders Vorgänger Stefan Soltesz mit wenigen Ausnahmen ausgewichen ist. Aber der Intendant ist sich dieser Lücke bewusst: „Wir beabsichtigen längerfristig, eine Uraufführung anzusetzen und auch erfolgreiche zeitgenössische Oper nachzuspielen.“

Teure Gagen sind nicht mehr möglich

Aber Mulders macht kein Hehl daraus, dass der Mut zu Neuem durch die knapp gewordenen Finanzen nicht gerade beflügelt wird. „Bei bisher nur fünf Neuproduktionen sind die Möglichkeiten begrenzt und man muss sehr genau hinschauen, was man wählt.“ Essen sei eben nicht Frankfurt, wo Intendant Bernd Loebe in der Spielzeit bis zu zwölf neue Inszenierungen anbieten kann. „Bei uns ist kein Fleisch mehr auf den Knochen“, beschreibt Mulders die Lage. Das zeigt sich übrigens auch in den Besetzungen: Gagen für teure Gastsänger sind – anders als zu Soltesz‘ Zeiten – nicht mehr drin.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Höhepunkte im Programm der zwölf Sinfoniekonzerte der Essener Philharmoniker sind große Sinfonien wie die Fünfte, die „Reformations-Symphonie“, von Felix Mendelssohn-Bartholdy (28./29. September), Bruckners Achte unter Philippe Herreweghe (14./15. Dezember), Tschaikowskys Vierte (12./13. April 2018) oder Mozarts g.Moll-Sinfonie Nr. 40 am 5./6. Juli 2018. Immer wieder ergeben sich reizvolle Kombinationen wie etwa am 8. und 9. Februar 2018, wenn Tomáš Netopil Leonard Bernsteins „Divertimento für Orchester“ mit Gustav Mahlers Neunter Sinfonie verbindet und damit auf die Bedeutung hinweist, die Bernstein als Dirigent für die Neuentdeckung der sinfonischen Werke Mahlers hat.

Schwerpunkt zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag

Er gestaltet als Artist in Residence acht Konzerte: Daniel Hope. Foto: Margaret Malandruccolo

Er gestaltet als Artist in Residence acht Konzerte: Daniel Hope. Foto: Margaret Malandruccolo

Bernsteins 100. Geburtstag zieht sich durch die gesamte Spielzeit: Etwa am 17./18. Mai 2018, wenn Daniel Hope unter dem Stichwort „Hollywood“ Erich Wolfgang Korngolds Violinkonzert spielt, flankiert von einer Bearbeitung von Max Steiners Filmmusik zu „Vom Winde verweht“; Bernsteins „On the Waterfront“ und einer raren Suite für Violine und Orchester des in USA erfolgreichen, aus Nazi-Deutschland vertriebenen Kurt Weill. Oder im letzten Sinfoniekonzert am 5./6. Juli 2018, wenn eine von Charlie Harmon arrangierte Suite aus Bernsteins „Candide“ erklingt, verbunden mit dem Klarinettenkonzert von Aaron Copland, einem engen Freund und bewundertem Vorbild Bernsteins.

Auch auf die weniger spektakulären Formate der Philharmoniker sollte geachtet werden: In den acht Kammerkonzerten etwa erklingen nicht nur Zugstücke wie das Septett op. 20 von Ludwig van Beethoven, sondern etwa auch dessen Serenade op.25, kombiniert mit einem Notturno von Václav Tomáš Matějka, der unter anderem als Gitarrist im Wien der Beethoven-Zeit bekannt war (15. Oktober). Am 14. Januar 2018 präsentiert Christina Clark französische Lieder und Chansons, bereichert von einem Arrangement von Paul Dukas‘ „Zauberlehrling“ und einem Quartett aus der Pariser Zeit von Bohuslav Martinů in der originellen Besetzung Klarinette, Waldhorn, Cello und kleine Trommel.

Erstmals ein Weltmusik-Festival

Erstmals bietet die TuP mit Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung ein Weltmusik-Festival: Unter dem Titel „Sounds of Africa“ kommen von 25. bis 27. Mai 2018 international gefragte Stars aus Westafrika zu vier Konzerten in Philharmonie und Stadtgarten. Auch das Festival NOW! wird fortgeführt und steht in seiner mittlerweile siebten Ausgabe unter dem Stichwort „Grenzgänger“: Gemeint sind Musiker, die sich im Grenzbereich zwischen klassischer Komposition und Jazz, europäischer und außereuropäischer Musiksprache oder der Synthese von Musik mit Bild, Video und Tanz bewegen.

Michel van der Aa. Foto: Marco Borggreve

Michel van der Aa. Foto: Marco Borggreve

Ein aufwändiges Projekt ist die deutsche Erstaufführung der 3-D-Filmoper „Sunken Garden“ des Niederländers Michel van der Aa, Kagel-Preisträger des Jahr 2013, am 29. Oktober. Eröffnet wird NOW! am 20. Oktober vom Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra unter Sascha Götzel und den Solisten Daniel Hope und Vadim Repin, die Mark-Anthony Turnages neues Konzert für zwei Violinen „Shadow Walker“ zum ersten Mal in Deutschland spielen. Dazu erklingt Musik von Ives, Adams, Bartók und Ferit Tüzün. Und am 4. November steht Jörg Widmann im Mittelpunkt eines Konzerts mit dem Ensemble Modern.

Verengtes Konzertrepertoire

Der Blick in das 240 Seiten starke goldene Programmbuch der Philharmonie Essen lässt die – auch anderswo – zu beobachtende Tendenz erkennen, das Repertoire der „großen“ Sinfonik auf die international geläufigen Namen zwischen Beethoven und der (Spät-)Romantik zu verengen: Brahms, Bruckner, Dvořák, Mahler, Schumann, Strauss – in dieser Spielzeit überraschend wenig Tschaikowski, kein Schostakowitsch, von moderner Sinfonik von Prokofjew bis Henze oder Glass ganz zu schweigen.

Ein vierteiliges Künstlerporträt widmet sich dem Komponisten, Klarinettisten und Dirigenten Jörg Widmann. Foto: Marco Borggreve

Ein vierteiliges Künstlerporträt widmet sich dem Komponisten, Klarinettisten und Dirigenten Jörg Widmann. Foto: Marco Borggreve

Mulders ist sich dessen bewusst und verweist auf das Dilemma einer Planung mit prominenten Gastorchestern und deren eigener Programmatik, aber auch auf das Publikumsinteresse: Schostakowitschs Elfte in der laufenden Spielzeit etwa sei schon ein Risiko gewesen, und ein neugieriges Publikum heranzubilden ein langwieriger Prozess, der bei knappen Ressourcen umso schwieriger zu bewerkstelligen sei.

Fatale Zwickmühle

Es zeigt sich: Die fatale, vielfach beklagte Zwickmühle funktioniert leider allzu gut. Festgefahrene Erwartungen, der Fetisch der Auslastungszahlen angesichts allzu knapper Finanzen, Promi-Dirigenten mit immergleichem Repertoire und die scheinbar schlüssige und gerechte Auslese der „Besten“ durch die Musikgeschichte wirken zuverlässig. Gegen solche Trends anzugehen, erfordert außer Mut und Kreativität vor allem (finanzielle) Ressourcen und politische Unterstützung.

Auf seine Kosten kommt das Publikum, das – sicher zu Recht – auch große Namen und angesagte Stars erwartet. Da ist ein Stern am Himmel des Gesangs gerade recht: Diana Damrau kommt am 4. Juni schon mit einem Meyerbeer-Programm in die Philharmonie und eröffnet den Konzertreigen der kommenden Spielzeit am 15. September mit dem Concertgebouw Orkest und Arien von Mozart. Ein drittes Mal ist sie am 18. Februar 2018 zu hören, diesmal in einem luxuriösen Liederabend mit Jonas Kaufmann und Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch.

Am 16. September stellt sich der Residence-Künstler Daniel Hope mit einer „Hommage an Joseph Joachim“ vor. Dem berühmten Geiger des 19. Jahrhunderts widmet er einen Duo-Abend mit Simon Crawford Philips am Klavier und Werken von Brahms, Clara Schumann und Felix-Mendelssohn-Bartholdy. Und die Reihe „Große Stimmen“ führt am 24. September Anja Harteros in die Philharmonie – mit Liedern von Schubert, Schumann und Strauss.

Weitere Höhepunkte: Arcadi Volodos mit einem Klavierabend am 3. Oktober, Händels Oper „Giulio Cesare“ konzertant am 14. Oktober mit der Accademia Bizantina, Magdalena Kožena mit Händel-Arien am 1. November, Renaud Capuçon mit drei Mozart-Violinkonzerten am 3. November, Isabelle Faust mit dem neuen Pultstar Teodor Currentzis und dem Mahler Chamber Orchestra mit Berg und Mahler am 18. November, Philippe Herreweghe mit zwei Beethoven-Außenseiterwerken, der „Chorfantasie“ op. 80 und der Messe op. 86 am 30. November und die Marienvesper des Jahres-Jubilars Claudio Monteverdi mit Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble unter Thomas Hengelbrock am 2. Dezember. Und zu Weihnachten Händels „Messiah“ mit The King’s Consort am 18. Dezember. Das neue Jahr startet dann mit Thomas Hampson (6. Januar) und Khatia Buniatishvili, die am 14. Januar Schumanns a-Moll-Klavierkonzert mit dem Kammerorchester Basel musiziert.

Info: http://www.philharmonie-essen.de
http://www.aalto-musiktheater.de
Der Vorverkauf hat begonnen, Karten-Telefon: (0201) 81 22 200.




Dem „göttlichen Claudio“ zum 450. Geburtstag: Monteverdi bringt in seinen Opern die Seele zum Singen

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Über seine Heimat Oberitalien ist Claudio Monteverdi nie hinausgekommen. Aber seine Wirkung als Erneuerer in der Zeit eines gewaltigen Umbruchs war in der gesamten Welt der Musik zu spüren. Vor 450 Jahren in dem damals minder bedeutenden Städtchen Cremona geboren, hat Monteverdi in der Entwicklung der Musik eine Rolle gespielt, die höchstens noch mit Namen wie Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner oder Arnold Schönberg zu vergleichen wäre.

Dabei hat sich der Sohn eines Baders – damals ein Beruf, der sich zwischen Medizin und Körperpflege bewegte – nie als musikalischer Rebell verstanden. Aber seine geistlichen und weltlichen Kompositionen und vor allem seine Opern haben Geschichte geschrieben.

Cremona, damals eine Stadt im Herzogtum Mailand, hatte kaum politischen Einfluss, aber ein reges geistiges Leben. Die Gebildeten trafen sich in einer Akademie, an einem Priesterseminar wurde moderne Theologie gelehrt. Die Instrumentenbauer Andrea Amati, Andrea Guarneri und Antonio Stradivari hatten den Ruf Cremonas als Stadt exzellenter Geigen in ganz Europa verbreitet. In der Pfarrei SS. Nazzaro e Celso wurde der erste Sohn von Baldassare Monteverdi, am 15. Mai 1567 auf den Namen Claudio getauft.

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Vater wollte seinen Kindern den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung ermöglichen und förderte ihre Begabungen. Die Bedingungen waren günstig, die katholischen Reformer legten großen Wert auf Bildung. Monteverdi selbst bezeichnet sich als Schüler des „herausragenden Ingegneri“. Der erfahrene Domkapellmeister gab ihm umfassende Grundlagen mit, zu denen Singen und das Spielen von Instrumenten gehörte, und bildete ihn planmäßig in Komposition heran. Als Fünfzehnjähriger veröffentlichte Claudio Monteverdi seine „Sacrae Cantiunculae“, kleinere geistliche Gesänge. Ein Jahr später erschienen vierstimmige Madrigale und wieder nach einem Jahr sein Probestück in der weltlichen Musik, eine Sammlung vierstimmiger „Canzonette“.

Die folgenden Jahre seines Lebens liegen im Dunkeln; offenbar perfektioniere sich Monteverdi in der Kunst des Komponierens. Das Ergebnis waren zwei Madrigalbücher, von denen das zweite von 1590 Monteverdi auf der Höhe seiner Kunst zeigt: „Hätte Monteverdi nur dieses Madrigalbuch hinterlassen – er hätte sich gleichwohl in die Geschichte der Musik eingeschrieben“, urteilt die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold in ihrer erst vor wenigen Wochen erschienenen Biografie. Denn die Gesänge zeigen bei „außerordentlicher musikalischer Sensibilität“ eigene künstlerische Ideen. In ihnen entwickelt Monteverdi, was sein Schaffen und vor allem seine Opern kennzeichnen sollte: Die musikalische Erfindung steht konsequent im Dienst des Textes.

Trotz der bedeutenden Komposition erhielt Claudio Monteverdi seine erste Stelle, weil er gut Viola da gamba spielen konnte. Am Hof des kunstliebenden Herzogs Vincenzo Gonzaga in Mantua begann er seine Karriere: In der Widmung seines dritten Madrigalbuchs 1592 lobt er die „glückliche Tür“, die ihm sein Spiel geöffnet habe. 22 Jahre blieb er in Mantua, heiratete und verlor seine Frau nach nur acht Jahren Ehe. Monteverdi spielte bei Festen und Gottesdiensten, an der Tafel und bei repräsentativen Anlässen. Zehn Jahre veröffentlichte er kein neues Werk, aber sein Ruhm verbreitete sich: In Venedig, Nürnberg und Antwerpen wurden seine Noten gedruckt.

Ab 1601 Kapellmeister, machte er Mantua zu einem Zentrum moderner Musik, dessen Glanz bis heute nachwirkt. Jetzt entstanden zahlreiche Kompositionen, die weitgehend ungedruckt blieben und verschollen sind. Hier schrieb Monteverdi aber auch die erste seiner Opern, uraufgeführt unter der Schirmherrschaft des Thronfolgers Francesco Gonzaga am 14. Februar 1607 – ein „künstlerisches Großereignis und ein Meilenstein der Operngeschichte“.

Monteverdi hat zwar die Oper nicht erfunden. Dieser Ruhm gebührt dem Florentiner Jacopo Peri mit seiner 1598 entstandenen „Dafne“, mit der die antike Theatertradition wiederbelebt werden sollte. Aber ohne Monteverdis „L’Orfeo“ wäre – so Silke Leopold – die Entwicklung der Oper vielleicht gar nicht richtig in Gang gekommen. Auch seine ein Jahr später geschriebene Oper „L’Arianna“, aus der nur der weltberühmte Trauergesang, das „Lamento“, überliefert ist, wurde ein riesiger Erfolg. Monteverdi war überzeugt, darin den Ausdruck menschlicher Emotionen am besten getroffen zu haben. Er blieb aber auch als geistlicher Komponist aktiv: 1610 entstand mit der „Marienvesper“ sein wohl bekanntestes sakrales Werk.

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Ruhm und Können halfen jedoch nicht, als 1612 Francesco die Nachfolge des verstorbenen Herzogs von Mantua antrat und sich daran machte, die zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren. Monteverdi wurde regelrecht hinausgeworfen und war mit 45 Jahren arbeitslos. Bis Oktober 1613 sollte es dauern – dann aber erreichte ihn ein Angebot aus Venedig und er erhielt eine der angesehensten Stellen im Bereich der Kirchenmusik: Monteverdi wurde Kapellmeister von S. Marco.

Es begann seine produktivste Zeit: Er reformierte die Kirchenmusik, erneuerte das Repertoire, sorgte sich um die soziale Stellung seiner Musiker und komponierte geistliche wie weltliche Musik, darunter drei neue Madrigalbücher. Für die damals einzigartigen öffentlichen Opernhäuser Venedigs schrieb er Opern und Ballettmusik, erhalten sind aber nur „Die Heimkehr des Odysseus“ und „Die Krönung der Poppea“. 1643 starb Claudio Monteverdi, begraben liegt er in der Kirche S. Maria Gloriosa dei Frari in Venedig.

Monteverdis drei erhaltene Opern gehören seit den bahnbrechenden Aufführungen durch Nikolaus Harnoncourt in den siebziger Jahren wieder zum Repertoire und werden in diesem Jubiläumsjahr u.a. in Berlin, in Venedigs Teatro La Fenice und bei den Festivals in Luzern, Innsbruck, Salzburg und Schwetzingen aufgeführt. In der Region planen die Theater Bielefeld und Aachen, Monteverdi mit „L’Incoronazione di Poppea“ zu würdigen. Die Premieren sind am 10. Juni (Bielefeld) und am 24. September (Aachen).




„Musik muss die Menschen auf eine Entdeckungsreise mitnehmen“ – Gespräch mit dem Pianisten Olli Mustonen

Die 29. Auflage des Klavier-Festivals Ruhr präsentiert jetzt bis zum 20. Juli in 69 Veranstaltungen herausragende Künstler. Zu ihnen zählt der Komponist, Dirigent und Pianist Olli Mustonen. Er widmet den Sonaten von Sergej Prokofjew zwei im Konzertalltag sehr rare Abende: Mit der Aufführung sämtlicher Klaviersonaten am 11. und 12. Juni 2017 zeigt er die Entwicklungsstadien eines der großen Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Der Pianist Olli Mustonen. (Foto: Klavier-Festival Ruhr)

Prokofjew-„Marathon“ beim Klavier-Festival Ruhr: der Pianist, Dirigent und Komponist Olli Mustonen. (Foto: Klavier-Festival Ruhr)

Gastautor Robert Unger sprach für die Revierpassagen zur Einstimmung auf den Sonaten-Marathon mit Olli Mustonen, der im Juni seinen 50. Geburtstag feiert:

Die Süddeutsche Zeitung schreibt über Sie „Er ist gleich in drei Disziplinen ein Profi: Der Finne Olli Mustonen ist Dirigent, Komponist und er ist ein begnadeter Pianist.“ Wie gelingt es Ihnen, die unterschiedlichen Anforderungen zu erfüllen?

Olli Mustonen: Ich muss sagen, dass für mich die Kombination der drei musikalischen Wege kein Hindernis ist. Es ist für mich vielmehr eine natürliche Sache. Durch Komponieren und Dirigieren kann ich viele Facetten der Musik besser verstehen und wahrnehmen. Als Komponist finde ich es spannend, meine Musik selber dirigieren zu können. Frühere Generationen von Musikern und Komponisten waren ebenso „Multitalente“. Besonders im 19. und frühen 20. Jahrhundert war es noch selbstverständlich, dass Komponisten gleichzeitig auch dirigierten und spielten. Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Edvard Grieg und Sergej Prokofjew reisten zu ihrer Zeit als Dirigenten und Pianisten durch die Welt.

Sie selbst verbindet eine sehr enge Beziehung zum Komponisten Rodion Schtschedrin.

Mustonen: Ja, ich kenne Rodion schon seit vielen Jahren und spreche mit ihm jede Woche. Sein Wissen um die russische Musikgeschichte ist unglaublich. Er ist eine Art Mentor für mich. Viele der wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens des 20. Jahrhunderts in Russland kannte er persönlich. Es fasziniert mich immer wieder, wenn er mir über Menschen wie Dmitri Schostakowitsch und Sergej Prokofjew berichtet. Außerdem hatte er eine ganz wunderbare Frau, die in der Sowjetunion eine berühmte Ballerina war: Maja Plissezkaja. Sie hat mich stets inspiriert und unterstützt. Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich immer wieder Werke von Schtschedrin uraufführen darf und er für mich sein 5. Klavierkonzert geschrieben hat.

Welche anderen Komponisten spielen in ihrem Konzertalltag und für Sie persönlich eine große Rolle?

Mustonen: Ich schätze natürlich die großen Komponisten der Musikgeschichte wie Maurice Ravel, Robert Schumann, den grandiosen und unglaublich fortschrittlichen Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven. Für mich ist es sehr wichtig, dass die Komponisten ein ganz eigene „Melodie“ für sich entwickelt haben und uns in ihrem Schaffen Geschichten erzählen.
Ich versuche mich auch stets mit unbekannten Komponisten und wenig gespielten Werken auseinanderzusetzen. Ich bedauere es sehr, dass sich das gegenwärtige Konzertrepertoire auf so wenige Komponisten und Werke verengt hat. Wir müssen wieder lernen, Konzertprogramme zusammenzustellen, in denen bedeutende und bekannte Werke ganz natürlich erweitert werden mit unbekannten Musikschätzen der Konzertliteratur. Man muss die Menschen immer wieder auf eine Entdeckungsreise schicken, sonst werden sie – und wir Musiker auch – müde und träge. Dieser Prozess fördert auf keinen Fall die musikalische Qualität der Konzerte.

Sergej Prokofjew scheint in Ihrem Repertore besonders wichtig zu sein. Schließlich haben Sie vor kurzem alle Klavierkonzerte von ihm aufgenommen und spielen jetzt beim Klavier-Festival alle Klaviersonaten an zwei Tagen.

Mustonen: Für mich ist Prokofjew unverzichtbar. Er vereint so viele Stile und Emotionen in seiner Musik wie kaum ein anderer Komponist: ob verspielt, belebt, geradlinig, heiter, russisch, modern, lyrisch oder ungewohnt klassisch. Man wird stets überrascht von seiner Musik. Die Klaviersonaten vereinen für mich alle Facetten seines Schaffens und sind ein großartiges Kaleidoskop an Stilen, Emotionen, dynamischen Entwicklungen. Sie fordern unglaublich heraus.

Wie gehen Sie an diese Herausforderung heran? Haben Sie die Sonaten bereits am Stück gespielt?

Mustonen: Ich habe lange davon geträumt, die Sonaten mit ihrem breiten Spektrum dem Publikum präsentieren zu können. Die Sonaten verlangen vom Publikum und natürlich auch von mir sehr viel, geben aber dafür unglaublich viel Kraft zurück. Ich habe mir lange zum Ablauf der Konzerte Gedanken gemacht und mich ganz bewusst für eine bestimmte Reihenfolge entschieden. Ich spiele am ersten Abend die Sonaten Nr. 4, Nr. 2, Nr. 9 und Nr. 6, am zweiten Abend dann die Sonaten Nr. 5, Nr. 8, Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 7. Besonders wichtig war mir dabei, die großen und technisch herausfordernden Kriegssonaten Nr. 6, 7 und 8 nicht direkt hintereinander zu spielen. Diese Sonaten beschreiben die ganze Verzweiflung des Krieges und die Angst vor dem Terror-Regimes Stalins, aber auch den Mut, den Willen und den nationalen Stolz der Russen. Andere Sonaten hingegen sind sehr kurz, verspielt, bestehen nur aus einem Satz oder sind eher ruhig in ihrem Gestus.

Wie sollte das Publikum an diesen „Marathon“ herangehen?

Mustonen: Ich kann die Zuhörer nur dazu einladen, sich mit offenen Ohren und Herzen auf diese spannende Entdeckungsreise einzulassen. Man sollte sich lösen von seinen Vorurteilen gegenüber dem Fremden und der angeblichen Verschlossenheit von „moderner Musik“. Ich habe die Sonaten vor ein paar Jahren bereits einmal komplett an einem Tag gespielt. Es war sehr spannend zu spüren, wie das Publikum von Sonate zu Sonate immer mehr an Offenheit für die Musik gewann.

Können Sie uns auch etwas über ihre nächsten Pläne sagen?

Mustonen: Ich schreibe zurzeit an einem Liederzyklus für Tenor und Streichquartett. Es ist mir eine besondere Freude und Ehre, dass Ian Bostridge sich bereit erklärt hat, an der Uraufführung mitzuwirken. Auch träume ich schon lange davon, alle Beethoven-Sonaten aufzuführen. Ich werde im nächsten Jahr damit beginnen, in meiner Heimat immer wieder einen Abend dem Klavierwerk Beethovens zu widmen. Es gibt eine ganz besondere, ja fast natürliche Verbindung zwischen mir und ihm. Mein Vorname Olli sieht mit der Hand geschrieben und auf den Kopf gestellt aus wie die Zahl 1770. Beethoven wurde in diesem Jahr geboren und sein wichtigster Verleger Bernhard Schott hat seinen Verlag im selben Jahr gegründet. Insofern kann ich nicht anders – ich bin fast schon dazu gezwungen, die Sonaten zu spielen.

Konzerte am 12. und 13. Juni, jeweils 20 Uhr, in der Stadthalle Mülheim/Ruhr. Karten: Tel.: (01806) 50 08 03. Info: www.klavierfestival.de




Unsterbliche Stimme des Jazz: Vor 100 Jahren wurde Ella Fitzgerald geboren

Summertime. Das Leben ist leicht. Ella Fitzgerald, die „große alte Dame des Jazz“, singt den unsterblichen Song aus Georges Gershwins „Porgy and Bess“ schwebend leise, träumerisch, jedes Wort, jeden Klang auskostend. Sie lässt die Stimme flirren, setzt das Vibrato ausdrucksstark ein, scheint über jedes Wort nachzudenken. Eine andere Aufnahme: Die Sängerin nimmt das Lied hell, strahlend, mit Sonne in der Stimme und mit improvisierten Silben, dazwischen einem Lachen – und in schnellerem, energischerem Tempo.

Ella Fitzgerald. Foto: www.pexels.com

Ella Fitzgerald. Foto: www.pexels.com / pixabay.com / Lizenz: https://www.pexels.com/de/fotolizenz/

Zwei Facetten eines Songs, die viel über die außerordentliche Kunst Ella Fitzgeralds aussagen. Sie war meisterhaft, wie sie sich auf ihre Musiker-Kollegen einstellte, wie sie den geforderten Sound erspürte, für sich umsetzte und den anderen zurückgab. Eine echte Jazzerin eben – und viel mehr als das: Peggy Lee, selbst eine erfolgreiche Sängerin, Texterin und Komponistin, sagte über Ella Fitzgerald, sie sei die „größte Jazz-Sängerin unserer Zeit“ und setze den Standard, an dem alle anderen gemessen werden.

Ein amerikanischer Traum

Das Leben Ella Fitzgeralds hat etwas von einem märchenhaften amerikanischen Traum: Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen bei ihrer Mutter auf, ihren Vater hat sie nicht gekannt. Am 25. April 1917 wurde sie in Newport News in Virginia geboren, zog mit ihrer Mutter, einer Hausangestellten, nach Yonkers in der Nähe von New York. Als sie vierzehn Jahre alt war, starb die Mutter; Ella kam ins Waisenhaus und lebte später bei einer Tante. Geld verdiente sie sich, indem sie auf der Straße tanzte; was sie sparen konnte, verwendete sie für Klavierstunden.

1934 überredete sie ein Freund, an einem Amateur-Wettbewerb im Harlem Opera House teilzunehmen. Ella sollte tanzen, hatte aber solches Lampenfieber, dass ihr die Beine zitterten. So schaltete sie schnell um und sang ein Lied des bekannten Stars Hoagy Carmichael mit dem Titel „Judy“. Die Zuhörer, so wird berichtet, applaudierten der Sechzehnjährigen heftig und beruhigten sich nicht, bis sie zu einer Zugabe bereit war.

Die zaghaften Schritte in eine professionelle Sängerinnen-Karriere führten sie zu einem Wettbewerb im damals berühmten Apollo Theater. Sie siegte und Bardu Ali, ein Mitarbeiter des Bandleaders Chick Webb sorgte dafür, dass Ella engagiert wurde. Webb ermöglichte der jungen, unerfahrenen Sängerin den Einstieg und eine erste Plattenaufnahme. 1935 sang Ella Fitzgerald „I’ll Chase the Blues Away” und „Love and Kisses”.

Kinderlied als Millionenhit

Auch ihr erster Millionenhit entstand, glaubt man den Erzählungen, eher zufällig: Der Arrangeur Van Alexander hörte, wie Ella am Klavier ein Kinderlied anspielte. Er schrieb eine eingängige Version und „A Tisket, A Tasket“, aufgenommen im Mai 1935, wurde ein riesiger Erfolg, der sich wochenlang an der Spitze der Hitparaden hielt.

Vier Jahre später war Ella Fitzgerald so bekannt, dass sie, als ihr Förderer Chick Webb starb, dessen Band übernahm. Sie war damals begeistert von Bebop, einer neuen Richtung im Jazz, künstlerisch anspruchsvoll, mit rhythmischen Freiheiten, komplexen Harmonien und langen Improvisationen. Ella Fitzgerald arbeitete eng mit Dizzy Gillespie zusammen. Für sich selbst entdeckte sie den „Scat-Gesang“, in dem Silben ohne Wortsinn gesungen werden, so, als sei die Stimme ein bloßes Instrument. Diese Technik entwickelte Ella Fitzgerald zur Perfektion.

Sie war schon eine Berühmtheit, als sie den Musikmanager Norman Granz kennenlernte. Er verhalf ihr zum internationalen Durchbruch. Von 1956 an entstanden ihre „Songbooks“ – Platten, auf denen sie bekannte Titel berühmter amerikanischer Komponisten interpretierte. Beginnend mit Cole Porter umfasste die Reihe bis 1964 acht Alben, gewidmet Größen wie Duke Ellington, Irving Berlin, George und Ira Gershwin oder Jerome Kern.

Legendär ist die Aufnahme von Gershwins „Porgy and Bess“ 1957 mit Louis Armstrong. Immer auf der Suche nach wirkungsvollen Hits nahm sie – so erzählte sie selbst dem Jazz-Kenner John Chilton – ein kleines Notizbuch mit ins Kino und notierte sich die Lieder, die ihr gefielen.

Die Liste ihrer Alben, die man auf der Webseite der Ella Fitzgerald Foundation finden kann, ist lang: Sie reicht von einem ersten Gershwin-Album 1950 über „Sweet Songs for Swingers“ (1959) und „Ella in Berlin: Mack the Knife“ (1960) bis zu ihren legendären Auftritten in Rom, Hamburg, Newport, London, Montreux und ihrem letzten Album „All That Jazz“ 1989.

In den letzten Jahren ihres Lebens machten ihr die Folgen der Diabetes schwer zu schaffen: Ella Fitzgerald erblindete. Am 15. Juni 1996 starb die „First Lady of Song“, die Königin unter den Jazz-Sängerinnen und eine der bedeutendsten Musikerinnen des 20. Jahrhunderts, in Beverley Hills.




Chopin mit Handbremse: Eine Wiederbegegnung mit dem Pianisten Alexej Gorlatch

Alexej Gorlatch am Konzertflügel (Foto: Gregor Willmes/ C. Bechstein)

Sein vielleicht spektakulärster Wettbewerbserfolg lag gerade ein Jahr hinter ihm, als Alexej Gorlatch seinen Einstand beim Klavier-Festival Ruhr gab. Der 1988 in Kiew geborene und seit 1991 in Deutschland lebende Pianist hatte beim ARD-Wettbewerb in München nicht nur den Ersten Preis, sondern auch den Publikumspreis und mehrere Sonderpreise gewonnen. Beim Klavier-Festival standen am 9. Juni 2012 im Harenberg City Center Dortmund Balladen von Johannes Brahms, Préludes von Claude Debussy und Etüden von Frédéric Chopin auf seinem Programm.

Anfang dieses Monats fiel Gorlatch die Ehre zu, eine Klavierabend-Serie im Konzerthaus Berlin zu eröffnen. Obgleich die Reihe nicht neu war, handelte es sich bei diesem Abend doch um eine Premiere. Denn die kleine, aber feine Veranstaltungsreihe der traditionsreichen Klavierbaufirma C. Bechstein musste überraschend umziehen, nachdem im Verkaufszentrum im Stilwerk an der Kantstraße plötzlich kein Platz mehr für sie war. Indes könnte sich das neue Domizil am Gendarmenmarkt als Glücksfall erweisen. Mitten in der Stadt gelegen und ohnehin ein starker Magnet für Musikfreunde, dürfen die Bechstein-Abende mit jungen Meisterpianisten nun im Kleinen Saal des Hauses Strahlkraft entfalten.

Gorlatch, seit dem Wintersemester 2016/17 Professor für Klavier an der Hochschule für Musik und Tanz in Frankfurt a.M., hatte für diese Gelegenheit ein reines Chopin-Programm gewählt. Er eröffnete den Abend mit der Polonaise-Fantaisie op. 61, deren freie Form ihm einige Probleme zu bereiten schien. Obgleich Gorlatch seinen lyrisch-schönen Klang aufscheinen ließ, verzettelte er sich im Geflecht der Mittelstimmen und schien Mühe zu haben, die Komposition auf einen Zielpunkt hin zu spielen.

Zwei Blöcke von jeweils 4 Mazurkas (op. 67 und op. 68) kamen dem Künstler an diesem Abend mehr entgegen. Hier konnte er einen warmen Erzählton entfalten, seine Spiellust in eine kleinere, überschaubarere Form fließen lassen. Warum der wechselnde Charakter dieser tänzerischen Kleinodien an diesem Abend eher kontrastarm blieb, warum Gorlatch häufig unfrei und steif wirkte, kann nicht schlussendlich erklärt werden. Fühlte der Künstler sich durch die aufzeichnenden Mikrofone gehemmt? Auf seinen ersten CDs hatte der Pianist sich als vorzüglicher Chopin-Interpret empfohlen.

Alexej Gorlatch ist Professor für Klavier in Frankfurt a.M. (Foto: Monika Lawrenz)

Es dauerte bis zum berühmten Trauermarsch der Sonate Nr. 2 b-Moll, bis die Musikalität des einstigen Kämmerling-Schülers allmählich frei wurde. Mit dunkel brodelnden Bässen ging Gorlatch die Sonate an, löste sich nun auch allmählich von der bis dahin viel zu einheitlichen Dynamik. Der atemlose, quasi knochenlose Finalsatz jagte trefflich verwischt und verschwommen am Ohr vorbei. Wunderbar gefühlvoll gelang im Anschluss die Berceuse Des-Dur op. 57. Im sanften Wiegen-Rhythmus ließ der Pianist seine viel gerühmte Nuancierungskunst aufscheinen. Vor allem die Spieluhr-Lieblichkeit im Diskant ließ aufhorchen.

Das Scherzo Nr. 2 b-Moll glich im Anschluss mehr einem Brillier- als einem Nachtstück. Gorlatchs pianistisches Vermögen steht dabei außer Zweifel: Gewiss kann man dieses Stück auch von berühmteren Pianisten mit viel mehr falschen Tönen hören. Vielleicht war aber genau dies das Problem. Der Künstler schien kein Risiko eingehen zu wollen, zumindest nicht an diesem Abend in Berlin.

Wer sich in NRW ein Bild vom Spiel des Pianisten machen möchte, hat dazu übrigens bald Gelegenheit. Von Mitte Juni an wird der Künstler wieder in NRW gastieren: zum Beispiel im Teo Otto Theater in Remscheid (15. Juni 2017), im Theater und Konzerthaus von Solingen (16. Juni), im Theater Marl (17. Juni) und im Beethoven-Haus Bonn (1. August).

(Weitere Informationen auf der Website des Künstlers: http://alexej-gorlatch.com/aktuell/)




Blumiges im Übermaß: Die New Yorker Philharmoniker spielen Werke von Béla Bartók und Gustav Mahler in Essen

Alan Gilbert, Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, beim Konzert in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz).

Die Qual der Wahl ist zuweilen nicht gering für Musikfreunde im Revier. Zu berichten ist von einem Sonntag, an dem die Wiener Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund gastierten, während das New York Philharmonic Orchestra in Essen spielte. Zugleich brachte das Theater Dortmund eine  Neu-Inszenierung von Giuseppe Verdis „Otello“ heraus. Und das Essener Aalto-Theater zeigte Richard Wagners „Lohengrin“.

Die New Yorker, zuletzt im Mai 2013 in der Philharmonie Essen zu Gast, eröffneten den Abend mit einem der bedeutendsten Werke des Ungarn Béla Bartók. Die „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ aus dem Jahr 1936 erreicht eine hohe psychologische Dichte, bleibt aber zugleich abgründig und rätselhaft. Die Instrumentengruppen samt Klavier, Celesta und Schlagwerk musizieren auf ausgesprochen kammermusikalische Weise miteinander. Das ist kein Zufall, entstand das Werk doch im Auftrag des Schweizer Mäzens Paul Sacher, dessen Basler Kammerorchester das Stück auch zur Uraufführung brachte.

Unter der Leitung von Chefdirigent Alan Gilbert, dem ersten gebürtigen New Yorker auf dieser Position, entfalten die Musiker das eröffnende Andante tranquillo wie ein feines Gespinst. Im leisen Pianissimo-Gemurmel der Streicher tauchen verblüffende Farbmischungen auf, die uns den Einsatz einer Flöte oder einer Oboe vorgaukeln, obschon kein einziger Bläser auf dem Podium sitzt.

Die New Yorker glänzen auch in den folgenden drei Sätzen durch Fingerspitzengefühl: Sei es im rhythmisch durchpulsten Allegro, das Momente brodelnder Intensität erreicht, oder im ausgelassenen Finalsatz mit seinen bulgarischen Tanz-Rhythmen, durch den die Streicher so famos surren wie ein Schwarm zorniger Hornissen. Zum exquisiten Hör-Erlebnis gerät das Adagio, das mit seinen Paukenglissandi und Celesta-Klängen eine sonderbar verschwommene Atmosphäre schafft. Hin und wieder tropft ein Xylophon-Ton in diese traumgleiche Wolkigkeit hinein, prallt hart an unser Ohr, ohne die Nebel zu zerreißen.

Alan Gilbert, die Sopranistin Christina Landshamer und die New Yorker Philharmoniker. (Foto: Sven Lorenz)

Wie zwiespältig die „himmlischen Freuden“ sind, von denen Gustav Mahler in seiner vierten und vermeintlich lyrischsten Sinfonie kündet, erfassen Alan Gilbert und die New Yorker Philharmoniker indes nicht. Sie zeichnen ein nahezu ungebrochenes Idyll, das zwar feine kammermusikalische Differenzierung und scharfe Akzente kennt, aber wenig von den schwarzen Abgründen erzählt, an denen diese Musik auf gefährlich schmalem Grat entlang wandert. Stattdessen jede Menge Blumenwiese, oft mit so unbefangener Direktheit ausgemalt wie ein klangprächtiger Walzer von Tschaikowsky.

So ländlert und walzert Mahlers Vierte wunderbar schön, aber recht harmlos vor sich hin. Gilberts Entscheidung, den Bläsern keine Podeste zu geben, hatte zudem unglückliche Folgen für die Klangbalance. In dem Bemühen, gegen den Streicherapparat anzukommen, übertrieben die Hörner, bis ihre Soli überpräsent tönten. Trompeten und Posaunen wirkten hingegen wie entfernt. Der Sopran von Christina Landshamer gefiel durch mädchenhaft leuchtende Farben, war aber auch leise und wenig textverständlich.

Gustav Mahler persönlich stand diesem Orchester von 1909 bis 1911 als Chefdirigent vor. Unvergessen auch, mit welcher Emphase sich Leonard Bernstein an der Spitze der New Yorker Philharmoniker für Mahlers Sinfonien einsetzte. Der jüngste Abend in Essen wirft die Frage auf, was aus diesem Erbe geworden ist.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).

Informationen zum Spielplan der Philharmonie Essen: http://www.philharmonie-essen.de/konzerte/2017-4.htm)




Vergnügliche Kunst im musikalischen Zirkus: Artistische Rhythmus-Experimente in Gelsenkirchen

Das Artistische in der klassischen Musik ist erst in den überaus ernsten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Verruf geraten – und das auch vornehmlich in den Revieren kompositorischer Grübler und Grantler. Weder ein „Teufelsgeiger“ wie Niccolò Paganini noch eine Koloraturnachtigall wie Erna Sack scherten sich um „Material“. Sie führten einfach lustvoll vor, wie perfekt sie ihre mühelos scheinende Technik beherrschten.

Nerses Ohanyan. Foto: Neue Philharmonie Westfalen

Nerses Ohanyan. (Foto: Neue Philharmonie Westfalen)

Heute ist der Ingrimm der Kategorien zum Vergnügen des Publikums verblasst – und davon profitieren Musiker wie der 28-jährige Flötist Nerses Ohanyan. Im Musiktheater im Revier versetzte er die – leider viel zu wenigen – Zuhörer im Kleinen Haus in Staunen: Beatboxing heißt die Kunst, mit der er sein Flötenspiel aufpeppt. Eine eigentlich uralte Kunst, die vor allem im Hip Hop wiederbelebt wurde und sich in den letzten zwanzig Jahren weit verbreitet hat.

Die Musiker beziehen sich dabei weniger auf die amerikanischen und afrikanischen Ursprünge. Sie imitieren vielmehr die Geräusch-Percussion früherer Rhythmusmaschinen. Diese drum machines kamen seit den sechziger Jahren in der elektronischen und der Pop-Musik zum Einsatz.

Percussion mit Mund, Zunge, Rachen und Körper

Musiker wie Ohanyan entwickeln eine phänomenale Virtuosität und Präzision beim Nachahmen der rhythmischen Geräusche. Der aus dem armenischen Jerewan stammende Ex-Student der Essener Folkwang Universität der Künste spielt gleichzeitig Flöte dazu. Eine perfekte Kombination, findet Ohanyan: Seine Luft reicht für die Flöte und die Percussion, die er mit Mund, Zunge, Rachen und Körper erzeugt. Wie, das verrät der Künstler natürlich nicht.

So wird die Flöte zum rhythmusgestützten Melodie-Instrument, kann aber auch selbst perkussiv eingesetzt werden wie in der Zugabe, einer Bearbeitung von Mozarts berüchtigtem „Rondo alla turca“. Wie ein Virtuosenkonzert alten Zuschnitts kommt „Native Tongues“ daher, ein Konzert für Beatbox-Flöte und Streichorchester, geschrieben von dem Amerikaner Randall Woolfe – einem experimentierfreudigen Komponisten, der weder vor dem Populären noch vor der musikalischen Zirkusnummer zurückschreckt. 2010 uraufgeführt, zeigt sich das Stück beeinflusst von Hip Hop wie Minimal Music und vermittelt vor allem das Staunen über die phänomenale Konzentration, Präzision und Schnelligkeit, mit der Nerses Ohanyan seinen Part zum Besten gibt.

Mit Lust und Laune bei der Sache

Mit dem Rhythmus als Kategorie des Komponierens spielt auch das Eingangsstück des Konzerts, „Zoom and Zip“ von Elena Kats-Chernin. Die in ihrer Wahlheimat Australien gefeierte, vielseitige Komponistin lässt Celli und Kontrabass einen stampfenden, maschinellen Offbeat spielen, der im Zeitmaß vergrößert irgendwann zur Melodie wird, während die sich herausbildende Melodie der Violinen sich zu einem Rhythmus verdichtet. In der Mitte des Stücks lässt eine weit schweifende Elegie die Dynamik der Bewegung vorübergehend zur Ruhe kommen. Eine hübsche Studie, die an Kultorten der Neuen Musik wie Donaueschingen vermutlich für einen Eklat gesorgt hätte.

Enrico Calesso. Foto: Falk von Traubenberg/Mainfranken Theater Würzburg

Enrico Calesso. (Foto: Falk von Traubenberg/Mainfranken Theater Würzburg)

Die Streicher der Neuen Philharmonie Westfalen lassen sich auf diese unterhaltsamen und überraschenden Spielereien mit Lust und Laune ein. Gastdirigent Enrico Calesso, Generalmusikdirektor in Würzburg, zeigt bei seinem Debüt in Gelsenkirchen Humor und Temperament, fordert Präzision, aber auch animierten Schwung.

Haydn als Vorläufer

Den gibt der berührungsangstfreie Italiener auch einem „Vorläufer“-Werk der rhythmisch bestimmten Entdeckungen im Programm dieses Konzerts mit: Joseph Haydns D-Dur-Sinfonie mit der Nummer 86, eine der „Pariser“ Sinfonien, setzt rhythmische Figuren als kennzeichnendes und sogar strukturbildendes Element ein.

Der erste Satz beginnt mit einer harmlos wirkenden Auftakt-Figur aus drei Achteln, die sich dann als scharfes Dreier-Staccato durch den ganzen Satz ziehen und das „Allegro spiritoso“ energisch vorwärts drängen. Haydn spielt mit den Achtelfiguren auch in der Motivik und zeigt sich überdies in der Themen- und Tonarten-Entwicklung zu reizvollen Überraschungen aufgelegt. Mit Tonrepetitionen schafft auch das Menuett eine Beziehung zu seinen Nachbarsätzen; Violine und Fagott ergeben im Trio eine aparte Klang-Kombination.

Der letzte Satz ist mit einer einen Ton fünf Mal wiederholenden Figur rhythmisch befeuert und bekräftigt noch einmal Haydns Absicht, in dieser Sinfonie für das verwöhnte, aber auch wohl seine Hörgewohnheiten liebende Pariser Publikum eine qualitätsvolle, von Überraschungen und subtilem Humor geprägte Probe seines Könnens zu liefern.

Calesso signalisiert den Musikern eine scharfe, den rhythmischen Esprit betonende Artikulation und ein flottes Tempo, dem die Neue Philharmonie Westfalen geschmeidig folgt. Die kurzen, betonten Noten kommen auf dem Punkt – das Hör-Vergnügen lässt nicht auf sich warten.

 




Mozart in der Manege: Patricia Kopatchinskaja und Teodor Currentzis loten die Freiheit des Interpreten aus

Patricia Kopatchinskaja ist auf ihrem Instrument ebenso vielseitig wie technisch überragend (Copyright: Marco Borggreve)

Im Schauspiel gehört das längst zum Alltag: Regisseure setzen Faust „nach Goethe“ in Szene oder Hamlet „nach Shakespeare“. Stücke werden zu ungefähren Handlungsanweisungen, zu Steinbrüchen, aus denen man hie und da größere Brocken heraus schlägt, um dann wieder Fremdes in sie hinein zu montieren: Nietzsche, Freud, Dostojewski, egal.

Im Konzerthaus Dortmund war jetzt freilich eine Seltenheit zu erleben: ein Violinkonzert in D-Dur nach Wolfgang Amadeus Mozart. Vom Köchelverzeichnis möchten wir erst gar nicht anfangen. Die Freiheit des Interpreten bis an die Grenzen und darüber hinaus zu treiben, haben sich die Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der Dirigent Teodor Currentzis zusammen getan, der mit seinem 2004 gegründeten Originalklang-Ensemble „MusicAeterna“ in Dortmund gastierte.

„Bloß keine Klangschönheit!“, scheint die Kopatchinskaja sich selbst für ihre Interpretation ins Stammbuch geschrieben zu haben. Sie verpasst Mozarts galantem Stil eine Kratzbürsten-Ästhetik mit lachhaft spitzigen Staccati und einer gehörigen Portion Geräuschhaftigkeit. Wo sich Klangschönheit kaum vermeiden lässt, zumal in den Kantilenen des Andante, verhaucht sie ihren Ton bis zur Unkenntlichkeit. Sie staucht und dehnt Tempi, als wolle sie gegen die Verbindlichkeit des Metrums rebellieren.

Patricia Kopatchinskaja
(Foto: Marco Borggreve)

Für den Mut eigene, halb improvisierte Kadenzen zu spielen, mögen wir diese überragende Geigerin nicht im Geringsten tadeln. Auch nicht dafür, dass sie auf zeitgenössische Weise mit dem thematischen Material umgeht. Schließlich montierte Gidon Kremer schon in den 1970er Jahren eine Kadenz von Alfred Schnittke in Beethovens Violinkonzert hinein. Dabei blieb er freilich hoch seriös.

Die Kopatchinskaja aber versteigt sich zu Albernheiten, die im Saal Gekicher und Gelächter auslösen. Sie kaspert mit dem Solo-Oboisten herum und nimmt die Bordun-Töne im Schluss-Satz zum Anlass, eine Art Irish-Fiddler-Wettbewerb mit den Streichern des Orchesters zu eröffnen. Spiellaune schlägt um in Unfug.

Spätestens jetzt ist der Zirkus im Konzerthaus angekommen. Mozart selbst, keiner Albernheit abhold, hätte über derlei Clownerien womöglich herzlich gelacht. Das Publikum scheint sich mehrheitlich wie Bolle zu amüsieren. Ob Mozarts Werk damit gedient ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Teodor Currentzis, 1972 in Athen geboren, ist Künstlerischer Leiter der Staatsoper im russischen Perm. (Foto: Aleksey Gushchin)

Es ist am Ende Teodor Currentzis zu verdanken, dass aus diesem Konzertabend dann doch ein sehr gelungener wird. Das vermeintliche Enfant terrible der aktuellen Dirigentenszene zeigt sich in Dortmund als gewissenhafter Vertreter der historischen Aufführungspraxis, wie wir sie seit Nicolaus Harnoncourt, Sir Roger Norrington, Thomas Hengelbrock und vielen anderen kennen. Nicht viel unterscheidet Currentzis’ Interpretationen von Mozarts „kleiner“ g-Moll-Sinfonie (Nr. 25 KV 183) und Beethovens „Eroica“ an diesem Abend von den genannten Vorläufern. Charakteristisch ist ein Hang zur Überakzentuierung und zu extrem schnellen Tempi, die aus manchem Stück einen Sprint machen. Sechzehntel-Ketten der Streicher klingen unter seiner Leitung gerne hitzig erregt wie ein Fieberschauer.

Die Aura des Rebellen, der wie ein Sturmwind aus dem russischen Perm daher gefegt kommt, um die Klassik-Szene gehörig durcheinander zu wirbeln, mag von findigen Marketing-Strategen erfunden und gepflegt worden sein. Wo die Werbung einen Messias verspricht, erleben wir einen jungen, musikbesessenen Dirigenten, der sein Orchester zu erfrischend kontrast- und spannungsreichem Spiel animiert.

Größere Schockwirkungen bleiben aus: Weder gibt es einen Brachial-Mozart zu bestaunen noch einen Rüpel-Beethoven. Und das wilde und lautstarke Fußstampfen auf dem Podium scheint er sich mittlerweile weitgehend abgewöhnt zu haben. Begeisterter Beifall.

Informationen zum Programm des Dortmunder Konzerthauses: http://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/?layout=grid

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Große Bekenntnismusik – das Quatuor Danel interpretiert Streichquartette von Weinberg und Schostakowitsch

Das belgische Quatuor Danel besticht durch äußerst subtiles Spiel. (Foto: Ant Clausen)

Im vergangenen Jahr feierte das belgische Quatuor Danel sein 25jähriges Bestehen. Längst ist es auf vielen Podien der Welt zu Gast, doch noch immer gilt dieses Streichquartett als Geheimtipp, zumindest in unseren Breiten. Das sollte sich dringend ändern: Marc Danel und Gilles Millet (1./2. Violine), Vlad Bogdanas (Bratsche) und Yovan Markovitch (Cello) sind in ihrem subtilen, expressiven und hoch konzentrierten Spiel ein fabelhaftes Ensemble. Das hat jetzt ihr Auftritt im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier (MiR), mit Werken von Mieczyslaw Weinberg und Dmitrij Schostakowitsch, aufs Eindrucksvollste bewiesen.

Der Abend gehört zum attraktiven, sehr umfangreichen Begleitprogramm, das sich um die Aufführung von Weinbergs Oper „Die Passagierin“ rankt. Das musikalische Drama um eine ehemalige KZ-Aufseherin, die auf einer Schiffsreise nach Südamerika einem ihrer ehemaligen Opfer begegnet, wurde im Januar von Gabriele Rech bewegend in Szene gesetzt.

Doch der Pole Weinberg, dessen Familie im Holocaust umkam, und der selbst schon 1939 in die Sowjetunion emigrierte, hat unendlich viel mehr komponiert als diese Oper, darunter allein 17 Streichquartette. Das Bestreben des MiR, dieses Œuvre zumindest ein wenig aufzufächern, ist dem Haus hoch anzurechnen.

Mit dem Quatuor Danel hat man vier Experten eingeladen, die sowohl alle Streichquartette von Schostakowitsch als auch von Weinberg eingespielt haben. Beide Komponisten verband eine innige Freundschaft, das Werk des jüngeren Polen verweist im übrigen nicht selten auf die Musik des Russen.

Doch von bloßer Apologetik kann keine Rede sein, das zeigt die Programmauswahl des Abends: Weinbergs 5. und 16. Quartett umrahmen das 10. von Schostakowitsch. Ähnlichkeiten sind natürlich unüberhörbar, aber jeder pflegt doch seine eigene „Sprache“. En détail kitzelt das Quatuor Danel die jeweilige Idiomatik so präzis wie lustvoll heraus.

Weinberg schrieb sein 5. Quartett 1945. Das fünfsätzige Werk kommt oft in karger Faktur daher, der Beginn etwa (Melodia) oder die „Improvisation“ wird überwiegend von der 1. Violine intoniert. Es ist eine ganz eigene, etwas verhangene lyrische Intimität, die so entsteht, ein bittersüßer Tonfall, der ohnehin wesentliches Merkmal von Weinbergs Musik ist. Marc Danel gestaltet diese Solostellen betörend schön und intensiv, seine Mitstreiter, vor allem Cellist Yovan Markovitch, steuern wunderbare Klangflächen oder delikate Gegenstimmen bei.

Andererseits können diese vier Streicher durchaus zupacken, das Scherzo des 5. Quartetts wird so an Schostakowitschs Sarkasmus herangerückt. Gleichwohl bleibt die Distanz: Bei Weinberg regiert eher der subtile Spott. Und die Interpretation des Quatuor Danel lässt mehr an die robusten Attacken Beethovens denken. Die vier Musiker legen dabei bisweilen einen geradezu stoischen Zugriff an den Tag – sehr wirkmächtig ist das, gar nicht mechanisch.

Noch intensiver gerät die Deutung von Weinbergs Streichquartett Nr. 16, komponiert 1981, zum Andenken seiner im KZ ermordeten Schwester. Fahle Klänge wechseln mit wild herausfahrenden, dissonanten Passagen, die mitunter wie ein Aufbäumen wirken. Die Elegie des 3. Satzes atmet Trauer und Schmerz, das Finale gleicht einem zärtlich ummantelten Totentanz. Neben dem jüdischen Idiom, das dieses Werk durchzieht, fällt zudem die Nähe zu Bartók auf.

Beide Weinberg-Stücke umschließen Schostakowitsch 10. Quartett, das der Russe seinem jüngeren Freund gewidmet hat. Es beginnt eher verhalten, das Staccato-Thema erfährt einige Varianten ohne wirkliche Entwicklung, und nur die gespenstisch enervierenden Repetitionen lassen Unruhe ahnen. Die bricht im Allegretto furios, energisch, mit schroffen Akzenten heraus, im scharfen Kontrast zur Klage des 3. Satzes mit seinen fahlen, wie weltverlorenen Klangmischungen. Das Finale greift auf vorherige Motive zurück, verliert zunehmend an Dichte, und wo eben noch Rausch, herrscht letztlich das karge Verlöschen.

So zelebriert das Quatuor Danel einen Abend mit facettenreicher Bekenntnismusik. Das ist so spannend wie herzergreifend, in keinem Falle aber sentimental. Ein außerordentliches Konzert.

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Nächstes Ereignis des Weinberg-Programms am MiR ist ein Gesprächskonzert mit dem Geiger Linus Roth und dem Pianisten José Gallardo am 26. März 2017 im Kleinen Haus (18 Uhr). Es erklingen wiederum Werke von Weinberg und Schostakowitsch. Info unter www.musiktheater-im-revier.de




Großereignis, Oberhammer: Die viertägige „Ruhr Residenz“ der Berliner Philharmoniker

Sir Simon Rattle am Pult der Berliner Philharmoniker (Foto: Monika Rittershaus)

Gleich fällt er, der Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht. 2000 Menschen beobachten in der ausverkauften Philharmonie Essen gebannt, wie sich der Kopf des Riesen-Holzhammers hebt, den ein Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker jetzt hoch über sein Haupt schwingt. Dann saust das mehr als vier Kilo schwere Mordsding nieder, mit einem Dröhnen und Krachen, das die Eingeweide erschüttert und das Herz niederschmettert.

Gustav Mahlers 6. Sinfonie, apokalyptisch düster, verwehrt uns ein glückliches Ende, eine triumphale Apotheose, wie wir sie aus anderen Sinfonien des Komponisten kennen. Den Schlussjubel muss diesmal das Publikum übernehmen. Im gleichen Haus, in dem Gustav Mahler selbst im Mai 1906 die Uraufführung dieses monumentalen Werks dirigierte, bricht nun ein mit Bravorufen durchsetzter Beifallssturm los.

So feiern die Essener Musikfreunde das deutsche Vorzeige-Orchester und seinen Chefdirigenten Sir Simon Rattle, der diese Position nach nunmehr 15 Jahren aufgeben wird, um 2018 zum London Symphony Orchestra zu wechseln. Sein Nachfolger Kirill Petrenko wird die Arbeit erst im Jahr 2019 voll aufnehmen, zuvor aber schon als Gast präsent sein.

Für das Orchester ist dieser Abend der Abschluss einer viertägigen Tour de force, genannt „Ruhr Residenz“, die durch gemeinsame Bemühungen des Dortmunder Konzerthauses und der Philharmonie Essen Wirklichkeit wurde – sowie durch die Unterstützung einiger finanzkräftiger Sponsoren.

Im Gepäck hatten die Berliner ein wahres Mammut-Programm. Zweimal, in Dortmund und in Essen, führten sie György Ligetis vertrackt hintersinnige Oper „Le Grand Macabre“ in einer halbszenischen Fassung von Peter Sellars auf. Sie spielten zwei Mahler-Sinfonien und streuten, als sei das noch nicht kräfteraubend genug, Perlen ein wie György Ligetis Violinkonzert, sein berühmtes Orchesterstück „Atmosphères“ und Richard Wagners Vorspiel zu „Lohengrin“.

Edles Ensemble für Ligetis „Le Grand Macabre“

Der „große Makabre“ landet bei Regisseur Peter Sellars im Atomzeitalter. Hier sehen wir den Fürsten Gogo (Anthony Roth Costanzo, Mitte) und seine Getreuen (Foto: Monika Rittershaus)

Es dürfte lange, vermutlich sogar sehr lange dauern, bis man György Ligetis groteske Weltuntergangs-Oper in annähernd vergleichbarer musikalischer Brillanz zu hören bekommt. Keiner in dieser Sänger-Riege, dessen stimmliches Vermögen nicht das Staunen lehrt: Sei es der wirkmächtige Bariton von Pavlo Hunka, der dem Sensenmann (alias Nekrotzar) brutale Untertöne gibt, der gelenkige Tenor von Peter Hoare, der als Piet vom Fass halsbrecherische Intervallsprünge meistert, oder Frode Olsen, dessen Bass als Hof-Astrologe Astramadors wie von ständiger Übererregung vibriert. Sie seien stellvertretend für das Ensemble herausgehoben, in dem sich so edle Namen wie der von Anna Prohaska finden. Über allem irrlichtert zudem der Wahnsinns-Sopran von Audrey Luna, die sich zunächst als Venus in stratosphärische Höhen schwingt und als Geheimdienstchef „Gepopo“ so lange artistische Kapriolen in höchster Lage schlägt, bis man nicht mehr an die Kraft der Erdanziehung glaubt.

Der Rundfunkchor Berlin übt sich in Volkszorn gegen den Fürsten Gogo (Foto: Monika Rittershaus)

Der exzellente Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Gijs Leenaars) und die Berliner Philharmoniker steigen mit der gleichen packenden Spielfreude in das Geschehen ein, das auf einem absurden Theaterstück von Michel de Ghelderode basiert. Wenn der Volksaufstand gegen Fürst Gogo seinen Höhepunkt erreicht, skandieren Choristen und Musiker mit vereinter Kraft gegen den Machthaber. Wie schön, dass der angekündigte Weltuntergang am Ende doch entfällt, denn zum Glück hat sich der große Makabre mit Piet vom Fass und dem Hof-Astrologen kräftig besoffen. Der große Nekrotzar verpennt schlicht seinen Einsatz.

Warum die Inszenierung von Peter Sellars wiederbelebt wurde, über die György Ligeti bei der Aufführung 1997 bei den Salzburger Festspielen wenig erfreut war, bleibt freilich rätselhaft. Sellars macht aus Ligetis grotesker Anti-Anti-Oper kurzerhand ein Anti-Atomkraft-Stück. Fässer mit dem Warnzeichen für radioaktive Strahlung prägen die Bühne, Video-Sequenzen aus dem zerstörten Reaktor von Tschernobyl erheischen Betroffenheit. Damit stülpt Sellars dem Werk einen Bierernst über, der quer steht zu Ligetis skurrilem Humor: Der Komponist selbst sprach von einer „semantischen Subversion“ seines Werks.

Das sagenhafte Spiel der Patricia Kopatchinskaja

Die temperamentvolle Geigerin Patricia Kopatchinskaja präsentierte eine spektakuläre Lesart des Violinkonzerts von György Ligeti (Foto: Monika Rittershaus)

Umso spektakulärer gelingt die Aufführung von Ligetis Violinkonzert durch die moldawisch-österreichische Geigerin Patricia Kopatchinskaja im Konzerthaus Dortmund. In dem knapp halbstündigen, Saschko Gawriloff gewidmeten Werk dialogisiert die Geige mit einem Orchester von nur 25 Musikern. Der Komponist verwendet dabei exotische Instrumente wie die Okarina oder die asiatische Lotusflöte. Die Streichinstrumente sind teils verstimmt und erzeugen so neuartige Klangeffekte.

Es spottet jeder Beschreibung, wie die Kopatchinskaja den extrem virtuosen Solo-Part meistert. Wie üblich barfuß auftretend, wird sie auf der Bühne zu einem Irrwisch, der das Werk mit einer gleichermaßen nervösen wie furiosen Energie auflädt. Ihre Finger rasen über das Griffbrett, sind scheinbar überall zugleich. Man kann das gar nicht so schnell hören, wie die Geigerin das spielt. Wie um alles in der Welt schafft sie es, derart hoch komplexe Rhyhtmen in die Saiten zu fetzen? Fast lässt ihre lustvolle Vehemenz uns glauben, dass dieses Werk für sie geschrieben sei – und für sie allein.

Patricia Kopatchinskaja im musikalischen Wettstreit mit einem Geiger der Berliner Philharmoniker (Foto: Monika Rittershaus)

Wie eine Schauspielerin steigert sie sich in musiktheatralische Momente à la Mauricio Kagel hinein. Diese Frau kann alles gleichzeitig: Geige spielen und singen, Geige spielen und schauspielern, Geige spielen und eine Flut von Geräuschen und Lauten von sich geben. Weil Außergewöhnliches nach außergewöhnlichen Mitteln verlangt, möge die Ich-Form an dieser Stelle bitte verziehen werden: In meinem ganzen bisherigen Leben habe ich auf der Konzertbühne nichts Vergleichbares gesehen und gehört. Dabei geht es dieser Künstlerin ganz gewiss nicht um Showeffekte oder gar um Selbstdarstellung. Es ist sagenhaft.

Klangpracht für Mahler-Sinfonien

Auswendig dirigierte Sir Simon Rattle die Sinfonien Nr. 4 und Nr. 6 von Gustav Mahler (Foto: Monika Rittershaus)

Zwei Mahler-Sinfonien standen in diesen Tagen ebenfalls auf dem Programm: In Dortmund zunächst die 4. Sinfonie G-Dur, die im Schlussgesang von den „himmlischen Freuden“ kündet. Mag die merkwürdig schwammige Tempo-Gestaltung zunächst auch irritieren, ja den ersten beiden Sätzen gar eine klare Kontur verwehren, schmälert das den Musikgenuss doch erstaunlich wenig. Das liegt an der Klangpracht, die jede einzelne Instrumentengruppe dieses Orchesters zu entfalten weiß. Das österreichische Idiom, die Ländler- und Walzer-Anklänge taumeln uns zu verführerisch entgegen, um sich lange an Kritik aufzuhalten. Der ruhige Fluss des dritten Satzes führt dann vollends in andere Sphären. Die Berliner Philharmoniker fächern ihren Klang auf, bis eine Orgel aus der Ferne zu uns herüber zu klingen scheint. Jede harmonische Wendung rückt weiter von allem Irdischen ab. Erst die süße Beschwörung des „himmlischen Lebens“ durch die Sopranistin Camilla Tilling wird wieder vom scharfen Klang der Narrenschellen kommentiert, die wir bereits vom Beginn der Sinfonie kennen.

Einige Streicher der Berliner Philharmoniker in Aktion (Foto: Monika Rittershaus)

Den monumentalen Schlusspunkt setzt das Orchester mit der 6. Sinfonie a-Moll in der Philharmonie Essen. Mit scheinbar unerschöpflichen Kraftreserven werfen sie sich in die düsteren Märsche dieser Musik, stets vorangetrieben von der kleinen Trommel, die kaum einen Moment des Atemholens zulassen will. Immerzu! Immerzu! Ohne Rast und Ruh! So geht das voran in düsteren und grellen Farben, in einem zunehmend wilden Schlachtenlärm, der brachiale Züge annimmt.

Guter Geist der Kooperation

Aber die Berliner ermüden nicht und lärmen nicht. Bei ihnen führt das Getümmel von einer erregenden Klang-Eruption zur nächsten. Wenn der berühmte Hammer schließlich fällt, stampft er die Musik förmlich zu Brei. Sie stockt, zerfasert, versinkt endgültig ins Dunkel. Ende. Aus. Der Jubel ist grenzenlos.

Es war der Geist der Kooperation, der die kostspielige Ruhr Residenz der Berliner überhaupt erst möglich machte. Etwaige Konkurrenz im Alltag beiseite lassend, zogen die Leitungsteams des Konzerthaus’ Dortmund und der Philharmonie Essen an einem Strang, um das Großereignis wahr werden zu lassen. Gewonnen haben dabei alle, die beiden renommierten Häuser ebenso wie die Musikfreunde der Region.




Das Fundament zur Musik: Dortmunder Festival „Klangvokal“ präsentiert die Vielfalt des Singens

Bild: Festival Klangvokal Dortmund

Titelmotiv des Programmbuchs (Bild: Festival Klangvokal Dortmund)

Georg Philipp Telemann, vor 250 Jahren in Hamburg verstorben, prägte einen berühmten Satz. Singen, so schreibt er in einem Brief an Johann Mattheson, sei „das Fundament zur Musik in allen Dingen“. Komponisten wie Instrumentalisten sollten des Singens kundig sein. „Also präge man das Singen jungen Leuten fleißig ein“.

So gesehen, müsste Dortmund eine der musikalischsten Städte in Deutschland sein, denn hier wird eifrig gesungen: Rund 300 Chöre und Vokalensembles soll es in der Stadt und ihrem Umfeld geben – und 130 von ihnen lassen zum neunten Mal beim „Fest der Chöre“ zwischen St. Reinoldi und St. Petri lebendig erleben, welche Vielfalt des gemeinsamen Singens möglich ist: vom diffizilen Chorsatz bis zum kraftvollen Volkslied, vom Gospel bis zum Shanty, von liturgischem Gesang bis zum Popsong. Am Samstag (17. Juni) also wird es in der Dortmunder Innenstadt an allen Ecken und Enden klingen, beginnend mit dem gemeinsamen Singen um 12 Uhr auf dem Alten Markt, ein Ereignis, das in den vergangenen Jahren stets Tausende von Besuchern angezogen hat.

Weit über die Grenzen hinaus

Das Chorfest ist Teil des ehrgeizigen Festivals „Klangvokal“, das seit 2009 immer wieder für künstlerische Höhepunkte gesorgt hat – man denke allein an die Deutsche Erstaufführung der Urfassung von Giacomo Puccinis früher Oper „Edgar“ oder an Franz Schmidts monumentales Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ im letzten Jahr. Das Musikfest hat aber auch den Blick geweitet über Grenzen der Gattungen, der Länder und der Kontinente hinaus: Wie singen die Menschen in Aserbeidschan oder in Zypern?

In diesem Jahr steht von 28. Mai bis 25. Juni in 20 Veranstaltungen so etwas wie eine Selbstvergewisserung an: Wie klingt eigentlich die „Heimat Europa“? Wie verändert sich Vokalmusik im Lauf der Jahrhunderte? Was nimmt sie an Einflüssen in sich auf? Wie sieht die Zukunft des Singens aus zwischen technisch perfektem, ausziseliertem Belcanto und vulgär deklamiertem Rap?

Enorm hoher Anspruch

Festival-Direktor Torsten Mosgraber hängt den Anspruch hoch: „Mit dem Thema ‚Heimat Europa‘ begleitet das Klangvokal Musikfestival Dortmund den aktuellen Diskurs um die Zukunft auf unserem Kontinent und belebt ihn mit vokalmusikalischen Kostbarkeiten vom 14. Jahrhundert bis heute.“ Wenn das nicht nur wohlfeiler Marketing-Sprech bleiben soll, hat sich das Festival-Team einiges vorgenommen.

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. Foto: Derek Blanks

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. (Foto: Derek Blanks)

Das Programm, wenn man es so lesen will, behauptet zunächst den klassischen Belcanto als Ausgangspunkt des Singens: Bei der Eröffnung am Sonntag (28. Mai) wird mit Gioacchino Rossini einer der Komponisten zu Klang gebracht, der noch die verfeinerte Kunst des Singens aus dem 18. Jahrhundert geschätzt und ins nächste Jahrhundert gerettet hat, gleichzeitig aber mit einer neuen Epoche unmittelbarerer Emotionalität und mit veränderten technischen Möglichkeiten konfrontiert war. Seine Oper „Le Comte Ory“ steht als ironisch blitzendes Juwel am Ende der Ära des Ziergesangs. Mit Lawrence Brownlee – flankiert von Sängerinnen wie Jessica Pratt oder Stella Grigorian, die in der Vokalkunst einen Namen haben – erwartet ein Virtuose des kunstreichen Rossini-Gesangs im Dortmunder Konzerthaus sein Publikum.

Der Opernkunst huldigen

Die Oper mag man als Mekka des Gesangs ansehen, und ihrer heiligen Kunst wird reichlich gehuldigt: Antonio Vivaldis Pasticcio „Il Tamerlano“ – auch bekannt als „Bajazet“ – kommt am 2. Juni zur Aufführung, Henry Purcells „King Arthur“ am 24. Juni. Mit Georg Friedrich Händels „Acis und Galathea“ kehren am 10. Juni das mit hervorragenden Sängern und Instrumentalisten besetzte Collegium Marianum und die Puppenspieler von „Buchty a loutky“ aus Prag nach Dortmund zurück, um Händels „Masque“ zu spielen.

Mit Edward Elgars „The Dream of Gerontius“ steht am Pfingstmontag (5. Juni) in der Reinoldikirche ein Hauptwerk des englischen Chorgesangs auf dem Programm. Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker realisieren unter Leitung von Granville Walker Elgars klangüppige Vertonung eines Poems von Kardinal John Henry Newman. Ein – immerhin gläubiger – „Jedermann“ steht vor dem Sterben und beschreitet nach seinem Tod einen Weg jenseits von Raum und Zeit, der ihn durch die klanglichen Welten von Engeln und Dämonen vor das Gericht Gottes und mit der Verheißung der Erlösung ins Purgatorium führt, die jenseitige Reinigungsstätte, die in der katholischen Tradition als Fegefeuer bezeichnet wird. Das Werk hat übrigens nach einer desaströsen Uraufführung unter Hans Richter in Birmingham seinen Siegeszug mit zwei Aufführungen in Düsseldorf 1901 und 1902 angetreten. Heute gilt es vielen als Hauptwerk von Elgars vokalem Schaffen.

Chormusik durch die Jahrhunderte

Chormusik vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart ist bei weiteren sechs Konzerten zu hören, etwa am Pfingstsonntag (4. Juni) in der Nicolaikirche mit dem Chor des Lettischen Rundfunks und dem Großen Abend- und Morgenlob op. 37 von Sergej Rachmaninow, einem monumentalen Gipfelwerk der russischen liturgischen Musik. Oder am Freitag, 9. Juni in St. Bonifatius, wo das französische Ensemble Correspondances unter Sébastien Daucé Barockmusik des 17. Jahrhunderts singt. Die Schola Gregoriana Pragensis stellt am Dienstag (13. Juni) in der Marienkirche geistliche Gesänge, aber auch weltliche Chansons der Zeit Kaiser Karls IV. vor. Und an Fronleichnam (15. Juni) verweist Frieder Bernius mit Kammerchor und Barockorchester Stuttgart zwei Kantaten vor, die Johann Sebastian Bach zur Feier des Reformationsfestes geschrieben hat und die in diesem Jahr an den Beginn der konfessionellen Umwälzungen vor 500 Jahren erinnern.

Soul, Blues, Pop: China Moses, Tochter der Jazz-Sängerin Dee Dee Bridgewater, präsentiert ihr neues Programm „Nightintales“ am Donnerstag (1. Juni) im „Domicil“, die international erfolgreiche polnische Sängerin Anna Maria Jopek kommt mit ihrem Quartett am Donnerstag, 22. Juni, ebenfalls in dieses Dortmunder Forum für aktuelle Musikrichtungen.

Das Dortmunder Konzerthaus. (Foto: Häußner)

Auch Bespaßung gehört dazu

Wer’s mag, wird sich am 18. Juni einen Sonntagnachmittag im Konzerthaus gönnen und an den Lippen der zum „Opernvulkan“ stilisierten Simone Kermes hängen, die sich nicht zu schade ist, die Wahnsinnsszene aus Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ in eine Reihe mit Schlagern und Filmsongs zu stellen und sich dabei vom „bekanntesten Protagonisten des deutschen Schlagers“, Roland Kaiser, assistieren zu lassen. Die Neue Philharmonie Westfalen hat die dankbare Aufgabe der Begleitung übernommen, der Mann oder die Frau am Pult ist noch nicht bekannt. Zur Vielfalt des Singens und zur Heimat Europa gehört eben auch die Art musikalischer Bespaßung, die gemeinhin als besonders populär angesehen wird.

Auf einem originelleren Niveau wird sicherlich der Abschlussabend des Festivals Kurzweil verbreiten: Zarzuelas, die spanische Form unterhaltenden Musiktheaters, laden am Sonntag (25. Juni) auf der Seebühne im Westfalenpark die hoffentlich laue Sommernacht mit feurigen Rhythmen und federleichten Melodien auf. Das WDR Funkhausorchester unter Enrico Delamboye entführt mit dem Flamenco-Gitarristen Santiago Lara und den Sängern María Rey-Joly und Ismael Jordi auf die iberische Halbinsel, wo Zarzuelas nach wie vor gerne gespielt und von allen großen einheimischen Gesangsstars hingebungsvoll gesungen werden.

Karten: Tel. 0231 / 50 299 96 – Internet: www.klangvokal-dortmund.de

 




Ein warmer, tragender Klang: Der Kammermusiksaal des Musikforums Bochum ist ein Glücksfall

Das „Viktoria Quartett“ mit Philipp Willerding-Bach, Jiwon Kim, Aliaksandr Senazhenski und Esiona Stefani (v.l.n.r.). (Foto: Christoph Fein)

Streichquartett-Abende sind immer einen Besuch wert. Darf sich das geneigte Publikum doch gewissermaßen auf einem Olymp der Kunst wähnen. Hier wird die reine Vierstimmigkeit zelebriert, geht es mithin um nicht weniger als die Königsgattung der Kammermusik.

Kein Komponist, der was auf sich hielt oder hält, der nicht für Streichquartett schrieb oder schreibt. Von Haydn und Vorläufern bis hin zu Wolfgang Rihm und Jüngeren – kaum ein Kanon kommt ohne Werke für die Kombination von zwei Geigen, Bratsche und Cello aus.

Was Wunder: Der große Goethe hat dazu, ganz im Geiste der Aufklärung, seinen Segen gegeben. „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“ Da ist es zudem wenig verwunderlich, dass bis heute immer wieder neue Streichquartett-Ensembles sich der Herausforderung des rationalen musikalischen Gesprächs stellen wollen.

Bei den Bochumer Symphonikern haben sich im Laufe der Zeit zwei entsprechende Formationen gebildet. Zunächst „Bermuda4“ und später, genauer gesagt vor etwa drei Jahren, das „Viktoria Quartett“. Beide haben für diese Saison eine eigene Reihe eingerichtet. Allein, aktuell gestaltet ausschließlich das „Viktoria Quartett“ die Konzerte, „Bermuda4“ befindet sich in einer Phase der Neuorientierung. Selbstreflexionen dieser Art sind beileibe nichts Ungewöhnliches, auch berühmte Ensembles sind davor nicht gefeit. Über Binnenspannungen im Quartettbetrieb wurden schon Bücher geschrieben – und es bleibt nur der Wunsch, dass sich am Ende alles wieder aufs Beste einrenkt.

Nun also: Das „Viktoria Quartett“ hat den dritten Abend der Reihe übernommen, das wohl kurzfristig zusammengestellte Programm weist Prokofjews 1. (op. 50) und Beethovens 4. Quartett (aus op. 18) aus. Für uns ist es im übrigen die erste Gelegenheit, den Kammermusiksaal des neuen Bochumer Musikforums zu testen. Und es sei gesagt: Das Hörerlebnis ist außerordentlich.

Der Klang umfängt das Publikum mit angenehmer Wärme, wer die Augen schließt, mag kaum glauben, dass alle Töne doch von vorn kommen. Dazu verhelfen die reflektierenden Flächen der Seitenwände, wie andererseits zwei raumhohe schwere Vorhänge die prinzipiell trockene Akustik abmildern. Gleichwohl wird jede noch so filigrane Klangnuance bis in die hinterste Reihe getragen. Selbst das leiseste Pianissimo findet in kristalliner Klarheit jedes Ohr. Andererseits: Dissonante Schärfen, wie sie Prokofjew oft genug vorschreibt, versagen sich in hoher Lage jedes Klirren. Diese kleine Schuhschachtel, maximal auf 325 Plätze ausgerichtet, ist für Kammermusiker ein Glücksfall.

Gleichzeitig jedoch eine Herausforderung. Wo nichts ungehört bleibt, ist Präzision gefragt. Das fängt bei der Intonation an, ist in Sachen Tongebung von Bedeutung, betrifft nicht zuletzt die Kunst des Zusammenspiels. Der rationale Diskurs ist das eine, das konzentrierte Hören aufeinander die andere Seite der musikalischen Medaille. Wie schön, dass sich das „Viktoria Quartett“ als Organismus präsentiert, dessen Solisten nie in den Vordergrund drängen. Interessant ist vielmehr, dass kaum eine Führungsrolle auszumachen ist. Esiona Stefani (1. Violine), Jiwon Kim (2. Violine), Aliaksandr Senazhenski (Viola) und Philipp Willerding-Bach (Violoncello) verstehen einander ziemlich gut, intonieren äußerst sauber, nur hier und da fehlt es an präziser Tonfokussierung.

Bei Prokofjew gelingt die Balance zwischen akzentuierter Motorik und stimmungsvollem Legato-Ton überzeugend. Das Spiel des Quartetts ist energiegeladen, zielt aber vor allem auf die expressive Ausgestaltung des Finales, einem Lamento von erheblicher Dramatik. Beethovens Werk wiederum hätte insgesamt mehr Biss verdient, andererseits wird die Modernität des Stückes (frühe Anklänge an die Romantik) fein herausgearbeitet. Ja, der Besuch dieses Konzerts hat sich gelohnt.

 




Überraschender Verlust: Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa wechselt von Dortmund nach Baden-Baden

Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa wird nach 13 Jahren in Dortmund zum Festspielhaus in Baden-Baden wechseln (Foto: Peyman Azhari)

Das hatte keiner geahnt. Sogar für seine Mitarbeiter kam die Nachricht offenbar überraschend. Benedikt Stampa, Geschäftsführer und Intendant des Konzerthauses Dortmund, wird seinen Posten nach 13 Jahren verlassen und ab der Spielzeit 2019/20 (1. Juni) an das Festspielhaus Baden-Baden wechseln. Der Stiftungsrat des privatwirtschaftlich finanzierten Hauses bestellte Stampa in seiner Sitzung am Samstag (28. Januar 2017) zum Nachfolger von Andreas Mölich-Zebhauser.

Ruhig und knapp, ja beinahe ein wenig einsilbig fiel die Pressekonferenz aus, in der Benedikt Stampa und Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann die Einzelheiten publik machten. Obgleich Stampa seinen Dortmunder Vertrag regulär erfüllen wird, also noch bis Juli 2018 Konzerthaus-Chef bleibt, soll die Suche nach einem Nachfolger sofort beginnen. „Sie wird schwierig werden“, betonte Stüdemann, der gleichwohl hofft, schon bald fündig zu werden: „Je eher, desto besser.“ Stampas Fortgang nannte der Kulturdezernent „einen Riesen-Verlust.“

In der Tat war es dem 51-jährigen gelungen, das Konzerthaus Dortmund rasch zu konsolidieren, nachdem es 2005 durch den geräuschvollen Rausschmiss des Gründungsintendanten Ulrich Andreas Vogt in schweres Fahrwasser geraten war. Stampa baute auf, was er die „Dortmunder Dramaturgie“ nennt: Eine jeweils drei Jahre währende enge Bindung von Residenzkünstlern an das Haus, die dem Publikum einen hohen Grad von Vertrautheit und Identifikation ermöglicht. Zudem konzipierte er erfolgreiche Formate wie die „Zeitinseln“, die „Jungen Wilden“, die „Symphonie um Vier“, „Musik für Freaks“ und das deutschlandweit erste „Pop-Abo“, um nur einige zu erwähnen.

Stampa selbst legte der Presse gegenüber nicht weniger als ein Liebesbekenntnis ab für das Haus, seine Akustik, sein Team und sein Publikum, das ihm sehr ans Herz gewachsen sei. Er blicke zurück auf „zwölf intensive, beglückende und bereichernde Jahre.“ Die Nachfrage, ob er im Laufe der Zeit vielleicht doch etwas vermisst habe, verneinte er entschieden. Er ist sich sicher, dass viele der international begehrten Musiker dem Haus auch nach seinem Weggang die Treue halten werden, und sieht einer Veränderung der „Dortmunder Dramaturgie“ gelassen entgegen. Was aus den Mitarbeitern wird, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Im Festspielhaus von Baden-Baden, das mit seinen 2500 Plätzen zu den größten Häusern in Deutschland zählt, wird Stampa in Zukunft auch szenische Opernaufführungen realisieren können, nicht nur halbszenische wie in Dortmund. Dies hat eine nicht unerhebliche Rolle gespielt bei seiner Entscheidung, die er als „nächsten logischen und guten Schritt für mich“ bezeichnete. Zu Andreas Mölich-Zebhauser pflegte er seit vielen Jahren einen freundschaftlichen Kontakt. Ab wann auch Fragen der Nachfolge zum Gesprächsthema wurden, verriet Stampa bei der Pressekonferenz nicht.

Wie schon bei seinem Wechsel von der Hamburger Laeiszhalle nach Dortmund, wird sich der Kulturmanager bald wieder auf eine andere Mentalität von Sponsoren und Publikum einstellen müssen. Seine Familie wird mit ihm in den Süden ziehen, aber vielfältige Kontakte nach Dortmund werden bleiben. Da ist sich der aus Emsdetten in Westfalen stammende Intendant sicher.




Ein Guss, ein Fluss: Andris Nelsons dirigiert Anton Bruckners 5. Sinfonie im Konzerthaus Dortmund

Der lettische Dirigent Andris Nelsons ist Residenzkünstler in Dortmund und designierter Gewandhauskapellmeister (Foto: Marco Borggreve)

Mehrfach erlitt die Partitur von Anton Bruckners 5. Sinfonie Verschlimmbesserungen. Bei der Grazer Uraufführung im Jahr 1894 präsentierte der Bruckner-Schüler und Dirigent Franz Schalk das monumentale Werk in einer völlig verstümmelten Bearbeitung.

Selbst Gustav Mahler erlaubte sich Kürzungen, als er das Werk 1901 in Wien einstudierte. Er eliminierte einige der von Bruckner gesetzten Pausen mit der Begründung, sie würden den musikalischen Fluss zerschneiden.

Wer jetzt erleben konnte, zu welch grandiosem Gesamtkunstwerk sich Bruckners Originalfassung im Konzerthaus Dortmund rundete, wird Gustav Mahler selbst als eingefleischter Anhänger Unrecht geben müssen. Verantwortlich für diese Augen und Ohren öffnende Interpretation waren das in London ansässige Philharmonia Orchestra und der lettische Dirigent Andris Nelsons, Musikdirektor in Boston und aktueller Residenzkünstler in Dortmund.

Es ist die reine Wohltat, Bruckners Musik einmal nicht als rumpelndes Geschiebe erratischer Blöcke zu erleben. Vielmehr beginnt mit Takt 1 ein großer Fluss zu strömen, der die nach Beethoven an einen Endpunkt gelangte Gattung der Sinfonie in die Zukunft trägt. Vier weit ausgreifende sinfonische Sätze verschmelzen zu einer einzigen Welt. Was diese im Innersten zusammenhält, scheinen Nelsons und die Musiker mit untrüglichem Instinkt zu wissen.

Den zahlreichen Generalpausen kommt dabei besondere Bedeutung zu. Sie sind an diesem Abend nicht trennende, sondern verbindende Elemente: nie scharfer Abbruch einer Entwicklung, sondern ein gespanntes Hineinhorchen in das, was kommen mag. So visionär und aufregend das ist, so entspannt und edel klingt das Philharmonia Orchestra. 1945 von Walter Legge gegründet und vielen als „Schallplattenorchester“ bekannt, bietet es den Ohren berauschenden Wohlklang, vom mysteriös raunenden Naturlaut bis in die zackig auffahrenden Fortissimo-Gipfel. Dass trotzdem nichts auf Hochglanz poliert klingt, ist das nächste Wunder dieses Abends. Wir hören einen souveränen Klangkörper, der in höchster Konzentration und Geschlossenheit auf dem schmalen Grat balanciert, der rustikale Vitalität und schicksalhafte Wucht voneinander trennt.

Der Ansturm auf den letzten Gipfel beginnt, wenn alle Themen der vorangegangenen Sätze im Finale durch den großen Fugen-Häcksler geschickt werden. Nun bleiben Beethoven-Zitate und Schubert-Anklänge endgültig zurück. Hier, im titanischen Ringen disparater Kräfte, beginnt etwas Neues, das zwar weniger Schmerzensschärfe besitzt als bei Gustav Mahler, aber wie bei diesem in eine alles überstrahlende Apotheose mündet.

Wie mühevoll der Weg dorthin ist, beschönigen Nelsons und das Philharmonia Orchestra nicht. Umso grandioser wirkt die Coda mit ihrem Choral, der im dreifachen Fortissimo über uns hinweg fegt. Es ist ein Triumph, der Anton Bruckner und Gustav Mahler unvermutet als Brüder im Geiste erscheinen lässt. Dies ist die letzte und vielleicht erstaunlichste Einsicht dieses Abends. Grenzenloser Beifall.

(Informationen zur Residenz von Andris Nelsons: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/263/ Ticket-Hotline: 0231/22 696 200)




Wien an der Ruhr: Konzert der Philharmoniker in Essen und der Symphoniker in Dortmund

Der Geiger Andrey Baranov sprang in Dortmund für Patricia Kopatchinskaja ein. Foto: Petra Coddington

Der Geiger Andrey Baranov sprang in Dortmund für Patricia Kopatchinskaja ein. (Foto: Petra Coddington)

Wo gibt es das schon, außer in Wien? Die beiden international bekannten Wiener Orchester, die Philharmoniker und die Symphoniker, spielen im Abstand weniger Tage: So geschehen in Essen und in Dortmund. Ein Zeichen für das Kultur-Potenzial des Ruhrgebiets.

Außerdem war es eine spannende Hör-Erfahrung für die, die sich zu beiden Konzerten aufgemacht haben, zumal an beiden Abenden Peter Tschaikowskys Violinkonzert angekündigt war – mit Solisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: in Dortmund die impulsive, temperamentvolle, Patricia Kopatchinskaja, deren unkonventionelle Aufnahme gerühmt wurde. In Essen der meisterliche Klangmagier Joshua Bell, der emotionale Unmittelbarkeit und intellektuelle Durchdringung miteinander verbinden kann.

Leider ohne das „Traumpaar“

Leider machte eine schmerzhafte Entzündung den Auftritt der Geigerin kurzfristig unmöglich. Mit Andrey Baranov sprang ein junger Könner ein, der schon einige renommierte Wettbewerbe für sich entschieden hat. Das „Traumpaar“ Kopatchiskaja – Currentzis, das sich auf den Bildern des Dortmunder Programmhefts so selbstbewusst wie ironisch inszeniert hat, war auseinandergerissen. Baranov bot weniger Event, aber deswegen nicht uninteressantere Musik.

Was der 1986 geborene Russe nicht mitbringt, ist die drahtig gestählte Nervosität der Kopatchinskaja. Er bleibt näher an der „Konvention“; stellt sein individuelles Spiel weniger aus. So scheint auch der Dirigent Teodor Currentzis, Liebling einer nach dem unerhört Anderen gierenden Musikgemeinde, etwas gezügelter zu Werke zu gehen. Mit weit ausholenden Spinnengliedern facht er ein kaltes Feuer an, unfehlbar in der präzisen Rhythmik, punktgenau auch in der Artikulation: Da werden keine Details verhuscht, da sind die Holzbläser des ruhevollen Andante-Beginns im zweiten Satz peinlich genau ausgehört, werden aber auch die Kanten der Kontraste blitzend gewetzt. Currentzis macht aus dem plötzlichen Einbruch der Rasanz in ein extrem langsam geformtes Tempo ein Ereignis, nutzt das Finale zu einer virtuosen Hatz. Die Wiener Musiker folgen dem drängenden Tempo, der gezähmten Dynamik mit einer kaum einmal in Frage gestellten Mühelosigkeit.

Und Baranov? Der steigt in die ersten Takte wie in einen small talk ein, um das Thema dann süß und intensiv im Ton aufzuladen. Auch im schmachtend-zarten zweiten Thema drückt er nicht auf die Bedeutungs-Tube, spielt mit großer, klarer Artikulation und leuchtenden Farben, aber nicht mit innerem Drängen oder mit magischen Momenten der Spannung und Lösung. Die herkömmlichen Floskeln der „Leidenschaft“ sind dieser Jugend fremd geworden, man bleibt perfekt und cool. Baranovs hohe Lagen sind ganz rein und süß, die Flageoletts perfekt. Die Canzonetta kennt keine Gefühlsheroik, sondern nimmt mit zart bebendem, innerlichem Ton gefangen.

Teodor Currentzis in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Teodor Currentzis in Dortmund. (Foto: Petra Coddington)

Beste Voraussetzungen für Tschaikowskys Vierte Sinfonie im zweiten Teil des Dortmunder Abends: Die Exposition des Materials durchleuchtet Currentzis so klar und folgerichtig wie selten jemand, den Rhythmus lässt er hartnäckig insistieren.

Das quälend Statische der thematischen Verläufe, das die gelehrte Welt früher als Ungenügen qualifiziert hat, entdeckt dieser Dirigent im Sinne des Programms Tschaikowskys als „Fatum“: Biographische Hintergründe spielen eben bei Tschaikowsky eine ganz andere Rolle als etwa bei Beethoven, Mozart oder Brahms. Currentzis hat die Erregungskurve in der Musik im Blick, aber das Fieber vernebelt weder Kontur noch Transparenz. Und der Finalsatz gerät zum verzweifelten Fest. Eine voll und ganz überzeugende Interpretation.

Seltene Schostakowitsch-Sinfonie in Essen

In Essen nehmen sich Ingo Metzmacher und die Wiener Philharmoniker Dmitri Schostakowitschs nicht eben häufig gegebene Elfte Sinfonie vor. Gespannte Ruhe. Ferne Glocken. Signale und militärisches Trommeln aus dem Hintergrund: Metzmacher und die Philharmoniker kosten den Adagio-Beginn breit, langsam und unheimlich aus. Fast eine Viertelstunde dauert es, bis das Orchester zum ersten Mal losbricht zu wuchtiger, dicht gestaffelter Attacke, zur brachialen Steigerung und zur Eruption von Blech und Becken.

Solist des Tschaikowsky-Violinkonzerts in Essen war Joshua Bell. Foto: Sven Lorenz

Solist des Tschaikowsky-Violinkonzerts in Essen war Joshua Bell. (Foto: Sven Lorenz)

Die Elfte, 1957 komponiert zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution, gehalten in der Trauer-Tonart g-Moll, will an den Petersburger Blutsonntag 1905 erinnern, an dem zaristische Truppen in eine Demonstration unbewaffneter Arbeiter schossen. Aber, so Schostakowitsch später, auch an den Ungarn-Aufstand von 1956 mit seinen Ausbrüchen mörderischer Gewalt. Bei allem brachialen Einsatz des Riesen-Orchesters: das Monumentale bleibt düster, das Ende holt die leise, unheilvolle Klangfläche des Beginns zurück. Optimismus? Fehlanzeige!

Ingo Metzmacher dirigiert die Wiener Philharmoniker. Foto: Sven Lorenz

Ingo Metzmacher dirigiert die Wiener Philharmoniker. (Foto: Sven Lorenz)

Metzmacher meidet „russische“ Leidenschaft, besteht auf Transparenz und plastischer Staffelung der Klangmassen selbst im irrsinnigsten Fortissimo. Er hat in den Wiener Philharmonikern Partner, die in Schönheit des Klangs und geschärftem Ausdruck keinen Widerspruch sehen. Die Brutalität des fast opernhaft deutlich geschilderten Geschehens ist bei den Wienern eingekleidet in ihren sagenhaften Streicherklang, in eine ans Wunder grenzende Einheit und Freiheit der Holzbläsergruppe. Und das Blech bleibt bei seinem Höllenritt fest im Sattel. Lärm kann wundervoll sein.

Musikdenker statt Showmaster

Die Musiker von Flöte bis Fagott nehmen auch für sich ein, als sie in Tschaikowskys Violinkonzert als Partner von Joshua Bell die Farben im Orchester auffächern. Bell bietet einen leidenschaftlicheren Zugang zu der hochemotionalen Musik, setzt Pathos und Portamento ein, bindet die Ausdrucksmittel aber stets zurück an den Notentext. So hastig er manchen Lauf absolviert, so souverän modelliert er die Themen, variiert er die Intensität des Tons, gewichtet er in Akzent und Phrasierung. Bewundernswert die gedankenreich gestaltete Kadenz und das sicher ansprechende Flageolett.

Metzmacher verweigert nicht die gewaltig-dramatische Steigerung, das Losbrechen des Polonaisen-Rhythmus im Orchester, aber er opfert nichts auf dem Altar des bloßen Überwältigungs-Klangs. Metzmacher ist eben kein Showmaster, sondern ein Musikdenker – und einer, der die geistige Durchdringung mit eminenter Überzeugungskraft in Klang und Form bringen kann.

Die Wiener Philharmoniker kommen schon bald wieder, diesmal ins Konzerthaus Dortmund am Sonntag, 26. März 2017: Andris Nelsons dirigiert, auf dem Programm Ludwig van Beethovens Sechste und das Cellokonzert Antonín Dvořáks mit Tamás Varga. Tickets unter Tel.: (0231) 22 696 200, Info: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/221357/




In Essen beispielhaft privat gefördert – das Balthasar-Neumann-Ensemble

Felix Mendelssohn-Bartholdy in einer Lithografie von Friedrich Jentzen aus dem Jahr 1837.

Felix Mendelssohn-Bartholdy in einer Lithografie von Friedrich Jentzen aus dem Jahr 1837.

Das mit den Sponsoren ist immer so eine Sache: Ohne die privaten Geldgeber wäre so manches Kulturprojekt chancenlos. Sie springen vielfach ein, wo sich die öffentliche Hand versagt. Deren Aufgabe, Kultur so zu fördern, dass Qualität erhalten, Vielfalt und Innovation ermöglicht, Erschwinglichkeit für jedermann garantiert bleibt, wird seit dem Vormarsch neoliberaler Konzepte und dem Zerbröckeln der bürgerlich geprägten Gesellschaft immer prekärer finanziert und immer grundsätzlicher in Frage gestellt. Sponsoren erschienen als ideale Lösung. Pointiert gesagt: Privates Geld fürs Privatvergnügen Kultur.

Im Endeffekt ist diese Art von Finanzierung ambivalent, denn ein Sponsor ist kein Mäzen, der uneigennützig der Kunst dienen will. So hilfreich ein Geldgeber in vielen Fällen ist, so problematisch ist es, wenn zum Beispiel vornehmlich Events finanziert werden, damit deren Glanz auch auf den Sponsor fällt, wenn statt künstlerischem Wagemut nur große Namen und Mainstream-Programme vergoldet werden. Von Hamburg bis Baden-Baden sind solche Entwicklungen zu registrieren.

Warum die Vorrede? Weil es bei Evonik offenbar anders funktioniert: Beim Weihnachtskonzert des Unternehmens in der Essener Philharmonie fiel jedenfalls das Wort „Sponsoring“ nicht. Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble unter Thomas Hengelbrock, mittlerweile zum vierten Mal auf Einladung von Evonik zu Gast, werden seit Anfang des Jahres in einer Partnerschaft unterstützt und gefördert. Dass dies offenbar nicht nur eine Formulierung in einem verschleiernden „Wording“ ist, legt die Aussage nahe, Evonik begleite die Forschungen der Ensembles, ermögliche musikwissenschaftliche Recherchen und unterstütze, wenn „Quellen erkundet und musikalische Schätze gehoben werden“.

Das klingt nicht nach Glimmer und Glitter, sondern nach nachhaltigem Einsatz dort, wo das Spektakuläre nicht auf den ersten Blick erkennbar ist: neue und alte Musik systematisch erschließen, wissenschaftlich aufarbeiten und dann sinnlich in hoher Qualität präsentieren. „Kraft für Neues“ heißt es unter dem Logo von Evonik – voilà, hier ist der Transfer in die Musik.

Das Konzert gab schon einmal einen Vorgeschmack, wie so ein Konzept aussehen kann. Hengelbrock widmete es ausschließlich dem immer noch unterschätzten Felix Mendelssohn-Bartholdy – und zwar seiner geistlichen Musik. Von einem „Magnificat“ des Dreizehnjährigen bis zum ersten Teil des Fragment gebliebenen Oratoriums „Christus“ reichte der Bogen. Das fast halbstündige Magnificat, der Lobgesang Mariens aus dem Lukas-Evangelium, eigentlich ein vor allem in der katholischen Tradition stark verankerter Text, ist für den Protestanten jüdischer Herkunft Mendelssohn-Bartholdy eine inspirierende Vorlage: Der kunstfertige Satz mit seiner souveränen Kontrapunktik verleugnet die Vorbilder der älteren Kirchenmusik nicht, schlägt aber bemerkenswert persönliche Töne an.

Die Violinen züngeln, wenn den Mächtigen ihr Sturz angekündigt wird

Mendelssohn hebt die Barmherzigkeit („misericordia“) Gottes hervor, wenn er den Männerchor im Piano einsetzen und das Wort mehrfach wiederholen lässt. Er verwendet die traditionellen Pauken und Trompeten, um die herrscherliche Majestät Gottes zu kennzeichnen. Und wenn Maria ankündigt, Gott stoße die Mächtigen vom Thron und erhöhe die Niedrigen, züngeln in der Musik die Violinen. Der Balthasar-Neumann-Chor artikuliert mit fabelhafter Präzision, zeichnet die Koloraturen auf den Punkt genau nach, hat aber auch den pastosen Klang für die Momente lyrischen Ausgreifens der Melodie. Den Solisten aus dem Chor macht es Mendelssohn nicht leicht, aber Marek Rzepka lässt sich von den Koloraturen der Arie „Fecit potentiam“ nicht schrecken.

In den Choralkantaten „Verleih uns Frieden gnädiglich“ und „Vom Himmel hoch“, beide von 1831, ist der Komponist längst bei sich selbst angekommen. Die „alten Meister“, Johann Sebastian Bach eingeschlossen, sind auf eine sehr persönliche Weise in seinen Stil eingearbeitet. Mendelssohn arbeitet mit raffinierten Harmonisierungen, hält den Klang leicht und weich. Die Streicher des Balthasar-Neumann-Ensembles haben mit den feinsinnigen Nuancen kein Problem, die Bläser realisieren Glanz und Pracht, als habe Händel Pate gestanden, ohne den inneren Zusammenhang der Musik einer äußerlichen Überwältigung zu opfern. Das „Ave Maria“ in schwärmerisch fließendem Ton und fülliger Harmonik entspricht gar nicht dem Klischee protestantischer Strenge; nur schade, dass in der eröffnenden Arie der kantabel-belcantistische Ton nicht erfüllt wird. Dafür zeigt das Blech in der „Geburt Christi“, dem ersten Teil des geplanten Oratoriums, an dem Mendelssohn bis zu seinem frühen Tod 1847 arbeitete, wie sensibel es sich auf die Pianissimo-Stellen des Chores und auf die sanfte Verklärung des „neugeborenen Königs“ einstellen kann.

Das begeisterte Publikum feierte Thomas Hengelbrock und seine Ensembles und entließ sie erst nach mehreren Zugaben in den adventlichen Abend.




Noble Gemessenheit: Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra in Dortmund

Ein Leben lang mit Mozart vertraut: Mitsuko Uchida. Foto: Richard Avedon

Ein Leben lang mit Mozart vertraut: Mitsuko Uchida. Foto: Richard Avedon

Mitsuko Uchida in Deutschland zu erleben, ist ein exklusives Vergnügen: Eben von einer Tournee aus Japan zurück, konzertierte die Wiener Pianistin mit japanischer Herkunft und Londoner Wohnsitz mit dem Mahler Chamber Orchestra zwei Mal – in Berlin und im Konzerthaus Dortmund.

Im Januar 2017 gibt es Auftritte in Hamburg, München, Frankfurt, im Februar in der neuen Elbphilharmonie – und im Frühsommer im Ruhrgebiet, wenn Mitsuko Uchida ihr Versprechen einlöst, das wegen Krankheit ausgefallene Konzert beim Klavier-Festival Ruhr 2016 im kommenden Jahr nachzuholen.

In Dortmund präsentierte sich die Pianistin mit einem Komponisten, der wie kaum ein anderer die 35 Jahre ihrer internationalen Karriere prägt: Sie dirigierte und spielte die beiden Klavierkonzerte KV 453 und KV 503 von Wolfgang Amadeus Mozart, die sie jüngst mit dem Cleveland Orchestra auch für die CD aufgenommen hat. Ein Programm, das zeigt, wie intensiv sich die Künstlerin ein Leben lang mit Mozart auseinandergesetzt hat – nicht nur mit dem Werk für Klavier, sondern zum Beispiel auch mit den Opern, die sie sich studierend angeeignet hat. So ist ihr das „Sprechende“ in Mozarts absoluter Musik ebenso vertraut, wie sie das „Absolute“ in seiner Bühnenmusik wiedergefunden haben dürfte.

In ihrem aktuellen Mozart-Spiel bleibt Mitsuko Uchida, betrachtet man es im Spannungsfeld zwischen diesen Polen, eher auf der Seite des „Absoluten“. Rhetorische Überraschungsmomente, humorvolle Zuspitzungen, der Aufbau drängender Spannung sind ihre Sache nicht. Auch flottes Tempo und energischer Drive, mit denen ein Modedirigent wie Teodor Currentzis gerade seine Gemeinde entzückt, fallen bei ihr nicht ins Gewicht. Uchidas Mozart ist einer der noblen Gemessenheit, der lichtvollen Balance, der Vertiefung ins Detail wie in den großen Atem.

Der Weg zur Verinnerlichung öffnet sich

Dabei gäbe ein Konzert wie das in G-Dur die Gelegenheit, opernhafte Rhetorik auszuspielen, mit Chromatik, Moll-Trübungen, arios ausschweifenden und rhythmisch strikten Momenten zu jonglieren. Im ersten Satz lässt Uchida das Orchester den starren Marschrhythmus betonen, dem sich das Soloinstrument erst einmal unterwirft, bis es sich in aparten Verzierungen und melodischer Selbständigkeit emanzipiert. Frisch und offen bleibt der Ton, kein Grübeln verschattet diesen Einstieg.

Erst das ausdrucksvolle Andante öffnet den Weg zur Verinnerlichung: Sehr weit geatmet, elegisch in der Haltung, von ätherischen Holzbläsern flankiert, vertieft sich Mitsuko Uchida in die Kantilenen, spielt so selbstvergessen, als stünde ein Romantiker wie John Field neben ihr. Das Mahler Chamber Orchestra wirkt hin und wieder unentschieden, als seien sich die Musiker über das Tempo nicht sicher; entsprechend vorsichtig klingt die Phrasierung. Hat sich die Pianistin da in Träumerei verloren? Der Finalsatz baut zunächst keinen Kontrast auf, wirkt wie ein gemüthaftes Tänzchen für ältere Herrschaften, ohne das „Feuer“ des dreißigjährigen Mozart. Uchida scheint Empfindung zu fordern, erreicht erst im Presto eine durch Noblesse gedämpfte Energie.

Der Weg zur Beethoven zeichnet sich ab

Auch das C-Dur Konzert (KV 503) kommt in der Haltung eher bedächtig daher. Unverkennbar soll die pompöse Eröffnung auf Beethoven vorausweisen; Die Pianistin bildet mit ihrem gebremsten, fast schon trocken-brillantem Spiel einen reizvollen Kontrast zu dem ausdrucksgeladenen, symphonisch gedachten Orchester. Aber Mitsuko Uchida wäre nicht die intime Kennerin Mozarts, verfolgte sie nicht einen subtilen Plan. Der offenbart sich spätestens im Andante, wenn sie die expressive Orchestersprache auf den Flügel überträgt, in einer atemberaubend vielschichtigen Phrasierung und mit der Nuancierung einzelner Töne jeden Takt mit Ausdruck gewichtet. Das Finale ist mit vollsaftigen Bläserfarben und dem auftrumpfenden Solopart wieder ein deutlicher Fingerzeig auf den Bonner, der zehn Jahre nach Mozarts Tod zu seiner einzigartigen Wiener Karriere durchbricht.

Was für ein vorzügliches Ensemble das Mahler Chamber Orchestra ist, war in der Region schon häufig zu erfahren. Mit Béla Bartóks Divertimento für Streichorchester bestätigen die Musiker ihren Ruf voll und ganz. Eine innere Übereinstimmung, eine auserlesene Spielkultur, ein souveräner Wille zum Ausdruck – hörbar in jedem Moment einer fabelhaft konzentrierten Interpretation, die das untergründig Lauernde, die verstörenden Verschattungen in dieser scheinbar so unbeschwerten Musik ebenso freilegt wie ihre kraftvolle Dynamik, ihre rhythmische Lebenslust und ihre spritzige Freude an der Farbe. Grandios!




Gewagt, gewonnen: Die Essener Philharmoniker glänzen mit Josef Suks Trauersinfonie „Asrael“

Das Böhmische Streichquartett mit Josef Sue, 2. Violine (2.v.l.). Eine Zeichnung von Hugo Boettinger (1907).

Das Böhmische Streichquartett mit Josef Suk, 2. Violine (2.v.l.). Eine Zeichnung von Hugo Boettinger (1907).

Es gibt sie zuhauf, die Kleinmeister unter den Komponisten. Nicht einmal unbekannt und zu ihren Zeiten oft durchaus beliebt, konnten sie letztlich nicht heraustreten aus dem Schatten der Großen. Bei Josef Suk (1874-1935) aber ist das anders, komplizierter.

Der Tscheche ist ein Meister seines Fachs, doch umfassende Popularität war und ist seinem Werk bis heute nicht vergönnt. Mancher kennt ihn wohl als Schwiegersohn Antonín Dvořáks, Zeitgenossen schätzten Suk als hervorragenden Geiger – im Böhmischen Streichquartett spielte er die 2. Violine. Doch „Asrael“, Suks Sinfonie für großes Orchester, einer dieser Monolithen der Musikgeschichte, ist eine absolute Repertoire-Rarität. Es gibt einige CD-Einspielungen, das Werk im Konzert zu erleben, ist jedoch kaum einmal möglich.

Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, ist gern auf außergewöhnlichen Repertoire-Pfaden unterwegs. Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, ist gern auf außergewöhnlichen Repertoire-Pfaden unterwegs. Foto: Hamza Saad

Doch Tomáš Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, unermüdlich darin, die slawische (tschechische, böhmische) Musik in Oper und Konzertbetrieb als „neue Farbe“ zu verankern, ist das Wagnis eingegangen, „Asrael“ ins Programm zu nehmen. Gekoppelt mit Dvořáks beliebtem Cellokonzert, wird dieser Abend zum Erlebnis. Das Publikum hat den gewaltigen sinfonischen Brocken Suks mit heftigem, wenn auch kurzem Beifall aufgenommen. Das ist für Werk und Interpreten ein mordsmäßiger Erfolg – das fünfsätzige Stück durchzieht eine überaus komplexe Polyphonie, klingt modern trotz seiner Verankerung in der sinfonischen Tradition des 19. Jahrhunderts, entpuppt sich zudem als gewaltige Trauermusik.

Die abgrundtiefe Schwärze dieser Sinfonie, das bis zur Hysterie reichende Wüten der Welt, Todesmotiv und Trauermarsch, Hymnus und wild dreinfahrende Rhythmen, schließlich ein erlösender Choral, von Vogelstimmen geprägt und im Pianissimo entschwindend – all dies ist auf einen brutalen Schicksalsschlag in Suks Leben zurückzuführen. Denn nicht nur starb 1904 sein Schwiegervater Dvořák, sondern einige Monate später auch Suks Frau Otylka. „Asrael“, benannt nach dem Todesengel sowohl der mohammedanischen als auch der jüdischen Mythologie, geriet zum Requiem, das sich der Komponist in betäubender Trauer abringen musste.

"Der Todesengel". Gemälde von Evelyn de Morgan ()

„Der Todesengel“. Gemälde von Evelyn de Morgan (1881).

Über eine Stunde währt dieses gewaltige Lamento, nur von wenigen lichten Momenten aufgehellt. Doch so kompakt die emotionale Seite des Stückes wirkt, so übersichtlich ist die formale Gliederung. Suks Bekenntnismusik kreist nicht um sich selbst, hat also gewissermaßen Hand und Fuß. Mag auch die eine oder andere Steigerung das Plakative streifen, ist der Sinfonie doch ein ganz eigener Ton zu bescheinigen. Mit Mahler, wie oft geschrieben, hat das wenig zu tun, Dvořáks Sprache wiederum spiegelt sich lediglich in einigen Zitaten (aus dem Requiem, aus „Rusalka“). Und doch: „Asrael“ ist trotz aller Originalität kein Schlüsselwerk der Musikgeschichte.

Aber wie dem auch sei: Der Einsatz der Essener Philharmoniker für das Stück, die emotionale Hingabe des Orchesters, die Durchhörbarkeit des polyphonen Geflechts und das packend dramatische Spiel sind aller Ehren wert. Da ist nichts dem Zufall überlassen, eins greift ins andere, plötzliche dynamische oder rhythmische Wechsel sind sauber ausgearbeitet. Suks Sinfonie hat offensichtlich das Orchester zur Glanzleistung motiviert.

Zu berichten ist jedoch auch über einen glanzvoll musizierenden jungen Cellisten namens Narek Nakhnazaryan, der 2011 den Tschaikowski-Wettbewerb gewann und damit den Grundstein für seine Karriere legte. Hierzulande eher wenig bekannt, aber auf internationalem Konzertparkett schon sehr gefragt, überzeugt der armenische Künstler mit technischer Reife und blitzsauberer Intonation. Dvořáks Cellokonzert geht er zunächst ziemlich robust an – da scheint der Stil seines Mentors Rostropowitsch aufzublitzen.

Der Cellist Narek Hakhnazaryan. Foto: Marco Borggreve

Der Cellist Narek Hakhnazaryan. Foto: Marco Borggreve

Nakhnazaryan pflegt aber auch die expressive Lyrik und die zarten Nuancen. Der Ton seines Cellos mag nicht riesengroß sein, entwickelt jedoch beeindruckenden Ausdruck. Die dramatische Fallhöhe des Stücks loten Orchester und Solist gekonnt aus. Wie ein Draufgänger wirkt der Cellist, der sich gleichwohl Grenzen setzt. Überschwang ist nicht alles, auf die Feinheiten kommt es an. Davon hat Nakhnazaryan eine Menge zu bieten – wie entrückt scheint er dann in die Musik einzutauchen.

Eine große Kadenz, zum Beweis seiner außergewöhnlichen Virtuosität, bleibt ihm mit diesem Werk indes verwehrt. Doch die Zugabe, das Lamentatio des zeitgenössischen italienischen Komponisten Giovanni Sollima, eröffnet dem Solisten alle Möglichkeiten. Doppelgriffe formen eine Trauermelodie, von Vokalisen des Cellisten unterstützt, sie geht über in furiose Raserei und mündet in eine Art Tangorhythmus.

Danach großer Jubel. Es ist der Beifall eines Publikums, das den Weg Tomáš Netopils in Richtung des slawischen Repertoires beherzt mitgeht. Die Philharmonie in Essen war jedenfalls bei diesem 3. Sinfoniekonzert prall gefüllt. Dass Netopil, der vor drei Jahren in die großen Fußstapfen eines Stefan Soltesz trat, inzwischen einen Vertrag hat, der bis 2023 reicht, ist das richtige Signal. Und, mit Verlaub: Die Essener Philharmoniker sind als Konzertorchester noch besser geworden.

 

 




Gebrauche Deine Zeit: Zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann

Es ist ein seltsames Phänomen um Wolf Biermann, der ein glühender Liebhaber des Kommunismus war und doch mit ungehorsamen Liedern die DDR in Aufruhr versetzte.

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival "Lauter Lyrik" (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de - Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival „Lauter Lyrik“ (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de – Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wenn man von ihm spricht, diesem schnauzbärtigen Helden deutsch-deutscher Kultur, da erhebt sich schnell ein Missmut: „Den mag ich nicht. Der ist so selbstgerecht, so eitel!“ Ja, Leute, der Biermann ist nicht berühmt für seine Bescheidenheit. Er weiß um seine Bedeutung. Aber, mit Verlaub, das darf er auch. Denn er hat mit Poesie und Pathos am Rad der deutschen Geschichte gedreht.

Von seinem Leben, das am 15. November 1936 in einer Hamburger Arbeiterfamilie begann, erzählt er uns zum 80. Geburtstag selbst. 544 Seiten lang ist Biermanns Autobiografie mit dem Titel eines Liedes: „Warte nicht auf bessre Zeiten“. 200 Tagebücher und Stapel von Stasi-Akten wurden da verarbeitet – von einem, der nur in Liebesdingen locker lässt. Viel Zorn steckt darin. Aber auch viel Zärtlichkeit, nicht nur für seine Frauen und insgesamt zehn Kinder. Am Ende wird keine fiese Abrechnung aus dem Buch, sondern ein Stück süffiger Literatur mit geschichtlich-politischem Mehrwert. Der Meister der lyrisch-prägnanten Kurzform – „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …“ – bleibt seiner Sprache auch auf der Langstrecke treu.

„Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war …“ Dagobert Biermann, Werftarbeiter jüdischer Herkunft, Kommunist und aktives Mitglied einer Widerstandsgruppe, wird 1937, kurz nach der Geburt seines Sohnes, zum zweiten Mal von den Nazis verhaftet. Er stirbt, nach qualvollen Jahren, im Februar 1943 in Auschwitz. Sein letzter Brief – „Warte nur, Wölflein, wenn ich wieder komme, dann bauen wir uns ein großes Schiff …“ prägt Biermanns Kinderseele bis ins hohe Alter. Im Juli 1943 überlebt der Kleine an der Hand seiner Mutter Emma die Zerstörung Hamburgs durch Fliegerbomben – den „Feuersturm“. Er sieht verbrannte und erstickte Menschen, registriert entsetzliche Details. Doch er weint nicht: „Der Schrecken war zu übermächtig.“

Vielleicht hat das große Trauma den erwachsenen Biermann unempfindlich gemacht gegen die kleinlichen Schikanen des SED-Regimes. Er ist in den Ostapparat hinein geraten, weil seine Mutter Emma Biermann, mutig-naive Witwe des Widerstandshelden Dagobert und überzeugt vom Segen des Kommunismus, ihr Bübchen zu den Jungen Pionieren und schließlich in die junge DDR schickt, den Hoffnungsstaat der westdeutschen Genossen.

Ab 1953 geht Wolf Biermann auf ein Mecklenburger Internat und fühlt sich am rechten linken Platz. Als Student und Regieassistent des Berliner Ensembles ist er Ende der 1950er-Jahre intellektuell ganz vorn dabei. 1961 begrüßt er sogar den Mauerbau als Reaktion auf die massenhafte Westflucht der Eliten. Und er bekennt heute: „Ich habe an diesem 13. August die verfluchte Mauer mitgebaut“.

Hinter der schützenden Grenze entwickelt sich der junge Biermann, gefördert vom Brecht-Komponisten Hanns Eisler, zum Liedermacher mit Gitarre. Er tritt auf als „Troubadour de Berlin“, beachtet auch von der Linken im Westen. Für den Osten ist sein Ton nicht unverfänglich genug. Er verärgert die „Alten Genossen“ mit Versen über seine Unzufriedenheit. Schon bald gibt es Auftrittsverbote wegen „Klassenverrat“ und Obszönität“.

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael - Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael – Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Mitte der 1960er-Jahre gehört Biermann zu den Geistern des Widerstands, ununterbrochen bespitzelt. „Die Stasi ist mein Eckermann“, so kommentiert Biermann bissig die eifrigen Mitschriften der Lauscher. Die westliche Studentenbewegung liebt ihn und seinen eingängigen Song von der „Ermutigung“ (1966): „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit …“. Sie liebt auch sein wehmütiges Barlach-Lied: „Vom Himmel auf die Erden falln sich die Engel tot …“. Die Langspielplatte „Chausseestraße 131“, zu Hause aufgenommen mit einem von Mutter Biermann geschmuggelten Mikrofon, wird 1969 hüben verkauft und mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Sie bringt dem Regime und dem Barden erstaunliche Devisen.

Biermann hat sich recht kuschelig eingerichtet im Gesinnungsgefängnis DDR, wo er Beachtung findet an der Seite des Chemikers und Dissidenten Robert Havemann, dessen Tochter Brigitt zu seinen zahlreichen Amouren gehört. Er inszeniert sich poetisch als preußischen Ikarus, „mit grauen Flügeln aus Eisenguss“. Wegen seines westlichen Ruhms wagen die Behörden nicht, Biermann einzusperren, sie lassen ihn 1976 sogar auf Westtournee gehen (siehe Video am Schluss des Beitrags), und er wäre wohl artig zurückkommen, wenn man ihn nicht nach seinem triumphalen Konzert in Köln ausgebürgert hätte. Aus Protest verlassen etliche Kunstgenossen, darunter auch die Filmstars Manfred Krug und Eva-Maria Hagen, die DDR. Das System erzittert nachhaltig. 13 Jahre später wird die Mauer fallen.

Der Vertriebene selbst verliert in der Freiheit seinen Status. Die Fans reagieren gelangweilt auf klassenkämpferische Parolen und belehrende Konzerte. Sie sind genervt von den Streitigkeiten, die er vom Zaun bricht. Biermann zieht sich zurück nach Frankreich, in den „Bernstein der Balladen“ und in den Kreis seiner wachsenden Familie.

Der schönen Pamela, Mutter der letzten drei Kinder, ist er immerhin seit 1983 verbunden. Er ist weich geworden. Geehrt mit Preisen im Namen deutscher Dichter von Hölderlin bis Heine, kommt der alte Wolf Biermann zu ziemlich liberalen Einsichten. Er lobt die bürgerliche Demokratie als „das am wenigsten Unmenschliche, was wir Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden und ausprobiert haben“. Ist doch wahr. Drum: „Lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit!“

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ Die Autobiografie. Propyläen Verlag. 544 Seiten. 28 Euro.

Wolf Biermann: „Im Bernstein der Balladen – Lieder und Gedichte“. Propyläen. 240 Seiten. 24 Euro.

„Warte nicht auf bessre Zeiten“ – Wolf Biermann 1976 beim legendären Auftritt in der Kölner Sporthalle:
https://www.youtube.com/watch?v=GSw5H4tY29A




Songs für die Ewigkeit: Zum Tod des großen Dichters und Sängers Leonard Cohen

Auf immer verflucht sei der Tod. Jetzt hat er uns auch noch Leonard Cohen genommen, den vielleicht größten Songschreiber unserer Zeit, neben dessen Tiefenwirksamkeit allenfalls Bob Dylan bestehen kann.

Leonard Cohen bei einem Konzert in Genf, 2008 (Wikipedia Creative Commons, User

Leonard Cohen bei einem Konzert in Genf, 2008 (Wikipedia Creative Commons, User „Rama“, eigenes Werk. Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)

Vor wenigen Wochen war seine Platte „You Want It Darker“ erschienen, ein wahrhaft dunkles, geheimnisvoll funkelndes letztes Meisterwerk, das allseits hymnisch gefeiert wurde. Nicht nur zwischen den Zeilen war Cohens Bereitschaft zu sterben vernehmlich. Zwar hat er auch noch gescherzt, er wolle 120 Jahre alt werden, doch damit wollte er nicht mehr sich selbst aufmuntern, sondern wohl nur noch uns alle beruhigen und trösten.

Ob nun Zufall oder Fügung: Mitten in der Nacht bin ich plötzlich aufgewacht, das Tablet lag noch neben mir und war nicht ausgeschaltet. In der Dunkelheit leuchtete die schlimme Nachricht von Leonard Cohens Tod auf. An ruhigen Schlaf war nicht mehr zu denken; wie dies denn überhaupt eine Woche der schlaflosen Nächte ist. Ihr wisst schon.

Weisheit und Würde

Froh und dankbar bin ich, Leonard Cohen in den letzten Jahren noch auf der Bühne erlebt zu haben: einmal in Oberhausen und einmal in Dortmund. Wenn man überragendes Künstlertum mit Lebensweisheit, Noblesse und Würde in Einklang sehen wollte, so war es hier in Reinkultur zu erleben.

Leonard Cohen wurde am 21. September 1934 in Westmount, einem Vorort von Montreal (Kanada), geboren. In seiner wohlhabenden jüdischen Familie ist er sehr früh und intensiv in die Buchkultur eingetaucht. So hat er zwar schon als Kind auch Gitarre spielen gelernt, wurde aber zunächst Schriftsteller und hat ab 1954 Lyrik und Prosa publiziert. Nein, wir reden jetzt nicht mehr weiter vom Literaturnobelpreis, der womöglich ihm gebührt hätte.

Grandioser Erstling

Man kann nachlesen, dass Judy Collins ihn animiert hat, seine Poesie auch in Songs zu fassen. Ende 1967 kam das Album „Songs of Leonard Cohen“ heraus – mit legendären Liedern wie „So long, Marianne“, „Sisters of Mercy“ und „Suzanne“. Gleich dieser Erstling erwies sich als eine der besten und stimmigsten LPs aller Zeiten. Es folgten noch zahlreiche grandiose Schöpfungen. Wer seine komplette Diskographie erkunden will, findet beispielsweise hier reichlich Material.

Seine Lieder handeln von den größten, ewigen, ersten und letzten Dingen, zumal von Liebe und Tod. Texte und Klänge sind vielfach melancholisch-elegisch getönt, oft greifen sie ins Spirituelle aus, allerdings ohne jede hohepriesterliche Anmaßung. Doch eine überirdische Idee waltet beileibe nicht nur in dem berühmten Song „Hallelujah“. Und es gibt auch etliche Cohen-Songs, die sich auf ganz eigene, wunderbar leichtfüßige Weise ins Tänzerische begeben.

Keiner fragt nach meinem Favoriten, doch ich nenne ihn trotzdem: Es ist der famose Song „Chelsea Hotel“, mit dem Cohen sich an Janis Joplin erinnert. Okay, ich könnte auch noch zwanzig andere erwähnen. Mindestens.

Nachhaltige Wirkung

Ich weiß nicht, ob dermaßen subjektive Äußerungen hierher gehören, aber ich riskiere es mal, weil es in diesem Falle eben nicht so abwegig ist und über allgemein verfügbaren Wikipedia-Stoff hinaus weist: Aus mehreren Generationen können viele, vor allem Frauen (denn er war ein „homme à femmes“ oder „Ladies’ Man“ wie nur je einer), sehr Persönliches erzählen, das Biographien und Schicksale auf manchmal nahezu magische Weise zu prägen scheint.

Eine meiner liebsten Cohen-LPs ist bis heute „Songs of Love and Hate“ (1971). Warum? Wegen einer – im Nachhinein betrachtet – „unsinnigen“ Verliebtheit. Aber wer fragt hier nach Sinn? Damals war es jedenfalls in manchen Kreisen üblich, angehimmelten Frauen Audio-Kassetten mit bedeutungsvollen Songs zu überreichen, mit denen man sich und seine Gefühle ausdrücken wollte. Natürlich war Cohen für derlei Wechselfälle besonders ratsam…

Ein paar Jahre später sind ein Freund und ich mit zwei ansonsten stets giggelnden Teeny-Mädchen in einen Cohen-Konzertfilm gegangen. Es war wie ein Zauber. Sie waren gerührt, haben Tränen vergossen und wirkten auf einmal seltsam gereift – „Just Like a Woman“, um Dylan zu zitieren.

Neigung zum Rückzug

Meine Frau ist als Teenager sogar ein kleines bisschen ungesetzlich vorgegangen, um an seine erwähnte Debüt-LP „Songs of Leonard Cohen“ zu gelangen. Im Tausch gegen einen Judoanzug hat sie einer Freundin die Platte abgeluchst, die eigentlich deren älterem Bruder gehörte. Wer weiß, woher er die hatte. In weiten Teilen des Sauerlands gab es damals offenbar keinen Plattenladen, der Cohen führte.

Eine Facebook-Bekannte war so vom Menschen und Künstler Cohen ergriffen, dass sie ihm durch Länder und Kontinente nachgereist ist und sicherlich viele Dutzend seiner Konzerte erlebt hat. Wahrhaftig: Nicht wenige Frauen waren Cohen geradezu verfallen oder ergeben.

Leonard Cohen, der zuletzt in Los Angeles lebte, hatte nachhaltigen Einfluss auf zahllose Menschen, doch er hat nie entsprechende Attitüden eines Popstars entwickelt. Er war und blieb auch als Singer/Songwriter ein Schriftsteller, den es eher in die Stille und zur Kontemplation zog. Mehrmals hat sich dieser (nach eigenem Bekunden zu Depressionen neigende) Dichter vor der Welt verschlossen – in den 60ern wählte er die griechische Insel Hydra als Rückzugsort, ab Mitte der 90er Jahre ein buddhistisches Kloster bei Los Angeles.

Darf man sagen, dass seine Wiederkehr einer Erscheinung glich? Oder klingt das unangemessen messianisch? Sei’s drum.




Euphorie im Eigenheim: Die Bochumer Symphoniker beziehen das Musikforum Ruhr

Bochums neuer Konzertsaal: 960 Plätze, vier Jahre Bauzeit, 38 Mio Euro. (Foto: Lutz Leitman)

Bochums neuer Konzertsaal: 960 Plätze, vier Jahre Bauzeit, 38 Mio Euro. (Foto: Lutz Leitman)

Viktoria! Es ist vollbracht. Die Horngruppe der Bochumer Symphoniker erhebt sich von den Stühlen und schmettert das erlösende D-Dur-Finale in alle Himmelsrichtungen. Unter unsäglichen Mühen wurde dieser siegreiche Schluss errungen, nach einer langen und stürmischen Schlacht widerstreitender Kräfte.

Jetzt aber gibt es kein Halten mehr. Gustav Mahlers 1. Sinfonie mündet in einen Triumph, der das Herz wanken und den Verstand stillstehen lässt. Vergessen sind die vergeblichen Anläufe, die bis zum glücklichen Durchbruch nötig waren. Vergangen sind die schmerzlichen Dissonanzen, die enttäuschten Erwartungen und die Momente tiefer Mutlosigkeit. Der hymnische Choral der Blechbläser fegt alles hinweg.

Für einen Moment steht Dirigent Steven Sloane nach dem krachenden Schluss erschöpft da, während das Bochumer Publikum in Jubel ausbricht. Es feiert die Eröffnung des Anneliese Brost Musikforums, für dessen Bau der Dirigent, das Orchester, seine Freunde und Förderer sowie eine engagierte Bürgerschaft mehr als 15 Jahre lang tapfer gestritten haben.

Die Symbolkraft von Mahlers Musik, die den neuen Konzertsaal (an der Viktoriastraße!) mit Klang und Leben füllt, dürfte selten sinnreicher geklungen haben als an diesem Abend. Zum ersten Mal in ihrer fast 100-jährigen Geschichte haben die Bochumer Symphoniker ein eigenes Zuhause, trotz knapper Kassen und kontroverser Debatten. Das Nomadentum zwischen fremden, oft nicht verfügbaren und akustisch unbefriedigenden Spielstätten hat endlich ein Ende.

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Steven Sloane hat mehr als 15 Jahre für das neue Musikzentrum gekämpft (Foto: Christoph Fein)

Steven Sloane dirigiert Mahlers sinfonischen Erstling auswendig. Er präsentiert eine optimistische Lesart, die viel von Österreichs lieblichen Seiten erzählt: von Naturlauten, Vogelstimmen, frohen Wanderliedern, rustikalen Ländlern und schmeichlerisch wiegenden Walzern. Kraftvoll marschiert das robuste Scherzo voran. Wo Trompetensignale aus sphärischer Ferne zu uns dringen, tut sich die unergründliche Dunkelheit des Weltalls auf.

Oft sind es quäkende, nachgerade spöttisch meckernde Einwürfe der Holzbläser, die das vermeintliche Idyll bei Mahler zerfetzen. In Bochum kommt „der Titan“, so der Beiname von Mahlers 1. Sinfonie, freilich recht samtpfötig daher. Er kennt zwar Abgründe, aber wenig schneidenden Schmerzenslaut, wirkt zuweilen sogar gefallsüchtig. Das schadet vor allem dem langsamen dritten Satz, dessen grotesker Trauermarsch unter dem Dirigat von Steven Sloane mehr harmlos-hübsche Collage ist als beißende Parodie. Statt das nach Moll gewendete Bruder-Jakob-Thema von einem Solo-Kontrabassisten vortragen zu lassen, was absichtsvoll jämmerlich klingt, lässt Bochums GMD es von der gesamten Bassgruppe klangschön intonieren.

Die finale Apotheose aber gelingt, wenn auch unter der Aufbietung aller Kräfte, die das Orchester nach dem viertägigen Eröffnungstrubel und zwei weiteren Sinfoniekonzerten noch zu mobilisieren vermag. Zum Prüfstein wird Mahlers Sinfonie auch für den Konzertsaal, der nun zeigen muss, was er akustisch zu bieten hat.

Im Hochparkett fällt das Resultat höchst erfreulich aus. Jedes leise Zischen des Beckens, jeder Ton der Harfe, jeder dumpfe Pianissimo-Schlag auf den großen Metallgong ist deutlich zu vernehmen. Die Streicher klingen warm, die Pauken punktgenau und trennscharf, die Holzbläser sonor und edel. Nichts ist vermatscht oder knallig, auch nicht im druckvollen Fortissimo-Getümmel.

Der Weg in den Konzertsaal führt durch die ehemalige Marienkirche (Foto: Lutz Leitman)

Der Weg in den Konzertsaal führt durch die ehemalige Marienkirche (Foto: Lutz Leitman)

Zurücklehnen und genießen lautet da die Devise, zumal ein kluger Kopf für diesen Abend eine ungemein beziehungsreiche Werkfolge ersonnen hat. Das Programm gleicht einer Gratwanderung zwischen Spätromantik und musikalischer Moderne. Es bietet zudem ein großes Spektrum von Klangfarben und – mit György Ligetis Orchesterwerk „Lontano“ – einen roten thematischen Faden. Es sind schließlich die fernen, aus anderen Sphären zu uns herüber wehenden Klänge, die diesen Abend über das Normalmaß heben.

Richard Wagners „Lohengrin“-Ouvertüre, ein Orchesterstück von Arnold Schönberg, zwei Teile aus dem „Himmelfahrt“-Zyklus von Olivier Messiaen und schließlich György Ligetis Geniestreich „Lontano“ führen exemplarisch vor, wie der neue Konzertsaal klingt. Zunächst sind die Bläser an der Reihe: In Messiaens „Majesté du Christ demandant sa gloire à son Père“ führt die Trompete sehr dominant, während die anderen Bläserstimmen sich darunter auffächern wie das Register einer Orgel.

Wagners „Lohengrin“-Ouvertüre strömt vom ätherisch-zarten Pianissimo der Geigen bruchlos und balsamisch bis zum majestätischen Fortissimo-Höhepunkt. Das dritte von Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücken op. 17, vor allem aber György Ligetis „Lontano“ eröffnen wahre Klangfarbenwunder. Es ist schlicht zum Staunen, welche Körperlichkeit Ligetis Musik im Raum gewinnt. Wie sie sich zu Wolken ballt, die mal gleißendes Licht, dann wieder mysteriöses Dunkel verströmen. Der Saal bildet dieses feine Ton-Gewebe ab wie eine Skulptur, die ganz allmählich ihre Form verändert. Wir hören eine hochexpressive Musik, die wie aus dem Nichts kommt und nach einem langen Decrescendo ins Unhörbare zurück gleitet.

Momente reiner, ja kristalliner Schönheit schenkt uns Olivier Messiaens „Prière du Christ montant vers son Père“. Die Streicher der Bochumer Symphoniker erfüllen das Werk mit einer Leuchtkraft, als fiele Licht durch Kirchenfenster. Für Bochums neuen Konzertsaal, der über die ehemalige Marienkirche zugänglich ist, lässt sich ein passenderes Programm schwerlich denken.

(Informationen zum Programm der Bochumer Symphoniker unter http://www.bochumer-symphoniker.de/konzerte/)




Das neue Zuhause der Bochumer Symphoniker ist ein spektakuläres Bau-Ensemble

Blick auf die Außenseite des Musikforums. In dem länglichen Gebäude findet sich der große Saal. Foto: -n

Blick auf die Außenseite des Musikforums. In dem länglichen Gebäude findet sich der große Saal. Foto: -n

Das Erstaunen ist groß, schon der erste Eindruck nimmt uns gefangen. Denn dieses dreiteilige Bauensemble, wie es sich aneinanderschmiegt im Herzen der Bochumer Innenstadt, ganz nah am Bermuda3Eck, ist so außergewöhnlich wie wohl einzigartig. Weil hier das geneigte Publikum den großen Konzertsaal links oder den multifunktionalen Kammermusiksaal rechts durch eine mittig gelegene Kirche erreicht. Willkommen also im nigelnagelneuen Anneliese Brost Musikforum Ruhr, der ersten eigenen Spielstätte der Bochumer Symphoniker.

Die Kombination mit der Kirche, St. Marien, ist ein Coup. Bereits 2002 wurde sie profaniert, sie dämmerte vor sich hin, verkam, es drohte der Abriss. Doch die nun realisierte Lösung, durchgesetzt nach zähem Ringen, entpuppt sich als der pure Glücksfall. Die Bauten strahlen Harmonie aus, in ihrer Länge bilden sie, parallel zur Viktoriastraße, eine Linie, denn die neuen Gebäude reichen nicht höher als die Traufe des einstmaligen Gotteshauses. Nur der Kirchturm überragt alles. In seinem Innern hängt noch eine der alten Gussstahlglocken, auf b gestimmt. Ein herrlich warm klingender Pausengong – die Blicke wandern anerkennend nach oben.

Die Kirchenglocke als Pausengong. Foto: -n

Die Kirchenglocke als Pausengong. Foto: -n

Dabei gibt sich der Kirchenraum selbst in strahlendem Weiß, und mancher mag damit im ersten Moment Kälte assoziieren. Doch weit gefehlt: Das helle Licht blendet an keiner Stelle, die kirschbaumfarbenen Möbel von Garderobe, Bar und Kartenverkaufsstand fangen das Weiß geschickt auf. Große Türen links und rechts führen schließlich über ein Zwischenfoyer zur jeweiligen Spielstätte. Und auch hier: ein Gefühl von Wärme und Behaglichkeit macht sich breit.

Der große Saal: Prinzip Schuhschachtel, aber durch einige Rundungen ist die Kastenform geschickt aufgelockert. Exakt 964 Menschen finden hier Platz, auf cremefarbenen Sitzen im Parkett und Hochparkett, auf zwei Emporen sowie auf zwei Galerien, die sich links und rechts längs des Raumes befinden. Wieder dominiert das Holz der amerikanischen Kirsche den Blick, oben fallen fünf helle, geschwungene Akustiksegel ebenso auf wie eine luftig konstruierte Mikadodecke, über der sich indes noch allerlei Technik verbirgt. Nett wirken einige „Gardinen“ an den Saalwänden, sie dienen allerdings der Akustik und versagen sich damit jeder ästhetischen Debatte.

Zum kleinen Saal sei gesagt, dass er maximal 324 Plätze fasst, aber auch in mehrere kompakte Raummodule umgewandelt werden kann. Hier soll vor allem die Bochumer Musikschule eine weitere Wirkungsstätte finden, die mit mehr als 10.000 Studierenden eine der größten Deutschlands ist. Die Bochumer Symphoniker wiederum geben hier Kammermusikabende oder Kinder-, Jugend- und Familienkonzerte. Nicht zuletzt ist der Kirchenraum selbst Spielstätte, etwa für kleine Jazzkonzerte oder Lesungen.

Steven Sloane, seit 1994 Chef der Bochumer Symphoniker. Auch sein beharrlicher Einsatz war Garant für die Realisierung der neuen Spielstätte. Foto: Christopher Fein

Steven Sloane, seit 1994 Chef der Bochumer Symphoniker. Auch sein beharrlicher Einsatz war Garant für die Realisierung der neuen Spielstätte. Foto: Christopher Fein

So ist es also geschafft. Die Bochumer Symphoniker, die 2019 ihren 100. Geburtstag feiern können, haben endlich ein eigenes Zuhause. Und es ist nur gut, dass sich dieses Heim mitten in der Stadt befindet. Die zeitweilig ernsthaft diskutierte Alternative, ein Neubau nahe der Jahrhunderthalle, wirkt rückblickend geradezu bizarr. Hier ins Zentrum gehört dieses „Musikforum“, das den Namen der einstigen Verlegerin Anneliese Brost trägt, deren Stiftung das Haus mitfinanziert hat. Wozu zu sagen ist: Ohne die unermüdliche Kärrnerarbeit von Steven Sloane – Chef des Orchesters seit 1994 und bis mindestens 2020 – und ohne das breite finanzielle Engagement von mehr als 20 000 Spendern, zumeist Bochumer Bürgern, wäre das Projekt wohl kaum geglückt.

Das Haus mit Leben zu füllen, über den euphorischen Beginn der Eröffnungswoche hinaus, ist nun die nächste Herausforderung. Immerhin: Der Run auf die Abos dieser Saison ist groß. Und nach 17 Jahren einer teils hitzigen, teils sich im Kreis drehenden Debatte über Pläne, Standorte, Kosten und Nutzen scheint alles Kommende eine Kleinigkeit. Nun gilt’s der Kunst.




Fabelhaftes Einverständnis: Der Oboist Albrecht Mayer und das Schumann Quartett in Essen

Das Schumann Quartett. Foto: Kaupo Kikkas.

Das Schumann Quartett. Foto: Kaupo Kikkas.

„Ich steh mit einem Fuß im Grabe“, kündigt Albrecht Mayer die erste Zugabe an und weckt eine gewisse Heiterkeit im Saal der Philharmonie Essen. Die Sinfonia zu dieser Kantate Johann Sebastian Bachs passt für den Solo-Oboisten der Berliner Philharmoniker: Sie stammt wohl aus einem früheren Oboenkonzert Bachs.

Bei der zweiten Zugabe war der Fuß gleich wieder aus der Grube draußen: Bernhard Crusells Divertimento für Streicher und Oboe op. 9, 1823 in Leipzig erschienen, ist in der Tat ein veritabler „Rausschmeißer“: Spritzig und agil schreibt der Klarinettenvirtuose und schwedische Hofmusikus, geprägt von seinem Lehrer Abbé Georg Joseph Vogler und ein wenig im Stil Carl Maria von Webers.

Mit dieser originellen Zugaben-Kombination endet ein Kammerkonzert, dessen Programm mit einem Meisterstück der Quartettliteratur begonnen hat, Mozarts letztem Werk für diese Besetzung in F-Dur (KV 590). Es lässt die elegischen Ausflüge nach Moll vernehmen, die das Abschlusswerk des Abends, das Quintett in c-Moll (KV 406) prägen werden. Zu hören ist sozusagen eine doppelte Bearbeitung: Mozart selbst hat seine „Nacht-Musique“ für Bläser (KV 388) umgeformt – und aus dem Streichquintett wurde jetzt eine Bearbeitung für Oboe und Quartett.

Mayer findet in den geheimnisvollen Schatten und melancholischen Eintrübungen zu einem fabelhaften Einverständnis mit dem jungen Schumann Quartett. Die Formation, bestehend aus drei jungen Herren mit dem Nachnamen Schumann und der estnischen Bratscherin Liisa Randalu, hat sich seit 2012 Achtung und Aufmerksamkeit erspielt. Sie wird in dieser Saison eine dreijährige Residenz bei der Chamber Music Society des Lincoln Center New York beginnen, spielt Konzerte in London, München und Zürich, debütiert beim Rheingau Festival und kündigt eine CD mit Werken von Haydn, Bartók, Takemitsu und Pärt an.

Auf dem Weg zur Weltspitze: das Schumann Quartett. Drei Brüder aus dem Rheinland und eine junge Dame aus Estland. Foto: Kaupo Kikkas.

Auf dem Weg zur Weltspitze: das Schumann Quartett. Drei Brüder aus dem Rheinland und eine junge Dame aus Estland. Foto: Kaupo Kikkas.

Auch beim Essener Konzert flankiert Mozart eine ungewöhnliche Auswahl. Eine reizvolle Entdeckung ist das Quintett für Oboe und Streicher des Engländers Arnold Bax. Der 1953 gestorbene Wahl-Ire – Schönbergs Neuerungen hat er abgelehnt – schwelgt in der ausgekosteten Schönheit tonaler Harmonien, bleibt aber originell: Seine Musik ist wie in seinen leider kaum gespielten sinfonischen Dichtungen atmosphärisch dicht, farbenreich und nie kitschig. Die Streicher und der Oboist Albrecht Mayer finden in der behutsamen Melancholie zu atmendem Einverständnis, halten die üppigen Harmonien in perfekter Balance. Die Oboenstimme wird manchmal wie improvisiert geführt, erinnert dann wieder an gedankenverlorene meditative Hirtenweisen und im dritten Satz an einen irischen Volkstanz.

Auch in Mozarts Quintett fällt auf, wie feinsinnig die Balance zwischen der Oboe und den Streichern gestaltet ist: Mayer räumt der Oboe keine Dominanz ein, fügt sich mit einem ausgeglichenen Ton in das dichte Stimmengeflecht ein, hält ihn auch in der Höhe weit, weich und klar. Die jungen Streicher spielen mit leichtem, noblem Klang, dynamisch vielfältig abgestuft und in einer wie selbstverständlich wirkenden Übereinstimmung. In Mozarts F-Dur-Quartett hält Erik, der erste Geiger, seine Dominanz diszipliniert zurück, Ken an der zweiten Geige schmiegt sich harmonisch in die melodischen Verläufe ein, Mark Schumann am Cello hat hier, aber auch im c-Moll-Quintett und bei Arnold Bax wunderschöne Momente, ebenso die Bratschistin Liisa Randalu mit berückender Formung des Ton. Manchmal halten sich die jungen Leute freilich zu vornehm zurück: Das Mozart-Quintett vertrüge einen Schuss Temperament sehr gut.

Von diesem erzmusikalischen Feingefühl profitiert auch Alfred Schnittkes Drittes Streichquartett. Der Sohn deutsch-russischer Eltern hielt nichts von den Fortschritts-Ideologien der westlichen Moderne. Er bildete seine eigene Sprache heraus, tonal und atonal, vor allem aber mit vielfältigen Rückbezügen in die Geschichte der Musik. In dem Quartett von 1983 zitiert er zu Beginn ein Motiv von Orlando di Lasso, spaltet es harmonisch auf, setzt einen kraftvollen Halteakkord und beginnt dann, das Material durchzuarbeiten. Da tritt noch Beethoven hinzu. Und die Töne D-Es-C-H als Kürzel für Schostakowitsch.

Das Schumann Quartett spielt Schnittke genau abgestuft im Klang und im besten Sinn unbeschwert: Die dichte Verarbeitung der Motive bleibt stets durchhörbar. Im Vordergrund steht, mit den klanglichen Raffinessen nicht zu überwältigen, sondern die inneren Spannungen und Entwicklungen der Musik zu demonstrieren. Das wirkt manchmal etwas vorsichtig, aber nie trocken oder akademisch. Es zeigt sich die alte Wahrheit: Musik wird „schön“ nicht durch den gekonnt gesetzten Effekt, sondern durch die lebendige Darstellung ihrer Form.

Mayer eröffnete als Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker mit seinem Auftritt die „Ruhr Residenz“ des Spitzenorchesters. Sie wird am 5. Dezember vom Blechbläserensemble mit einem weihnachtlichen Konzert fortgeführt und findet ihren Höhepunkt im Februar 2017 mit drei Orchesterkonzerten in Dortmund und Essen. Weitere Informationen: http://www.philharmonie-essen.de/themen-reihen/ruhrresidenz.htm




Eindrücke aus der Budapester Musikszene zum 60. Jahrestag des Ungarn-Aufstands

Das Müpa-Kulturzentrum in Budapest. Foto: Werner Häußner

Das Müpa-Kulturzentrum in Budapest. Foto: Werner Häußner

Vor 60 Jahren gingen in Budapest Studentinnen und Studenten der Technischen Universität auf die Straße. Sie forderten demokratische Veränderungen. Der Studentenprotest weitete sich in Windeseile aus: Am 23. Oktober 1956 versammelten sich rund 200.000 Ungarn vor dem Parlament. Die Menschen forderten Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen und Unabhängigkeit vom stalinistisch geprägten Sowjetsystem.

Die Regierung ließ in die Menge der versammelten Bürger schießen. Noch in der Nacht weitet sich die Demonstration zum Volksaufstand auf. Zehn Tage später bereitet die Sowjetarmee dem ungarischen Volksaufstand ein blutiges und brutales Ende. 2600 Ungarn kommen ums Leben, 200.000 verlassen das Land, allein gut 15.000 gehen nach Deutschland, 8000 nach Österreich. Seit 1989 ist der 23. Oktober ungarischer Nationalfeiertag.

Das ist der Hintergrund für ein musikalisches Gedenken an die Erhebung und ihre Opfer. Vor zehn Jahren, zum 50. Gedenktag, wurde die Kantate uraufgeführt. Jetzt, zum 60. Jahrestag, erklang sie wieder im Rahmen des Contemporary Arts Festivals – abgekürzt CAFe – im beeindruckenden, akustisch ausgezeichneten Großen Saal des Müpa Budapest, des 2005 eröffneten Kulturzentrums an der Donau, gegenüber des neuen Nationaltheaters. Zwei Konzert- und Theatersäle, ein Konferenzzentrum und das Museum Ludwig für zeitgenössische Kunst sind in dem imposanten Komplex vereint.

„Istenkép“ (Gottesbild) nennt sich die Kantate für großes Orchester, Chor und zwei Solisten, komponiert von Levente Gyöngyösi. Der 1975 in Cluj in Rumänien geborene Komponist kam 1989 nach Ungarn, studierte am Bartók-Konservatorium Komposition und Klavier, und hatte seinen ersten großen Erfolg mit der 2000 uraufgeführten Oper „Kalif Storch“, die seit 2005 im Repertoire der Ungarischen Nationaloper geführt wird. Gyöngyösi schrieb außerdem zwei Sinfonien, eine Sinfonia concertante, das Oratorium „Missa Vanitas Vanitatum“ und eine große Anzahl geistlicher Werke für Chöre. Zur Zeit, so ist auf seiner Homepage zu lesen, arbeitet Gyöngyösi an einem Musical nach Bulgakows „Der Meister und Margarita“.

Die fünfteilige Kantate, beginnend mit einem unbegleiteten Flötensolo, zeigt sich als ein Werk voll Pathos und Melancholie, abwechslungsreich gegliedert, gekonnt instrumentiert und in einer die Möglichkeiten und Grenzen der Tonalität ausschreitenden Schreibweise. Zu hören sind hektisch-dramatische Repetitionen im Orchester, Bläserattacken, komplexe Akkorde, die an Mussorgsky und Schostakowitsch erinnern. Aber auch ein bassloser, verklärter Frauenchor nach dem von Polina Pasztircsák mit klarer, unangestrengter Stimme vorgetragenen „Gebet für die Gefallenen“, dem Mittelteil des Werks. Im spröden, expressiven Solo des Bassbaritons Géza Gábor geht es um János Kádár, den Chef der prosowjetischen Regierung nach der Niederschlagung der Freiheitsbewegung.

Solche Musik des Gedenkens wird es schwer haben, nationale Grenzen zu überwinden, weil sie (zu) stark an ein konkretes historisches Ereignis gebunden ist. Aber die Musik spricht für den Komponisten Gyöngyösi – und vielleicht gelingt es, auf sein Schaffen aufmerksam zu machen: In einem hoffentlich weiter zusammenwachsenden Europa sollte die Musik der Nachbarn nicht unbeachtet bleiben. Das Budapester Festival ist dafür ein Anlass. Der Besucher, der nicht vertraut ist mit dem ungarischen Kulturleben, wünscht sich allerdings mehr Information, als dem knappen Programm-Faltblatt zu entnehmen ist: Will das Festival internationales Publikum anziehen, bräuchte es – gerade bei dieser Kantate – einen Text mit einer Übersetzung.

Das Konzert, das die Kantate „Istenkép“ abgeschlossen hat, stand unter dem Titel „Zeitgenössische Romantiker“. Die Ungarn haben offenbar keine Probleme mit einer Stilrichtung, die so vielfältig wie rückwärtsgewandt, so ungenau zu definieren wie unter Umständen ideologisch belastet ist. Im Programm des Festivals stehen die „Romantiker“ von heute neben Uraufführungen junger Komponisten und den inzwischen zu „Klassikern“ der (Post-)Moderne gewordenen Tonschöpfern Krzysztof Penderecki und Steve Reich – letzterer gewürdigt in einem Konzert zum 80. Geburtstag in der Liszt-Akademie.

Was diese neuen „Romantiker“ ausmacht, ist kaum zu beschreiben. Der Begriff ist wohl weder an der literarischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts festzumachen, noch bezieht er sich auf „romantische“ philosophische Begriffe. Der Rückgriff auf spätromantische musikalische Elemente oder der neue Stellenwert der Melodie sind ebenfalls keine verlässlichen Kriterien: Solches findet sich bei modernen amerikanischen Komponisten ebenso wie bei einem traditionsbewussten Zeitgenossen und Klangsucher wie Wolfgang Rihm.

Am einfachsten noch lässt sich klären, was „Romantiker“ bedeuten soll, wenn man László Dubrovay zu Wort kommen lässt. Der 1943 geborene Komponist hat sich früher mit experimenteller und elektronischer Musik beschäftigt und war von 1972 bis 1975 als Austauschstudent des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes bei Karlheinz Stockhausen und Hans-Ulrich Rumpert. Von 1976 bis 2008 lehrte er an der Musikakademie Budapest Musiktheorie. Seit den 1990er Jahren wandte sich Dubrovay der Tonalität und der Melodie zu. Mit einem neuen harmonischen System will er nach eigenen Worten melodisches Denken und Singen wieder ermöglichen. Nach den „Abweichungen“ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so seine Überzeugung, könne die Musik nun wieder zum vollständigen Reichtum menschlichen Denkens und Fühlens zurückkehren.

Hört man sein Zweites Klavierkonzert, betitelt „Concerto romantico“, identifiziert sich diese musikalische „Romantik“ als historistisch und rückwärtgewandt. Drei Sätze in der üblichen Folge Schnell-Langsam-Schnell, überkommene Formschablonen. Das Konzert ist eine nostalgische Beschwörung: Fortschrittsgedanke, hebe dich hinweg! Materialidee, entfleuche! Stattdessen wird dem Solisten gehuldigt, als hätte es Johannes Brahms nie gegeben: János Balázs spielt wie ein auferstandener Liszt Ferenc. Hier perlende Läufe, dort rauschende Arpeggien und donnernde Parallelen, ein „träumerisches“ Seitenthema im ersten, grummelnde Bass-Bedeutung im zweiten Satz. Alles ist wie früher – nur Dubrovays melodische Erfindung kann leider weder mit Schubert noch mit Grieg mithalten. Der zweite Satz mag die Aufmerksamkeit länger fesseln: Da hat Dubrovay mit Bläsersoli und Streicherglissandi das „romantische“ Klangklischee ein bisschen verfremdet. Und das Eingangsthema des dritten Satzes ist so gestrickt, dass ein Komponist des 19. Jahrhunderts etwas daraus hätte machen können.

Die postmoderne Egalität, die Gleichstellung aller Ästhetiken, die Unfähigkeit, Kriterien zu benennen, kommt solchen Entwicklungen durchaus entgegen. Vielfalt wird ermöglicht, Qualitätsurteile geraten ins Zwielicht. In der Bildenden Kunst ist dieser Prozess schon lange im Gang; was Scharlatanerie ist und was Genie, entscheiden meist Museumsdirektoren, renommierte Galerien und ein kaufkräftig-exquisites Sammlerpublikum. In der Musik ist das Ziel der Reise noch nicht absehbar. Es gibt ja sogar Stimmen, die vom Ende der (klassischen) Musik sprechen. Ein Mann wie László Dubrovay dürfte trotzdem – auch wenn etwa in der Malerei das „Altmeisterliche“ eine gewisse Nische besetzt – mit seiner Imitation der Vergangenheit keine Chance haben. Vorbei ist eben vorbei, die Zeit lässt sich weder ignorieren noch zurückdrehen.

Dann geht man schon eher mit György Orbán mit: 1947 in Siebenbürgen geboren und als Kompositionsprofessor an der Liszt-Akademie eine der einflussreichen Personen in der ungarischen Musikszene, hat in seiner „Serenade Nr. 4“ eine üppig instrumentiertes Capriccio geschaffen, melodisch attraktiv, rhythmisch zupackend, mit Elementen aus Ragtime und Jazz, äußerst virtuosen Hornstellen und neckisch gestopfter Trompete. Das fähige Dohnányi Orchester Budafok unter Gábor Hollerung hat in diesem – wie in der anderen Werken des Abends – dankbare Aufgaben und sorgt für den glatten, widerstandslosen Klang. Béla Bartók jedenfalls, wie nachdrücklich er auch beschworen werden mag, ist weit entfernt.

Hinweis: Die Deutsch-Ungarische Gesellschaft in der Auslandsgesellschaft NRW e. V. in Dortmund lädt aus Anlass des Gedenkens an den 60. Jahrestag der Revolution von 1956 zu einem Filmabend ein: Am Dienstag, 25. Oktober, 19 Uhr, wird in der Steinstraße 48, (44147 Dortmund) der Film „Liebe“ von Károly Makk gezeigt. Eintritt frei.




Ohne Zauberhand: Gabriel Feltz und die Dortmunder Philharmoniker eröffnen die Reihe der Sinfoniekonzerte

Gabriel Feltz  


Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures

Claude Debussy war sein Leben lang verliebt in Spanien. Betreten hat er das Land allerdings nur ein einziges Mal. Seine Musik spiegelt also eher eine Vorstellung wieder, einen Traum des idealen Spanien. Zu hören schon in seinen frühen Liedern, vor allem aber in „Ibéria“ aus den „Images“ für Orchester. Debussy verwendet für die drei Impressionen keine Folklore, sondern er erfindet das Charakteristische neu – und so gut, dass kein Geringerer als Manuel de Falla das spanische Idiom geradezu beispielhaft getroffen sah.

In Dortmund heißt das erste der Philharmonischen Konzerte der neuen Spielzeit – anbiedernd an modisches Neuschreib – „zauber_bilder“. Dem „Zaubrischen“ nähern sich die Philharmoniker und ihr Chef Gabriel Feltz auf drei unterschiedlichen Wegen. Debussy steht in der Mitte, flankiert von Paul Dukas‘ „Zauberlehrling“, der wörtlichsten Konkretion des Themas, und Peter Tschaikowskys Fünfter Symphonie, in der Verzauberung in Verzweiflung mündet, wenn man denn ein verborgenes, möglicherweise sogar biografisches Programm annehmen will.

Der Zauber Spaniens, seiner Straßen und Wege, des Parfums seiner Nacht und der Stimmung des Morgens eines Festtages erforderte für Debussy, eine neue Musik zu entwickeln, die weder Volkstümliches kopiert noch den Merkmalen des  damals in Frankreich beliebten Exotismus huldigt. Natürlich kannte er die melodischen Muster der spanischen Musik, ihr rhythmisches Profil, ihre harmonischen Entwicklungen und ihre typischen Instrumente. Aber er gießt dieses Wissen in einem langen, mühevollen Kompositionsprozess in etwas Neues. Pierre Boulez nannte „Les parfums de la nuit“ eines der einfallsreichsten Stücke Debussys, nicht so sehr wegen seines thematischen Gehalts, sondern wegen der innovativen Art, wie er Entwicklungen aufbaut, wie er den Orchesterklang ausbildet und Übergänge subtil gestaltet.

Von dieser Raffinesse ist bei den Dortmunder Philharmonikern nicht viel zu hören. Feltz legt Debussys drei Bilder unter das harte Licht einer mühevollen Analyse, als liege die Landschaft Spaniens stets nur unter gleißend unbarmherziger Sonne. Der milde Mond der Nacht, der Konturen verschwimmen lässt, Formen ins Ungefähre auflöst, Farben sanft verzeichnet, die materiellen Grenzen zwischen den Dingen weich verlöschen lässt, ist Feltz‘ Lichtquelle nicht. An spieltechnischen Grenzen der Musiker hat es nicht gelegen. Die Holzbläser lassen sich nicht unterkriegen, auch von langsamen Tempi nicht; die Streicher, vor allem die Bratschen und Celli, haben immer wieder magische Pianissimo-Momente.

Das Dortmunder Konzerthaus: Hier spielen die Philharmoniker. Foto: Häußner

Das Dortmunder Konzerthaus: Hier spielen die Philharmoniker. Foto: Häußner

Aber wenn Feltz Oboe oder Klarinette herausfordert, kommt der Ton zu direkt. Wenn Tamburin oder Celesta sich einmischen, ein Xylophon fern verwehende Töne spielt, ein Rhythmus aufkeimt und wieder verwischt, zeigt Feltz all diese Vorgänge in so deutlichen Konturen, dass die Mischung kaum mehr gelingt. Farben reiben sich, Klänge prallen aufeinander, Harmonien – zumal, wenn die Präzision der Töne nicht minutiös getroffen wird – wirken eher wie Streulicht als wie magische Reflektionen. So macht man, um die Malerei zu bemühen, aus einem Claude Monet einen Karl Schmidt-Rottluff.

Paul Dukas‘ malend erzählende Musik gelingt an diesem Abend am besten: Vom filigranen Beginn an bis hin zum quarzend ersterbenden Fagott am Ende schwelgt das Orchester in Farben und Gesten, und Gabriel Feltz sorgt für die Dynamik, die dem Zauberlehrling erst unheimlich Spaß, bald aber absolut keine spaßige Panik bereitet. Das hat Schwung und lebt vom sinnigen Aufbau der Dynamik.

Um Tempo- und Lautstärke-Dramaturgie geht es auch in Tschaikowskys Fünfter. Das vergebliche Anrennen der symphonischen Motive gegen die wuchtigen Abbruchkanten der Form, die depressiven Irrläufe, die lastende Schwere wollen vor allem dynamisch gestaltet werden, brauchen auch eine überlegte Disposition der Tempo-Entwicklungen.

Bei Feltz hat man eher den Eindruck von expressiven Inseln, deren innerer Zusammenhang nicht deutlich wird. Der Andante-Beginn ist verhalten und ausdrucksstark, die Innenspannung lässt ahnen, was sich zusammenbraut. Auch das „con anima“ hat in der belebten Bewegung des Allegro seinen Platz. Aber der erste Höhepunkt in Blech und Pauke bereitet sich nicht vor. Feltz gestaltet das Wechselspiel von Ladung und Entladung, von sich Anspannen und sich Lösen nicht. Und immer wieder schleudern die Philharmoniker eruptive Entladungen als brachialen Lärm von sich. Da wäre die dämpfende, nicht die fordernde Hand des Dirigenten gefragt.

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Es gibt also noch Luft nach oben in dieser Spielzeit, für die noch zwei Mal Debussy im Konzert angekündigt ist: am 8. und 9. November im Dritten Philharmonischen Konzert „Prélude à l´après-midi d´un faune“, am 4. und 5. April 2017 im Siebten Konzert „La Mer“ – in Kombination mit Antonín Dvořáks Sinfonischer Dichtung „Der Wassermann“ und dem nicht eben häufig gespielten Cellokonzert des vor 100 Jahren geborenen Henri Dutilleux. Im Achten Philharmonischen Konzert am 9. und 10. Mai 2017 spielt Mirijam Contzen das Violinkonzert Tschaikowskys; dazu gibt es Sergej Rachmaninows Dritte Sinfonie.

Im nächsten Konzert am 18. und 19. Oktober eröffnet Wagners „Holländer“-Ouvertüre den Abend, gefolgt von fünf orchestrierten Liedern Franz Schuberts mit Bo Skovhus als Solist und Dvořáks Siebter.




Als man in Unna um die Kirchenkanzel kämpfte: Philipp Nicolai – Dichter, Pfarrer, Lutheraner

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den streitbaren Theologen und Dichter Philipp Nicolai (1556-1608), der zur frühen Literaturgeschichte Westfalens gehört:

Die Unnaer Stadtkirche kenne ich aus meiner Schulzeit. Am dortigen Ernst-Barlach-Gymnasium (damals Aufbaugymnasium) habe ich Abitur gemacht. Jeden Mittwoch morgen fand in der Stadtkirche ein Schülergottesdienst statt.

Natürlich sind wir, als wir älter wurden, oft nicht hingegangen, haben uns am Bahnhof getroffen, Cola getrunken und geredet, aber kurz vor Schluss des Gottesdienstes haben wir uns doch in die Stadtkirche geschlichen, haben oben auf der Empore gesessen und das Schlusslied laut mit geschmettert, so dass sich unsere Lehrer, die natürlich vorne, in der Nähe des Altars saßen, zufrieden umblickten. Ja, es war schön für sie, fromme Schüler zu haben.

Vertont von Bach und Händel

Dass es in dieser Kirche mal eine folgenschwere Schlägerei zwischen zwei Pfarrern gegeben hatte, die noch dazu literarische Folgen hatte, habe ich damals nicht gewusst. Wer weiß, vielleicht hätte ich die Gottesdienste sonst aufmerksamer verfolgt.

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain - Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) Porträt-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain – Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum). Digitaler Portrait-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Es gibt zwei Kirchenlieder, die nahezu jeder kennt. „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ lautet das eine und das andere beginnt: „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“ Gedichtet wurden sie um 1598 von dem damaligen Pfarrer der Unnaer Stadtkirche, Philipp Nicolai.

Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach hat diesen beiden Texten Kantaten gewidmet, und Georg Friedrich Händel hat ein Motiv des so genannten „Wächterliedes“ in den Halleluja-Chor seines „Messias“ übernommen. Größere Anerkennung konnten die Lieder wohl kaum finden – und das, obwohl man sie eher als Gelegenheitsschriften ihres Verfassers ansehen könnte. Er hat sie nämlich 1599 erstmals im Anhang seines Buches „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ veröffentlicht, und durch sie ist er zu Lebzeiten auch nicht bekannt geworden.

Zu einem der berühmtesten Pfarrer seiner Zeit haben ihn vielmehr religiöse Streitschriften gemacht, in denen der glühende Lutheraner vehement den Calvinismus bekämpfte. Heute sind diese Streitschriften nur noch von religionsgeschichtlichem Interesse. Umso einziger ragen aus seinem umfangreichen literarischen Werk die beiden Kirchenlieder heraus.

Eltern stammten aus Hagen und Herdecke

Was hat diesen streitbaren und umstrittenen Theologen nach Unna geführt? Da ist einmal seine westfälische Herkunft zu nennen. Geboren wurde er zwar am 10. August 1556 in Mengeringhausen in der Grafschaft Waldeck, aber beide Eltern stammten aus Westfalen: Vater Dietrich Rafflenboel aus Hagen und Mutter Katharina Meyhan aus Herdecke.

Die Rafflenboels waren eigentlich Bauern, aber Dietrich brach mit der Tradition, begann ein Theologiestudium und wurde zuerst, wie später auch sein berühmter Sohn Philipp, Pfarrer in Herdecke. Einer damaligen Mode folgend übertrug er den Vornamen seines Vaters Klaus ins Lateinische und nannte sich mit Nachnamen Nicolai.

1552 musste er wegen der Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten aus Herdecke fortziehen – sein Sohn sollte ihm drei Jahrzehnte später auch darin folgen – und übernahm eine Pfarrstelle in Mengeringhausen, das einige Kilometer entfernt von Kassel liegt, wo Philipp als eines von acht Kindern geboren wurde. Philipp Nicolai hatte also eine enge Beziehung zu Westfalen, als er 1596 ein Angebot aus Unna erhielt.

Wichtiger für dieses Angebot aber war seine strenge lutherische und anticalvinistische Grundhaltung. In einem Streitgespräch 1590 hatte er zwar noch Mohammed und den Papst als schlimmste Helfershelfer des Teufels ausgemacht und das als strenger Lutheraner womöglich sogar von der Bibel her begründet. Später aber hat er in hitzig-polemischen Schriften nur noch den Reformator Calvin und seine Anhänger bekämpft.

Gegen den Calvinismus

Hitzige Kämpfe zwischen Lutheranern und Calvinisten gab es kurz vor seiner Berufung auch in Unna. Einige Kaufleute und ein Teil des Rates um die Altbürgermeister Winold von Büren, Ernst Brabender und Hinrich zum Broch wünschten 1592 eine enge Anlehnung an die Niederlande, die damals – nach der Vernichtung der spanischen Armada – den Welthandel kontrollierten und wirtschaftlich in Blüte standen. Man wollte deshalb die Stelle des Vizepastors mit dem Rotterdamer Pfarrer Hermann Grevinckhoff besetzen, der jedoch, durchaus passend für das aufstrebende Bürgertum, ein Calvinist war.

Vordergründig ging es im Streit zwischen Calvinisten und Lutheranern um die Abendmahlsfrage. Luther, in dieser Frage durchaus in katholischer Tradition, wollte der Abendsmahlsfeier weiter Heilscharakter zubilligen. Er vertrat zwar nicht mehr die so genannte Transsubstantiationslehre, nach der sich Wein und Brot direkt in Blut und Leib Christi verwandeln, lehrte jedoch, dass sich Wein und Brot bei der Abendmahlsfeier durch die Einsetzungsworte auf geheimnisvolle Weise damit verbinden. Für Calvin (und auch für Zwingli) war sie dagegen eine reine Symbolhandlung.

Wichtiger für das aufstrebende Bürgertum war allerdings Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Ob ein Mensch reich oder arm war, ob er der Seligkeit teilhaftig würde oder nicht, das alles hatte Gott vorherbestimmt. Deshalb brauchten reiche Kaufleute wegen der Armut der anderen Menschen auch kein schlechtes Gewissen zu haben, während sie selbst in ihrem Reichtum eine Bestätigung für Gottes Auserwähltheit sehen konnten. Sozialpolitisch war damit die Nächstenliebe ausgehebelt, ein glänzendes Ruhekissen für die Besitzenden.

Wüste Rauferei im Gotteshaus

Die Abt von Deutz lehnte jedoch Grevinckhoffs Berufung wegen dessen calvinistischer Einstellung ab und berief statt dessen den jungen Lutheraner Joachim Kersting. Der aber wollte zuerst seine theologischen Studien in Jena fortsetzen und schickte als Vertreter den lutherischen Kaplan Uphoff, eine Schwäche, die die calvinistische Fraktion sofort ausnutzte. Sie berief den aus Essen stammenden Magister Berger, der sofort, in strenger calvinistischer Tradition, die Bilder aus der Stadtkirche entfernen ließ. Kersting, alarmiert, eilte von Jena nach Unna und dort soll es in der Stadtkirche zu einem tollen Zweikampf gekommen sein.

Altbürgermeister Brabender gab Berger vor einem Gottesdienst die Anweisung, Kersting auf jeden Fall von der Kanzel fern zu halten und befahl dem Küster, die Kirchentüren zu schließen. Während draußen die herbeigerufenen Lutheraner gegen die verschlossenen Kirchentüren trommelten, kämpfte Kersting drinnen einen heroischen Kampf. Es war ihm gelungen, sich am Aufgang zur Kanzel festzuklammern, und so sehr Berger auch zerrte, riss und schimpfte, Kersting ließ nicht los. Der Mantel wurde ihm dabei zerrissen, aber was ist schon Kleidung im Kampf um den richtigen Glauben?

Kersting jedenfalls verteidigte die Kanzel, die auch sein Gegner nicht besteigen konnte, bis die Lutheraner sich über eine kleine Seitentür Zutritt verschaffen konnten und Berger mitsamt seinen Helfern vertrieben. Ein feste Burg ist unser Gott…

Über Schimpfwörter und handfeste Auseinandersetzungen in Glaubensfragen zu dieser Zeit darf man sich nicht wundern. Es war das Zeitalter der Orthodoxie, da galt: Es gibt nur einen richtigen Glauben. Und da es natürlich der jeweils eigene war, mussten die Anhänger des anderen, falschen Glaubens überzeugt werden. Zur Not mit Gewalt.

„Freudenspiegel des ewigen Lebens“

In Unna wollten die Lutheraner ihren Sieg festigen. Unnas neuer Bürgermeister, ein aus Köln zugezogener Patrizier namens von Westfalen, hatte gehört, dass Philipp Nicolai in der waldeckschen Landessynode calvinistische Irrlehrer exkommunizieren ließ, er hatte wohl auch dessen bekannteste Schrift „Nothwendiger und gantz vollkommener Bericht von der gantzen calvinistischen Religion“ gelesen. Wenn d a s nicht der richtige Mann für Unnas Lutheraner ist, muss er wohl gedacht haben.

Zwei Angebote aus Unna lehnt Nicolai noch ab, dann fuhr Bürgermeister von Westfalen selbst ins Waldecksche und überredete ihn. Sein Verdienst war ansehnlich: 50 Mütte reinen Korns, dazu 60 Reichstaler, sechs Fuder Holz sowie freie Wohnung mit großem Garten (eine Mütte Korn hatte den Wert von 4 Talern).

Man scheint in der ganzen Grafschaft Mark an Nicolais Kommen interessiert gewesen zu sein, denn einen Teil der Kosten für seinen Umzug übernahm die Stadt Soest, der Nicolai dann auch sein schönstes Buch, eben den „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ widmete.

In den furchtbaren Zeiten der Pest

In Unna aber traten kurz nach seinem Amtsantritt die religiösen Streitfragen in den Hintergrund. 1597 brach über Nacht die Pest aus. Nicolai stellte den Kirchenkampf hintan und beschränkte sich auf die Seelsorge. Er ging zu den Sterbenden, sprach ihnen Trost zu, hatte bis zu 30 Beerdigungen am Tag und musste miterleben, wie auch der tapfere Kanzelverteidiger Kersting der Seuche erlag.

Nicolai selbst fürchtete die Pest nicht. Er vertraute seinem Gott und fuhr – zur medizinischen Unterstützung dieses Vertrauens – zu einer Apotheke nach Dortmund, um sich Medizin zu besorgen.

Wie kann man die allgegenwärtige Todesgefahr, den vergeblichen Kampf gegen den Tod, den Zuspruch des Trostes für Hunderte von Sterbenden psychisch durchstehen? Nicolai schaffte es, indem er am Tage unbeirrt und unermüdlich seine Pflicht tat und sich abends in den erlösenden Trost der himmlischen Herrlichkeit flüchtete, in der es keinen Tod, keine Seelennot mehr gab. Während immer mehr Menschen der Pest erlagen, schrieb er seinen „Freudenspiegel“ als Trost für die Sterbenden und Hinterbliebenen, als Stärkung aber auch für sich selbst. Und im Anhang des Buches, das viele Auflagen erlebte, veröffentlichte er – wie erwähnt – seine berühmt gewordenen Lieder.

Auf dem Friedhof in der Nähe seines Gartens wurden die Leichen aufgeschichtet, Pest- und Verwesungsgeruch lag über der Stadt, Philipp Nicolai aber konnte in der Gewissheit seines Glaubens singen: „Wie schön leuchtet der Morgenstern.“ Die Musik zu seinen Liedern hat er übernommen und nicht selbst geschrieben, obwohl er das vermutlich auch gekonnt hätte. Er hat nämlich eine sehr gute Schulbildung genossen, die ihn u.a. nach Mühlhausen in Thüringen führte, wo später Bach Organist gewesen war. Dort hat Nicolai im Gymnasialkirchenchor mitgesungen und ist von dem fähigen Musiklehrer Joachim Müller a Burck unterrichtet worden, der selbst auch komponieren konnte.

Gottesreich für 1670 vorhergesagt

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ ist ebenso wie „Wachet auf“ ein Zeugnis barocker Brautmystik, in der, im Bild des Bräutigams, vom Kommen Christi und damit vom Jüngsten Tag die Rede ist. Der 45. Psalm, das Hohe Lied der Liebe und das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen im Matthäusevangelium haben mit ihrer Hochzeitsmetaphorik den biblischen Anstoß zu beiden Liedtexten gegeben.

Nicolai stand übrigens wirklich unter dem Eindruck der Naherwartung. In einer anderen Schrift, der „Historie des Reiches Christi“, hat er das Kommen des Gottesreiches sogar genau vorausberechnet und auf das Jahr 1670 datiert. Vorsichtig hat er allerdings hinzugefügt, dass es „wegen des Elends und der Bedrängnis der auserwählten Kinder Gottes“ auch früher kommen könne.

Dieses Denken ist spätestens seit der Aufklärung überwunden. Wenn Nicolais Lieder trotzdem bekannt blieben, das „Wächterlied“ sogar stetig populärer wurde, dann müssen Text und Musik wohl viel ausdrücken. Glaubensstärke und Zuversicht, Optimismus angesichts von Tod und Krankheit (in den Liedern metaphorisch ausgedrückt durch die Überwindung von Nacht und Schlaf) sprechen die Menschen auch heute an. Als König und Königin des Gesangbuchs wurden beide Lieder gelegentlich bezeichnet. Regelmäßig werden sie im Gottesdienst gesungen und Bachs Kantaten sprechen auch Nichtchristen an. In Unna sind also die Texte entstanden, in der Not einer bedrängenden Pestzeit.

Dem Ruf nach Hamburg gefolgt

Philipp Nicolai ist aber nicht in Unna geblieben. 1600 heiratete er noch in Unna die Witwe eines Dortmunder Pfarrerkollegen, eine Katharina von der Recke. Doch schon 1601 folgte er einem Ruf als Hauptpastor in der Katharinengemeinde in Hamburg. Dort wurde sein einziger Sohn Theodor geboren, dort schrieb er noch weitere 17 theologische Abhandlungen, aber schon 1608, im Alter von gerade 52 Jahren, ist er gestorben.

Vor dem Altar der Katharinenkirche hat man ihm ein Ehrengrab gegeben. Als die Kirche 1856 jedoch umgebaut wurde, hat man seine Gebeine aufgenommen und auf dem Katharinenfriedhof vor dem Dammtor beigesetzt. In Hamburg also liegt Philipp Nicolai begraben, in Unna aber hat er seine beiden schönen Kirchenlieder geschrieben.

Und wenn wir Schüler schon damals von dem tollen Zweikampf zweier Pfarrer in der Stadtkirche gewusst hätten, die Voraussetzung für seine Berufung nach Unna waren, wären wir bestimmt pünktlich zum Schulgottesdienst erschienen. Glaube ich jedenfalls.




Nichts als Überraschungen: Das Scala-Orchester mit starkem Auftritt im Konzerthaus Dortmund

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Scala-Orchester. Foto: Petra Coddington

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Orchestra Filarmonica Della Scala. Foto: Petra Coddington

Impressionen eines Konzertes, die, so dahingewürfelt, seltsam klingen mögen. Doch gemach: Die Symbolkraft und Besonderheit der Beobachtungen wird sich alsbald erschließen. Also halten wir fest, dass Daniil Trifonov jetzt Vollbart trägt, dass die Zugabe dieses spannenden Nachmittages ein zeitgenössisches Stück ist – der Komponist sitzt im Saal – und dass Schumanns Musik teils wie von Fieber geschüttelt, teils ungewohnt introvertiert klingt.

Wir hätten das so nicht erwartet, bei diesem Gastspiel des Mailänder Orchestra Filarmonica Della Scala in Dortmunds Konzerthaus, am Pult der Chefdirigent, Riccardo Chailly. Andererseits gehört es ja zur Philosophie der Dortmunder Veranstalter, dem Publikum immer aufs Neue scheinbar Bekanntes im veränderten Klanggewand zu präsentieren. „Raus aus deinen Hörgewohnheiten“ ist das Motto. Nun, in diesem Konzert mit Schumanns „Manfred“-Ouvertüre, dem Klavierkonzert und seiner 2. Sinfonie ist das auf Eindrucksvollste gelungen. Nichts als Überraschungen, wohin sich Aug’ und Ohr auch wenden.

Beginnen wir mit dem Solisten. Der 25jährige Daniil Trifonov scheint aus seiner übervirtuosen Sturm-und-Drang-Phase schon herausgewachsen, technische Schwierigkeiten können ihm offenkundig kaum noch etwas anhaben, sein Spiel hat an Reife und Reflektion enorm gewonnen. Bei Schumann jedenfalls nimmt er sich extrem zurück. Versinkt in der Musik, artikuliert zartfühlend, wirkt wie ein scheuer Zeremonienmeister. Oder auch, die Assoziation sei ob des Bartes gestattet, wie ein Eremit, der ganz im Klang gefangen ist.

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

So einer will nicht auftrumpfen, nicht voller Überschwang durchs lebhafte Finale fegen. Stattdessen rhythmische Strenge, das Virtuose fest unter Kontrolle, auf dass der Satz ja nicht zu viel Gewicht bekomme. Schumanns Konzert atmet gewissermaßen romantische Clarté, hell im Klangbild und wie abgespeckt. Dies ist dem fulminanten Dirigat Chaillys zu danken: Nie wird das Klavier vom Mailänder Orchester zugekleistert, vielmehr hören wir eine dynamisch wunderbar ausbalancierte Musik.

Trifonov spielt Schumann im Geiste Chopins. Das mag nicht jedermanns Sache sein, wenn hier und da die gestelzte Dekadenz eines Salons durchschimmert, doch am Ende hat der Pianist das Publikum auf seiner Seite. Überraschung gelungen. Wie denn auch das Orchester staunen macht. Ein Klangkörper, der mit warmen Holzbläserfarben überzeugt, dessen Violinschmelz wohltönt, der überhaupt ungemein wach agiert auf Chaillys Dirigat. Der Chef der Mailänder ist ein Kapellmeister der alten Schule, ohne körperliche Verrenkungen und andere Marotten.

Und er ist, was nun die Aufführungspraxis angeht, ein Vollblutmusiker, der etwas wagt. Weil er, in Schumanns Ouvertüre und Sinfonie, nicht der Originalklangbewegung nachspürt, die ja längst in der Spätromantik angekommen ist, sondern vielmehr die Retuschen Gustav Mahlers verwendet. Und da geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um beherztes Eingreifen in die Originalpartituren. Da klingen plötzlich Blechbläser mit Dämpfer auf, die Schumann niemals verwendet hat, da tummeln sich allein 26 erste und zweite Geigen sowie neun Kontrabässe auf der Bühne. Eine großorchestrale Besetzung, als gelte es, bloß ordentlich Effekt zu machen.

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Doch Chailly ist kein fahrlässiger Maestro am Pult, der es mal richtig knallen lassen will. Er stellt zur Diskussion. Und wenn in der „Manfred“-Ouvertüre das Klangbild hell und aufreizend funkelt, der musikalische Verlauf wie im Rausch vorüberflitzt, jede Beruhigung mehr Schein als Sein ist, wenn es schroff und wild zugeht, dann fällt es schwer, „ja, aber…“ zu rufen. Immerhin sei angemerkt, dass die Holzbläser oftmals kaum zu hören sind. Erst am Ende, wenn die Spannung nach und nach verebbt, Schumann (mit Mahler) auf Reduktion setzt, entdecken wir den balsamischen Klang von Flöten, Oboen oder Klarinetten.

Ähnlich geht es in der Sinfonie zu. Deren Hauptmotiv wird anfangs zwar noch etwas unstrukturiert vorgetragen, doch alsbald liegt alles so offen wie fiebrig und dynamisch exaltiert vor Ohren. Als Höhepunkt darf der langsame Satz gelten, dessen tristaneskes Sehnsuchtsmotiv sich ins Hymnische weitet. Da ist der Weg zu Bruckner nicht mehr fern. Dann wieder Atemlosigkeit im auftrumpfenden Finale, kraftstrotzend und roh wie bei Beethoven, teils in grenzwertiger Lautstärke. Alles vom Mailänder Orchester souverän gemeistert, präzise und mit unbedingter Leidenschaft. Überraschung erneut gelungen.

Doch damit nicht genug. Das Orchestra Filarmonica Della Scala tritt zur Zugabe an. Rasch huschen noch ein paar Musiker herbei, darunter das Personal für kleine und große Trommel sowie Becken. Sollten die Italiener als Rausschmeißer noch einen Rossini in Petto haben, serviert aus dem Mutterland der Oper? Weit gefehlt. Angekündigt wird Carlo Boccadoros „Fast Motion“. Eine vierminütige Raserei mit scharfen harmonischen Reibungen, teuflisch komplexer Rhythmik und in zumeist eminenter Lautstärke. Maschinenmusik wie von futuristischer Hand, garniert indes mit allerlei Jazzidiomatik. Ein neues Stück, wie sich herausstellt, der Komponist sitzt gerührt im Publikum, von vielen italienischen Fans frenetisch bejubelt. Überraschung gelungen: Hier, im Konzerthaus Dortmund, erklingt das Stück – eine Zugabe (!) – tatsächlich als deutsche Erstaufführung. Respekt.

 

 




Hymnische Hundertschaften: Die Neue Philharmonie Westfalen feiert ihr Jubiläum

Rasmus Baumann, Generalmusikdirektor der Neuen Philharmonie Westfalen (Foto: Pedro Malinowski)

Rasmus Baumann, Generalmusikdirektor der Neuen Philharmonie Westfalen (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Ist dies nun Größenwahn? Ein musikalischer Exzess? Ein monumentales Spätwerk oder eine „metaphysische Riesenschwarte“, wie Theodor W. Adorno meinte? Ein Universum in Tönen oder eine „missglückte Wiederbelebung des Kultischen“, um noch einmal Adorno zu zitieren? Wie immer man zu Gustav Mahlers 8. Sinfonie stehen mag, leicht zu fassen ist sie beim besten Willen nicht.

Da sind zum einen die schieren Dimensionen des Riesen-Werks, das bei seiner Uraufführung am 12. September 1910 in München mehr als 1000 Sänger und Musiker vereinte: verteilt auf diverse Chöre, ein üppig besetztes Orchester, ein Fernorchester und acht Gesangssolisten. Zum anderen kostet es erhebliche Mühen, den utopischen Gehalt der Texte zu durchdringen. Mahler vertonte einen mittelalterlichen lateinischen Pfingst-Hymnus und die Schluss-Szene aus Goethes „Faust II“. Wiewohl seine Musik die zwei unterschiedlichen Teile miteinander verzahnt, hebt die Tonsprache sich von allen anderen Mahler-Sinfonien ab. Sie ist ein sperriger Solitär, diese 8. Sinfonie, die ein findiger Marketing-Experte im Jahr 1910 flugs als „Sinfonie der Tausend“ bewarb.

Um mit einem Ausrufezeichen in ihre Jubiläumsspielzeit zu starten, entwickelten Dirigent Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen jetzt den Ehrgeiz, das kolossale Werk aus eigener Kraft zu stemmen. Das Landesorchester besitzt die dafür nötige Größe. Was vor 20 Jahren aus der Fusion der Orchester von Gelsenkirchen und Recklinghausen entstand, ist heute ein Klangkörper von etwa 130 Musikerinnen und Musikern, die rund 300 Auftritte im Jahr absolvieren.

Minister, Regierungspräsident, Landräte, Bürgermeister und zahlreiche Freunde und Förderer kamen ins Ruhrfestspielhaus Recklinghausen, um das Ereignis zu feiern. Recklinghausens Bürgermeister Christoph Tesche sprach in seinem Grußwort die finanzielle Unsicherheit an, die das Orchester in den vergangenen Jahren seiner komplizierten Trägerstruktur wegen ertragen musste. Er erinnerte daran, dass es die Bürger selbst waren, die in schwierigen Zeiten den Erhalt des Orchesters gefordert hatten. Bis zum Jahr 2021 sei dessen Existenz zwar gesichert, aber er hoffe, dass es auch darüber hinaus eine Lösung geben werde. Rainer Nörenberg vom Orchestervorstand erwähnte den ehemaligen Generalmusikdirektor Johannes Wildner als wichtigen Motor für das Gelingen der Fusion, die weit glückreicher verlief als die bereits nach fünf Jahren gescheiterte Vermählung der Opernhäuser von Gelsenkirchen und Wuppertal zum „Schillertheater NRW“.

Die Neue Philharmonie Westfalen ist mit rund 130 Musikerinnen und Musikern eines der größten Orchester der Region (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Die Neue Philharmonie Westfalen ist mit rund 130 Musikerinnen und Musikern eines der größten Orchester der Region (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Wer danach gespannt Mahlers ekstatische Anrufung des Schöpfer-Geists erwartete, sah sich zunächst vor allem mit einer schwierigen akustischen Situation konfrontiert. Wohl war die Bühne des Ruhrfestspielhauses so weit wie möglich nach hinten geöffnet worden, um den immerhin mehr als 400 Mitwirkenden Raum zu geben. Dass der Recklinghäuser Rahmen dem Riesenwerk nicht genügen konnte, war dennoch keine Überraschung. Wo die Hymne auf den „Creator spiritus“ sonst über den Hörer hinweg braust wie ein Orkan, kam – zumindest auf dem Rang – eine wenig strukturierte Klangmasse an.

Weit mehr zahlten sich die Mühen aller Beteiligten im zweiten Teil aus. Von der schier hypnotischen Wirkung der mystischen Anachoreten-Musik ausgehend, entfalteten Chöre, Solisten und Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann ein himmlisches Panorama, das in Engels- und Erlösungsmusik gipfelte. Acht Gesangssolisten verkörperten christlich-faustische Figuren, unter anderem die „Mater gloriosa“, die von den Klängen von Celesta und Harfe umrauscht entschweben konnte.

Gänsehaut-Momente waren durch starke Chorleistungen garantiert: Zu nennen sind hier der Opernchor des Musiktheaters im Revier (Einstudierung: Alexander Eberle), der Chor der Universität Duisburg-Essen und der Konzertchor Unna (Einstudierung Hermann Kruse), der Projektchor „Sinfonie der Tausend“ (Einstudierung: Christian Jeub), der Knabenchor Gütersloh und die Jugendkantorei Gütersloh (Einstudierung: Sigmund Bothmann). Mit dem Erreichen des Chorus Mysticus wurde das Unzulängliche – um Goethes Schlussvers zu zitieren – am Ende doch Ereignis.

(Informationen zu weiteren Konzerten der Neuen Philharmonie Westfalen: http://www.neue-philharmonie-westfalen.de/konzerte.html)