Zeigt eine sich gewogen, so wird sie ausgesogen: „Der Vampyr“ von Heinrich Marschner in Koblenz

Bastiaan Everink, der Vampyr, und Irina Marinaş als Janthe in der Koblenzer Inszenierung der Oper von Heinrich Marschner. Foto: Matthias Baus

Bastiaan Everink, der Vampyr, und Irina Marinaş als Janthe in der Koblenzer Inszenierung der Oper von Heinrich Marschner. (Foto: Matthias Baus)

Da schleicht einer um die Häuser, sucht sich die schönsten Bräute aus. „Zeigt eine sich gewogen, so wird sie ausgesogen“. Solche Sätze im Libretto von Wilhelm August Wohlbrück zu Heinrich Marschners großer romantischer Oper „Der Vampyr“ haben mindestens so viel Parodie-Potenzial wie Wagners Stabreime.

In der Tat musste sich der Komponist als Mitglied der biedermeierlichen Spaß-Gesellschaft „Tunnel an der Pleiße“ in Leipzig einiges an ironischen Bemerkungen gefallen lassen. Und in Würzburg wurde sogar mit „Staberl, der Vampyr“ eine „lustige Person“ des Wiener Volkstheaters in den üblen Blutsauger verwandelt. Des Unheimlichen entledigt man sich eben, indem man es ironisiert.

Wäre es doch nur in Koblenz dabei geblieben. Die Premiere von Heinrich Marschners einstiger Erfolgsoper beginnt mit einem Tänzchen der „Hexen und Geister“, bei dem der Zuschauer noch nicht ganz schlüssig ist, ob die Choreografie von Catharina Lühr ein gespielter Witz oder eine ironische Spuknummer ist. Als dann Janthe, das erste Opfer des bissigen Grafen, wie eine Tragödin der Biedermeierzeit auf die Bühne stürzt und mit ihrem Häubchen im Haar vor dem stattlichen düsteren Mann niedersinkt, ist man sich sicher: Ironie führt zur saftigen Parodie.

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: (Archiv Häußner)

Die Geister, die den Vampyr umgeben, verschwinden keinesfalls – husch, husch – in Spalten und Ritzen, sondern bleiben präsent, führen den völlig ruhigen Übeltäter dem alten Vater (Jongmin Lim) zu, der mit einem Schwertstich den frechen Mörder seines Kindes niederstreckt. Ein Bild später legen die höllischen Spießgesellen des dämonischen Saugers den Kunstrasen aus und bespicken ihn mit Blümchen, auf dass Malwina – das zweite auserkorene jungfräuliche Blutgefäß – die heiter lachende Morgensonne in güldenem Kleid und kunstvoller Biedermeierfrisur beträllern kann.

Jetzt spätestens kippt die Inszenierung von Markus Dietze ins Unverbindlich-Atmosphärische. Hölzern stehen die Sänger, ohne psychologischen Belang waten sie auf der Bühne hin und her. Der Chor besteht immer noch aus den schwarzen, geschminkten Gestalten des Beginns (Kostüme: Bernhard Hülfenhaus) – aber warum das Personal im Hause Davenaut, dessen Sproß Malwina ganz schnell mit einem Earl verheiratet werden muss, der sich als der Vampyr herausstellt, immer noch aus geisterhaften Wesen bestehen muss, macht die Regie nicht klar. Sie bilden eine Art Cloud des Bösen, aus der unser Typ mit dem ausgeprägten Gebiss immer wieder einmal hervortritt und – schließlich endgültig – verschwindet.

Geister tanzen im Vollmond. Foto: Matthias Baus

Geistertanz im Vollmond. (Foto: Matthias Baus)

Die Bühne von Dorit Lievenbrück rahmt das Geschehen als stimmungsvoller Schauplatz: drei gestaffelte Bögen wölben sich wie im alten Kulissentheater, zuweilen fällt der Blick durch einen Höhleneingang auf düsterfarbenen Himmel, Dunst durchzieht den Raum. Und zwei Riesenzeiger nebst einem Zifferblatt mit altertümlichen römischen Zahlen mahnen uns und den Vampyr: 24 Stunden nur hat er Zeit, drei Bräute zart und fein zu reißen, damit er nochmals eine kurze Frist unter den freien Menschen wallen könne – was immer das auch heißen soll.

Der Rest ist Rampengesang unter Abwesenheit psychologischer Beleuchtung, Hüpftanz wie in dem grottenschlechten Anna-Moffo-Film „Lucia di Lammermoor“, Volksversammlungen wie in „Tanz der Vampire“ und ein wenig B-Movie-Grusel. Auch im Finale, wenn laut Regieanweisung ein Blitz den Untoten zerschmettern soll, fällt Dietze nur ein, was seit Werner Herzogs „Nosferatu“ Allgemeinplatz geworden ist: Aubry, der bis dato vergeblich hoffende Geliebte Malwinas und Mitwisser des Vampyr-Geheimnisses, nimmt den leeren Mantel des verschwundenen Unholds und schwingt ihn sich über die Schultern: Das Böse setzt sich fort – bei Herzogs eine überzeugend entwickelte Lösung, hier nur noch Schablone.

Wie wäre es denn gewesen, einmal das Libretto ernst zu nehmen und nicht immer in einer Art Lieto-Fine-Bashing das glückliche Ende zu skandalisieren? Denn Malwina rekurriert auf die „Gottesfurcht“ und die reine Liebe, die den Menschen für „bösen Zauber“ unerreichbar machen. Das könnte man, auch wenn man die christliche Konnotation nicht teilt, durchaus als einen aufklärerischen Gedanken verstehen: Das magische Kaspertheater des Vampyrs behält nicht die Oberhand, auch wenn Aubry seine Gesetze bricht, seine Drohungen in den Wind schlägt und die Identität des heiratseiligen Earls preisgibt: „Dies Scheusal hier ist ein Vampyr.“ Die Netze des Bösen verfangen nicht mehr, wenn Herz und Verstand klarsichtig werden.

Wieder einmal – nach unsäglichen Regietaten an der Komischen Oper Berlin und in Halle – bleibt Marschners „Vampyr“ also szenisch unerfüllt. Aber dafür lassen sich Enrico Delamboye und der Rheinischen Philharmonie – im Verein mit der Dramaturgie des Koblenzer Hauses (Rüdiger Schillig) – nahezu uneingeschränkte Komplimente machen: Endlich war nicht mehr die 1924 entstandene Fassung des „Vampyr“ von Hans Pfitzner mit ihren erheblichen Eingriffen die Basis der Aufführung. Verwendet wurde ein von Breitkopf & Härtel in Wiesbaden erstelltes neues Material, das auf der kritischen Ausgabe der Partitur von Egon Voss basiert.

Jetzt ist es endlich möglich, die Oper so aufzuführen, wie sie aus den noch vorhandenen Quellen – das Autograph ist verschollen und vermutlich im Krieg in Hannover verbrannt – rekonstruierbar ist. Und im Vergleich zur Pfitzner-Bearbeitung tritt uns eine in wichtigen Teilen neue Oper mit spannender Musik entgegen. Es zeigt sich, dass Pfitzner vor allem in den Finali entstellend eingewirkt, aber auch instrumentale und wohl auch harmonische Retuschen vorgenommen hat.

Marschners Partitur offenbart eine vorwärtsdrängende, dynamische, dramatisch konzentrierte Musik, ausgewogen und charakteristisch instrumentiert – vorgesehen ist sogar ein „Serpentone“ für die dämonischen Tiefen. Die Bläserbehandlung Marschners ist vielfältig: Mal legt er mit den Holzbläsern lyrische Schleier über den Streichersatz, mal lässt er die Piccoli gellend hervortreten – ihr „Höllengelächter“ wurde berühmt. Motivische Verknüpfungen und Verweise, instrumentale Signale und Farben verbinden die Nummern zu einem dramatisch wohlüberlegten Ganzen.

Enrico Delamboye dirigiert mit drängender Energie, Tempo und scharfer Akzentuierung – manchmal ein wenig zu Lasten eines lockeren Pulsierens und des Kontrasts zu lyrischer Entspannung. Die Rheinische Philharmonie ist in den Violinen etwas schwach besetzt, was sich schon in der Ouvertüre in dünnen Übergängen bemerkbar macht. Aber die mal drohend verhaltenen, mal hohnvoll präsenten, mal düster majestätischen Bläser überzeugen voll und ganz. Und der Chor, einstudiert von Ulrich Zippelius, gibt sein Bestes, um in Klang und Präzision Marschners erheblichen Anforderungen gerecht zu werden.

Ensembleszene aus dem "Vampyr": v.l.: Iris Kupke, Bastian Everink, Nico Wouterse, Tobias Haaks, Opernchor und Extrachor. Foto: Matthias Baus

Ensembleszene: v.l.: Iris Kupke, Bastian Everink, Nico Wouterse, Tobias Haaks, Opernchor und Extrachor. (Foto: Matthias Baus)

Den nicht weniger anspruchsvollen gesanglichen Herausforderungen stellt sich das Koblenzer Ensemble solide, angeführt von Tobias Haaks als stimmsicherer Aubry. Bastiaan Everink als attraktiver Verführer müsste sich nicht ins Brüllen retten, um dem Vampyr die Facetten einer glaubwürdigen Gestaltung abzugewinnen – der Protagonist der Oper ist nämlich nicht nur ein monströser Täter, sondern auch ein unglücklich Getriebener eines teuflischen Zwangs, dessen er sich wohl bewusst ist.

Zu viel grobe, laute Töne auch bei Nico Wouterse als uneinsichtiger Vater Sir Humphrey Davenaut. Iris Kupke hat mit seiner Tochter Malwina eine jener jugendlich-dramatischen Sopranpartien, die mit Beweglichkeit, Verve und differenziertem Klang zu singen sind. Sie rettet sich in ihrer Auftrittsarie fast ausschließlich mit Vibrato über kleinem Stimmkern; im Finale wird der Eindruck besser, die Stimme körperreicher und ausgewogener.

Hana Lee bringt für die Emmy eine eher soubrettige als lyrisch-warme Stimme mit; so ist die berühmte Romanze vom „bleichen Mann“ sauber gesungen, bleibt aber zu einfarbig. Irina Marinaş als Janthe entspricht in ihrem gouvernantenhaften Ton genau der Rolle, die ihr die Regie zugewiesen hat.

Den Vogel schießt Anne Catherine Wagner in der komischen Parade der Suse Blunt ab: Wie sie in virtuosem Gefecht auf ihren nichtsnutzigen Mann und seine Saufkumpanen eine Kanonade an Silben und Noten abfeuert und dabei noch wortverständlich bleibt, hat einfach Klasse. Und die Vier widmen sich der wohl bekanntesten Nummer aus Marschners Oper, „Im Herbst, da muss man trinken“ mit Humor und gefestigter stimmlicher Substanz (Sebastian Haake, Marco Kilian, Michael Seifferth, Werner Pürling).

Wer Marschners Oper wirklich kennenlernen will, sollte sich den Besuch in Koblenz nicht versagen; zu hoffen ist, dass dieses wichtige Werk der deutschen Romantik künftig in seiner wiedergewonnenen originalen Form seinen Weg über die Bühnen macht.

In der nächsten Spielzeit 2017/18 ist am Aalto-Theater Essen Marschners Meisterwerk „Hans Heiling“ zu sehen. Und noch ein Hinweis soll nicht unterbleiben: Heinrich Marschners „Der Templer und die Jüdin“, die dritte seiner berühmten Opern, ist in den letzten Jahrzehnten außer im irischen Wexford, in einer konzertanten Aufführung in Bielefeld und einer erheblich verstümmelten Version in Gießen nicht weiter beachtet worden – was auch der desaströsen Quellenlage geschuldet ist. Hier wartet noch Arbeit, um Schätze zu heben.

Vorstellungen am 26. Mai, 1., 4., 14., 20., 22. und 24. Juni.

Karten Tel.: (0261) 129 28 40, www.theater-koblenz.de




Vorbildhafte Entdeckerfreude: Drei Einakter von Ernst Krenek an der Oper Frankfurt

Der Diktator (Davide Damiani) vor der stummen Prozession der Opfer des von ihm entfesselten Krieges. Foto: Barbara Aumüller

Der Diktator (Davide Damiani) vor der stummen Prozession der Opfer des von ihm entfesselten Krieges. (Foto: Barbara Aumüller)

Drei kurze Opern, die zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben, zusammengespannt zu einem Abend: Ernst Krenek schrieb unmittelbar nach seinem Welterfolg „Jonny spielt auf“ ein Triptychon und gab es nach Wiesbaden zur Uraufführung (1928). Die Gegenwart ist solchen Experimenten nicht geneigt; Kurzopern sind unbeliebt und außer Puccinis „Il Trittico“ und ein paar Ausnahmen wie Mascagnis „Cavalleria rusticana“ oder Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ hat sich kaum eine im Repertoire gehalten. Auch Kreneks drei Einakter werden kaum einmal einzeln, aber noch seltener als Einheit aufgeführt. Frankfurt hat es nun gewagt und den Abend sogar ins Große Haus gelegt.

Dabei bietet Ernst Krenek zwischen Symbolismus und Satire genug Stoff für Reflexion. David Hermanns Regie nutzt das Potenzial, ohne es lehrhaft zu überzeichnen oder szenisch allzu eindeutig auszuführen. Den „Diktator“, auch im letzten Jahr beim Kurt Weill Fest in Dessau zu sehen, nennt Krenek eine „tragische Oper“ – eine Tragik allerdings, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt und weniger mit der Frau zwischen zwei Männern als mit politischer Psychologie zu tun hat. Eine Frau, deren Mann in einer Schlacht durch Giftgas erblindet ist, beschließt, den Diktator als den Urheber des Kriegs zu töten. Sie erliegt aber dem Charisma des mächtigen Mannes und wird von der Kugel getroffen, die seine Geliebte aus Eifersucht auf ihn feuert.

Wie kommen Menschen dazu, Machthaber zu verehren?

Was im Libretto Kreneks psychologisch ziemlich schwach motiviert erscheint, kann als Parabel gelesen werden, erdacht von einem politisch wachen Kopf, der sich fragt, wie Menschen dazu kommen, Machthaber zu verehren und sich für sie zu opfern, die eigentlich Ursache ihres Leidens am Leben sind. Auch dabei spielt „Unwahrscheinliches“ eine Rolle, Rätsel, die sich nicht ohne weiteres erklären lassen.

Szene aus "Das geheime Königreich" von Ernst Krenek an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Szene aus „Das geheime Königreich“ von Ernst Krenek an der Oper Frankfurt. (Foto: Barbara Aumüller)

Die Psyche des Menschen als unergründliches Terrain also. Das sehen wir in „Das geheime Königreich“ wieder, das in seiner Märchendiktion das Thema der Macht ins Romantische erweitert – und damit ein typisch deutsches Phänomen thematisiert, eine politisch mittelbar brisante Innerlichkeit und Weltflucht. „Die Schönheit des ewigen Lebens“ werde sein Königreich sein, sagt der an sich selbst zweifelnde Herrscher, und entdeckt „das Wesentliche“ im Auge eines Tieres. Ein Narr, der an Shakespeare erinnert, ein gebrochener, ratloser König, eine machtgierige Königin, ein entflammter Rebell und singende Revolutionäre: das ist das Personal in diesem erotisch durchwebten Kampf um die Krone.

Zwischen Max Schmeling und Sigmund Freud

"Schwergewicht oder Die Ehre der Nation": Simon Bailey als Boxer Adam Ochsenschwanz. Foto: Barbara Aumüller

„Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“: Simon Bailey als Boxer Adam Ochsenschwanz. (Foto: Barbara Aumüller)

Das dritte Stück, eine heitere Burleske, steht nicht wie ursprünglich konzipiert, am Ende, sondern in der Mitte des Abends: „Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“ greift satirisch Zeitströmungen auf wie die Vergötterung des Sports oder den Glauben an die Psychoanalyse. Zwischen Max Schmeling und Sigmund Freud lässt Krenek den einfach strukturierten Kraftprotz auf eine hochverstiegene Medizinstudentin („Mein Unterbewusstsein ist zu stark“) treffen, die sich willig als Punching-Puppe niederschlagen lässt – um dem gesellschaftlichen Skandal zu entgehen oder einen sexuell antörnenden Masochismus zu genießen? Schon die Namen „Adam Ochsenschwanz“ und „Anna Maria Himmelhuber“ verraten genug.

Jo Schramm hat für David Herrmann eine flexibel veränderbare Bühne gebaut, deren klarer, steriler Raum für den „Diktator“ dem Willen der Regie entgegenkommt, Realismus zu brechen und ins Parabelhafte mit absurden Zügen zu driften. Der blinde Mann ist nur einer unter vielen, die im ergrauten Hintergrund steif vorbeidefilieren – eine beklemmende Prozession, die den Diktator stumm anklagt. Wenn Maria, die Frau des Versehrten, drei Mal auf den Machthaber schießt, zeigt sich rotes Blut auf weißer Weste, aber er fällt nicht. Er reißt sich die Hemdbrust vom Leib: Der Diktator ist eine Figur, die nicht durch Schüsse umzubringen ist, ein immer wiederkehrendes Phänomen der Geschichte.

Wundervolles Bild für ein inneres Reich

Für das „Schwergewicht“ öffnet sich der Raum zu einem sinistren Varieté irgendwo zwischen „Cabaret“ und Hermann Hesses „Steppenwolf“. Die Kostüme Katharina Taschs werden grell und bunt. Die Welt, der die „Ehre der Nation“ zugesprochen wird, ist kreischend kitschig. Ein phantastischer Bild-Einfall kennzeichnet „Das geheime Königreich“: In einem immateriell wirkenden, spiegelnden Hintergrund verfließen die Formen, lösen sich die individuellen Gestalten auf, verschwimmt die Eindeutigkeit der Welt in einem Ozean aus Licht (Olaf Winter) und weich changierende Farben. Ein wundervolles Bild für das uneindeutige, sich jeder Definition entziehende „innere Reich“, in das sich der König zurückzieht.

Ernst Krenek im Jahr 1927 - damals schon ein gemachter Mann. Foto: Kurt Weill FestErnst Krenek im Jahr 1927 - damals schon ein gemachter Mann. Foto: Kurt Weill Fest

Ernst Krenek im Jahr 1927 – damals schon ein gemachter Mann. (Foto: Kurt Weill Fest)

Kreneks Musik wurde oft vorgeworfen, eklektisch zu sein, keinen eigenen Stil, zu wenig persönliche Farbe zu entwickeln. Genau das ist ihre Stärke und ihre Modernität: Krenek ahmt im „Diktator“ ungeniert die Melodiebögen Puccinis nach, greift vorbehaltlos auf die Diktion des Verismo zurück, aber schafft alles andere als eine bloße Stilkopie, sondern eher ein raffiniertes Amalgam aus Vorbildern in kalkulierter, individueller Prägung. „Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“ dreht und swingt sich durch die reizenden Plattitüden der Tänze der Zwanziger, ob Pasodoble oder Tango, entzückt mit federleichter Instrumentierung und leiser Ironie.

Form und Rausch, Sinnlichkeit und Technik

„Das geheime Königreich“, die komplexeste der Partituren, geht harmonisch in die Tiefe, schreitet die Tonalität weit aus, verbindet Strauss und Schreker, Zemlinsky und Wagner zu einem Neuen, in dem sich Form und Rausch, Sinnlichkeit und Technik nicht ausschließen. Lothar Zagrosek setzt mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester den Zauber der Musik in Klang: die verführerisch sinnlichen Qualitäten, die in sich hineinlächelnden Stil- und Motivzitate, den spritzigen Rhythmus und die polyphonen Verästelungen. Krenek erweist sich wiederum als einer, der im vielstimmigen Konzert der unglaublich vielfältigen Zwanziger Jahre eine gewichtige Stimme beizutragen hat.

Wie stets, überzeugt das Frankfurter Sänger-Ensemble. Man mag mit dem einen oder anderen Detail nicht glücklich sein – Sara Jakubiak singt die schwellenden Bögen am Anfang nicht frei, Juanita Lascarro bleibt als Frau des Diktators eine Dulderin mit gedeckelt-mattem Ton –, aber die glänzend aufeinander eingestellten Darsteller lassen die drei Stücke musikalisch aus einem Guss erscheinen: Davide Damiani als Diktator und König der Mann der Macht, Barbara Zechmeister als quicke Evelyne, die Frau des Boxers, Simon Bailey als angemessen grobschlächtiger Athlet, Ambur Braid als koloratursprühend überdrehte Königin und Sebastian Geyer als weiser Narr. Dazu kommen Ludwig Mittelhammer, der in seinem kurzen Auftritt als Professor Himmelhuber eine angenehm gefärbte, frei geführte Stimme zeigt, und Nina Tarandek als seine psychoanalytisch vorgebildete Tochter.

Eine vorbildhafte Spielplan-Politik führt zu einer Entdeckung, für die sich der Weg nach Frankfurt gelohnt hat. Leider war das Triptychon nur kurz im Programm – auf eine Wiederaufnahme ist zu hoffen.

Am Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr befasst sich unter dem Titel „Happy New Ears“ ein Werkstatt-Konzert im Opernhaus Frankfurt mit dem Ensemble Modern mit dem Komponisten Ernst Krenek.

www.oper-frankfurt.de




Detmold: Georg Heckel wird neuer Intendant des Landestheaters

Georg Heckel. Foto: Theater Augsburg

Georg Heckel. (Foto: Theater Augsburg)

Das Intendanten-Karussell in Nordrhein-Westfalen dreht sich eine neue Runde: Jetzt wurde Georg Heckel zum Nachfolger von Kay Metzger zum Intendanten des Landestheaters Detmold gewählt. Metzger geht zur Spielzeit 2018/19 als Intendant an das Theater in Ulm. Detmold ist nach der Oper Dortmund (Heribert Germeshausen) und dem Theater Hagen (Francis Hüsers) das dritte Haus in NRW, das 2017 einen neuen Leiter bekommt.

Georg Heckel ist seit Januar 2014 Operndirektor und stellvertretender Intendant am Theater Augsburg. Der gebürtige Saarbrücker, der in Aachen aufwuchs, hat seine Theaterlaufbahn als Sänger begonnen. Noch während der Schulzeit wurde er als Jungstudent für Gesang bei Claudio Nicolai an der Musikhochschule Köln aufgenommen und studierte anschließend Musikwissenschaft und Germanistik an der Universität Köln. Parallel dazu erhielt er im Zuge der Mitwirkung an Produktionen der Oper Köln prägende Impulse durch Willy Decker, Jean-Pierre Ponnelle und Harry Kupfer. Schließlich studierte er Gesang in Freiburg und Karlsruhe und schloss seine Ausbildung an der Musikhochschule Köln ab. Es folgten Festengagements als Sänger am Landestheater Coburg sowie an der Oper Köln, außerdem Gastengagements u.a. in Erfurt, Freiburg, Basel, Leipzig, Saarbrücken und Palermo.

2006 wurde Heckel als Chefdisponent an das Staatstheater Darmstadt engagiert, 2008 erfolgte der Wechsel in die Position des Künstlerischen Betriebsdirektors, ab Beginn der Spielezeit 2010/11 bekleidete er zusätzlich die Position des Operndirektors. Einblicke und Erfahrungen in der Theaterleitung erhielt er an der Kammeroper Rheinsberg, dem Theater Nordhausen sowie dem Staatstheater Kassel. Parallel zu seiner Bühnentätigkeit absolvierte er ein Studium im Fach Kulturmanagement an der Fernuniversität Hagen.

Kay Metzger war seit 2005 Intendant des Landestheaters Detmold. Zuvor hat der gebürtige Kieler als Regieassistent mit August Everding gearbeitet, war von 1984 bis 1988 Regieassistent an der Oper in Essen, danach in Halberstadt und Coburg Oberspielleiter des Musiktheaters und von 1999 bis 2005 Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters. In Essen hat er 1987 Achternbuschs „Ella“ inszeniert; in Detmold haben ihn vor allem seine Wagner-Inszenierungen bekannt gemacht (Ring, Meistersinger, Tristan, Parsifal), aber auch Arbeiten wie die Uraufführung von „Chlestakows Wiederkehr“ von Giselher Klebe oder „Written on Skin“ von George Benjamin.

www.landestheater-detmold.de




Fünf Sparten des Dortmunder Theaters präsentieren für 2017/18 ein üppiges Programm – Personalkarussell dreht sich

Das Programm ist üppig, das Programmbuch ein Schwergewicht. Wenn das Theater Dortmund seine Pläne für die neue Spielzeit vorstellt, mangelt es an Masse nicht. Trotzdem aber wohnt der munteren Zusammenkunft im Opernfoyer, wo die fünf Sparten Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel sowie Kinder- und Jugendtheater ihre Pläne dartun, etwas Passageres, Flüchtiges inne. Das ist auch kein Wunder, denn das Personalkarussell dreht sich.

Wie berichtet, wechselt Opernchef Jens Daniel Herzog nach der kommenden Spielzeit 2017/18 als Intendant an das Nürnberger Staatstheater, und wenige Stunden vor der Konferenz wurde bekannt, daß die langjährige Dortmunder Verwaltungschefin Bettina Pesch bereits zur kommenden Spielzeit nach Magdeburg geht. Verwaltungsdirektorin und stellvertretende Generalintendantin ist sie dann dort. Ihre Nachfolge ist noch nicht geregelt, während der Nachfolger Herzogs feststeht. Heribert Germeshausen, bislang noch Heidelberger Operndirektor, soll ihm – wie berichtet – nachfolgen.

Pesch dankte Herzog, Herzog dankte Pesch, wie sich das gehört.

Megastore ist bald Vergangenheit

Schauspielchef Kay Voges ist zwar nach wie vor im Dortmunder Boot, war aber durch die Bauarbeiten im Schauspielhaus für längere Zeit auch mehr oder weniger abwesend. Gänzlich schuldlos, wohlgemerkt, war sein Schauspiel doch gezwungen, in einer unfreundlichen Industriehalle mit dem sinnreichen Namen „Megastore“ zu spielen, wo manches gar nicht und vieles nur mit Abstrichen lief. Am 16. Dezember aber soll es jetzt wirklich wieder im Schauspielhaus losgehen, ein „Doppelabend“ aus Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ und Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ macht den Anfang, erstaunlicherweise nicht in der Regie von Voges.

Musentempel in Schwarz-Gelb: Die Ausweichspielstätte „Megastore“ im Hörder Gewerbegebiet (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kay Voges ist, gleichermaßen erstaunlich, auch nur ein einziges Mal für Regie eingetragen, Thomas Bernhards „Theatermacher“ hat er sich vorgenommen, Premiere am 30. Dezember. Grund für diese Abstinenz, so Voges, seien alte Verträge mit Gastregisseuren, die man abgeschlossen habe – lange bevor man um die sich endlos hinziehenden Bauarbeiten wußte. Jetzt sollen die engagierten Kräfte auch das Vereinbarte liefern, sonst werden Vertragsstrafen fällig, muß ja nicht sein.

Voges hat aber noch so einiges im Sack, deutet er an, will aber noch nicht darüber sprechen. Auf jeden Fall steht zu hoffen, daß das Schauspiel Ende des Jahres wieder unter zumutbaren Bedingungen in ein ruhiges, produktives, kreatives Fahrwasser zurückfindet. Angekündigt werden unter anderem „Übergewicht, unwichtig: Unform – Ein europäisches Abendmahl“ von Werner Schwab im Studio (Premiere 17.12.), ein Tschechowscher „Kirschgarten“ als opulentes Ensemblestück ebenfalls im Studio (29.12.), „Orlando“ nach Virginia Woolf (ab 11.2.2018) und leider auch wieder „Die Kassierer“.

Die Kassierer mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland (vorn) kommen wieder. Ihr neues Stück heißt „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Drei von der Punkstelle“

Die Punk-Rentnerband um Wolfgang „Wölfi“ Wendland droht die „Punk-Operette“ „Die Drei von der Punkstelle“ an (ab 26.5.2018). Und wo wir schon dabei sind: Unter den Extras und noch ohne festes Datum kündigt sich in der „Gesprächsreihe für wahre Freunde der Trashkultur“ Jörg Buttgereits Beitrag „Nackt und zerfleischt“ an. Freut euch drauf!

Auf dem Opernzettel stehen „Arabella“ von Richard Strauss (ab 24.9.), „Eugen Onegin“ von Peter Tschaikowski (ab 2.12.), „Nabucco“ von Verdi (ab 10.3.2018) und schließlich „Die Schneekönigin“ von Felix Lange als „Familienoper“ (ab 8.4.2017). Die Abteilung Leichte Muse wird von Paul Lincke, dem Erfinder des Lincke-Ufers, mit der Revue-Operette „Frau Luna“ beschickt (ab 13.1.2018), und als obligate Musicalproduktion erwartet ein geneigtes Publikum „Hairspray“ von Marc Shaiman (ab 21.10.). Kammersänger Hannes Brock, Dortmunder (Verzeihung) „Opern-Urgestein“, Homeboy, Publikumsliebling und was nicht sonst noch alles wird sich mit dieser Produktion in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden. Eine festliche Gala mit Philharmonikern und Band ist zudem am 17. Februar 2018 für Hannes Brocks Verabschiedung geplant, der Titel ist, wenn ich nicht irre, ein Satz des letzten österreichischen Kaisers Franz-Josef I.: „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“ sprach er einstmals in einen Edison-Phonographen, die Aufnahme ist erhalten.

Xin Peng Wangs Ballett „Faust II – Erlösung!“ bleibt im Programm (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Abstraktes Ballett

Drei Klavierkonzerte von Rachmaninow, 6 Symphonien von Tschaikowski liefern das musikalische Material, mit dem Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang ein neues, abstraktes Ballett gestalten will, das die Namen dieser beiden Komponisten zum Titel hat. Außerdem kommt „Alice“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventure in Wonderland“, zu dem die italienische Frauenband Assurd die Musik machen wird (ab 10.2.2018). Wiederaufnahmen sind „Der Nußknacker“, ein Ballett von Benjamin Millepied, sowie „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Und die traditionsreiche Internationale Ballettgala trägt mittlerweile hohe Ordnungsziffern, XXVI und XXVII (30.9. u. 1.10.2017, 30.6. u. 1.7.2018).

Mahlers Vierte und Achte

Den meisten Platz in den gedruckten Programmankündigungen, so jedenfalls scheint es, beansprucht jedes Jahr Generalmusikdirektor Gabriel Feltz. Das liegt aber einfach daran, daß die Philharmoniker schon lange vor Spielzeitbeginn festlegen, was sie spielen werden, Reihe für Reihe, Konzert für Konzert. Und das schreiben sie dann eben auch schon auf, daher der Umfang.

Zweimal ist in der Konzertreihe nun Mahler im Angebot (die Vierte im Oktober 2017, die Achte im Juli 2018). An Mahler habe er sich in seinen ersten Dortmunder Jahren nicht herangetraut, erklärt Feltz, erst wollte er den Klangkörper besser kennenlernen. Nun aber traut er sich; auch an die Achte, die gern die „Sinfonie der Tausend“ genannt wird. Gut, tausend Mitwirkende wie bei der Uraufführung bringt Dortmund nicht auf die Bühne, aber 330 sind es schon, vor allem wegen der machtvollen Chöre. Neben dem Knabenchor der Chorakademie Dortmund werden der Tschechische Philharmonische Chor Brno und der Slowakische Philharmonische Chor Bratislava zu hören sein.

Blick in das Dortmunder Konzerthaus (Foto: Anneliese Schuerer/Theater Dortmund)

90 Prozent Auslastung im Blick

Um die 80 Prozent Auslastung können die Philharmoniker derzeit vorweisen, das ist nicht schlecht. Wäre es da nicht an der Zeit, den Montagstermin wieder aufleben zu lassen? Feltz’ Vorgänger Jac van Steen hatte den dritten monatlichen philharmonischen Aufführungstermin wegen mangelnder Nachfrage abgeschafft, was die Dortmunder nicht begeisterte. Feltz sagt, er sei in dieser Frage unentschieden, im Orchester werde die Frage kontrovers diskutiert. Unter einer Auslastung von 90 Prozent allerdings sei ein weiterer regelmäßiger philharmonischer Termin schwer vorstellbar. Aber bei Mahlers 8. Sinfonie mit ihrem aberwitzigen Aufwand sollte man vielleicht mal eine Ausnahme vom Zweierzyklus machen – zumal nicht so viele Menschen ins Konzerthaus paßten wie sonst, der großen Chöre wegen.

Die Violinistin Mirijam Contzen (Foto: Mirijam Contzen/Tom Specht)

Übrigens: Die beiden Mai-Konzerte der Dortmunder Sinfoniker waren restlos ausverkauft, zweimal 1260 Plätze. Grund war, wie wir vermuten wollen, der Auftritt der Violinsolistin Mirijam Contzen, die familiäre Wurzeln in Asien, Lünen und Münster hat. Ein „Home-Girl“, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Sie spielte Tschaikowskis Violinkonzert d-Dur op. 35.

Meinung aus zweiter Hand

Schließlich das Kinder- und Jugendtheater unter Leitung von Andreas Gruhn, das mit sorgfältiger Alterszuordnung eine erstaunliche Vielzahl von Stücken stemmt. Kafkas „Verwandlung“ bringen sie für Menschen ab 14 heraus (ab 22.9.), den „Gestiefelten Kater“ (ab 10.11.) finden wir – als Weihnachtsmärchen – auf der Liste der Premieren ebenso wie etliche pädagogisch unterfütterte Projekt-Stücke, Stück-Projekte, die sich um Themen wie Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Existenzangst drehen, um Schwierigkeiten und Chancen und manchmal auch um dumme Rollenbilder. Von Omas und Opas in meinem Alter, die dort mit den Enkeln hingehen, höre ich immer wieder begeisterte Berichte über die Qualität des Kinder- und Jugendtheaters. Ich gebe das mal so weiter, Meinungen aus zugegeben zweiter Hand, trotzdem recht seriös in meinen Augen.

So viel erstmal in groben Zügen. Natürlich wird in allen Sparten noch viel mehr gemacht, als in diesem Aufsatz erwähnt werden konnte. Das dicke Programmbuch, das man mit seiner Orange-Dominanz und seinen 60er-Jahre-Schriften gestalterisch nicht unbedingt gelungen nennen muß, liefert eine Menge Informationen zur kommenden Spielzeit, die Lektüre ist ausdrücklich anempfohlen. Dem Schauspiel schließlich sei gewünscht, daß dessen karge Megastore-Zeit nun recht bald enden möge und sich der Vorhang wieder im angestammten Theater hebt.

 




Programmlinien langfristig verfolgen: Pläne von Philharmonie und Aalto-Theater Essen in der nächsten Spielzeit

240 Seiten in Gold: Das Jahresheft der Philharmonie Essen. Abbildung: TuP

240 Seiten in Gold: Das Jahresheft der Philharmonie Essen. Abbildung: TuP

Ein Afrika-Festival, die Erstaufführung eines neuen Violinkonzerts von Anthony Turnage durch den Artist in Residence Daniel Hope, ein Porträt des Komponisten Jörg Widmann, der 100. Geburtstag von Leonard Bernstein, Heinrich Marschners romantische Oper „Hans Heiling“ und Giuseppe Verdis beliebter „Troubadour“ mit drei Gästen: Die Theater und Philharmonie Essen – kurz TuP genannt – will auch in der Spielzeit 2017/18 trotz angespannter finanzieller Lage ein vielfältiges und anspruchsvolles Programm bieten. Das Aalto-Theater hat erstmals seit zehn Jahren die Zahl seiner Neuproduktionen auf sechs erhöht und bietet Operettenfreunden mit Johann Strauß‘ „Eine Nacht in Venedig“ wieder einmal eine Premiere in diesem einst beliebten, heute an den Rand gedrängten Genre.

Im Gespräch mit den Revierpassagen zieht Intendant Hein Mulders die programmatischen Linien weiter: Der seit 2013 gepflegte Blick auf das weite Feld der „slawischen“ Musik richtet sich diesmal auf Bedřich Smetanas beliebte Oper „Die verkaufte Braut“, dirigiert von GMD Tomáš Netopil (Premiere am 14. Oktober) und inszeniert von dem tschechischen Team SKUTR (Martin Kukučka und Lukáš Trpišovský). Flankierend dazu erklingen im Programm der Essener Philharmoniker zwei Raritäten: Antonín Dvořáks „Sinfonische Variationen“ op. 78 und Bohuslav Martinůs Konzert für Streichquartett und Orchester mit dem Pavel Haas Quartett (7./8. September).

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Auch für 2018/19 kündigt Mulders weitere Entdeckungen aus dem Erbe dieser an Musik so reichen Länder an. Dvořáks sinfonische Musik steht auch im Programm von Gastorchestern: die Siebte erklingt am 11. März 2018 mit dem Houston Symphony Orchestra unter Andrés Orozco-Estrada, die Achte unter Thomas Hengelbrock am 15. September mit dem Royal Concertgebouw Orkest.

Eine Oper über Bergbau

Das Aalto-Theater nimmt das Ende des Bergbaus im Ruhrgebiet 2018 zum Anlass, Heinrich Marschners „Hans Heiling“ in einer Regie von Andreas Baesler zu zeigen. Die selten gespielte romantische Oper, die in den letzten Jahren nur in Wien und Regensburg zu sehen war, handelt von einem Erdgeist, dessen Kameraden in der Tiefe nach verborgenen Schätzen graben. Hans Heiling allerdings sehnt sich danach, Mensch zu werden und folgt gegen den Rat seiner Mutter, der Königin der Erdgeister, seiner Liebe zu dem Bauernmädchen Anna – mit fatalen Folgen. Frank Beermann wird sich der Musik Marschners annehmen, die in ihrer innovativen Art erheblichen Einfluss auf Richard Wagner hatte.

Das Repertoire des Essener Opernhauses wird mit Neuproduktionen von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Giuseppe Verdis „Il Trovatore“ und Richard Strauss‘ „Salome“ in einer Inszenierung von Mariame Clément und mit Netopil am Pult erweitert. Offen bleibt der Wunsch nach Aufführungen zeitgenössischer Opern – ein Thema, dem schon Mulders Vorgänger Stefan Soltesz mit wenigen Ausnahmen ausgewichen ist. Aber der Intendant ist sich dieser Lücke bewusst: „Wir beabsichtigen längerfristig, eine Uraufführung anzusetzen und auch erfolgreiche zeitgenössische Oper nachzuspielen.“

Teure Gagen sind nicht mehr möglich

Aber Mulders macht kein Hehl daraus, dass der Mut zu Neuem durch die knapp gewordenen Finanzen nicht gerade beflügelt wird. „Bei bisher nur fünf Neuproduktionen sind die Möglichkeiten begrenzt und man muss sehr genau hinschauen, was man wählt.“ Essen sei eben nicht Frankfurt, wo Intendant Bernd Loebe in der Spielzeit bis zu zwölf neue Inszenierungen anbieten kann. „Bei uns ist kein Fleisch mehr auf den Knochen“, beschreibt Mulders die Lage. Das zeigt sich übrigens auch in den Besetzungen: Gagen für teure Gastsänger sind – anders als zu Soltesz‘ Zeiten – nicht mehr drin.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Höhepunkte im Programm der zwölf Sinfoniekonzerte der Essener Philharmoniker sind große Sinfonien wie die Fünfte, die „Reformations-Symphonie“, von Felix Mendelssohn-Bartholdy (28./29. September), Bruckners Achte unter Philippe Herreweghe (14./15. Dezember), Tschaikowskys Vierte (12./13. April 2018) oder Mozarts g.Moll-Sinfonie Nr. 40 am 5./6. Juli 2018. Immer wieder ergeben sich reizvolle Kombinationen wie etwa am 8. und 9. Februar 2018, wenn Tomáš Netopil Leonard Bernsteins „Divertimento für Orchester“ mit Gustav Mahlers Neunter Sinfonie verbindet und damit auf die Bedeutung hinweist, die Bernstein als Dirigent für die Neuentdeckung der sinfonischen Werke Mahlers hat.

Schwerpunkt zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag

Er gestaltet als Artist in Residence acht Konzerte: Daniel Hope. Foto: Margaret Malandruccolo

Er gestaltet als Artist in Residence acht Konzerte: Daniel Hope. Foto: Margaret Malandruccolo

Bernsteins 100. Geburtstag zieht sich durch die gesamte Spielzeit: Etwa am 17./18. Mai 2018, wenn Daniel Hope unter dem Stichwort „Hollywood“ Erich Wolfgang Korngolds Violinkonzert spielt, flankiert von einer Bearbeitung von Max Steiners Filmmusik zu „Vom Winde verweht“; Bernsteins „On the Waterfront“ und einer raren Suite für Violine und Orchester des in USA erfolgreichen, aus Nazi-Deutschland vertriebenen Kurt Weill. Oder im letzten Sinfoniekonzert am 5./6. Juli 2018, wenn eine von Charlie Harmon arrangierte Suite aus Bernsteins „Candide“ erklingt, verbunden mit dem Klarinettenkonzert von Aaron Copland, einem engen Freund und bewundertem Vorbild Bernsteins.

Auch auf die weniger spektakulären Formate der Philharmoniker sollte geachtet werden: In den acht Kammerkonzerten etwa erklingen nicht nur Zugstücke wie das Septett op. 20 von Ludwig van Beethoven, sondern etwa auch dessen Serenade op.25, kombiniert mit einem Notturno von Václav Tomáš Matějka, der unter anderem als Gitarrist im Wien der Beethoven-Zeit bekannt war (15. Oktober). Am 14. Januar 2018 präsentiert Christina Clark französische Lieder und Chansons, bereichert von einem Arrangement von Paul Dukas‘ „Zauberlehrling“ und einem Quartett aus der Pariser Zeit von Bohuslav Martinů in der originellen Besetzung Klarinette, Waldhorn, Cello und kleine Trommel.

Erstmals ein Weltmusik-Festival

Erstmals bietet die TuP mit Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung ein Weltmusik-Festival: Unter dem Titel „Sounds of Africa“ kommen von 25. bis 27. Mai 2018 international gefragte Stars aus Westafrika zu vier Konzerten in Philharmonie und Stadtgarten. Auch das Festival NOW! wird fortgeführt und steht in seiner mittlerweile siebten Ausgabe unter dem Stichwort „Grenzgänger“: Gemeint sind Musiker, die sich im Grenzbereich zwischen klassischer Komposition und Jazz, europäischer und außereuropäischer Musiksprache oder der Synthese von Musik mit Bild, Video und Tanz bewegen.

Michel van der Aa. Foto: Marco Borggreve

Michel van der Aa. Foto: Marco Borggreve

Ein aufwändiges Projekt ist die deutsche Erstaufführung der 3-D-Filmoper „Sunken Garden“ des Niederländers Michel van der Aa, Kagel-Preisträger des Jahr 2013, am 29. Oktober. Eröffnet wird NOW! am 20. Oktober vom Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra unter Sascha Götzel und den Solisten Daniel Hope und Vadim Repin, die Mark-Anthony Turnages neues Konzert für zwei Violinen „Shadow Walker“ zum ersten Mal in Deutschland spielen. Dazu erklingt Musik von Ives, Adams, Bartók und Ferit Tüzün. Und am 4. November steht Jörg Widmann im Mittelpunkt eines Konzerts mit dem Ensemble Modern.

Verengtes Konzertrepertoire

Der Blick in das 240 Seiten starke goldene Programmbuch der Philharmonie Essen lässt die – auch anderswo – zu beobachtende Tendenz erkennen, das Repertoire der „großen“ Sinfonik auf die international geläufigen Namen zwischen Beethoven und der (Spät-)Romantik zu verengen: Brahms, Bruckner, Dvořák, Mahler, Schumann, Strauss – in dieser Spielzeit überraschend wenig Tschaikowski, kein Schostakowitsch, von moderner Sinfonik von Prokofjew bis Henze oder Glass ganz zu schweigen.

Ein vierteiliges Künstlerporträt widmet sich dem Komponisten, Klarinettisten und Dirigenten Jörg Widmann. Foto: Marco Borggreve

Ein vierteiliges Künstlerporträt widmet sich dem Komponisten, Klarinettisten und Dirigenten Jörg Widmann. Foto: Marco Borggreve

Mulders ist sich dessen bewusst und verweist auf das Dilemma einer Planung mit prominenten Gastorchestern und deren eigener Programmatik, aber auch auf das Publikumsinteresse: Schostakowitschs Elfte in der laufenden Spielzeit etwa sei schon ein Risiko gewesen, und ein neugieriges Publikum heranzubilden ein langwieriger Prozess, der bei knappen Ressourcen umso schwieriger zu bewerkstelligen sei.

Fatale Zwickmühle

Es zeigt sich: Die fatale, vielfach beklagte Zwickmühle funktioniert leider allzu gut. Festgefahrene Erwartungen, der Fetisch der Auslastungszahlen angesichts allzu knapper Finanzen, Promi-Dirigenten mit immergleichem Repertoire und die scheinbar schlüssige und gerechte Auslese der „Besten“ durch die Musikgeschichte wirken zuverlässig. Gegen solche Trends anzugehen, erfordert außer Mut und Kreativität vor allem (finanzielle) Ressourcen und politische Unterstützung.

Auf seine Kosten kommt das Publikum, das – sicher zu Recht – auch große Namen und angesagte Stars erwartet. Da ist ein Stern am Himmel des Gesangs gerade recht: Diana Damrau kommt am 4. Juni schon mit einem Meyerbeer-Programm in die Philharmonie und eröffnet den Konzertreigen der kommenden Spielzeit am 15. September mit dem Concertgebouw Orkest und Arien von Mozart. Ein drittes Mal ist sie am 18. Februar 2018 zu hören, diesmal in einem luxuriösen Liederabend mit Jonas Kaufmann und Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch.

Am 16. September stellt sich der Residence-Künstler Daniel Hope mit einer „Hommage an Joseph Joachim“ vor. Dem berühmten Geiger des 19. Jahrhunderts widmet er einen Duo-Abend mit Simon Crawford Philips am Klavier und Werken von Brahms, Clara Schumann und Felix-Mendelssohn-Bartholdy. Und die Reihe „Große Stimmen“ führt am 24. September Anja Harteros in die Philharmonie – mit Liedern von Schubert, Schumann und Strauss.

Weitere Höhepunkte: Arcadi Volodos mit einem Klavierabend am 3. Oktober, Händels Oper „Giulio Cesare“ konzertant am 14. Oktober mit der Accademia Bizantina, Magdalena Kožena mit Händel-Arien am 1. November, Renaud Capuçon mit drei Mozart-Violinkonzerten am 3. November, Isabelle Faust mit dem neuen Pultstar Teodor Currentzis und dem Mahler Chamber Orchestra mit Berg und Mahler am 18. November, Philippe Herreweghe mit zwei Beethoven-Außenseiterwerken, der „Chorfantasie“ op. 80 und der Messe op. 86 am 30. November und die Marienvesper des Jahres-Jubilars Claudio Monteverdi mit Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble unter Thomas Hengelbrock am 2. Dezember. Und zu Weihnachten Händels „Messiah“ mit The King’s Consort am 18. Dezember. Das neue Jahr startet dann mit Thomas Hampson (6. Januar) und Khatia Buniatishvili, die am 14. Januar Schumanns a-Moll-Klavierkonzert mit dem Kammerorchester Basel musiziert.

Info: http://www.philharmonie-essen.de
http://www.aalto-musiktheater.de
Der Vorverkauf hat begonnen, Karten-Telefon: (0201) 81 22 200.




Dem „göttlichen Claudio“ zum 450. Geburtstag: Monteverdi bringt in seinen Opern die Seele zum Singen

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Über seine Heimat Oberitalien ist Claudio Monteverdi nie hinausgekommen. Aber seine Wirkung als Erneuerer in der Zeit eines gewaltigen Umbruchs war in der gesamten Welt der Musik zu spüren. Vor 450 Jahren in dem damals minder bedeutenden Städtchen Cremona geboren, hat Monteverdi in der Entwicklung der Musik eine Rolle gespielt, die höchstens noch mit Namen wie Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner oder Arnold Schönberg zu vergleichen wäre.

Dabei hat sich der Sohn eines Baders – damals ein Beruf, der sich zwischen Medizin und Körperpflege bewegte – nie als musikalischer Rebell verstanden. Aber seine geistlichen und weltlichen Kompositionen und vor allem seine Opern haben Geschichte geschrieben.

Cremona, damals eine Stadt im Herzogtum Mailand, hatte kaum politischen Einfluss, aber ein reges geistiges Leben. Die Gebildeten trafen sich in einer Akademie, an einem Priesterseminar wurde moderne Theologie gelehrt. Die Instrumentenbauer Andrea Amati, Andrea Guarneri und Antonio Stradivari hatten den Ruf Cremonas als Stadt exzellenter Geigen in ganz Europa verbreitet. In der Pfarrei SS. Nazzaro e Celso wurde der erste Sohn von Baldassare Monteverdi, am 15. Mai 1567 auf den Namen Claudio getauft.

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Vater wollte seinen Kindern den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung ermöglichen und förderte ihre Begabungen. Die Bedingungen waren günstig, die katholischen Reformer legten großen Wert auf Bildung. Monteverdi selbst bezeichnet sich als Schüler des „herausragenden Ingegneri“. Der erfahrene Domkapellmeister gab ihm umfassende Grundlagen mit, zu denen Singen und das Spielen von Instrumenten gehörte, und bildete ihn planmäßig in Komposition heran. Als Fünfzehnjähriger veröffentlichte Claudio Monteverdi seine „Sacrae Cantiunculae“, kleinere geistliche Gesänge. Ein Jahr später erschienen vierstimmige Madrigale und wieder nach einem Jahr sein Probestück in der weltlichen Musik, eine Sammlung vierstimmiger „Canzonette“.

Die folgenden Jahre seines Lebens liegen im Dunkeln; offenbar perfektioniere sich Monteverdi in der Kunst des Komponierens. Das Ergebnis waren zwei Madrigalbücher, von denen das zweite von 1590 Monteverdi auf der Höhe seiner Kunst zeigt: „Hätte Monteverdi nur dieses Madrigalbuch hinterlassen – er hätte sich gleichwohl in die Geschichte der Musik eingeschrieben“, urteilt die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold in ihrer erst vor wenigen Wochen erschienenen Biografie. Denn die Gesänge zeigen bei „außerordentlicher musikalischer Sensibilität“ eigene künstlerische Ideen. In ihnen entwickelt Monteverdi, was sein Schaffen und vor allem seine Opern kennzeichnen sollte: Die musikalische Erfindung steht konsequent im Dienst des Textes.

Trotz der bedeutenden Komposition erhielt Claudio Monteverdi seine erste Stelle, weil er gut Viola da gamba spielen konnte. Am Hof des kunstliebenden Herzogs Vincenzo Gonzaga in Mantua begann er seine Karriere: In der Widmung seines dritten Madrigalbuchs 1592 lobt er die „glückliche Tür“, die ihm sein Spiel geöffnet habe. 22 Jahre blieb er in Mantua, heiratete und verlor seine Frau nach nur acht Jahren Ehe. Monteverdi spielte bei Festen und Gottesdiensten, an der Tafel und bei repräsentativen Anlässen. Zehn Jahre veröffentlichte er kein neues Werk, aber sein Ruhm verbreitete sich: In Venedig, Nürnberg und Antwerpen wurden seine Noten gedruckt.

Ab 1601 Kapellmeister, machte er Mantua zu einem Zentrum moderner Musik, dessen Glanz bis heute nachwirkt. Jetzt entstanden zahlreiche Kompositionen, die weitgehend ungedruckt blieben und verschollen sind. Hier schrieb Monteverdi aber auch die erste seiner Opern, uraufgeführt unter der Schirmherrschaft des Thronfolgers Francesco Gonzaga am 14. Februar 1607 – ein „künstlerisches Großereignis und ein Meilenstein der Operngeschichte“.

Monteverdi hat zwar die Oper nicht erfunden. Dieser Ruhm gebührt dem Florentiner Jacopo Peri mit seiner 1598 entstandenen „Dafne“, mit der die antike Theatertradition wiederbelebt werden sollte. Aber ohne Monteverdis „L’Orfeo“ wäre – so Silke Leopold – die Entwicklung der Oper vielleicht gar nicht richtig in Gang gekommen. Auch seine ein Jahr später geschriebene Oper „L’Arianna“, aus der nur der weltberühmte Trauergesang, das „Lamento“, überliefert ist, wurde ein riesiger Erfolg. Monteverdi war überzeugt, darin den Ausdruck menschlicher Emotionen am besten getroffen zu haben. Er blieb aber auch als geistlicher Komponist aktiv: 1610 entstand mit der „Marienvesper“ sein wohl bekanntestes sakrales Werk.

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Ruhm und Können halfen jedoch nicht, als 1612 Francesco die Nachfolge des verstorbenen Herzogs von Mantua antrat und sich daran machte, die zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren. Monteverdi wurde regelrecht hinausgeworfen und war mit 45 Jahren arbeitslos. Bis Oktober 1613 sollte es dauern – dann aber erreichte ihn ein Angebot aus Venedig und er erhielt eine der angesehensten Stellen im Bereich der Kirchenmusik: Monteverdi wurde Kapellmeister von S. Marco.

Es begann seine produktivste Zeit: Er reformierte die Kirchenmusik, erneuerte das Repertoire, sorgte sich um die soziale Stellung seiner Musiker und komponierte geistliche wie weltliche Musik, darunter drei neue Madrigalbücher. Für die damals einzigartigen öffentlichen Opernhäuser Venedigs schrieb er Opern und Ballettmusik, erhalten sind aber nur „Die Heimkehr des Odysseus“ und „Die Krönung der Poppea“. 1643 starb Claudio Monteverdi, begraben liegt er in der Kirche S. Maria Gloriosa dei Frari in Venedig.

Monteverdis drei erhaltene Opern gehören seit den bahnbrechenden Aufführungen durch Nikolaus Harnoncourt in den siebziger Jahren wieder zum Repertoire und werden in diesem Jubiläumsjahr u.a. in Berlin, in Venedigs Teatro La Fenice und bei den Festivals in Luzern, Innsbruck, Salzburg und Schwetzingen aufgeführt. In der Region planen die Theater Bielefeld und Aachen, Monteverdi mit „L’Incoronazione di Poppea“ zu würdigen. Die Premieren sind am 10. Juni (Bielefeld) und am 24. September (Aachen).




Was der Mensch so alles glauben kann: Die neue Spielzeit im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. (Foto: Georg Lange)

Von einem mutigen Spielplan sprach Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski bei der Vorstellung der Saison 2017/18 am Musiktheater im Revier. In der Tat: Zwei Schlüsselwerke der Oper des 20. Jahrhunderts in einer Spielzeit zu inszenieren und dazu eine bissig-heitere Farce von Dmitri Schostakowitsch zu platzieren, dazu gehört Vertrauen in die eigenen Kräfte und auf ein gewogenes Publikum. Generalintendant Michael Schulz kann sich auf beides verlassen – das hat die weit über das Ruhrgebiet hinaus beachtete Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ in der laufenden Spielzeit gezeigt.

OB Frank Baranowski (links) und Generalintendant Michael Schulz bei der Vorstellung des Spielplans 2017/18. Foto: Werner Häußner

OB Frank Baranowski (links) und Generalintendant Michael Schulz bei der Vorstellung des Spielplans 2017/18. (Foto: Werner Häußner)

An solche Erfolgsgeschichten knüpft das Team des Musiktheaters im Revier an: Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ und Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ sind die prominenten Opern-Titel der neuen Spielzeit. Beide stehen für programmatische Schwerpunkte: Einmal will das MiR in den vielfältigen Chor derer einstimmen, die in diesem Jahr der Reformation gedenken – als einem der wichtigen Impulse auf dem Weg in das Denken der Neuzeit.

Zum anderen geht es dem Musiktheater im Revier um das – in letzter Zeit an verschiedenen Theatern aufgegriffene – Thema Religion und Glaube. Dazu sieht die Spielzeit auch Andrew Lloyd Webbers populäre Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ vor (Premiere am 22. Dezember). Und „Nabucco“ thematisiert das Scheitern eines Herrschers, der sich selbst zum Gott hochstilisiert. Giuseppe Verdis Oper hat sich in den letzten 30 Jahren einen Platz im Repertoire zurückerobert – nicht zuletzt wohl wegen des melodisch inbrünstigen „Gefangenenchors“. Sonja Trebes, die in dieser Spielzeit Nino Rotas „Florentiner Hut“ inszeniert hat, setzt sich mit Verdis erstem internationalem Erfolg auseinander (Premiere am 16. Juni 2018).

Ben Bauer inszeniert die „Gespräche der Karmeliterinnen“

Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ erzählt am Beispiel des bis heute geheimnisumwitterten Schöpfers des Isenheimer Altars ein Künstlerdrama über die Verantwortung des Individuums in der Gesellschaft. Ein Thema, das auch den Komponisten in seinem Leben einholte: Die geplante Uraufführung des „Mathis“ an der Berliner Krolloper wurde von den Nazis untersagt, Hindemith mit einem Aufführungsverbot belegt. „Mathis der Maler“ konnte erst 1938 in Zürich uraufgeführt werden. In Gelsenkirchen inszeniert Schulz selbst in einem Bühnenbild von Heike Scheele, die Premiere ist am 28.Oktober.

Ballettchefin Bridget Breiner und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann. Foto: Werner Häußner

Ballettchefin Bridget Breiner und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann. (Foto: Werner Häußner)

Auch „Gespräche der Karmeliterinnen“, 1957 uraufgeführt, ist in den letzten Jahren erfolgreich auf die Bühne zurückgekehrt, unter anderem in Essen, Düsseldorf, Köln, Münster. Am MiR stellt sich der Bühnenbildner Ben Bauer, einer der „rising stars“ der Regie-Szene, nach dem aktuellen „Don Giovanni“ der komplexen Thematik von Poulencs Oper nach Vorlagen von Georges Bernanos und Gertrud von Le Fort: Es geht um die Lebensangst einer jungen Frau, um den Terror der Französischen Revolution, um die Bereitschaft zum Martyrium und um die Frage, wohin ein standhafter Glaube führt, wenn eine Entscheidung gefordert ist. Ab 27. Januar 2018 ist Ben Bauers Ergebnis – und Poulencs farbig-vielfältige Musik – auf der Gelsenkirchener Bühne zu erleben.

Wenn man so will, geht es auch in anderen Stücken der kommenden Spielzeit um Glauben, freilich nicht im religiösen Sinn: In Gaetano Donizettis „L’Elisir d’amore“ glaubt ein junger Mann an die magische Wirkung eines Liebestranks – natürlich mit entzückendem Ergebnis. Die Koproduktion mit der Dresdner Semperoper hat am 5. Mai 2018 Premiere. In Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“ glaubt eine verliebte junge Frau an die beständige Liebe, die selbst den Abstand ins ferne Batavia überbrücken kann – ebenfalls mit wundervoll überraschendem Ergebnis. Thomas Rimes gibt dem Operettenklassiker für das Kleine Haus ein neues, am jazzigen Klang des Originals orientiertes Klanggewand (9. Februar 2018).

Nach der Koch-Oper gibt’s echte Suppe

Die Satire Dmitri Schostakowitschs mit dem Titel „Moskau, Tscherjomuschki“ thematisiert den nachhaltig erschütterten Glauben an die Bürokratie und andere höchst irdische Einrichtungen. Dominique Horwitz wird das Stück von 1959 auf den Irrsinn heutiger Tage beziehen (31. März 2018). Horwitz ist auch der Schöpfer einer Revue, die ab 5. November unter dem Titel „Reformhaus Lutter“ nicht nur mit gesunder Ernährung, sondern wohl auch mit kränkelnden Erscheinungen des Glaubens, Unglaubens und Irrglaubens zu tun haben wird. Dazu passt, was Moritz Eggert ab 19. November in „Teufels Küche“ anrichten wird: Die Kinderoper kocht nämlich nicht nur alle möglichen musikalische Zutaten zu einer kulinarischen Sinfonie. Es soll am Ende auch eine richtige, essbare Suppe auf dem Tisch stehen!

Szene aus dem Ballett „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ am Musiktheater im Revier. Foto: Costin Radu

Szene aus dem Ballett „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ am Musiktheater im Revier. (Foto: Costin Radu)

Bridget Breiner kündigt einen (zu) viel gespielten Klassiker an: Mit „Romeo und Julia“ zur Musik Sergej Prokofjews setzt die Gelsenkirchener Ballettchefin ihre Beschäftigung mit Shakespeare-Stoffen fort (Premiere am 17. Februar 2018). Eröffnet wird die Serie der Novitäten im Ballett am 25. November mit „Old, New, Borrowed, Blue“ – drei Arbeiten von Meistern des zeitgenössischen Tanzes, ergänzt durch Breiners „In Honour of“, entstanden 2014 für Riga. David Dawson („A sweet spell of oblivion“, 2016 schon zu sehen), Jiři Kylián (“Indigo Rose”) und Uwe Scholz (“Jeunehomme-Klavierkonzert, 2. Satz“) sind die Choreografen, von Breiner ausgewählt, weil sie von allen dreien in ihrer eigenen Arbeit inspiriert worden ist. Die dritte Premiere am 28. April 2018 ist das Debut des belgischen Choreografen Jeroen Verbruggen, der das Kleine Haus mit seiner Performance mit einem neuen Raumkonzept (Bühne: Ines Alda) in eine Lounge verwandeln wird.

Wieder aufnehmen will die Ballettcompagnie „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ anlässlich des 100. Geburtstags der 1943 in Auschwitz ermordeten Künstlerin. Der 2015 mit dem Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnete Ballettabend wird ab 29 September noch vier Mal gezeigt. Ab 5. September ist im Zeiss-Planetarium Bochum eine multimedial aufbereitete Ausstellung zur Inszenierung zu sehen: Filmähnlich montierte Serienbilder, sogenannte Sequentials, des Fotokünstlers Heinrich Brinkmöller-Becker werden auf die Kuppel des Planetariums projiziert. Passend zum Shakespeare-Projekt Breiners kehrt am 15. Oktober Cathy Marstons „Hamlet“-Ballett auf die Bühne des Musiktheaters im Revier zurück.

Info: www.musiktheater-im-revier.de, Karten-Telefon: (0209) 4097 200




Neuer Intendant für das Theater Hagen: Was treibt Francis Hüsers dazu, diesen Posten anzustreben?

Gestern Abend war es am Rand eines Konzerts in Hagen zu erfahren: Der neue Intendant des Theaters steht fest. Francis Hüsers, bis 2015 Operndirektor und Stellvertretender Intendant der Staatsoper Hamburg, sei einstimmig gekürt worden, hieß es.

Francis Hüsers (Foto: Jörn Kipping)

Francis Hüsers (Foto: Jörn Kipping)

Kurze Zeit später hatte auch die Westfalenpost eine Meldung auf ihrer Webseite. Die Entscheidung des Rats am 18. Mai dürfte Formsache sein: Niemand wird die Qual der Wahl fortsetzen wollen, die sich in der finanziell schwer gebeutelten Stadt nun schon seit Mitte 2015 hinzieht.

Imposanter Lebenslauf

Der 57-jährige Francis Hüsers, aufgewachsen in Krefeld und Mönchengladbach, hat auf seiner Webseite einen imposanten Lebenslauf aufzuweisen: Dramaturg zwischen Hamburg und Berlin, Zusammenarbeit mit profilierten Regisseuren wie David Alden, Johannes Erath oder Jochen Biganzoli, von 1995 bis 2005 Referent und Künstlerischer Produktionsleiter an der Hamburgischen Staatsoper, dann Leitender Dramaturg und Künstlerischer Produktionsleiter an der Staatsoper Unter den Linden Berlin.

2010 holte ihn Simone Young zurück nach Hamburg und machte ihn zu ihrem Stellvertreter. Derzeit arbeitet Hüsers frei als „Autor, Dozent und Dramaturg für Oper und Musiktheater sowie als Fachberater für Kulturschaffende“. Seine letzten Projekte als Dramaturg: „Tosca“ in Halle in einer – ziemlich missglückten – Regie von Jochen Biganzoli, „Lohengrin“ in Sankt Gallen mit Vincent Boussard, dem Regisseur der von der Kritik nicht eben günstig aufgenommenen Inszenierung von Meyerbeers „Le Prophète“ in Essen, zuvor Korngolds „Die tote Stadt“ an der Oper Graz mit Johannes Erath, ausgezeichnet mit dem Österreichischen Musiktheaterpreis.

Langwieriges Berufungsverfahren

Stellt sich die Frage, was den 1960 geborenen studierten Soziologen, Germanisten und Sozialpädagogen daran reizt, ausgerechnet nach Hagen zu gehen. Denn nicht nur das turbulente Berufungsverfahren stellt der Stadt kein gutes Zeugnis aus: Im April 2016 endete die erste Runde ohne einen geeigneten Kandidaten, nachdem sich das Verfahren seit August 2015 hingeschleppt hatte.

Das Theater Hagen, aufgenommen 2014. Foto: Werner Häußner

Das Theater Hagen, aufgenommen 2014. Foto: Werner Häußner

Der aussichtsreichste Bewerber, Ex-Marketingleiter Jürgen Pottebaum, verzichtete, nachdem ihm offenbar klar geworden war, dass die vorgesehenen Kürzungen des Theaterzuschusses der Stadt von 15 auf 13,5 Millionen Euro ab 2018 nicht zu realisieren seien. Im September 2016 kam Dominique Caron, Leiterin der Eutiner Festspiele in Schleswig-Holstein, als neue Intendantin ins Gespräch. Die Wahl schien perfekt. Aber nach harscher Kritik, unter anderem an ihrem Führungsstil, zog Caron ihre Bewerbung im November 2016 zurück.

Ein Mann für Kürzungen und Einsparungen?

Francis Hüsers wirkt nicht wie ein Theatermann ohne künstlerischen Ehrgeiz. Er wirkt auch nicht wie einer der eiskalt-glatten Kulturmanager oder wie einer jener eilfertigen Liebediener der Politik, die noch jedem versprechen, mit der Hälfte des Geldes des Vorgängers doppelt so gutes Theater zu machen. Seine Hamburger Bilanz liest sich eindrucksvoll, wenn man auch über den künstlerischen Ertrag in einigen Fällen geteilter Meinung sein kann. Sie zeigt Offenheit für neue Werke und für das an den Rand gedrängte Repertoire – eben das, was das Theater Hagen schon vor der Zeit des verdienstvollen scheidenden Intendanten Norbert Hilchenbach über die Region hinaus bekannt gemacht hat.

Umso rätselhafter ist Hüsers Interesse an einem Theater, das bisher schon auf dem Level eines kleineren Stadttheaters arbeiten musste, mit der Absenkung des Zuschusses aber nach jeder seriösen Prognose unter die Deadline eines noch einigermaßen funktionsfähigen Mehrspartenhauses fällt. Hat er’s wirklich so nötig? Oder treibt ihn unstillbarer Ehrgeiz auf den Schleudersitz eines Intendanten, der gezwungen ist, vor allem durch Kürzungen und Einsparungen aufzufallen? Der Mann muss ein Geheimnis haben.

Und so darf man, um die abgestandene Formulierung jedes ratlosen Journalisten zu bemühen, gespannt sein, was er an Lösungen für die Hagener Malaise mitbringt. Glück muss man ihm auf jeden Fall wünschen!




Innere Erfahrungsreise oder Wellness-Musik? „Einstein on the Beach“ von Philip Glass fasziniert in Dortmund

Musik, die das Hirn (Raafat Daboul) tanzen lässt: Szene aus "Einstein on the beach" in der Oper Dortmund. Foto: Thomas Jauk

Musik, die das Hirn (Raafat Daboul) tanzen lässt: Szene aus „Einstein on the Beach“ in der Oper Dortmund. (Foto: Thomas Jauk)

So wenig wie Philip Glass‘ „Einstein on the Beach“ eine Oper im herkömmlichen Sinn ist, so wenig lässt sich über die Aufführung in Dortmund eine Rezension schreiben. Und selbst die jeder bewertenden Äußerung innewohnende Subjektivität hilft nicht weiter. Denn ein Kunstwerk, dessen Sinn darin besteht, keinen Sinn zu haben, ist mit Worten noch weniger einzuholen als eine traditionelle Opernaufführung. Schon da versagen zuweilen Worte vor der Macht des Klingenden und des Szenischen. Wie erst bei einem Ereignis, das nichts anderes will, als innere Erfahrungen auszulösen.

Was passiert, passiert in den Köpfen der Zuschauer. Was bleibt, wäre die Beschreibung. Sicher lässt sich Philip Glass‘ Musik analysieren: Die patterns, jene fragmentarischen Teilchen, aus denen sich wunderbare und wunderliche Klang-Gebilde aufbauen lassen. Die beharrliche Repetition, das mechanische Immergleiche, das dennoch auf magische Weise nie maschinell wirkt, weil es Menschen, nicht Roboter erzeugen.

Es ist die konstruktivistische Seite des Komponisten, die sich im Wechselspiel von regulären und irregulären Veränderungen zeigt: Glass‘ Partituren sind nicht selten einfach grafisch schön – und die Variationen der patterns ein mit Mathematik und Geist spielendes Verfahren, das manchmal so wirkt, als wolle Glass der höheren Rechenkunst der westeuropäischen seriellen und zwölftönigen Musik der Entstehungszeit des „Einstein“ mit verstecktem Witz sagen: Schaut her, ich kann’s auch, aber ihr merkt es gar nicht.

Kongeniales szenisches Konzept

Kay Voges. (Foto: Birgit Hupfeld)

Sicher lässt sich auch über das kongeniale szenische Konzept des Dortmunder Schauspielchefs Kay Voges rühmend räsonieren: Über das Spiel mit Regel und Zufall, über die frischen assoziativen Ideen, über das wunderbare Zusammenspiel mit der Bühne Pia Maria Mackerts, die verschiebbare, halbtransparente Segmente bereitstellt, drehbar aufgehängt als Projektions- und Brechungsflächen für Licht und Videobilder. Lars Ulrich und Mario Simon, vereint mit dem Lichtdesigner Stefan Schmidt, tauchen die Bühne in romantisches Blau, in sprühend bunte Explosionen, in gestaltlos verfließende Farben oder in ödes Grau, auf dem sich die Zahlen abbilden, die Chorsänger rezitieren: One … two … three ….

Bloß nicht interpretieren!

Nur ja nicht interpretieren! Wer anfängt, an den Texten des jungen Autisten Christopher Knowles, an der Badekappen-Sprachepisode Lucinda Childs oder an den aphoristischen Übertiteln herumzudeuteln, hat schon verloren. Auch die szenischen Bewegungsmuster entziehen sich dem beobachtend-rationalen Zugriff. In welchem der Kostüme Mona Ulrichs die Sängerinnen Hasti Molavian, Ileana Mateescu und Hannes Brock stehen oder schreiten, erhellt ebenso wenig den Sinn einer Aktion wie die Schauspieler Bettina Lieder, Eva Verena Müller und Andreas Beck sprechend oder agierend über sich selbst hinausweisen.

Auch wenn an ihnen ein Dutzend Zellen – oder Augen? – hängen, auch wenn sie wie ein aufquellender Gewebehaufen wirken, auch wenn sie in Zwangsjacke oder noblem Abendkleid auftreten – die Bilder bleiben autonom. Ein Hirn (Raafat Daboul) tanzt auf dürren Beinchen, ein Geiger mit weißer Mähne und Schnauzer à la Einstein spielt und ein Mensch fährt wie Stephen Hawking – ein anderes Superhirn der Wissenschaft – im Rollstuhl herein: Es gilt, was die Dramaturgen Georg Holzer und Alexander Kerlin auch im Trailer über das „audiovisuelle Gesamtkunstwerk“ betonen: kein Interpretieren bitte.

Wer einmal danebenliegt, hat verloren

Wer sich von Phil Glass‘ Musik in den gut dreieinhalb Stunden meditativer Versenkung hinwegschwemmen lässt, wird auch nur am störungsfreien Ablauf wahrnehmen, welche außergewöhnliche Leistung die zwölf Sänger des ChorWerks Ruhr und die Solisten der Dortmunder Philharmoniker vollbringen. Denn die Zählerei, die von Dirigent Florian Helgath, dem künstlerischen Leiter des ChorWerks Ruhr, und seinen Musikern gefordert ist, darf als Tortur bezeichnet werden. Wer einmal daneben liegt, hat verloren. Ein Wunder, wie selten (hörbar) das in diesem langen Abend passiert.

Pause gibt es keine, aber wie im barocken Opernspektakel von einst darf jeder seinen Sitz verlassen und nach draußen gehen, wann und wie oft er möchte. Das sorgt für eine gewisse Unterbrechung meditativer Zustände, wenn sich Sitznachbarn durch die Reihen schieben. Aber die Störung hält sich in Grenzen, Glass scheint rücksichtsvoll zu stimmen.

Längst nicht mehr so provokant

Glass wurde im Januar dieses Jahres 80 und wird vor allem in USA, aber auch weltweit gefeiert. Das Theater Basel spielt seine Gandhi-Oper „Satyagraha“, am Theater Koblenz steht noch bis 12. Juni die packende Kammeroper „The Fall of  the House of Usher“ auf dem Programm, weitere Premieren, unter anderem an der Komischen Oper Berlin, sind geplant. Am 12. Juli ist der Komponist in Essen zu Gast und erhält gemeinsam mit Dennis Russell Davies und Maki Namekawa den Preis des Klavier-Festivals Ruhr. Aber „Einstein on the Beach“ wird tatsächlich derzeit nur in Dortmund gespielt.

Die Uraufführung vor 40 Jahren beim Festival in Avignon war eine Sensation. Nachdem diese Art sinnfreien – oder sagt man besser: sinn-offenen? – Theaters längst auf den Bühnen Einzug gehalten hat, ist „Einstein on the Beach“ nicht mehr so provokant wie 1976. Auch der esoterische, quasi-religiöse Ruch, der nicht zuletzt auf Glass‘ (musik-)theoretische Ausführungen zurückging, scheint verweht.

Kurt Honolka, meine ich, war es, der über Glass‘ Opern das Bonmot prägte: „Wer glaubt, wird selig, wer nicht glaubt, schläft ein.“ Was damals aus einer objektivistischen Perspektive gesagt war, trifft heute noch eine zumindest diskussionswürdige Frage: Was soll uns dieses Ritual, das den Zuschauer sich selbst überlässt, geöffnet in sphärische Weiten und gefangen in der Schale des eigenen Ich? Ist das mehr als warmwässrige Seelen-Delektation, eine Art wohliges Wellness-Center, in dem man ein paar Stunden assoziativ an seinen Seelenzuständen werkelt? Gern höre ich, wie man verbotner Frage lohne.

Aufführungen am 13. Mai und 4. Juni. Karten: Tel.: (0231) 50 27 222, Info: https://www.theaterdo.de/detail/event/einstein-on-the-beach/




Wilde Träume des bürgerlichen Unterbewusstseins: Ben Baur inszeniert Mozarts Oper „Don Giovanni“ in Gelsenkirchen

Zerlina (Bele Kumberger) wird schwach angesichts der Avancen von Don Giovanni (Piotr Prochera). (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Was hat Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ mit der Oper „Don Giovanni“ von Wolfgang Amadeus Mozart zu tun? Im Gelsenkirchener Musiktheater derzeit eine ganze Menge. Der aus dem südhessischen Reinheim stammende Bühnen- und Kostümbildner Ben Baur, der sich zunehmend dem Regiefach zuwendet, deutet den nimmersatten Frauenhelden jetzt als finsteres Alter Ego seines Dieners Leporello, als morbide nächtliche Fantasie eines bürgerlichen Unterbewusstseins.

Viele Rezitative zwischen Don Giovanni und Leporello fallen dieser Sichtweise zum Opfer. Einige Arien schneidet Ben Baur heraus, um sie an anderer Stelle zu positionieren. Das ist durchaus machbar, ohne das Stück zu zerstören: Als Ausgangs- und Knotenpunkte der Handlung funktionieren die Arien dieser Oper eigentlich immer. Zudem hat sich Mozarts ebenso geniales wie mehrdeutiges „Dramma giocoso“ von Beginn an wenig um Opernkonventionen und Gattungsgrenzen geschert.

Das Geschehen auf der Bühne zu verstehen, dürfte freilich erhebliche Probleme bereiten, wenn im Vorfeld die Lektüre des Programmhefts unterbleibt. Schon während der Ouvertüre findet auf der Szene ein so munteres „Bäumchen wechsel Dich“-Spiel statt, dass man bald nicht mehr begreift, wer da alles wem und warum um den Hals fällt. Die komische Seite des Spiels bleibt wenig belichtet. Selbst Zerlina und Masetto, das naiv-burleske Bauernpaar, ringt um ein vertrauensvolles Leben zu zweit.

Don Giovanni (Piotr Prochera, li.) mit Zerlina (Bele Kumberger) und Masetto (Michael Dahmen). (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Die mit Totenmasken ausgestattete Statisterie soll vermitteln, dass diese Nacht mit dem Totentanz des Titelhelden endet, bevor es endlich Tag wird und der Spuk ein Ende hat. Warum aber muss Don Giovanni vor seinem Ende in das Brautkleid der Donna Elvira steigen? Ein seltsames Totenhemd für einen Super-Macho.

Baurs Lesart, wiewohl weit hergeholt, entfaltet gleichwohl Reize für den, der sich auf sie einlässt. Als magische Traumgestalt oder Ausgeburt einer überhitzten Fantasie lässt sich die mythische Titelgestalt, an deren rätselhafter Anziehungskraft sich Dichter, Denker und Philosophen abgearbeitet haben, vielleicht noch am ehesten begreifen. Elegant sind die Bühnenbilder, für die ebenfalls Ben Baur verantwortlich zeichnet.

Alles beginnt in einem mit Stuckaturen verzierten Salon mit eingezogenem Theatervorhang. Wenn diese Kulisse schließlich komplett Richtung Schnürboden gezogen wird, bleibt ein feierliches, von Kerzenleuchtern und Blumengestecken geschmücktes Spielfeld der Liebe und des Todes.

Das quirlige Ensemble des Musiktheaters (MiR) eilt dem Orchester zuweilen bedenklich davon, aber die teils erheblichen Unstimmigkeiten zwischen Graben und Bühne mögen auch dem Premierenfieber geschuldet sein. Piotr Prochera, von Statur und Stimmvolumen nicht der Größte, meistert die Titelpartie auf intelligente Weise. Er gibt „seinem“ Don Giovanni strizzihaften Charme und samtige Eleganz, die er bei passender Gelegenheit ins Forcierte und Brutale umschlagen lässt. Stimmlich überzeugend zeichnet er das Porträt eines Edelmanns mit sadistischen Zügen.

Der schwedische Bariton Urban Malmberg muss als Leporello eine Bass-Partie bewältigen, weshalb er sich im tiefen Register dementsprechend müht. Gleichwohl findet er passend gallige Töne für einen Diener, der seinen Herrn satt hat bis zum Überdruss.

Nacht und Kerzenschein: In Ben Baurs Lesart von „Don Giovanni“ ringen die Figuren um das Leben zu zweit. (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

 

Wunderbar besetzt sind die beiden Sopran-Partien: Alfia Kamalova bringt als Donna Anna lyrischen Schmelz und edle Dramatik zum leuchten, und Bele Kumberger ist eine Zerlina, die herrlich zwischen mädchenhafter Scheu und gewitzter Koketterie schwankt. Petra Schmidt gibt der Donna Elvira gehörigen Rache-Furor, in den sich zuweilen auch spitze oder verhärmte Töne mischen.

Die Partie des Masetto scheint Michael Dahmen perfekt zu liegen: Bei ihm verschmelzen stimmliche und schauspielerische Darstellung zu genau der Einheit, die Mozarts Figuren so ungeheuer lebendig macht. Dong-Won Seo gibt dem Komtur nachtschwarz drohende Wucht. Ibrahim Yesilay entwickelt als Don Ottavio tenoralen Schmelz, hat bei der Premiere aber das Pech, einmal fast komplett den Anschluss zum Orchester zu verlieren.

Die metaphysische Wucht des d-Moll, die im „Don Giovanni“ den Einbruch einer rächenden Instanz aus dem Jenseits markiert, will sich im Orchestergraben zunächst nicht recht einstellen. Die Neue Philharmonie Westfalen braucht eine ganze Weile Anlauf, bis sie sich in den rechten Esprit für Mozarts ebenso transparente wie anspruchsvolle Partitur hinein spielt. Nach der „Zauberflöte“ im Jahr 2009 hatte sich Chefdirigent Rasmus Baumann eben eher auf Riesenrösser des Repertoires konzentrierte – man denke nur an „Lady Macbeth von Mzensk“, „Die Frau ohne Schatten“ oder „Tristan und Isolde“. Der Offenbarungseid, dem Mozarts Werke für Sänger und Musiker gleich kommen, fällt in Gelsenkirchen vielleicht nicht immer brillant, aber doch vielversprechend aus.

(Folgetermine im Mai, Juni und Juli 2017. Informationen: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2016-17/don-giovanni/)




87 Jahre nach der Premiere: Theater Osnabrück entdeckt Hans Gáls faszinierend vielfältige Oper „Das Lied der Nacht“

Lina Liu in Hans Gáls "Das Lied der Nacht" am Theater Osnabrück. Foto; Jörg Landsberg

Lina Liu in Hans Gáls „Das Lied der Nacht“ am Theater Osnabrück. (Foto: Jörg Landsberg)

Wer sich auf „Das Lied der Nacht“ von Hans Gál einlässt, taucht tief hinab ins Unterbewusste, in die Welt geheimnisvoller Symbole, vieldeutiger Bilder. Schon der Titel öffnet den Raum der Interpretation und Assoziation: Steht das „Lied“ nicht für die Macht der Musik als der „heiligsten“ aller Künste mit ihrer transzendierenden Kraft? Steht die „Nacht“ nicht für das unergründliche Reich, in dem der Romantiker das wahre Wesen der Dinge erfährt, in dem Bergendes und Bedrohendes in ambivalentem Wechsel auf die Seele einwirken? In dem auch die Psychoanalyse und die Traumforschung den innersten Kräften des Menschen auf die Spur zu kommen hoffen?

In der Tat: „Das Lied der Nacht“, das am Theater Osnabrück nun nach 87 Jahren eine heftig applaudierte Wiederaufführung erlebte, lässt sich von mannigfaltigen Standpunkten aus erschließen. Die Geschichte aus einem mythischen sizilianischen Reich, dessen König tot und dessen Prinzessin keinen Gatten wählen will, könnte als Märchen gelesen werden: Eine Schwester der Prinzessin Turandot (Puccinis Oper hatte genau einen Tag nach Hans Gáls Werk Premiere!), die sich dem Mann verweigert und durch die Rettungstat eines geheimnisvollen Unbekannten die Liebe erfährt.

Zu Gast in Osnabrück: Eva Fox Gál, die Tochter des Komponisten. In einem Foyergespräch berichtete sie aus dem Leben ihres Vaters, der 1933 als Direktor der Mainzer Musikhochschule abgesetzt wurde, in seine österreichische Heimat floh und nach dem "Anschluss" 1938 aus Wien nach London emigrieren musste. Hans Gál lebte bis zu seinem Tod 1987 in Edinburgh. Foto: Werner Häußner

Zu Gast in Osnabrück: Eva Fox Gál, die Tochter des Komponisten. In einem Foyergespräch berichtete sie aus dem Leben ihres Vaters, der 1933 als Direktor der Mainzer Musikhochschule abgesetzt wurde, in seine österreichische Heimat floh und nach dem „Anschluss“ 1938 aus Wien nach London emigrieren musste. Hans Gál lebte bis zu seinem Tod 1987 in Edinburgh. (Foto: Werner Häußner)

Oder als Künstleroper über die Macht der Musik, die nur wirkt, wenn sie ein Künstler aus dunkel-schöpferischem Urgrund heraus zum Klingen bringt, aber scheitert, wenn er als konkrete Person ins Licht der Dinge tritt. Der „Name“ des mysteriösen Sängers, der die Prinzessin nachts durch sein Lied bewegt und sie schließlich vor dem gewalttätigen Zugriff eines Freiers rettet, spielt ebenso eine wichtige Rolle wie der Kuss, den der schwarzverhüllte Mann fordert.

„Turandot“ lässt grüßen – wenn auch Gál und Puccini nichts von den Plänen des jeweils anderen gewusst haben dürften: ein Zeichen, wie die Themen damals in der Luft lagen. Im Gegensatz zu Puccinis von ihm unkomponiertem Finale, einer Apotheose der Liebe, geht Hans Gáls Werk tragisch zu Ende. Die Prinzessin ist schockiert, als sich zeigt, wer der „unbekannte Sänger“ in der Realität ist – und dieser tötet sich vor ihren und des ganzen Volkes Augen.

Mascha Pörzgen hat die vielgestaltige Musik und das präzise, manchmal überdeutlich erklärende Libretto des Dichters Karl Michael von Levetzow in einer Inszenierung umgesetzt, die sich auf die gescheiterte Entwicklung eines Mädchens an der Bruchstelle vom Kind zur Erwachsenen konzentriert, aber die romantischen Seiten nicht aus dem Blick verliert.

Konfrontiert mit der Forderung des Staates, ihre Existenz über ihren privaten Raum hinaus zu gestalten – Heirat und Wahl eines Königs –, flüchtet Prinzessin Lianora in den Rückzug. Aber die bergende Aufnahme in ein Kloster wird ihr verweigert: Eine riesenhafte Erscheinung, die „steinerne“ Äbtissin, verweist sie zurück auf „die Nacht“ in ihr selbst und auf das „Erbeben“ – die Wahrnehmung der eigenen Person. Lianora, das ist eine „Raupe“, die sich erst entwickeln muss: Frank Fellmann, der Ausstatter, hat dafür eine szenische Chiffre gefunden – das bunte Kinderkleidchen von Lianora, das sie nicht ablegen wird.

Beziehungsreich symbolhafte Bilder

Mit der nächtlichen Trias von Lied, Rettung und Kuss könnte der unbekannte Sänger Lianora den Schritt zur gefestigten Persönlichkeit, zur bewusst angenommenen Sexualität, zur heilenden Kraft der Liebe öffnen. „Wie anders ist die Welt“, bekennt Lianora. Pörzgen inszeniert den traumversponnenen zweiten Akt in beziehungsreich-symbolhaften Bildern mit genau ausdeutender Sensibilität aus einer souveränen Kenntnis des Werks. Frank Fellmanns Bilder helfen ihr dabei ungemein. Nächtliche Bläue, schlierende Projektionen von Wasser, in dem Schlangen – zwiespältige Tiersymbole der Weisheit wie der Bedrohung – treiben, der Rahmen einer hohen Tür als Zugang, Ausgang, Bildausschnitt: Die Bühne greift tief in das Repertoire des Symbolischen, bleibt aber nicht in der Reproduktion bekannter Chiffren und Bilder stecken, sondern entwickelt eine unangestrengte Kreativität.

Ambivalente Faszination der Nacht: Lina Liu (Lianora) und Ferdinand von Bothmer (Der namenlose Sänger) im zweiten Akt der Oper. Foto: Jörg Landsberg

Ambivalente Faszination der Nacht: Lina Liu (Lianora) und Ferdinand von Bothmer (Der namenlose Sänger) im zweiten Akt der Oper. (Foto: Jörg Landsberg)

Auch im dritten Akt greifen beziehungsreiche Personenregie und bildnerische Symbolik aussagestark ineinander. Jetzt beherrscht ein riesiges Brautkleid den Bühnenraum, das nach der Katastrophe zerbricht und den Zugang zum Kloster öffnet: Diesmal ist der Eintritt für die gescheiterte Prinzessin frei, die Äbtissin auf menschliches Maß geschrumpft. Lianora bekommt den grauen Schleier – auch sie wird wie die mahnende Überfrau versteinern.

Mascha Pörzgens Regie – ein echter Wurf – kommt dem Stück so nahe, weil sie darauf verzichtet, Eindeutigkeit herstellen zu wollen. Sie bewahrt dem Stück seine Offenheit und trifft damit auch die romantische Seite: Denn das Transzendieren der Alltagswelt, für die der Chor mit seinen Bonbonrosa-Schattierungen bei den Damen und knallbunten Hosen bei den Herren steht, ist Chance und Gefahr zugleich: Hinter der Welt der Dinge lockt die Erfüllung, lauert aber auch das Dämonisch-Verderbliche.

Die Osnabrücker Inszenierung lässt die Wege offen, stellt Hans Gáls Oper in einen Zusammenhang mit Werken wie Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“, aber auch „Der ferne Klang“ Franz Schrekers, Pietro Mascagnis „Iris“, vielleicht auch Eugen d’Alberts „Die toten Augen“. So erweist sich „Das Lied der Nacht“ als ein Beispiel symbolistischer Spätromantik, die heute eine frische Faszination gewonnen hat.

Moderne Klarheit und sensible Klangfacetten

Für die Musik gilt das umso mehr: Hans Gál ist einer der Verfemten aus der Nazizeit, der nach 1945 im Überschwang und der nachfolgenden dogmatischen Verfestigung der „Neuen Musik“ nachhaltig vergessen wurde. Die Entdeckungswelle der letzten beiden Jahrzehnte hat sein Werk nicht freigelegt, obwohl es mittlerweile eine ganze Anzahl von Aufnahmen seiner Sinfonik, Kammer- und Konzertmusik gibt.

Die "steinerne Äbtissin" (Gritt Gnauck) weist die Prinzessin (Lina Liu) ab. Foto: Jörg Landsberg

Die „steinerne Äbtissin“ (Gritt Gnauck) weist die Prinzessin (Lina Liu) ab. (Foto: Jörg Landsberg)

Wie uneingeschränkt die Musik sich für eine Wiederaufführung empfiehlt, machen GMD Andreas Hotz und das hervorragend disponierte Osnabrücker Symphonieorchester deutlich. Gál verbindet moderne Klarheit und Strenge der Form, die vielleicht an Paul Hindemith erinnert, mit einer sensiblen Auffächerung klanglicher Möglichkeiten. Doch Gál ist nie klangverliebt, verbietet es sich, Farben aus Lust zu schichten und zu mischen. Sicher verleugnet er in der Magie des Orchesterklangs das Erbe Wagners nicht; sicher blitzt in der sprühenden Instrumentation der Funke Richard Strauss` aus der Partitur. Aber Gál wirkt nie epigonisch, bleibt auf seine Art unvergleichlich. Hotz realisiert diese musikalische Sprache mit unendlichem dynamischem Feingefühl, mit Gespür für feine Lasuren und mit einer vom Orchester umgesetzten, staunenswerten Präzision.

Das Theater Osnabrück hat in den letzten Jahren eine Reihe beachtlicher Ausgrabungen gezeigt, von Antonin Dvoraks "Vanda" bis Manfred Gurlitts "Die Soldaten". Foto: Werner Häußner

Das Theater Osnabrück hat in den letzten Jahren eine Reihe beachtlicher Ausgrabungen gezeigt, von Antonin Dvoraks „Vanda“ bis Manfred Gurlitts „Die Soldaten“. (Foto: Werner Häußner)

Auch das Osnabrücker Gesangsensemble gibt sich nicht nur darstellerisch den Herausforderungen des unbekannten Werkes hin: Lina Liu stellt sich bewundernswert ihrer fordernden Rolle als Lianora. Sie muss permanente Präsenz auf der Bühne zeigen, die Facetten des Charakters zwischen verwöhntem Kind und verunsicherter Frau, zwischen Angst und Neugier, Trotz und Erschütterung auch im Singen entwickeln. Das schafft sie mit Charme und Tiefe.

Gritt Gnauck trifft als Äbtissin mit ausgeglichener Sonorität die dunklen Regionen des Alt und die flammende Höhe des Mezzo – eine innere Stimme eher als eine Erscheinung der Außenwelt, die der kindlichen Lianora als ambivalente Autorität begegnet.

Ferdinand von Bothmer verbindet als namenloser Sänger und als Bootsmann Ciullo die inneren und die äußere Sphäre, singt mit sattelfestem Tenor die strömenden Legati der nächtlichen Bezauberungen. Rhys Jenkins betont mit der Stimme, was in seinem bewusst affektiertem Kostüm szenisch schon angelegt ist: Er gehört als berechnender, seine Forderungen mit Gewalt eintreibender Freier Tancred ganz in die Welt der politischen Realitäten, denen Lianora zu entkommen sucht.

José Gallisa demonstriert vibratosatt und dunkel, wie hilflos der Kanzler und Reichsverweser der komplexen Psyche der Prinzessin begegnet; auch Susann Vent-Wunderlich als Hämone, eine Dame des Gefolges, setzt eher auf pragmatische Lösungen: Die Härte ihrer Stimme entspricht dem Charakter; am Ende ist die Kluft zwischen den beiden Frauen offenbar.

Nicht nur der von Markus Lafleur einstudierte Chor, auch die Technik mit Bühnenmeister Dettmar Jankowski und Beleuchtungsmeister Uwe Tepe tragen maßgeblich zu diesem herausragenden Opernabend bei. Früher standen nach einer solchen Aufführung die Intendanten Schlange, um den Erfolg auch an ihr Haus zu holen – heute ist leider eher davon auszugehen, dass eine einmal gemachte Entdeckung fürs Nachspielen uninteressant geworden ist. Schade um Hans Gáls faszinierendes Werk, aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben.

Vorstellungen am 10., 12., 14., 23. und 25. Mai. Karten: Tel. (0541) 76 000 76
Info: http://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?stid=174




Mut zur Vielfalt: Die Oper Frankfurt geht mit ehrgeizigem Programm in die Spielzeit 2017/18

Die Frankfurter Oper ist auch 2017/18 ein lohnendes Ziel für Opernfreunde. Foto: Werner Häußner

Die Frankfurter Oper ist auch 2017/18 ein lohnendes Ziel für Opernfreunde. (Foto: Werner Häußner)

Ein abwechslungsreiches Potpourri, das verschiedenste Perspektiven auf das Musiktheater eröffnet: Das Programm der Spielzeit 2017/18 an der Oper Frankfurt ist mit diesen Worten von Intendant Bernd Loebe wohl am treffendsten beschrieben. Kein verbindendes Motto überspannt die zwölf Premieren und 15 Wiederaufnahmen: Der Mut zur Vielfalt ist unübersehbar und entführt in die weite Wert der Oper, von Henry Purcells „Dido und Aeneas“ bis zur Uraufführung der Oper „Der Mieter“ des 1968 geborenen Arnulf Herrmann.

Drei Jahrhunderte Musiktheater also, beginnend mit einem unsterblichen Schlager des Repertoires: Giuseppe Verdis „Il Trovatore“, koproduziert mit Covent Garden in London und erarbeitet von David Bösch. Eine Inszenierung des Regisseurs mit Ruhrgebiets-Wurzeln, künstlerisch herangewachsen im Schauspiel in Bochum und Essen, die von der englischen Presse zwiespältig bewertet wurde. Böschs Bilder eines nicht näher bestimmbaren Kriegsschauplatzes sind nach Auffassung der Financial Times pittoresk, aber es sei nicht immer einfach zu erkennen, was sie mit Verdis Oper zu tun haben – eine „schwache Antwort“ auf das Problem der Oper, die eher durch krude Emotionen als durch dramatische Logik wirke.

Wie auch immer – in Frankfurt dirigiert ab 10. September der vielversprechende Jader Bignamini ein erlesenes Ensemble, unter anderem mit Elza van den Heever (Leonora) und Tanja Ariane Baumgartner (Azucena). Van den Heever gestaltet auch die Titelrolle in „Norma“, die am Ende der Spielzeit am 10. Juni 2018 herauskommt. Sigrid Strøm Reibo, Hausregisseurin an der Norwegischen Nationaloper Oslo, inszeniert Bellinis Belcanto-Hauptwerk. Den Vergleich mit der dekorativen Essener „Norma“ von Tobias Hoheisel und Imogen Kogge, die 2017/18 wieder aufgenommen wird, dürfte die Deutschland-Regiedebütantin mühelos bestehen.

Eine konzertante Aufführung von Gaetano Donizettis „Roberto Devereux“ mit der aus Düsseldorf „importierten“ Adela Zaharia als Elisabetta und die Wiederaufnahmen von Verdis „Les Vȇpres siciliennes“ mit Stefan Soltesz am Pult, Bellinis „La Sonnambula“ mit Brenda Rae als Amina und Francesco Cileas „Adriana Lecouvreur“ mit Angela Meade in der Titelrolle decken das Spektrum der italienischen Oper auch jenseits des Üblichen ab.

Zwei Uraufführungen

Mit zwei Uraufführungen positioniert sich Frankfurt – wie in den Jahren zuvor – wieder als ein Haus, das sich im deutschen wie internationalen Vergleich für den Einsatz für zeitgenössische Musik nicht verstecken muss: Die erste stammt von Arnulf Herrmann, der in Saarbrücken lehrt und in der internationalen Musikszene gut vernetzt ist. Seine neue Oper „Der Mieter“ basiert auf einem Roman von Roland Topor, der als „The Tenant“ von Roman Polanski verfilmt wurde. Wie Andrea Lorenzo Scartazzinis „Der Sandmann“ in dieser Spielzeit dreht sich die Story um den zunehmenden Realitäts- und Identitätsverlust eines jungen Mannes, eine immer mehr ins Unwirkliche abdriftende Entwicklung mit einem katastrophalen Ende. Am 12. November 2017 ist die Premiere, Johannes Erath inszeniert und Kazushi Ȯno dirigiert; Björn Bürger singt die Hauptpartie des Georg.

„A Wintery Spring“ von Saed Haddad kommt am 22. Februar 2018 erstmals auf die Bühne, laut Intendant Loebe ein „elegisches Werk über falsche Hoffnungen und die Trauer um den Verlust des arabischen Frühlings“. Der Komponist wurde in Jordanien geboren, seine Werke werden international gespielt. Den zweiten Teil des Abends im Bockenheimer Depot bildet die szenische Erstaufführung von Jan Dismas Zelenkas, „Il serpente di bronzo“. Corinna Tetzel inszeniert, das Ensemble Modern spielt unter Franck Ollo. Mit Manfred Trojahns „Enrico“ setzt die Oper Frankfurt ihre Befragung von Opern fort, die vor längerer Zeit uraufgeführt wurden. Die „Dramatische Komödie“ entstand für die Schwetzinger Festspiele 1991.

Meyerbeer-Erkundung

Mit „L‘ Africaine“ reiht sich nun auch Frankfurt bei den Häusern ein, die Giacomo Meyerbeers große Opern nach Jahrzehnten der Vernachlässigung auf ihre aktuelle Relevanz prüfen. Tobias Kratzer, der bereits „Le Prophète“ in Karlsruhe und „Les Huguenots“ in Nürnberg inszeniert hat, stellt Meyerbeers letztes, unvollendet gebliebenes Werk mit einem – so Loebe – „für Frankfurt völlig neuem Ansatz“ vor. Premiere ist am 25. Februar 2018.

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Werner Häußner

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. (Foto: Werner Häußner)

Die weiteren Neuproduktionen: Mit „Rinaldo“ wird die Serie der Händel-Opern in Frankfurt weitergeführt (16. September 2017), Benjamin Brittens meistgespielte Oper „Peter Grimes“ kommt nach zehn Jahren in einer Regie von Keith Warner wieder (8. Oktober), Brigitte Fassbaender fügt der Befassung mit Richard Strauss mit „Capriccio“, dirigiert von Sebastian Weigle, ein weiteres Juwel bei (14. Januar 2018). Leoš Janačeks letztes Werk, „Aus einem Totenhaus“ hat in einer Regie von David Hermann am 1. April 2018 Premiere. Und endlich kehrt ab 13. Mai 2018 auch die Operette auf die Frankfurter Bühne zurück – mit Franz Lehárs „Die lustige Witwe“, ein Lieblingsstück all jener, die das reiche Repertoire in dieser Gattung inzwischen weitgehend vergessen haben. Claus Guth inszeniert, die aufstrebende Erfurter Chefdirigentin Joana Mallwitz dirigiert.

Unter den Wiederaufnahmen beansprucht Samuel Barbers „Vanessa“ überregionale Aufmerksamkeit, auch Richard Jones‘ bild- und sinnstarke Inszenierung von Britten „Billy Budd“ kommt ab 19. Mai 2018 für fünf Vorstellungen wieder. Und Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ stellt ab 3. Mai 2018 erneut die brennende Frage nach Schuld und Verantwortung – in Anselm Webers großartiger Bühnen-Umsetzung, die ab 24. Juni, an die Semperoper Dresden ausgeliehen, dort auch ein Ausrufezeichen gegen rechte Umtriebe setzen soll. Trotz eines Spielplans, der Seltenes, Unbekanntes und Zeitgenössisches enthält, kommt die Frankfurter Oper auf eine Auslastung von 88 Prozent – ein Beleg dafür, dass Bernd Loebes Konzept aufgeht und sich das Frankfurter Publikum auf neue Erfahrungen einlässt.

Info: http://www.oper-frankfurt.de/de/premieren/




Ein neuer Opernchef, der nicht Regie führt – Heribert Germeshausen wird 2018 Intendant in Dortmund

Heribert Germeshausen tritt sein Amt als Intendant der Oper Dortmund mit der Saison 2018/19 an. (Foto: Annemone Taake)

Heribert Germeshausen redet schnell. Er wirkt freundlich, energisch, als ein Mensch voller Tatendrang, versehen mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein. Gleichzeitig strahlt der 46Jährige eine nahezu jungenhafte Neugier aus. Wie einer, der sich mit Lust großen Herausforderungen stellt. Dazu hat er jetzt alle Gelegenheit: Germeshausen wird ab der Spielzeit 2018/19 neuer Intendant der Dortmunder Oper. Er erhält, so hat es der Rat der Stadt beschlossen, zunächst einen Fünfjahresvertrag und löst damit Jens-Daniel Herzog ab, der nach Nürnberg wechselt.

Germeshausen also ist bei seinem ersten öffentlichen Auftritt, flankiert von Oberbürgermeister Ullrich Sierau und Kulturdezernent Jörg Stüdemann, kaum zu bremsen. Die neuen Impulse, mit denen er das Musiktheater weiter nach vorn bringen will, seien einerseits struktureller, zum anderen inhaltlicher Art, führt er aus. Dabei sei ihm die Größe des Hauses (mit mehr als 1100 Plätzen) durchaus bewusst. Soll wohl heißen, es bedarf mancher Kraftanstrengung, diesen Raum regelmäßig zu füllen.

Derzeit ist Germeshausen noch Operndirektor in Heidelberg, in einem feinen, aber weit kleineren Theater. Doch es gebe auch Parallelen: Beide Städte hätten in ihrem Umfeld nicht wenig Konkurrenz. Und deshalb gelte es, demnächst also in Dortmund, einen möglichst unverwechselbaren Spielplan zu gestalten.

Darüberhinaus will der neue Mann das Haus noch stärker in der Stadtgesellschaft verwurzeln. „Viele Menschen haben keinen natürlichen Zugang zur Oper“, sagt Germeshausen. Es ist einer von wenigen Standardsätzen, die er bemüht. Allerdings verbindet er diese Erkenntnis mit dem gewiss ehrgeizigen Ziel, ein Publikum anzulocken, das die vielfältige Struktur der Bevölkerung widerspiegelt. Dabei sollen auch neue partizipative Projekte helfen – durch Teilhabe zu mehr Genuss, mag dies übersetzt heißen. Oder doch nur das etwas abgedroschene Oper für alle?

Germeshausen, 1971 in Bad Kreuznach geboren, studierte Jura und Betriebswirtschaft, begann seine Laufbahn als Dramaturg am Theater Koblenz. Später wechselte er in gleicher Funktion nach Bonn; als Opernchef wirkte er in Dessau und zuletzt eben in Heidelberg. Das Dortmunder Haus, so erzählt er, habe er oft besucht, als Christine Mielitz dort noch Intendantin war. Damals allerdings war die Oper, mit Blick auf die Auslastungszahlen, nicht in bester Verfassung. Nun aber will der neue Intendant auf die Konsolidierungsarbeit von Jens-Daniel Herzog weiter aufbauen.

Blick auf das Dortmunder Opernhaus. Foto: Theater Dortmund

Inhaltlich lässt sich Germeshausen wenig in die Karten schauen. Er strebt, wie bisher, acht neue Produktionen pro Saison an, ohne die populären Gattungen Operette und Musical zu vernachlässigen. Die Kooperation der Jungen Oper mit der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg und der Oper Bonn wird fortgesetzt. Insgesamt will Germeshausen seinen Spielplan individuell auf das Dortmunder Haus zuschneiden, mit einem „sehr speziellen Zyklus“, wie er kryptisch hinzufügt. In Heidelberg hat er sich vor allem mit kaum gespielten Barockopern einen Namen gemacht, dieses Projekt sei aber nicht auf das Musiktheater in der Westfalenmetropole übertragbar.

Fest steht, dass der neue Opernchef nicht selbst inszeniert. Und er versichert, die Dortmunder Wagner-Tradition fortzuführen. Zuletzt erklangen „Der fliegende Holländer“, „Tristan und Isolde“ sowie „Tannhäuser“. Will Heribert Germeshausen vielleicht gar einen neuen „Ring“ herausbringen? Wir sind gespannt.

 

 




Verdorrter Wald, zutiefst gespaltene Welt: Carl Maria von Webers „Freischütz“ am Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und - im Hintegrund - Gregor Dalal als Kaspar in Webers "Freischütz" am Theater in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und – im Hintergrund – Gregor Dalal als Kaspar in Webers „Freischütz“. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Rotgraue narb‘ge Wurzeln strecken nach uns die Riesenfaust: Ein gewaltiger Baum beherrscht die Bühne des Theaters Münster. Er ist entwurzelt, hat im Fallen eine Bresche in einer Mauer geschlagen und zerteilt die Einheit des Raumes. Neblige Dunkelheit, der Schatten eines stattlichen Sechzehnenders taucht auf. Lautlos röhrt der Hirsch zur Ouvertüre.

Die Bühne von Christophe Ouvrard für Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ nimmt von Anfang an für sich ein. Die unheimlich ragenden Wurzeln des Baumriesen, das harte Licht von oben und hinten, das die Konturen gespenstisch belebt, der unfassbar tiefe, in Nichts mündende Raum. Ouvrard arbeitet mit szenischen Mitteln, die zum Naturalismus taugen könnten, aber sofort assoziativ gebrochen, mit symbolischer und metaphorischer Brisanz geladen werden: Natürlich erinnert der Baum an den deutschen Wald, der in Webers „Freischütz“ eine so große Rolle spielen soll. Aber er ist – vielleicht von einem Sturm des „wilden Heeres“ – gefällt und tot. Nur einmal sprießen aus der Baumleiche ein paar frische Zweige, grüne Blätter: O lass‘ Hoffnung …

Dieser verdorrte Wald ist schon lange kein Hort naturschwärmerischer Romantik mehr. Er ist der Ort des Unheimlichen, das die frühere Einheit der Welt zerschlagen hat. Auf der Drehbühne wird das sichtbar: Der Stamm teilt sie in zwei Hälften. In der einen steht die Welt in der Wolfsschlucht-Szene im wahrsten Sinn des Wortes Kopf: Agathes Jagdschlösschen, selbst kein anheimelnder Ort, sondern eine zerstörte Stätte mit letzten Resten von Wohnlichkeit, hat sich gedreht, das Sofa hängt an der Decke, die Lampenschirme des Leuchters werden zu Töpfen. Aus ihnen nimmt Kaspar die Zutaten des zaubrischen Suds, aus dem die Freikugeln gegossen werden.

Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß

Ouvrard fängt in szenischer Symbolik wesentliche Begriffe der Romantik ein. Die Welt ist zutiefst gespalten. Die eine Seite, die des alltäglichen Lebens, ist beschädigt, gestört, von Kräften „höh’rer Macht“ beeinflusst, denen sich die armen Menschen mit Regeln und Ritualen oder – wie Ännchen mit seinem Kettenhund Nero – mit beschwichtigendem Humor zu entziehen suchen. Die sich der „anderen Seite“ bewusst sind, wie Kaspar, versuchen, diese unfassbaren Kräfte zu nutzen, für sich zu bändigen – aber wir wissen, das gelingt nicht: Die siebente Kugel gehört immer dem Bösen, der sie nach seinem Willen lenkt. Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß.

Streng, alt, gespenstergleich: Die Brautjungfern im "Freischütz" in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Streng, alt, gespenstergleich: die Brautjungfern. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Wer den Baumstamm besteigt, mag von oben eine verbindenden Sicht der romantisch zwiespältigen Welt gewinnen. Agathe versucht es, aber es gelingt ihr nicht. Nur der Eremit, der von oben seine weisen Worte strömen lässt, ist eine integrierende Figur: Er und Samiel sind eins, das „Höh’re“ spricht aus ihm, gleich ob Gut oder Böse. In seinem schmutzigweißen Mantel, den kahlen Kopf noch vernarbt vom Teufelsgeweih Samiels, verkörpert er, was den Menschen als Antagonismus, aus der Perspektive einer jenseitigen Welt aber nur als unterschiedliche Aspekte einer Existenz erscheinen mag. Gut und Böse, nicht nur als moralische, sondern auch als prinzipielle Kategorien, heben sich auf – in diesem postmodernen Ansatz ist die Münsteraner Inszenierung von Webers Oper auf der Höhe der Zeit.

Die Regie von Carlos Wagner allerdings erreicht die konzeptuelle Dichte des Buhnenbilds nicht. Sicher: Er will uns klar machen, wie Max am Unerklärlichen scheitert, wie ihn in einer Gesellschaft klarer Vorgaben und eindeutiger Zusammenhänge die Logik des Handelns und seiner Folgen abhandenkommt, wie ihn des Zufalls Hand in die Verzweiflung, sogar zur Frage nach der Existenz Gottes führt.

Wenn der Chor langsam in seinem derben Tanz erstarrt, die Bewegungen fragmentiert wiederholt, dann bei „Durch die Wälder, durch die Auen …“ Paare bildet und langsam hinaustanzt, ist das ein Aufmerksamkeit weckender szenischer Vorgang – aber er wird nicht eingelöst, es resultiert nichts daraus. Wenn zu Beginn ein ausgeweideter Hirsch an den Baumwurzeln aufgehängt wird, denken wir sicher an das „männlich‘ Vergnügen“ der Jagd – aber wenn ein Landmetzger später Schinken und Braten vom Hirsch in die johlende Menge wirft, bringt das die Zuschauer nur zum Lachen.

Lustiges Schießen auf Bierdosen

Agathe ist als Figur spannend angelegt: Sie erscheint im fahlen Mondlicht wie eine Geisterbraut, als sei sie von Heinrich Marschners „Vampyr“ gebissen, aber sie erschöpft sich dann doch in der eher larmoyanten Rolle des schreckhaften „Bräutchens“. Ännchen gibt sich in Jagdhosen und Krawatte sehr männlich, veranstaltet ein lustiges Schießen auf Bierdosen, bleibt aber am Ende als unterhaltsame Opernsoubrette ohne dezidiertes Profil.

Max geriert sich als heillos verunsicherter Jägersjüngling, der in der Wolfsschlucht den Sudel aus Luchs- und Wiedehopfaugen saufen muss und die Freikugeln zuckend in eine Schüssel erbricht – aber die Konturen seines Charakters, sein Zugriff auf das „Andere“ bleiben verschwommen. Kaspar dagegen ist ein saft- und kraftvolles Mannsbild, und Gregor Dalal macht mit seinen darstellerischen Mitteln und seinem unmittelbar wirksamen Sprechen aus ihm eine lebensvolle Persönlichkeit. Carlos Wagners Regie traut dem Stück, aber sich selbst offenbar zu wenig zu: Das Ganze schließt zu offen.

Offene Wünsche auch auf der musikalischen Seite: Stefan Veselka schlägt mit dem Sinfonieorchester Münster ein gemessenes Tempo an, was der Entwicklung der melodischen Thematik und der Ausformung des Klangs zugutekommt. Die Hörner sind lobenswert, die Klarinette hat – mit einem eher hell-fragilen Ton – schöne solistische Momente. Im Lauf des Abends arbeitet Veselka immer wieder harmonische Tiefenstrukturen aus, bringt manche Holzbläserstimme zum Leuchten. Aber der Klang des Orchesters bleibt oft pauschal, der Aufbau innerer Spannung allzu diskret. Entschiedene Akzente, packender Zugriff könnten der Musik auf die Beine helfen.

Innige Agathe, leuchtend singender Max

Münster hat mit Mirko Roschkowski einen seine Partie anstandslos bewältigenden Max: Ohne Forcieren, ohne Gewalt lässt er seinen Tenor leuchten, steigert den Verzweiflungston in der Arie, bringt für die Wolfsschlucht den panischen Unterton in der Deklamation mit. Sara Rossi Daldoss ist eine sehr innig singende Agathe, bei der man manchmal Sorge um die Stütze und den klanglichen Kern der Stimme hat. Ihre zweite Arie nimmt sie weniger vom Legato her, bildet die Töne separiert, um sie mit verschiedenen Farben zu gestalten. Auch wenn so der große Bogen sehr fragil gespannt wird: Der Ausdruck überzeugt. Eva Bauchmüller als Ännchen gewinnt nach manch leichtgewichtigem Ton an Format, singt nach der Pause mit tadelloser Diktion und einem feinen, aber substanzreichem Klang.

Plamen Hidjov ist als Kuno von Statur und Stimme ein würdiger älterer Herr; Sebastian Campione spricht als Samiel die – ansonsten bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichenen – Dialoge ohne „teuflische“ Plattitüde. Als Eremit ist er weniger ein balsamisch strömender als ein schneidend präsenter Bass. Der Opernchor und Extrachor des Theaters Münster – Inna Batyuk hat ihn einstudiert – glänzt in der Eröffnung, fällt aber ausgerechnet im Jägerchor auseinander, weil die Sänger über die ganze Breite verteilt auf der Drehbühne marschieren müssen. Auch das ein Bild, das keinen Bedeutungs-Zusammenhang konstituiert – ebenso wie der finale Moment, als Kaspars Leiche in Brand gesetzt wird und als flackerndes Feuer auf dunkler Bühne die Oper abschließt.

Vorstellungen: 7. und 28. April, 3. und 30. Mai, 20. und 25. Juni, 1. und 13. Juli. Karten: (0251) 59 09-100. www.theater-muenster.com




Innere Katastrophe, nach außen gekehrt: Duisburger „Madama Butterfly“ in den Ruinen von Nagasaki

Innere und äußere Katastrophe: Liana Aleksanyan in Juan Anton Rechis Inszenierung von Giacomo Puccinis "Madama Butterfly" an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Innere und äußere Katastrophe: Liana Aleksanyan in Juan Anton Rechis Inszenierung von Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. (Foto: Hans Jörg Michel)

Da mag die Melodie Puccinis noch so schwärmen, da mögen die Harmonien noch so schmeicheln: Das Duett im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ ist falsch, von Anfang an. Es stimmt höchstens für einen der Wirklichkeit enthobenen Augenblick.

Denn die verfließende Zeit sagt etwas anderes: Sie lässt offenbar werden, wie fundamental unterschiedlich die beiden Menschen denken und fühlen: Für Benjamin Franklin Pinkerton ist diese Liebesnacht mit der japanischen Bimba und ihren melancholischen Augen ein vorübergehendes, exotisch-erotisches Abenteuer mit einer geheimnisvoll fremden Kindfrau. Für Cio-Cio San dagegen ist die Nacht die Folge einer Lebensentscheidung: Sie ist jetzt für alle Zeit Ehefrau des Amerikaners, dessen Religion sie annimmt und sich damit in ihren existenziellen Tiefenschichten mit ihm verbindet.

Die Katastrophe ist vorhersehbar – und sie tritt in der Neuinszenierung von „Madama Butterfly“ an der Deutschen Oper am Rhein nicht als stilles, schmerzvolles, allmähliches Zerbrechen ins Leben des „kleinen Fräulein Schmetterling“, sondern als erdbebenhafter Aufruhr. Das verlassene Mädchen sitzt im Ehebett, als ein Flugzeug dröhnt, eine Detonation die Bühne erschüttert. Die Erinnerung an die Bombe von Nagasaki – dort spielt die Oper ja auch – drängt sich auf.

Eine Welt in Trümmern: Szene aus dem Finale von "Madama Butterfly" in Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Eine Welt in Trümmern: Szene aus dem Finale von „Madama Butterfly“ in Duisburg. (Foto: Hans Jörg Michel)

Wenn der Vorhang zum zweiten Akt sich öffnet, ist nichts mehr wie vorher. Die Welt liegt auf Alfons Flores‘ Bühne in Trümmern. „Madama B.F. Pinkerton“ hat sich ein Zelt aus der angesengten amerikanischen Flagge gebaut. Ein krude gezimmerter Hochstand dient als Ausguck, symbolisiert Warten und Sehnsucht. Eine Endzeitstimmung, die das Innere der Cio-Cio-San nach außen kehrt. Individuelles und Allgemeines durchdringen sich: Die japanische Tragödie wird weitergedacht, über die existenzielle Katastrophe eines einzelnen Menschen hinaus. Der Clash hat, was ja historisch entsetzliche Wirklichkeit geworden ist, umfassende Konsequenzen.

Bildgewaltige Tragödie einer Lebenswelt

Regisseur Juan Anton Rechi hat in Duisburg Puccinis lange ans Sentiment verratene Oper in beinahe wagnerischem Ausmaß zur Tragödie einer ganzen Lebenswelt erweitert, ohne ihren individuellen Kern zu entwerten. Rechi hat damit eine Arbeit geschaffen, die dem Rang der Deutschen Oper am Rhein endlich wieder einmal adäquat ist. Bildgewaltiges Theater, aber kein Bildertheater; ein bewegendes Schicksal, aber in einen umfassenden Horizont gestellt; gegenwärtige Brisanz, ohne ins Allgemein-Zeitlose zu driften oder das Stück für eine Idee zurechtzubiegen wie vor Jahren Calixto Bieito in seiner Green-Card-Butterfly an der Komischen Oper Berlin.

Rechi inszeniert seine Personen bewundernswert genau: Da ist der unbekümmerte Leutnant, für den das einzige „forever“ das Bekenntnis zu Amerika ist. Seine Begegnung mit der fremden Welt Japans – in Person Suzukis, später in der verlegenen Begrüßung der Familie Cio-Cio-Sans – zeigt ihn hilflos überfordert und gleichzeitig desinteressiert. Die Warnungen des Konsuls, dem Schmetterling nicht die zarten Flügel zu brechen und ein gutgläubiges Herz zu verwüsten, werden mit Whisky überspült. Der Offizier betritt die japanische Welt nie wirklich: Das „Liebesnest“ lässt er sich von Goro – messerscharf charakterisiert von Florian Simson – nur als Modell zeigen; die romantische Nacht findet in der repräsentativ-wuchtigen Säulenhalle des amerikanischen Konsulats statt.

Eduardo Aladrén zeigt in der leicht hingeworfenen Konversation mit dem Diplomaten Sharpless durchaus tenorale Tugenden: Er gewichtet die Worte, er nimmt den Ton zurück, sein angenehmes Timbre und die Eleganz der Formulierung machen den jungen, sympathischen Leichtfuß glaubwürdig. Aber bald fährt sich sein Tenor fest und er singt im Stil eines kruden Verismo, mit athletischen Höhen und furios-unflexibler Tongebung. „Addio fiorito asil“ gestaltet er, ganz im Sinne der Regie, als sentimentale Reminiszenz.

Prägnante Personenstudien und profunde Sänger

Auch Stefan Heidemann lässt sich von innen heraus auf das Konzept ein: Er gibt Sharpless ebenso noble wie hilflose Züge, ein Mann voll Verständnis für die fremde Kultur, aber auch unfähig, sich gegen die zupackende Gedankenlosigkeit Pinkertons durchzusetzen. Ein Mann ohne Schärfe, fürwahr, nicht aber ohne Format. Maria Kataeva singt mit metallisch schimmerndem, differenziert gebildetem Stimmklang eine sorgfältig artikulierende Suzuki, deren unauffällige Präsenz im Hintergrund ebenso viel szenisches Gewicht hat wie ihre pointierten Auftritte. Profiliert gestaltet Bruce Rankin den unermüdlich werbenden Fürsten Yamadori – ein Mann beständiger und ernsthafter Gefühle in einer knapp gehaltenen, aber wichtigen Szene im Zentrum des Stücks.

Maria Boiko macht aus dem undankbaren Kurzauftritt der Kate Pinkerton eine prägnante Studie: Sie stellt sich gemeinsam mit dem Konsul der Verantwortung, vor der Pinkerton flieht, glaubt aber, mit einer Perlenkette als Geschenk Butterflys Verzweiflung lindern zu können. Die Farbe ihres Kleides, ein samtenes Rot, wird durch Blau und Weiß ergänzt – in diesen Farben der amerikanischen Flagge schickt Butterfly auch ihr Kind in eine ungewisse Zukunft. Mercè Palomas Kostüme meiden den modischen Bühnen-Trash, sind liebevoll gestaltet und zeigen die japanische Gesellschaft als angepasst – selbst der stimmgewaltige Vertreter der Tradition, der Onkel Bonze (Lukasz Konieczny) trägt einen westlichen Anzug.

Nur Madama Butterfly hält an der traditionellen Kleidung fest. Das verwundert etwas, denn gerade sie reißt am radikalsten ihre japanischen Wurzeln aus. Mag sein, dass Rechi im Kostüm ein Symbol ihrer inneren Konstanz sieht – aber so ganz schlüssig vermittelt sich die Idee dahinter nicht. Mit Liana Aleksanyan hat die Rheinoper eine Sängerin, die den vokalen Facetten der Partie mit profunder Technik gerecht wird. Die Sängerin hat zwischen 2011 und 2013 viele Partien am Aalto-Theater gesungen und erst zu Jahresbeginn die „Butterfly“ an der Scala gegeben.

Sie ist keine leichte Stimme wie einst etwa Toti dal Monte und ihre Kolleginnen, die das Mädchenhafte der Figur betont haben: Aleksanyan nimmt die intensiv erfüllten Linien und Bögen, die klangvollen Legati, die auftrumpfenden dramatischen Momente aus dem Geist des Verismo, verrät sie aber nicht an vordergründig gestisches Singen, sondern kleidet sie in einen ausgeglichenen, strömenden Fluss des Klangs. Dafür bringt sie ein passendes Timbre und eine prachtvoll beherrschte Stütze mit, dramatische Entschiedenheit und Süße im Mezzoforte – und vor allem den Gestaltungswillen, der jede vokale Geste in den Dienst einer Aussage stellt.

Kein Schwelgen in den Melodiebögen

Auf diese Weise geistig durchdringen will auch der Dirigent Aziz Shokhakimov die Musik Puccinis. Schwelgen ist nicht angesagt – im Gegenteil: Der junge usbekische Kapellmeister, Preisträger des Bamberger Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbs, behandelt die Klangbögen Puccinis recht peripher. Das ist die einzige Schwäche in einem ansonsten fabelhaft überzeugenden Dirigat. Denn in Zusammenarbeit mit den bestens disponierten Duisburger Philharmonikern legt Shokhakimov frei, wie modern Puccini komponiert hat: Die scharfen Staccati des Beginns, die polyphonen Verwebungen der Eingangsszene nimmt er entschieden konturiert. In der Chorszene vor dem ersten Auftritt Butterflys – szenisch in ein zauberhaftes Schattenbild mit der dominierenden amerikanischen Flagge gefasst – beleuchtet er die impressionistische Klangerfindung Puccinis.

Der Szene zwischen Pinkerton und Sharpless entzieht er jegliche Wärme. Der Rhythmus gewinnt konstitutive Bedeutung, die Neben- und Mittelstimmen verdeutlichen, wie komplex Puccini harmonisch in die Tiefe denken konnte. Dabei lässt Shokhakimov die Poesie der Musik nicht zu kurz kommen – erwähnt sei nur die lange Entwicklung in der Nacht des Wartens auf den zurückgekehrten Pinkerton, in der sich Christoph Kurigs Chor – wie schon im ersten Akt – vorzüglich bewährt. Diese „Butterfly“ hat alles, um ein Schmuckstück im Repertoire der Deutschen Oper am Rhein zu werden.

Vorstellungen in Duisburg am 6. und 26. Mai und am 3. Juni.
Karten Tel.: (0203) 283 62 100. www.operamrhein.de




Zwischen Abstraktion und „Was wäre wenn“: Gelsenkirchen stemmt „Tristan und Isolde“ mehr als achtbar

Liebeserkenntnis vor Schiffssegel: Szene aus dem 1. Akt „Tristan und Isolde“. (Foto: Karl Forster)

Bei „Tristan und Isolde“ sitzen wir in der ersten Reihe. Das ist mal eine ganz neue Erfahrung. Weil die Dynamik der Musik, sei es in Form des Orchesterklangs oder der sängerischen Gestaltungskraft, sich doch sehr unmittelbar entfaltet. Und weil der Blick für mimische Details, für Facetten der Bühnengestaltung, ein schärferer ist. So entpuppt sich der Platz hier, im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR), als keineswegs schlechtes Zugeständnis. Fast wähnen wir uns inmitten des Geschehens – still beobachtend, vor allem aber gepackt von der Sogkraft des oft ungezähmten wagnerschen Sehnsuchtstons.

Im Vorspiel entwickelt sich das langsam; unaufgelöste Dissonanzen, schwebende Harmonien gehen erst nach und nach in melodischen Fluss über. Schon hier stellt sich die Frage nach der Intensität, und für die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann gilt, dass sie sich etwas gemächlich einschwingt, das Farbspiel der Streicher dabei genussvoll auffächert, um schließlich zu hoher Expressivität zu gelangen.

Später dann, wenn sich dieses Drama der Liebe, des Verrats und der Todessehnsucht verdichtet, wenn die Musik in Ekstase gerät, gibt sich das Orchester diesem Taumel nahezu hemmungslos hin. Im 3. Akt hingegen, wo zunächst die dunkel-schroffen, ja schrundigen Töne herrschen, Ödnis und Leere illustrierend, bleibt die hypnotische Wirkung eher aus, wenn auch die Hirtenklage des Englisch Horns die Szenerie wirkmächtig unterstreicht.

Dennoch: Mitgerissen werden wir allemal. Am stärksten sogar vom Orchesterklang, aber auch von den Solisten. Hier darf das MiR durchaus stolz sein. Mit Torsten Kerl, ein Gelsenkirchener Junge, und der Britin Catherine Foster als Tristan und Isolde wurden international erfolgreiche Solisten verpflichtet, die nicht zuletzt in Bayreuth reüssieren. Beide singen bewegend, überwiegend klar in der Diktion, geschickt haushaltend mit ihren Kräften über die drei Akte hinweg, ohne Scheu, sich zu entäußern, aber auch in lyrisch zartem Ton. Kerl gestaltet mit seinem tief timbrierten Tenor die Mezzopianopartien allerdings ein wenig brüchig, unbestechlich dagegen die leidenschaftlichen Höhen seiner metallglänzenden Stimme. Lust und Schmerz, Eros und Thanatos liegen da ganz eng beieinander, gleißend hell sind bisweilen seine Fiebertöne im 3. Akt.

Selbstbefragung eines liebenden Paares im Spiegel. Torsten Kerl und Catherine Foster im 2. „Tristan“-Akt. (Foto: Karl Forster)

Foster wiederum wirkt insgesamt kontrollierter, in der tiefen Lage muss sie sich erst freisingen, sonst aber leuchtet diese Isolden-Stimme in schönstem Glanz. Nur am Ende, im berühmten Liebestod, bleibt sie uns manches an Transzendenz schuldig. Ja, wir sind geneigt zu sagen „Plötzlich geht alles ganz schnell“. Was wohl daher kommt, dass anderes ungemein statisch wirkt. Dies aber führt uns auf die Spur der Inszenierung, die MiR-Intendant Michael Schulz verantwortet. Sie ist offenbar geprägt von der Idee, dass Wagners Etikett „Handlung mit Musik“ nicht wirklich zutrifft. Weil das Changieren und Reflektieren seelischer Befindlichkeiten den dürren Fortgang des Geschehens bei weitem überstrahlt.

Zum anderen aber scheint sich die Regie der Überlegung „Was wären wenn…“ hinzugeben: Tristan und Isolde als rechtmäßiges Paar. Beide Ansätze haben Konsequenzen für die Bühnengestaltung und Personenführung – letzthin stehen diese Sichtweisen sich im Weg. Und sollen doch im Liebestod verschmelzen – Isolde, im weißen Gewand wie eine würdevolle Priesterin, Isolde aber auch, eine Frau, die verzweifelt und fast appellativ ihr „…wie er lächelt…Freunde…seht ihr es nicht?“ an uns richtet. Diesem Ende wohnt kein Zauber inne.

Wie auch die groß angelegte Liebesnacht-Szene des 2. Aktes ihre Wunderkraft verliert, weil eben hier der Regisseur das „Was wäre wenn…“ optisch ausreizt, indem er Tristan und Isolde in ein Haus schickt, dessen Zimmer sich labyrinthisch verzweigen. Kathrin-Susann Brose hat das Gebäude auf die Drehbühne gestellt – nicht der unendliche Raum einer Liebe bis zum Tod wird vermessen, sondern das Paar begegnet sich selbst als real Liebende. Und nebenan spielen die Kinderlein mit Plüschtieren.

Isolde als Fantasiebild des tödlich verwundeten Tristan. Szene aus dem 3. Akt. (Foto: Karl Forster)

Solcherart Umdeutung ist gewagt und wirkt auch nicht zwingend. Doch Schulz und seine Ausstatterin bevorzugen offenbar das (groß)-bürgerliche Milieu, davon zeugt auch der Raum im Schiffsbau des 1. Aktes mit seinen Kolonialstil-Intarsien, sehr detailverliebt eingerichtet.

Erst am Schluss, wenn der totverwundete Tristan auf einem riesigen, kunstvoll drapierten Stoff dahinsiecht, ist, als krasser Gegensatz, die totale Abstraktion erreicht. Folgerichtig gerinnt der Kampf zwischen Tristans Getreuen und dem Gefolge des betrogenen Königs Marke zu einem stilisierten Schattenspiel. Es ist im Grunde die stärkste Szene dieser Inszenierung.

Nicht zuletzt sei gesagt, dass neben Torsten Kerl und Catherine Foster das hauseigene Ensemble nebst Chor oft zu beeindrucken versteht. Almuth Herbst (Brangäne) als sanft sich sorgende Vertraute der Isolde, die in lyrischer Emphase sehr ausgeglichen singt, ist eine Entdeckung für die Rolle. Urban Malmberg (Kurwenal) aber gestaltet die Partie bisweilen gewollt kraftvoll, nicht ohne raue Untertöne. Und Phillip Ens’ König Marke hat oft Probleme mit der Fokussierung.

„Nehmt alles nur in allem“: Das MiR hat sich einer großen Herausforderung, das sind Wagneropern immer, mehr als achtbar gestellt. Die Karten für diesen „Tristan“ sind äußerst gefragt, für manche Vorstellung gibt’s nur noch freie Plätze unterm Dach.

Das Gelsenkirchener Haus ist in der Stadtgesellschaft und in der Politik wunderbar verankert, nicht zuletzt dank der interessanten Repertoireauswahl des Intendanten Michael Schulz. Wo sonst sitzt der Oberbürgermeister, wie hier Frank Baranowski, in jeder Premiere des Theaters? Es muss auch gar nicht die erste Reihe sein.

Infos: https://musiktheater-im-revier.de/Start/#!/de/




Das Fundament zur Musik: Dortmunder Festival „Klangvokal“ präsentiert die Vielfalt des Singens

Bild: Festival Klangvokal Dortmund

Titelmotiv des Programmbuchs (Bild: Festival Klangvokal Dortmund)

Georg Philipp Telemann, vor 250 Jahren in Hamburg verstorben, prägte einen berühmten Satz. Singen, so schreibt er in einem Brief an Johann Mattheson, sei „das Fundament zur Musik in allen Dingen“. Komponisten wie Instrumentalisten sollten des Singens kundig sein. „Also präge man das Singen jungen Leuten fleißig ein“.

So gesehen, müsste Dortmund eine der musikalischsten Städte in Deutschland sein, denn hier wird eifrig gesungen: Rund 300 Chöre und Vokalensembles soll es in der Stadt und ihrem Umfeld geben – und 130 von ihnen lassen zum neunten Mal beim „Fest der Chöre“ zwischen St. Reinoldi und St. Petri lebendig erleben, welche Vielfalt des gemeinsamen Singens möglich ist: vom diffizilen Chorsatz bis zum kraftvollen Volkslied, vom Gospel bis zum Shanty, von liturgischem Gesang bis zum Popsong. Am Samstag (17. Juni) also wird es in der Dortmunder Innenstadt an allen Ecken und Enden klingen, beginnend mit dem gemeinsamen Singen um 12 Uhr auf dem Alten Markt, ein Ereignis, das in den vergangenen Jahren stets Tausende von Besuchern angezogen hat.

Weit über die Grenzen hinaus

Das Chorfest ist Teil des ehrgeizigen Festivals „Klangvokal“, das seit 2009 immer wieder für künstlerische Höhepunkte gesorgt hat – man denke allein an die Deutsche Erstaufführung der Urfassung von Giacomo Puccinis früher Oper „Edgar“ oder an Franz Schmidts monumentales Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ im letzten Jahr. Das Musikfest hat aber auch den Blick geweitet über Grenzen der Gattungen, der Länder und der Kontinente hinaus: Wie singen die Menschen in Aserbeidschan oder in Zypern?

In diesem Jahr steht von 28. Mai bis 25. Juni in 20 Veranstaltungen so etwas wie eine Selbstvergewisserung an: Wie klingt eigentlich die „Heimat Europa“? Wie verändert sich Vokalmusik im Lauf der Jahrhunderte? Was nimmt sie an Einflüssen in sich auf? Wie sieht die Zukunft des Singens aus zwischen technisch perfektem, ausziseliertem Belcanto und vulgär deklamiertem Rap?

Enorm hoher Anspruch

Festival-Direktor Torsten Mosgraber hängt den Anspruch hoch: „Mit dem Thema ‚Heimat Europa‘ begleitet das Klangvokal Musikfestival Dortmund den aktuellen Diskurs um die Zukunft auf unserem Kontinent und belebt ihn mit vokalmusikalischen Kostbarkeiten vom 14. Jahrhundert bis heute.“ Wenn das nicht nur wohlfeiler Marketing-Sprech bleiben soll, hat sich das Festival-Team einiges vorgenommen.

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. Foto: Derek Blanks

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. (Foto: Derek Blanks)

Das Programm, wenn man es so lesen will, behauptet zunächst den klassischen Belcanto als Ausgangspunkt des Singens: Bei der Eröffnung am Sonntag (28. Mai) wird mit Gioacchino Rossini einer der Komponisten zu Klang gebracht, der noch die verfeinerte Kunst des Singens aus dem 18. Jahrhundert geschätzt und ins nächste Jahrhundert gerettet hat, gleichzeitig aber mit einer neuen Epoche unmittelbarerer Emotionalität und mit veränderten technischen Möglichkeiten konfrontiert war. Seine Oper „Le Comte Ory“ steht als ironisch blitzendes Juwel am Ende der Ära des Ziergesangs. Mit Lawrence Brownlee – flankiert von Sängerinnen wie Jessica Pratt oder Stella Grigorian, die in der Vokalkunst einen Namen haben – erwartet ein Virtuose des kunstreichen Rossini-Gesangs im Dortmunder Konzerthaus sein Publikum.

Der Opernkunst huldigen

Die Oper mag man als Mekka des Gesangs ansehen, und ihrer heiligen Kunst wird reichlich gehuldigt: Antonio Vivaldis Pasticcio „Il Tamerlano“ – auch bekannt als „Bajazet“ – kommt am 2. Juni zur Aufführung, Henry Purcells „King Arthur“ am 24. Juni. Mit Georg Friedrich Händels „Acis und Galathea“ kehren am 10. Juni das mit hervorragenden Sängern und Instrumentalisten besetzte Collegium Marianum und die Puppenspieler von „Buchty a loutky“ aus Prag nach Dortmund zurück, um Händels „Masque“ zu spielen.

Mit Edward Elgars „The Dream of Gerontius“ steht am Pfingstmontag (5. Juni) in der Reinoldikirche ein Hauptwerk des englischen Chorgesangs auf dem Programm. Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker realisieren unter Leitung von Granville Walker Elgars klangüppige Vertonung eines Poems von Kardinal John Henry Newman. Ein – immerhin gläubiger – „Jedermann“ steht vor dem Sterben und beschreitet nach seinem Tod einen Weg jenseits von Raum und Zeit, der ihn durch die klanglichen Welten von Engeln und Dämonen vor das Gericht Gottes und mit der Verheißung der Erlösung ins Purgatorium führt, die jenseitige Reinigungsstätte, die in der katholischen Tradition als Fegefeuer bezeichnet wird. Das Werk hat übrigens nach einer desaströsen Uraufführung unter Hans Richter in Birmingham seinen Siegeszug mit zwei Aufführungen in Düsseldorf 1901 und 1902 angetreten. Heute gilt es vielen als Hauptwerk von Elgars vokalem Schaffen.

Chormusik durch die Jahrhunderte

Chormusik vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart ist bei weiteren sechs Konzerten zu hören, etwa am Pfingstsonntag (4. Juni) in der Nicolaikirche mit dem Chor des Lettischen Rundfunks und dem Großen Abend- und Morgenlob op. 37 von Sergej Rachmaninow, einem monumentalen Gipfelwerk der russischen liturgischen Musik. Oder am Freitag, 9. Juni in St. Bonifatius, wo das französische Ensemble Correspondances unter Sébastien Daucé Barockmusik des 17. Jahrhunderts singt. Die Schola Gregoriana Pragensis stellt am Dienstag (13. Juni) in der Marienkirche geistliche Gesänge, aber auch weltliche Chansons der Zeit Kaiser Karls IV. vor. Und an Fronleichnam (15. Juni) verweist Frieder Bernius mit Kammerchor und Barockorchester Stuttgart zwei Kantaten vor, die Johann Sebastian Bach zur Feier des Reformationsfestes geschrieben hat und die in diesem Jahr an den Beginn der konfessionellen Umwälzungen vor 500 Jahren erinnern.

Soul, Blues, Pop: China Moses, Tochter der Jazz-Sängerin Dee Dee Bridgewater, präsentiert ihr neues Programm „Nightintales“ am Donnerstag (1. Juni) im „Domicil“, die international erfolgreiche polnische Sängerin Anna Maria Jopek kommt mit ihrem Quartett am Donnerstag, 22. Juni, ebenfalls in dieses Dortmunder Forum für aktuelle Musikrichtungen.

Das Dortmunder Konzerthaus. (Foto: Häußner)

Auch Bespaßung gehört dazu

Wer’s mag, wird sich am 18. Juni einen Sonntagnachmittag im Konzerthaus gönnen und an den Lippen der zum „Opernvulkan“ stilisierten Simone Kermes hängen, die sich nicht zu schade ist, die Wahnsinnsszene aus Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ in eine Reihe mit Schlagern und Filmsongs zu stellen und sich dabei vom „bekanntesten Protagonisten des deutschen Schlagers“, Roland Kaiser, assistieren zu lassen. Die Neue Philharmonie Westfalen hat die dankbare Aufgabe der Begleitung übernommen, der Mann oder die Frau am Pult ist noch nicht bekannt. Zur Vielfalt des Singens und zur Heimat Europa gehört eben auch die Art musikalischer Bespaßung, die gemeinhin als besonders populär angesehen wird.

Auf einem originelleren Niveau wird sicherlich der Abschlussabend des Festivals Kurzweil verbreiten: Zarzuelas, die spanische Form unterhaltenden Musiktheaters, laden am Sonntag (25. Juni) auf der Seebühne im Westfalenpark die hoffentlich laue Sommernacht mit feurigen Rhythmen und federleichten Melodien auf. Das WDR Funkhausorchester unter Enrico Delamboye entführt mit dem Flamenco-Gitarristen Santiago Lara und den Sängern María Rey-Joly und Ismael Jordi auf die iberische Halbinsel, wo Zarzuelas nach wie vor gerne gespielt und von allen großen einheimischen Gesangsstars hingebungsvoll gesungen werden.

Karten: Tel. 0231 / 50 299 96 – Internet: www.klangvokal-dortmund.de

 




Kulturelles Wechselfieber in Dortmund: Künftiger Opernchef heißt Heribert Germeshausen

Geradezu aufregend rasant ist das Kulturleben in Dortmund, derzeit vor allem in personeller Hinsicht auf den obersten Etagen.

Kommt 2018 als neuer Opernchef nach Dortmund: Heribert Germeshausen. (Foto: Annemone Taake)

Kommt 2018 als neuer Opernchef nach Dortmund: Heribert Germeshausen. (Foto: Annemone Taake)

Kaum war der Wechsel des Konzerthaus-Chefs Benedikt Stampa nach Baden-Baden verkündet (Vollzug zum 1. Juni 2019) und die sofortige Suche nach einer Nachfolge eingeleitet, da präsentierte man auch schon einen neuen Opern-Intendanten: Er heißt Heribert Germeshausen, ist seit 2011/12 Operndirektor am Theater Heidelberg und folgt in Dortmund auf Jens-Daniel Herzog, der zur Spielzeit 2018/19 als Intendant zum Nürnberger Staatstheater wechselt. Die Zustimmung des Dortmunder Stadtrates (Sitzung am 6. April) zur Berufung Germeshausens gilt als Formsache.

Bedenkt man, dass kürzlich auch die beiden wohl wichtigsten Museumsposten der Stadt neu besetzt worden sind (Edwin Jacobs aus Utrecht zum Dortmunder U/Museum Ostwall, Jens Stöcker aus Kaiserslautern ans MKK), so kann man mit Fug und Recht von einem großen Umschwung reden.

Vor seinem Heidelberger Chefposten war der künftige Dortmunder Opern-Intendant Heribert Germeshausen Musiktheaterdramaturg am Theater Koblenz, bei den Salzburger Festspielen und an der Oper Bonn. 2009 wurde er Leitender Musiktheaterdramaturg am Anhaltinischen Theater Dessau. In Heidelberg kamen unter seiner Leitung bislang nicht in Deutschland aufgeführte Werke auf die Bühne, so etwa Alessandro Scarlattis „Marco Attilio Regolo“ oder Nicolò Porporas „Polifemo“.

Verlässt Dortmund 2018 und wechselt nach Nürnberg: Opern-Intendant Jens-Daniel Herzog. (Foto: Philip Lethen)

Verlässt Dortmund 2018 und wechselt nach Nürnberg: Opern-Intendant Jens-Daniel Herzog. (Foto: Philip Lethen)

Bei Kritikerumfragen der Fachzeitschrift „die deutsche bühne“ wurde das Heidelberger Haus mehrfach gewürdigt und 2013 – zusammen mit Freiburg – für „ungewöhnlich überzeugende Theaterarbeit abseits großer Theaterzentren“ ausgezeichnet. Weitere Nominierungen und Ehrungen folgten. Man darf sich von Germeshausen auch in Dortmund einen innovativen Spielplan mit Neu- und Wiederentdeckungen erhoffen.

Heribert Germeshausen kennt sich übrigens nicht nur in künstlerischen, sondern auch in juristischen und finanziellen Fragen aus. Der staunenswert vielseitige Mann studierte Rechtswissenschaften in Passau, Heidelberg und Lausanne sowie BWL an der European Business School in Oestrich-Winkel und Master of Business Administration an der Katz Graduate School of Business in Pittsburgh. Wenn das kein pralles Portfolio ist!

Heribert Germeshausens künftige Wirkungsstätte: das 1966 eröffnete Dortmunder Opernhaus. (Foto von Mitte 2016: Bernd Berke)

Heribert Germeshausens künftige Wirkungsstätte: das 1966 eröffnete Dortmunder Opernhaus. (Foto von Mitte 2016: Bernd Berke)

Die kulturellen Wechselfälle bringen es mit sich, dass auch Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) sich in letzter Zeit öfter mal über die schöngeistigen Sparten äußert. Diesmal hieß es freudig und ganz ins Allgemeine gewendet: „Die Stadt Dortmund ist attraktiv für Kulturschaffende – auch aufgrund der guten Arbeit jener, die hier waren. Es ist ein gutes, professionelles kulturelles Milieu entstanden. Die Menschen kommen gerne zu uns.“ Sein Wort ins Ohr der Musen…




Kein Recht auf Vergessen: Gelsenkirchen überzeugt mit Mieczysław Weinbergs erschütternder Oper „Die Passagierin“

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs "Pasazerka" - zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. Foto: Forster

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs „Pasazerka“ – zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. (Foto: Forster)

Namen. Die Menschen haben Namen. Sie heißen Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz. Und sie erzählen Geschichten, Lebens-, Sehnsuchts-, Erinnerungsgeschichten. Ganz im Gegensatz zu ihren Peinigern. Bei denen sind sie Nummern. Die Menschen, die ihre Fäuste, Schlagstöcke und Pistolen gegen ihre Mitmenschen richten, erzählen nichts. Sie räsonieren nur über ihre Ideologie. Und als die Geschichte in das Leben einer der Uniformierten einbricht (durch eine stumme Begegnung, nur einen Blick), offenbart sich die ganze Erbärmlichkeit ihrer Existenz.

Ja, man könnte Mieczysław Weinbergs „Pasażerka“ („Die Passagierin“) auf eine „KZ-Oper“ eingrenzen. Ein tief berührendes Zeugnis dafür, dass Kunst sich selbst diesem furchtbarsten aller Schreckensorte des Bösen nähern kann. Wie erschütternd die Konfrontation wirkt, war nach der Premiere im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen spürbar: Betroffenheit und Beklemmung lasteten geradezu greifbar im Raum.

Beim Beifall stand auf der Bühne, mitten unter den Künstlerinnen und Künstlern, eine zierliche Frau: die 93-jährige Zofia Posmysz. Sie hat Auschwitz überlebt und in einer durch ein persönliches Erlebnis angeregte Novelle die fiktive Begegnung einer Täterin mit einem ihrer Opfer beschrieben. Die Erzählung bildet die Grundlage für Weinbergs Oper.

Aber das bis 2010 in der westlichen Welt unbekannte Werk des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten will nicht zuerst die Vernichtungsmaschinerie der Nazis dokumentieren. Als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“, bezeichnet Weinbergs enger Freund und Förderer Dmitri Schostakowitsch die Oper.

Das Libretto von Alexander Medwedew fügt in die Erzählung Zofia Posmysz‘ Frauen ein, die aus Polen, Frankreich, Russland kommen, die ihre Leiden und Hoffnungen ins Lager mitgebracht haben, die dulden, beten, weinen, sich empören und lieben. Und die auf diese Weise Menschlichkeit im Verborgenen weiterleben lassen, kleine Inseln der Humanität schaffen. Die aber auch die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes stellen, nach seiner Anwesenheit in der Hölle von Auschwitz. Vielleicht, so eine der Frauen, sei Gott in Auschwitz noch einmal Mensch geworden und hier gestorben.

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin" am Musiktheater im Revier. Foto: Forster

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ am Musiktheater im Revier. (Foto: Forster)

Die kalten Zahlen, die in einer Projektion die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn es die Denunziantin, den weiblichen „Kapo“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock gibt. „Abstrakter Humanismus“ wurde Weinberg vorgeworfen, die Oper daher erst 2006, zehn Jahre nach seinem Tod, konzertant in Moskau erstmals aufgeführt. Was für ein abstruser Vorwurf, aber er enthüllt in seiner perversen Form eine Wahrheit: Worauf Weinberg besteht, ist das Überleben der Menschlichkeit selbst dort, wo nur noch Tod und Teufel zu regieren scheinen. Eine Botschaft, die über die Bedingungen der historischen Konkretion in Auschwitz hinaus beansprucht, gültig zu sein.

Weinberg lässt die „Passagierin“ mit einem Appell für die Erinnerung enden. „Wenn das Echo eurer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde“, zitiert er einen Paul Eluard zugeschriebenen Satz. In ihrem sanften, lyrischen Schlussgesang nennt die überlebende Marta noch einmal die Namen ihrer Mitgefangenen im Lager.

Es geht nicht um ein abstraktes, formalisiertes Gedenken. Es geht um Menschen. Keiner der Ermordeten geht in der Opferrolle auf. Jeder hat Charakter, Geschichte, Beziehungen, Herkunft und Ziel. Der Namen hält das Leben fest. Nicht umsonst sind in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel die Namen der Holocaust-Opfer in Stein graviert, können auch im Internet recherchiert werden. Und daher noch einmal: Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz, Katja, Krystina, Vlasta …

„Die Passagierin“ wurde erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführt und seither in Europa und Amerika mehrfach, in Deutschland in Karlsruhe und Frankfurt wieder inszeniert. Gelsenkirchen nimmt die Herausforderung an, dieses wichtige und schwierige Werk erneut zur Debatte zu stellen. Die Premiere – einen Tag nach dem Internationalen Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus  – ist begleitet von einem umfangreichen Rahmenprogramm, das am 1. Juli mit einem Gastspiel des Theaters Hof mit George Taboris „Mein Kampf“ endet.

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Regisseurin Gabriele Rech legt Wert auf sorgfältige Menschenstudien, von der eilfertig prügelnden Aufseherin (Patricia Pallmer), die sich durch Anbiederung zu retten hofft, über die resignierten, aber nicht gebrochenen Frauen, die wie Yvette (Bele Kumberger) sogar noch zu träumen wagen, bis hin zu dem Musiker Tadeusz (Piotr Prochera), der bis zur Hingabe des eigenen Lebens entschlossen ist, sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen: Als der Lagerkommandant, ein „Musikkenner“, von ihm einen trivialen Walzer fordert, spielt er ein Beispiel universaler Musik, Johann Sebastian Bachs Chaconne.

Das Einheitsbühnenbild von Dirk Becker macht es der Regisseurin nicht leicht, die filmähnlichen Rückblenden zu inszenieren. Der Raum, durch dunkel vertäfelte Holzportale gegliedert, mit einem Podium im Hintergrund und einer Bar an der Seite, ist anfangs der moderne Salon eines Schiffes, auf dem der Diplomat Walter und seine Frau Lisa nach Brasilien reisen. Im eleganten Cocktailkleid der ausgehenden fünfziger Jahre – die historisch verorteten Kostüme sind von Renée Listerdal – versuchen die beiden, ihr Recht auf Vergessen zu behaupten, aber die „schwarze Todeswand“ von Auschwitz widerspricht: Der Chor singt aus dem Rang und vergegenwärtigt, was verdrängt werden soll.

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin". Foto: Forster

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. (Foto: Forster)

Als Lisa – die KZ-Aufseherin Anna-Lisa Franz war das Vorbild – in einer Passagierin die ehemalige Auschwitz-Gefangene Marta zu erkennen glaubt, schiebt sich die Vergangenheit in die elegante Wirtschaftswunder-Kulisse. Aus dem Salon wird der Schauplatz des Totentanzes, Uniformierte marschieren auf. Dass der Raum genauso gut als SS-Kasino durchgehen könnte, weist subtil darauf hin, dass es zwischen der Nazizeit und der jungen Bundesrepublik mehr Kontinuitäten gegeben hat als fassbar waren: Die Letzten, die als Täter in Frage kommen, stehen erst heute vor Gericht.

Rech lässt das blonde Lieschen zur „arischen“ Frau in Uniform mutieren, die nicht prügelt oder tötet, sondern mit ihren Opfern ein subtiles Spiel einfädelt: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Dass sie damit an der charakterlichen Festigkeit von Marta und Tadeusz scheitert, irritiert sie zutiefst: In sinisterer Verwunderung beklagt Lisa den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Hanna Dóra Sturludóttir zeigt, wie diese Frau den Halt verliert, der ihr das Verdrängen und ihre konstruierten Rechtfertigungen gegeben haben – und wie die Beziehung zu dem karrierebewussten Walter (Kor-Jan Dusseljee) zerbricht. Ihre letzten Klagen hört der Mann überhaupt nicht mehr; er blättert teilnahmslos am Tresen in der Zeitung. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer und einem träumerischen Lied Martas. Ilia Papandreou singt es mit anrührender Einfachheit, nachdem sie drei intensive Stunden lang die schweigende, allein durch ihre Präsenz wirkende Passagierin und die auch angesichts des sadistischen Hohns der „Aufseherin Franz“ starke, mutige Frau im Lager verkörpert hat.

Auch wenn die Frankfurter Inszenierung Anselm Webers vor zwei Jahren nicht zuletzt wegen der überzeugenden Bühne von Katja Haß für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine noch prägnantere Bild-Lösung gefunden hat: Gelsenkirchen kann sich neben den bisherigen Produktionen der „Pasażerka“ anstandslos behaupten und punktet mit einem alles in allem großartigen Ensemble, zu dem die zahlreichen, in mehreren Sprachen singenden Darsteller ebenso beitragen wie der von Alexander Eberle sattelfest einstudierte Chor und die Statisterie des Hauses.

Valtteri Rauhalammi festigt den Eindruck, ein präsenter, genauer, sensibler Orchesterleiter zu sein; die Neue Philharmonie Westfalen bestätigt den Aufwärtstrend der vergangenen Jahre erneut eindrucksvoll in den vielen genau ausgehörten kammermusikalischen Abschnitten der Musik Weinbergs, aber auch in den an Schostakowitsch erinnernden schrägen Zitaten von Unterhaltungsmusik, den unheimlich präzisen Schlägen und den harmonisch verdichteten Stellen, an denen der Klang des ganzen Orchesters gefordert ist.

Mit solchen ambitionierten Produktionen lässt Intendant Michael Schulz das Musiktheater im Revier in einer Liga spielen, in der es die im Mainstream erstarrende Deutsche Oper am Rhein Christoph Meyers deklassiert und das Aalto-Theater in Essen ernsthaft herausfordert. Und auch in Dortmund wird sich der Nachfolger Jens-Daniel Herzogs ab 2018 einiges einfallen lassen müssen, um gleichzuziehen.

Vorstellungen am 5., 18. Februar; 2., 17. März; 2., 23. April 2017.
Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2016-17/die-passagierin/

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Das Rahmenprogramm des Musiktheaters im Revier in Kooperation mit Partnern aus Stadt und Land Nordrhein-Westfalen läuft bis zum Ende der Spielzeit mit Konzerten, Ausstellungen, Lesungen, Vorträgen und Zeitzeugen-Begegnungen. Seit 29. Januar zeigt das Kunstmuseum Gelsenkirchen eine Ausstellung mit Arbeiten von Michel Kichka, die das Holocaust-Trauma seiner Familie verarbeiten. Am 7. Februar erzählen Zeitzeugen aus Gelsenkirchen in der Neuen Synagoge ihre Geschichten vom Überleben und der Rückkehr in die Heimatstadt.

Bei einem Liederabend mit Almuth Herbst am 12. Februar im Kleinen Haus der Musiktheaters erklingen unter anderem die in Theresienstadt entstandenen von Victor Ullmann. Am 12. März spielt das Danel-Quartett im Kleinen Haus Werke von Mieczysław Weinberg und Dmitri Schostakowitsch. Und am 26. März kommt der Geiger Linus Roth, der unter anderem Weinbergs Violinkonzert auf CD eingespielt hat, zu einem Gesprächskonzert ins Musiktheater und stellt Kompositionen Weinbergs für Violine und Klavier vor. Das Rahmenprogramm gibt es als Download unter https://musiktheater-im-revier.de/assets/files/068cb1d4-e1ba-395b-9357-0fa76433c69f.pdf

Weitere Informationen zu Mieczysław Weinberg gibt es auf der Webseite der Internationalen Mieczysław Weinberg Society: http://www.weinbergsociety.com/index.php?article_id=16&clang=0




Warum ich Premieren so liebe…

Große Gefühle auf der Bühne: Rigoletto (Luca Gratis), Maddalena (Bettina Ranch), der Herzog von Mantua (Carlos Cardoso) und Gilda (Cristina Pasaroiu). (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“ – deswegen gehören Premieren in Oper oder Schauspiel zu den aufregendsten Vorstellungen. Im Gegensatz zum Repertoire-Abend ist die Atmosphäre einfach unvergleichlich: Es liegt so eine Spannung in der Luft, ein „Wie wird es heute bloß werden?“ oder, von Künstlerseite, ein „Werde ich auch gut (genug) sein? Lampenfieber hinter der Bühne, Neugierde im Zuschauerraum. Es soll Regisseure geben, die es nicht ertragen, die Premiere zu verfolgen und sich in die Garderobe verkriechen und erst beim Applaus wieder heraus trauen…

Für Kritiker sind Premieren dagegen der übliche Termin: Man muss ja meist über die Produktion schreiben, wenn sie brandneu ist. Manche sind jede Woche in einem anderen Haus. Und doch: Fast drei Monate hatte ich Weihnachts- und Erkältungspause und inzwischen richtiggehend Entzugserscheinungen.

Deswegen war Rigoletto im Aalto-Theater in Essen meine erste Premiere im neuen Jahr. Was auf der Bühne geschah, hat meine Kollegin Anke Demirsoy geschrieben: https://www.revierpassagen.de/39768/die-rache-show-des-rigoletto-frank-hilbrich-inszeniert-giuseppe-verdis-oper-am-aalto-theater/20170123_1727 – Warum die Premiere aber auch als gute Party taugt, lesen Sie hier.

Neuer Trend: Fliege statt Krawatte

Wen man nicht alles trifft: Ehemalige Kollegen, Künstler von anderen Häusern, Nachbarn, Freunde! Und alle sind top angezogen! Kleine Fliegen statt Krawatten kommen wieder, Frauen tragen diesen Winter gerne silberne High Heels. Nun schnell noch einen kleinen Sekt oder Champagner auf Ex, da gongt es auch schon. Rasch hinein!

Die Reihen füllen sich, das Aalto-Theater ist bis auf den letzten Platz besetzt, die Zuschauer wispern und flüstern, das Licht geht aus. Verdis Ouvertüre braust los, danach betritt ein Horror-Clown vor einem lila-Glitzervorhang die Bühne: Rigoletto, der Narr. Ob das jetzt stimmig ist oder nicht, ist mir heute wurscht, ich beschließe, einfach alles toll zu finden…

Dieser herrliche Pausentratsch

Nicht so schwierig bei Verdi, dessen Melodien man tausendfach gehört hat, im Zweifel in der Pizza-Werbung, die aber live auf der Opernbühne gesungen alle Konserven mühelos überbieten. Gilda in Jeans sieht aus wie ein Mädchen von heute, doch wenn sie singt, bekomme ich Gänsehaut. Und Cristina Pasaroiu Szenenapplaus. Das Essener Publikum ist an diesem Abend überhaupt klatschfreudig und begeisterungsfähig.

Klatschfreudig sind auch die Menschen in der Pause: „Weißt du schon, dass M. geheiratet hat?“ – „Nein, wirklich? Wen denn?“ Ohne Opernpremiere hätte ich diese brandheiße Nachricht längst nicht so schnell erfahren…

Noch bevor wir alle Einzelheiten zur neuesten Hochzeit im Bekanntenkreis austauschen können, gongt es schon wieder. Dann müssen wir wohl zur Premierenfeier bleiben, hilft ja nix.

Auf der Bühne schwört Rigoletto Rache, der Herzog entpuppt sich endgültig als treulose Tomate, die er von Anfang an war und Gilda opfert sich aus Liebe. Große Gefühle, die wir uns im Alltag kaum noch erlauben. Deswegen ist es ja so schön, sie auf der Opernbühne mitzuerleben – seufz…

…und dann auch noch Freibier vom Fass

Nach dem tragischen Finale gibt es nochmal großen Applaus – auch Klatschen macht bei Premieren mehr Spaß, ebenso wie Buhrufe (habe ich aber diesmal keine gehört), denn es steht etwas auf dem Spiel: Wie wird die Inszenierung angenommen? Mag das Publikum das Stück? Oder münden wochenlange Probenarbeiten in einem Reinfall? Außerdem hat man die einmalige Gelegenheit, das Regieteam zu sehen, das sich nur am Premierenabend verbeugt.

Das Beste folgt allerdings nach dem Schlussapplaus: Schöne Tradition im Aalto ist das Freibier vom Fass bei der Premierenfeier. Nichts macht ja durstiger als ein zwanzigminütiger Bühnentod. Wer Hunger hat, findet ebenfalls einen kleinen Happen zu essen und der Intendant stellt die Künstler des Abends vor. Einmalige Gelegenheit, sie nicht im Kostüm, sondern ganz privat zu erleben, wie sie sich unter die Gäste mischen…

Wer dabei sein möchte, muss sich nur eine Premierenkarte kaufen. Im Ruhrgebiet kommt mindestens jede Woche ein neues Schauspiel oder eine neue Oper heraus, wenn nicht öfter.

Die nächste Opern-Premiere im Aalto: „Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer am 9. April 2017. Vorher gibt es noch einen Ballettabend: „3 BY EKMAN“ am 4. März. Sehen wir uns da?

Weitere Infos:
www.aalto-musiktheater.de




Die Rache-Show des Rigoletto: Frank Hilbrich inszeniert Giuseppe Verdis Oper am Aalto-Theater

Ein Mann starrt in die Finsternis: Rigoletto (Luca Grassi), unglücklicher Hofnarr des Herzogs von Mantua (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Dieser Hofnarr trägt einen Buckel aus zerplatzten Luftballons. Er hält sich gebeugt, geht stets gekrümmt wie einer, dessen Rückgrat verbogen ist. Angstvoll blickt er um sich, eine gehetzte Kreatur im mausgrauen Anzug, verfolgt von einer unsichtbaren Meute. Dann steigt er in seine quietschbunte Arbeitskluft und verwandelt sich: nicht etwa in einen bösen Harlekin, sondern in einen Horror-Clown, verwandt dem aus der Verfilmung von Stephen Kings Roman „Es“.

Zirkus? Nein, Verdi! Der Bariton Luca Grassi gab in Essen sein Rollendebüt als Rigoletto.

Mit dieser Darstellung von „Rigoletto“, dem tragischen Antihelden der gleichnamigen Oper von Giuseppe Verdi, legt Regisseur Frank Hilbrich sich am Essener Aalto-Theater früh fest. Der böse Clown soll uns das Gruseln lehren mit seinem Wahn, mit seiner Verbitterung und mit seinem Hass auf vermeintlich privilegiertere Existenzen. Hilbert will uns Fratzen und Verzerrungen zeigen, hervorgebracht durch das Spiel von Macht und Erniedrigung. Ein nachvollziehbarer Ansatz, der auf der Bühne leider zunehmend in Mummenschanz mündet.

„Das Schöne hat nur eine Erscheinungsform, das Hässliche hat tausend“, zitiert das Programmheft Victor Hugo, den Dichter der Romanvorlage „Le Roi s’amuse“. In der Essener Premiere erinnert uns die bald einsetzende Vermehrung der Horrorclowns aber vielmehr daran, dass der Februar nicht mehr fern ist – und mit ihm die Karnevalssaison.

Die Höflinge als eine Schar von Horrorclowns (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Konfetti und Kamelle fliegen zwar nicht, dafür aber viele bunte Luftballons, von denen viele geräuschvoll platzen. Sind sie Symbol für die Illusionen der Hauptakteure? Sie verbreiten jedenfalls eine konträr zum Stück stehende Kindergeburtstags-Atmosphäre.

Überzeugend gelingt dagegen die Zeichnung der Gilda, die endlich einmal nicht in einem käfigartigen Verhau auf ihren Vater warten darf, sondern als selbstbewusster Teenager in modischer Jeans auf dem heimischen Sofa lümmelt.

Gilda (Christina Pasroiu), Tochter des Rigoletto (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Auch die Bühne von Volker Thiele hat es in sich: Sie ist nachtschwarz und unterkühlt und besitzt zudem drehbare Seitenportale, die das seitwärts einfallende Licht so spiegeln, dass der Zuschauer immer wieder geblendet wird. Das ist ähnlich unangenehm wie die Perversionen, die am Hofe des Herzogs gepflegt werden. Verblendung, Gefühlskälte und (eitle) Selbstbespiegelung werden hier zum Raum.

Die beiden entscheidenden Nachtszenen der Oper verschenkt die Regie indes komplett. Die Begegnung mit dem Auftragskiller Sparafucile findet vor einem violetten Glitzervorhang statt, als seien wir Zeuge einer Zirkusnummer. Den Mord inszeniert Hilbert auf einer Doppelbühne, gerahmt vom violetten Vorhang. Gemeinsam mit Gilda sind wir gezwungen, die Rache-Show des Rigoletto mit anzusehen. Diese Revue ist jedoch weit entfernt von der düsteren „tinta“, der von Verdi bewusst eingesetzten Einfärbung der Szene durch die Musik. Statt einer Nacht des Schreckens also nur das Theater des inneren Wahns. Statt Wetterleuchten diskoähnliches Flackerlicht.

Quartett vor dem tödlichen Finale: Rigoletto (Luca Grassi), Maddalena (Bettina Ranch), der Herzog von Mantua (Carlos Cardoso) und Gilda (Cristina Pasaroiu). (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Sängerisch will diese Produktion ebenfalls nicht recht erwärmen. In seinem Rollendebüt gibt Luca Grassi dem Rigoletto Gentleman-Farben, schafft es aber (noch) nicht, die Emotionen dieser Figur zum Glühen zu bringen. Zärtliche Vater-Gefühle klingen an, aber darüber hinaus bleibt sein Bariton oft blass, reicht nicht in die Tiefen von Hass, Verzweiflung und Rachedurst hinab.

Carlos Cardoso, als Herzog von Mantua für den erkrankten Abdellah Lasri am Start, übersetzt den Machismo etwas steif in Spitzentöne und Phonstärken. Der Träller-Stil der berühmten Arien erzählt bei ihm nicht viel von Leichtfertigkeit und Charme. In den Duetten mit Gilda bemüht er sich aber um feurigen Schmelz, um die Schöne für sich zu gewinnen.

Der Herzog (Carlos Cardoso, r.) gibt sich Gilda gegenüber als Student aus (Cristina Pasaroiu,. Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Damit wären wir bei der überragenden Spitze des Dreigestirns, bei Cristina Pasaroiu als Gilda, die uns mitten hinein führt in den leuchtenden glasmusikalischen Käfig, den Verdi rund um Rigolettos Tochter komponiert hat. Aber die Sängerin belässt es nicht dabei: Sie ergänzt ihr Rollenporträt durch selbstbewusste Akzente, wie sie einem Menschen eigen sind, der an der Schwelle zum Erwachsenalter steht. Zart und traumschön, wie ihre Gesangsbögen zunehmend ätherischer werden und in der Sterbeszene gänzlich gen Himmel entschweben. Die Nebenrollen des Grafen Monterone, des Mörders Sparafucile und seiner Schwester Maddalena sind mit Baurzhan Anderzhanov, Tijl Faveyts und Bettina Ranch sorgsam besetzt.

Unter dem Dirigat des Italieners Matteo Beltrami stützen die Essener Philharmoniker die Sänger psychologisch genau. Deutlich tritt die jeweils eigene Klangwelt vor, die Giuseppe Verdi den Hauptakteuren zugeordnet hat. Helle Flötentöne und ätherische Geigenklänge für Gilda und gockelhaft-triviale Canzonetten für den Herzog heben sich ab von düsterem Grund: Monterones Fluch wirft seinen schicksalhaften Schatten über die gesamte Partitur. Ein ums andere Mal fliegt Matteo Beltrami die Künstlermähne in den Nacken, wenn er die Musiker im Orchestergraben anspornt. Essens Philharmoniker antworten mit sprühender Vitalität und dramatischem Feuer.

Folgetermine bis 28. Mai 2017. Kartenbestellung: 0201/ 8122-200. Infos: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/rigoletto.htm/




Raum für das Wunder: Wagners „Lohengrin“ fasziniert am Aalto Theater Essen

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Der Zusammenbruch ist vollkommen. Elsa, entleibt im blutigen Hochzeitsgewand, Ortrud, weinend über dem Sarg des toten Telramund. Der Herzog von Brabant, ein blindes Kind, das in einer Uniform über die Bühne torkelt. Der Rückzug Lohengrins ist nicht das Ende eines wundersam romantischen Liebesmärchens, sondern die Katastrophe einer haltlos zurückgelassenen Gesellschaft. Was da bleibt, ist der Krieg: Ein Bischof in vollem Ornat segnet die Soldaten König Heinrichs, lässt sie von Messdienern beweihräuchern. Wo die wahre Transzendenz verbannt ist, macht sich die falsche breit.

Tatjana Gürbaca hat am Aalto Theater Essen Richard Wagners „Lohengrin“ in einer klugen, komplexen Regie an die Gegenwart angenähert, ohne die Deutungswege der letzten Jahre weiter auszutreten, aber auch ohne in die Extreme verstiegenen Überbaus zu flüchten oder das Heil in der Rückkehr zu Opulenz und Konvention zu suchen. Das ist bei einem permanent über-inszenierten Komponisten wie Wagner ein Kunststück. Gürbaca liest also das Märchen vom gescheiterten Schwanenritter nicht als Künstlerdrama – wie es Äußerungen Wagners nahelegen –, sie inszeniert keine bloß politische Parabel, sondern sie versucht, dem „Wunder“ Raum, Sinn und Deutung zu geben.

Ein Vorhaben, das bei einer konsequent säkularisierten Sicht auf Wagners rätselvolle Oper kaum durchzuhalten ist. Der Einbruch einer metaphysischen Sphäre in die Welt der Brabanter ist so fundamental für das Stück, dass weder die tapfere Negation noch die Reduktion auf den – durchaus vorhandenen – Aspekt einer charismatischen Politik tragfähig sind. Wagner selbst beschrieb „Lohengrin“ als Berührung einer übersinnlichen Erscheinung mit der menschlichen Natur. Ohne diesen Aspekt ist etwa der Sinn des Frageverbots nicht erschließbar.

Mit unglaublicher Präzision gespielter Kind-Schwan

Gürbacas Bühnenbildner Marc Weeger baut ein beängstigend enges Gebilde ins Zentrum der Bühne, eine weiß strahlende Treppe, begrenzt von hohen Wänden, viel zu eng für die Massen, die sich auf den Stufen drängen und formieren. Lohengrins Erscheinen vollzieht sich unspektakulär. Er ist ein Mensch wie alle, den Silke Willrett in Mantel und Hut steckt und damit an die unbehausten dämonischen Figuren der romantischen Oper wie Marschners Hans Heiling oder Wagners Holländer erinnert. Ihm wird ein Kind von oben herab zugereicht, das als „Schwan“ erklärt wird. Telramund und Ortrud sind die einzigen, die sich aus dieser begrenzten Sphäre herausbegeben – auch das schon ein signifikantes Detail. Telramund fällt, als der Kleine einen Arm hebt: Die transzendente Macht, die Lohengrin begleitet, bewirkt sein Verderben.

"Lohengrin" in Essen: Jessica Muirhead (Elsa) und Aron Gergely (Der Schwan). Foto: Forster

„Lohengrin“ in Essen: Jessica Muirhead (Elsa) und Aron Gergely (Der Schwan). Foto: Forster

Mit diesem Kind-Schwan, von Aron Gergely mit unglaublicher Präzision gespielt, holt Gürbaca das „Wunderbare“ sinnlich in das Stück, zeigt sein Wirken, die eng mit der Person Lohengrins verbunden ist, aber sich nicht völlig mit ihm identifizieren lässt. Während Elsa und die Menge den Sieg bejubeln, klettert der Kleine nach oben und geht unbeachtet ab.

Den zweiten Aufzug inszeniert Gürbaca als eine subtile Studie über die Psychologie von Macht und Abhängigkeit, beginnend mit dem grellen Licht, das auf Ortrud fällt, während das Orchester in dunkel-fahlen Holzbläserfarben mit Quinte, Tritonus und der Paralleltonart fis-Moll das reine A-Dur der Gralssphäre in Frage stellt. Und gipfelnd in der Aktion Telramunds, der die beengte Bühnenskulptur aufdrückt und den verwundert staunenden Menschen das weite, unergründliche Schwarz des Raums öffnet. Telramund, der nicht versteht, was da in seine rational geordnete, schlüssige Weltsicht eingebrochen ist, packt das Kind, schüttelt es so verzweifelt, als wolle er die Antwort aus dem Körperchen herauszwingen. Aber der Kleine geht zu Lohengrin, der den Zweifel noch einmal besiegen kann.

Im dritten Aufzug wird das nicht mehr möglich sein: Gürbaca macht die Unvereinbarkeit der Welten des Grals und des Herzogtums Brabant, des Göttlichen und des Irdischen, oder – so Wagner – des Wunders und der Liebe sinnlich greifbar. Lohengrin kann die Frage nach „Nam‘ und Art“ nicht zulassen, denn das Metaphysische, das er repräsentiert, wäre mit keiner Sprache jemals umfassend und damit wahr zu beschreiben – es entzieht sich dem definierenden Wort. Elsa aber muss die Frage stellen, will sie die Liebe ernst nehmen, die – auch hier sei Wagner zitiert – nach Erkenntnis strebt und das Wesen des Geliebten ergründen will.

Diese tragische Unvereinbarkeit darzustellen, gelingt Gürbaca eindrucksvoll. Wenn Lohengrin sich Elsa zuwendet – zum ersten Mal allein! –, legt er das Kind am oberen Rand der Stufen des weißen Raumes ab. Aber der „Schwan“ warnt, als sich Elsa und Lohengrin zur ersten Umarmung nahekommen, wälzt sich von Stufe zu Stufe auf Elsa zu.

Die Interaktion des Paares ist ständig auf den Bezugspunkt dieses lebendigen Symbols des Wunderbaren bezogen – und als die verhängnisvolle Frage gestellt ist, streckt der Kleine den Arm aus („Der Schwan, der Schwan!“), nimmt Lohengrin an der Hand – und der Raum dreht sich: eine riesige, schwarze Treppe mit viel zu hohen Stufen, verbaut mit Baumstämmen, als sei ein Scheiterhaufen zu errichten. Ein bezwingendes Bild trostlosen Zusammenbruchs.

Detaillierte und vielschichtige Personenführung

Gürbacas Regie überzeugt nicht nur auf dieser Ebene metaphorischer Darstellung; die Regisseurin löst auch den Anspruch an eine detaillierte, vielschichtige Personenführung ein, der die meisten ihrer bisherigen Arbeiten – auch die nicht so gelungenen – ausgezeichnet hat. Die Ortrud von Katrin Kapplusch etwa ist kein wildes Biest, sondern eine zunächst rational abwägende, sich dann in ihre politische Vision steigernde Frau, die am Ende erkennt, dass der Rückzug Lohengrins die Katastrophe schlechthin ist und einen Moment rührender Solidarität mit Elsa zeigt. Heiko Trinsinger gebärdet sich desto gewalttätiger, je schmerzhafter er seine eigene Ohnmacht erfährt, gespeist aus einem fast schon tragischen Nichtverstehen, das ihm die Sphäre Lohengrins verschließt.

Eindrucksvolle Darsteller: Heiko Trinsinger (Telramund) und Katrin Kapplusch (Ortrud). Foto: Forster

Eindrucksvolle Darsteller: Heiko Trinsinger (Telramund) und Katrin Kapplusch (Ortrud). Foto: Forster

Mit Jessica Muirhead hat das Aalto Ensemble eine Elsa in seinen Reihen, die sich darstellerisch die Rolle nahezu ideal erarbeitet hat: Vom verschüchterten Opfer eines undurchschaubaren Verhängnisses bis zur selbstbewusst fragenden Liebenden und zur hoffnungslos gestrandeten Existenz überzeugt ihr Spiel, ihre Erscheinung, ihre Körpersprache. Ihr kristalliner Sopran betont die mädchenhaften Züge der Figur, zeigt sich klangschön von der besten Seite, wo helles Piano und sanftes Mezzoforte gefragt ist. Die dramatischeren Momente des zweiten und dritten Akts lassen den schlanken Ton bisweilen eng werden. Die Stimme ist an ihre Grenze geführt, wird aber nicht überfordert.

Katrin Kapplusch punktet als Ortrud, wo sie die Klänge des Schmeichlerischen, des Höhnischen, aber auch den Tonfall lapidarer Grausamkeit und intellektueller Schärfe trifft. „Entweihte Götter“ wirkt nicht durch die Wucht einer großen Stimme, sondern durch den aggressiv-gefährlichen Ton, in den Kapplusch diese Paradestelle kleidet. Eine durch und durch fesselnde Gestaltung.

Heiko Trinsinger dagegen hat die vokale Wucht, um Wut und Verzweiflung des Telramund herauszuschleudern. Manchmal geschieht das mit viel Druck, den einzusetzen der Sänger nicht nötig hätte. Sobald die Töne frei gebildet werden, tragen sie die ausgezeichnete Artikulation, die jedem Wort Gewicht und Ausdruck gibt.

Almas Svilpa porträtiert den König Heinrich mit einem untrüglichen Bass-Fundament einen in seinem ehrlichen Bemühen nicht unsympathischen König; Martijn Cornet stößt als Heerrufer an deutliche Grenzen. Daniel Johansson als Lohengrin schafft den Spagat zwischen lyrischer Noblesse und dramatischer Attacke; er singt mit konzentriertem, stets sauber geführtem Ton, auch in der Gralserzählung mit abgesicherten Piani. Vor allem ist er auch ein Darsteller, bei dem stimmliche Expressivität und szenische Aktion korrespondieren.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, überzeugt mit Wagners "Lohengrin". Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, überzeugt mit Wagners „Lohengrin“. Foto: Hamza Saad

Was Tomáš Netopil und die Essener Philharmoniker leisten, könnte man ein unfassbar hehres Wunder nennen – aber die Beschreibung hinkt, weil dieser „Lohengrin“ auf ein Niveau aufsetzt, das sich immer wieder als zuverlässig und stabil erweist.

Das Orchester meistert jede Hürde mit großer Klasse, die Streicher sind in den offenen Stellen ganz bei sich, die Holzbläser haben bezaubernde Momente en masse, das Blech trägt nie dick auf oder drängt sich vor. Netopil zaubert das Vorspiel wie eine Vision reinsten Klangs ohne räumliche Verortung, erfasst aber auch, wie sich der Klang in Rhythmus und Melodie verdichtet, tariert das allmählich wachsenden Crescendo mit Gespür für die Innenspannung aus. Das Vorspiel zum dritten Aufzug hat Energie und Leuchtkraft, ohne zu schmettern.

Netopil trägt auch die Sänger, erstickt sie nie im Klang und kann so die Subtilitäten von Wagners Partitur darstellen, ohne auf der anderen Seite Glanz und Pracht zu verraten. Das war Orchesterglück auf Spitzenniveau – und Essen hat damit klar gemacht, dass sich andere Opernhäuser der Region durchaus strecken müssen, um da mitzuhalten.

Nicht zu vergessen ist der Chor von Jens Bingert, überzeugend nicht nur in Momenten treffsicherer Präzision, sondern auch in einer differenziert ausgehörten Staffelung des Klangs und in der Vielfalt dynamischer Nuancen.

Mit diesem „Lohengrin“ hat Essen nach dem „Parsifal“-Fehlschlag am Ende der Ära Soltesz wieder einen Wagner im Repertoire, der szenisch wie musikalisch keinen Vergleich zu scheuen braucht.

Die nächsten Vorstellungen: 7. und 11. Januar, 26. März, 1.April 2017. Info: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/lohengrin.htm

Das Aalto-Theater hat ein Wagner-Spezial-Abo aufgelegt: Zum Gesamtpreis von 50 Euro können die Vorstellungen am 25. Februar (Tristan und Isolde) und 1. April 2017 (Lohengrin), jeweils um 18 Uhr, besucht werden. Erhältlich ist das Abo unter Tel.: (0201) 81 22 200.

Nächste Premiere einer „Lohengrin“-Inszenierung in der Region: Samstag, 15. April 2017, im Theater Krefeld. http://www.theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/lohengrin/. 




Grandios überdrehte Bewegungs-Orgie: Rossinis „Barbier“ wieder im Essener Spielplan

Turbulenter Selbstzweck: Die Sänger "moven" in Jan Philipp Glogers "Barbier von Sevilla" in Essen. Foto: Bettina Stöß.

Turbulenter Selbstzweck: Die Sänger „moven“ in Jan Philipp Glogers „Barbier von Sevilla“ in Essen. Foto: Bettina Stöß.

Sie fegen wieder über die Bühne des Aalto-Theaters in Essen, Rossinis unsterbliche Figuren: die genervte Bedienstete Berta und ihr Kollege Ambrogio, beide in Lohn und Brot bei Herrn Doktor Bartolo, der sein Mündel Rosina heiraten will, um die Mitgift der jungen Frau nicht in fremde Hände geraten zu lassen. Der alte Musiklehrer Don Basilio, der lieber Intrigen als Melodien spinnt.

Und die beiden einzigen Menschen im „Barbiere di Siviglia“, denen Rossini so etwas wie ein authentisches Gefühl zubilligt: Der Graf Almaviva, der sich als „Lindoro“ ausgibt, um eine wohl echte Liebe zur Erfüllung zu bringen: Seine Cavatine „Se il mio nome“ ist ein Moment lyrischer Verzückung in einem Trubel musikalischer Mechanik. Und der Figaro, jener Tausendsassa, der sich mit seiner Unentbehrlichkeit brüstet und ein Loblied auf die Faszination des Goldes anstimmt. Er weiß, wovon er spricht: Er ist dieser Macht selbst erlegen.

Jan Philipp Gloger hat in seiner Debüt-Inszenierung in Essen eine grandios überdrehte Bewegungs-Orgie auf die Bühne gebracht, halb an die Commedia dell’arte, halb an skurriles Bewegungstheater anknüpfend.

Psychologie ist da nicht gefragt, Erklärungen auch nicht. Diese Figuren haben nichts Wahrscheinliches, sie sind Automaten, Marionetten, Groteskerien, gefangen in einer riesigen Kiste: ein Geschenk Rossinis an uns, verschnürt mit einer roten Schleife (Bühne: Ben Baur), die sich erst am Ende öffnet, wenn die „unnütze Vorsicht“ (so der Untertitel der Oper) enthüllt und – vielleicht – die Liebe in ihr Recht gesetzt wird. Fern von Realismus, absurd auf die Spitze getrieben, amüsant und verstörend künstlich – wie Rossinis Musik.

Die liegt, wie bei der Premiere am 4. Juni, in den Händen von Giacomo Sagripanti. Mit Rossini schlägt er sich wesentlich überzeugender als mit Bellinis „Norma“ am gleichen Haus, weil sich die Schwäche dort in die Stärke hier verwandelt: Mit den fast minimalistisch anmutenden Mechaniken – etwa im Finale des ersten Aktes – geht Sagripanti genau richtig um: maschinell, motorisch, dabei aber im Rhythmus federnd und in der Artikulation alles andere als nach Schema F. Basilios Arie von der Verleumdung („La calunnia“), die streng genommen aus einem einzigen riesigen Crescendo mit einem irrwitzigen Ausbruch besteht, legt er genau passend an. Die Gewittermusik im zweiten Akt ist selten so klug aufgebaut und präzis modelliert erlebbar – da ist auch dem Essener Orchester ein großes Kompliment zu machen.

Wie ein Kanonendonnerschlag entlädt sich die Verleumdung: Tijl Faveyts als Don Basilio. Foto: Bettina Stöß.

Wie ein Kanonendonnerschlag entlädt sich die Verleumdung: Tijl Faveyts als Don Basilio. Foto: Bettina Stöß.

Die Methode erzielt Wirkung, und wäre Tijl Favejts nicht zu schnell auf dem Höhepunkt seines schneidenden Forte angekommen, wäre auch die vokale Wirkung umwerfend gewesen. Da funktioniert sogar, dass der Dirigent Almavivas lyrische Legati mit der Strenge eines preußischen Militärkapellmeisters ins Metrum einkerkert: Selbst díe Liebesergüsse des Grafen entkommen nicht dem übermächtigen Uhrwerk der Ereignisse. Levy Strauss Sekgapane bringt einen unerschütterlichen Porzellan-Tenor mit, der noch die finessenreichste Verzierung mit der Präzision eines technischen Apparats nachstechen kann. Der Tenor hat den Almaviva schon in Berlin und Dresden gesungen und ist auch beim Rossini Festival in Pesaro in einem ansonsten recht inspirationslosen „Turco in Italia“ positiv aufgefallen.

Karin Strobos knüpft mit einer frisch und sicher gesungenen Rosina an frühere Leistungen im Ensemble des Aalto-Theaters an, etwa Mozarts Dorabella („Cosí fan tutte“) oder Cherubino („Nozze di Figaro“). Sie veredelt die im Zentrum der Stimme liegenden Phrasen mit ihrem dunkel grundierten Timbre, lässt die Höhe strahlen, die Koloraturen anstrengungslos sprühen. Eine kleine, oft gestrichene Episode, die Arie der Berta, wird bei Christina Clark zu einem reizenden Intermezzo voll melodischen Charmes. Raphael Baronner als ihr Kollege Ambrogio hat keine solche musikalische Perle zu polieren; er darf sich pantomimisch ausleben, wenn er etwa mit langen Beinen in der Luft stochert, während er sich am Boden dreht. Auch Karel Ludvik als Fiorello hat Momente, die ihn als Darsteller fordern.

Ein Gewinn für das Essener Ensemble ist auch Baurzhan Anderzhanov. Mit Bartolo hat er eine dankbare Rolle anvertraut bekommen, die er glänzend erfüllt, nicht nur szenisch. Sein klar fokussierter, beweglicher, zu deutlicher Artikulation fähiger Bass passt für Rossinis spritzige Musik. Bleibt noch Gerardo Garciacanos Figaro: Der sonst in Dortmund tätige Sänger legt eine brillante Auftrittsarie hin, bleibt aber im Verlauf des Stücks als Figur seltsam unauffällig. In Glogers Inszenierung einzusteigen, dürfte nicht so einfach sein. Essen hat mit diesem „Barbier von Sevilla“ ein anziehendes Theaterereignis; der Erfolg in der laufenden Spielzeit – bis Juni steht der Rossini-Klassiker im Spielplan – müsste sich eigentlich einstellen.

Weitere Vorstellungen: 20. November, 7. und 17. Dezember. 2017:  28. April 2017, 21, Juni, 16. Juli. Info: http://www.aalto-musiktheater.de/wiederaufnahmen/il-barbiere-di-siviglia.htm




Schwarze Seelen: Michael Thalheimer inszeniert Verdis „Otello“ an der Rheinoper

Otello. Foto: Hans-Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein

Otello. Foto: Hans-Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein

Die Bühne ist so schwarz wie Jagos Seele: In einem klaustrophobisch anmutenden dunklen Raum begegnen sich schwarzgekleidete Gestalten und das Unheil nimmt seinen Lauf. Einer von ihnen hat sogar ein schwarzes Gesicht, die anderen malen sich ihres in düsterer Farbe an, um es ihm gleichzutun.

Michael Thalheimer hat Verdis „Otello“ für die Deutsche Oper am Rhein bis zur Schmerzgrenze optisch reduziert, sich dadurch aber auf die düsteren Leidenschaften konzentriert, die in uns allen wirken: Eifersucht, Neid, enttäuschte Liebe, Hass.

Schmerzhaft schön tritt dabei Verdis Musik (Musikalische Leitung: Axel Kober) in den Vordergrund: Sie spiegelt, illustriert und vertieft die Leidenschaften der handelnden Figuren, zeigt auch ihre verborgenen, versteckten Regungen und Motive auf. Jago, der sich als böser Nihilist geriert, kommt in die Nähe von Mephisto, nur ohne dessen geschliffene Ironie. Überhaupt erinnert Thalheimers Inszenierung, eine Koproduktion der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg mit der Opera Vlaanderen, an seinen „Faust“ am Deutschen Theater in Berlin, der seinerzeit ebenfalls in einem dunklen kargen Raum angesiedelt war.

Doch dies verkopfte, dieses Eingesponnensein in das Gefängnis seiner eigenen Neurosen charakterisiert Otello gut: Wieso sollte sonst der große Feldherr den pumpen Intrigen eines Jago so schnell auf den Leim gehen, wenn nicht seine Seele bereits von Selbstzweifeln, Wahnvorstellungen und Minderwertigkeitskomplexen des Außenseiters zerfressen wäre? Warum sollte er sonst wegen eines lächerlichen Taschentuches seine große Liebe Desdemona töten? Taschentuch und Brautkleid Desdemonas sind übrigens die einzigen weißen Gegenstände dieses rabenschwarzen Abends und daher mit der Symbolik der verlorenen Unschuld aufgeladen: Das Taschentuch gilt als Beweis für ihre Untreue, im Brautkleid wird sie erwürgt. Die Schwärze schluckt alles.

Desdemona auf dem Totenbett. Fotos: Hans-Jörg Michel/Rheinoper

Desdemona auf dem Totenbett. Fotos: Hans-Jörg Michel/Rheinoper

Allerdings nicht den Klang: Otello (Ian Storey) singt eine kraftvolle Partie, die Jähzorn, aufbrausendes Temperament sowie zarte Liebestöne hören lassen. Aus gesundheitlichen Gründen konnten sowohl Jacquelyn Wagner und Boris Statsenko an diesem Abend nicht auftreten: Doch die eingesprungenen Gäste meisterten ihre Partien bravourös und erhielten viel Applaus. Serena Farnocchia gab der Desdemona einen warmen Klang, Alexander Krasnov, eingeflogen aus Jekaterinenburg, nahm man den empathielosen Bösewicht Jago unbedingt ab.

Eine schöne Stimme hat auch Ovidiu Purcel als Cassio aus dem Ensemble der Deutschen Oper am Rhein. Besonders hervorzuheben ist unbedingt der Chor der Rheinoper, der kraftvoll und eindringlich aus dem düsteren Hintergrund heraus agierte und natürlich die Düsseldorfer Symphoniker im Graben, der an diesem Abend ungewöhnlich hell wirkte.

Nur noch wenige Vorstellungen im November, Opernhaus Düsseldorf: 1., 4., 10. und 13. Nov. Karten: www.operamrhein.de

 




Wunderbare Vielfalt in Frankfurt: Aspekte der Romantik bei Scartazzini, Britten und Flotow

Vor der Bücherwand: Nathanael (Daniel Schmutzhard) und seine unheimlichen Gäste, der Vater (Thomas Piffka) und sein Kumpel Coppelius (Hans Jürgen Schöpflin). Foto: Monika Rittershaus

Vor der Bücherwand: Nathanael (Daniel Schmutzhard) und seine unheimlichen Gäste, der Vater (Thomas Piffka) und sein Kumpel Coppelius (Hans Jürgen Schöpflin). Foto: Monika Rittershaus

Was für eine Vielfalt! An der Oper Frankfurt lässt sich in den ersten Wochen der neuen Spielzeit nicht nur die ungewöhnliche „Carmen“ Barrie Koskys und demnächst die Verdi-Rarität „Stiffelio“ besichtigen. Im Bockenheimer Depot, einer gründerzeit-lichen Straßenbahn-Remise, wurde Benjamin Brittens selten aufgeführte amerikanische Operette „Paul Bunyan“ neu inszeniert. Und das Große Haus eröffnete den Premierenreigen mit einer Deutschen Erstaufführung, Andrea Lorenzo Scartazzinis „Der Sandmann“ – vor vier Jahren in Basel uraufgeführt.

Dazu kommt noch Friedrich von Flotows „Martha“, nicht als verlegener Tribut ans naiv-komische Genre, sondern als Chefstück prominent gewürdigt: GMD Sebastian Weigle selbst dirigiert und fügt damit seiner Beschäftigung mit der deutschen romantischen Oper einen weiteren wichtigen Aspekt hinzu.

Wenn man so will, lassen sich aus den drei Frankfurter Inszenierungen unterschiedliche Aspekte der Romantik herauslesen: Flotows unterhaltsames Werk steht für die Verniedlichung des Romantischen, wie es sich bis heute in Herzchenkitsch und Liebesschnulzen gehalten hat – ungeachtet der stillen Ironie, die man in „Martha“ hinter biedermeierlicher Camouflage entdecken kann.

Brittens „Paul Bunyan“ thematisiert einen spezifischen Aspekt eines „american dream“, einen riesenhaften Holzfäller, zu Beginn des 20. Jahrhunderts popularisiert durch einen Journalisten und eine Werbekampagne. Scartazzinis „Der Sandmann“ dagegen baut auf E.T.A. Hoffmanns vor 200 Jahren erschienener Erzählung, kreist um krankhafte wie metaphysische Aspekte der deutschen Romantik und stellt letztlich die Frage, wie zuverlässig unsere Erkenntnis von Wirklichkeit ist.

Christof Loys Inszenierung – die Übernahme der Uraufführungsproduktion aus Basel – hält den Sandmann-Stoff in der Schwebe: Der Lichtrahmen der Bühne von Barbara Pral lässt das Innere des Raum-Kastens von Anfang an diffus erscheinen; das Licht von Stefan Bolliger changiert zwischen den unheimlichen Lichteffekten des film noir, schemenhaft ausgeleuchteten Stimmungsbildern und hartkantiger Helle.

Scartazzinis Librettist Thomas Jonigk kombiniert einige Motive aus Hoffmanns „Sandmann“, um zu schildern, wie der Schriftsteller Nathanael jegliche Gewissheit von „Realität“ verliert. Tote erscheinen, Getötete stehen wieder auf. Ob Nathanael sein Werk je vollendet hat oder nicht über ein paar Zeilen hinausgekommen ist, bleibt unklar. Er ist jedenfalls von gestapelten Büchern umgeben.

Barbara Prals Bühne für Scartazzinis "Der Sandmann" gibt dem Unheimlichen und Uneindeutigen Raum. Foto: Monika Rittershaus

Barbara Prals Bühne für Scartazzinis „Der Sandmann“ gibt dem Unheimlichen und Uneindeutigen Raum. Foto: Monika Rittershaus

Ob seine hellsichtig argumentierende Partnerin Clara real ist oder sein gespaltenes Bewusstsein repräsentiert, bleibt ebenso ungreifbar wie die Existenz der automatenhaften Clarissa, die am Ende mit Claras Erscheinung verschmilzt und sich vervielfältigt. Der Begriff des „Realen“ verschwimmt auch bei den beiden sinistren Gespenstern, dem Vater (Thomas Piffka) und seinem Kumpel Coppelius (Hans Jürgen Schöpflin), die es in Nathanaels Kindheit bei alchemistischen Experimenten in einer Explosion zerrissen hat. Sind die halb komödiantischen, halb unheimlichen Figuren materialisierte Traumata, sind sie Boten aus einer dunklen Anderswelt?

Agneta Eichenholz (Clara) und Daniel Schmutzhard (Nathanael) in der E.T.A.-Hoffmann-Oper "Der Sandmann" von Andrea Lorenzo Scartazzini an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Agneta Eichenholz (Clara) und Daniel Schmutzhard (Nathanael) in der E.T.A.-Hoffmann-Oper „Der Sandmann“ von Andrea Lorenzo Scartazzini an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Der Zuschauer kann sich genauso wenig wie Nathanael selbst orientieren, die Ebenen überlagern sich, der Spuk mag eine transzendente Wirklichkeit haben oder sich aus einem wahnbefallenen Geist gebären. Loys Regiekunst transzendiert den scheinbaren Realismus in eine albtraumhafte Sphäre, in der das Groteske selbstverständlich und das Alltägliche absurd wirkt. Er hat mit Daniel Schmutzhard einen ausdrucksstark singenden und überzeugend agierenden Darsteller des Nathanael; Agneta Eichenholz wandelt als Clara und Clarissa virtuos auf der Trennlinie zwischen der besorgten, bestürzten Frau und der automatenhaften Kunstfigur.

Hartmut Keil und das Orchester leuchten die Facetten von Scartazzinis vielgestaltiger Musik mit der in Frankfurt üblichen Sorgfalt aus. Die Modernität der Romantik – hier wird sie nachvollziehbar. Das ist Oper von heute, packend, überzeugend, relevant. Zum Nachspielen empfohlen!

Im Falle von Benjamin Brittens „Paul Bunyan“ dürfte es schwieriger sein, die „Operette“ ohne Weiteres fürs Repertoire zu empfehlen. Das liegt nicht so sehr an dem 1941 uraufgeführten und von Britten erst 1975 in einer überarbeiteten Version wieder aus der Schublade geholten Stück. Sondern eher an den Bedingungen der Rezeption: Der Zuschauer muss schon sehr vertraut sein mit der säkularen amerikanische Mythologie des Super-Helden, mit dem Kolonisten-Optimismus der Gesellschaft und mit Klischees amerikanischer Populärerzählungen, um die Geschichte um den gigantischen Holzfäller – und die leise Ironie des Librettos von Wystan Hugh Auden – attraktiv zu finden.

Brigitte Fassbaender hat in ihrer Regie kluge Brücken gebaut und das Stück damit kurzweilig und vielschichtig erzählt. Ein riesiger, schrundiger Baum verdeckt zunächst die Bühne, bis das Licht die Spielfläche von Johannes Leiacker freigibt: ein Haufen löcheriger, zerbeulter Campbell’s Konservendosen (ein amerikanischer Konsum- und seit Andy Warhol auch ein Kunst-Mythos).

Paul Bunyan selbst bleibt körperlos; er manifestiert sich wie eine quasi-göttliche Stimme aus dem Irgendwo, mit wissender Ironie gesprochen von Nathaniel Webster. Zu sehen ist nur ein Mund, auf den Riesenstamm projiziert, mit blendend weißem Trump-Gebiss.

In den Kostümen Bettina Münzers wird das amerikanische Cowboy-Klischee ebenso zitiert wie Bunnies aus der Show oder Tiere aus dem Comic. Zwei unverfrorene Katzen – Julia Dawson und Cecelia Hall – tragen Mäusebälger als Handtaschen und singen lapidar-frivole Duette, aber ihre Kleidchen erinnern an Hausfrauen-Kittelschürzen. Sebastian Geyer verkörpert mit der Figur des Hel Henson den wortkargen Macho, dem man gerne abnimmt, dass er erst schießt und dann denkt.

Tiere auf der Bühne kommen immer gut: Julia Dawson (Moppet), Sydney Mancasola (Fido) und Cecelia Hall (Poppet) in Brittens "Paul Bunyan". Foto: Barbara Aumüller

Tiere auf der Bühne kommen immer gut: Julia Dawson (Moppet), Sydney Mancasola (Fido) und Cecelia Hall (Poppet) in Brittens „Paul Bunyan“. Foto: Barbara Aumüller

Die vielleicht spannendste Person aus Brittens groß besetztem Werk ist Johnny Inkslinger: ein Intellektueller, der sich zunächst um Geld und materielle Absicherung nicht schert. Doch auch er muss essen, und die pure Notwendigkeit macht ihn von Paul Bunyan abhängig: Er muss sich als Buchhalter verdingen und wird schließlich, als er den geisttötenden Job hinter sich lassen will, nach „Hollywood“ gelockt. Michael McCown macht deutlich, wie ein unabhängiger Geist seine Autonomie verliert. In der Unterhaltungsindustrie wirkt der frei sich wähnende Geist effektiv im Dienst kapitalistischer Verwertung. Brittens Blick auf das Amerika der Weltkriegszeit dürfte nicht zuletzt seinem eigenen und dem Schicksal anderer europäischer Komponistenkollegen geschuldet sein.

Einer dieser Kollege war Kurt Weill – und Brittens „Paul Bunyan“ erinnert streckenweise an die lehrstückhaften Werke aus Weills amerikanischer Zeit, etwa den „braven Soldaten“ Johnny Johnson. Britten setzt als Zwischenspiele Balladen im Country-Stil ein, in Frankfurt stilsicher vorgetragen und selbst auf der Gitarre begleitet von Biber Herrmann, einem Folk- und Blues-Sänger und Songwriter aus dem Rhein-Main-Gebiet.Tanz

Tanz auf der Dose: Johannes Leiackers attraktive Bühne für Brigitte Fassbaenders kluge Regie, hier eine Szene mit Michael McCown (Inkslinger) und Ensemble. Foto: Barbara Aumüller

Tanz auf der Dose: Johannes Leiackers attraktive Bühne für Brigitte Fassbaenders kluge Regie, hier eine Szene mit Michael McCown (Inkslinger) und Ensemble. Foto: Barbara Aumüller

Brittens Musik, vom Orchester beweglich, rhythmisch sensibel und mit Sinn für die leuchtkräftigen Farben und subtilen Zwischentöne gespielt, hat in Dirigent Nikolai Petersen einen aufmerksamen Anwalt gefunden. Sie erinnert an Weill, Gershwin und Cole Porter, an anglikanische Kirchenhymnen und Gilbert-and-Sullivan-Couplets, an melancholische Blues-Balladen und kernigen Folk. Vor allem aber behält sie in ihrer ironischen Zuspitzung und ihrem humorvoll gebrochenen Blick auf die Vorbilder ihren unverwechselbaren Britten-Charakter. „Getriebe, die knirschen“, nannte Leonard Bernstein diesen vertraut-verfremdeten Stil – und „Paul Bunyan“ ist reich an gekonnten Beispielen dafür.

Von daher gehörte diese amerikanische Operette dann doch hin und wieder in die Spielpläne, vor allem dann, wenn sich das eine oder andere Haus auf seine Britten-„Zyklen“ oder die „Pflege“ seines Werkes etwas einbildet.

Abgelegene Opern wie „Gloriana“ (vor Jahren in Gelsenkirchen), „Owen Wingrave“ (eindrucksvoll in Frankfurt und höchst gelungen am Theater Osnabrück) oder eben „Paul Bunyan“ eröffnen aufschlussreiche Blicke auf Brittens musikalische Kosmos und lassen sich, werden sie so wissend und bildmächtig inszeniert wie durch Brigitte Fassbaender in Frankfurt, auch dann verstehen, wenn der historische oder gesellschaftliche Background nicht mehr so unmittelbar einleuchtet wie etwa in „Peter Grimes“. Frankfurt erweitert damit seine Befassung mit Brittens Werk um eine faszinierende Facette.

Information und Aufführungstermine: www.oper-frankfurt.de




Ohne Profil: Essener „Norma“-Inszenierung erstickt in Belanglosigkeit

Große Gesten, wenig Inhalt: Katia Pellegrino als Norma in Vincenzo Bellinis Oper am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Große Gesten, wenig Inhalt: Katia Pellegrino als Norma in Vincenzo Bellinis Oper am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Norma ist sauer. Bisher war es gelungen, ihre gallischen Landsleute ruhig zu stellen. Jetzt regt sich der Widerstand gegen die römischen Besatzer. Die Geduld ist am Ende. Norma hat ein vitales Interesse, den Konflikt zu dämpfen: Die zur Keuschheit verpflichtete Priesterin pflegt seit Jahren eine verborgene Beziehung, noch dazu zu einem Römer, dem kommandierenden Prokonsul der Besatzungstruppen.

Noch einmal will sie die Lage unter Kontrolle halten: „Sediziose voci“, ihr Auftritt in Bellinis wohl berühmtester Oper, weist die aufrührerischen, kriegerischen Stimmen in die Schranken. Doch in der neuen „Norma“ am Aalto-Theater Essen, der ersten von nur fünf Neuinszenierungen der Saison, wendet sich Katia Pellegrino, ganz in Weiß, ans Publikum. So als ob der Unmut aus dem Essener Publikum und nicht aus den Reihen der brav angetretenen, ordentlich gereihten Gallier käme.

Was Tobias Hoheisel und Imogen Kogge in ihrer Regiearbeit präsentieren, mag Anhängern von „Werktreue“ angemessen vorkommen, ist aber tatsächlich weit von dem entfernt, was Vincenzo Bellini seinem Genius und Felice Romanis gekonnten Versen abgewonnen hat. Norma wird noch öfter das Parkett ansingen; auch der Römer Pollione und seine neue heimliche Geliebte Adalgisa werden in Hoheisels kalt glänzendem Bühnenbeton – oder sind es metallisch angestrahlte Bretter? – ihre Kantilenen brav aufgereiht von sich geben.

Zwischen zwei drehbaren Halbkreisen, die sich problemlos für die nächsten Premieren von „Lohengrin“, „Le Prophète“ oder  „Rigoletto“ wiederverwenden ließen, wird viel gestanden und würdig dahergeschritten. Der Chor bewegt sich nach den Mustern der italienischen Provinz der siebziger Jahre; ringende Hände und schräg gelegte Köpfchen wollen ein Drama szenisch vergegenwärtigen, in dem jede der flammenden Emotionen ins Extrem gesteigert wird. Denn die Schönheit der Melodien Bellinis darf nicht mit klassizistischer Gemessenheit verwechselt werden.

Für die Qualität einer Inszenierung – das muss gelegentlich betont werden – ist nicht entscheidend, ob sie sich aktueller politischer Chiffren oder der inzwischen auch zur Konvention erstarrter Versatzstücke des Regietheaters bedient. Man braucht Pollione nicht als Donald Trump oder Norma im billigen Top, um aus Bellinis Oper herauszudestillieren, was gerade als aktuell empfunden werden könnte. Man muss sich nicht den Konzepten anschließen, die in den letzten Jahren etwa in Bonn oder jüngst in Gelsenkirchen und Mainz zu packend zugespitzten, sicher auch anfechtbaren Deutungen geführt haben. Aber diese Inszenierungen hatten, was der Essener Premiere abgeht: Profil und Mut zur inhaltlichen Positionierung.

Norma (Katia Pellegrino) und Adalgisa (Bettina Ranch). Foto: Matthias Jung.

Norma (Katia Pellegrino) und Adalgisa (Bettina Ranch). Foto: Matthias Jung.

Hoheisel und Kogge packen ein Gesten- und Bewegungsrepertoire aus, das spätestens seit den neunziger Jahren ins Museumsdepot gehört. Wie die italienische Primadonna den Busen hebt und die Fäuste von sich streckt, erreicht nicht einmal minimale psychologische Glaubwürdigkeit. Als sich die beiden Damen, Norma und Adalgisa, in ihrem Duett im zweiten Akt am Souffleurkasten lagern wie Goethe in der Campagna, scheint der Gipfel dekorativer Belanglosigkeit erreicht. Doch weit gefehlt: Diese zweifelhafte Ehre gebührt dem orangeroten Licht, das Wolfgang Göbbel nach drei Stunden inspirationsloser Ausleuchtung zum Finale von hinten aufglühen lässt: der Scheiterhaufen! Der Abend der „großen Gefühle“, den Intendant Hein Mulders bei der Premierenfeier hervorgehoben hat, findet jedenfalls auf der Szene nicht statt.

Das war zum Glück musikalisch anders: Nicht so sehr bei Dirigent Giacomo Sagripanti, der das Orchester mit viel Liebe zur Melodie, aber oft nur beiläufigem Blick auf instrumentale Details und begrenzter Finesse der metrischen Flexibilität führt. Aber Jens Bingerts Choreinstudierung überzeugt nicht nur im martialischen Vorzeigestück des „Guerra! Guerra!, sondern auch im emotionalen Ausnahmezustand im Finale.

Unter den Solisten gelingt dem neuen Ensemblemitglied Bettina Ranch als Adalgisa die Balance zwischen technisch superbem, von feinem Glanz geadeltem Gesang und emotionaler Hingabe. Schöne Stimmen aus dem Ensemble hört man auch in den Nebenrollen: Albrecht Kludszuweits Tenor kann als Flavio unangespannt leuchten, Liliana de Sousa zeigt als Clotilda eine samtene Noblesse, die man in einer größeren Rolle gerne genauer studieren würde. Insung Sim kann als Oroveso nur wenige Kostproben eines klangvollen, abgerundeten Basses geben.

Die Rache findet nicht statt. Gianluca Terranova (Pollione) und Katia Pellegrino (Norma) am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Die Rache findet nicht statt. Gianluca Terranova (Pollione) und Katia Pellegrino (Norma) am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Katia Pellegrino hat 2012 in der legendären „Norma“-Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito in Stuttgart die Titelpartie gegeben. Dort waren die seelischen Kämpfe und Verwundungen der zweifachen Mutter, die ihr öffentliches Amt beschädigt, und der Priesterin, die ihre menschlichen Regungen verbergen muss, psychologisch detailliert ausinszeniert.

Pellegrino hat davon nichts mitbringen können, sie ist in Essen wieder auf das antiquierte Rollenbild mit seinen Primadonna-Zügen und seinem hohlen Heroismus festgelegt. Zunächst sieht es so aus, als trete sie in die Spur veristisch geprägter Norma-Darstellerinnen mit wuchtigem Timbre und von stilistischer Finesse nicht angekränkelten Tönen. Doch in der Belcanto-Probe von „Casta diva“ lässt sie mit einem gestützten, weich geformten Piano-Beginn aufhorchen und entwickelt einen schwellenden, satten, aber kaum einmal übertrieben üppigen Klang.

Auch die Duette mit Adalgisa und der große Monolog zu Beginn des zweiten Akts sind bei Pellegrino ausdrucksstarkes, mit technischer Präzision und expressivem Instinkt gestaltetes Singen. Das würde man gerne auch über den Pollione Gianluca Terranovas sagen, der ihm weit besser gelingt als sein Don Carlo an der Düsseldorfer Rheinoper. Aber in seinem Auftritt („Meco all’altar di Venere“) stellt er doch eher die Stimme aus, als an den Schattierungen zu feilen, mit denen er die unheimliche Traumvision einer gespenstisch gestörten Hochzeit hätte ausdrücken können. Und Terranovas Piani – die für seinen Gestaltungswillen zeugen – scheitern dann an mangelnder Formung und Stütze.

Am Ende wurde das Regieteam buhlos gefeiert; der Beifall zögerte nur kaum merklich und schwoll gleich wieder an, als sei es gleichgültig, wie diese Inszenierung Bellinis Oper an die Bedeutungslosigkeit verraten hat.

Aufführungsdaten und Karten: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/norma.htm




Heilige oder Rächerin: Elisabeth Stöpplers „Norma“ aus Gelsenkirchen nun in Mainz

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Ein aussichtsloser Konflikt, von Anfang an. Noch ist alles in der Schwebe, zu Beginn der Oper „Norma“ von Vincenzo Bellini. Der Status Quo ist prekär, aber gefestigt. Die zur Keuschheit verpflichtete Priesterin der Gallier kann seit Jahren ihre beiden Kinder verbergen. Und ihre Liebe zum Feind ebenso, denn der Vater ist kein anderer als der römische Prokonsul Pollione, der die verhassten Besatzer anführt. Noch kann Norma den bewaffneten Konflikt verhindern, aber dann eröffnet ihr die junge Novizin Adalgisa eine schockierende Erkenntnis …

Bellinis Oper hat in den letzten zehn Jahren eine bemerkenswerte Wiederkehr auf deutschen Bühnen erlebt. Ausweglos gefangen zwischen den Erwartungen und Tabus einer nach Kampf und Krieg gierenden archaischen Gesellschaft und der gescheiterten Liebe zu einem Mann, der ihr Volk unterdrückt, hat Norma mehr zu bieten als den Selbstzweck ebenmäßiger Legati und perfekt geformter Koloraturen.

Die Nähe dieser zerrissenen Frau zur gedemütigten Kindsmörderin Medea ist oft beobachtet worden. Wohin sich Norma wendet, ob sie kompromisslose Rächerin oder heroisches Opfer wird, bleibt bis zum letzten Moment offen. Und dazwischen liegen zwei Stunden eines inneren Konflikts, der in seiner ganzen Unerbittlichkeit und Ratlosigkeit von der Musik und der Dichtung Felice Romanis in wichtigen psychologischen Facetten ausgebreitet wird.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben in ihrer legendären Stuttgarter Inszenierung 2002 in erschütternden, schlüssigen Bildern Bellinis Oper endgültig aus dem Mief plüschiger Historisierung befreit, ohne ihr eine zwanghafte Aktualisierung aufzudrücken. Das hatte Jorge Lavelli schon 1983 in Bonn vor, ist aber mit Mara Zampieri als Revoluzzerin auf einem Lastwagen längst nicht so gut gefahren.

An Rhein und Ruhr gab es in den letzten Jahren mehr (Dortmund, Bonn) oder weniger (Düsseldorf) überzeugende Versuche, sich Bellinis nach eigenem Bekunden bester Oper zu nähern. In der letzten Spielzeit hat sich dann Elisabeth Stöppler in Gelsenkirchen in Hermann Feuchters abstraktem Bühnenraum ganz auf die Personen fokussieret. Norma ist das Kraftzentrum, um das sich alle drehen.

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Jetzt hatte die Produktion am Staatstheater Mainz Premiere, wo Stöppler als Hausregisseurin Stil und Spielplan prägen kann – und das nicht zum Nachteil eines in dieser Spielzeit besonders vielfältigen Angebots. Noch stärker als im Musiktheater im Revier konzentriert sie sich auf die Beziehungen der Personen, schwächt Nebenwege wie eine angedeutete homoerotische Verbindung zwischen Pollione und seinem Offizier Flavio ab, arbeitet vor allem Normas Schwanken zwischen impulsiver Liebe zu ihren Kindern und kalkulierender Berechnung ihrer Rache deutlich heraus. Geblieben sind die von Flavio (wie in Gelsenkirchen: Lars-Oliver Rühl) hervorragend rezitierten, den Gang des Stücks zerreißenden Texte von Pier Paolo Pasolini: bewusst gelegte Stolpersteine, die aber eher stören als vertiefen. Geblieben sind auch szenische Symbole wie das nackte Opfer, das am Anfang schon die Sichel am Hals spürt, dann aber von Norma erlöst wird. Ein anrührendes Bild vom Verletzlichkeit und Ausgesetztsein.

Dass in Norma am Ende die Menschlichkeit siegt, wird nicht heroisiert, sondern wirkt fast, als sei ihre Kraft letztendlich erschöpft. Zu Beginn die Hohepriesterin in nachtblauem, langem Kleid, zeigt das Kostüm (Nicole Pleuler, sonst mit nicht immer glücklicher Hand) Normas Wandel zur Kämpferin und schließlich zum idealisierten Opfer. Nicht Norma selbst stilisiert sich dazu: Statt auf dem Scheiterhaufen zu sterben, wird sie von der Gesellschaft im weißen Ornat einer Heiligen erhoben.

Nadja Stefanoff, die Mainzer Norma, spielt mit hoheitsvoll schlanker Gestalt die Facetten der Rolle aus – mit erheblichem Stimm-, aber auch Körper-Einsatz: von der selbstbewussten Priesterin bis zur gebrochenen Frau, von der wild entschlossenen Rache bis zum selbstzerstörerischen Aufgeben. Musikalisch beglaubigt Stefanoff ihre Rolle weniger durch flexibel-weichen Schöngesang, sondern eher durch einen kalt glänzenden, ausdrucksstarken, dynamisch facettenreichen Ton, der auf seelische Schwankungen reaktionsschnell eingeht und sie – technisch abgesichert – im Klang vernehmbar macht. Eine Norma, die man so schnell nicht vergisst.

Die Adalgisa der Marie-Christine Haase hat gegen so viel Dominanz keine Chance. Stimmlich ist sie der Partie – die der kritischen Rekonstruktion der Urfassung gemäß einen leichten Sopran vorsieht – vollkommen gewachsen. Aber die Regie Elisabeth Stöpplers gesteht ihr wenig eigenes Gewicht zu, trotz der wundervollen Duette der beiden Frauen. Die Nebenrolle der Clothilde, der eingeweihten Dienerin Normas, ist in ihr aufgegangen – das lässt den Aspekt der Freundschaft zu Norma hervortreten. Auch Oroveso, der Vater Normas, hat wenig eigenständiges Gewicht; Dong.Won Seo mit einer rauen, dem Ideal des „basso cantante“ nicht eben gewogenen Stimme, ist nicht der Sänger, der die Figur aus sich heraus wachsen ließe.

Bleibt Pollione, der Urheber des Konflikts: Joska Lehtinen gibt ihm den eindimensionalen, leicht gaumig gefärbten Ton, der einem auf den ersten Blick ziemlich einfältigem Macho angemessen ist. Auf den zweiten Blick hätte man sich für die gespenstische Traumschilderung von „Meco all’altar di Venere“ mehr Farbe, für den verhärteten Trotz des Finales mehr Furor gewünscht. Was von diesem Mann zu halten ist, macht Stöppler am Ende deutlich: Er stiehlt sich einfach davon.

Sebastian Hernandez-Laverny hat mit dem Chor des Staatstheaters eine gewaltige Aufgabe achtbar gemeistert, auch wenn die Stimmgruppen Mühe haben, sich zu koordinieren, wenn die Sänger über die ganze Breite der Bühne hoch oben auf einer Brüstung stehen müssen. Das Philharmonische Staatsorchester offenbart wenig Schwächen, aber auch wenig Subtilität im Ton. Clemens Schuldt dirigiert wie viele andere eine rasche Ouvertüre und differenziert die Tempi nicht, wodurch der gerade Takt Bellinis in die Nähe eben jener „Leierkastenmusik“ rückt, die der italienischen Oper der Zeit gerne unterstellt wurde.

Wenn Schuldt die Sänger zu begleiten hat, lässt er das Orchester immer wieder zu laut spielen, lässt sich aber auf den Atem der „melodie lunghe“ ein, phrasiert sinnig und arbeitet vor allem die instrumentalen Details heraus, die in der kritischen Fassung für farbige Nuancen sorgen. Dass die Tutti arg knallig wirken, ist nicht nötig; das Martialische stellt Bellini nur im berühmten „Guerra“-Chor aus. Elisabeth Stöppler ist in Mainz eine starke Antwort auf die ambitionierte „Norma“ von Gabriele Rech am anderen Ufer des Rheins, in Wiesbaden (2015), gelungen.

In dieser Spielzeit hat Bellinis „Norma“ noch in Essen (8. Oktober) und in Nürnberg (13. Mai 201) Premiere. Weitere Vorstellungen in Mainz am 1. und 9.Oktober, 1., 17. und 20. November.

Info: www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/oper1617/norma




Festspiel-Passagen: „La Donna del Lago“ in Pesaro zeigt, was bei Rossini zu entdecken ist

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Als 1980 das Rossini Festival in Pesaro, der Heimatstadt des Komponisten, gegründet wurde, gehörte der einstige Superstar unter den Musikschöpfern noch zu den großen Unbekannten: Die Literatur war überholt und geprägt von Anekdotischem, zuverlässiges Notenmaterial gab es kaum, Aufführungen beschränkten sich auf den allgegenwärtigen „Barbier von Sevilla“ und dessen – damals noch nicht lange wiederentdeckte – buffoneske Flügelwerke „La Cenerentola“ und „Die Italienerin in Algier“.

In Deutschlands dichter Theaterszene waren zumal die ernsten seiner fast 40 Opern kein Thema. Wenn überhaupt, spielte man einstige Mega-Erfolge wie „Tancredi“, „Semiramide“ oder „Guillaume Tell“, weil man virtuose Gesangsspezialisten wie Marilyn Horne oder Montserrat Caballé präsentieren wollte.

Die Gründung des Festivals „Rossini in Wildbad“ und seine spätere inhaltliche Absicherung durch den seit 25 Jahren unermüdlich tätigen Jochen Schönleber setzte ein Zeichen: Die mühevolle wissenschaftliche Erschließung des Œuvres Rossinis, in Pesaro durch die Fondazione Rossini mit ihrer kritischen Edition der Werke und des Briefwechsels geleistet, findet in dem Kurbad in Württemberg einen lebendigen theatralen Widerhall: In manchmal abenteuerlich improvisierten szenischen Aufführungen eröffnete sich einem staunenden Publikum eine neue Welt eleganter, spritziger, einfallsreicher Musik, vorgetragen von Sängern, die im Lauf der Zeit das technische Rüstzeug für Rossinis Belcanto immer sicherer beherrschten. Die Impulse aus Pesaro kamen in Deutschland an, fanden aber kaum Widerhall. Erst in jüngerer Zeit erwachte die Aufmerksamkeit für das gesamte Werk Rossinis, wagen sich neben Mannheim („Tancredi“) oder Frankfurt („La gazza ladra“) selbst mittlere und kleinere Bühnen wie Gelsenkirchen und Nürnberg („Guillaume Tell“) Rostock („Ermione“) oder Würzburg (ebenfalls mit der „diebischen Elster“) an den weniger bekannten Rossini.

Doch dass ein so tiefgründiges Werk wie „Sigismondo“ – in diesem Jahr die zentrale Produktion in Bad Wildbad – ebenso unbeachtet bleibt wie die köstliche Satire „La pietra del paragone“ – 2017 in Pesaro auf dem Plan – ist kaum verständlich und keineswegs mit der Qualität der Werke zu rechtfertigen.

Immerhin: Die Zeiten, in denen Rossini als irgendwie genialer, aber wenig tiefgründiger Vielschreiber galt, der sich rechtzeitig vor dem Bannstrahl der musikalischen Entwicklung in seine Gourmet-Küche zurückgezogen hatte, sind vorbei. Beide Festivals haben entscheidend dazu beigetragen, den Firn vom Bild des „Schwans von Pesaro“ abzutragen und seine Persönlichkeit wie seine vielseitige Kunst in frischen Farben strahlen zu lassen.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Dass dennoch einiges zu tun bleibt, zeigt ein Besuch beim „Original“, dem Rossini Festival Pesaro. Wo am Strand Teutonen, aber auch Angelsachsen und Moskowiter grillen, flanieren durch die Einkaufsmeile – Via Rossini, wie sollte sie sonst heißen – die Rossinianer, vorbei an der prächtigen Gründerzeitpost an der Piazza del Popolo und am Geburtshaus Rossinis, heute ein Museum. Das Ziel ist das Teatro Rossini, ein hübsches, klassisches, 1818 erbautes Theater. Dort und in der „Arena adriatica“, einem umgebauten Sportpalast, finden die Vorstellungen an den zwölf Festival-Tagen statt.

Das Festival stand diesmal im Zeichen des 20-jährigen Pesaro-Jubiläums von Juan Diego Flórez. 1996 begann der Tenor mit der kristallen schimmernden, technisch phänomenal abgesicherten Stimme seine Karriere an der Adria – und beim irischen Wexford Opera Festival in einer Oper eines anderen großen Unbekannten des 19. Jahrhunderts: „L’Etoile du Nord“ von Giacomo Meyerbeer.

Flórez war der Star in Rossinis „La Donna del Lago“, die in einer ambitionierten Regie von Damiano Michieletto in der Sportarena Premiere hatte. Für die Rossini-Rezeption ein gutes Zeichen: Der Tenor mag der prominenteste im Sängerteam sein, aber er agierte als Gleicher unter Gleichen. Auch der vorher schon in Wildbad bewunderte Amerikaner Michael Spyres – einer der seltenen „baritenori“, der scheinbar mühelos drei Oktaven durchmisst – wurde gefeiert.

Die beiden Sängerinnen Salome Jicia und Varduhi Abrahamyan standen ihnen in nichts nach: Die Damen sind ein Beispiel dafür, wie sich Pesaro in der Accademia Rossiniana unter Leitung des bald 90-jährigen Alberto Zedda seinen eigenen Sängernachwuchs heranzieht. In den Kursen bekommen junge Interpreten den letzten Schliff, um den schwindelerregenden technischen und stilistischen Anforderungen der Rollen gerecht zu werden.

Melancholische Erinnerung eines gealterten Ehepaares

„La Donna del Lago“ war mehr als ein Sängerfest. Als die Oper 1819 in Neapel uraufgeführt wurde, war sie auf der Höhe der literarischen Entwicklung der Zeit. Mit Sir Walter Scotts „The lady of the lake“ benutzten Rossini und sein Librettist Andrea Leone Tottola einen modernen romantischen Stoff eines in ganz Europa angesagten Unterhaltungsautors. Aus der Geschichte um eine wehmütig umflorte Liebe in politisch bewegten Zeiten (Scott bezieht sich auf Jakob V. von Schottland, Vater von Maria Stuart und dessen Kampf gegen schottische Clans und das von der katholischen Kirche abtrünnige England Heinrichs VIII.) macht Michieletto die melancholische Rückerinnerung eines gealterten Ehepaares.

Elena, Tochter des Clanchefs Duglas, soll eigentlich aus politischen Gründen Rodrigo heiraten, den Anführer eines anderen mächtigen Familienverbands. Heimlich liebt sie jedoch den jungen Malcom. Der König, der ihre Schönheit rühmen hörte, trifft sie inkognito an einem Gewässer. Zwischen dem Unbekannten und dem „Fräulein vom See“ entwickelt sich tiefe Sympathie. Als Duglas und Malcom, von königlichen Truppen überwältigt, gefangen gesetzt werden, will Elena mit einem Ring, den ihr der Unbekannte gab, ihre Befreiung erwirken und erkennt den König. Der verzichtet auf das Mädchen und führt die Liebenden zusammen.

Ein Opernabend der Extraklasse

Zu Beginn, es sei gestanden, wirkt Michielettos Exposition ein wenig manieriert: Ein altes Ehepaar sitzt in einem leeren Raum, auf einem Tisch ein Bild, davor schwarze Blumen. Die Frau trauert vor einem Konterfei – und wir ahnen, es steht für eine unerfüllte Liebe. Der alte Herr erregt sich, schüttet das Blumenwasser weg, wirft die Blüten auf den Boden, verlässt den Raum. Bald zeigt sich: Die stumme Handlung ist der Schlüssel zu Michielettos Konzept, „La Donna del Lago“ als ein Stück über ein gelebtes Leben zu inszenieren. Die ausgeklügelte Bühne Paolo Fantins öffnet einen zweiten Raum, ein verfallenes, herrschaftliches Haus: Die Decke ist eingebrochen, Wurzeln ragen in den Raum, die Scheiben der Fenster sind gesplittert. Man fühlt sich an verlassene Ruinen wie Moore Hall in Irland erinnert, vermooste Zeugnisse einer imaginierten einstigen „heilen“ Welt.

Der magische Realismus Fantins und des Kostümbildners Klaus Bruns schafft einen Ort der Erinnerung, der Fantasie, der verschütteten und wiedererwachenden Gefühle; Alessandro Carlettis Licht setzt mit unwirklichem Blau Zäsuren und bricht vermeintlich Reales. Schilfumstandene Teiche lassen den Raum traumhaft-absurd und symbolisch geladen erscheinen. Gegenwart und Erinnerung verschwimmen ineinander: Michieletto setzt für Elena und Malcom – das alte Paar – Doubles ein, mit denen die Interaktion der Zeitebenen erfahrbar wird.

Rossinis Geburtshaus in Pesaro. Foto: Werner Häußner

Rossinis Geburtshaus in Pesaro. Foto: Werner Häußner

Der europaweit gefragte italienische Regisseur schafft in dieser brillanten Konzeption, ein wesentliches Element des Versromans schlüssig zu übersetzen: Denn Scott schreibt nicht so sehr eine poetische Elegie über Erfüllung und Verzicht in der Liebe, sondern reflektiert – wehmütig und verklärend – die schmerzlichen Risse und Brüche in Schottlands Geschichte. Michieletto verfällt nicht dem historisierenden Fehlschluss, Rossinis Oper zu „Braveheart“ zu machen. Er übersetzt Scotts nostalgisches Geschichtsbild in das innere Schicksal von dessen Figuren, einfühlsam gedeutet von Rossinis Musik.

Es ist ein Opernabend der Extraklasse, an dem die ausgezeichneten Sänger, aber auch Dirigent Michele Mariotti sowie Chor und Orchester des Teatro Communale di Bologna entscheidend Anteil haben. Selten hört man Rossinis Musik so beweglich und transparent, aber auch so achtsam auf ihre damals modernen romantischen Ausdruckswerte befragt wie an diesem Abend.

Noch drei andere Bühnenwerke präsentierte das Festival an der Adria in diesem Jahr: „Il Turco in Italia“ ist eine der bekannteren hintersinnigen Komödien Rossinis; „Ciro in Babilonia“ die erste aufgeführte ernste Oper des zur Zeit der Uraufführung 1812 Zwanzigjährigen. Dazu kam „Il Viaggio a Reims“ als Produktion mit jungen Sängerinnen und Sängern. Im nächsten Jahr sollen zwischen 10. und 22. August „Le Siège de Corinthe“ und die erwähnte Satire „La Pietra del Paragone“ aufgeführt werden, dazu kommt die Wiederaufnahme von „Torvaldo e Dorliska“.

Außerdem organisiert die Fondazione Rossini vom 9. bis 11. Juni 2017 einen Kongress, bei dem die junge Generation der Musikologen zu Wort kommen und neue Methoden und Zugänge zu Rossinis Werk und seiner Rezeption vorgestellt werden sollen. Das Festival verkündet in diesem Jahr ein bisher nie erreichtes Rekordhoch bei den Einnahmen (1,16 Millionen Euro) und den Besuchern (17.250, davon 71 Prozent aus dem Ausland) – und das bei stetigen Kürzungen der Mittel und der ständigen Unsicherheit durch die chaotische Kulturpolitik des italienischen Staates.

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Ausblick:

Es bleibt dabei: Der „Barbier von Sevilla“ dominiert auch in der Spielzeit 2016/17 die deutschen Spielpläne in Sachen Rossini. Aufgeführt wird er unter anderem in Bremen (Premiere am 22. Oktober), in Essen (ab 16. September) und in Mönchengladbach im Theater Rheydt (ab 24. September). Herrlich absurd die Spielplangestaltung in Berlin: Dort zeigen alle drei Opernhäuser als einzige Rossini-Oper den „Barbier“ – die Komische Oper trägt zu diesem Einerlei auch noch eine Premiere bei (9, Oktober, Regie Kirill Serebrennikow).

Der „andere“ Rossini lässt sich zum Beispiel bei den Bregenzer Festspielen erleben, wo Lotte de Beer die biblische Oper „Mosé in Egitto“ inszeniert (Premiere am 20. Juli 2017). Oder in Mannheim, wo am 9. Oktober Cordula Däupers asketische Inszenierung von „Tancredi“ wiederaufgenommen wird. Am 12. Februar 2017 hat an der Bayerischen Staatsoper München „Semiramide“ Premiere (Regie: David Alden, Musikalische Leitung: Michele Mariotti). Um „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ zu erleben, muss man zwischen 17. und 28. März 2017 das Theater an der Wien in Österreichs Hauptstadt besuchen.

 

 

 




Projekt „Ruhr Bühnen“: Elf Theater „unter einem Dach“ – leider nur die Etablierten

Von unserem Gastautor Werner Streletz (Schriftsteller und Journalist in Bochum):

„Nachhaltigkeit“ hatten sich die Macher des Kulturhauptstadtjahres 2010 auf die Fahnen geschrieben. „Ruhr 2010“ sollte nicht nur ein zwölfmonatiges Feuerwerk abbrennen, sondern auch langfristig Wirkung zeigen. Die Kunstmuseen an der Ruhr arbeiten schon geraume Zeit zusammen, jetzt folgen die Theater.

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

„Ruhr Bühnen“ ist das Zusammenwirken von nicht weniger als elf Bühnen des Ruhrgebiets betitelt – vom kleinen Schlosstheater in Moers bis zum Schauspielhaus Bochum. Den ersten Schwerpunkt dieses neuen Kulturnetzwerkes, das finanziell gut ausgestattet ist (fast zwei Mio. Euro in drei Jahren) und das jetzt im Theater Oberhausen vorgestellt wurde, bildet das gemeinsame Marketing, also die vereinigte Werbetrommel. Inhaltlich wird anschließend ein erster Versuch im Herbst 2017 gestartet, wenn bei einer Theaterreise durchs Ruhrgebiet jeweils Inszenierungen der beteiligten Bühnen besucht werden können.

Durch „Ruhr Bühnen“ soll das eigenständige Profil des jeweiligen Theaters allerdings nicht im Geringsten angekratzt werden. Deren Autonomie bleibt ungeschmälert erhalten.

Derzeit sind im Übrigen nur die etablierten kommunalen Bühnen des Reviers unter dem neuen Dach versammelt. Und wie sieht es mit der freien Szene aus, in Bochum zum Beispiel mit dem Prinz Regent Theater oder dem Rottstr5-Theater? Eine einzelne Off-Bühne hätte wohl keine Chance, bei den „Ruhr Bühnen“ mitzumachen und damit vom Geldregen zu profitieren, so ist während der Pressekonferenz zum Projekt „Ruhr Bühnen“ zu erfahren. Nur bei einem Zusammenschluss von mehreren freien Theatern bestünde die Möglichkeit einer Mitgliedschaft. Kurzum: Freie Fahrt (bisher leider nur) für die Etablierten!

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Info

Zu den „Ruhr Bühnen“ gehören folgende Häuser:
Schauspielhaus Bochum, Theater Dortmund, Deutsche Oper am Rhein im Theater Duisburg, PACT Zollverein in Essen, Theater und Philharmonie (Tup) Essen, Musiktheater im Revier (Gelsenkirchen), Theater Hagen, Schlosstheater Moers, Ringlokschuppen Mülheim, Theater an der Ruhr in Mülheim, Theater Oberhausen.





Festspiel-Passagen: „Holländer“ in Bayreuth zeigt, wie Kommerz das Leben banalisiert

Schöne banale Warenwelt: Szene in der "Spinnstube" mit Christa Mayer (Mary). Foto: Enrico Nawrath

Schöne banale Warenwelt: Szene in der „Spinnstube“ mit Christa Mayer (Mary). Foto: Enrico Nawrath

Der „Fliegende Holländer“ in der Inszenierung Jan Philipp Glogers wirkte bei den Bayreuther Festspielen ein wenig wie das Aschenputtel unter den glanzvoll aufpolierten Schwester-Inszenierungen.

Da ist der „Ring“ mit den grandiosen Bühnenbildern Aleksandar Denićs, von Frank Castorf in postmoderner Assoziationslust bevölkert, der „Tristan“ Katharina Wagners mit seiner radikalen Dekonstruktion der transzendierenden Macht der Liebe als bloßer Projektion. Und Uwe Eric Laufenbergs „Parsifal“ als eine zwischen hysterischen Erwartungen und hämischer Geringschätzung zerrissene Neuinszenierung, deren Kern anscheinend über eine ziemlich anfechtbare Gleichung (Religionen begraben = Probleme gelöst) nicht hinauskommt.

Dieser „Holländer“ hat keinen Skandal gemacht, im Premierenjahr 2012 nicht, und in seinem hervorragend durchgearbeiteten Wiederauftauchen in der letzten Donnerstag vergangenen Festspielzeit auch nicht. Vielleicht fehlt es ihr einfach an intellektuellem Mumpitz und postmodernem Mummenschanz, vielleicht ist Gloger nicht prominent genug, um einen Aufreger zu platzieren, vielleicht mangelt diesem „Holländer“ jenes Quäntchen Glamour, das die Originalitätssucht einer kurzatmigen Kritik ebenso anlockt wie es ein auf Sensation geeichtes Publikum befriedigt.

Glogers Inszenierung – und das ist ihre Qualität – ist unaufgeregt, geht in die inhaltliche Tiefe statt in die mediale Breite. Sie ist Zustandsbeschreibung und Vision zugleich – von einer Welt neoliberaler Globalisierung und Vernetzung, in der Menschen zu Cyborgs mutiert sind, in der die Kraft einer befreiten, unbedingten, transzendierenden Liebe auf das Format des Verwertbaren heruntergebrochen wird.

In Christof Hetzers Bühne steckt der Holländer in dem fest, was man „mit Zahlen darstellen“ kann. Digitale Datenströme durchzucken blasse Lichtleiter, auf elektronischen Anzeigern rauschen Zahlen vorüber. Unter den norwegischen Geschäftsleuten um Daland in ihren konventionell graublauen Anzügen ist der Holländer ein Fremdkörper: Kostümbildnerin Karin Jud kleidet ihn, als er mit dem Rollkoffer der von Terminen getriebenen Ahasvers der globalen Verkehrsströme erscheint, in einen Mantel, der im Schnitt an die negativen Helden des 19. Jahrhunderts erinnert, später in einen metallisch schimmernden Business-Dress, am Ende, in der erlösenden Umarmung mit Senta, in eine unauffällige Hemd-Hose-Kombination: Aspekte der Herkunft und Momente der Entwicklung der Figur spiegeln sich im Kostüm wider.

"Wird sie mein Engel sein?" - "Der Fliegende Holländer in Bayreuth mit Ricarda Merbeth (Senta) und Thomas J. Mayer (Holländer). Foto: Enrico Nawrath

„Wird sie mein Engel sein?“ – „Der Fliegende Holländer in Bayreuth mit Ricarda Merbeth (Senta) und Thomas J. Mayer (Holländer). Foto: Enrico Nawrath

Die Welt der Daland-Firma ist auf Produktivität geeicht. Doch gibt es eine Außenseiterin, die sich konsequent dem Zwang der Erschaffung von Banalität – repräsentiert durch die Ventilatoren, die auf harmloses Zimmer-Format reduzierte Elementargewalt des Sturmes – entzieht: Senta bildet sich selbst eine Welt, gibt ihrem Suchen eine Richtung, die sie mit der Sehnsucht des Holländers „nach dem Heil“ verbindet.

Eine Puppe aus Pappe steht auf der Höhe des Hügels aus Schachteln, den sich Senta als Flucht- und Rückzugsort errichtet hat. Genau an dieser Stelle erscheint der Holländer in Dalands Haus, eine Verkörperung dessen, was Senta sich in ihrem Inneren erträumt. Sie legt sich selbst gebastelte Flügel an – nicht die Schwingen eines Engels, sondern die zerzausten Flügel des Todes, denn der Tod ist für das getriebene Gespenst die Pforte der Erlösung und des Heils. Den magischen Moment des ersten Blicks, die intimen Augenblicke der Begegnung, hat Gloger nun überzeugender als vor vier Jahren herausgearbeitet und mit der Idee der Inszenierung verbunden.

Das Ende zieht den nachkomponierten „Erlösungsschluss“ Wagners heran und vermeidet gleichzeitig eine ungebrochen versöhnliche Sicht auf die utopische Aktion der beiden, diese Welt aus Kapital und Material überwindenden Menschen: Der Steuermann fotografiert die Vereinigung von Senta und Holländer im Tode – und zur harfendurchfluteten Verklärungsmusik Wagners verpacken eifrige Arbeiterinnen das neue Produkt: Kitschfiguren des Paares. Der Coup der Inszenierung erfasst sehr genau die ökonomische Banalisierung großen Ideen und geistiger Entwürfe. Die „wahre Liebe“ Wagners, eine transzendentaler Begriff, kommt in solch schlichtem Materialismus nur als herziger Abklatsch vor.

Für die Produktion festgehalten: Der Steuermann (Benjamin Bruns) fotografiert das Paar in der Entrückung des Todes. Foto: Enrico Nawrath

Für die Produktion festgehalten: Der Steuermann (Benjamin Bruns) fotografiert das Paar in der Entrückung des Todes. Foto: Enrico Nawrath

Das Dirigat dieses „Fliegenden Holländers“ hat der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf, Axel Kober, von Christian Thielemann übernommen. Er ästhetisiert nicht, er pauschalisiert eher. Wenn er Details hervorheben lässt, weiß man nicht immer, wozu. Wenn, wie in der Ouvertüre, Linien unterhalb der Melodiestimmen verschwimmen, weiß man auch nicht, warum. Auf der anderen Seite stehen Kobers Sinn für Kontraste und angemessene, unverkünstelte Tempi. Was dem Dirigat an Tiefenschärfe abgeht, gleicht der phänomenale Chor Eberhard Friedrichs auf der Bühne aus. Klangdramaturgie und Präzision wecken pure Begeisterung.

Der Sänger des geisterhaften Kaufmanns aus den Niederlanden ist Thomas J. Mayer, seit einigen Jahren ein gefragter Wotan und Telramund. Er legt die Figur dunkler, geheimnisvoller an als der Premieren-Holländer Samuel Youn, singt aber auch nicht freier und strömender als sein Vorgänger. Die Stimme bleibt rau, angestrengt in der Höhe, ohne Reserve für das Finale. Bei Ricarda Merbeth, der Hügel-Senta seit 2014, vermisst man unangestrengtes Singen, hört einen flackernden Sopran, dessen Vibrato Artikulation und Tongestaltung verschlingt.

Auch der vielgefragte Andreas Schager – der Titelheld in der „Parsifal“-Neuinszenierung – bleibt als Erik hinter den Möglichkeiten der Partie zurück. Als Hausmeister im grauen Kittel versucht er vergeblich, seinen braven, ambitionslosen Liebes-Begriff der zum Höchsten gestimmten Senta zu erklären – freilich nicht frei und mit Schmelz, sondern laut und kantig, als gelte es, gegen das Schicksal anzuschreien. Christa Mayer hat als Mary wenig Gelegenheit, Eindruck zu machen.

Abendlich leuchtet das Festspielhaus mit seiner frisch renovierten Fassade. Foto: Werner Häußner

Abendlich leuchtet das Festspielhaus mit seiner frisch renovierten Fassade. Foto: Werner Häußner

Der sängerische Glanz, wie ihn Bayreuth eigentlich erwarten lassen sollte, geht in diesem „Holländer“ von den Rollen aus, die sonst eher beiseite stehen: Der Daland des Peter Rose ist klug charakterisiert, stimmlich souverän und in der Übereinstimmung von szenischer und vokaler Geste vorbildlich.

Benjamin Bruns, der Steuermann seit der Premiere 2012, brilliert auch in diesem Jahr nicht nur mit entspanntem, differenziertem Singen, sondern hat auch die Nuancen perfektioniert, mit denen er den Helfer Dalands als ungerührten Agenten des Kommerzes charakterisiert. Musikalisch also eher blass, bleibt Wagners – anachronistischerweise immer noch – erste für Bayreuth zugelassene Oper wegen der solide und überzeugend erarbeiteten szenischen Lösung Glogers sehenswert.

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Ausblick:

Bei den Festspielen 2017 steht der „Fliegende Holländer“ nicht auf dem Spielplan. Die Eröffnungsoper des nächsten Jahres sind „Die Meistersinger von Nürnberg“, inszeniert von Barrie Kosky, von dem in Essen in der bald beginnenden Spielzeit wieder „Tristan und Isolde“ ab 25. Februar 2017 zu sehen ist. Weiter im Bayreuther Festivalplan sind Katharina Wagners „Tristan“, Uwe Eric Laufenbergs „Parsifal“ sowie noch einmal drei Zyklen des „Ring des Nibelungen“ in der Inszenierung Frank Castorfs. Der schriftliche Vorverkauf beginnt am 15. Oktober.

Jan Philipp Gloger ist der Regisseur des Essener „Barbiere di Siviglia“. Die Oper von Gioacchino Rossini wird wieder ab 16. September gezeigt und bleibt mit neun Vorstellungen die gesamte Spielzeit über im Repertoire.

Wer die Geschichte des verfluchten Seefahrers in Bayreuth nicht sehen konnte: Die Saison 2016/17 wird ein richtiges „Holländer“-Jahr. Abzusehen bleibt, ob die Neuinszenierungen wirklich viel Substanzielles auf die Bühne bringen, oder ob es nur verquält nach Originalität suchende Wagner-Exerzitien ehrgeiziger Regisseurinnen und Regisseure geben wird.

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Eine Auswahl an bevorstehenden „Holländer“-Premieren und Wiederaufnahmen:

23.09.16: Halle, Regie Florian Lutz, Musikalische Leitung Josep Caballé Domenech

01.10.16: Dessau, Regie Jakob Peters-Messer, Musikalische Leitung Markus L. Frank

20.10.16: Antwerpen, Regie Tatjana Gürbaca, Musikalische Leitung Cornelius Meister

29.10.16: Bremerhaven, Matthias Oldag, Musikalische Leitung Marc Niemann

08.01.17: Stuttgart, Regie Calixto Bieito, Musikalische Leitung Georg Fritzsch (WA)

21.01.17: Magdeburg, Vera Nemirova, Musikalische Leitung Kimbo Ishii

11.02.17: Hannover, Regie Bernd Mottl, Musikalische Leitung Ivan Repušić

06.05.17: Hagen, Regie N.N.

12.05.17: Düsseldorf, Regie Adolf Dresen, Musikalische Leitung Axel Kober (WA)

20.05.17: Frankfurt, Regie David Bösch, Musikalische Leitung Sebastian Weigle (WA)




Skepsis und Erstarrung – Johan Simons deutet zum Triennale-Auftakt Glucks Oper „Alceste“

Foto: JU/Ruhrtriennale

Festhalten am Sitzmöbel: Der Chor MusicAeterna in Johan Simons‘ Gluck-Inszenierung. Foto: JU/Ruhrtriennale

Die RuhrTriennale hat begonnen, es ist die zweite, die Johan Simons verantwortet, und wie bereits im Jahr zuvor will sie dem idealistischen Motto „Seid umschlungen!“ folgen. Die Fokussierung auf diesen Appell aus Schillers „Ode an die Freude“, mithin auf des Dichters Humanismus, scheint dringlicher denn je. Krieg und Terrorismus, Hass und Extremismus – wer, wenn nicht ein Kunstfestival, sollte sich diesen schaurigen Auswüchsen des Zusammenlebens so trotzig wie mutig entgegenstellen.

Carolin Emcke jedenfalls, in ihrer beachtenswerten Rede zur Eröffnung des Festivals, sieht Musik, Theater und Tanz als geradezu prädestiniert an, in diesen „finsteren Zeiten“ ans Werk einer Re-Humanisierung zu gehen. Die Journalistin und Autorin, die in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, setzt hinter die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dicke Fragezeichen, dies durchaus im Sinne der Triennale: Diese zentralen Begriffe der Aufklärung seien nicht nur vielfach bedroht, sondern auch im Gebrauch zu Worthülsen verkommen. Es brauche, eben mit Hilfe der Künste, eine Übersetzung dieser Normen in Anwendungen, „es müssen Begriffe in Erfahrungen übersetzt werden, damit sie vorstellbar werden in ihrer Substanz, damit wieder deutlich und nachvollziehbar wird, woraus sie bestehen“. So Emcke.

Foto: Sebastian Drüben/Ruhrtriennale 2016

Die Festspielrednerin Carolin Emcke. Foto: Sebastian Drüen/Ruhrtriennale 2016

Vor diesem Hintergrund scheint es folgerichtig, die Triennale, in Bochums Jahrhunderthalle, mit Glucks „Alceste“ (nach Euripides) zu beginnen. Bestimmen doch Trotz und Mut, Zweifel und Emanzipation das Geschehen. Der Mensch fügt sich nicht mehr ergeben ins vom Orakel und den Göttern vorgegebene Schicksal. Er stellt es in Frage, er zürnt, er liebt und leidet, dass es am Ende eben jene Götter rührt. In „Alceste“ siegt die (Gatten-)Liebe über den befohlenen Opfertod, mithin die Freiheit über den Zwang. Mag auch das glückliche Ende noch eines Deus ex machina bedürfen: Es ist immerhin Apoll, der Gott des Lichtes und der Vernunft (!), der es bewirkt.

Johan Simons indes stellt in seiner Inszenierung den aufkeimenden Freiheitsdrang der Figuren, den Trotz gegen göttliches Gesetz, in Frage. Alceste ist in ihren Gefühlsturbulenzen, denen Birgitte Christensen vielschichtige Sopranfarben verleiht, eine nahezu neurotische Figur, die die Hände ringt, zittert, verunsichert wirkt. Ihr Entschluss, den dahinsiechenden Gatten Admeto, Herrscher über das Volk von Pherai, durch ihren eigenen Tod zu retten, scheint alles andere als ein überzeugendes Liebesopfer. Admeto wiederum, den Tenor Thomas Walker mit teils nur fragiler Intensität gibt, ist in seiner emotionalen Achterbahnfahrt ziemlich hilflos.

Foto: JU/Ruhrtriennale

Eine Familie in Leidensstarre: Alicia Amo, Thomas Walker, Konstantin Bader und Birgitte Christensen fremdeln (v.l.n.r.). Foto: JU/Ruhrtriennale

Und wenn Johan Simons dieses Paar mit seinen Kindern Aspasia und Eumelo (Alicia Amo und Konstantin Bader) zusammenführt, wenn sich diese Familie in all ihrer Schwachheit und Verstörung am Boden liegend umarmt, als wolle man einander gegenseitig vor dem Untergang bewahren, scheint die Szene in Künstlichkeit zu erstarren.

Mitleid vermögen die eindringlichen Worte des Librettisten Ranieri de’ Calzabigi zu erwecken und vor allem die musikalische Sprache, nicht aber die skeptische Deutung des Regisseurs. Hinzu kommt, dass die L-förmige Spielfläche von Leo de Nijs, mit ihrer ausufernden Länge, ein schwer zu beherrschendes Terrain darstellt. Vor Kopf und längs davon die Zuschauerränge, auf der Bühne viel Gerenne, nicht zuletzt wohl deshalb, um dem Publikum hier und auch da irgendwie nahe zu sein. Musikalisch funktioniert das sowieso nur per Mikroport, szenisch behilft sich die Ausstattung teils mit weißen Plastikstühlen, die der Leere dieses Laufstegs Kontur geben sollen.

Und inmitten thront, auf einem Konstrukt von Podesten, das fulminante B’Rock Orchestra, das unter René Jacobs’ kundiger, umsichtiger Leitung der Musik Zug verleiht, sie unter Spannung setzt und Glucks neuartige Klangfarben wirkmächtig auffächert. Man gibt, auf alten Instrumenten, die italienische Fassung. Das Spiel atmet Frische, alles klingt plastisch, so feinfühlig wie intensiv, so erhaben wie dramatisch. Nur hier und da trüben rhythmische Hakeleien, in Verbindung mit dem sonst hervorragenden Chor MusicAeterna, den akustischen Genuss.

Foto: -n

Triennale-Chef Johan Simons wagt den skeptischen Blick auf Glucks „Alceste“. Foto: -n

Chor, Solisten und Stühle scheinen eng miteinander verwoben. Das Sitzmobiliar gibt den Figuren haptischen Halt wie uns manch optischen. Die Menschen klammern sich daran in ihrer Angst, oder sie schleudern es in trotziger Wut weit von sich. Johan Simons sieht wohl in der aufkeimenden Aufklärung, im Wissenwollen, einen Zustand des Chaos. Wenn indes der Chor, der in Greta Goiris’ erdachten, teils antikisierend, teils bürgerlich anmutenden Gewändern wie eine Partygesellschaft aus Sommernachtstraum-Gefilden wirkt, die Genesung ihres Königs feiert, kehrt schönste Ordnung ein. Alsbald aber versinken die Fröhlichen in Agonie, wie betäubt im Gestühl hängend, Alcestes Opfertod vor Augen.

Solcherart Symbolik eines Möbels ist bisweilen stark, nicht selten aber schimmert eben die Funktion des szenischen Behelfs durch. Interessanter ist Simons’ Skepsis, wenn er Alceste und Admeto nicht auf offener Bühne vor jubelndem Volk zusammenführt, sondern augenscheinlich im Jenseits. Und zurück bleiben die Kinder, allein mit sich und einer Welt, die es zu erkunden gilt. Zu Glucks Orchesternachspiel tanzen sie munter Ringelrein. Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit? – bei Simons ein Fall für die nächste Generation?

Weitere Vorstellungen am 20., 21., 25., 27. und 28. August. www.ruhrtriennale.de

Die Festspielrede von Carolin Emcke ist hier zu finden: https://www.ruhrtriennale.de/de/blog/2016-08/vom-uebersetzen-festspielrede-von-carolin-emcke




Festspiel-Passagen: Spektakel und Sängerfest – Verdis „Troubadour“ in der Arena di Verona

Die Arena di Verona. Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Die Arena di Verona. (Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona)

Kalt und stählern gleißt das weißblaue Licht auf den drei waffenstarrenden Türmen. In diesem Ambiente des Kampfes, der sich selbst behauptenden Gewalt kann nichts Gutes geschehen. Am Ende von Giuseppe Verdis „Il Trovatore“ steht dann auch der Tod des unschuldigsten dieser schicksalhaft miteinander verquickten Menschen. Leonora, geliebt und begehrt von zwei ungleichen und sich doch in ihrer Leidenschaft so ähnlichen Brüdern, entkommt ihren Lebenskonflikten durch den Tod von eigener Hand – kurz bevor der Conte di Luna, die dunkle Seite des Begehrens, erfährt, dass er mit Manrico, dem romantischen Liebhaber, soeben seinen eigenen Bruder hingerichtet hat.

Das Libretto Salvatore Cammaranos galt lange als Paradebeispiel für italienischen Opern-Schwachsinn; heute, da Kausalitäten und Ursachen-Wirkungs-Ketten relativ werden, erscheinen die wilden Zufälle zwar nicht folgerichtiger, aber die Plausibilität des Unwahrscheinlichen nimmt zu. Und wer genau hinhört, erkennt, wie minutiös Cammarano die schicksalhaft scheinenden Ereignisse ineinander greifen lässt.

Es ist Opern-Sommer in Italien. In Macerata, hoch über der Adria südlich des Hafens Ancona, in Pesaro beim Rossini Festival, und in der gewaltigen römischen Arena von Verona frönen Einheimische wie Touristen den Leidenschaften auf der Bühne. In Verona wirkt „Der Troubadour“, noch eher wie die traditionelle, seit 1913 gezeigte „Aida“, für das Riesenrund der steinernen Ränge unter freiem Himmel wie geschaffen: die wirkungsvollen Chorszenen, die romantischen Schauplätze wie Burg, Kloster, Zigeunerlager, die von Leidenschaft durchpulsten intimen Szenen, kurze Momente der reflexiver Innerlichkeit.

Entsprechend häufig steht Verdis melodiengespickte Oper auf dem Arena-Spielplan: Seit 1926 in vierzehn der nun 94 Spielzeiten, zuletzt im Verdi-Jahr 2013 und jetzt wieder in der bildmächtigen Inszenierung von Franco Zeffirelli. Wie gewohnt nutzt der italienische Altmeister der opulenten Bühne den Zauber des Dekorativen: Wozu für das Lager der Zigeuner riesige zerschlissene Stoffbahnen auf die Bühne und wieder hinaus geschleppt werden müssen, erschließt sich nicht. Bloßes Spektakel sind auch die kreuzweise über die Bühne rennenden Fahnenträger – ein beliebter Kniff, Bewegung auf die Bühne zu bringen, längst hohl und stereotyp verkommen.

Auch die Kostüme Raimonda Gaetanis sind selbst für den in der Arena notwendigen monumentalen Maßstab zu üppig geraten: Luna tritt in einem matronenhaften Mantel auf, Azucena wird ausladend von Stoff umweht, als sie sich bei ihrem ersten Auftritt den Feuertod ihrer Mutter in traumatisiertem Rückerinnern vergegenwärtigt.

Szenenbeifall für Franco Zeffirellis eindrucksvolle Szene im Kloster. Foto. Ennevi

Szenenbeifall für Franco Zeffirellis eindrucksvolle Szene im Kloster. Foto. Ennevi

Aber wenn Zeffirelli Atmosphäre schaffen, Stimmungen beschwören kann, ist er in seinem Element. Den Steinrund hinter den drei drohenden Türmen nutzt er als Projektionsfläche für impressionistische Lichtmalereien, die Beleuchtung taucht die Szene in eisiges oder düsteres Licht, umstrahlt Azucenas Auftritt in warmen Farben, die in ihren Rot-Orange-Tönen aber auch das Lodern des Scheiterhaufens versinnbildlichen.

Wenn sich in der zweiten Szene des zweiten Aktes, als Leonora den Schleier der Ordensfrau erhalten soll, der mittlere der Türme öffnet und den Blick auf einen riesigen Christus am Kreuz fallen lässt, gibt es Szenenbeifall. In solchen Momenten macht sich Zeffirelli die Dimensionen der Arena zunutze und arbeitet mit monumentalen Bildern, wo das Detail der Regie zwangsläufig an der Entfernung scheitern würde.

Hui He als Leonora in Verdis "Troubadour" in der Arena von Verona. Foto: Ennevi

Hui He als Leonora in Verdis „Troubadour“ in der Arena von Verona. Foto: Ennevi

Die Oper in der Arena war – über ihre Funktion als großartiges Spektakel hinaus – stets auch ein Sängerfest. Es gab legendäre Besetzungen; in den dreißiger Jahren brillierten Gesangs-Ikonen wie Giacomo Lauri-Volpi oder Gina Cigna. Ab Ende der Vierziger stiegen Maria Callas, später Fiorenza Cossotto oder Franco Corelli als Stars der Arena auf.

Seit den achtziger Jahren wurden die Ensembles internationaler, aber auch austauschbarer und qualitativ uneinheitlicher. Für den „Trovatore“ kann die Arena mit Hui He auf eine Sängerin setzen, die seit Jahren ständiger Gast in Verona ist: Sie singt die Leonora mit über alle Register hin klarem, tragendem Ton, mit unerschütterlicher Sicherheit der Position, einem zuverlässig gestützten Piano und einem, wenn es die Phrasierung zulässt, herrlich entspannten Legato. Hui He ist eine Künstlerin, die musikalisch und stimmlich abgesicherte Rollenporträts zeichnet und ohne viel Aufhebens und ohne Star-Rummel zu den führenden Sängerinnen ihres Fachs zu zählen ist.

Violeta Urmana als Azucena in der Arena di Verona. Foto: Ennevi

Violeta Urmana als Azucena in der Arena di Verona. Foto: Ennevi

Für eine temperamentvolle Azucena kehrte – nach ihren Auftritten als Amneris 2013/14 – Violeta Urmana in die Arena zurück: voll Saft und Kraft, mit lodernd gebrusteter Tiefe, sahniger Höhe, durchschlagender Attacke – und mit geschickter verblendeten Registerwechseln und stetigerem Vibrato als in ihren Wagner-Partien der letzten Jahre.

Nachdrücklich empfehlen konnte sich der Bariton Artur Rucinski, der – wie schon 2013 – den Conte di Luna differenziert gestaltete. Mag sein, dass ihm die Eleganz der italienischen Kavaliere der Vergangenheit abgeht; doch sein Einsatz der Dynamik, seine ausgeprägte Kultur des Färbens, des Zurücknehmens, der Akzentuierung und der vokalen Durchdringung des Textes lassen keinen Zweifel zu. Diesen Sänger würde man gerne nicht nur gelegentlich in Hamburg und Berlin, sondern auch gerne in München, Wien oder auch mal Essen hören.

Ein Bariton von Format: Artur Rucinski als Graf Luna mit Hui He (Leonora) in Verona. Foto: Ennevi

Ein Bariton von Format: Artur Rucinski als Graf Luna mit Hui He (Leonora) in Verona. Foto: Ennevi

Das legendäre, aber in der Partitur nicht geschriebene „C“ von „Di quella pira“ im Dritten Akt entscheidet leider meist über Wohl und Wehe eines Manrico. Marco Berti, ebenfalls seit Jahren ständiger Gast, schleudert es zuverlässig in die steinernen Reihen des römischen Amphitheaters und macht damit vergessen, dass er mit wenig mehr als einem robusten Ton seine Partie durcharbeitet. Dabei hat der Troubadour als politischer Kämpfer wie als sensibler Liebhaber, dazu noch als ein liebevoller, in einem psychologisch komplexen Verhältnis an seine Mutter geketteter Sohn alle Möglichkeiten, charakterliche Facetten musikalisch auszudrücken. Berti bleibt, trotz der lyrisch ansprechend gestaltete Arie „Ah si, ben mio“, eher eindimensional – nicht so sehr, weil er wie andere nur Kraft verschwenden würde, sondern weil er den Ton seines Tenors zu wenig expressiv wandelt.

Unter den kleineren Rollen fällt Sergey Artamonov als Ferrando mit einem standfesten Bass auf. Der Chor, von Vito Lombardi einstudiert, überzeugt mit abgerundetem Klang und einer auf der Riesenbühne der Arena schwer zu erarbeitenden, bewundernswerten Präzision.

Auf genaue Koordination achtet auch Arena-Stammdirigent Daniel Oren, wie wohl nur wenige vertraut mit den speziellen akustischen Herausforderungen des Raums. Er öffnet einige Striche, etwa in der Ballettmusik des zweiten Aktes. Den Sängern lässt er eher Zeit zu atmen als den Ensembles, in denen er das Metrum gern versteift. Die rhythmischen Impulse von Verdis flammender Musik federn, doch manch blühender Bogen der Melodie könnte sich freier zu den Sternen wölben, die an diesem Abend freundlich und von Gewitterwolken unbehelligt über den alten Mauern glänzen und den Samt der Nacht mit goldenen Funken beleben.

Vorstellungen in der Arena di Verona finden noch bis 28. August statt; „Il Trovatore“ wird am 13. und 26. August gegeben. Noch im Spielplan sind Verdis „Aida“, Bizets „Carmen“ und Puccinis „Turandot“. 2017 gibt es zwischen 23. Juni und 27. August von Giuseppe Verdi eine Neuproduktion von „Nabucco“, dazu „Aida“ und „Rigoletto“ sowie von Giacomo Puccini „Madama Butterfly“ und „Tosca“.

Info in deutscher Sprache: http://www.arena.it/arena/de




Mit Glucks „Alceste“ und Theater in der Moschee: Ruhrtriennale startet am 12. August

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Pressegespräch in karger Halle. Intendant Johan Simons sitzt in der Mitte. (Foto: Pfeiffer)

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hat Johan Simons auf seine Programmhefte geschrieben, „Alle Menschen werden Brüder“ zitiert er Schiller in seiner Ansprache an das (Abonnenten)-Volk, und auch die Zeile „Seid umschlungen, Millionen“ aus desselben Dichters Feder findet Eingang in seinen Zitatenschatz.

Wenn unsereiner bei diesen Worten möglicherweise eher an die Panzerknackerbande aus den Mickymausheften der 60er Jahre und deren geniale Texterin Dr. Erika Fuchs denkt, die Disneys Mäusen und (mehr noch) Enten deutsche Klassik in die Sprechblasen schrieb, so ist dies ein anderes Thema.

Aufklärung und Humanismus

Johan Simons jedenfalls, nunmehr im zweiten Jahr Intendant der Ruhrtriennale, wähnt sich in seiner Programmgestaltung der Aufklärung und dem Humanismus verpflichtet, aber kritisch natürlich, zweifelnd und hinterfragend. Die „Brüderlichkeit“ auf der gut gestalteten Programmübersicht ziert deshalb ein Fragezeichen, was eine Pressekonferenzteilnehmerin im Genderwahn nicht davon abhielt, „Schwesterlichkeit“ einzufordern oder, besser noch, „Menschlichkeit“. Die aber gibt es schon, und sie hat in der deutschen Sprache eine etwas andere Bedeutung als die intendierte. Das Dilemma ist auf die Schnelle wohl nicht zu lösen, und etwas Respekt vor des Dichters Wort wäre sicher auch nicht schlecht. Glücklicherweise blieb die längere Diskussion aus.

Carolin Emcke hält Eröffnungsrede

Also denn: Am 12. August startet die Ruhrtriennale 2016, und als Festrednerin wurde Carolin Emcke engagiert, Publizistin und diesjährige Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Ihr neues Buch „Gegen den Hass“ soll im Oktober erscheinen, „Vom Übersetzen“ ist ihr Vortrag überschrieben, in dem es laut Ankündigung um den „Wert der Gleichheit“ geht (Jahrhunderthalle Bochum, 18 Uhr).

Strenge Opernfassung

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René Jacobs dirigiert „Alceste“. (Foto: Molina Visuals/Ruhrtriennale)

Am selben Tag auch hat die erste Großproduktion des Festivals Premiere, die Oper „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck in der frühen, strengen Wiener Fassung. Hier, erläutert Dirigent René Jacobs, spielt der Chor gerade so wie in der antiken griechischen Vorlage Euripides’ eine tragende Rolle – was das Premierenpublikum des Jahres 1767 gar nicht recht goutierte. Im Spätbarock war man auf gute Show und Kurzweil abonniert, verlangte nach virtuosen Kastraten und Publikumslieblingen. Doch ein gestrenger Chor, so ganz im Dienst des Dramas? Oder gar einer neuen künstlerischen Freiheit? Johan Simons ist sicher, mit dieser Regiearbeit seinem Aufklärungsthema ganz nahe zu sein (Premiere 12. August, 20 Uhr, Jahrhunderthalle Bochum).

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Johan Simons inszeniert auch in der Moschee (Foto: Edi Szekely/Ruhrtriennale)

Zwischen den Religionen

Auch die zweite Regiearbeit des Intendanten ist bereits am ersten Wochenende zu sehen, allerdings nicht in der Jahrhunderthalle, sondern in der DITIB-Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh. Hier gelangt das Stück „Urban Prayers Ruhr“ von Björn Bicker zur Aufführung.

Chorwerk Ruhr sowie fünf Darstellerinnen und Darsteller geben sich, wenn ich es recht verstanden habe, an eine Glaubensdiskussion, die jedoch daran leidet, daß zunächst keiner richtig ausreden kann, weil es so vieles zu sagen, zu diskutieren gibt. Trotzdem konturieren sich bald Positionen, Haltungen und Ansichten.

Bickers Stück ist flexibel, die jeweilige Glaubensgemeinschaft, in deren Räumen „Urban Prayers Ruhr“ aufgeführt wird, liefert eigene Beiträge zum Text. Das Stück ist also immer wieder anders, wenn es bei den verschiedenen Religionsgemeinschaften gespielt wird – im Hindu Shankarar Sri Kamadchi Ampal Tempel in Hamm, in der Lutherkirche in Dinslaken-Lohberg, in der serbisch-orthodoxen Kirche in Dortmund-Kley, in der Synagoge Bochum, im (freikirchlichen) House of Solution in Mülheim an der Ruhr und, eben, in der Moschee in Marxloh.

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Schlurp! Teil der Installation „The Good, The Bad and the Ugly“ vom Atelier Van Lieshout (Foto:Pfeiffer)

Andere Mentalität

Autor Björn Bicker hat ein ähnliches Projekt schon einmal in München realisiert und zeigte sich im Pressegespräch immer noch erstaunt über die großen Versammlungsräume der Religionen im Revier. In München seien die alle viel kleiner, was sicherlich auch an den horrenden Mieten und Immobilienpreisen liege.

Das Stück mal eben so ins Ruhrgebiet umzusetzen (wie er sich das zunächst zugegebenermaßen vorgestellt hatte), sei unmöglich gewesen. Ein zweiter Grund stand dem entgegen: Die Mentalität im Ruhrgebiet sei anders, in jeder Gemeinde sei man sehr schnell beim Thema Jugend gelandet, bei Ängsten und Befürchtungen in Bezug auf die Zukunft der Kinder. In München hingegen habe „eine gewisse Sattheit“ geherrscht, ein gelassener Optimismus, den es im Ruhrgebiet in gleicher Weise offenbar nicht gebe.

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Die rostigen Klos gehören auch zur Installation „The Good, the Bad and the Ugly“ vor der Jahrhunderthalle (Foto: Pfeiffer)

Tempeltänzerinnen

Doch allzu trist wird es auch im Revier nicht werden. Bei den Hammer Hindus gibt es Tempeltänzerinnen, in Marxloh dreht sich der Derwisch, in der Synagoge tritt (neben Kantor Tsah) das Nodelman-Duo auf. Und so fort.

Die „städtischen Gebete“ versprechen muntere Veranstaltungen zu werden, Ausdruck eines fröhlich-friedliches Nebeneinanders der Religionen, bei denen Haß und Intoleranz sich, wenn überhaupt, an den radikalen Rändern finden. Seit dieses Programm geplant wurde, gab es islamistischen Terror auch in Deutschland, hat sich die tolerante Grundstimmung im Land eher eingetrübt. Doch wäre das ein Grund, auf dieses Religionen-Projekt zu verzichten? Ganz gewiß nicht, im Gegenteil.

Der namenlose Araber

Simons’ dritte Regiearbeit wird ihre Aufführung am 2. September erleben, in der Kohlenmischhalle der Zeche Auguste-Victoria in Marl, wo bis 2015 tatsächlich noch richtige Kohle gemischt wurde. Das Stück „Die Fremden“ erzählt, ausgehend von Kamel Daouds Buch „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“, die Geschichte des in Albert Camus’ Roman namenlos gebliebenen ermordeten Arabers weiter, dessen Nachfahren fremd bleiben in einer gottverlassenen Welt. Fremdheit auch in der Musik von György Ligeti und Mauricio Kagel, die dazu erklingt: Das wird kein lauschiger Spätsommerabend werden.

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Das ist – in der Simulation – der subversive rosa Kanalcontainer im Dortmunder Hafen. (Foto: osa – office-for-subversive-architecture/Ruhrtriennale)

Container im Dortmunder Hafen

Doch zurück zum ersten Wochenende: Am Samstag wird in Dortmund, im Hafen, ein Schwebecontainer für das breite Publikum in Betrieb genommen. Entwickelt hat ihn „osa“, das „office for subversive architecture“, und stationiert ist er bei der Firma SAZ Stahlanarbeitungszentrum Dortmund GmbH & Co. KG.

Für Ortskundige: Der schmucklose Industriebau ragt über das Kanalbecken und ist vom alten Hafenamt und der Hafenbrücke davor gut zu sehen. Hier nun, an diesem klassischen Kultur-Unort, hängt der knallig pink gestrichene Container an einem Hallenkran und wird von diesem über das Wasser transportiert, wo er einige Minuten verharrt, bevor es zurück in die Halle geht. 20 Minuten dauert die Ausfahrt in zehn Metern Höhe über dem Hafenbecken, maximal 15 Personen dürfen an Bord sein.

Oliver Langbein, der die Installation zusammen mit Karsten Huneck und Bernd Trümpler schuf und der einen Lehrauftrag an der Dortmunder Fachhochschule hat, stellt Mitreisenden einen kleinen Adrenalinstoß in Aussicht. „Well, come“ heißt die Arbeit übrigens, will natürlich als Kunstwerk verstanden sein und verweist schon im Titel auf die migrantische Konnotation. Wie willkommen sind die, die auf unübliche Weise über das Wasser reisen?

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Neues Van-Lieshout-Objekt vor der Jahrhunderthalle (Foto: Pfeiffer)

Cate Blanchett in 13 Rollen

Während der ganzen Triennale-Zeit ist die Videoarbeit „Manifesto“ im Landschaftspark Duisburg-Nord zu sehen, in der die australische Schauspielerin Cate Blanchett in 13 unterschiedlichen Rollen künstlerische und politische Manifeste zum Besten gibt; ab 16 Uhr läuft wieder der große Rock-/Pop-/Techno-Zauber „Ritournelle“ in der Jahrhunderthalle, und während des gesamten Festivals werden Teile des Hallenvorplatzes (der wieder mit der brachialen Skulpturenlandschaft „The Good, the Bad and the Ugly“ aus dem Atelier Van Lieshout bestückt ist) als Teenager-Machtgebiet ausgewiesen, wo die Jugend das Sagen hat. „Mit und von: Mit Ohne Alles und Mammalian Diving Reflex“, entnehmen wir der Pressemitteilung, „Teentalitarismus“ heißt das Ganze. Und wer mehr wissen möchte, sei auf das Netz verwiesen.

Musik auf Zeche Zollern

Zwei (nach allem, was wir wissen können:) wunderbare Musikproduktionen kündigen sich für die folgende Woche an, „Spem in alium“ in der Dortmunder Zeche Zollern (Maschinenhalle) am Mittwoch, „Carré“ in der Jahrhunderthalle am Donnerstag. In Dortmund wird Musik von Thomas Tallis, Henry Purcell, Alfred Schnittke und György Ligeti zu hören sein, singt der Chor MusicAeterna, dirigiert Vitaly Polonsky; in Bochum nähern Bochumer Symphoniker und Chorwerk Ruhr sich Karlheinz Stockhausen mit vier Chören, vier Orchestern und „gewaltiger Klangwanderung“ an. Über beide Musikereignisse wird zu gegebener Zeit zu berichten sein.

Über 50000 Tickets standen zum Verkauf, zwei Drittel davon, so Kultur-Ruhr-Geschäftsführer Lukas Crepaz, sind schon weg. Doch gebe es für praktisch alles auch noch Karten, zumal dann, wenn man terminlich flexibel sei.

Also dann: Viel Glück mit Gluck, Glückauf!




Traum und Wirklichkeit: Koblenz glänzt mit André Previns Oper „Endstation Sehnsucht“

Zaghafte Annäherung: Mitch (Juraj Hollý) und Blanche (Kerrie Sheppard). Foto: Matthias Baus

Zaghafte Annäherung: Mitch (Juraj Hollý) und Blanche (Kerrie Sheppard). Foto: Matthias Baus

Vier Menschen, von Sehnsucht erfüllt: Blanche, die verletzte Seele, die sich nach dem Zauber hinter allen Dingen sehnt. Die sich in Lügen und Fehlern verstrickt, weil ihr Träume wichtiger sind als Wirklichkeit. Stella, die ergeben unter der Grausamkeit ihrer Welt und ihres Mannes leidet, ein hilfloses Opfer, das sich ein wenig Schönheit und Würde wünscht. Mitch, ein aufrechter, aber etwas fantasieloser Mann, gefangen in seinen Hemmungen, seiner Anständigkeit und dem psychischen Spinnennetz seiner Mutter. Und Stanley, dessen Ängste mit verbaler Aggression, plakativem Männlichkeitsgehabe und ungeniert ausbrechender Gewalt überdeckt sind – aber im kindlichen Greinen nach Zuwendung offenbar werden.

Vier Menschen, deren Lebensstrecke die Sehnsucht zur Endstation hat, wie die Straßenbahn, die Tennessee Williams von seinem Fenster in New Orleans beobachtete, als er sein Stück schrieb. Und deren andere Station nicht Erfüllung, sondern Friedhof heißt. „A streetcar named desire“, eines der erfolgreichsten Dramen des amerikanischen Autors, diente dem musikalischen Multitalent André Previn als Vorlage für seine Oper gleichen Namens. 1998 uraufgeführt, hat sie sich zu einem viel gespielten Musiktheaterwerk der Gegenwart gemausert, immer wieder auch an deutschen Theatern inszeniert – unter anderem 2008 höchst erfolgreich in Hagen.

Aus dem Jahr 1787 stammt der Bau des Theaters Koblenz, der bei einer Renovierung 1985 wieder dem Originalzustand angenähert wurde. Foto: Werner Häußner

Aus dem Jahr 1787 stammt der Bau des Theaters Koblenz, der bei einer Renovierung 1985 wieder dem Originalzustand angenähert wurde. Foto: Werner Häußner

Auf der Bühne des historischen Theaterbaus in Koblenz rahmt Bodo Demelius eine anspruchslose Zwei-Zimmer-Wohnung mit der filigranen Eisen-Architektur des erblühten Industriezeitalters. Den Hintergrund füllen einfache Mietshaus-Ziegelfassaden. Vom Lebensgefühl der Fünfziger, als Williams‘ Stück und der weltberühmte Film Elia Kazans entstanden, sprechen die Sessel um den Nierentisch und ein voluminöser Kühlschrank. Einfache Attribute eines Lebens knapp über der Unterkante der Armut.

Auch die Kostüme von Claudia Caséra sprechen von dem Wunsch, ein wenig mehr zu scheinen als man ist. Verblichener Flitter für Blanche, ein etwas zu schreiend modisch bedrucktes Hemd für Mitch, Südstaatler-Hüte und viel Macho-Feinripp für die Hitze des Südens. Die Atmosphäre ist stimmig, das Milieu passend gezeichnet. Behutsam wird der bloße Naturalismus vermieden – etwa durch die Galerie, die sich über die Wohnung spannt, oder durch Haruna Yamazaki als mexikanische Frau, geschminkt als Todesbotin wie eine Figur des mexikanischen „Día de los muertos“.

Intendant Markus Dietze arbeitet in seiner Inszenierung mit den Menschen des Stücks. Die Entwicklung, die Blanche von der Lebenslüge über die Illusion bis in den Wahn treibt, zeichnet er stimmig nach. Kerrie Sheppard verkörpert die Frau auf der Flucht vor der unerbittlich durch den brutalen Stanley Kowalski (beklemmend realistisch: Michael Mrosek) eindringenden Realität in jeder Nuance ihres Spiels. Sie ist das Opfer, das sich fadenscheinige Fassaden aufbaut, bis sie unbarmherzig abgerissen werden und nur noch die Flucht in den Wahn bleibt. Sheppard ist gesanglich immer dann glaubwürdig und nahe bei ihrer Figur, wenn sie die allzu voluminöse Emission hinter sich lässt und psychologische Nuancen in Piano-Facetten und in differenzierten Tönungen des Klangs ausdrückt.

Poker der Machos (von links): Michael Mrosek, Jona Mues, Christoph Plessers, Juraj Hollý. Foto: Matthias Baus

Poker der Machos (von links): Michael Mrosek, Jona Mues, Christoph Plessers, Juraj Hollý. Foto: Matthias Baus

Konzentriert gelingt so die für das psychologische Verständnis der Figuren entscheidende Szene zwischen Blanche und Mitch im zweiten Akt: Zwei zutiefst einsame Menschen, die einander bräuchten, um sich zu befreien – aus den halb eingestandenen Alpträumen der Vergangenheit und aus der psychischen Umklammerung durch eine dominierende Mutter. Juraj Hollý beglaubigt als Mitch mit seinem warm abgetönten Tenor und seinem sorgsam geformten Spiel die sensible Seite eines Mannes, der nicht wirklich in die raue Runde Poker spielender Prolls passt, der im entscheidenden Moment jedoch den Aufbruch nicht wagt.

Christoph Plessers (Steve) und Jona Mues (Gonzales) komplettieren das Männerquartett mit sorgfältig entwickelten Personenstudien. Irina Marinaş als Blanches Schwester Stella hat ihre Rolle verinnerlicht; mit schüchternen Momenten des Aufbegehrens hat sie keine Chance gegen ihren ordinären Mann.

Kerrie Sheppard (Blanche) und Michael Mrosek (Stanley) in André Previns "A streetcar named desire" in Koblenz. Foto: Matthias Baus

Kerrie Sheppard (Blanche) und Michael Mrosek (Stanley) in André Previns „A streetcar named desire“ in Koblenz. Foto: Matthias Baus

Previns Partitur merkt man an, dass ein erfahrener Operndirigent musikalische Mittel in kluger Dosierung einsetzt und der Stimme den Primat einräumt. Schostakowitsch hat in „Lady Macbeth von Mzensk“ die grellere und komplexere Vergewaltigungs-Musik geschrieben, doch Previns ökonomischer Mitteleinsatz macht aus der demütigenden Szene gleichwohl einen dramatischen Höhepunkt. Eine Musik ohne Avantgarde-Anspruch, aber eminent theaterwirksam und über das unverkennbare Können hinaus auch mit Momenten, die nur so und nicht anders für das Drama geschrieben sein könnten. Musiktheater, das unter die Haut geht.

Die Rheinische Philharmonie hat unter Enrico Delamboye ihre Spielkultur weiter ausgebaut. Es gibt weder klangliche Nachlässigkeiten noch rhythmische Unschärfe. Vor allem in den nächtlich leisen, den fiebrig lauernden, den gebrochen traurigen Klängen beweisen sich die Solisten in rund gestaltetem Ton und in filigranem Zusammenspiel. Den Tutti nimmt Delamboye das Fett von den Hüften, lässt straff und konzentriert artikulieren und findet die Balance, die den Spielraum zum Gestalten weitet. Nicht nur das Orchester – das gesamte Koblenzer Ensemble glänzt mit dieser Produktion, die über die Region hinaus einen Stern verdient hätte.

Aufführungen am 22., 27. und 30. Juni. Info: www.theater-koblenz.de




Marionetten der Geldgier: Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ im Essener Aalto-Theater

Wenn der Friseur ein Tänzchen wagt: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou) machen gemeinsame Sache (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Wenn der Friseur ein Tänzchen wagt: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou) machen gemeinsame Sache (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Die berühmten Crescendo-Walzen, die mit der Dynamik einer Dampflok über das Publikum hinweg rollten, trugen zum Erfolg des Komponisten Gioacchino Rossini ebenso bei wie die irrwitzig-automatenhafte Qualität seiner Koloraturen und das Baukastenprinzip seiner musikalischen Floskeln. Jan Philipp Gloger nimmt das Nahen eines mechanisch getriebenen, technikbegeisterten Zeitalters jetzt als Folie, um Rossinis komische Oper „Der Barbier von Sevilla“ neu in Szene zu setzen.

Im Essener Aalto-Theater entwickelt der 1981 geborene Regisseur, der von Hagen aus zu einer internationalen Karriere startete, das Intrigenspiel um den eitlen Doktor Bartolo und die hübsche Rosina ganz aus der Musik heraus. Sie wird zum Motor, zu einer übermächtigen Maschine, die alle Figuren vorwärts peitscht. Die können gar nicht anders, als ihren Trieben hinterher zu hetzen. Geldgier, Geltungssucht und Eitelkeit feiern fröhliche Urständ.

Im Geldregen: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Im Geldregen: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Beängstigend leer ist die Bühne zu Beginn. Holzkisten verschiedener Größe, die Figaro nach und nach heran karrt, fügen sich zu einem schlichten, aber wirkungsvollen Bühnenbild (Ben Baur). Quasi im Schachtelsystem erschließt sich der Charme der italienischen Stegreifkomödie, betont durch die Kostüme von Marie Roth, die viel über den Charakter der Personen verraten. Diese bleiben Marionetten, trotz allzu menschlicher Züge. Figaro, der wohl berühmteste aller Barbiere, ist Dirigent, Strippenzieher und vor allem tüchtiger Geschäftsmann, der den liebestollen Grafen Almaviva ausnimmt wie eine Weihnachtsgans.

Glogers Einstand in Essen wird zum Erfolg, weil er sich eng an die Turbulenz und die Überzeichnungen der Commedia dell’arte hält, ohne auf schenkelklopfendes Lachen zu zielen. Vielmehr lässt er uns lächeln über die menschlichen Schwächen, die Rossini treffgenau vorführt.

Kluge Bezüge machen das Spiel vielschichtig: So wird Rosina in ihrer Koloraturarie „Una voce poco fa“ als Vorläuferin von Hoffmanns „Olympia“ kenntlich. Die Chöre schickt er in der Gewitterszene in einen Taumel, der uns die Rossini-Raserei im Wien des Jahres 1822 nahe bringt. Die Beleuchtung (Christian Sierau) zaubert immer wieder Stimmungswechsel, Schattenrisse und absichtsvoll falsche Spots.

Dienstmagd Berta (An De Ridder), Rosina (Karin Strobos) und Diener Fiorello (Kai Preußker) wissen auch nicht immer, wo es lang geht (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Dienstmagd Berta (An De Ridder), Rosina (Karin Strobos) und Diener Fiorello (Kai Preußker, v.l.) wissen auch nicht immer, wo es lang geht (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Warum Giacomo Sagripanti jüngst in London als bester Nachwuchsdirigent ausgezeichnet wurde, wird am Premierenabend deutlich. Unter seiner espritgeladenen und punktgenauen Leitung lassen die Essener Philharmoniker die Musik herrlich moussieren, folgen den Sängern biegsam und lassen die Crescendo-Walzen vom eisigen, am Steg der Streicher erzeugten Schauer zum klangschönen Fortissimo anschwellen. Detailversessenheit kommt hier nicht verbissen daher, sondern mit lebensfroher Lust am Raffinement.

Der eitle Arzt Don Bartolo (Baurzhan Anderzhanov, r.) lauscht den Plänen von Musiklehrer Don Basilio (Tijl Faveyts. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Der eitle Arzt Don Bartolo (Baurzhan Anderzhanov, r.) lauscht den Plänen von Musiklehrer Don Basilio (Tijl Faveyts. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Auch sängerisch gibt es viel Gutes zu berichten. Als neues Ensemblemitglied stellt sich der Grieche Georgios Iatrou mit einem eleganten Bariton vor, in der berühmten Arie „Largo al factotum“ noch mäßig blutvoll, aber stets zunehmend an samtiger Kraft – und dabei herrlich selbstgefällig. Der als Rossini-Experte geltende Tenor Juan José de Léon zeigt als Almaviva große Spielfreude und enorme Strahlkraft, wobei sich vermutlich durch Nervosität bedingte Schärfen in den Höhen aufs angenehmste mildern. Wunderbar sonor klingt Baurzhan Anderzhanov, der manche Sympathie für den eitlen Doktor Bartolo weckt. Tijl Faveyts, der als Musiklehrer Don Basilio einem alternden Rockstar ähnelt, zieht mit seiner Verleumdungsarie nahezu gleich. Karin Strobos ist als Rosina erfrischend stimmgewandt und koloratursicher.

Frustrierte Musiker, missglückte Polizei-Einsätze, durchtriebene Weiblichkeit und potente Geldgeber ohne Grips und Geschmack geben dem Abend die amüsant-bösen Untertöne, die alle Rossini-Fans lieben. Ein Trauerspiel, was manche Menschen sich so leisten… Wenn sie nicht so lachhaft wären.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ (Hamm) erschienen. Termine und Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/il-barbiere-di-siviglia.htm)




Die Feen, Das Liebesverbot, Rienzi: Oper Leipzig holt den ganzen Wagner ans Licht

Er predigt Moral gegen die Anarchie des Karnevals, die er selbst nicht einhält: Tuomas Pursio als Friedrich in Wagners "Das Liebesverbot" in Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Er predigt Moral gegen die Anarchie des Karnevals, die er selbst nicht einhält: Tuomas Pursio als Friedrich in Wagners „Das Liebesverbot“ in Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Den Begriff der „Jugendsünde“ hätte sich Richard Wagner besser verkniffen, als er die Partitur des „Liebesverbots“ König Ludwig II. von Bayern gewidmet hat. Denn dieses – in dem Spruch möglicherweise sogar augenzwinkernd gemeinte – Werturteil ist denen willkommen, die in den drei frühen Kompositionen des „Meisters“ keine „vollgültigen“ Werke sehen. Bis heute wird der anachronistische, unhistorische Zustand aufrechterhalten, dass auf der Bayreuther Festspielbühne nicht das Gesamtwerk Wagners gezeigt wird.

Und bis heute reagieren die meisten Wagnerianer mit einer Mischung aus generöser Geringschätzung, mitleidiger Überheblichkeit und Unverständnis auf Versuche, Wagner aus der Aufführung aller seiner Opern umfassender zu verstehen. Entsprechend selten sind Aufführungen von „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“. Der „echte“ Wagner beginnt mit dem „Holländer“ – das scheint festzustehen.

Anarchie der Lust: Der Chor der Oper Leipzig in der Inszenierung von Wagners Frühwerk "Das Liebesverbot" von Aron Stiehl. Foto: Kirsten Nijhof

Anarchie der Lust: Der Chor der Oper Leipzig in der Inszenierung von Wagners Frühwerk „Das Liebesverbot“ von Aron Stiehl. Foto: Kirsten Nijhof

Daran ist ja auch etwas Richtiges – aber die ganze Wagner-Wahrheit ist dieser eingeschränkte Blick eben nicht. Denn der „Holländer“ segelt nicht wie eine plötzliche Erscheinung aus dem nebligen Horizont des Genies, sondern erweist sich als Ergebnis einer Reifung, die mit den „Feen“ beginnt.

So gesehen, ist diese 1833 in Würzburg entstandene, erste erhaltene vollendete Oper Wagners ein Schlüsselwerk für seine spätere Entwicklung: Romantik, Erlösung, Politik, Geschlechterverhältnisse, psychische Zustände bis hinein ins Autobiographische: Alles ist in den „Feen“ bereits grundgelegt. Man muss nicht nach den paar Tönen suchen, die Wagner später im „Tannhäuser“ wieder aufgreift, um diese Linien zu ziehen.

So ist der weltweit einzigartige Fall der Oper Leipzig, die drei frühen Wagner-Opern im Repertoire zu haben und an einem Wagner-Festwochenende rund um den Geburtstag des Leipzigers am 22. Mai an drei aufeinanderfolgenden Abenden zu präsentieren, mehr als ein Tribut an einen „großen Sohn“ der Stadt, mehr auch als ein touristisch wirksames Alleinstellungsmerkmal.

Leipzig überwindet so die Wagner-Mystifizierung und gibt – in gültigen Inszenierungen mit Anspruch – den Weg frei, Wagner aus seinen Wurzeln zu verstehen und seine späten Werke auf ihre Ursprünge hin zu untersuchen. Und da Wagner auch mit zwanzig Jahren schon ein eminent bewusst arbeitender Theatermensch war, ist dieses Bemühen keine akademische Fieselei, sondern ein lohnendes Theatervergnügen.

Zum Beispiel im „Liebesverbot“, das 1836 in Magdeburg ein Desaster gewesen ist. Wer ließe sich von der schäumenden Staccati-Attacke der Ouvertüre nicht mitreißen? Wer genösse nicht die an Donizetti geschulte, ausdrucksstarke Gefängnisszene des Claudio? Wer bewunderte nicht Wagners Talent, in den Karnevals-Szenen Atmosphäre zu kreieren? Oder wer erkännte in der von bebender, mühsam gebändigter Glut erfüllten Szene des Friedrich („So spät, und noch kein Brief von Isabella“) nicht den musikalischen und theatralischen Wurf? Dass die an Auber („La Muette du Portici“) geschulte Rhythmik, die musikalischen Anklänge an die italienische Oper der Zeit in Wagners Œuvre einzigartig sind, macht den Reiz des stürmisch-drängenden Werks aus: Wohin hätte sich Wagner entwickelt, wäre das „Liebesverbot“ ein Erfolg geworden?

Mit dem perlenden Schaum der kurzen Noten hatten es die im Operngraben dienenden Gewandhausmusiker allerdings weniger; leider auch mit dem rhythmischen Pep oder der konzisen kantablen Phrasierung an anderer Stelle. Dirigent Robin Engelen schlug wenig Funken aus dem Klang; statt die Sänger auf der Bühne zu führen, vergrub er sich in der Partitur und riskierte – auch in den Chören – erheblich divergierende Tempi.

Das Orchester konnte an den drei Abenden am ehesten in den „Feen“ zufriedenstellen, bei denen Friedemann Layer zwischen Beethoven-Furor und Mendelssohn-Lyrismen stets den richtigen Ton anschlagen ließ. Im „Rienzi“ wählte Matthias Foremny erst lethargische Tempi und ließ dann vor allem das Blech ungehindert pauschal schmettern. Allerdings hat das Orchester auch eminente Herausforderungen zu schultern: Die „Götterdämmerung“-Premiere liegt nicht lange zurück und mit „Arabella“ am 18. Juni wartet das nächste große Stück.

Romantisch imaginiertes Mittelalter: "Die Feen" an der Oper Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Romantisch imaginiertes Mittelalter: „Die Feen“ an der Oper Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Trotz der im Lauf des Abends abflachenden Bildwelt hat die Inszenierung der „Feen“ von Renaud Doucet und André Barbe nach wie vor ihre inhaltliche Schlüssigkeit bewahrt. Das kanadisch-französische Team schöpft aus dem Geist E.T.A. Hoffmanns, wenn es den Einbruch der Feenwelt in die Gegenwart einer gutbürgerlichen Wohnung thematisiert: Ein Opernliebhaber, der sich allmählich in die Rolle des Arindal hineinträumt, entdeckt die romantische Welt „hinter“ der Normalität und tritt ein in ein imaginiertes Mittelalter, das in seiner farbigen Unmittelbarkeit den Königssaal von Neuschwanstein zitiert.

Endrik Wottrich konnte mit seinem steifen, zu verfärbten Vokalen neigenden Tenor und profilarmem Spiel den Übergang vom Zuhörer einer Opernübertragung im Rundfunk zum depressiven, am Frageverbot des Feenreiches scheiternden König nicht beglaubigen. Christiane Libor hat sich souverän die dramatische Partie der Fee Ada angeeignet, meistert die unangenehmen Sprünge und die mit Glanz und Kraft zu singenden, teils unangenehm liegenden Phrasen mit einer viel gereifteren, gelösteren Stimme als vor drei Jahren. Libor steht vor einem bedeutenden Karrieresprung: Im Juni singt sie bei den Wiener Festwochen Beethovens Leonore; im April 2017 die Isolde in München.

Auch Dara Hobbs bringt als Arindals Schwester Lora einen tragfähigen Sopran mit, um die starke Frau zu beglaubigen, die in ausweglos scheinender politischer Lage nicht resigniert. Sänger wie Sejong Chang – ein unangestrengter Bass mit angenehmem Timbre – oder Nikolay Borchev als Morald runden in Leipzig das „Feen“-Ensemble ab, dessen Sänger nicht hinter den führenden Rollen zurückstehen.

Im Dunst des Untergangs: Stefan Vinke als Rienzi in Richard Wagners gleichnamiger Oper in Leipzig. Foto: Ralf Martin Hentrich

Im Dunst des Untergangs: Stefan Vinke als Rienzi in Richard Wagners gleichnamiger Oper in Leipzig. Foto: Ralf Martin Hentrich

Für das „Liebesverbot“ gilt das nicht: Tuomas Pursio lässt sich auf die zwiespältige Ausdruckswelt des „deutschen“ Moralisten Graf Friedrich ein, der in der Inszenierung Aron Stiehls mit schwarzem Gehrock in den Dschungel der Emotionen und Begierden gesogen wird. Auch sein Bariton ist der Partie – ungeachtet einiger rauer Momente – gewachsen. Doch sein Widerpart, Lydia Easley als kluge Novizin Isabella, kämpft mit dem Legato, aber auch mit expressiven Koloraturen. Dan Karlström (Luzio) hat seine Partie im Lauf des Abends immer sicherer im Griff; Paul McNamara charakterisiert vor allem in seiner großen Szene im Gefängnis den leichtfertig in eine brisante Lage gekommenen Claudio in den Facetten seiner Persönlichkeit.

"Rienzi" an der Oper Leipzig: Vida Mikneviciute als Adriano. Foto: Kirsten Nijhof

„Rienzi“ an der Oper Leipzig: Vida Mikneviciute als Adriano. Foto: Kirsten Nijhof

In Nicolas Joels mit symbolischen Versatzstücken arbeitenden Inszenierung des „Rienzi“ in der Bühne von Andreas Reinhardt gehört der Abend dem Tenor Stefan Vinke. Er verfügt über eine zuverlässige Technik und eine gelassene Art, den Marathon der Titelrolle selbst im Gebet des Fünften Akts zu bewältigen. Vida Mikneviciute als seine Schwester Irene und Kathrin Göring als Adriano zeigen sich dem Anspruch ihrer Partien ebenso gewachsen wie die Widersacher Rienzis, Milcho Borovinov (Colonna) und Jürgen Kurth (Orsini). Sandra Maxheimer als Friedensbote hatte es schwer, den Sitz der Stimme zu verteidigen.

Matthias Foremny ließ die Musik des jungen Wagner knallen und schmettern: Ein ermüdendes Spektakel trotz der erheblichen Kürzungen, die beim „Rienzi“ unvermeidbar sind. Die Aufführung in Leipzig hinterließ den Eindruck, mit diesem dritten Werk Wagner seine problematischste Oper zu erleben – bei Meyerbeer, um der Geschichte Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, findet man solch undifferenziert martialischen Lärm nur einmal: im bewusst als ideologische Aufmarschmusik konzipierten „Krönungsmarsch“ aus „Le Prophète“. Auch das war ein Ergebnis dieser Serie, für die der Oper Leipzig nicht genug zu danken ist.

Alle drei Opern bleiben im Repertoire und werden nach 2017 wieder aufgenommen.




Opfer des Systems: Amilcare Ponchiellis „La Gioconda“ in Gelsenkirchen in neuem Licht

Derek Taylor als Enzo und Petra Schmidt als La Gioconda in der Inszenierung der Oper von Amilcare Ponchielli in Gelsenkirchen. Foto: Thilo Beu

Derek Taylor als Enzo und Petra Schmidt als La Gioconda in der Inszenierung der Oper von Amilcare Ponchielli in Gelsenkirchen. Foto: Thilo Beu

Für diese Menschen gibt es keinen Platz in der Mitte der Gesellschaft. Sie hausen am Rand – auch auf der Bühne in der Inszenierung von „La Gioconda“ in Gelsenkirchen: ein gammeliger Sessel, ein alter Herd, ein Schminktisch, der bessere Zeiten gesehen hat. In der Mitte, da feiert sich das Militär, werden rote Fahnen choreographiert und im Takt gestampft. Da sind die Reichen und Mächtigen zu Hause – aber auch sie entkommen dem Druck des Systems und seinen Zwängen nicht.

Das Regieteam Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka hat Amilcare Ponchiellis einzigen dauerhaften Erfolg von seinem Dutzend Opern am Musiktheater im Revier gründlich vom Ruch des Opernschinkens befreit. Wo etwa an der Deutschen Oper in Berlin in einer rekonstruierten Ausstattung aus der Uraufführungszeit (1876) von Filippo Sanjust üppige Kulinarik aufgetischt wird, herrscht in Gelsenkirchen karge Strenge: ein Würfel auf der Drehbühne, der mal holzgetäfelte Diktaturen-Tristesse, mal das Gerüst-Konstrukt seiner Rückseite zeigt. Eine Tribüne kann das sein, auf der Potentat Alvise die Military Show begutachtet. Oder ein Saal, in dem zu Gericht gesessen wird. Oder eine Wand mit Aktenkästen in Reih und Glied – Schlitze in den Schubladen laden ein zum Einwerfen von belastendem Schriftgut.

Damit ist der „Geist“ des Schauplatzes Venedig besser erfasst als im üblichen „Gioconda“-Postkartenkitsch. Denn die „Serenissima“ war über lange Phasen ihrer Geschichte alles andere als heiter. Von außen ständig bedroht durch Feinde und Neider, baute sie nach innen ein nahezu perfektes Spitzelsystem auf, das dem „Rat der Zehn“ ein unheimliches Überwachungssystem an die Hand gab – Grundlage der Macht und der Kontrolle von Bewohnern und Besuchern der Lagune. Dieses System arbeitete geräuschlos, schnell und effizient; sein Arm reichte in alle Welt. Verräter, Verbrecher oder solche, die dafür gehalten wurden, hatten – so heißt es – keine Chance, der tödlichen Rache der Republik zu entgehen.

Das Spitzelsystem der "Serenissima" ins Bild gebracht: Szene aus "La Gioconda" am Musiktheater im Revier. Foto: Pedro Malinowski

Das Spitzelsystem der „Serenissima“ ins Bild gebracht: Szene aus „La Gioconda“ am Musiktheater im Revier. Foto: Pedro Malinowski

Ein Antriebsrad in diesem Getriebe ist Barnaba, ein Spitzel. Er hat alle in der Hand: Die einen, weil sie seine Denunziation fürchten müssen, die anderen, weil ihre Macht auf seiner Loyalität beruht. Piotr Prochera gestaltet ihn mit allzu rauem, zu vibratoreichem, sich immer wieder heiser verfestigendem Bariton als fühllosen Bürokraten. Nach außen ein Durchschnittstyp, zeigen sich seine Abgründe, wenn er in einem wohlkalkulierten Plan seine obsessive Besitzgier befriedigen will: Deren Objekt, die „Gioconda“ genannte „Straßensängerin“, durchkreuzt seinen Plan letztlich, weil sie sich aus ihrem religiösen Rückhalt heraus unmittelbare Menschlichkeit bewahrt hat. Sie ist bereit, Opfer zu bringen.

Die Regie löst dieses Motiv aus der stereotypen Idealisierung in der Oper des 19. Jahrhunderts und beglaubigt es als Ausdruck einer starken Frau, die Herrin über ihre Emotionen ist, selbst wenn sie am Rand des „Suicidio“, des Selbstmords, balanciert. Die Arie zu Beginn des vierten Aktes ist ein Paradestück für dramatische italienische Soprane; Maria Callas verhalf ihr zu unsterblichem Plattenruhm. Petra Schmidt hat nicht den Furor romanischer Diven, nicht den lodernden Rache- und Verzweiflungston, nicht die markig-brustige Tiefe. Ihre Gioconda ist keine Heroine, sondern eine empfindsame Frau, die in ihrem niederdrückenden Alltag den Impuls zu menschlichem Handeln nicht verloren hat. Entsprechend singt Schmidt weicher, schmiegsam in den Kantilenen, manchmal geradezu filigran im Piano, aber mit stetigem, klanglich erfülltem, leuchtendem Ton.

Ein Erbe der französischen Grand Opéra: Politik und Privatleben sind in "La Gioconda" untrennbar miteinander verbunden und wirken aufeinander ein. Foto: Thilo Beu

Ein Erbe der französischen Grand Opéra: Politik und Privatleben sind in „La Gioconda“ untrennbar miteinander verbunden und wirken aufeinander ein. Foto: Thilo Beu

Weil Szemerédy und Parditka in ihrem Konzept den systemisch-politischen Hintergrund akzentuieren, mildern sie die charakterlichen Klischees der „Melodramma“- Figuren im Libretto Arrigo Boitos ab: So ist Alvise Badoero, einer der Chefs der staatlichen Inquisition, auch ein Teil des Systems und hat seine Rolle zu erfüllen. Der Fluchtversuch seiner Frau Laura aus der erzwungenen Ehe gemeinsam mit ihrer Jugendliebe Enzo gewinnt über das private Drama eine politische Dimension – in der Inszenierung betont, indem die Konfrontation der Eheleute in den Gerichtssaal verlegt wird: Alvise fällt das tödliche Urteil über seine Frau auch in seiner Rolle als Staatsdiener. Das hebt die Konflikte über den privaten Raum hinaus und gibt ihnen mehr Brisanz. Dong Won Seo führt die dramatischen Auseinandersetzungen mit seiner Frau kraftvoll, artikuliert auch den zynischen Nihilismus des Machtmenschen („Der Tod ist ein Nichts und der Himmel ein alter Blödsinn“). Im Klang fehlt dem Bass allerdings die Kontrolle über Vibrato und Tonemission.

"La Gioconda" von Amilcare Ponchielli am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen: Petra Schmidt als Gioconda und Almuth Herbst als La Cieca. Foto: Pedro Malinowski

„La Gioconda“ von Amilcare Ponchielli am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen: Petra Schmidt als Gioconda und Almuth Herbst als La Cieca. Foto: Pedro Malinowski

Auch Nadine Weissmann als seine Frau Laura kann nicht überzeugen. „Stella del marinar“ im zweiten Akt singt sie unausgeglichen, zwingt sich unschön über den Registerwechsel, reiht in der Höhe verfärbte Töne aneinander und führt weder Bögen noch Legato auf dem Atem. Als blinde Mutter der Gioconda („La Cieca“) zeigt Almuth Herbst, wie sich aus gut geformten Tönen expressives Singen ergibt. Mit Derek Taylor hat Gelsenkirchen einen standfesten Tenor, der seine Arie „Cielo e mar“ im zweiten Akt ausgeglichen und entspannt im Klang interpretiert, wo er an anderer Stelle einen wenig flexiblen und hin und wieder mit Gewalt in die Höhe gezwungenen Ton offenbart. Chor und Extrachor des Musiktheaters im Revier (Einstudierung: Christian Jeub) sind rhythmisch nicht immer auf dem Punkt, klanglich aber ohne Tadel.

Rasmus Baumann bestätigt die positive Entwicklung der Neuen Philharmonie Westfalen zur ernsthaften Konkurrenz für andere Opernorchester der Region und erweist sich als seriöser Sachwalter der oft unterschätzten Musik. Nichts wirkt knallig und vordergründig; Ponchiellis manchmal pauschaler Satz klingt kompakt, aber nicht dick. Effekte werden nicht ausgestellt, Momente ausgeformt, in denen die Musik in der Kantilene oder in lyrischer Behutsamkeit die Personen der Bühne von innen heraus leuchten lässt.

Auch der „Tanz der Stunden“, das berühmte Ballett der Oper, wird nicht als Schaustück vorgeführt – unterstützt durch die Regie: Die Einlage auf dem Fest Alvise Badoéros im dritten Akt wird zum gleichnishaften Tanz von Masken (Choreografie: Martin Chaix), deren Fäden der Spion Barnaba führt, und zugleich zum danse macabre: Die Bühne dreht sich und zeigt sie Laura im erbarmungswürdigen Todeskampf, verursacht durch ein Gift, von dem sie nicht weiß, dass es sie nur in einen Todesschlaf versetzen wird.

Das Musiktheater im Revier hat mit dieser Inszenierung gezeigt, dass „La Gioconda“ jenseits des Opernmuseums und des Zugstücks für Melomanen eine Chance hat, ernsthaft im Heute anzukommen. Damit führt Generalintendant Michael Schulz die Reihe außergewöhnlicher Produktionen der letzten Spielzeiten erfolgreich fort, deren letzte Ergebnisse eine musikalisch vortreffliche „Norma“ in einer konsequent durchgestalteten Regie Elisabeth Stöpplers oder die höchst erfolgreiche Uraufführung der „Steampunk“-Oper „Klein Zaches, genannt Zinnober“ nach E.T.A. Hoffmann waren.

Die Spielzeit 2016/17 eröffnet eine weitere Oper Benjamin Brittens, „The Turn of the Screw“, gefolgt von einer Rarität, Nino Rotas „Der Florentinerhut“, gemeinsam mit der deutschen Erstaufführung der Mini-Oper Rotas „Die Fahrschule“. Gabriele Rech bringt am 29. Januar 2017 mit Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ eine der bedeutendsten Opern-Entdeckungen der letzten Jahre ins Ruhrgebiet. Und in einer Inszenierung von Michael Schulz werden Catherine Foster und Torsten Kerl Richard Wagners „Tristan und Isolde“ singen, bevor mit „Hoffmanns Erzählungen“ ein neuer Ausflug in die phantastischen Traum- und Parallelwelten des romantischen Dichters möglich wird.




Ab 2018: Stefanie Carp und Christoph Marthaler sollen die RuhrTriennale leiten

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Für die Kulturszene, zumal im Ruhrgebiet, ist dies eine Nachricht von größerem Kaliber: Von 2018 bis 2020 werden die Dramaturgin Stefanie Carp (Jahrgang 1956) und der Schweizer Theatermacher Christoph Marthaler (64) an der Spitze der RuhrTriennale stehen. Zwei hochkarätige Namen, fürwahr.

Die Entscheidung war gestern noch ziemlich frisch. Man hatte sie, so gut es eben ging, geheim gehalten. Und so konnte NRW-Kulturministerin Christina Kampmann in der Bochumer Jahrhunderthalle tatsächlich den allermeisten Medien eine Neuigkeit verkünden. Der zum Scherzen aufgelegte Christoph Marthaler flunkerte gar, ihm selbst sei das alles auch neu. Die Einladung nach Bochum hätte er demnach einfach mal so als schicksalhaft hingenommen…

„Das schönste aller Festivals“

Gleichfalls anwesend war der jetzige Triennale-Intendant Johan Simons, der hier – beim „schönsten aller Festivals“ (Simons) – noch zwei Spielzeiten vor sich hat. Der Niederländer versicherte glaubhaft, dass er die Entscheidung für Carp und Marthaler sehr begrüße („Eine richtig gute Wahl“), denn gerade die Mischformen zwischen Theater, Musik (und anderen Künsten), die die RuhrTriennale prägen, lägen den beiden „Neuen“ am Herzen.

Kennzeichnend für die Triennale sind auch die teilweise monumentalen Spielstätten mit industrieller Vergangenheit. „Das ist meine Welt“, rief Christoph Marthaler aus. Er habe als Künstler in Garagen und Fabriken begonnen.

Geschichte der monumentalen Räume

Marthaler schwärmt noch heute von unvergesslichen Revier-Ortsbesichtigungen im Gefolge des Triennale-Gründungsintendanten Gerard Mortier und leidet offenbar am herkömmlichen Guckkasten-Theater: „Auf Bühnen verkümmere ich.“ Neue, ungeahnte Räume erfassen und entwerfen, darum ist es ihm zu tun. Es gelte, auch die Geschichte dieser Räume aufzunehmen und fortzuführen, die nicht zuletzt eine Geschichte der Arbeit sei.

Natürlich verrät das künftige Führungs-Duo (Carp fungiert als Intendantin bzw. Direktorin, Marthaler sozusagen als „Chefregisseur“) noch nichts Konkretes über Planungen und weitere Personalien; erst recht nicht, weil Johan Simons ja noch in seiner Festivalarbeit steht, bevor er 2018 die Leitung des Bochumer Schauspielhauses übernimmt. Carp und Marthaler betonten, sie hätten bislang nicht einmal ihre engste berufliche Weggefährtin, die Regisseurin und Bühnenbildnerin Anna Viebrock, eingeweiht. Man darf aber – bei aller Vorsicht – wohl davon ausgehen, dass sie auch bei der Triennale zum engeren Kreis zählen wird.

„Zwischenzeiten“ als Leitmotiv

Stefanie Carp, die vor allem in Hamburg, Zürich, Wien (Festwochen) sowie Berlin (Castorfs Volksbühne) gewirkt hat und mehrfach als Dramaturgin des Jahres ausgezeichnet wurde, blieb also notgedrungen eher allgemein und vage, als sie „grenzgängerische und hybride“ Produktionen als Mischformen zwischen den Künsten in Aussicht stellte. Dazu gebe es schon etliche Ideen, die aber noch reifen müssten.

Jedenfalls, so Carp, vertrage gerade die RuhrTriennale kein Verharren im Konventionellen. Gefragt seien Experimente, und zwar „im großen Format“. Ein übergreifendes Motto für die Spielzeiten 2018-2020 schwebt ihr und Marthaler auch schon vor: „Zwischenzeiten“. Das Dazwischen sei nicht nur zeitlich zu verstehen, sondern beispielsweise auch kulturell. Allerdings könne sich die Leitidee in den nächsten Jahren noch wandeln.

Große Erwartungen geweckt

In einem unscheinbaren, aber vielleicht bezeichnenden Nebensatz erklärte sich Stefanie Carp vorwiegend fürs Pragmatische zuständig, während Marthaler offenbar vor allem als künstlerischer Anreger wirken soll; was aber sicherlich nicht heißt, dass sie das Kreative allein ihm überlässt. Als Leitungsteam haben sie schon gemeinsam in Zürich bewiesen, welch reiche Früchte ihre Zusammenarbeit tragen kann. Sie sind bestens aufeinander eingespielt. Und wir wagen mal die beherzte Prognose, das vom neuen Duo tatsächlich einige Großtaten zu erwarten sind.

Kurz zurück in die Niederungen. Über die finanzielle Ausstattung der RuhrTriennale und die Dotierung der Leitungsposten mochte man im Überschwang nicht reden. Kulturministerin Kampmann sagte, das sei noch kein Thema gewesen. Christoph Marthaler gab sich unterdessen zuversichtlich: „Wir werden uns schon einigen.“

Sie freue sich besonders, dass erstmals eine Frau das renommierte Festival leiten werde, befand die Direktorin des Regionalverbands Ruhr (RVR), Karola Geiß-Netthöfel. Schmerzliche Einschränkung: 2006 war Marie Zimmermann bereits als Triennale-Chefin für 2008 bis 2010 vorgestellt worden. Sie starb im Jahr 2007. Man hat also nie erfahren dürfen, was sie bewirkt hätte.




Vom Florentiner Hut bis zum Tristan: Das MiR Gelsenkirchen stellt sein Programm vor

Das Musiktheater im Revier (Foto: Pedro Malinowski)

Das Musiktheater im Revier gehört zu den bedeutendsten Theaterbauten der Nachkriegszeit. Am 15. Dezember 1959 wurde der neugebaute Komplex nach den Entwürfen des federführenden Architekten Prof. Werner Ruhnau eröffnet. (Foto: Pedro Malinowski)

Es ist eigentlich ein ganz einfacher Satz. Aber welchem anderen Stadtoberhaupt in der Region käme er jemals über die Lippen? Frank Baranowski, amtierender Oberbürgermeister von Gelsenkirchen, eröffnet die Pressekonferenz im Opernhaus der Stadt mit einem klaren Bekenntnis zum Theater.

Kurz zählt er die Fördermittel auf, 13 Millionen Euro für das Musiktheater, 4 Millionen für die Neue Philharmonie Westfalen. Gelder, um die es in Gelsenkirchen zum Glück keine Konkurrenz gebe, wie der OB sagt. Dann fügt er mit großer Selbstverständlichkeit hinzu „Ich bin davon überzeugt, dass dieses Geld gut angelegt ist.“

Der OB bekannt sich zum Theater

Glückliches Gelsenkirchen! Von solcher Rückendeckung durch die Stadtspitze können Kulturschaffende andernorts nicht einmal mehr träumen. Indes weiß Baranwoski als regelmäßiger Theatergänger sehr genau, wovon er spricht. Er lobt die Bandbreite des Angebots, das Intendant Michael Schulz im Folgenden genauer vorstellt. Die Spielzeit wird im Kleinen Haus mit „The Turn of the Screw“ beginnen (10. September 2016), einem psychologisch raffinierten Geister- und Gruselstück, mit dem das Theater seinen Britten-Zyklus fortsetzt. Das Große Haus, vom 1. Juni bis 3. Oktober wegen Baumaßnahmen geschlossen, erwacht am 16. Oktober 2016 mit der Wiederaufnahme des Musicals „Anatevka“ zu neuem Leben.

Szenenfoto aus dem Musical "Anatevka" (Foto: Pedro Malinowski)

Szenenfoto aus dem Musical „Anatevka“ (Foto: Pedro Malinowski)

Es sind vor allem zwei Raritäten, die den neuen Opernspielplan würzen. Zu nennen ist zunächst „Der Florentiner Hut“ des Italieners Nino Rota, berühmt vor allem durch seine Filmmusiken zu „La Strada“, „La Dolce Vita“ und „Der Pate I & II“. Der Stoff, eine Hochzeitskomödie mit vielen heiteren Verwicklungen um einen Strohhut, wurde in Deutschland durch den gleichnamigen Film mit Heinz Rühmann bekannt.

Oper über eine Auschwitz-Überlebende

Einen überaus ernsten Kontrapunkt bildet „Die Passagierin“, Hauptwerk des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg, der vor den Nazis nach Moskau floh. In zwei Akten erzählt die Oper von einer Auschwitz-Überlebenden, die nach dem Krieg auf einem Ozeandampfer einer ehemaligen KZ-Aufseherin wieder begegnet. Nach der szenischen Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen im Jahr 2010 wird das MiR das vierte Haus sein, das „Die Passagierin“ aufführt. Um das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und zu vertiefen, bietet das Haus ein Rahmenprogramm mit Lesungen, Kammermusik, Chansons und Schauspiel.

Die großen Opernproduktionen seien natürlich nicht verschwiegen: Es sind Richard Wagners „Tristan und Isolde“ (4. März 2017, Regie: Michael Schulz), Mozarts „Don Giovanni“ (29. April 2017, Regie: Ben Baur) und „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach (10. Juni 2017, Regie: Michiel Dijkema). Hinzu kommen Franz Lehárs Operette „Die lustige Witwe“ (16. Dezember 2016) und das Kult-Musical „Linie 1“ (11. März 2017) von Birger Heymann und Volker Ludwig. Experimentell wird es ab September 2016 mit der Fortsetzung von Daniel Kötters Musiktheaterprojekt „ingolf #2 – 6“, an dessen Entwicklung sich das Publikum und Gelsenkirchener Bürger beteiligen können.

Alina Köppen und Junior Demitre in der Produktion "Ruß", die mit dem Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde (Foto: Pedro Malinowski)

Alina Köppen und Junior Demitre in der Produktion „Ruß“, die mit dem Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde (Foto: Costin Radu)

Gleich neun Tanz-Produktionen

Kaum zu bremsen ist die Compagnie von Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner, die sich mit insgesamt neun Produktionen präsentiert. Der Jahresjubilar William Shakespeare hinterlässt dabei deutliche Spuren im Programm. Der Wiederaufnahme des Aschenputtel-Stücks „Ruß“ (23. September 2016) folgt das Ballett „Prosperos Insel“ (8. Oktober 2016), das Breiner in diesen Tagen nach Shakespeares „Der Sturm“ entwickelt.

Für Kinder und Jugendliche tanzt die Compagnie „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Kevin O’Day (26. November 2016). Weiter geht es mit „Hamlet“ (11. Februar 2017), einem Ballett der britischen Choreographin Cathy Marston, die in Gelsenkirchen bereits mit ihren ungewöhnlichen Perspektiven auf Strawinskys „Oprheus“ und Anton Tschechows „Drei Schwestern“ überraschte. Die Orgelsymphonie von Camille Saint-Saens inspirierte Bridget Breiner zu einem zweiteiligen Ballettabend mit dem Titel „The Vital Unrest“ (25. März 2017). Choreographien von Marguerite Donlon und Renato Paroni de Castro sind an einem mehrteiligen Abend mit dem Titel „Der Rest ist Tanz“ zu sehen (20. Mai 2017). Die 4. Internationale Ballettgala (17. Juni 2017), eine experimentelle Jam Session im Frühjahr 2017 sowie das Schüler-Tanzprojekt „Move!“ (28. Juni 2017) runden das Programm ab.

Mahlers „Sinfonie der Tausend“

Die Broschüren zur Spielzeit 2016/17 im Musiktheater im Revier (Foto: Christoph Nager/MiR)

Die Broschüren zur Spielzeit 2016/17 im Musiktheater im Revier (Foto: Christoph Nager/MiR)

Die Neue Philharmonie Westfalen, die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert, eröffnet die Spielzeit am 11. September 2016 im Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen mit der „Sinfonie der Tausend“ von Gustav Mahler.  Lange musste dafür nach einem Spielort gesucht werden, was  angesichts der für dieses Werk erforderlichen Vielzahl von Musikern, Choristen und Gesangssolisten nicht verwundert.

Mit „Ein Deutsches Requiem“ von Johannes Brahms und der 7. Sinfonie von Anton Bruckner finden sich weitere Monumentalwerke in den Sinfoniekonzerten, die neben bekanntem Repertoire aber auch Raum für Entdeckungen lassen: zum Beispiel für das Konzert für Saxophon und Orchester von Henri Tomasi (Solistin: Asya Fateyeva), das Trompetenkonzert „Nobody knows de trouble I see“ von Bernd Alois Zimmermann (Solist: Reinhold Friedrich) oder auch das Konzert für Koloratursopran und Orchester von Reinhold Glière (Sopran: Nicole Chevalier).

Breite Publikumsschichten anzusprechen, ohne die Kenner zu langweilen: Zu dieser Gratwanderung gesellt sich in Gelsenkirchen eine weitere, weil sich das Theater möglichst geschickt zwischen den großen Häusern in Essen und Dortmund positionieren muss. 90.000 Besucher in der noch laufenden Spielzeit (Stand: 31. März 2016) sprechen derzeit für einen guten Zulauf. Man darf gespannt sein, wie es weiter geht.

(Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/)




Vieles von allem: Das Theater Dortmund präsentiert sein Programm für 2016/2017

Schauspielhaus Dortmund

Hier wird derzeit renoviert – und alle hoffen, daß es pünktlich sein Ende hat: Das Theater Dortmund (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Die längste Theaterveranstaltung in der kommenden Spielzeit ist ein „54 Stunden Night Club“ im Megastore. Beginnend Freitag, 21. Oktober, und endend am Sonntag, 23. Oktober, will das Dortmunder Schauspiel – hoffentlich! hoffentlich! – Abschied nehmen von seiner provisorischen Spielstätte im Gewerbegebiet an der Nortkirchenstraße.

Das setzt natürlich voraus, daß dann die Renovierungsarbeiten im Großen Haus beendet sind. Dort, im Großen Haus, soll sich erstmalig wieder am 10. Dezember der Vorhang für Bert Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ heben, Regie führt der 1967 geborene Sascha Hawemann, von dem in Dortmund bereits als Regiearbeit das Familiendrama „Eine Familie (August: Osage County)“ zu sehen war.

Fünf Sparten machen Betrieb

Das Theater Dortmund, mit seinen fünf Sparten Ballett, Philharmoniker, Oper, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater doch ein recht machtvoller Kulturbetrieb, hat seine Pläne für 2016/2017 vorgestellt. Ein aufwendig gestaltetes Spielzeitheft (eigentlich eher ein Buch) faßt all die Pläne und Termine faktenreich zusammen, und Bettina Pesch, die Geschäftsführende Direktorin, weist nicht ohne Stolz darauf hin, daß dieses Buch den Etat nicht belastet hat, sondern ausschließlich aus Mitteln von Kulturstiftern bezahlt werden konnte. Das ändert allerdings, kleiner Schmäh am Rande, nichts daran, daß der optische Auftritt des Theaters Dortmund, seine, wie man heute gern sagt, „Corporate Identity“, dringend einer Auffrischung, besser noch einer ziemlich grundlegende Modernisierung bedarf.

Der optische Auftritt ist reichlich angestaubt

Die Grundfarbe Orange war in den 80er Jahren modern (zusammen mit Braun und Olivgrün, in wild wogenden Tapetenmustern), erbaut heutzutage aber bestenfalls noch patriotisch gestimmte Holländer; die fette Schrift von Typ Helvetica sowie die vor allem im Konzertbereich immer noch gepflegte Kleinschreibung von Hauptwörtern sind Moden der 60er Jahre, die andernorts längst überwunden wurden und keine Nostalgiegefühle hervorrufen. Für ein fortschrittliches Haus ist dieser Auftritt schlicht kontraproduktiv.

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Im Schauspielhaus. (Foto: Sascha Rutzen/Theater Dortmund)

Revolutionär und globalisierungskritisch

Wenden wir unseren Blick nun auf das Schauspiel, das sich, je nach dem, mal revolutionär, mal doch zumindest globalisierungskritisch gibt. Revolutionär startet es in die Spielzeit, wenn man den Stücktitel wörtlich nimmt. Doch auch wenn Joël Pommerats „La Révolution #1 – Wir schaffen das schon“ mit der französischen Revolution mehr zu tun hat als vor einigen Jahren sein Erfolgsstück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ mit Korea, bleibt noch Platz für Menschliches, Privates, was diesen Abend in der Regie von Ed Hauswirth hoffentlich vor der Tristesse des freudlosen Historiendramas bewahren wird. Um die französische Revolution geht es aber wirklich: „Schloß Versailles, 1787. König Louis XVI hat die wichtigsten Adeligen seines Landes zusammengerufen…“ beginnt der Ankündigungstext. Also schau’n wir mal – auch, was die Ereignisse von einst den Heutigen noch sagen können. Übrigens ist auch „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Programm, Premiere am 8. April 2017 im Schauspielhaus, Regie Paolo Magelli.

Der lange Schatten Michael Gruners

An Horváth, sagt Schauspielchef Kay Voges, habe man sich in seiner Intendanz für Jahre nicht herangewagt, weil die Horváth-Kompetenz seines Vorgängers Michael Gruner so übermächtig gewesen wäre. Oder zumindest diesen Ruf hatte. Nun aber gibt es doch einen: „Kasimir und Karoline“, ab 18. September im Megastore und in der Regie von Gordon Kämmerer.

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Markant: Das Opernhaus (Foto: Philip Lethen/Theater Dortmund)

Zu Gast bei den Ruhrfestspielen

„Die Simulanten“, die Philippe Heule erstmalig ab dem 23. September im Megstore auftreten läßt, können vorher schon bei den Ruhrfestspielen besichtigt werden, nämlich am 7., 8. und 9. Juni. Nach gefühlten 150 Jahren gibt es tatsächlich eine Kooperation von Recklinghausens Grünem Hügel und dem Theater Dortmund, was trotz der räumlichen Nähe doch eine Win-Win-Situation zu sein scheint. Die Dortmunder können sich einem anderen Publikum präsentieren, das Festival sichert sich eine Produktion von größter Aktualität. Denn Philippe Heudes Simulanten sind mit ihren Fernbeziehungsneurosen, ihrer Therapiegläubigkeit und ihrer Angst vor dem Konkreten wohl recht typisch für die Jetztzeit. Auch ihr Unbehagen in der Welt ist es, also am besten schnell einen UN-Weltklimagipfel abhalten. Nur als Simulation natürlich.

Rimini Protokoll kurvt durch das Ruhrgebiet

Was haben wir noch? Das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll verlegt seine Truck Track Ruhr Nummer 4 ins Dortmunder Stadtgebiet („Album Dortmund“) und tüftelt zusammen mit Dortmunder Theaterleuten aus, wo genau es langgehen soll. Übrigens begegnet man den Truck Tracks Ruhr auch bei den Ruhrfestspielen und bei der Ruhrtriennale, sie kommen halt viel rum und sind, wie man sieht, überaus kontaktfreudig. Was dort konkret passiert? Den Beschreibungen nach – ich war noch nicht dabei – werden maximal 49 Zuschauer auf einem überdachten Lkw zu markanten Punkten gefahren, die sie mit Musik und künstlerischer Intervention intensiv erleben. Gute Reise!

Häßliche Internationalisierung

Interessant in des Wortes höchst ursprünglicher & positiver Bedeutung klingt, was uns in „Die schwarze Flotte“ erwartet. Dieser „große Monolog“ (Voges) „von Mike Daisey nach einer Recherche von Correct!v“ blickt sozusagen in die Abgründe der internationalen Seeschiffahrt, die mit beängstigendem Gleichmut Rohstoffe, Öl und Handelswaren, Waffen, Drogen, Flüchtlinge und Arbeitsmigranten über den Globus transportiert. Zu wessen Nutzen? Das Stück verspricht Antworten, Regie führt Hausherr Kay Voges.

Von Franz Xaver Kroetz gibt es „Furcht und Hoffnung in Deutschland: Ich bin das Volk“, entstanden in den 80er und 90er Jahren (Regie: Wiebke Rüter), von Kay Voges einen Film zum Flüchtlingselend dieser Welt und Europas Abwehrhaltung dazu („Furcht und Ekel in Europa“, Premiere im Dezember 2016).

Wolfgang Wendland Ekkehard Freye Julia Schubert

Manchmal kommen sie wieder: „Die Kassierer“ mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland, hier noch bei „Häuptling Abendwind“ zu sehen, sind demnächst „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Kassierer“ kommen wieder

Bevor die Punk-Greise „Die Kassierer“ (wieder im Unten-ohne-Look?) mit der Punkoperette „Die Drei von der Punkstelle“ der Spielzeit 2016/2017 ihren krönend-krachenden Abschluß verleihen werden, wartet das Programm noch mit einer besonderen „Faust“-Adaption auf („Faust At The Crossroads“, Regie Kay Voges), einem neuen Stück der Theaterpartisanen („Übt das Unerwartete“), einem Stück über die islamistische Radikalisierung junger Männer („Flammende Köpfe“ von Arne Vogelsang) und einem „Live-Animationsfilm von sputnic nach dem gleichnamigen Roman von Paul Auster“: „Mr. Vertigo“. Und was der Hausherr in der Oper veranstaltet, wird ein paar Absätze später erzählt.

Internetreinigung

Zuvor jedoch einige Worte über „Nach Manila – Ein Passionsspiel nach Ermittlungen auf den Philippinen von Laokoon“. Hier bekommt Globalisierungskritik ein Gesicht, genauer ihrer viele, Millionen, täglich. Es geht um die 350 Millionen Fotos, die täglich auf Facebook hochgeladen werden, die 80 Millionen auf Instagram, die 400.000 täglichen Videostunden bei Youtube. Auf den Philippinen ist es der Job vieler vorwiegend junge Menschen, diese Material auf unzumutbare Pornographie, Brutalität, Grausamkeit und so fort zu sichten und alles zu löschen, was der Kundschaft im reichen Norden des Planeten nicht zuzumuten ist.

Warum Philippinos? Weil sie, so wird behauptet, überwiegend katholisch sind und nordwestliche Moralvorstellungen sich weitgehend mit den ihren decken. Vielleicht aber auch nur, weil ihre Arbeit spottbillig ist. Jedenfalls interessiert es die weltweit agierenden Internetkonzerne nicht sonderlich, wie die Menschen in derart belastenden Jobs zurechtkommen. Schlecht, behauptet das Stück in der Regie von Moritz Riesewieck. Ich bin gespannt.

Kay Voges inszeniert Wilson-Oper

Ein kurzer Blick nun auf das Programm der Oper, wo wiederum Schauspielchef Kay Voges gesichtet wird. Er führt Regie in „Einstein on the Beach“ von Robert Wilson und dem weltberühmten Musikminimalisten Philip Glass. Es ist die erste Bühnenfassung, die nicht Großmeister Wilson selbst gestaltet. „Nein“, bestätigt Opernintendant Jens-Daniel Herzog, es gibt keine Inszenierungsvorschriften, keine Auflagen, das Stück à la Robert Wilson auf die Bühne zu stellen. Florian Helgath hat die musikalische Leitung, das Chorwerk Ruhr wirkt mit und man hat den Eindruck, daß dies ein schöner Abend werden kann (erstmalig am 23. April 2017).

Der Opernball fällt aus, dafür gibt es am 9. Januar eine konzertante „Fledermaus“. Nicht fehlt „Die Zauberflöte“, nicht „Otello“ doch sind auch Andrew Lloyd Webber und Paul Abraham zugegen, mit dem Musical „Sunset Boulevard“ der eine, mit der Jazz-Operette „Die Blume von Hawaii“ der andere. Und jetzt höre ich auf, Opern-Facts zu reihen und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß mein geschätzter Kollege S. sich dieser Aufgabe hingebungsvoll hingibt.

Lüner Solistin Mirijam Contzen im philharmonischen Konzert

Gleiches gilt für die Konzertreihen, an denen stark beeindruckt, daß sie alle schon bei der ersten Präsentation des Programms bis zur Zugabe (Scherz!) durchgeplant sind. Träume und Phantasien, so Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, seien so etwas wie das Leitmotiv der kommenden Saison, die seine vierte in Dortmund sein wird. Übrigens wird beim 8. Konzert am 9.und 10. Mai 2017 die Geigerin Mirijam Contzen zu hören sein, die in Lünen aufwuchs und seit etlichen Jahren das Musikfestival auf Schloß Cappenberg leitet (das in diesem Jahr wegen Renovierung des Schlosses ausfällt). Mittlerweile zählt sie zu den Großen der internationalen Solistenszene. In Dortmund wird sie in Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur op. 35 zu hören sein.

Open Air auf dem Friedensplatz

Und endlich gibt es Open Air Klassik auf dem Dortmunder Friedensplatz! Der Cityring macht’s möglich (und verkauft die Eintrittskarten). Am Freitag, 26. August, startet die vierteilige Reihe mit einer Sommernacht der Oper, mit La Traviata und Zigeunerchor (heißt nun mal so). Am darauffolgenden Samstag ist unter dem Titel „Groove Symphony“ „ein perfekter Mix aus Soul, Elektro, Klassik und Hip Hop“ zu hören, die Gruppe Moonbootica und Philharmoniker spielen gemeinsam auf.

Sonntag ist dann um 11 Uhr Familienkonzert unter dem Titel „Orchesterolympiade“ Musiker im Trainingsanzug treten an zum Höher, Schneller, Weiter der Instrumente, und am Pult steht Gabriel Feltz höchstselbst. Na, das wird was werden. Abends dann schließlich die Musicalgala „A Night full of Stars“. Es dirigiert Philipp Armbruster, es singen Alexander Klaws, Patricia Meeden und Morgan Moody.

NRW Theatertreffen Juni 2014

Schauspielhaus (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Schwanensee ist wieder da

Und jetzt gucken wir noch kurz, was Ballettdirektor Xin Peng Wang anzubieten hat. Bei seinen Premieren gibt es einen „Faust II – Erlösung“, und bei den Wiederaufnahmen „Faust I – Gewissen!“. „Schwanensee“ kommt wieder, und von besonderer Delikatesse ist sicherlich die Präsentation dreier Choreographien von Johan Inger, Richard Siegal und Edward Clug unter dem Titel „Kontraste“. An zwei Wochenenden (24./25.9.2016, 24./25.6.2017) spenden die Ballettgalas XXIV und XXV (also 24 und 25) Glanz. Und wie immer gilt besonders für das Ballett der Rat: Man mühe rechtzeitig sich um Karten, denn allzu schnell sind sie vergriffen.

Weihnachten wird es eng im Kinder- und Jugendtheater

Zu guter Letzt das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das sich tapfer und mit Erfolg bemüht, alle Kinder zu erreichen, auch die benachteiligten, und dessen Produktionen sich immer auch um Solidarität, Fairneß und Gerechtigkeit drehen. In „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel gehen „ein Hoch- und ein Tiefbegabter“ (KJT-Chef Andreas Gruhn) auf erfolgreiche Verbrecherjagd, ein bißchen so wie weiland Kästners „Emil und die Detektive“. Jörg Menke-Peitzmeyers „Strafraumszenen“ drehen sich um Fußball und Rassismus, es gibt ein Flüchtlingsprojekt („Say it loud II – Stories from the brave new world“) und im Sckelly etwas für Kinder ab 4 Jahren („Dreier steht Kopf“ von Carsten Brandau).

Das Weihnachtsstück heißt „Der falsche Prinz“, Andreas Gruhn schrieb es nach der Vorlage von Wilhelm Hauff. Uraufführung ist am 11. November, und dann wird gespielt und gespielt und gespielt. Leider aber nicht im Großen Haus, denn das wird ja renoviert. An der Sckellstraße aber sind die Plätze knapp, nur zwei Drittel der sonstigen Menge stehen zur Verfügung.

Auslastung lag bei 73,1 Prozent

Viel Theater. Viel Oper, viel Ballett und viel Konzert. Und in Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Hagen, um nur die nächstliegenden städtischen Bühnen der Umgebung zu nennen, gibt es auch attraktive Angebote. Da muß man sich strecken, wenn man mithalten will. 73,1 Prozent durchschnittliche Auslastung aller Veranstaltungen hat Bettina Pesch ausgerechnet, Gabriel Feltz hält eine Zielmarke von 80 Prozent für realistisch. Und dann wäre statistisch gesehen ja immer noch Luft nach oben. Jedenfalls lasten im Moment keine lähmenden Sparzwänge auf dem Dortmunder Theater. Und das ist auch gut so.

Wer jetzt noch mehr wissen möchte, sei auf die Internetseite des Dortmunder Theaters verwiesen: www.theaterdo.de

Die neuen Programmbücher, in denen alles steht, liegen an der Theaterkasse im Opernhaus aus und können kostenlos mitgenommen werden.