Die Zähne des Haifischs: Vor 125 Jahren wurde der Komponist Kurt Weill geboren

Kurt Weill (li.) und Bert Brecht. (Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau)

Ernste Musik? Unterhaltungsmusik? Dieser Unterscheidung gab es für Kurt Weill nicht. Für ihn gab es nur „gute und schlechte Musik“. Verwirklicht hat er dieses Konzept, mit dem er die Grenzen zwischen „hoher“ und „populärer“ Kunst niederriss, 1928 mit dem Sensationserfolg der „Dreigroschenoper“. Gemeinsam mit Bertolt Brecht schuf der 28-Jährige dieses Meisterwerk des musikalischen Theaters, das zu den größten Bühnenerfolgen des 20. Jahrhunderts gehört.

Von Anhalt an den Broadway

Der am 2. März 1900 geborene Sohn des Kantors der jüdischen Gemeinde in Dessau ging diesen Weg nicht freiwillig. Schon 1933 floh er vor den Nazis nach Paris; zwei Jahre später emigrierte er mit seiner Frau Lotte Lenya in die USA. Weill gelang es, jenseits des großen Teichs Fuß zu fassen. Er tauchte tief in die amerikanische Kultur ein, wollte ein durch und durch „amerikanischer“ Komponist werden. Ab 1936 baute er eine stetige Musical-Karriere auf, die von „Johnny Johnson“ über die Erfolgsstücke „Lady in the Dark“, „A Touch of Venus“ und „Street Scene“ bis zu seiner „musikalischen Tragödie“ mit dem Titel „Lost in the Stars“ 1949 führt. Über der Arbeit zu einem Musical nach Mark Twains „Huckleberry Finn“ erlitt Weill einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er vor rund 75 Jahren, am 3. April 1950 starb.

Prägende Zeit in Lüdenscheid und Berlin

Weills musikalische Entwicklung begann früh: Schon in der Schulzeit in Dessau schrieb er erste kleine Kompositionen und betätigte sich als Liedbegleiter. Mit achtzehn Jahren ging er nach Berlin und studierte u.a. Komposition bei Engelbert Humperdinck. Seine Suche nach Neuem hätte ihn beinahe zu Arnold Schönberg nach Wien geführt, aber die prekäre Situation seiner Familie – sein Vater hatte die Stellung als Kantor der jüdischen Gemeinde in Dessau verloren – zwang den Neunzehnjährigen zum Geldverdienen.

Seine erste Stelle fand er am Friedrich-Theater seiner Heimatstadt Dessau als Korrepetitor unter dem damaligen musikalischen Leiter Hans Knappertsbusch. Dessen autoritärer Stil ließ den jungen Weill bei erster Gelegenheit das Weite suchen. Ende November 1919 trat er ein Engagement als Kapellmeister am Stadttheater Lüdenscheid an. Dort sollte er viel über den Alltagsbetrieb eines Theaters lernen, fand er doch die „typischen Verhältnisse einer ‚Schmiere‘ vor, wie Weill-Biograf Jürgen Schebera beschreibt.

Seiner Schwester Ruth berichtet Weill in Briefen vom anstrengenden Alltag an einem kleinen Dreispartentheater, wo fast in jeder Woche eine Premiere stattfinden musste: „Du kannst Dir denken, wie ich zu tun habe. Sonntag nachmittag ,Fledermaus‘, abends ,Cavalleria rusticana‘, Montag nachmittag ,Zigeunerbaron‘, abends Premiere einer neuen Operette. Wie ich mit den Proben fertig werden soll, ist mir schleierhaft …“. Und ein anderes Mal beklagt er sich: „Morgen habe ich wieder Premiere, eine furchtbar dreckige Gesangsposse ‚Im 6. Himmel‘ …“. Dennoch: In Lüdenscheid, so erinnert er sich Jahre später in den USA, habe er erkannt, „dass das Theater meine eigentliche Domäne werde würde“.

Meisterschüler bei Busoni

Weill blieb nicht lange in Lüdenscheid; Ende Mai war die Spielzeit zu Ende. Sein Vater hatte eine neue Stelle angetreten; Weill strebte nach Berlin zurück und hatte Glück: Ferruccio Busoni nahm ihn Ende 1920 als einen von fünf Meisterschülern in seine neue Kompositionsklasse auf. Die Zeit in der brodelnden Kulturmetropole sollte für Weill prägend werden. Als Student schrieb er bereits sein Streichquartett h-moll, eine Suite für Orchester und 1921 eine einsätzige Symphonie No. 1. Andere seiner frühen Werke sind verloren.

Weill hielt daran fest, dass seine große Begabung die Arbeit für die Bühne sei. Mit 22 Jahren schrieb er die Musik zu einer Ballettpantomime „Zaubernacht“. Darin geht es um einen Kindertraum: Sobald Jungen und Mädchen eingeschlafen sind, kommt die Zauberin und lässt Spielsachen und Märchenfiguren lebendig werden. Partitur und Stimmen waren verschollen und wurden zufällig in der Yale Universität wiederentdeckt. Erst 2010 wurde das Stück beim Musikfest Stuttgart wieder aufgeführt. Eine Kritik würdigte die Musik: „Weill verwendet genial alle Möglichkeiten seiner Zeit, arbeitet mit atonalen Passagen, lässt die Streicher in schönster Walzerseligkeit schluchzen, imitiert den Neoklassizismus, aber auch die harmonischen Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule.“

Ein „Ruhrepos“ mit Bertolt Brecht

Nach der erfolgreichen Aufführung seiner ersten Oper „Der Protagonist“ lernte Weill im April 1927 Bertolt Brecht kennen. Ihr erstes großes gemeinsames Projekt hätte eine monumentale „Ruhroper“ werden sollen, deren Konzept bereits im Juni 1927 weit gediehen war. „Das Ruhrepos soll sein ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes, seiner eminenten Entwicklung im Zeitalter der Technik, seiner riesenhaften Konzentration werktätiger Menschen und der eigenartigen Bildung moderner Kommunen. Da nun aber der ganze Aufbau des Ruhrgebiets für unsere Zeit charakteristisch ist, soll das Ruhrepos gleichzeitig ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche überhaupt sein“, umreißt Brecht die künstlerische Absicht des Projekts.

Kurt Weill hatte für die Musik sehr konkrete Vorstellungen: Sie schließe „alle Ausdrucksmittel der absoluten und der dramatischen Musik zu einer neuen Einheit zusammen“, schreibt er kühn. Geplant seien keine „Stimmungsbilder“ oder „naturalistische Geräuschuntermalung“. Sondern die Musik präzisiere Spannungen der Dichtung und der Szene in Ausdruck, Dynamik und Tempo. Abgeschlossene Orchesterstücke sollten als symphonische Vor- und Zwischenspiele dienen. Arien, Duette, Ensemblesätze, kleinere Instrumentengruppen oder über den Raum verteilte Chöre mit ihren Instrumenten, aber auch Songs mit Jazz-Rhythmus oder „kammermusikalische Stücke komischer Art“ waren vorgesehen. Mit Filmen und Lichtbildern des Filmregisseurs Carl Koch sollte das Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen.

Das Projekt scheiterte an der antisemitischen Hetze nicht zuletzt in der Presse und an provinziellen Ressentiments gegen die Berliner Kultur, während das Mahagonny-Songspiel Weills und Brechts im Juli 1927 in Baden-Baden einen Skandal-Erfolg erlebte. Drei Jahre später hatte die aus dem Songspiel entwickelte Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Leipzig ihre sensationelle, aber bereits von den Nationalsozialisten massiv gestörte Uraufführung. Ein Jahr nach diesem wohl größten Theaterskandal der Weimarer Republik endete Weills Zusammenarbeit mit Brecht: Weill wollte sich mit der für ihn allzu restriktiven Rolle der Musik in Brechts politischem Theater nicht abfinden.

Gegen das Illusions- und Gefühlstheater

Für Brecht und Weill war es erklärtes Ziel, Formen des bürgerlichen Theater- und Opernbetriebs aufzubrechen und nach neuen Wegen zu suchen. In „Mahagonny“ sah Kurt Weill den Versuch, „das Wesen unserer Zeit von innen her zu beleuchten“. Er traf sich mit Brechts Intention, der damals verkündete: „Wenn man sieht, dass unsere heutige Welt nicht mehr in das Drama passt, dann passt das Drama eben nicht mehr in die Welt.“ Weill stand der herkömmlichen Form der Oper, dem Illusions- und Gefühlstheater, ebenso kritisch gegenüber: „Wenn also der Rahmen der Oper eine derartige Annäherung an das Zeittheater nicht verträgt, muss eben dieser Rahmen gesprengt werden.“

Vor diesem Skandal lag jedoch noch der Riesenerfolg der „Dreigroschenoper“: Die Story aus dem Gauner- und Proletenmilieu bedeutete für Weill nicht nur den endgültigen Schritt in eine neue Art von Musiktheater, sondern – ganz prosaisch – das Ende aller finanziellen Sorgen. Bis heute sind die Songs weltberühmt, allen voran die Moritat von Mackie Messer: „Und der Haifisch, der hat Zähne …“.

Passend zum Weill-Jubiläumsjahr 2025 bringt die Oper Bonn ab 6. April Brecht und Weills „Die Dreigroschenoper“ in einer Neuinszenierung von Simon Solberg. Daniel Johannes Mayr dirigiert. Termine: 6., 8., 20. April; 10., 29. Mai; 1., 8., 17., 19. Juni; 3., 9. Juli. Tickets im Internet unter www.theater-bonn.de oder telefonisch unter (0228) 77 8008.

Noch bis 16. März findet in Weills Heimatstadt Dessau das Kurt Weill Fest unter dem Motto „Farben des Lebens“ mit 72 Veranstaltungen statt. Info: www.kurt-weill-fest.de




Der doppelte Herbert: Fritsch und Grönemeyer mit dem schrillen Spaß „Pferd frisst Hut“ bei der Ruhrtriennale

Eine glückliche Braut sieht anders aus: Cécilia Roumi (als Hélène) und Christopher Nell (als Fadinard) im Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ (Foto: Thomas Aurin)

Da weiß einer nicht, was er will. Der Strohhut aus Florenz, dem Fadinard am Tag seiner Hochzeit wie verrückt hinterherjagt – das Original wurde nämlich von seinem Droschkenpferd gefressen – ist lediglich ein Symbol dafür, dass der Mann am liebsten Reißaus nehmen möchte: vor der Braut, der Verwandtschaft, der Hochzeitsgesellschaft, womöglich sogar vor sich selbst. Denn er scheint noch nicht einmal sicher zu sein, zu welchem Geschlecht er sich hingezogen fühlt.

In der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks zeigt die Ruhrtriennale jetzt eine neue Version von „Der Florentiner Hut“, einer Verwechslungskomödie von Eugène Labiche aus dem Jahr 1851. Das Stück hat diverse Spuren in den Künsten hinterlassen: Es gibt eine gleichnamige Oper von Nino Rota (der die Filmmusik zu „Der Pate“ schrieb), einen deutschen Film mit Heinz Rühmann (Regie: Wolfgang Liebeneiner), dazu noch zwei französische Filme.

Als Slapstick-Operetten-Musical präsentiert die Ruhrtriennale die deutsche Erstaufführung von „Pferd frisst Hut“, eine Produktion des Theaters Basel in Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin. Federführend sind zwei Männer, deren unverwechselbar Stil hier eigenwillig aufeinander prallt.

Herbert Fritsch, Propagandist des choreographischen Rauschs. (Foto: Christian Knörr)

Das ist zum einen der Regisseur Herbert Fritsch, dafür bekannt, seine Figuren auf der Bühne in einen hyperaktiven Irrsinn zu treiben: in ein kindliches, zugleich bis in die kleinste Geste hinein choreographiertes Herumtoben. Manche mögen sich erinnern, welchen Kultstatus seine Produktion „Murmel, Murmel“ an der Berliner Volksbühne erreichte, bevor er 2018 am Bochumer Schauspielhaus mit der „Philosophie im Boudoir“ von Marquis de Sade ein Skandälchen lostrat.

Für Zugkraft beim Publikum sorgt die Musik von Herbert Grönemeyer, der in seinen Jugendjahren musikalischer Leiter am Bochumer Schauspielhaus war, bevor er 1981 durch „Das Boot“ bekannt wurde und 1984 mit seinem Studioalbum „Bochum“ die Hitparaden stürmte. Aus seinen Melodien, Rhythmen und Texten hat Thomas Meadowcroft eine Partitur für Chor und Sinfonieorchester gemacht: geschickt instrumentiert, fröhlich zwischen Broadway-Musical, Rossini-Oper und Disney-Soundtrack irrlichternd. Die Bochumer Symphoniker und der Chor des Theaters Basel, die unter der Leitung des amerikanischen Dirigenten Thomas Wise Stimmung machen, streuen Glamour über diese unterhaltsame Mischung.

Herbert Grönemeyer war bei der Premiere in Duisburg persönlich anwesend. (Foto: Victor Pattyn)

Was aus der Zusammenarbeit der beiden Herberts entstand, ist so schräg und bunt, wie es die Bühne von Herbert Fritsch (unter Mitarbeit von Oscar Mateo Grunert) gleich zu Beginn erahnen lässt. Das temporeiche Tür-auf-Tür-zu-Spektakel kommt durch acht Zugänge in den Seitenwänden und ein Drehportal vor Kopf in Schwung. Selten war eine Handlung so sehr Nebensache: Hier geht es um eine Typenparade, um die große Orientierungslosigkeit, in der die Figuren haltlos herumstolpern.

So grell und banal das auf den ersten Blick scheint, so hintergründig ist es auf den zweiten, denn nichts und niemand ist in diesem Absurdistan ernst zu nehmen. Wir erleben leere Witzfiguren, die Sprechblasen absondern wie in einem Comic: „S’isch alles aus!“, jault der Schwiegervater bei jedem Auftritt in weinerlichem Dialekt, während der Bürgermeister bei jeder Gelegenheit stöhnt, wie heiß ihm doch sei. Das Gestotter und Gestammel der Hauptfigur Fadinard steckt voll absichtsvoller Versprecher. Wenn er mit Glottisschlag von den Baron*innen spricht, schiebt er stets das Wort „drinnen“ hinterher, wie um den Genderwahnsinn auf die Spitze zu treiben.

Die gesamte Hochzeitsgesellschaft gerät durch einen Strohhut in Turbulenzen. (Foto: Thomas Aurin)

Dazu zeigen die Schauspielerinnen und Schauspieler ein akrobatisches Bewegungstalent, als wollten sie sich für den Zirkus bewerben. Sie rutschen ganz beiläufig in den Spagat, hechten die von der Drehtür herabführenden Treppenstufen herunter, landen auf dem Bauch, überschlagen sich in der Luft. Es ist rasant, es ist sagenhaft. Fritsch hat jede Verrenkung durchgeformt, bis ins Detail, ja sogar bis in den Schlussapplaus hinein.

Der Grönemeyer-Sound ist der Musik bei allen Musical-Anleihen deutlich anzuhören: Vieles klingt in Duisburg irgendwie nach „Bochum“. Die Emotionalität der Songs steht oft seltsam quer zu der alles und alle umfassenden Ironie, die Fritschs rasantes Anarcho-Theater so vergnüglich macht. Aber es gibt Chornummern, die gut zünden, sogar zum Mitklatschen anregen. Der Chor des Theaters Basel zieht in den farbenfrohen Kostümen von Geraldine Arnold eine echte Show ab.

In Erinnerung bleibt ein schriller Spaß, der bei weitem nicht so flach ist, wie er zu sein vorgibt. Um es mit den Worten von Herbert Fritsch zu sagen: „Wir sind alle irre, wir kriegen nix gebacken, und wir kriegen gar nix hin.“ Wer wollte ihm in diesen Zeiten widersprechen?

(www.ruhrtriennale.de)




Ruhrtriennale will Lust auf Zukunft wecken

Szene aus „Pferd frisst Hut“ nach Eugène Labiche mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: © Thomas Aurin / Theater Basel / Ruhrtriennale)

Man muss schon sehr tief in die jeweilige kreative Materie eindringen, um solche Kombinationen und Mischformen zu realisieren, wie es auch bei der kommenden Ausgabe der Ruhrtriennale wieder geschehen soll: Unter dem neuen Dreijahres-Intendanten, dem renommierten belgischen Theatermacher Ivo Van Hove (er amtiert bis 2026 im Revier), sollen beispielsweise Lieder von Edvard Grieg inszenatorisch mit Rock-Energie aufgeladen oder Chorwerke von Anton Bruckner mit Songs der Isländerin Björk in elektrisierende Verbindung gebracht werden. Da horcht man doch jetzt schon auf und wünscht gutes Gelingen!

Ivo Van Hove, der bereits in früheren Triennale-Zyklen als Gastregisseur fünf Inszenierungen beigesteuert hat (davon drei unter der Intendanz von Johan Simons), erinnerte sich zu Beginn der heutigen Programm-Pressekonferenz an seine künstlerischen Anfänge. Damals, in seinen frühen Zwanzigern, habe er fast alles langweilig gefunden, was sich seinerzeit in (belgischen) Theatern begab. Die nachhaltige Inspiration kam dann mit Produktionen in verlassenen Hallen am Hafen von Antwerpen – ein Szenario, wie es dann eben vergleichbar die 2002 begründete Ruhrtriennale in aufgelassenen Fabrikgebäuden erschlossen hat. Insofern fühlt sich die neue Aufgabe für Van Hove wie ein Heimkommen an.

Hauptrolle für Sandra Hüller

Ivo Van Hove, der neue Intendant der Ruhrtriennale. (Foto: © Thomas Berns)

Die Industriebauten sind denn auch bereits der wesentliche Beitrag des Ruhrgebiets zur rund 17 Millionen Euro schweren Triennale, die sich (verdichtet auf die Zeit vom 16. August bis zum 15. September) 2024 auf die Städte Bochum, Duisburg und Essen konzentriert. Ansonsten spricht man liebend gern Englisch und vergibt auch die meisten Produktionstitel in dieser Weltsprache, die eben immer noch nicht allen „Ruhris“ total geläufig sein dürfte. Es beginnt schon mit der Eröffnungs-Inszenierung am 16. August, die Ivo Van Hove selbst übernimmt: „I Want Absolute Beauty“ (Ich will absolute Schönheit) handelt (nicht nur) von weiblicher Selbstverwirklichung und wird durch Songs von PJ Harvey in Bewegung gesetzt. Van Hove stellt eine neue Form von Musiktheater in Aussicht, mit der er auch neues Publikum anlocken möchte. Die Hauptrolle spielt und singt die auch international hochgelobte Sandra Hüller. Schon das ist ein Signal erster Güte.

Auch das Motto des ganzen Veranstaltungsreigens lautet Englisch: „Longing for Tomorrow“ (etwa: Sehnsucht nach Zukunft). Noch ein Beispiel für die vorherrschende Anglophilie: „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“, ein Abend über queeres Selbstbewusstsein und die sanfte Kraft der Gewaltlosigkeit. Um etwaige Missverständnisse auszuräumen: „Faggot“ ist ein Slangwort für Schwule und hat nichts mit einem ähnlich geschriebenen Musikinstrument zu tun. Weitere Produktionen, die wir hier nicht weiter auffächern können und wollen, nennen sich „One One One“, „Pump Into the Future Ball“ oder auch – gedacht für unter sechsjährige Menschen – „Little Ears, Tiny Feet“…

Immerhin ein Titel ist französisch: „Bérénice“, 1670 uraufgeführte Tragödie von Jean Racine, kommt als Einpersonendrama zur Triennale. Es spielt ein Weltstar des Theaters und Kinos, nämlich die unvergleichliche Isabelle Huppert.

Isabelle Huppert als Racines Tragödiengestalt „Bérénice“ (Foto: © Alex Majoli)

Ganz ohne waltenden Zeitgeist geht es natürlich auch bei der Triennale nicht. Da wird vielfach schwarze Geschichte aufgerufen, zudem werden queere Identitäten „sichtbar gemacht“. Im breiten Themenspektrum finden überdies Natur und Klima ihre gebührenden Plätze. Schließlich sind einige Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine an diversen Projekten beteiligt.

„Slapstick-Operette“ mit Grönemeyers Musik

Die hauptsächlichen Schwerpunkte liegen auf allerlei Musiktheater-Mischungen mit mehr oder weniger kühnen Grenzüberschreitungen zwischen so genannter „E-Musik“ und Rock. Eine ganz spezielle Darbietung rankt sich um 16 Songs von Herbert Grönemeyer (!). Die Chose wird als „erstes deutsches Slapstick-Operetten-Musical“ angepriesen, wobei „Herbie“ gar in die Nähe eines Rossini gerückt wird. Die turbulente Handlungs-Vorlage stammt jedenfalls vom Komödien- und Farcenschreiber Eugène Labiche und heißt „Ein Florentinerhut“. Der Triennale-Titel des ziemlich schräg anmutenden Projekts lautet „Pferd frisst Hut“. Wohl bekomm’s.

Dermaßen vielfältig kommt die nächste Triennale-Ausgabe daher (u. a. auch mit  Tanzproduktionen, Bildender Kunst, Autorenauftritten und Filmen), dass man sich möglichst die Programmdetails im Internet-Auftritt anschauen oder aber gleich das Programmbuch besorgen sollte. Der Vorverkauf der rund 40.000 Tickets hat unterdessen bereits heute (15. April) begonnen. Wer zuerst kommt…

Ruhrtriennale: 16. August bis 15. September 2024 in Bochum, Essen und Duisburg.

Kartenverkauf:

Ticket-Hotline: 0221/28 02 10 (Mo-Fr 8-20, Sa 9-18, So 10-16 Uhr) www.ruhrtriennale.de/de/tickets




Balkanien in Köln: Franz Lehárs „Lustige Witwe“ mit dem Essener GMD Andrea Sanguineti am Pult

Lieber Grisetten als das teure Vaterland: Adrian Eröd alias Graf Danilo in der Kölner „Lustigen Witwe“. (Foto: Matthias Jung)

Jetzt hat auch Köln seine „Lustige Witwe“. Es gibt wohl kein Theater in Nordrhein-Westfalen, in dem in den letzten Jahren niemand im Maxim intim gewesen und die „Weiber“ studiert hätte.

Nun gut, Intendant Hein Mulders wollte für das Ausweichquartier der Kölner Oper und in der (inzwischen erneut gefährdeten) Hoffnung auf rechtzeitige Eröffnung des Hauses am Offenbachplatz 2024 einen zugkräftigen Titel haben. Das ist Franz Lehárs Erfolgsoperette allemal noch – gehört sie doch zum Restbestand der Operetten-Monokulturlandschaft, die mit der „Fledermaus“, der „Csardasfürstin“ und dem „Orpheus in der Unterwelt“ des Kölner Operettenerfinders Jacques Offenbach weitgehend bestellt ist. Von den Dutzenden früherer Erfolgstitel ist kaum etwas geblieben; nur Paul Abraham darf sich im letzten Jahrzehnt über eine gewisse Renaissance freuen. Das Sterben der Operettenensembles, das Ausdünnen der Spielpläne, die generationenlang gepflegte Verachtung des jahrzehntelang lieblos abgenudelten Genres und der Hinschied des alten Operettenpublikums tragen Früchte.

Dem entgegenzuarbeiten ist eine reizvolle Aufgabe, der sich nicht nur Barrie Kosky früher an der Komischen Oper Berlin und die spezialisierten Häuser in Dresden, Leipzig und München widmen sollten. Insofern darf man hoffen, dass Hein Mulders in Köln, sonst eigentlich kein für Ideen verschlossener Kopf, auch einmal in die Tiefen des Repertoires der „leichten“ Muse greift. Immerhin: Dank der pfiffigen Regie von Bernd Mottl und einer beispielhaft schmähaffinen musikalischen Leitung des Essener GMD Andrea Sanguineti ist der Ausflug nach Pontevedro in Paris rundweg kurzweilig geraten.

Dialog von Wasserflecken an Neonröhren

20 Milliarden! Allein die Ansage lässt die Männer schmachten. Elissa Huber als Hanna Glawari und Herren des Chores der Kölner Oper. (Foto: Matthias Jung)

Pontevedro: Den Fantasie-Kleinstaat in Klischee-Balkanien verorten Friedrich Eggert (Bühne) und Alfred Mayerhofer (Kostüme) irgendwo im realsozialistischen Ambiente. Die großmustrigen braunen Tapeten erinnern an den biederen Charme Ost-Berliner Plattenwohnungen der siebziger Jahre. Über der Falttür rutschen die Porträts des pontevedrinischen Herrscherpaars in Schieflage. Der Vorraum ist mit Bauplastikplanen verhüllt, an der Decke prangt ein Dialog von Wasserflecken an kalten Neonröhren. Pontevedro zeigt sich so marode wie seine Staatskasse.

Und da kommt die Witwe ins Spiel: Deren 20 Milliarden sind das Kapital, das den fürstlichen Laden zusammenhält. Sie dürfen keinesfalls in die Hände eines leichtlebigen Franzosen geraten – etwa des in Brombeerfarbe hereinstelzenden Camille de Rosillon (Dmitry Ivanchey), des honeckerblau beanzugten Vicomte Cascada (John Heuzenroeder) oder eines gewissen Raoul de Saint-Brioche (Timothy Oliver). Die Milliarden selbst treten auf in aufreizendem Design in Schwarz, ein mondäner Gegensatz zu den schlicht geschnittenen Kleidern in gedecktem Bräunlichgrünlichblau der pontevedrinischen Hautevolee.

Elissa Huber ist eine hinreißende Hanna Glawari, die selbstbewusst und erfüllt vom Wissen um ihre Ausstrahlung verkündet, warum Witwen so begehrt sind, und später in wunderschön kitschiger Folklore-Ausstaffierung das Waldmägdelein im Vilja-Lied besingt. Ihr voller, samtig dunkel getönter Sopran strömt mit allem Charme und allem erotischen Prickeln, dem die Partie ihren Reiz verdankt.

Erst planen, dann bauen

Diese geldschwere Dame dem Vaterland zu erhalten, ist vornehme Aufgabe von Botschafter Mirko Zeta – und Ralf Lukas verkörpert ihn mit aller gewichtigen Pose, bedeutungsschwangere Deklamation eingeschlossen. Wäre da nicht die unsäglich gemusterte Krawatte, man könnte ihn gar für eine ernsthafte Person halten. Seine taktische Waffe heißt Graf Danilo: Adrian Eröd ist als Graf Danilo ein so souveräner Sängerdarsteller, dass er beinah zur heimlichen Hauptperson der ganzen Operette aufsteigt, wäre da nicht seine Noblesse, die der Diva stets den Vortritt gewährt. Er hat allerdings nicht die geringste Lust, dem Vaterland zuliebe ein Erbe zu erheiraten, zumal es mit einer Frau verbunden ist, mit der er eine unerfreuliche Vorgeschichte hat. Dass sich am Schluss die Liebe mit einem überraschenden Coup durchsetzt, ist dem Genre geschuldet. Tragische Operetten waren 1905 noch nicht im Blickfeld von Lehár.

Mottl inszeniert das Finale ohne derben Bruch, wie er dem Genre seinen Witz und seine Sentimentalität lässt. Nichts wird übertrieben, die Kalauer halten sich in Grenzen, der Herzschmerz auch. Beziehungen entstehen durch Gesten, Blicke, Pausen. Wenn Baron Zeta stolz den in nur einer Woche strahlend neu vergoldeten Saal seiner Botschaft preist, meint er, man habe erst geplant, dann gebaut. Da lachen die Kölner und denken an ihr Opernhaus. In den Choreographien von Christoph Jonas mischen sich Grisetten von „sämtlichen Ufern dieser Erde“, und die Tanzgruppe zitiert lustvoll alte Operettenklischees und baut mit leichtfüßiger Ironie daraus amüsante Körperwelten.

Zweifelhafte Zwitterwesen

Das Hin und Her zwischen diversen eifersüchtigen Paaren reduziert Mottl zugunsten des zentralen Konflikts, damit treten etwa Bogdanowitsch (Artjom Korotkov) und seine Frau Sylviane (Brigitta Ambs) ebenso in den Hintergrund wie Kromow (Zenon Iwan) mit seiner ewig des Seitensprungs verdächtigten Olga (Mariola Mainka). Dass die Romanze zwischen der „anständigen Frau“ Valencienne (Claudia Rohrbach als entzückendes Zwanziger-Jahre-Mädel) und dem trocken, aber passioniert die „Liebe aufglühen“ lassenden Camille (Dmitry Ivanchey) saftiger ausgespielt sein könnte, ist eine andere Sache.

Zwitterwesen von allen möglichen Ufern. Ralph Morgenstern (Njegus) und das Tanzensemble in der „Lustigen Witwe“. (Foto: Matthias Jung)

Ralph Morgenstern gibt dem Njegus nicht zuletzt dank einer langen, dürren Gestalt ein köstlich volatiles Profil jenseits des klassischen Operettenkomikers. Man glaubt ihm aufs Wort, dass er in die Pariser Art total vernarrt ist, vor allem, wenn ihn die „zweifellos zweifelhaftesten Zwitterwesen“ umschwärmen. Das alles wäre nur halb so animiert, würde nicht das Gürzenich-Orchester den mal samtig schmeichelnden, mal keck auffahrenden Lehár-Sound treffen und Andrea Sanguineti mit dezidierter Agogik und wundervoll pikanter Phrasierungsdramaturgie die Musik so gestalten, wie es die Operette braucht. Alles etwas altmodisch gedacht, aber vielleicht gerade deswegen so wundersam musikalisch, nostalgisch und hinreißend.

Weitere Vorstellungen: 16., 21., 23., 25., 27., 29., 31. Dezember.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/die-lustige-witwe/6634




Mit Hopfen und Malz ins Operettenglück: Ausflug zu einer ungewöhnlichen Novität in Mecklenburg

In Daniel Behles neuer Operette am Landestheater Neustrelitz siegen am Ende die Liebe – und das Bier! (Foto: Theresa Lange)

Die Operette ist tot? Nö, sie könnte vor Lebensfreude sprühen, aber sie wird seit Jahren ausgehungert. In Neustrelitz ist jetzt eine nagelneue Operette zu sehen. Ihr Thema: das Bier. Also auf zu einem Ausflug nach Mecklenburg.

Die arme Operette. Sie ist ein Opfer von Sparwut, die Operettenensembles abgebaut hat, von Intendanten, die sie aus den Spielplänen tilgen, von mahlerisiert ehrgeizigen Generalmusikdirektoren, die sie höchstens als Metier ihrer stabwedelnden Unteroffiziere geringschätzen, und von humorlosen Regisseuren. Was die schlampige Routine der siebziger und achtziger Jahre nicht umgebracht hat, erledigen Darsteller, die sie vibratosatt zur „kleinen Oper“ entstellen oder mit Musicalgequäke hinrichten. Das Publikum wurde dabei selten gefragt, es durfte nach und nach still aussterben. Auch ein Barrie Kosky – einer der wenigen, die nicht bloß mit warmen Worten an die Operette glauben – kann nur Leuchtfeuer entzünden. In die Fläche strahlen die aber eher punktuell. Das Elend der Gattung ist ja selbst an Häusern, die sich dem „Unterhaltungs“-Theater widmen sollten, unübersehbar.

Zu viel Schaum würden den Genuss mindern

Es gehört also einiges dazu, wenn ein Tenor zum Notenprogramm greift und eine nagelneue Operette komponiert. Daniel Behle hat es gewagt und sein „Kind“ sogar zur Uraufführung bringen können. Im Januar 2023 erschien „Hopfen und Malz“ an einem jener ein bisschen aus der Zeit gefallenen Häuser, an denen Operette noch geschätzt und gepflegt wird: Das Stück über einen skurrilen Bier-Krieg zwischen zwei norddeutschen Dörfern hatte in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge Premiere und wird nun – was selbst für spannende neue Opern nicht so einfach ist – in Neustrelitz nachgespielt. Weitere Inszenierungen sind geplant, deutet Behle in einem Interview an. Keine schlechte Bilanz für ein Exponat einer für tot erklärten Gattung!

Das Landestheater Neustrelitz, ein Bau von Max Littmann aus den zwanziger Jahren. (Foto: Werner Häußner)

Also ab ins beschauliche Neustrelitz, das sein Herzogsschloss kurz vor Kriegsende durch einen Brand verloren, aber im Stadtbild klassizistische Eleganz bewahrt hat. Der Zuschauerraum ist gut besetzt. Im Graben lässt die Neubrandenburger Philharmonie unter Dirigent Daniel Klein ruhige, tiefe Streicherklänge gären, aber die Ouvertüre beginnt schnell zu schäumen. Marsch, Walzer, Galopp, beschwipste Tanzrhythmen, dazwischen perlt die Kohlensäure der Chromatik: Daniel Behle blättert schon mal auf, was im Lauf der kommenden zweidreiviertel Stunden musikalisch zu erwarten ist. Angst vor der Melodie hat er in seiner Operette nicht. Und Daniel Klein – ausgebildet an der Folkwang Hochschule in Essen und als Gastkorrepetitor auch mal am Aalto-Theater, in Gelsenkirchen und Hagen gewesen – nimmt diesen kunterbunten Stilmix nicht zu grell, sondern mit gebotener Dosierung und bedachtem Esprit. In der Musik wie beim Bier verhindert zu viel Schaum nämlich den Genuss.

Biergeister in der Wolfsbucht

Und so zieht sich das Thema „Bier“ wie ein goldener Fluss durch die Operette: Bierbrauer Horst Flens aus Ölsum – stimmgewaltig vorgestellt von Ryszard Kalus – gewinnt seit Jahren den regionalen Brauwettbewerb, den das brauende Paar Letty und Max Fisch aus Meersum gerne einmal für sich entscheiden würde. Aber wie? Ein bierkundiger Mönch und seltsame, an singende Bierkrüge erinnernde bayerische Biergeister kommen den beiden entgegen: Mit Hilfe des im protestantischen Norden auf Sündenforschungsreise weilenden Klosterbruders Theophil (Sebastian Naglatzki) und eines geheimnisvollen Rezepts aus dem Kloster Santo Demento brauen sie bei Vollmond in der Wolfsbucht – der Name ist kein Zufall – ein Freibier. Es schmeckt und versiegt obendrein nie. Heißa! Nach operettenüblichen Verwicklungen ist der Sieg der ihrige, am Ende tritt noch Mutter Cerevisia (schaumbekrönt: So Yeon Yang) auf und fordert alle zu „Maßhalten“ auf – oder ist doch eher das Maß Halten gemeint?

Der Mönch und die Brauersleute. (Foto: Theresa Lange)

Daniel Behle hat diesen Bierkrieg durch diverse Nebenhandlungen und -figuren teils unterhaltsam, manchmal aber auch etwas zähflüssig auf abendfüllende Länge gebracht und dazu viel Musik erfunden, deren melodische Stammwürze zu wohligem Genuss durchaus ausreicht. Wie es sich gehört, wird das Orchester nicht unterfordert: Die operettenseligen Rhythmen reihen sich mitunter recht schräg aneinander und Dirigent Klein darf schwungvoll und reaktionsschnell das Ruder herumreißen.

Unbekümmert mischt die Musik bajuwarisch tubasattes Humm-ta-ta mit Ragtime-Schwung aus dem klassischen Musical, fordernde lehareske Operettentenor-Kantilenen mit dem Harmoniegesang aus dem Madrigal. Tänzerische Energie und gleißende Lichtbögen, die von Richard Strauss gespannt sein könnten, verbinden sich mit Korngold’scher Harmoniensüße. Schmeichelmelodik und schmissige Mitsing-Schlager treffen ein bisschen Paul-Abraham-Wehmut, wenn Andrés Felipe Orozco in der Buffo-Partie des Ischias der Freundschaft zu seinem Wanderschafts-Kumpel Klaus nachtrauert. Das ist einer der wenigen Momente des Stücks, der dem Sentiment der Operette zu seinem Recht verhilft.

Wagner dient für Wortwitz

Man hätte sich mehr solcher Momente gewünscht, denn sie hätten den Figuren emotionale Tiefe geben können, die sich in den eher angerissenen als ausgespielten Liebeshändeln nicht einstellt. Wagner dient willig für Wortwitz: Dass die quirlige Senta (auch stimmlich prickelnd, Laura Scherwitzl) sich von ihrem Holländer Bernd (Robert Merwald, sportlich orangefarben) trennt, weil der die See, sie aber die Berge liebt, sorgt kaum für Drama. Und dass sich mit dem Wanderer Klaus prompt ein Operettentenor-Liebeskandidat findet, hat erst in einem fulminanten Duett gegen Ende des dritten Akts musikalische Folgen. Man spürt, dass hier ein Tenor komponiert: Behle gönnt seinem Kollegen die schönsten melodischen Exaltationen. Ein Richard Tauber wäre glücklich damit gewesen, für Bernd Könnes sind sie respektabel bewältigte Herausforderungen.

Frisch ans Werk! Einer der Juroren verkostet das Bier. (Foto: Theresa Lange)

Dazwischen streut Behle Szenen ein, die peripher bleiben und weder Handlung noch Figuren entscheidend weiterführen. So etwa eine für den unglücklichen Meersumer Brauer Max Fisch (Julian Younjin Kim). Dessen Frau Letty hat „schlechte Träume“ wie Klytämnestra und darf eine Ballade von einem geisterhaften Holländer mit Wohnwagen singen, was Anna Matrenina mit Lust am satten Mezzoklang bravourös absolviert. In diesen Szenen zeigt sich, warum die alten Operettenkomponisten wohlbedacht auf geschlossene Nummern gesetzt haben: Behles überquellende melodische Erfindung wäre formal kanalisiert weit wirkungsvoller als in den schnell verrauschenden offenen Episoden. Eine Disziplin, die vielleicht heute als einengend empfunden wird, aber auch dem Libretto von Behle und Alain Claude Sulzer gut getan hätte. Dass darin der Wortwitz eine tragende Rolle spielt, sorgt für heitere Anspielungen („Di quella Biera“ singt einer der Juroren des Wettbewerbs), trägt aber nicht über längere Abschnitte hinweg.

Mag sein, dass auch die kärgliche Ausstattung Sisse Gerd Jørgensens dazu beigetragen hat, dass die Szenen mit Chor und Tanzpaaren der Deutschen Tanzkompanie für eine zündende Operetteninszenierung nur blasse Blasen statt kräftigen Schaum bilden können. In der routiniert aufgestellten Regie von Rolf Heim wäre noch Luft nach oben. Doch der Abend in Neustrelitz hat ein deutliches Plädoyer für die Operette abgegeben: Tot ist die alte Dame noch lange nicht, und wer sie liebt, dem wendet sie ihr jugendfrisches Strahlen zu.

Info: Landestheater Neustrelitz, www.tog.de




Frühling für Hitler: Musical „The Producers“ nach Mel Brooks als rasanter Spaß in Hagen

Einmal eine große Nummer im Showbiz sein: Davon träumt der Buchhalter Leo Bloom (Alexander von Hugo) im Musical „The Producers“ nach einem Film von Mel Brooks. (Foto: Björn Hickmann)

Achtung, bitte anschnallen, fasten seat belts. Hier geht die Post ab, hier geht’s um Geld und Glamour und die Grenzen des guten Geschmacks. Das Theater Hagen startet mit dem Musical „The Producers“ durch, als wolle es einen Rekord für das schnellste Bühnenspektakel der kommenden fünf Spielzeiten aufstellen. Diesen überdrehten Spaß wird so schnell niemand überholen.

„Frühling für Hitler“ war der deutsche Titel der Vorlage, eine Filmkomödie von Mel Brooks aus dem Jahr 1968. Das Musical erzählt die Geschichte vom Broadway-Produzenten Max Bialystock , den der Erfolg verlassen hat. Sein Buchhalter Leo Bloom bringt ihn auf eine Idee, wie er durch Betrug wieder zu Geld kommen kann. Gemeinsam wollen sie das schlechteste Musical aller Zeiten auf die Bühne bringen, um danach mit den Investorengeldern nach Rio de Janeiro durchzubrennen.

Vom Glück verlassen: Max Bialystock (Ansgar Schäfer), ehemals König des Broadway, hat keinen Erfolg mehr. (Foto: Björn Hickmann)

Das passende Stück dafür kommt von dem Alt-Nazi Franz Liebkind, der nicht ahnt, dass sein geliebter Führer auf der Bühne zur Witzfigur wird. Aber auch die Produzenten dieser gezielten Geschmacklosigkeit werden überrascht. Denn der vermeintlich sichere Flop wird für Satire gehalten und löst Begeisterungsstürme aus.

Max Bialystock (Ansgar Schäfer, l.) und Leo Bloom (Alexander von Hugo) wollen sich mit Investorengeldern vom Acker machen. (Foto: Björn Hickmann)

Regisseur Thomas Weber-Schallauer inszeniert das als Achterbahnfahrt, bei der man kaum zu Atem kommt. Das temporeiche Spiel, das Timing der schlagfertigen Dialoge, die beinahe comichafte Zeichnung der Figuren und die vor nichts Halt machende Persiflage sind köstlich ungeniert und von hoher handwerklicher Perfektion. Die Veralberung des Dritten Reichs kitzelt das Zwerchfell zu hysterischem Lachen. Der Alt-Nazi Franz Liebkind mit seinem verschissenen Taubenschlag voll national gestimmter Vögel ist einfach unerträglich gut (Richard van Gemert quatscht sich im breiten Bayerisch um Kopf und Kragen).

Alle Abteilungen des Hauses unterstützen die Regie wie geschmiert. Ein Rädchen greift da ins andere: die schwungvolle und charmante Choreographie von Riccardo De Nigris, die das Jahr 1959 zitierenden Kostüme von Yvonne Forster, die Beleuchtung von Hans-Joachim Köster, die den Glamour des Showbiz ebenso sichtbar macht wie den grauen Alltag. Fantastisch gut gelingen die Szenenwechsel, die so fließend zwischen Traum und Wirklichkeit changieren, dass man sich manches Mal die Augen reibt.

Chor, Ballett und Ensemble hätten für ihren Einsatz glatt eine Verdoppelung der Gage verdient. Ansgar Schäfer (Max Bialystock) und Alexander von Hugo (Leo Bloom) werfen sich ins Getümmel, dass die Verletzungsgefahr nicht fern scheint. Schäfer gibt den Broadway-König als alternden, aber machtbewussten Macho. Alexander von Hugo hängt sich bei ihm ein: ein Hänfling der endlich auch einmal groß rauskommen möchte.

Die schöne Ulla (Emma Kate Nelson) will unbedingt die Hauptrolle spielen. (Foto: Björn Hickmann)

Die schwule Entourage des Regisseurs setzt herrlich arrogante Kontrapunkte (Florian Soyka als Roger de Bris und Matthias Knaab als Carmen Ghia). Und dann ist da noch die blonde Schwedin Ulla, die auf die Hauptrolle scharf ist. An dem Pseudo-Schwedisch, mit dem Emma Kate Nelson sich durch den Abend radebrecht, würde mancher sich gewiss die Zunge verstauchen. Das Philharmonische Orchester Hagen stimmt unter der Leitung von Steffen Müller-Gabriel großstädtischen Big-Band-Sound an und setzt mit Zitaten von Richard Wagner und Anklängen an die Nationalhymne satirische Akzente.

Am Ende strebt niemand vorzeitig zur Garderobe. Alle stehen, jubeln, feiern die Produktion mit Klatschmärschen. Die fiktiven Kritiken, die Max Bialystock mit wachsender Verzweiflung vorliest, treffen letztlich ins Schwarze: „Es war hanebüchen, es war anstößig, es war beleidigend, und wir haben jede Minute genossen“.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen unter www.theaterhagen.de, Karten: Tel 02331/207-3218.)




Satire in antikem Faltenwurf: Offenbachs „Schöne Helena“ mischt in Hagen Schmackhaftes und schlecht Verdauliches

Der Chor des Theaters Hagen spielt eifrig mit: Anton Kuzenok (Paris) schafft es am Ende doch, sich die „schönste Frau der Welt“ zu ergattern. (Foto: Björn Hickmann)

In Hagen ist es wieder bühnenfrisch zu besichtigen, das Dilemma der Offenbach-Rezeption. Gegeben wird „La belle Hélène“, von Simon Werle auf Deutsch übersetzt und von dem aus Wien stammenden Regisseur Johannes Pölzgutter mit ein paar neuen Texten bereichert.

„Die schöne Helena“ also entführt in ein kräftig parodistisches antikes Griechenland, in dem die Helden der Atridensage degenerieren zu Gesellschaftstypen des Jahres 1864. Die Hürde zum Heute ist eine doppelte: Paris, Menelaos, Achill, Ajax, Orest und Kalchas, das sind Namen, die einem wohlerzogenen Europäer von damals selbstverständliches kulturelles Grundwissen waren. Heute sind sie eine Sache von aussterbenden Bildungsbürgern und einer Minderheit von Absolventen humanistischer Gymnasien. Wer aber den Mythos nicht kennt, tut sich mit der Parodie schwer.

Die andere Stolperschwelle: Offenbach benutzte die wohlbekannten Figuren aus der Antike als Camouflage, um Polit- und Gesellschaftsgrößen seiner Zeit im unangreifbaren, aber pikant transparenten Gewand der Mythologie so bissig wie witzig zu karikieren. Aber wer kennt noch Louis-Napoléon Bonaparte mit seinem autoritären Regime und seinem Interesse an Julius Cäsar und der Archäologie? Wer weiß noch von seiner Sucht nach imperialen Erfolgen bei einer gleichzeitig schwachen Armee? Wer kennt sie noch, die Hofschranzen von damals, denen Offenbach offenbar genüsslich den Spiegel vorgehalten hatte?

Sandra Maria Germann (Eris), Angela Davis (Helena) und die schönste der Göttinnen, die „schaumgeborene“ Venus, wie sie Sandro Botticelli in seinem weltberühmten Gemälde sah. (Foto: Björn Hickmann)

Pölzgutter muss sich den Fragen stellen: Wie wirkt das Sujet unterhaltsam, wie ist Offenbachs persiflierender Witz, sein Tiefsinn zu erfassen? Wie seine bisweilen gallige Schärfe in die Jetztzeit zu übertragen, die alle „Werte“ der Gesellschaft seinerzeit verätzt hat und die mondän aufgehübschte Oberfläche der Verlogenheit, der Ideologie, der Selbsttäuschung freilegt? Sein Rezept, entwickelt mit Theresa Steiner (Bühne) und Susana Mendoza (Kostüme) vereint Schmackhaftes mit schlecht Verdaulichem. Zu letzterem gehört ein Teil der Kostüme: Sie sind zwar nett anzusehen, parodieren aber letztlich die Parodie und führen dazu, die Figuren in baren Unernst mit einem sauren Schuss Kitsch abdriften zu lassen, statt sie in behutsam übertriebenem Ernst in ihrem parodistischen Kern freizulegen. Bunte Antike und Herrentäschchen sind eben höchstens lachhaft.

Schauplatz mit Atmosphäre

Die Bühne dagegen hat in ihrer dekorativen Wirkung Potenzial: Das Meer, in Gold gerahmt, davor (und manchmal auch kopfüber eingetaucht) Sandro Botticellis schaumgeborene Venus. Im dritten Akt, wenn’s zur angeblichen Sommerfrische nach Nauplia geht, staffeln sich die gemalten Wellen. Ein Schauplatz mit Atmosphäre.

Zunächst agiert aber eine weitere Zutat der Regie: Pölzgutter führt – durchaus mythenkundig – die Figur der Göttin des Streits und der Zwietracht ein. Eris rächt sich mit dem goldenen Apfel für „die Schönste“ für eine nicht ausgesprochene Einladung – und Paris, der attraktive sterbliche Jüngling, muss unter den drei führenden Göttinnen wählen, eine Aufgabe, aus der er nur als Verlierer hervorgehen kann. In der Antike als verschrumpelte kleine Frau dargestellt, wird Eris auf der Hagener Bühne elegant, scharfzüngig und maliziös von der Schauspielerin Sandra Maria Germann verkörpert und knüpft und spinnt als befrackte Ariadne den Faden der Handlung.

Scheiternde Humorversuche

Was nicht funktioniert – und das hat sich bereits in zahllosen Regiebemühungen andernorts manifestiert – ist der schwerfällig kalauernde Humorversuch, „lustige“ Personen zu kreieren, indem man sie überzogen chargieren lässt. Sicher ist Menelaos ein grenzintelligenter Schwächling, aber wer ihn wie Richard van Gemert nur ein bisschen doof und ziemlich trottelig agieren lässt, unterschlägt das Gefährliche und Verblendete des Charakters. Auch das virile Protzgehabe der beiden Ajaxe (Götz Vogelgesang und Insu Hwang) und der blass gezeichnete Hedonist Orest der sympathisch frischen Clara Fréjacques gewännen durch Verzicht auf vordergründiges Humor-Gehabe. Gerade bei Offenbach lacht man über Personen, die sich selbst überaus ernst nehmen und damit den Graben zur Realität so tief aufreißen, dass sie mit all ihren Lebenslügen und Wichtigkeiten darin abstürzen.

Angela Davis (Helena) und der Damenchor des Theaters Hagen. (Foto: Björn Hickmann)

Glückender ist da schon das Porträt, das Angela Davis von der schönen Helena zeichnet. Auch wenn die Stimme mit eher schwerem Opernton die vitale Leichtigkeit der Diseuse uneinholbar macht, setzt Davis ihre Möglichkeiten gekonnt ein, gibt die aufgestylte Dame selbstbewusst, aber auch mit Momenten anrührender Nachdenklichkeit. Anton Kuzenok ist ihr Prinz Paris; er vermag vor allem durch seinen hübschen leichten, dabei klangvollen Tenor zu verzaubern. Kalchas als Parodie eines schmierigen Klerikers, mit den Blitzen Zeus‘ gekrönt, wäre ohne nachthemdähnliche Verkleidung als Charakter glaubwürdiger und bedrückender angekommen – wiewohl sich Igor Storozhenko alle Mühe gibt, aus der Figur etwas zu machen.

Taepyeong Kwak liefert mit dem Philharmonischen Orchester Hagen einen rhythmisch scharf geschnittenen Offenbach ohne Schwere und Fett. Die Couplets kommen auf den Punkt, die kurzgestanzten Ohrwürmer Offenbachs folgen einander in vergnüglicher Prozession.

Vorstellungen am 23.12., 31.12. (15 Uhr und 19.30 Uhr),  07., 15., 18.01., 25.02., 22.04.. Tickets: (02331) 207 3218, www.theaterhagen.de




Amüsement in schweren Zeiten – Emmerich Kálmáns Operette „Gräfin Mariza“ wird in Dortmund zum strahlenden Bühnenfest

Mit Frack und Kronleuchter: Tanja Christine Kuhn und Alexander Geller als Gräfin Mariza und Graf Tassilo von Endrödy-Wittemburg. (Foto: Anke Sundermeier / Theater Dortmund)

So richtig ordentlich ist das nicht. Stühle liegen auf dem Boden, Gerümpel stapelt sich in den Ecken, und der Mann, der auf dem Boden sitzt, scheint auch schon getrunken zu haben. Die alte Ordnung ist dahin und hat Verlierer hinterlassen. Einer von ihnen ist Graf Tassilo von Endrödy-Wittemburg, der sein Vermögen eingebüßt hat, nun als Gutsverwalter arbeiten muss und den alten, feudalen Zeiten nachtrauert: „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen im schönen Wien“.

Richtig, wir sind in Emmerich Kálmáns Operette „Gräfin Mariza“, die nun in Dortmund ihre umjubelte Premiere erlebte. Und weil dieses so überaus erfolgreiche Stück schon seit fast hundert Jahren gespielt wird, wissen wir natürlich, dass es nicht so bleiben wird für den armen Gutsverwalter. Schließlich gibt es noch eine Gräfin, die der Männer überdrüssig ist. Wie sie glaubt.

Ein bisschen Rahmenhandlung

In der Figur des verarmten Grafen Tassilo (Alexander Geller) spiegelt sich das Schicksal vieler Privilegienträger des untergegangenen K.u.K.-Staates Österreich-Ungarn, und auch dieser Zeitbezug mag 1924, im Jahr der Uraufführung, zum Erfolg der Operette beigetragen haben. Doch eigentlich wird wenig mehr erzählt, als dass sich am Ende alle kriegen: Gräfin Mariza (Tanja Christine Kuhn) den Grafen Tassilo, Schwesterchen Lisa (Soyoon Lee) den Schauspieler Zsupán (herrliche „ungarische“ Knallcharge: Fritz Steinbacher),und die Tante (Johanna Schoppa) ihren Langzeitverlobten Populescu (Morgan Moody). Aber sie erzählt es meisterlich, und Regisseur Thomas Enzinger hat gut daran getan, den erzählerischen Duktus Kálmáns nicht mit besonderen Regieeinfällen zu beeinträchtigen. Hinzugefügt hat er allerdings eine dezente Rahmenhandlung, in der ein weiser alter Diener (Christian Pienaar) und ein aufgewecktes kleines Mädchen (Liselotte Thiele) sich einige Male über den Gang der Handlung unterhalten, kurz nur, nicht allzu raumgreifend. In komplizierten Handlungsverläufen sind solche „Stücke-Erklärer“ häufig wertvoll, hier ginge es vielleicht auch so.

Starke Musiktitel, auch nach 100 Jahren noch

Vor allem aber ist da die Musik, sind die Ohrwürmer. Jeder kennt die Lieder, auch wenn er nie in der Operette war, „Komm mit nach Varasdin“, „Komm, Zigány, komm, Zigány, spiel mir was vor“ und viele weitere. Streckenweise wähnt man sich in einer „Best Of“- Nummernrevue mit – zugegebenermaßen manches Mal etwas hölzern vorgetragenen – Zwischenmoderationen. Starke Titel, sentimental traurig, fröhlich, reihen sich, die einen Andrew Lloyd Webber neidisch machen sollten.

Hell gewandet der Chor; rechts in vorderster Reihe (und ganz in weiß) Morgan Moody, der bei der Premiere den Fürsten Moritz Dragomir Populescu gab. (Foto: Anke Sundermeier / Theater Dortmund)

Wenn Tassilo und Schwester Lisa sich an ihre Kindheit erinnern, schwebt buntes Spielzeug vom Hängeboden, salutiert ein strammer Zinnsoldat, schiebt sich ein entspannter Plüschhase ins Bild.

Doch häufig bleibt die Bühne unbestückt, sind ein blauer Hintergrundhimmel, farbige Flächen und gerafftes Textil fast die einzige Kulisse. Leer ist es auf der Spielfläche trotzdem nicht, denn ein vielköpfiger Opernchor in eleganten, hellen Zwanzigerjahre-Outfits sorgt für kräftigen Schalldruck und ist gleichermaßen das überaus naturalistische Personal der Massenszenen. Wiederum ist Regisseur Thomas Enzinger – und ebenso Toto, der für Bühne und Kostüme verantwortlich ist – dafür zu loben, dass der Versuch unterblieb, hier mit unsinnigen Aktualisierungen zu punkten.

Hannes Brock dreht wieder auf

Kleine stilistische Jetztzeit-Zitate gibt es indes schon, eine rhythmische Einlage mit einigen Librettozeilen im Rap-Stil beispielsweise, mit Nachempfindungen von Bühnenshows wie „Stomp“ oder „Blue Men Group“. Inhaltliche Eingriffe erfolgten behutsam. So stammt die grandiose Charleston-Einlage (Choreographie: Evamaria Mayer) aus der Kálmán-Operette „Die Herzogin in Chicago“. Und wenn Hannes Brock, Kammersänger und seit vielen Jahren „Homeboy“ dieses Opernhauses, als Diener der Fürstin Guddenstein zu Clumetz nur in Titeln von Theaterstücken, Filmen und Büchern spricht (die teilweise lange nach der Operette entstanden), ist das direkt komisch.

Leider mit Mikoports

Das Ensemble präsentierte sich gesanglich in äußerst aufgeräumter Verfassung; allerdings singen alle mit elektrischer Klangverstärkung durch Mikroports, was im Theater schade, in der Operette sehr schade ist. Untadelig spielten die Dortmunder Philharmoniker auf, die von Olivia Lee-Gundermann dirigiert wurden.

Dem Programmheft entnehmen wir, dass Morgan Moody nur bei der Premiere auftrat und hernach durch Marcelo de Souza Felix ersetzt wird. Gleiches gilt für Margot Genet, die Seherin (an deren Stelle späterhin Vera Fischer oder Ruth Katharina Peeck kommen werden).

Leider blieb gut ein Drittel der Plätze im Opernhaus unbesetzt, was bei einer Premiere nicht zufriedenstellen kann. Doch sah man auch viele junge Gesichter, was für Operetten wie die von Emmerich Kálmán hoffen lässt. Anhaltender, begeisterter Applaus, der mit einer Zugabe belohnt wurde.

  • Termine:
  • 9., 18., 22.12.2022
  • 5., 21., 25.1.2023
  • 18.2.2023
  • 5.,12., 17.3.2023
  • 16., 23., 29.4.2023
  • 25.5.2023
  • www.theaterdo.de

 




Wässeriger Humor-Transfer: Gilbert & Sullivans „Piraten von Penzance“ als biederer Operetten-Jux

Joslyn Rechter als Queen Elizabeth in der Wuppertaler Inszenierung von Gilbert & Sullivans „The Pirates of Penzance“. (Foto: Jens Großmann)

In der englischen Architektur gibt es seit dem 18. Jahrhundert die sogenannten follies, exzentrische, aber nutzlose Bauwerke. Sie ziehen den Blick auf sich und werfen Fragen auf, die sie nie beantworten.

Als eine solche „folly“ in musikalischer Form ließe sich auch William Schwenck Gilberts „The Pirates of Penzance“ begreifen: Literarisch perfekt gezirkelter Nonsens, kongenial in Musik gefasst von Arthur Sullivan. Eine der schimmernden Perlen des musikalischen Unterhaltungstheaters, deren Glanz auch nach 140 Jahren noch nicht ermattet ist.

Wer Gilbert & Sullivans „Piraten“ mit gesundem Menschenverstand oder gar Maßstäben dramatischer Logik auslotet, wird sich unausweichlich vermessen. So etwas gibt es im imaginären Penzance von 1879 nicht. Das Städtchen in Cornwall, damals schon direkt von London Paddington aus mit dem Zug erreichbar und entsprechend touristisch geflutet, verdankt nicht zuletzt dem ziselierten Unsinn der Operette seinen Ruf.

Was also anfangen mit einem 21jährigen Jungpiraten, der wegen seines schwerhörigen Kinderfräuleins statt zum „pilot“ (Lotse) zum „pirate“ ausgebildet wird und diesen Irrtum als „Sklave der Pflicht“ geduldig durchzieht? Was will uns ein „modellhaft moderner“ Generalmajor sagen, der sich auf nächtlichem Friedhof wegen einer Sünde gegen seine mit einem neuen Landsitz zusammen eingekauften Ahnen grämt? Und was sollen Piraten, die das hehre Prinzip pflegen, jedes Waisenkind von ihrem blutrünstigen Geschäft zu verschonen, daher beim Stichwort „orphan“ in friedliche Starre verfallen und folglich erfolglos bleiben?

Nur das Gelächter löst alle Fragen

Großes Pech, mit Pflichtgefühl getragen: Frederic (Sangmin Jeon) wird durch einen Hörfehler seines Kindermädchens Ruth (Joslyn Rechter) statt ein ehrenwerter Lotse („pilot“) ein anrüchiger Pirat. In der deutschen Version kommt er statt auf eine „Privat“-Schule in die Lehre als „Pirat“. (Foto: Jens Großmann)

Die Lösung könnte dem Vorbild der „folly“ in der Architektur entsprechen: Man nehme das Bauwerk ernst und stelle es in die Landschaft, „als ob“ es seriös gemeint sei. Nur so bietet es dem Fragenden Grund zum Anstoß und erlöst die Ratlosigkeit durch Gelächter. Bei der Wuppertaler Premiere der „Piraten von Penzance“ ist das nicht gelungen – und das liegt nicht am spezifischen englischen Humor; sondern daran, dass Regisseur Cusch Jung aus dem Material von Gilbert & Sullivan einen biederen Klamauk formt, der – wie in seinen Arbeiten an der Musikalischen Komödie Leipzig zu besichtigen – mit der deutsch-österreichischen Operette vielleicht gerade noch funktioniert, mit dem grotesk aufgezäumten Blödsinn der Briten aber ebenso wenig fertig wird wie mit der Ironie Jacques Offenbachs.

Dabei haben die Piraten auf der düster-dunstigen Bühne von Beate Zoff in ihren an die „Pirates of the Caribbean“ erinnernden Kostümen zunächst einen fulminanten Auftritt. Aber schon die dauerkreischende Töchterschar des Generalmajors gleitet ab in die Niederungen der Konfektionskomik, die sich dann – begleitet von stummen Nichtreaktionen der Zuschauer – auch in der Charakterzeichnung der Figuren durchsetzt. Ob der von seinem unbedingten Pflichtgefühl gebeutelte Piratenlehrling Frederic, der allzu trottelige Generalmajor, die kaum mehr als weinerliche Gouvernante Ruth oder der reaktionsarme Polizeisergeant mit seiner in hübschen weißen Gamaschen tanzenden Bobby-Truppe: Sie alle überwinden die komisch intendierte, aber nur harmlose Vordergründigkeit nicht.

Die Queen als rosa Übermutter der Nation

Es ist hoch anzuerkennen, wenn ein Regisseur Operette erzählen möchte, ohne sie mit gezwungener Konzept-Gewalt zu verbiegen. Aber gerade bei satirischen, mit zeitgenössischen Anspielungen operierenden Werken bedarf es einer Übersetzung. Die 1879 gesellschaftlich selbstverständlichen Voraussetzungen wären, soll der Humor gerettet werden, in treffenden aktuellen Analogien neu zu lesen. Cusch Jung ist das nur am Ende geglückt: Gilbert & Sullivan huldigen im Finale mit einer absurden Wendung der damaligen Übermutter der Nation, Queen Victoria. Sie zitieren damit den längst überholten Operntrick vom „deus ex machina“ und nehmen schlitzohrig aufs Korn, wie die Monarchie ideologisch zur Überbrückung kaum vereinbarer Gegensätze eingesetzt wurde. Die quietschrosa Elizabeth II., die Jung auftreten lässt, setzt diese Aspekte gegenwärtig und sorgt überdies mit putzigen Anspielungen für die längst fälligen Lacher. Dass die Piraten einem Einfall gelangweilter, blaublütiger Oberhaus-Mitglieder entstammen, geht allerdings im Geflöte der Bühnen-Queen (Joslyn Rechter) beinahe unter. Ein „höchst kurioses Paradox“.

So viele hübsche Mädchen auf einmal! Da werden auch hartgesottene Seeräuber schwach (Opernchor der Bühnen Wuppertal). (Foto: Jens Großmann)

Musikalisch hat der ehrgeizige Arthur Sullivan, der eigentlich lieber ein seriöser Opernkomponist geworden wäre (und auch solche Versuche hinterlassen hat), melodischen Esprit und solides Handwerk zu bieten. Er operiert vergnüglich mit rhythmischem Elan á la Auber und Offenbach, lässt die kurzen Noten mit den Silben der Wörter stolpern, was eine adäquate deutsche Übersetzung des englischen Textes ziemlich unmöglich macht, treibt das „very model of a modern major-general“ mit seinen rhythmisch ratternden Worthackschnitzeln nach der Art italienischer Plapperarien in ein aberwitziges Tempo. Bei den lyrischen Szenen mit ihrer geschmeidig-schmeichelnden Melodik denkt man an die leuchtende Transparenz eines Adolphe Adam, aber auch an Mendelssohn und an den leider vergessenen Erfolg „The Bohemian Girl“ des Iren Michael William Balfe.

Herzerweichender Belcanto und trocken gestricheltes Staccato

Johannes Witt und das Sinfonieorchester Wuppertal setzen das alles ansprechend und adrett um, finden den Ton der herzerweichenden Pseudo-Dramatik aus der Belcanto-Oper ebenso wie trocken hingestrichelte Staccato-Passagen. Warum aber ausgerechnet die Ouvertüre ein Kürzungsopfer werden musste – der schräge Piraten-Marsch wird so zur musikalischen Fußnote – und wozu man eine Bearbeitung (von William Shaw) spielt, erschließt sich nicht.

Die Solisten tun sich manchmal schwer, denn auch in der neuen deutschen Übersetzung von Inge Greiffenhagen und Bettina von Leoprechting sind die Wortsalven nicht einfacher abzufeuern als im englischen Original. Überraschend gut macht das Sangmin Jeon, der als Frederic sein naives Pflichtbewusstsein auch mit einem klaren und präsenten Tenor unterstreichen kann. Simon Stricker hat als Generalmajor eine komische Paraderolle, die er aber als bommelmütziger Trottel eher nach bieder deutscher als nach hintergründig englischer Art ausgestalten muss.

Ralitsa Ralinova ist als Mabel die stimmlich am prominentesten ausgestattete unter den Töchtern des hohen Offiziers: Während die Damen des Chores allerliebst übers Wetter schnattern, darf sie ihrem auserwählten Frederic amouröse Avancen in leuchtend lyrischen Kantilenen entgegenbringen. Sebastian Campione ist ein mit Bart wie Stimme eindrucksvoll ausgestatteter Piratenkönig, der mit Yisae Choi als Polizeisergeant keinen ernsthaften Gegenspieler hat. Oleh Lebedyev (Samuel) und Joslyn Rechter als altersdiskriminierte Ruth mit vergeblichen erotischen Erwartungen an ihren Schützling Frederic hätten in der entsprechenden Regie sicher noch einiges an Potential zuzulegen. Am Ende überwog der Eindruck, dass der Transfer von Humor aus der Musikalischen Komödie Leipzig, wo die Produktion 2016 Premiere hatte, ins Tal der Wupper so recht nicht geklappt hat. An Gilbert & Sullivans „folly“, das sei versichert, liegt`s nicht!

Weitere Vorstellungen: 6. Februar, 19. März, 29. April, 14. Mai, 12. und 25. Juni 2022. Info: https://www.oper-wuppertal.de/oper/programm/detailansicht-auffuehrung/auffuehrung/14-05-2022-die-piraten/




Südsee-Glamour und politische Utopie: Paul Abrahams Operette „Blume von Hawaii“ in Hagen

Frank Wöhrmann (Jim Boy) und Penny Sofroniadou (Raka) in Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ in Hagen. (Foto: Klaus Lefebvre)

Was der Gentleman im Dschungel zu tun hat, erfahren wir nicht so richtig. Aber dass ihm bei einem möglichen Rendezvous die Affen zuschauen, der Tiger brüllt und jede Menge „uh uh“ dabei ertönt, macht uns Paul Abraham in diesem herrlichen Nonsens-Song ausgiebig bewusst.

In Hagen, wo die Operette zum Glück noch eine Heimstatt hat, gibt es mit der „Blume von Hawaii“ eine prickelnde Mischung aus höherem Blödsinn, kitschtriefender Südsee-Romantik und behutsamen politischen Anspielungen – also eine Melange wie geschaffen für eine wirkungsvolle Unterhaltungs-Show. Doch die musste coronabedingt mager ausfallen: Bei der Premiere im Oktober letzten Jahres war Abstand nötig und weder große Chorauftritte noch opulente Tanznummern möglich.

Regisseur Johannes Pölzgutter reduziert folgerichtig bis nahe ans Kammerspielformat, in dem jedoch die Personen mit ihren Nöten und Konflikten schärfer gefasst sind. Die Tableaus treten zurück, mit denen Abrahams Operette im Berlin der Wirtschaftskrise und des Verfalls der Weimarer Republik die vergnügungssüchtige Gesellschaft in eine exotische Märchenwelt einlullte. Pölzgutter dagegen hebt auch durch behutsame textliche Retuschen den Konflikt zwischen den Amerikanern als kolonialer Besatzungsmacht und der hawaiianischen Opposition hervor: Die letzte Anwärterin auf den Thron von Hawaii, Prinzessin Laya, kehrt inkognito aus einem durchaus vergnüglichen Pariser Exil in ihre Heimat zurück, verliebt sich nicht nur in den Kapitän ihres Dampfers, sondern auch in Volk und Vaterland und soll statt zur harmlosen „Blume von Hawaii“ zur richtigen Regentin gekrönt werden. Klar, dass der amerikanische Gouverneur not amused ist und die politische Demonstration zu verhindern versucht. Dank der Liebe hat er Erfolg, und die Operette könnte nach dem zweiten Akt in einer Tragödie enden. Doch dem stehen eherne Gesetze des Genres entgegen. Im dritten Akt löst sich alles in liebestolles Wohlbehagen auf und gleich vier Paare finden sich.

Hawaii-Glamour auf Distanz

Prinzessin Laya (Angela Davis) steht im Spannungsfeld zwischen politischen Forderungen und privaten Gefühlen. Kanako Hilo (Insu Hwang) will sie für den Widerstand gewinnen. Die Hochzeit mit Prinz Lilo-Taro (Richard van Gemert) soll die Monarchie von Hawaii festigen. (Foto: Klaus Lefebvre)

Pölzgutter erfindet, um den Hawaii-Glamour durch Distanz erträglich zu machen, eine Rahmenszene: Zu Beginn hängt der unglückliche Kapitän Stone in einem Varieté erinnerungs- und alkoholtrunken mächtig in den Seilen, während eine leicht derangierte Diseuse „ein Schwipserl“ hat und vergeblich um die Aufmerksamkeit des abgetakelten Seemanns buhlt. Dann öffnet sich die Bühne und lässt eine billig aufgemachte Hawaii-Show sehen: Unter Goldpalmen präsentiert sich das „Paradies am Meeresstrand“, bevölkert von Yankees mit Plastik-Blumenkränzen und auf naiv getrimmten Locals.

Doch die Show verliert zunehmend ihren inszenierten Touch; der Bühnenrahmen verschwindet und wir sind mitten in einem Traum, in dem es um Liebe und Verzicht, Macht und Intrige geht. Wirkungsvoll arbeitet Pölzgutter den Konflikt heraus, in dem sich die eindrucksvoll spielende Angela Davis als Laya unversehens wiederfindet: Sie hat nicht damit gerechnet, das politische Faustpfand der Unabhängigkeitsbewegung unter dem wild entschlossenen Kanako Hilo (eine undurchsichtige Gestalt: Insu Hwang) zu werden; sie hat auch nicht damit gerechnet, dem ihr schon als Kind zugesprochenen Bräutigam, Prinz Lilo-Taro (kernig und altväterlich: Richard van Gemert) zu begegnen und sogar Empfindungen jenseits von Pflichtgefühl für ihn zu entwickeln.

Und dann gibt es da noch die Amerikaner, die sich fröhlich und machtbewusst durch die Szenerie steppen: Der pfiffige John Buffy (Alexander von Hugo) überlebt vokal nur mit Mikroport, hat aber dank eines gut geölten Mundwerks das Glück auf seiner Seite. Ebenso Frank Wöhrmann als Jim Boy, dem man seinen Song „Bin nur ein Jonny“ gestrichen hat, um eilfertig jedem Vorwurf von „Rassismus“ zu entgehen, und der damit vom melancholischen „Nigger“ zur frohgemuten Nebenfigur abgewertet wird. Einen mondänen Auftritt hat die verwöhnte Bessie Worthington, die der Gouverneur als gute Partie für den Hawaii-Prinzen importiert hat, die sich aber im saftigen Spiel und Gesang von Alina Grzeschik rasch emanzipiert.

Utopie statt Desaster

Wären wir nicht in der Operette, das Ende käme als Desaster: Die Krönung der Königin vereitelt, Laya gefangen, Lilo-Taro auf dem Weg zum Selbstmord auf offenem Meer, der wackere Kapitän Stone (unstet und unfrei: Kenneth Mattice) wegen Befehlsverweigerung entlassen, Buffy, Jim und das kleine, süße Hawaii-Girl Raka vor dem Vakuum ihrer gescheiterten Liebe. Doch der dritte Akt, in Paris, richtet es: Das Varieté kehrt wieder. Penny Sofroniadou als frischstimmige Raka wandelt sich vom radebrechenden Naivchen zur Strippenzieherin, die studiert hat und drei Sprachen beherrscht. Paar für Paar wird die Liste des Begehrens abgearbeitet; zum Schluss bekommt Buffy auch seine Bessie. Und Pölzgutter erfindet zur Krönung noch eine politische Utopie: Versehentlich unterschreibt Gouverneur Harrison (Götz Vogelgesang) ein Papier, in dem er auf sämtliche Rechte auf Hawaii verzichtet. Schöne, heile Operettenwelt!

Auch in Hagen verwendet man die „bühnenpraktische Rekonstruktion“ der vor etwa 15 Jahren zufällig wiedergefundenen Original-Partitur von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn. Sie stellt die ursprüngliche Instrumentation aus dem Geist der Zwanziger Jahre wieder her, gespeist aus genauer Kenntnis des Notentextes und der alten Aufnahmen. Das gibt ein lebendiges, facettenreiches Klangbild, doch die die Musiker des Philharmonischen Orchesters Hagen legen sich unter Andreas Vogelsberger allzu mächtig ins Zeug und werden zu laut, was auf Kosten der Differenzierung geht und den Sängern Probleme bereitet. Wenn das Schlagzeug nicht überbetont ist, erinnert der swingende Rhythmus – allerdings ohne die Stütze des Sousaphons – an die Schellack-Zeugnisse von Paul Abrahams Stil. Spaß macht es, wenn es gelingt, die vibrierende Energie, die Farbwechsel, den melodischen Schmelz auszuspielen. Dann wird der Sound einer fiebrig-ausgelassenen Zeit lebendig, die ahnungsvoll und besinnungslos in ihren Untergang tanzte.

Buchtipp: Der in Witten lebende Autor Klaus Waller hat 2014 eine Biographie über den Komponisten veröffentlicht, die 2021 in einer Neuauflage erschienen ist: Paul Abraham. Der tragische König der Operette: Eine Biographie. 384 Seiten, 196 Abbildungen. starfruit publications, Fürth, 28,00 Euro.

 




„Bist Du’s, lachendes Glück?“ – Vor 150 Jahren wurde der Operettenschöpfer Franz Lehár geboren

„Dein ist mein ganzes Herz! Wo Du nicht bist, kann ich nicht sein. So wie die Blume welkt, wenn sie nicht küsst der Sonnenschein …“.

Der Tenor Richard Tauber hat diesem Lied aus „Das Land des Lächelns“ zum Welterfolg verholfen. Der Komponist war vorher schon in den Olymp der Operette aufgenommen worden: 1929, als die Liebesgeschichte eines chinesischen Prinzen und einer jungen Wiener Dame der besten Gesellschaft im Berliner Metropol-Theater uraufgeführt wurde, hatte Franz Lehár schon über 25 Jahre lang einen Erfolg an den anderen gereiht.

Wer kennt sie nicht, die unsterblichen Titel seiner verführerischen, ins Ohr gehenden Erfindungen? Das „Vilja-Lied“ aus der „Lustigen Witwe“, Lehárs 1905 uraufgeführtem erstem Welterfolg? „Bist Du’s, lachendes Glück“ aus dem 1909 im Theater an der Wien erstmals gegebenen „Graf von Luxemburg“. „Hör‘ ich Cymbalklänge“ aus der „Zigeunerliebe“ von 1910, einer „romantischen“ Operette, in der Lehár die melancholische Melodik seiner ungarischen Heimat in farbige Klänge und verwegene Harmonien verwandelt. Und dazu noch das „Wolgalied“ aus „Der Zarewitsch“, mit dem sich Richard Tauber und seine Nachfolger an Weltstadt- und Provinzbühnen in die Herzen des Publikums geschmachtet haben.

Vielsprachiger Bürger der Donaumonarchie

Heute liegt Komárom, wo der Lehár Ferencz am 30. April 1870 geboren wurde, in der Slowakei. Vor 150 Jahren gehörte das heutige Komárno zu Ungarn, aber in der Habsburgermonarchie waren Grenzen noch nicht so wichtig. Der Vater war Kapellmeister im Infanterieregiment Nr. 50 der k.u.k.-Armee, die Familie stammt aus Mährisch-Schlesien. Franz sprach zu Hause Ungarisch, beherrschte Tschechisch und eignete sich Deutsch und Italienisch an.

Der Vater achtet auf frühen Unterricht in allen möglichen Instrumenten. Schon als Zwölfjähriger kommt Franz aufs Prager Konservatorium und studiert bei den besten Lehrern der Zeit, Anton Bennewitz und Joseph Förster, später heimlich bei dem renommierten Opernkomponisten Zdenĕk Fibich. Antonín Dvořák rät ihm, sich aufs Komponieren zu verlegen. Als „vorzüglicher Orchester- und Solo-Spieler“ auf der Violine bekommt er mit Achtzehn nach der „Austritts-Prüfung“ eine Stelle in Elberfeld-Barmen (Wuppertal). Dort bildet er sich „deutlichere Begriffe“ vom Theater und begeistert sich für Wagners Opern und eine blonde Sopranistin. Eine Stelle in des Vaters Regiment lockt ihn weg: Er bricht seinen Vertrag und verschwindet nach Wien. Dreizehn Jahre lang sollte er in sechs Regimentern der Doppelmonarchie dienen, in dieser Zeit auch Lieder und Tanzmusik schreiben und mit Märschen wie „Jetzt geht’s los“ oder „Wiener Humor“ bekannt werden.

Erste Oper in Leipzig

Lehárs Laufbahn als Theaterkomponist beginnt mit einer Oper: „Kukuška“, eine tragische russische Liebesgeschichte auf das Libretto eines Korvettenkapitäns, bleibt bei der Uraufführung in Leipzig 1896 nicht ohne Erfolg. Der reicht nicht, um dem jungen Mann den Weg zum freien Komponisten zu ebnen. Das schafft erst der bis heute berühmte Walzer „Gold und Silber“: Franz Lehár wird Theaterkapellmeister am Theater an der Wien und schreibt gleich zwei Operetten: „Wiener Frauen“ für den Star Alexander Girardi und „Der Rastelbinder“ für das Wiener Carltheater. Letztere wird ein Riesenerfolg; Léhar ist in der Welt der wiedererstehenden Wiener Operette plötzlich ein Star. Die volkstümlichen Weisen, humorvollen Märsche und mal wienerisch, mal slowakisch eingefärbten Melodien kommen an. „Jetzt, liebe Mutter, bin ich glücklich und frei!“, schreibt er nach Hause.

Drei Jahre später festigt er seinen Erfolg 1905 mit der „Lustigen Witwe“, die ihn international berühmt macht: „Lippen schweigen, `s flüstern Geigen: Hab‘ mich lieb!“ wird in England und Amerika, China und Japan gesungen. Über eine halbe Million Aufführungen erlebt die Operette in hundert Jahren. Lehár traf unbewusst den Ton der Zeit und sagt von sich: „Mit der ‚Lustigen Witwe‘ hatte ich meinen Stil gefunden.“ Die Presse rühmt die „beste Operettenmusik, die wir je hatten“: Lehár erweitert die Klangpalette des Orchesters, baut Tänze in modernen Rhythmen ein und schafft Melodien zum Mitsingen, die im Ohr bleiben. Felix Salten, Erfinder von „Bambi“ und vermutlich auch von Josefine Mutzenbacher, hört in der Operette die modernen Empfindungen tönen. Sie wird als „Manifestation des Zeitgeistes“ gefeiert. Bis heute ist sie ein Lieblingsobjekt mehr oder weniger gelingender Regie-Ambitionen.

Der Weg zur romantischen Operette

Lehárs Stil sollte sich freilich noch wandeln und nicht nur zu Erfolgen führen: „Der Sterngucker“ auf ein Libretto des später so bedeutenden Fritz Löhner-Beda war 1916 ein Misserfolg. Auch „Die gelbe Jacke“ von 1923 wird erst in der Umarbeitung zum „Land des Lächelns“ ein Hit. Die mit Richard Tauber gedrehte Kinoversion von 1930 war der erste international erfolgreiche deutsche Tonfilm.

Atmosphärisch dicht: Die erste Szene von Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ am Aalto-Theater Essen. Die Bühne ist von Lukas Kretschmer. Foto: Bettina Stöß.

Das China-Drama zeigt exemplarisch, in welche Richtung sich Franz Lehár in seinen späten Jahren orientierte: Er rückt näher an die Oper. Seine „romantischen Operetten“ verzichten auf Modetänze wie Shimmy oder Foxtrott. Am Ende steht kein Happy End, sondern tragischer Verzicht nach dem kurzen Rausch eines gesellschaftlich unmöglichen Glücks. „Der Zarewitsch“, „Paganini“ oder „Giuditta“ – mit der Lehár 1934 endlich seine ersehnte Premiere an der Wiener Staatsoper bekommt – gehören diesem heute als sentimental empfundenen und kaum mehr auf der Bühne zu erlebenden Genre an. Im Dritten Reich laviert sich Lehár auch wegen seiner jüdischen Frau Sophie durch die Zeiten; für seine jüdischen Librettisten wie den in Auschwitz erschlagenen Fritz Löhner-Beda hat er allem Anschein nach wohl nichts getan. 1948 stirbt er als kranker Mann in seiner Villa in Bad Ischl, die heute als Museum zu besichtigen ist. Dass Hitler die „Lustige Witwe“ zu seiner Lieblingsoperette erkoren hatte, dazu konnte er nichts.

Wegen der Corona-Pandemie fallen nicht nur die Feierlichkeiten zu Lehárs Geburtstag aus. Es kann derzeit auch keine seiner Operetten auf der Bühne gespielt werden, etwa am Aalto-Theater in Essen, wo „Land des Lächelns“ auf dem Spielplan gestanden hätte. Das Lehár-Festival in Bad Ischl hat zwar seltsamerweise keine Operette seines prominenten Namensgebers im Programm, kündigt aber unverdrossen für 14. August 2020 die Uraufführung einer musikalischen Lebensgeschichte mit den „berühmtesten Hits“ von Lehár an, gestaltet von Jenny W. Gregor. Auch eine Ausstellung mit Fotos von Lehárs „Leibfotografen“ Hugo Hofer wird angekündigt. Und ob die Bühne Baden (bei Wien) ab 31. Juli Lehárs Operette „Die blaue Mazur“ in der Sommerarena bringen kann, ist noch nicht entschieden.




Corona-Update: Alles dicht! – Dortmunder Kultur-Absagen und tägliche Ergänzungen aus dem Revier

Ein Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Konzerthauses, das 1500 Plätze hat und  selbstverständlich auch von Absagen betroffen ist. (Foto: Bernd Berke)

Hier am Anfang zunächst der Stand vom 11. März, ständige Aktualisierungen weiter hinten:

Ausnahmsweise werden hier zwei ausführliche Pressemitteilungen aus den Dortmunder Kulturbetrieben wörtlich und unkommentiert wiedergegeben – weil es hier vor allem auf die sachlichen Details ankommt und nicht auf diese oder jene Meinungen.

Im Anhang folgen weitere Informationen, auch aus anderen Revier-Städten. 

Zuerst eine ausführliche Übersicht zu städtischen Kulturveranstaltungen, die in den nächsten Wochen ausfallen werden, übermittelt von Stadt-Pressesprecherin Katrin Pinetzki.

Danach eine gleichfalls längere Aufstellung aus dem Dortmunder Mehrsparten-Theater, auch das Konzerthaus betreffend, übermittelt von Theater-Pressesprecher Alexander Kalouti.

Wir zitieren:

„Öffentliche Kulturveranstaltungen fallen bis Mitte April aus – Museen, Bibliotheken und U bleiben geöffnet – Unterrichtsbetrieb in VHS- und Musikschule läuft weiter

Die Kulturbetriebe der Stadt Dortmund, das Theater Dortmund und das Konzerthaus Dortmund sagen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen bis Mitte April ab. Die Regelung gilt ab morgen (12. März) und ist unabhängig von der Zahl der erwarteten Besucherinnen und Besucher. Damit hofft die Stadt, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Es fallen aus:

  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund,
  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Theater Dortmund: Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Konzerte, Akademie für Theater und Digitalität,
  • Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und Führungen in den Städtischen Museen: Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Westfälisches Schulmuseum, Kindermuseum Adlerturm, Hoesch-Museum, Brauerei-Museum, schauraum: comic + cartoon,
  • städtische Veranstaltungen im Dortmunder U (z.B. auf der UZWEI, in der Bibliothek „Weitwinkel“, Veranstaltungen in der Reihe „Kleiner Freitag“),
  • Veranstaltungen und Festivals im Dietrich-Keuning-Haus (der Kinder- und Jugendbereich hat geöffnet!),
  • Lesungen und andere Veranstaltungen in den Bibliotheken und im Studio B,
  • Konzerte und Veranstaltungen der Musikschule (der Unterricht findet statt!),
  • Vorträge und andere Veranstaltungen der VHS (die Kurse und Workshops finden statt!),
  • Vorträge, Lesungen und andere Veranstaltungen in Stadtarchiv und in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache,
  • Konzerte und andere Veranstaltungen im Institut für Vokalmusik,
  • Spaziergänge und Fahrradtouren zur Kunst im öffentlichen Raum,
  • Veranstaltungen des Kulturbüros (Ausstellungseröffnungen im Torhaus Rombergpark, Gitarrenkonzerte in der Rotunde).

(…)

Der Kartenverkauf für Konzerte und Aufführungen in Theater und Konzerthaus für Vorstellungen nach Ostern läuft weiter.

Alle Theater- und Konzerthauskunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden kontaktiert. Wenn möglich, werden ausfallende Vorstellungen nachgeholt. Die Kunden werden über mögliche neue Termine sowie die Rückgabe von Tickets benachrichtigt.“

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten von Konzerthaus und Theater und auf www.dortmund.de

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Blick aufs Dortmunder Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Wichtige Informationen zu den Vorstellungen des Theaters Dortmund und des Konzerthauses Dortmund:

„Alle Vorstellungen bis einschließlich 15. April 2020 finden nicht statt.

Aufgrund des Erlasses der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen finden im Konzerthaus Dortmund und im Theater Dortmund bis einschließlich 15. April 2020 keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Konzerthaus-Intendant Dr. Raphael von Hoensbroech und der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund Tobias Ehinger unterstützen diese Vorgabe und bedauern zugleich, dass so viele erstklassige Konzerte und Vorstellungen abgesagt werden müssen.

Alle Kunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden informiert. In den kommenden 14 Tagen arbeiten wir intensiv daran, für die ausgefallenen Vorstellungen Ersatztermine zu finden. Die Ticketingstellen beider Häuser haben weiterhin geöffnet und der Kartenverkauf für Veranstaltungen nach Ostern läuft weiter. Das Restaurant Stravinski und die Klavier & Flügel Galerie Maiwald am Konzerthaus Dortmund bleiben ebenfalls bis auf weiteres geöffnet.

Das Konzerthaus Dortmund bietet für seine Eigenveranstaltungen folgende Regelungen: Für Ersatztermine behalten Tickets ihre Gültigkeit. Sollten Kunden an dem neuen Termin verhindert sein, wenden sie sich bitte telefonisch an das Konzerthaus-Ticketing unter T 0231 – 22 696 200. Sollte kein Ersatztermin gefunden werden, sendet das Konzerthaus an die Kunden einen Gutschein über die Höhe des gezahlten Kartenpreises, der für alle kommenden Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund einlösbar ist. Bei weiteren Fragen zur Rückerstattung steht das Ticketing ebenfalls gerne zur Verfügung. Für Partnerveranstaltungen können abweichende Regelungen gelten.

Das Theater Dortmund bietet folgende Regelungen: Bei Nichtwahrnehmung des Ersatztermins können die Karten vor dem jeweiligen Ersatztermin umgetauscht werden. Darüber hinaus bietet das Theater Dortmund folgende Kulanzregelungen für die Kartenrücknahme an: Kunden können die für diesen Zeitraum im Vorverkauf bereits erworbenen Karten bis Ende der Spielzeit 2019/20 im Kundencenter unter Vorlage der Originalkarten in spätere Alternativvorstellungen eintauschen oder in Wertgutscheine umwandeln. Bei Abonnentinnen und Abonnenten können die Karten in Abo-Gutscheine innerhalb der jeweiligen Sparte umgewandelt werden, die aus Kulanz auch für die nächste Spielzeit einlösbar sind. Karten, die bei externen Vorverkaufsstellen erworben wurden, können nur an diesen zurückgegeben werden. Für Rückfragen steht das Ticketing des Theater Dortmund unter der Telefonnummer 0231 – 50 27 222 gerne zur Verfügung.

Wir stehen weiterhin in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und informieren auf unseren Websites über alle weiteren aktuellen Entwicklungen, die den Spielbetrieb unserer Häuser betreffen.“

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Ausgewählte Ergänzungen (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit)

12. März:

Die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA hat die für 28./29. März geplante „Maker Faire Ruhr“ abgesagt, ein Erfinder- und Mitmach-Festival, das im Vorjahr einige Tausend Besucher(innen) mobilisiert hat. Nachtrag am 16. März: Die DASA schließt jetzt bis auf Weiteres ganz.

Die in Dortmund ansässige Auslandsgesellschaft streicht bis zum 15. April alle öffentlichen Veranstaltungen.

Das Szenetheater „Fletch Bizzel“ folgt dem Beispiel der städtischen Kultureinrichtungen und sagt alle Veranstaltungen bis Mitte April ab.

Auch im Fritz-Henßler-Haus gibt es bis Mitte April keine öffentlichen Auftritte.

Im Dortmunder Literaturhaus ist ebenfalls bis 15. April Veranstaltungs-Pause.

Die Messe „Creativa“ in den Dortmunder Westfalenhallen ist gleichfalls abgesagt und auf Ende August verschoben worden.

13. März:

Theater Dortmund: Alle Sparten haben ihre Spielpläne für diese und die kommende Saison gründlich umgeschichtet.

Schauspielhaus Bochum: Keine Veranstaltungen mehr (auch nicht mit weniger als 100 Personen). Sämtliche Aufführungen fallen aus – vorerst bis 19. April. Ähnliches gilt fürs Theater an der Ruhr in Mülheim, fürs Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) streicht alle öffentlichen Veranstaltungen in seinen Einrichtungen und schließt ab morgen (14. März) seine insgesamt 18 Museen, darunter das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Westfälische Industriemuseum mit seiner Zentrale in Dortmund (Zeche Zollern) und das LWL-Museum für Archäologie in Herne.

Das Duisburger Lehmbruck-Museum bleibt ab Samstag (14. März) zunächst bis zum 19. April geschlossen.

Das Museum Folkwang in Essen und das Emil Schumacher Museum in Hagen setzen alle Veranstaltungen bis auf Weiteres aus.

Die Kunstmesse Art Cologne (geplant für April) ist abgesagt worden.

14. März:

Das „Dortmunder U“ und das Museum Ostwall (im „U“) haben alle Veranstaltungen gestrichen. (Inzwischen ist das Haus geschlossen).

Dortmund: Keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr

15. März:

In einer Sondersitzung hat der Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gestern beschlossen, dass ab heute (Sonntag, 15. März) bis auf Weiteres keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Gaststätten und Restaurants dürfen vorerst geöffnet bleiben.

Museen, Bibliotheken und Sportstätten geschlossen

Der Krisenstab der Stadt Dortmund hat heute (Sonntag, 15. März) getagt und angeordnet, Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu schließen. In diesem Sinne werden bis auf Weiteres die städtischen Museen, die VHS, die Bibliotheken und die Musikschule sowie die städtischen Hallenbäder, Sporthallen und Sportplätze geschlossen.

Siehe dazu auch: www.dortmund.de

16. März

Auch anderorts bleiben ab sofort die Museen geschlossen, so z. B. in Essen (Folkwang), Bochum (Kunstmuseum) und Wuppertal (Von der Heydt).

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln fällt aus.

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Aber machen wir’s kurz:

Jetzt sind alle Museen geschlossen. Und alle Kinos auch. Und alle Bühnen.

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Weitere Nachträge/Aktualisierungen

24. März

Das Dortmunder Festival Klangvokal (geplant ab 17. Mai) musste ebenfalls abgesagt werden. Möglichkeiten für Nachholtermine (September 2020 bis Juni 2021) werden derzeit geprüft. Das zugehörige Fest der Chöre soll vom 13. Juni auf den 12. September verschoben werden. Einzelheiten: www.klangvokal-dortmund.de

25. März

Die Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni in Recklinghausen hätten stattfinden sollen, sind gleichfalls abgesagt. Teile des geplanten Programms sollen nach Möglichkeit im Herbst nachgeholt werden.

Das Klavierfestival Ruhr, ursprünglich ab 21. April geplant, soll nun erst am 18. Mai starten. Die vom 21. April bis 17. Mai geplanten 23 Konzerte sollen nach den Sommerferien und im Herbst nachgeholt werden.

Die Mülheimer Stücketage (geplant 16. Mai bis 6. Juni) sind abgesagt worden.

27. März

Neuester Stand beim Klavierfestival Ruhr: Sämtliche bis Ende Mai geplanten Konzerte werden auf die Zeit nach den Sommerferien bzw. in den Herbst 2020 verlegt. Der Spielbetriebwird voraussichtlich erst Anfang Juni (Woche nach Pfingsten) beginnen. Näheres unter www.klavierfestival.de/nachholtermine

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Nähere Infos auf den jeweiligen Homepages

 




Corona: Viele Absagen für Theater, Oper und Konzert in NRW – und auch jenseits der Landesgrenzen

Sagt bis 19. April alle Vorstellungen ab: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Werner Häußner)

Für die Kulturszene in NRW hat das Corona-Virus bereits Auswirkungen. Hier ein erster Rundblick:

Die Maßnahmen, die eine weitere Verbreitung von Sars-CoV-2 – so heißt das tückische Kleinteilchen – hemmen sollen, führten bereits gestern, 10. März, zur Einstellung des Spielbetriebs des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen bis voraussichtlich 19. April.

Soeben hat auch das Theater Hagen alle Vorstellungen im Großen Haus – nicht aber in den kleineren Spielstätten – abgesagt. In Dortmunder Konzerthaus sind der Auftritt von Bodo Wartke am heutigen 11. März auf den 23. Juni verschoben und alle öffentlichen Veranstaltungen bis 15. April abgesagt. Und nun hat auch das Beethovenfest Bonn alle Konzerte zwischen 13. und 22. März abgesagt,

Seit dem Erlass des Gesundheitsministeriums vom 10. März sollen die örtlichen Behörden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern grundsätzlich absagen. Liegt die Zahl darunter, sei – wie bisher – eine individuelle Einschätzung der örtlichen Behörden erforderlich, ob und welche infektionshygienischen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, heißt es auf der Homepage der Landesregierung.

Düsseldorf deckelt die Zahl der Besucher

Während bei der Theater und Philharmonie (TuP) Essen die Entscheidungsfindung noch im Gang ist, hat sich die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf entschieden, vorerst weiterzuspielen, den Verkauf von Karten aber so zu deckeln, dass die Zahl von 1.000 Menschen im Raum (Besucher und Mitwirkende) nicht überschritten wird. Auch die Wuppertaler Bühnen führen momentan den Spielbetrieb weiter. Die Historische Stadthalle begrenzt ihren Kartenverkauf ebenfalls, damit die 1000er-Marke nicht überschritten wird.

Nicht – oder noch nicht – betroffen scheinen die Museen: Das Essener Folkwang Museum sagt zwar seine Ausstellungseröffnung zu Mario Pfeifer, Black/White/Grey (am 12. März, 19 Uhr) ab, hat aber ansonsten wie üblich geöffnet. Auch die Beethoven-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn bleibt unberührt.

In Sachsen spielt man vorerst weiter

Ein Blick über die Grenzen: In Bayern sind alle Staatstheater geschlossen, die Theater in Bamberg, Würzburg und Regensburg haben bereits nachgezogen und ihre Vorstellungen bis Mitte April abgesagt. In Wien schließen Burgtheater, Staats- und Volksoper. Auch in den drei Berliner Opernhäuser gibt es bis 19. April keine Vorstellungen. Sachsen dagegen meldet derzeit keine Absagen: Semperoper, Staatsoperette Dresden, Theater Chemnitz spielen, und auch die Landesbühnen Sachsen kündigen die Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in der Regie von Manuel Schmitt – erfolgreicher Regisseur von Bizets „Perlenfischern“ in Gelsenkirchen – weiterhin für den 14. März an.

Fatale Folgen haben die Schließungen und Absagen für freie Künstler, vor allem, wenn Verträge keine Ausfallhaftung vorsehen. Sechs Wochen ohne oder mit deutlich vermindertem Einkommen führen in solchen Fällen schnell in eine prekäre Lage. Es wird sich zeigen, ob die Institutionen bzw. die Geldgeber zu unbürokratischen und großzügigen Lösungen bereit sind. Der Präsident des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat bereits einen Notfonds gefordert – „sehr schnell und mit wenig Bürokratie“.




Eher das böse Grinsen: Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ zeigt in Essen überraschend aktuelle Seiten

Für eine fröhliche Faschingsunterhaltung taugt „Das Land des Lächelns“ sowieso nicht. Aber Sabine Hartmannshenns ehrgeizige Regie-Bearbeitung macht Franz Lehárs Operette in Essen eher zum Land des bösen Grinsens.

Atmosphärisch dicht: Die erste Szene von Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ am Aalto-Theater Essen. Die Bühne ist von Lukas Kretschmer. (Foto: Bettina Stöß)

Während draußen unverdrossene Närrinnen und Narren den Stürmen trotzten, brauten sich drinnen auf der Bühne des Aalto-Theaters vor der Fassade eines Zwanziger-Jahre-Etablissements die braunen Stürme zusammen, die vier Jahre nach der Uraufführung von Franz Lehárs „romantischer Operette“ zahllose Künstler aus Deutschland wegfegen und der abgedreht-ironischen Gattung die kritischen Zähne glattschleifen sollten.

Die Inszenierung von Hartmannshenn, die im Dezember am Aalto Premiere hatte, schafft zunächst mit einer sorgfältig durchgestalteten Eingangsszene einen atmosphärischen Hintergrund: eilige Passanten, Zeitungsjungen, Straßenkehrer, eine etwas zu aufdringlich gestylte Schönheit und ein Flugblatt-Verteiler in SA-Uniform. Man bewundert die atmosphärische Treffsicherheit von Lukas Kretschmers Bühne. Dem Theater strebt nobel gekleidetes Publikum zu: Gegeben wird „Die gelbe Jacke“, jene China-Operette, die Lehár 1923 herausbrachte. Wenig erfolgreich, sollte sie sechs Jahre später dem Welterfolg „Land des Lächelns“ als Grundlage dienen.

Jessica Muirhead als Lea (Lisa). (Foto: Bettina Stöß)

So alltäglich das Treiben anmutet: die Atmosphäre ist lastend. Unterschwellige Aggressivität wird manifest, als ein Radfahrer einen älteren Herrn anfährt. Der Star der Abendvorstellung naht und wird vor dem Bühneneingang gefeiert. Die Menge verläuft sich, ein Herr bleibt zurück. Es ist der Darsteller des Leutnant Gustl, und er ahnt, dass seine bittersüße Sehnsucht bei der Diva nicht erfüllt wird: „Freunderl, mach dir nix draus‘“ ist ihr wohlgemeinter Rat an ihren „besten Freund“. Später, auf der Seitenbühne, als Lea, die im Stück die Lisa spielt, mit dem Gasttenor „bei einem Tee á deux“ flirtet, wird der abgeblitzte, eifersüchtig spähende Kollege beziehungsvoll eines der Flugblätter von draußen auf den Schminktisch legen: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen…

Neuer Rahmen für die Erzählung

Es sind solche vielsagenden Gesten, Zeichen und Signale, die Sabine Hartmannshenns „Land des Lächelns“ zu einem dicht gewebten, virtuos konstruierten Theater-Ereignis machen. Details, über denen nie das Ganze aus dem Blick gerät, sondern die immer schlüssig auf den großen Bogen der Erzählung hingeordnet sind. Und die Regie zertrümmert nicht, sondern erzählt, aber in einem neuen, aus der Geschichte des Stücks und seiner Zeit entwickelten Rahmen. Nicht mehr das noble Wiener Aristokratenhaus, sondern das Theater ist der Schauplatz. Die exotische Pracht des Fantasie-Chinas aus dem zweiten Akt wird nicht dekonstruiert, sondern zitiert: als glamouröse Bühnenshow in einem Varieté, dicht an der Unterhaltungskunst der Zwanziger Jahre und näher an Lehárs originaler „Gelber Jacke“.

Im Gegensatz zu Verfremdungsversuchen und Subtextlektüren, die in der Operette nicht selten desaströs ausgehen, schafft es die Essener Inszenierung, die Liebesgeschichte nicht als trivial zu denunzieren, sondern im Gegenteil in berührenden Szenen zu unterstreichen. Die Frage nach der Maske, die Menschen tragen, spielt dabei eine entscheidende Rolle, aber auch die Fremdheit, allerdings anders gefasst als von den Librettisten Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda: Der Darsteller des Sou-Chong ist nicht nur Konkurrent in amourösen Dingen, sondern gerät als Fremder („Lernt erst mal richtig Deutsch“ schallt es vom Balkon) ins Fadenkreuz eines Bühnen-Publikums, das vom „Gauleiter“ bis zur graumausigen Mamsell, die sich ihr Bier selbst mitgebracht hat, durch Susana Mendozas Kostüme liebevoll charakterisiert wird.

Die China-Welt bleibt glamouröse Show: Jessica Muirhead (Lisa) und Tänzerinnen. (Foto: Bettina Stöß)

Das Klischee-China ist bunte Show, aber die Menschen, die in einer zunehmend feindlichen Gesellschaft Fremde werden, sind bitter real: Der Conférencier (im Original der chinesische Obereunuch), beschimpft als „Judenbengel“, wird hinausgeschleppt und kehrt schmerzverkrümmt zurück; der fremde Tenor schafft es gerade noch, zum Ausgang hinauszuhuschen – in Hut, Schal und Mantel wie einst der strahlende Uraufführungs-Chinaprinz Richard Tauber, den die Nazis ins Exil getrieben haben. Und wer denkt nicht an Fritz Löhner-Beda? Lehár verdankt seinem loyalen Freund fünf Libretti und hat (nach allem, was wir inzwischen wissen) nichts für ihn getan, als ihn die Nazis 1938 verhafteten, in Buchenwald erniedrigten und 1942 in Auschwitz erschlugen.

Fremd und einsam: Carlos Cardoso als Darsteller des Prinz Sou-Chong. (Foto: Bettina Stöß)

Der dritte Akt nimmt „eine neue Wendung“ nicht nur im China der Showbühne: Die frauenverachtenden Worte Sou-Chongs („Du bist hier nichts als eine Sache“) treffen mit ungedämpfter Wucht. Die Feststellung, ein Chinese könne sogar „sein Weib köpfen lassen“, quittiert der Uniformierte auf dem Balkon mit Beifall. Beim „Zig, zig, zig“-Duett reicht es den Damen im Bühnen-Publikum, viele verlassen türenknallend den Raum, während Chinamädels am Lederhalsband vorgeführt und herumgetrieben werden – Objekte der Gewalt-Geilheit, die an die Shows mit Josephine Baker in den Zwanzigern erinnern. Lisa allerdings, die beklemmend beziehungsreich in der Dirndl-Anmutung ihres Kleids von Sehnsucht nach der „Heimat“ singt, findet ihren Frieden mit dem zuprostenden Obernazi und dem in prächtigem österreichischem Rot-Weiß-Rot aufgetakelten Gustl: Auf sie wartet ein weißer Pelz. Als die Fassade des Theaters wieder auftaucht, prangen dort Hakenkreuzfahnen und ein Plakat, das „Land des Lächelns“ ankündigt…

Überraschend aktuelle Seiten

So verwebt Sabine Hartmannshenn die Geschichte der Lehár-Operette und die Zeitgeschichte ihrer Entstehungsstationen virtuos mit einem politischen Kommentar, der dem Stück keine Gewalt antut, sondern aus genau ausgearbeiteter Distanz befragt und seine überraschend aktuellen Seiten herausstellt. Dass sie dabei an die Grenzen der Gattung geht, schadet nicht, sondern lässt neu erleben, wie relevant Operette jenseits nostalgischer Unterhaltung sein kann.

Wenn dann auch die musikalische Umsetzung stimmt, wird ein spannender, berührender Abend daraus: Stefan Klingele am Pult weiß, wie weich und flexibel Lehárs Geigen geführt werden, wie sich die Bläser auf samtigem Streicherklang tragen lassen sollten statt ihn aufzureißen, wie die Balance zwischen der feinen Süße des Operetten-Sentiments und den auftrumpfend dramatischen Opern-Reminiszenzen herzustellen ist: Lehár, der Freund Puccinis, hat die China-Atmosphäre der „Turandot“ vorweggenommen. Anfangs schleppen die Tempi noch, aber in „Von Apfelblüten einen Kranz“ schaltet Klingele das Orchester auf höchste Schmeichelstufe.

Sorgfältig charakterisierte Figuren

Das Arioso inspiriert Carlos Cardoso zu berückenden Lyrismen, der in der Rolle des Sou-Chong überzeugend das Fremde einfängt, musikalisch aber gern die gestemmte Höhe italienischer Provinz-Provenienz einsetzt, statt den Ton elegant in die Linie einzubinden. „Dein ist mein ganzes Herz“ also eher á la „Turandot“. Frisch genesen, mit noch etwas schnupfigen Nebenhöhlen, strahlt die Stimme von Jessica Muirhead weitgehend frei, badet in den geschmeidigen Phrasierungen, charakterisiert  die sonst oft blässlich gezeichnete Lisa mit den Mikro-Färbungen expressiver vokaler Gesten.

Exemplarisch deutlich wird das im Tonfall, mit dem sie den enttäuschten Gustl beschwichtigen will. Ein erfahrener Darsteller wie Albrecht Kludszuweit füllt diese Rolle über Buffo-Tenor-Klischees weit hinaus, rückt den scheinbar so harmlosen österreichischen Leutnant an frustrierte, verschlagene Figuren heran, wie sie bei Hans Fallada oder in Heinrich Manns „Der Untertan“ auftauchen. Christina Clark erinnert als Mi fatal an die Showgirls, wie sie in den Vergnügungszentren von Berlin damals – etwa im „Haus Vaterland“ – materiell und sexuell ausgebeutet wurden. Karel Martin Ludvik gibt den „Gauleiter“ mit der stoischen Gewissheit, dass seine „neue“ Zeit kommen wird; Rainer Maria Röhr zeichnet – mit einem Intermezzo als Eunuch – sensibel den Conferencier, der die Frage nach der Menschlichkeit der Unmenschen herausschreit, bevor er von der Menge einfach überrollt wird.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit: 1. März, 12. April, 10. Mai, 17. Juni. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/aaltomusiktheater/das-land-des-laechelns/3818/




Sinn fürs Absurde: Staatstheater Kassel überzeugt mit Leonard Bernsteins utopischer Satire „Candide“

Die Ouvertüre ist wohlbekannt als funkelndes Konzertstück, die Arie der Kunigunde „Glitter and be gay“ dient mit ihren exaltierten Koloraturen als Schaustück für stimmversierte Soprane. Aber das Ursprungswerk dieser Evergreens, Leonard Bernsteins „Candide“, gehörte bisher eher in die B-Reihe der Repertoire-Lieblinge. Das änderte sich mit dem 100. Geburtstag Bernsteins 2018.

Bunt und absurd: Bernsteins „Candide“ in Kassel. Von links nach rechts: Lin Lin Fan (Kunigunde), Daniel Holzhauser (Maximilian), Philipp Basener (Dr. Pangloss), Belinda Williams (Paquette), Daniel Jenz (Candide). (Foto: N. Klinger)

Plötzlich war die zwischen Oper, Operette und Musical balancierende Voltaire-Vertonung in den Spielplänen präsent. Von Wien bis Weimar, von Berlin bis Bremen häuften sich die Versuche, der Satire mit dem irrwitzigen, messerscharfen Libretto von Hugh Wheeler (1974) oder der Voltaire-Adaption von John Wells (1988) beizukommen. So auch am Staatstheater Kassel, wo sich Regisseur Philipp Rosendahl und die Dramaturgen Maria Kuhn und Christian Steinbock für die Fassung von 1974 entschieden, die am Broadway erfolgreich war und mit Auszeichnungen (Tony Awards, Drama Desk Awards) überhäuft wurde.

Eine Reise durch die „beste aller Welten“

Zu erzählen ist die Reise durch die „beste aller Welten“ – bei Voltaire eine bissige Satire auf Gottfried Wilhelm Leibniz – nicht einfach linear. Denn die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich: Candide, ein Provinzbürschlein aus Westfalen (!), gerät unter grausame bulgarische Angreifer, muss das berüchtigte Lissaboner Erdbeben miterleben. Er wird übers spanische Cadiz nach Montevideo geschleust, genießt das sagenhafte El Dorado, strandet auf einer einsamen Insel und dringt nach einem Intermezzo in Konstantinopel zum weisesten Mann der Welt vor. Der ist kein anderer als jener Doktor Pangloss, der ihm schon am Anfang seiner Irrfahrten die These von der „besten aller möglichen Welten“ verkündet hatte.

Bernstein und Wheeler stürzen sich in diesen abenteuerlichen Parcours und schöpfen ihn genüsslich-grotesk aus. Und Philipp Rosendahl macht mit seinem Co-Regisseur Volker Michl das einzig Richtige: Er lässt in einer nach vorne geöffneten, nach High-Tech aussehenden Kuppel auf der Bühne des Teams Daniel Roskamp/Brigitte Schima eine distanzierte, vielfach gebrochene Show ablaufen, die unweigerlich fragen lässt, ob wir es mit Menschen, Marionetten, Cyborgs oder einfach nur einem höheren Kasperltheater mit Kuh und Schafen zu tun haben.

Dass der naive Candide, von Daniel Jenz in köstlicher Mischung aus baritonalem Ernst und aufgedrehter Überzeichnung gesungen, erst einmal einen Schwan erlegt, legt den Rückgriff auf Wagners „reinen Tor“ nahe; dass im Hintergrund der Bühne auf einem runden Bildschirm rätselhafte, graphisch verbildlichte Operationen (Video: Daniel Hengst) ablaufen, deutet an, dass der transzendente Weltschöpfer längst durch undurchschaubare, alles bestimmende Programme abgelöst sein könnte: Garanten für die Sinnlosigkeit der Welt, die als einzige Antwort die ins Surreale gesteigerte Groteske zulässt?

Existenzielle Fragen zwischen Märchen und Groteske

Dabei stellt Candide durchaus die existenziellen Fragen: Ob das Leben nur „happyness“ und wozu die Welt erschaffen sei, was aus dem Schlechten resultiere, ob Güte nur Lüge sei und ob man nur lebt, um zu sterben. Die Antworten bleiben in den irrwitzigen Kurven der imaginären Lebensfahrt stecken, in denen vergewaltigt und gemordet wird, die aber auch wundersamste Errettungen und Wiederauferstehungen parat haben.

Lin Lin Fan als Kunidgunde. (Foto: N, Klinger)

Die Kasseler Inszenierung findet dafür zwischen Märchen und Groteske einen sicheren Pfad, verfremdet die Personen mit hoffmannesker Mechanik, dick aufgetragenen Posen oder ironisch überladenen Show-Gesten.

Dass es für alles unter der Sonne einen Grund gebe, diese Annahme wird mit leichter Hand zur Absurdität erklärt. Zwischen Willkür und Ignoranz, Dummheit und Zufall gibt es keine Spur von Sinn. Auch der Schluss mit seinem naiv hintersinnigen Rekurs auf arkadisch-friedliches Landleben oder Paradiesgärtlein-Visionen unterstreicht nur, dass es diesen Figuren nicht gelingen dürfte, dem Chaos der Welt zu entgehen. Das alles absolut nicht ernst zu nehmen, bleibt die einzige Methode, die Verzweiflung zu vermeiden.

Dank des fabelhaft spielfreudigen Kasseler Ensembles gelingt es, im Unernst die Spannung zu halten und das Absurde unterhaltsam zu präsentieren, ohne in schwere Ernsthaftigkeit abzudriften. Philipp Basener als mal zynisch, mal kokett schnarrender Erzähler – zugleich Pangloss und weisester Mann der Welt – manövriert sich in Leibchen, Corsage und dekonstruiertem Reifrock durch die verrückte Welt. Lin Lin Fan tiriliert sich mit feiner Stimme durch die überdreht kichernden Koloraturen der Kunigunde.

Wandlungsfähige Sänger-Darsteller

Daniel Holzhauer ist als Maximilian ein selbstgefälliger blonder Strahlemann und Belinda Williams kehrt als Paquette ihren abgebrühten Sarkasmus noch mehr heraus als die allfälligen weiblichen Reize. Als alte Dame hat Inna Kalinina mit ihrem Assimilations-Song einen grandiosen Auftritt. Bassem Alkhouri schlüpft in nicht weniger als sieben Rollen, von denen die eindrücklichste wohl die des Königs ist – ein karikiert aufgeblasener Donald Trump. Cozmin Sime als wollüstiger, aber glaubensstrenger Großinquisitor sowie Marc-Olivier Oetterli, Michael Boley und Bernhard Modes in vielfältigen Rollen – alle rücksichtlos quietschfidel kostümiert – halten wandlungsfähig die Spannung auf stets gleicher Höhe.

Ihre ganze Brillanz versprüht die Musik: Alexander Hannemann hat in der Ouvertüre noch Mühe, die Balance zwischen den kräftig besetzten Bläsern und der zu dünnen Streichergruppe herzustellen; das Orchester aus 16 Solisten artikuliert noch weich. Aber die markanten Pointen in Bernsteins Instrumentation brechen sich bald ihre Bahn und die vielfältigen Tanzrhythmen, die herrlich sentimentale Melodie des Duetts Candide-Kunigunde, die krachenden „Carmen“-Anklänge bei der Abfahrt nach Cadiz und der Neue-Welt-Tanzsound für die Südamerika-Szenen fetzen und zünden.

Allein um dieser Musik willen lohnt es sich, dieses Stück auf die Bühne zu bringen; für eine überzeugende Inszenierung braucht es – wie in Kassel zu erleben – den entsprechenden Sinn fürs Absurde und eine von kluger Ironie gewürzte, humorvolle Distanz zum Drang des Erzählens.

Weitere Vorstellungen: 9., 14., 22. Februar; 15., 29., 31. März; 12., 24. April; 2., 24., 29. Mai; 7.,13., 28. Juni 2020. Karten: (0561) 1094 222. Info: www.staatstheater-kassel.de




Große Gefühle im Zirkus des Lebens – Theater Oberhausen macht Peer Gynt zum Musical-Star

Manege frei: Peer Gynt (André Benndorff). (Foto: Isabel Machado Rios/Theater Oberhausen)

Wenn das Publikum den Saal betritt, ist Peer Gynt schon da. Ein kleiner Junge sitzt auf der Bühne und weiß mit sich anscheinend wenig anzufangen. Kurze Zeit später wird er seiner Mutter Lügengeschichten erzählen, die die sichtlich überlastete Frau (immerzu rauchend: Emilia Reichenbach) nicht hören will. Und in den Zirkus geht es auch nicht, weil das Geld fehlt. Sehr bescheiden, das alles.

Man hätte gern ein anderes Leben, was auf der Bühne – der eiserne Vorhang hebt sich – glücklicherweise kein großes Problem darstellt: Das Theater Oberhausen macht „Peer Gynt“ zu einer „Revue nach Henrik Ibsen“ und präsentiert sie als fiebriges Phantasiespektakel auf bunter Bühne mit schrillem Personal.

Im Zirkus fühlt Peer Gynt sich wohl. (Foto: Isabel Machado Rios/Theater Oberhausen)

Eigentlich ist diese Revue aber eher ein Musical, dessen musikalische Anteile jedoch nicht von Grieg, sondern offenbar vom Regisseur stammen, einem ausgewiesenen Experten für dieses Genre. „In einer Fassung von Martin C. Berger“ vermerkt das Programmblatt eher bescheiden.

Der Sound der zur Aufführung gelangenenden Lieder ist sehr vertraut, lässt an Erfolgsproduktionen der letzten Jahrzehnte nicht nur eines Andrew Lloyd Webbers denken. Und auch die Texte, die dankenswerterweise auf Bildschirmen mitgelesen werden können (die englischen in deutscher Übersetzung), zeigen bewährte Strickmuster, schwingen sich in größter Emotionalität von tiefer Verzweiflung zu standfester Hoffnung empor, und zu sagen, dass sie Klischees nicht meiden, wäre untertrieben.

Dabei wird nicht ganz klar, ob Berger nichts Originelleres eingefallen ist oder ob er einfach nur lustvoll mit den Formen spielt. Auf dem Programmzettel nämlich findet sich ein kleines Glossar aus seiner Feder („Showdeutsch für Anfänger“), das beispielsweise erklärt was ein „I Want Song“ ist: Es ist der Song, in dem die Hauptfigur ihren Wunsch formuliert und damit die Hauptmotivation für die gesamte Handlung bestimmt“. Sehen wir also eine „Peer Gynt“-Variation, die den Regeln des modernen Musicals folgt? Funktioniert das?

Nochmal Zirkus. Im Hintergrund einige Trolle. (Foto: Isabel Machado Rios/Theater Oberhausen)

Idealer Ort

In der ersten Hälfte des Stücks durchaus. Berger hat den norwegisch-ländlichen Gyntschen Kosmos in einen Zirkus verlegt, ein idealer Ort, wo Wirklichkeit und Phantasie ineinanderfließen und wo Peer Gynt sich lange Zeit der Illusion hingeben kann, der Größte zu sein. Sattsam bekannte Stationen der literarischen Vorlage – Solveig, die Trolle, diverse erotische Episoden – erfahren hier eine sehr ungleichmäßige Gewichtung, vieles ist gekürzt und gestrichen, doch eignet sich die Geschichte, wie sie nun in Oberhausen erzählt wird, recht gut für die Konturierung des notorischen Aufschneiders und Herumtreibers.

Gesangsqualitäten sind leider mäßig

Offenbar reizt es die Sprechtheater im Land, sich ab und zu, auch gesanglich, der Musik zuzuwenden. So kam Ende letzten Jahres im Essener Grillo-Theater „After Midnight“ mit Songs von Cash, Clapton und Cohen heraus. In Oberhausen nun gibt André Benndorff den Peer Gynt, lange Zeit im Zustand der Dauererregtheit. Mehr als zwei Stunden fast ununterbrochener Bühnenpräsenz scheinen ihm dabei nichts auszumachen. Seine gesanglichen Qualitäten – und er hat viel zu singen – sind jedoch leider mäßig, auch wirkt er für die Rolle etwas alt; aber als hoch präsenter, dabei geradezu unerwartet diffenzierter Akteur des Sprechtheaters weiß er sehr wohl für sich einzunehmen. Das Wort „Rampensau“ schreit hier nach Verwendung, ist für diesen Künstler aber zu wenig.

Dieser Herr (Clemens Dönicke) kommt teuflisch daher. (Foto: Isabel Machado Rios/Theater Oberhausen)

Feines Schauspiel

Nach der Pause steht Läuterung an, denn das Ende naht. Peer Gynt muss die Vergeblichkeit seines bisherigen Lebens erkennen, doch sich wie ein Metall vom Knopfgießer umformen zu lassen, um gleichsam einen zweiten Existenzversuch zu starten, lehnt er voller Furcht ab. Wir erleben, fast musikfrei nun, feines Schauspiel mit Ronja Oppelt in der Rolle des Knopfgießers, der dem Verzweifelten eine letzte und auch noch eine allerletzte Chance einräumt, bis schließlich wieder Mutter da ist und der kleine Junge und man zum Schluss kommen kann.

Sparsame Möblierung

Ein fast bühnengroßer Leuchter aus konzentrischen, mit nackten Glühbirnen behängten Metallringen hängt vom Schnürboden herab und prägt das Bühnenbild von Sarah-Katharina Karl und Alexander Grüner, das im Übrigen mit recht wenigen Requisiten auskommt. Mal umschreibt ein flitternder Fransenvorhang den bespielten Raum, mal ändert sich die Position des Leuchters; ansonsten bleibt vor allem ein mobiler Laufsteg in Erinnerung, der sich gut für Hochzeits- und Trauergesellschaften eignet. Heiter hingegen sind die Kostüme (Regine Standfuss), die, im Zirkus gewiss zulässig, gar nicht bunt und schrill und schräg genug sein konnten. Merkwürdig bedruckte Trikots gibt es da, gepolsterte Anzüge mit angenähten überdimensionalen männlichen Genitalien, doch auch ein vergleichsweise adrettes Funkenmariechen ist dabei.

Der Titelheld im Folienmeer. (Foto: Isabel Machado Rios/Theater Oberhausen)

Gute Musiker

A propos Mitwirkende: Auch ein fünfköpfiges „Musical Ensemble“ spielt laut Programmzettel neben den neun Schauspielerinnen und Schauspielern vom Theater Oberhausen mit, ebenfalls grell kostümiert. Sehr professionell wirkten die vier Damen und der Herr allerdings nicht, was natürlich auch am sehr präsenten, geradezu raumgreifenden Spiel des neunköpfigen Oberhausener Ensembles liegen mag. Uneingeschränkt zu preisen schließlich sind die neun Musiker in ihrem Loch, die unter Leitung von Martin Engelbach untadelig aufspielten.

Das „Metronom“ beerben?

Gerade so wie es in modernen Musicals üblich ist, holten sich die Künstler ihren Schlussapplaus choreographiert ab, mal alle, mal grüppchenweise, und die Kapelle spielte dazu. Fast wirkte das schon so, als wolle das Theater Oberhausen das kommerziell betriebene Musical-Theater „Metronom“ am Ort beerben, das wegen mangelnder Auslastung in diesem Jahr schließt. Das Publikum jedenfalls zeigte sich begeistert, applaudierte im Rhythmus und stehend.




Ungarisches Kolorit, asiatische Exotik: Paul Abrahams Operette „Dschainah“ in Berlin und Köln wiederentdeckt

Bogumil kennt das Gesellschaftsspiel – und Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda die Regeln, nach denen ein zündendes Operetten-Libretto funktioniert. Sie schrieben für Paul Abraham auch noch, als die Nazis den Berliner Operettenkönig der dreißiger Jahre entthront und ihn außer Landes gejagt hatten. 1935 komponierte er nicht mehr für die einst glamouröse deutsche Hauptstadt, sondern für Wien die Operette „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Besagter Baron Bogumil Barczewsky ist der bei Paul Abraham unverzichtbare ungarische Anteil in der Story: Er ist sozusagen der Not-Ehemann, der für seinen Freund einspringen muss, falls der nicht rechtzeitig zur Hochzeit anwesend ist. Der Freund heißt Pierre Claudel, ist von Beruf Marineoffizier, in seiner Freizeit Verfasser von Liebesromanen, und hat sich in die Tochter einer Madame Hortense Cliquot verliebt – da haben wir den Pariser Schauplatz.

Jetzt fehlt noch der ferne Osten: Eine plötzliche Versetzung des männlichen Helden nach Vietnam macht’s möglich und schürzt zugleich den dramatischen Knoten: Denn seine Braut Yvonne muss aus Erbschaftsgründen bis zu einem bestimmten Datum verheiratet sein. Bogumil also übernimmt seine Rolle im Gesellschaftsspiel und steht als Notfall-Bräutigam bereit, obwohl er lieber mit der flotten Musotte eine Affaire beginnen würde. Jetzt kommt „Dschainah“ ins Spiel, eine Art vietnamesischer Madama Butterfly, eine Edelkurtisane in einem „Sing-Song“-Haus. Der edle Pierre rettet sie durch Heirat davor, verkauft zu werden, und richtet sich mit dieser Frühform von Miss Saigon häuslich ein. Eine Rechnung, die er ohne Madame Cliquot gemacht hat: Die packt ihre gesamte Entourage ein und kommt nach Vietnam, um den gewünschten Schwiegersohn zurückzubeordern. Dschainah versinkt nicht in Tränen, sondern bekommt einen Maharadscha: Die heile Operettenwelt ist gerettet!

Der Operettenkönig arbeitet für den Kaffeekönig

Kaffeekönig Julius Meinl hatte Abraham den Auftrag zu „Dschainah“ gegeben, damit seine japanische Frau, die Sängerin Michiko Tanaga, in einer attraktiven Hauptrolle auftreten könne. Und das Theater an der Wien hoffte mit der Finanzspritze, die während der Weltwirtschaftskrise untergegangene Operetten-Seligkeit wieder zu beleben. Das mit der Rolle gelang prächtig. Das andere auch: „Es geht wieder hoch, bunt und luxuriös her wie einst an üppigen Marischka-Abenden. Exotik mit Straußenfedergarnierung, Melancholie mit Stepcomfort“, beschrieb Ludwig Hirschfeld die Uraufführung.

Die Rettungsaktion allerdings ging schief. Auch die 57 Aufführungen der Operette mit ihrem fernöstlichen Kolorit und ihren Paris-Einsprengseln konnten das Theater an der Wien nicht vor dem Konkurs retten. Abrahams „Dschainah“ blieb ohne Resonanz und wurde vergessen. Barrie Koskys unermüdlichem Wiedererweckungsdrang und der Komischen Oper Berlin ist nun die deutsche Erstaufführung zu verdanken – in der konzertanten Form der inzwischen zur Tradition gewordenen „Weihnachtsoperette“ mit spiellustigen Protagonisten in Kostüm.

Es gab zwei ausverkaufte Vorstellungen in Berlin, eine in Köln und am 22. März sogar noch ein Gastspiel in Fulda. Ähnlich wie bei den anderen bisher aufgeführten Abraham-Operetten könnten davon Impulse ausgehen: „Ball im Savoy“ und das bis dato völlig unbekannte „Märchen im Grand Hotel“ werden an mehreren Bühnen nachgespielt und schicken sich an, einen Platz im schmal gewordenen Repertoire zurückzuerobern. In Berlin geht die konzertante Abraham-Serie weiter, kündigte Barrie Kosky an: 2020 mit einer populären Operette – es muss sich um „Blume von Hawaii“ handeln – und zum Ende seiner Intendanz 2021 mit einer unbekannten ungarischen. Zur Auswahl stehen „Der Gatte des Fräuleins“ (1928, der erste Erfolg Abrahams), „Julia“ (1937) oder „Der weiße Schwan“ (1938).

Exotisches Schlagwerk gibt das Kolorit

Die „bühnenpraktische Rekonstruktion“ der „Dschainah“ erledigte in bewährter Weise das inzwischen zu Abraham-Spezialisten herangereifte Duo Matthias Grimminger und Henning Hagedorn. Letztere gab auf Anfrage auch Aufschluss über die Quellen und die musikalische Einrichtung, über die sich das Programmheft der Komischen Oper ausschweigt: Basis war ein Satz unbenutzter Orchesterstimmen in der Ungarischen Nationalbibliothek Budapest nebst Text- und Regiebuch, dazu ein handgeschriebener Klavierauszug auf finnischem (!) Notenpapier. Die Instrumentierung ist somit festgelegt; Abraham schreibt für das übliche Orchester plus Gitarre, Banjo, Klavier und ein reich besetztes, für exotische Wirkungen nötiges Schlagwerk mit Vibraphon, Glockenspiel und anderen Instrumenten.

Das Schlagzeug ist sparsam notiert, aber in der Berliner Aufführung lässt Dirigent Hendrik Vestmann den Solisten derart ausufernd und indiskret trommeln, dass die Wirkung der Musik nicht mehr den schmeichelnden, geschmeidigen Klängen entspricht, wie man sie von den Plattenaufnahmen der dreißiger Jahre kennt, in denen der Rhythmus von Banjo oder den Pizzicati der in Berlin leider schwach besetzten tiefen Streichern kommt. Vestmann lässt das Orchester auf der Bühne auch mächtig auftrumpfen, was den mikroportierten Sängern nichts ausmacht, den Klang aber oft zu massiv und zu wenig elegant auflädt. Was mitreißend funktioniert, sind die Rhythmen – es entzückt, wenn die asiatisch anmutende Pentatonik und die fremdelnde Klangexotik der Schlaginstrumente in einen swingenden Slowfox oder einen veritablen Tango münden, vom unverzichtbaren „ungarischen“ Idiom ganz abgesehen.

Präziser Sinn für Wortwirkung

Präzise und mit Sinn für Wortwirkung ist der Chor unter David Cavelius bei der Sache; auch die Solisten artikulieren meist verständlich und vor allem mit Witz und Charme. Stimmlich ragt Hera Hyesang Park als Dschainah Lylo heraus, ein Sopran mit sicherem, angenehm lockeren Klangkern und der für die Operette unabdingbaren Flexibilität. Bei Johannes Dunz als französischer Marineoffizier schleicht sich – soweit die Mikroports eine Einschätzung zulassen – eine sich verfestigende Härte in seinen Tenor.

Mirka Wagner (Yvonne) und Talya Lieberman (Musotte) wirbeln hindernisfrei durch ihre Partien; Dániel Foki aus dem Opernstudio zeigt Temperament und viel versprechende stimmliche Vorzüge. Unglücklich die Rolle der Madame Cliquot: Zazie de Paris, auch schon mal mit Gastrollen in der „Lindenstraße“ und im „Tatort“, bleibt wohl, weil die Dialoge durch einen Erzähler ersetzt sind, als Madame Cliquot eine marginale Figur. Klaus Christian Schreiber entledigt sich seiner Conférencier-Pflichten mit eher beschränktem Humor.

Jetzt käme es – wie bei „Märchen im Grand Hotel“ auf eine szenische Aufführung an, um zu beurteilen, wie lebensfähig Abrahams Wiener Exotin tatsächlich ist. Die Musik macht schon mal Spaß, auch über den Schlager „Ohne Liebe kann ein Herz nicht glücklich sein“ hinaus.

 




Vor Möhringer sei gewarnt: Wilhelm Killmayers „Yolimba“ klärt am Theater Münster auf, was es mit dem Manne auf sich hat

Alle großen Momente sind von einer gewissen Magie umweht, seien es Wendemarken des eigenen Daseins oder entscheidende Weichenstellungen der Geschichte.

Gregor Dalal (Mitte) steuert als Magier Möhringer seine Höllenmaschine. Foto: Oliver Berg

Gregor Dalal (Mitte) steuert als Magier Möhringer seine Höllenmaschine. Foto: Oliver Berg

Das magische Charisma von Alexander dem Großen etwa beschäftigte zahllose Schülergenerationen altsprachlicher Gymnasien; die Verwandlungskunst der Zauberin Circe faszinierte Leser von Homers Epen über Tausende von Jahren hinweg. Selbst Einsteins geniale Formel hat in der Wissenschaft eine unbestimmbare Ausstrahlung, wie sie in der Musik die magische Hand Herbert von Karajans auszulösen vermochte. Und auch bei Möhringer ist die Magie unschwer zu entdecken.

Wie, verehrtes Publikum, Sie wissen nicht, wer Möhringer ist? Verständlich. Auch Professor Wallerstein, ein nicht unbedeutender Archäologie, kannte den Namen nicht, nahm aber von der Post fatalerweise eine Kiste mit diesem Absender in Empfang. Sein Verhängnis! Wenige Minuten später war er tot.

Das Wörtchen „Liebe“ bringt den Tod

Sie, hochgeschätzter Theaterbesucher, haben also möglicherweise viel Glück gehabt. Denn Möhringer ist ein veritabler Magier und Schöpfer eines Wesens, dem Sie besser nicht begegnen, sollten Sie jemals das Wort „Liebe“ auf den Lippen tragen: Nach eigenen Worten ein „Mann der Ordnung“, hat Möhringer dieses Geschöpf des Lasters und der Magie wie ein Doktor Frankenstein in einer Höllenmaschine geschaffen. Ein Mädchen mit grellroten Haaren, aus einem Rohr ausgespuckt auf die Erde. Die Lady erschießt jeden, der es wagt, „Liebe“ zu sagen. Denn die Liebe soll um der Ordnung willen ausgerottet werden, und mit ihr das „Laster“. Der Archäologe und brave Familienvater war der erste Delinquent.

Auch die Polizei ist im Falle Yolimbas machtlos: Stefan Sevenich, Pascal Herington, Marielle Murphy, Youn-Seong Shim. Foto: Oliver Berg.

Auch die Polizei ist im Falle Yolimbas machtlos: Stefan Sevenich, Pascal Herington, Marielle Murphy, Youn-Seong Shim. Foto: Oliver Berg.

Die eiskalte Mörderin namens Yolimba treibt derzeit auf der Bühne des Theaters in Münster sein Unwesen. Ihr wirklicher Schöpfer ist natürlich nicht „Möhringer“. Der ist, wie Yolimba selbst, ein Produkt der literarischen Fantasie von Tankred Dorst, der diese wiederum dem Komponisten Wilhelm Killmayer anvertraut hat. Und Killmayer, in den fünfziger bis neunziger Jahren ein erfrischend wider den Stachel der musical correctness löckender Tonsetzer, hat aus dem Büchel eine wunderfeine Posse verfertigt, in bester Tradition zwischen Jacques Offenbach, Goldene-Zwanziger-Varieté und Schlagerseligkeit der Nachkriegszeit. Ein absurdes Spiel, dessen Amüsierwert seit der Uraufführung 1964 und einer Neufassung 1970 nicht verblasst ist.

Dass die lustvolle, kurz wie kurzweilig daherkommende Posse so gut wie nie nachgespielt wurde, ist verwunderlich: Sie unterhält prächtig, ist auf herrlich manierierte Weise absurd, und vor allem gesegnet mit feinsinniger Musik.

Killmayer bedient sich aus allen möglichen Traditionen. Der Eröffnungschor „Wie schön ist der Mai“ mimt kunstvoll die musikalische Schlichtheit eines Fünfziger-Jahre-Trällerschlagers. Solisten wie die drei an die „Zeitdiebe“ aus „Momo“ erinnernde Herren (Youn-Seong Shim, Pascal Herington, Stefan Sevenich) singen a cappella, als kämen sie aus einem Madrigal oder einer Nummer der Comedian Harmonists. Kontrapunkt und Harmonielehre werden auf gelehrte Weise vorgeführt. Barocke Ritornelle wechseln mit lautmalerischen Momenten ab und über allem schweben mühelos wirkende, melodisch pikante Gesangsstimmen. Das Triviale mündet ins Absurde, das Groteske mimt ganz ernst den Alltag.

Humor und Groteskerie ohne aufgesetzten Überbau

Auch die Polizei ist im Falle Yolimbas machtlos: Stefan Sevenich, Pascal Herington, Marielle Murphy, Youn-Seong Shim. Foto: Oliver Berg.

Auch die Polizei ist im Falle Yolimbas machtlos: Stefan Sevenich, Pascal Herington, Marielle Murphy, Youn-Seong Shim. Foto: Oliver Berg.

Yolimba also, unschwer als Ableitung aus dem Namen „Olympia“, der Puppe in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ erkennbar, feuert vor ihren Pistolenkugeln erst einmal Staccati, Acuti, Melismen und Vokalisen ab: Marielle Murphy entledigt sich ihrer Tonsalven rasant und so aufgedreht, dass sie sich gleich die Lacher des Publikums einfängt. Regisseur Ulrich Peters, der Münsteraner Intendant, hat für solche Figuren und Situationen ein unfehlbares Händchen – er ist einer der wenigen, der die Zwischentöne des Humors und der Groteskerie ohne aufgesetzten Überbau, aber mit zündender Intelligenz auf die Bühne bringen kann.

An eine Offenbach-Figur, nämlich Spalanzani, erinnert auch der ominöse Möhringer: Gregor Dalal grundiert ihn dank mächtiger, satt artikulierter Basstöne mit einem dämonischen Zug, doch das altertümliche Kostüm (wie die Bühne von Andreas Becker), die hochgebundene Frisur und der prätentiös kunstvolle Bart lassen ihn als wunderliche Gestalt zwischen komischem Alten und Steampunk-Freak erscheinen.

Nächstes Opfer Yolimbas ist ein Operntenor, der so aussieht, wie sich die Werktreuen-Fraktion einen solchen vorstellt. Zu seinem Unglück macht Juan S. Hurtado Ramirez den naheliegenden Fehler, klangvoll „amore“ in den Raum zu schleudern. Es gibt noch eine Reihe weiterer Opfer, bis der Plakatankleber Herbert (Pascal Herington hat die Musik für den kranken Stephan Boving in einer Nacht einstudiert, Max Hülshoff spielt ihn auf der Bühne), den Bann der Magie bricht, weil er zu schüchtern ist, das tödliche Wörtchen auszusprechen. Yolimba verliebt sich; für den Magier wird ein Abfallcontainer zur Falle: In der Zerkleinerungsmaschine der in einem kunstvoll komponierten Lobeschor gepriesenen Müllabfuhr verpufft sein Dasein und lässt nur noch schwärzliche Fetzen seiner magischen Macht herabregnen. Der Schluss besingt erneut den schönen Mai, während die Opfer auferstehen wie die Lebkuchenkinder in Humperdincks „Hänsel und Gretel“.

Die quirligen achtzig Minuten vergehen wie im Flug. Killmayer versteckt elaborierte Kunst hinter einem sprühenden Feuerwerk musikalischer Eingängigkeiten, die Thorsten Schmid-Kapfenburg mit einer bunt gemischten Truppe mit stets leichter Hand so durchsichtig, pointiert und mit Esprit gesegnet wie eben möglich präsentiert.

Den Kinderchor und die jugendlichen Sängerinnen und Sänger der Westfälischen Schule für Musik, die mit diesem Kooperationsprojekt ihr 100jähriges Bestehen feiert, hat Claudia Runde schlicht entzückend präpariert; die Choreografie Kerstin Rieds funktioniert, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.

Das Sinfonieorchester Münster stellt die üppige Besetzung im Graben nicht alleine; es wirken Studenten der Musikhochschule Münster mit, die es in solistischen Passagen und in der heiklen Balance filigran komponierter Momente nicht an Können fehlen lassen. Rundum vergnüglich, diese „Yolimba“, und wieder einmal ein Tipp für Theater, an denen Witz und heit’re Laune noch ein Heimatrecht genießen.

Nächste Vorstellungen am 8. und 24.  Januar 2020. Tickets: Tel.: (0251) 59 09-100, www.theater-muenster.com




Das lachende Glück lässt auf sich warten: Franz Lehárs Operette „Der Graf von Luxemburg“ in Hagen

Das ist ja sowas von Neunzehnhundertachtzig! Roland Hüve nimmt sich am Theater Hagen Franz Lehárs einstigen Erfolg „Der Graf von Luxemburg“ vor und macht daraus genau den Operettenjux, der damals einem Publikum jenseits altmodischer Unterhaltungsbedürfnisse das Vergnügen an der Gattung vermiest hat. Liri, liri, lari, der ganze Spaß geht tschari – aber alles der Reihe nach.

Melancholie auf der Mondsichel: Kenneth Mattice als Graf von Luxemburg in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Melancholie auf der Mondsichel: Kenneth Mattice als Graf von Luxemburg in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Dabei signalisiert der Anfang, es könnte sich jemand etwas gedacht haben: Der titelgebende Graf René schaukelt auf einer Mondsichel und der blonde Tod grüßt den Nachdenklichen, bevor der Karneval von Paris explodiert – oder explodieren sollte. Denn schon dieses erste Bild ist brav aufgestellt, der Chor gestikuliert wie in tausend Operetten vorher, die Tanz-Fröhlichkeit ist aufgesetzt und das prickelnde Leben der Pariser Bohème ist bloße Behauptung. Die kunterbunte Kostümseligkeit von Siegfried E. Mayer lässt Menschen durcheinanderquirlen, denen anzusehen ist, dass sie die gierigen Ausschweifungen dieser Halbwelt, ihre künstlichen Freuden, den gnadenlosen Überlebenskampf, den besinnungslosen Rausch des Vergnügens und die lastende Einsamkeit dahinter höchstens aus Bohème-Kolportagen á la Henri Murger kennen.

Dass dem adligen Bonvivant das Geld ausgegangen ist und das Elend aus den Eiffelturm-Kulissen winkt, geht in einer Fröhlichkeit unter, die weder den resistenten Überlebenswillen noch die nihilistische Unbekümmertheit durchscheinen lässt, die letztlich zu dem Ehe-Geschäft mit dem alternden Fürsten Basil führt: Der hält äußerlich an Standesethik und Adelsmoral fest und offenbart damit, wie innerlich morsch die gesellschaftlichen Regeln sind: Um eine bürgerliche Opernsängerin zu heiraten, verschachert er diese um eine halbe Million an den Grafen René. Der soll sie heiraten und drei Monate lang – ohne sie zu sehen oder um ihre Identität zu wissen – als Frau Gräfin behalten. Geschieden, geadelt und unberührt kann sie anschließend standesgemäß und formal korrekt im fürstlichen Ehehafen einlaufen.

Kein Zaubertrank fürs Heute

Natürlich kommt die Liebe dazwischen. Und der Zufall bricht sich mächtig Bahn, als im dritten Akt aus dem Nichts eine bejahrte Gräfin auftaucht, um ein Eheversprechen einzulösen, das die fürstliche Hoheit wohl in ihren wilden Jugendjahren ohne weiteres Nachdenken ausgesprochen hat. Immerhin ist diese „dea ex machina“ eine Paraderolle für Marilyn Bennett, die sie weidlich auskostet: „Alles mit Ruhe genießen, stets sich das Leben versüßen, ich lass zu allem mir Zeit.“

So geht Pariser Karneval in Hagen: Kenneth Mattice, Chor und Extrachor des Theaters Hagen in Franz Lehárs "Der Graf von Luxemburg". Foto: Klaus Lefebvre.

So geht Pariser Karneval in Hagen: Kenneth Mattice, Chor und Extrachor des Theaters Hagen in Franz Lehárs „Der Graf von Luxemburg“. Foto: Klaus Lefebvre.

Aus diesem Stoff mit faszinierend aktuellen Zügen ließe sich ungeachtet des abgestandenen Ehemoralins ein Zaubertrank fürs Heute brauen. Hedonismus und die Rolle des Geldes, der Wert von Beziehungen, die Frage nach authentischen Gefühlen und der Tanz auf dem Vulkan – „Wir bummeln durchs Leben, was schert uns das Ziel“ – sind Themen auch des 21. Jahrhunderts. Man kann sie ausspielen, ohne die Operette konzeptuell zu überfrachten.

Aber bei Hüve bleiben solche Themen in Bilderbanalität bunt übertüncht. Und Siegfried E. Mayers Bühne hat ihren besten Moment im zweiten Akt, für den er statt eines mondänen Salons die Bühne der Pariser Oper von hinten zeigt, wo Madame Angèle Didier in Erwartung ihrer fürstlichen Vermählung gerade das Finale ihrer letzten „Tosca“ singt und von einer Sperrholzkulisse der Engelsburg springt.

Wackere Sänger, aber kein Operetten-Ensemble

Die Opernsängerin, die eine ebensolche mimt, ist in Hagen Angela Davis: Ein klangsatter Sopran mit Stamina und Opulenz, aber keine Operettendiva. Dazu fehlt ihr Leichtigkeit und Eleganz. Ihr Inkognito-Ehemann, in Hagen ein Bariton, ist mit Kenneth Mattice attraktiver Bühnenerscheinung passend besetzt. Seine Höhe hat der Sänger technisch nicht im Griff, aber die melancholischen Seiten seiner Rolle trifft er, wenn er der Stimme im Zentrum auch verschattete Töne abgewinnt.

Richard van Gemert ist ein gekonnt charakterisierender Sänger, aber kein Operettenbuffo, und Cristina Piccardi hangelt sich bei ihren neckischen Auftritten an handgestrickten, vibratogemusterten Stimmfäden durch die Partie der Juliette Vermont, die mit ihrem mittellosen Maler Armand Brissart von einer soliden Zukunft träumt – aber in diesem Fall macht das fehlende Geld die ehrliche Liebe unmöglich. Keine Soubrette also, die sich mit Charme und flexiblem Changieren zwischen Sprache und Gesang ihre Partie zu eigen macht.

Die Hagener Sängerinnen und Sänger schlagen sich wacker, aber ein Operetten-Ensemble bilden sie nicht; auch das lustlos sich bewegende Ballett (Eric Rentmeister als Choreograph) hilft ihm nicht auf die Beine. Was etwa für die Barockoper gilt – das Bemühen um eine „historisch informierte“ Aufführungspraxis – liegt in der Operette (noch?) weit entfernt. Doch wer sie als Diminutiv der Oper versteht und entsprechend besetzt, geht an ihr vorbei.

Nota bene: Vor einer Generation gab es sie noch, die alten Entertainer der Operette. Eine Ahnung davon, wie so etwas funktionieren könnte, vermittelt Oliver Weidinger als Fürst Basil immer dann, wenn er hart an der Übertreibung entlang agiert, ohne die Grenze zu überschreiten. So eingefahren, klischeehaft und abgelebt sich das Genre früher präsentiert hat: Die agierenden Personen waren oft noch echte Könner ihres Fachs. Ohne Verklärung der Vergangenheit sei’s gesagt.

Das Hagener Orchester bemüht sich unter dem treibenden Stab von Rodrigo Tomillo, die schmierige Sentimentalität früherer Routine-Aufführungen gar nicht erst aufkommen zu lassen, in der Lehár’schen Partitur das leichthändige Erbe Jacques Offenbachs zu entdecken und mit frischen Tempi und spritziger Artikulation zu punkten. Dass es aus dem Graben öfter nach Paul Lincke tönt, liegt an den unterbelichteten Geigen, deren Glanz sich mit Sparbesetzung nicht gegen die üppig besetzten Bläser entfalten kann. Vom „lachenden Glück“ der Operette sind wir in Hagen also diesmal ein gutes Stück entfernt.

Weitere Vorstellungen: 15., 23. November; 4., 14., 18., 31. Dezember 2019; 5., 15. Januar; 16. Februar 2020.
Karten: Tel. (02331) 207 32 18. www.theaterhagen.de




Das Böse schürt Panik im Bilderbuch-London: Gothic-Musical „Jekyll & Hyde“ begeistert sein Publikum in Dortmund

Dr. Jekyll (David Jakobs, Mitte) präsentiert den Spitzen der Gesellschaft seine Pläne. Leider vergebens.  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Sein Vortrag ist beherzt, sein Anliegen, gelinde gesagt, ambitioniert. Dr. Jekyll will nichts weniger als das Böse in den Menschen tilgen, ein für allemal. Die Welt wäre dann eine andere, alles Leiden Vergangenheit. Doch das Krankenhaus-Gremium, dem er seine Pläne mit so viel Leidenschaft präsentiert, winkt ab.

Keine Experimente in der Klinik, viel zu teuer, viel zu riskant. Und die Welt ist so, wie sie ist, doch ganz erträglich. Jedenfalls für die Spitzen der Gesellschaft, die hier versammelt sind – für den Bischof, den Offizier, den Richter, die wohlhabende Dame aus dem Großbürgertum und so fort.

Beim Arzt: Lucy Harris (Bettina Mönch) aus dem Rotlichtmilieu, Dr. Jekyll (David Jakobs)  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Selbstversuch

Ihre Ignoranz zwingt Dr. Jekyll in den desaströs verlaufenden Selbstversuch. Er wird zum üblen Mr. Hyde, zu einem Schläger, Vergewaltiger und Mörder. Und er hat keinen Einfluss darauf, wann Gut und Böse wechseln. David Jakobs, ein hoch geschätzter alter Bekannter auf der Dortmunder Opernhausbühne, gibt Jekyll wie Hyde eindrucksvoll Stimme und Präsenz.

Zwei starke Frauenrollen

Vor knapp 30 Jahren, die Welle der Musicalbegeisterung war auf dem Höhepunkt, erlebte „Jekyll & Hyde“ die Uraufführung in Houston, Texas. Der Weg ins Verderben verläuft im Musical etwas anders als in Robert Louis Stevensons Novelle, wo es viel Nebel, Ahnen und Raunen, dafür aber, abgesehen von den Opfern, kaum eine Frauenrolle gibt. Die Amerikaner Leslie Bricusse (Buch und Liedtexte) und Frank Wildhorn (Musik) ergänzten das Personaltableau. Lisa ist die Braut des unglückseligen Dr. Henry Jekyll, Lucy das Mädchen aus dem Rotlichtmilieu, das sich in ihn verliebt und das ihn, wenn sie ihm ihre Wunden zeigt, sein zerstörerisches Alter Ego erkennen lässt.

Dr. Jekyll (David Jakobs, rechts) grüblerisch  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Begeisterungsfähig

Eine veritable Dreiecksgeschichte wird allerdings nicht aus dieser Konstellation, Dr. Jekyll bleibt der Seinen treu. Aber die Songs der Frauen – Milica Jovanovic als Lisa Carew und Bettina Mönch als Lucy Harris – hinterließen in dieser Dortmunder Produktion unter der Regie von Gil Mehmert den stärksten Eindruck und begeisterten das sowieso schon äußerst begeisterungsfähige Publikum im ausverkauften Haus restlos.

Grandiose Bühnentechnik

Düster-schöne Kulissen auf der Drehbühne (Bühne: Jens Kilian) lassen ein tadelloses Musical-London des 19. Jahrhunderts aufleben. Nichts Wichtiges fehlt, nicht die (feuchten?) Backsteinmauern, nicht die schummerige Rotlichtkneipe, nicht die wuchtigen Ledersessel. Und auch nicht die zahlreichen Treppen und Treppchen, die man braucht, um die Künstler trefflich zu positionieren. Wenn aber im Keller gespielt werden soll, wo der Doktor sein Laboratorium hat, fährt sehr eindrucksvoll die gesamte Bühnentechnik nach oben.

Die schöne Braut Lisa Carew (Milica Jovanovic) und ihr problematischer Gatte Henry Jekyll (David Jakobs) (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Märchenhaft

Auch die Kostüme (Falk Bauer) sind zeitgemäß, gemessen an der historischen Wirklichkeit ist die Ausstattung wahrscheinlich hemmungslos übertrieben. Aber das tut dem Ganzen gut und hilft, die blutige Handlung märchenhaft zu halten

In diese Inszenierung kann man sich entspannt hineinfallen lassen, ohne Angst vor unliebsamen Wendungen und Brechungen. Und sich dem glatten Pathos der Melodien hingeben, den kräftig sich reimenden Texten.

Suboptimaler Ton

Leider haperte es aber bei der Textverständlichkeit, was nicht zuletzt – kleines Wermutströpfchen – der Klangmischung anzulasten ist. Sie stieß an ihre Grenzen, wenn mehrere Darsteller sangen, gar noch der Chor beteiligt war. Da wurde es undifferenziert und lästig laut, was der Kunst nicht guttat und in folgenden Veranstaltungen vielleicht zu korrigieren wäre. Die lockere Hand am Lautstärkeregler ging ein wenig auch zu Lasten der untadelig aufspielenden Dortmunder Philharmoniker unter Leitung von Philipp Armbruster, die unter hohen Gesangspegeln mitunter nur eingeschränkt vernehmlich waren.

Mit der Dortmunder Statisterie gelingen eindrucksvolle Bühnenbilder. (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Massenszenen

Bemerkenswert ist übrigens, dass der Böse bei Bricusse/Wildhorn gar nicht ganz so böse ist. Gewiss, er mordet und wird dafür mit seinem Leben bezahlen müssen; doch er ermordet hochstehende Persönlichkeiten, die es nicht besser verdient haben, wie den Bischof, der sich regelmäßig an Messdienern vergreift.

Auf die Morde reagiert das Musical-Volk hysterisch, was der Dortmunder Inszenierung zu einigen schönen Massenszenen verhilft, mit Zeitungsjungen, einfachen Leuten, Honoratioren, Polizisten und Prostituierten. Das Programmheft erwähnt ausdrücklich die „Statisterie Theater Dortmund“, die ihre Sache hier wirklich gut macht.

Nicht endenwollender Applaus

Stehende Ovationen von allen Rängen und nicht enden wollender Applaus. Es ist ein bewegendes Erlebnis, wenn eine Inszenierung die Erwartungen des Publikums so restlos erfüllt wie jetzt „Jekyll & Hyde“ in Dortmund.

  • Termine: 18., 20., 23., 26. Oktober. 3., 16., 22., 29. November. 18., 19., 28., 29. Dezember.
  • www.theaterdo.de



Berliner Luft auf dem Mond: Paul Linckes „Frau Luna“ landet am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier

Paul Linckes „Frau Luna“ hat im Theaterkosmos Nordrhein-Westfalens fast alle Sektoren durchkreuzt: Krefeld-Mönchengladbach startete den „Mondballon“, in Dortmund und Hagen sind Pannecke und Pusebach gleichfalls gelandet, und auch in Münster haben der Mechanikus Fritz Steppke und seine kleine Marie schlussendlich ein „kleines bisschen Liebe“ gefunden.

„Bin Göttin des Mondes, Frau Luna genannt“: Anke Sieloff in der Titelrolle von Paul Linckes Operette am Musiktheater im Revier. Foto: Björn Hickmann

Jetzt setzt Gelsenkirchen noch einmal nach mit der gründerzeitlichen Reise zum Mond – so als gäbe es nicht Dutzende anderer aufführungswürdiger Operetten. Aber die Repertoirebreite von einst ist längst vergessen. Ob angehende Dramaturgen im Studium je etwas von der Operette hören, ist fraglich (auch wenn es inzwischen eine erstaunlich breite Forschung zu der lange verschmähten Gattung gibt), und ob sie sich in der Praxis mit Volker Klotz‘ Handbuch gerüstet gegen die Praxis durchsetzen können, dürfte zweifelhaft sein, schaut man sich die Spielpläne an.

Neubearbeitung im Stil der Zwanziger Jahre

Generalintendant Michael Schulz wollte diese lunare Erscheinungsform der Operette an seinem Haus haben, und so geschah es eben. Sein Joker: Er lässt eine Neufassung von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn spielen. Das ist jenes Duo, das für den WDR und für Barrie Koskys Komische Oper in Berlin die funkelnden Strasssteine Paul Abrahams aufpoliert hat. Das Ergebnis katapultiert das Publikum regelmäßig in höhere Sphären der Unterhaltungskunst, so in den letzten Spielzeiten etwa in Dortmund mit „Blume von Hawaii“ und „Roxy und ihr Wunderteam“ – und demnächst in Berlin mit der in Deutschland noch nie gespielten Abraham-Operette „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“.

Die Bearbeitung kommt mit vierzehn Instrumenten aus und nähert Linckes gemütliche Marsch- und Walzerrhythmen der flotten Berliner Operette der zwanziger Jahre an. Da schmachtet das Saxophon, swingt das Banjo und pfeffert das Schlagzeug dazwischen. Die Geigen dagegen können nicht mehr forsch aufspielen oder süßes Sentiment vergießen; sie huschen abgemagert durch die Partitur und lassen den Kolleginnen und Kollegen von der Luft-Fraktion den Vortritt. Naja, Berliner Luft eben …

Berliner Luft und bisschen Liebe

Ejejej, die verflixten Erdlinge bringen Theophil (Joachim G. Maaß) und Prinz Sternschnuppe (Martin Homrich) ganz schön in die Bredouille. Foto: Björn Hickmann

Ejejej, die verflixten Erdlinge bringen Theophil (Joachim G. Maaß) und Prinz Sternschnuppe (Martin Homrich) ganz schön in die Bredouille. Foto: Björn Hickmann

Dieser Schlager zum Mitklatschen muss natürlich sein, aber das Gelsenkirchener Publikum traut sich erst am Schluss. Dazwischen gibt Dirigent Bernhard Stengel dem „bisschen Liebe“ eine Prise Süßstoff mit, lässt das Glühwürmchen-Idyll, von Lina Hoffmann mit stahlschimmerndem Samt gesungen, glimmern und flimmern, nährt die Klage der Frau Pusebach um ihre entschwundene Liebe Theophil mit treuherziger Ironie.

Doch man spürt, dass Paul Linckes Musik in einer anderen Welt zu Hause ist als in Shimmy und Foxtrott. Und wenn das Tempo nicht zündet, Töne zu brav und zu breit geformt sind und die Phrasierung keinen Schmiss hat, sehnt man sich nach dem preußischen Geschmetter zurück, für das der zackige Möchtegern-Militärkapellmeister Lincke berühmt geworden ist.

Ein eins zu null für Gelsenkirchen gibt es, weil die Darsteller auf der Bühne des Kleinen Hauses zwar gesanglich zwischen Ausfall und Glamour pendeln, aber etwas können, was für die Pointen der Operette unerlässlich ist: sprechen. Wenn sie dann noch deutlich artikulieren, wird’s lustig, weil Regisseur Thomas Weber-Schallauer den Text erfrischend agil bearbeitet hat. Er hat den abgekühlten Sprachwitz Heinz Bolten-Baeckers‘ nicht durch neue lauwarme Sprüchlein ersetzt, sondern die Geschichte konsequent zwischen Berliner Schnodder und elaboriertem Science-Fiction-Slang gefasst. Da gibt es beim Durchbrechen „emotio-fraktaler Schutzschilder“ schon man einen „hetero-aktiven Systemabsturz“. Und Dongmin Lee spricht als Stella mit sphärischem Hall wie eine Roboterstimme aus einem frühen Kino-Weltraumabenteuer. Weber-Schallauer findet genau die richtige Dosis in seinem Neusprech und ironisiert damit gekonnt das Gequatsche aus diversen Gamer-, Netz- und Technik-Blasen.

Und üppig flimmert der Weltraum. "Frau Luna" in Gelsenkirchen lässt die Galaxien rotieren. Foto: Björn Hickmann

Und üppig flimmert der Weltraum. „Frau Luna“ in Gelsenkirchen lässt die Galaxien rotieren. Foto: Björn Hickmann

Seine Inszenierung stützt sich auf die üppigen Weltraum-Bilder, die Christiane Rolland über die breite Bühne projiziert – und man denkt sich aus, welchen Effekt das wohl im Großen Haus gemacht hätte! Da dreht sich der blaue Planet weg wie in der „Odyssee im Weltraum“. Da strahlen Galaxien wie auf den Titelbildern von Perry-Rhodan-Heften. Aber die Auflösung ist so schlecht, dass die Sternhaufen aussehen, als hätte eine Berliner Göre beim Heimweg vom Milchladen die ganze Chose verdröppelt. Naja, Milchstraße eben…

Weber-Schallauer lässt die drei Kumpels Steppke, Pannecke und Lämmermeier unter den offenen Dachsparren des Pusebach’schen Hauses auftreten. Der dosengefüllte Kühlschrank neben dem Sofa und die 3-D-Brillen über den Augen signalisieren einen chilligen Tag. Die so resolute wie liebeshungrige Logierwirtin (in grell-komischem Berliner Diseusenton: Christa Platzer) stört den Ausflug in virtuelle Sphären, kann ihn aber nicht verhindern und gerät unfreiwillig in die Welt auf dem Monde: Dort meint sie unter den silbrigen Gestalten in grotesken Krinolinen (Kostüm-Einfälle von Yvonne Forster) ihre verflossene Affäre Theophil zu entdecken – und liegt richtig: Der Herr Haushofmeister Frau Lunas hatte einst eine Mondfinsternis genutzt, um auf Erden seinen Gelüsten nachzugehen.

Die Verwicklungen, die sich daraus ergeben, stürzen die ganze Mondgesellschaft inklusive diverser Gast-Planeten (Mars: Vivien Lacomme, Venus: Alfia Kamalova) in gewisse Bredouillen. Doch der gewiefte Theophil, eine Paraderolle für Joachim G. Maaß, findet durch einen irdischen Damen-Import (Ava Gesell als in jeder Hinsicht entzückend agierende Marie) eine Lösung selbst für die amouröse Verwicklung, die seine Chefin (Anke Sieloff als gereifte Göttin) an den biederen Mechanikus Steppke (dünn an Gestalt und Stimme: Sebastian Schiller) statt an den heldentenoral überziehenden Prinz Sternschnuppe (Martin Homrich) fesselt.

Der Rücksturz ins heimatliche Berlin klappt nicht so ganz: Es gibt eine gewaltige Explosion, und in der wiedergewonnenen „Berliner Luft“ tanzt das Mondpersonal fröhlich mit. Naja, die virtuelle Welt lässt uns eben nicht mehr los.

Weitere Vorstellungen: 19., 25., 31. Oktober; 21., 31. Dezember 2019; 9. April, 16. Mai, 10. und 13. Juni 2020. Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2019-20/frau-luna/




Zwischen Mineralwasser-Imperium und Hambacher Forst: Jacques Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ in Köln

Im Lager der gerolsteinischen Armee, die in Köln zu Besetzern des „Hambi“ mutiert sind (von links): Miljenko Turk (Baron Puck), Jennifer Larmore (Die Großherzogin), Vincent Le Texier (General Boum), umrundet von Tanzensemble und Chor der Oper Köln. Foto: Bernd Uhlig

Mit „Piff-Paff-Puff“ stellt sich der Herr vor. Es ist der Sound von Platzpatronen, aber zur Vorsicht geht man doch erst einmal in Deckung. Der Mann ist kommandierender General der großherzoglich gerolsteinischen Armee, die sich in akuten Kriegsvorbereitungen befindet. Sein Name, General Boum, ist Programm: Ein „boum“ ist nicht nur der Knall einer Kanone, sondern auch die Bezeichnung für eine nicht immer von Schlüpfrigkeiten freie Fete.

Was um alles in der Welt den französischen Regisseur Renaud Doucet geritten hat, diese ambivalente Offenbach-Figur als einen Art Öko-Turnvater-Jahn in den gelbgrünen Dress eines Senioren-Marathons zu stecken und in einem Hambi-Besetzerlager umhertappen zu lassen, ist die erste von zahlreichen Fragen, die sich mit der Neuinszenierung von Jacques Offenbachs genialer Operette „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ in Köln verbindet. Klar: Wir sind nicht mehr in der Zeit von 1867, der militärische Zauber der Montur ist ebenso verblasst wie die unkritische gesellschaftliche Begeisterung für uniformierte Hierarchen. Auch die von der Zentralstaat-Metropole Paris aus belächelte deutsche Kleinstaaterei mit ihren wichtigtuerischen Fürsten – die sich damals gerade rund um die Weltausstellung an der Seine amüsierten – ist passé.

Aber was dann die Operettenarmee des fiktiven Eifelstaates mit der Hambi-Bewegung und dem Widerstand ökologisch beflügelter Aktivisten gegen den Braunkohleabbau zu tun haben soll, worin der Mehrwert einer Verwandlung der Großherzogin zur Herrscherin eines Mineralwasser-Imperiums bestehen soll, das bleiben uns die Herren Doucet (Regie) und Barbe (Bühne und Kostüme) schuldig. Denn der „gesellschaftskritische“ Ansatz versickert im Dekorativen, die sowieso nur mit knirschender Gewalt aufgesetzte „Aktualisierung“ zerfließt spätestens im zweiten Akt vor der goldenen Monumentalstatue eines Frosches in Belanglosigkeit. Wenig Piff-Paff und ein großes „Puff“.

Einer der besten Momente der Kölner Offenbach-Inszenierung: das Reiterballett des dritten Akts. Foto: Bernd Uhlig

Einer der besten Momente der Kölner Offenbach-Inszenierung: das Reiterballett des dritten Akts. Foto: Bernd Uhlig

Aber wer Renaud Doucet und André Barbe verpflichtet, bekommt den Stil des Teams auch. Und der zeigt in der Kölner „Großherzogin“ zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach genau die Schwächen, die auch bei anderen Inszenierungen der beiden auffallen: Da sind zwar Cécile Chaduteaus Choreographien flott und auf den Punkt gearbeitet – das Reiterballett im dritten Akt ist herzerwärmend putzig –, aber sie bleiben Dekor im geschickten Aufbau von Bewegungsbildern. Da wird ein Transfer in die Gegenwart versucht, bleibt aber halbherzig, weil die Begriffe unscharf sind: Am Ende landen wir mit einem schräg gestellten, üppigen Bild in Plastik-Barock und einem hübsch ausstaffierten Bett eben doch in der „guten“ alten Operettenwelt.

Unverbrüchliche Liebe unter einfachen Menschen: Soldat Fritz (Dino Lüthy) hält seinem Bauernmädchen Wanda (Emily Hindrichs) die Treue, auch als Aufstieg, Macht und aristokratische Zuneigung locken. Foto: Bernd Uhlig

Unverbrüchliche Liebe unter einfachen Menschen: Soldat Fritz (Dino Lüthy) hält seinem Bauernmädchen Wanda (Emily Hindrichs) die Treue, auch als Aufstieg, Macht und aristokratische Zuneigung locken. Foto: Bernd Uhlig

Dorthin weisen auch die Figuren, selbst wenn sie zwischen fantasievoll-opulenten Kostümen auch mal den mittlerweile üblichen blauen Banker- oder Trump-Anzug tragen wie der durchtriebene Baron Puck, bei Miljenko Turk ein eher harmloser Vertreter politischer Ibiza-Fraktionen. Dass diese Offenbach’schen Verschwörer komisch und gefährlich sind, wird nicht berücksichtigt. Stattdessen macht der orgelnd tremolierende Vincent Le Texier aus General Boum einen chargierenden Trottel, dessen Auftreten sich aus dem Repertoire überzogener Komödien-Affektiertheit bedient, ohne hintergründig, witzig oder wenigstens lustig zu sein.

Und bei allem Respekt vor der Lebensleistung von Jennifer Larmore: Die altersmilde Generosität ihrer Großherzogin holt weder die unbekümmerte Naivität der von sich selbst überzeugten Potentatin ein, noch ihre pralle erotische Energie. Doch als die Gerolsteinische First Lady dem mit ökologisch korrektem Naturhaar ausgiebig bepelzten Ex-Gefreiten Fritz – dem tenorblassen Dino Lüthy – ihre Sehnsucht nach authentischer Beziehung offenbart, gelingt der Sängerin ein berührender Moment. Offenbach, der Satiriker, der Spötter, der über den Blumen des Frivolen flatternde Schmetterling, kannte das zarte Sentiment: Er war eben auch ein Familienmensch, der den Wert von Zuneigung, Liebe und Treue zu schätzen wusste.

François-Xavier Roth lässt das Gürzenich-Orchester Köln durchaus mit der leichten Phrasierung und den pointierten Noten spielen, die der Musik ihren unverwechselbaren Esprit geben. Er überzieht auch die Tempi nicht in Richtung hastiger Eile. Es dürfte der Saal im Staatenhaus sein, dessen Akustik Transparenz, deutliche Konturen in den Bläsern und trennscharfe Bässe behindert. Für die Momente der Parodie, für das aufgeblasene Pathos der Szene mit dem „Säbel vom Papa“, für die lustvoll schaurige Verschwörungsszene bringt Roth die Lust an der sanften, aber wirksamen Übertreibung nicht mit. Die Musik klingt, als sei sie ernst gemeint.

Ein umfangreiches Festival zum 200. Geburtstag des Kölner Komponisten

Jacques Offenbach um 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

Jacques Offenbach um 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

„Piff-Paff-Puff“: Das Couplet des Generals gibt auch den Events in Köln rund um den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach am 20. Juni das Motto. Das Jubiläum stürzt derzeit nicht nur seine Geburtsstadt in einen ausgiebigen Offenbach-Taumel. Von Argentinien bis China würdigen Opernhäuser den Jubilar mit Aufführungen – meist allerdings nur seiner bekannten Werke wie „Les Contes d’Hoffmann“ oder „Orphée aux Enfers“.

Doch der Schwerpunkt der Offenbach-Feiern liegt in Frankreich und im deutschsprachigen Raum. In Köln sind derzeit in der Volksbühne am Rudolfplatz die beiden durchgeknallten Einakter „Herr Blumenkohl gibt sich die Ehre“ und „Die Insel Tulipatan“ zu sehen – letztere eine unverständlicherweise lange Zeit unbeachtet gebliebene Parodie auf vorschnelle Zuordnung von Geschlechtern, ein passendes Thema also zur Gender-Debatte.

Ein Symposion in Köln und Paris widmet sich ab 19. Juni den Forschungsfragen rund um Offenbachs Biografie und das längst nicht erschöpfend entdeckte und bearbeitete Œuvre des „Mozart der Champs-Elysées“. Bis 27. Juni hat die Kölner Offenbach-Gesellschaft ein vielfältiges Programm auf die Beine gestellt. Die Oper Köln zeigt zwischen 22. Juni und 9. Juli unter dem Titel „Je suis Jacques“ eine Jubiläums-Offenbachiade von Christian von Götz auf der Baustelle des Opernhauses.

Über das ganze Jahr werden sich die Veranstaltungen hinziehen, unter anderem mit der Kölner Erstaufführung der satirischen komischen Oper „Barkouf“, in der ein Hund an die Macht kommt. Der Abschluss wird romantisch: Das Theater Hagen setzt ihn mit einer Neuinszenierung von „Hoffmanns Erzählungen“ ab 30. November.

Die nächsten Vorstellungen von „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ am 20., 23. und 26. Juni. Nähere Infos hier.




Jonathan Meese mit „Lolita“ – und manches mehr: Theater Dortmund stellt sein Programm für die nächste Spielzeit vor

Die Optik betont die Unterschiede. Hier die neuen Programmhefte von Philharmonikern, Schauspiel und Ballett (Foto: Pfeiffer)

Was hat Jonathan Meese mit Dortmund zu tun? Nun, bisher eigentlich nichts. Allerdings hätte sich das in diesem Jahr ja ändern sollen, weil Edwin Jacobs – noch, aber nicht mehr lange Chef des „Dortmunder U“ – den Künstler eingeladen hatte, die Sammlung nach seinem Geschmack neu zu hängen. Daraus wird jedoch nichts.

 

Den Meese soll es aber auf jeden Fall geben, wenn auch im Theater und erst im nächsten Jahr. Für den 15. Februar 2020 plant das Schauspiel die Uraufführung des Stücks „Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer Selbst!“ aus der Feder des nämlichen Artisten. Man ahnt: Das wird konzeptionell. Erste Absichts-Erklärungen waren jetzt im Theater zu hören, bei der Spielplanpräsentation für 2019/2020, im Programmheft kann man sie nachlesen. Wie immer es auch werden mag – Meeses (erhoffter) Auftritt ist fraglos ein Höhepunkt im ansonsten nicht unbedingt prickelnden neuen Programm.

Wolfgang Wendland kommt wieder. Hier ist er noch in „Häuptling Abendwind“ zu sehen, in der neuen Spielzeit erleben wir ihn und seine Kapelle „Die Kassierer“ in der Punk-Operette „Die Kassierer und Die Drei von der Punkstelle“. Das kann ja heiter werden. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Voges hält Rückschau

Schauspielchef Kay Voges verabschiedet sich mit „PLAY / Abriss einer Reise“ von Dortmund, einer Produktion, in der Rückschau gehalten wird auf fast 10 Jahre Theaterarbeit in dieser Stadt. Uraufführung soll am 11. Oktober sein, und ganz unsentimental wird es dabei wohl nicht abgehen, denn das Ende einer Intendanz bedeutet fast immer auch das Ende für das Ensemble. Mit Spannung sehen wir den Plänen von Julia Wissert entgegen, die Voges’ Nachfolge antreten wird, besonders in Hinblick auf das Bühnenpersonal.

Neuer Schimmelpfennig

Dostojewskis „Dämonen“ kommen auf den Spielplan, ebenso „Hexenjagd“ von Arthur Miller und ein neues Stück von Roland Schimmelpfennig. „Das Reich der Tiere“ erzählt von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern, die in einer mäßig erfolgreichen Tier-Show auftreten und sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Eine „Komödie mit Live-Musik“, die hervorragend in die Dortmunder Wechselsituation paßt.

Beethoven zum 250. Geburtstag

Die zehn Konzerte der Philharmoniker sind in dieser Spielzeit Weltstädten gewidmet, beginnend mit New York und endend mit (na?) Dortmund und Belgrad. Gegeben wird am 28. Juni 2020 der „Beethoven-Marathon 2020“, alle neun Sinfonien an einem einzigen Tag, weil Ludwig van Beethoven 2020 vor 250 Jahren geboren wurde. Um 10 Uhr fangen die Dortmunder Philharmoniker an, um 20 Uhr schließlich wird die neunte Sinfonie angestimmt. Dann arbeiten die Dortmunder mit den Belgrader Philharmonikern, dem Slowakischen Philharmonischen Chor Bratislava und vier Solisten zusammen. Die Ost-Beziehungen haben ihren Grund darin, daß Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz auch Chefdirigent der Belgrader Philharmoniker ist.

Die Optik hat sich stark verändert

Was in den unterschiedlichen Sparten gespielt wird, suche man im Internet (www.theaterdo.de). Es steht aber auch in den gedruckten Programmheften, die es jetzt gibt und die beinahe die größte Überraschung der Präsentation sind. Das Theater Dortmund hat seinen medialen Auftritt grundlegend überarbeitet, was dazu führt, daß es jetzt fünf Programmhefte gibt statt eines einzigen dicken Programmbuchs wie bisher, und daß die Sparten Philharmoniker, Ballett, Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater sich nun in ihrem optischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.

Geschwundene Liebe zum Orange

Mit unterschiedlichen feinen Serifenschriften auf dem Cover und in den Überschriften präsentieren sich Oper, Philharmoniker und Ballett, während die Theaterabteilungen eine fette serifenlose Typographie bevorzugen. Das knallige Orange, lange Jahre „Logo-Farbe“ des Theaters Dortmund, dominiert nur noch das auf orangefarbenes Papier gedruckte Service-Heft. Übrigens ist es eine gute Idee, so all die Service-Angaben (Kartenvorverkauf, Preise, Aboreihen etc.) zu bündeln und in den Programmheften uneingeschränkten Raum für die Kunst zu lassen. Sinnvoll war überdies, die summa sechs Hefte in einen wertig wirkenden weißen Standschuber zu stecken. Vielleicht etwas teuer, sieht aber wirklich gut aus.




Mörderischer Goldschmied, getarnter Zar: Theater Hagen stellt Programm für die Spielzeit 2019/20 vor

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

192 Seiten, vollgepackt mit Programm: Ironisch signalisiert das Theater Hagen mit dem Reclam-Heft-Format seiner Spielzeit-Übersicht 2019/20 wieder Sparsamkeit. Inhaltlich allerdings fächert es den ganzen Reichtum auf, den das in den letzten Jahren arg gebeutelte Haus mit dem Team um Intendant Francis Hüsers aus seinem 18-Millionen-Etat zaubert. Eine bunte Vielfalt tut sich auf, die gleichwohl einige durchgehende Linien sichtbar werden lässt, die sich in den nächsten Jahren in den Spielplänen abzeichnen sollen.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das "Datenheft" des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das „Datenheft“ des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Im Musiktheater schreitet Hüsers vom Schwerpunkt der Romantik in der laufenden Spielzeit weiter in Richtung des Beginns der Moderne: Die Spielzeit eröffnet am 21. September 2019 Paul Hindemiths „Cardillac“, basierend auf dem romantischen Stoff des „Fräuleins von Scuderi“ E.T.A. Hoffmanns, komponiert aber in bewusster Abkehr von romantischer Einfühlung, in einem betont objektivierenden, „neusachlichen“ Stil. Der Stil der Oper, auch als „Bauhausbarock“ bezeichnet, passt zum 100-Jahre-Jubiläum des Bauhauses, das auch in Hagen gefeiert wird.

Den zweiten Schritt in die Moderne signalisiert Richard Strauss‘ „Salome“ ab 4. April 2020, inszeniert von Magdalena Fuchsberger, die in dieser Spielzeit mit Verdis „Simon Boccanegra“ als ambitioniertes Kopftheater für kontroverse Kritiken sorgte. Die Hindemith-Oper ist Jochen Biganzoli anvertraut, der momentan mit seiner Inszenierung von „Tristan und Isolde“ dem Theater Hagen überregionale Aufmerksamkeit sichert.

Mit dem Beginn der Moderne könnte man auch Franz Lehárs „Der Graf von Luxemburg“ verbinden – eine Operette, die wie die „Lustige Witwe“ ironisch mit der Auflösung scheinbar althergebrachter gesellschaftlicher Strukturen und Werte spielt. Roland Hüve inszeniert den Erfolg von 1909, der am 26. Oktober Premiere hat. Als Kontrapunkt zur Operette „Pariser Leben“ in dieser Spielzeit und als Abschluss des Offenbach-Jahres kommt „Hoffmanns Erzählungen“ auf die Hagener Bühne. Susanne Knapp inszeniert die Reminiszenz an die Romantik, die in der Zerrissenheit ihres Helden auch in die Moderne vorausweist; Premiere ist am 30. November. Auch das Ende der Spielzeit im Sommer 2020 hat mit der Moderne zu tun: In Jerry Bocks „Anatevka“ geht auch eine alte Welt unter, die viel mit nostalgischen Träumen zu tun hat, und muss der neuzeitlichen Brutalität organisierter Pogrome weichen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Eine andere Linie, die in dieser Spielzeit mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ (Premiere am 18. Mai) bedient wird, führt Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ am 29. Februar 2020 weiter. Kerstin Steeb übernimmt die Aufgabe, in ihrer Inszenierung die Inhalte freizulegen, die eine Oper an der Schwelle der Aufklärung mit unserer Zeit verbindet. Um einen aufgeklärten Herrscher geht es auch in „Zar und Zimmermann“, mit dem am 1. Februar 2020 endlich wieder einmal eine Oper Albert Lortzings in der Rhein-Ruhr-Region zu sehen ist. Denn Zar Peter der Große schleicht sich inkognito in eine niederländische Hafenstadt ein und mischt die kleinbürgerliche Gesellschaft ordentlich auf – alles natürlich versteckt unter harmlosem Gedöns, um die damalige Zensur nicht aufmerksam zu machen.

Neue Ballettdirektorin choreografiert zwei Abende

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Mit Marguerite Donlon tritt in Hagen eine neue Ballettdirektorin ihre Aufgabe an und stellt sich am 5. Oktober mit einem Abend um eine starke Frau vor: „Casa Azul“ nennt die gebürtige Irin Donlon ihren Einstand den sie der mexikanischen Malerin mit deutschen Wurzeln Frida Kahlo widmet – einer Künstlerin, die lange als „exotische Blume am Knopfloch des großen Meisters Diego Rivera“ galt und erst in den Siebziger Jahren im Zuge der Frauenbewegung in ihrer wirklichen Bedeutung erfasst wurde.

Eine weitere Choreografie, die Donlon bereits 2009 in ihrer Zeit als Ballettdirektorin in Saarbrücken entwickelt hatte, bildet den Abschluss der Hagener Ballettabend-Trias: „Schwanensee – Aufgetaucht“ in einer Kombination der Musik Tschaikowskys mit elektronischen Sounds von Sam Auinger und Claas Willeke (Premiere am 9. Mai 2020). Dazwischen, am 13. Februar, zeigen die Tänzer*innen (das Heft ist konsequent mit Sternchen durchgegendert) der Compagnie in kurzen Szenen einer „kreativen Werkstatt“ ihr choreografisches Können. „Substanz“ heißt dieser Abend.

Rock-Shows und sinfonische Neugier

Im Schauspiel setzt das Haus neben einer eigenen Produktion – Shakespeares „Sommernachtstraum“ in der Regie von Francis Hüsers – auf Gastspiele. Im Programm finden sich auch die bewährten Kabrett-Abende sowie als Wiederaufnahme die erfolgreiche Rock-Show „Take a Walk on the Wild Side“, fortgesetzt durch die Neuproduktion „Wenn die Nacht am tiefsten (… ist der Tag am nächsten)“ am 14. März 2020, eine Bühnen-Party, in der nach den amerikanischen Titeln nun deutscher Rock und Punk zu seinem Recht kommt – von den Toten Hosen bis Nena.

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Der Blick ins orangefarbene Heft zeigt auch, dass GMD Joseph Trafton mit dem Orchester Hagen ein Programm auflegt, das so gar nichts von verstaubter Abonnenten-Bedienung an sich hat, sondern pfiffig und vielseitig Neugier weckt: Ob eine von Bauhaus-Künstler Wassily Kandinskys Bühnenentwürfen inspirierte Video-Show von Arthur Spirk zu Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“, ein russisches Programm mit dem von Steven Isserlis gespielten Cellokonzert Nr. 2 von Dmitri Kabalewsky oder Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“, ergänzt von „Blue Cathedral“, einem von bisher über 400 Orchestern gespielten Klangpoem der Amerikanerin Jennifer Higdon aus dem Jahr 2000. Orchesterdirektorin Antje Haury bestätigt die Beobachtung: Im sinfonischen Repertoire stehen diesmal viel mehr Werke von Frauen als sonst üblich: Neben dem Klavierkonzert der Jahres-Jubilarin Clara Schumann, gespielt am 19. Mai 2020 von Alexander Krichel, enthalten die Programme Werke von Lili Boulanger, Fanny Hensel-Mendelssohn und Kaija Saariaho.

Das abwechslungsreiche Programm des Kinder- und Jugendtheaters im Lutz, zwei große Vermittlungsprojekte gemeinsam mit dem Orchester, die Gründung einer neuen Jugendtanzgruppe und einer Orchesterakademie zeigen: Das Theater Hagen geht gut aufgestellt in die neue Spielzeit und wirkt mit seinen großen, ambitionierten Produktionen, aber auch mit seinen kleinen ehrgeizigen Projekten hinein in die Stadtgesellschaft.

Info: www.theaterhagen.de




Weitaus mehr als Barcarole und Can Can: Ein Blick auf das Offenbach-Jubiläumsjahr 2019

Jacques Offenbach um 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

Jacques Offenbach um das Jahr 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

Jacques Offenbach ist kein Unbekannter: Wer jemals die Barcarole aus „Hoffmanns Erzählungen“ gehört hat – und sei es nur als Werbe-Untermalung – wird die träumerisch-irisierende Melodie nie mehr vergessen. Wer nur einmal den Sog des Cancan aus „Orpheus in der Unterwelt“ gespürt hat, wird die Beine nie mehr ruhig bekommen.

Und dennoch: In seinem 200. Geburtsjahr 2019 ist der Kölner „Judenpursch“, der in Paris eine märchenhafte Karriere gemacht hat und nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 unter vielen Anfeindungen einen Absturz erleiden musste, als Komponist immer noch lückenhaft erschlossen, als Mensch oft nur als Klischeefigur präsent und in seiner Wirkungsgeschichte in längst nicht allen Aspekten beleuchtet. Von seinen zwischen gut 100 bis 140 geschätzten Werken für die Bühne sind höchstens zehn Prozent hin und wieder präsent, für viele gäbe es nicht einmal Noten- oder gar Aufführungsmaterial.

Motto des Festjahres in Köln: „Yes, we cancan“

Mit einem groß angelegten Festjahr will die Stadt Köln ihren wohl bedeutendsten musikalischen Sohn neu ins Bewusstsein rücken. Zahlreiche Partner bringen Mittel und Know-how ein, allen voran die Kölner Offenbach-Gesellschaft, das Land Nordrhein-Westfalen, Förderer aus der Wirtschaft, den Medien und der Kultur – und auch die Katholische Kirche. „Yes, we cancan“, ist das Motto des Jahres, das den „Erfinder der Operette“ endlich als einen der großen Komponisten des 19. Jahrhunderts öffentlich wirksam machen will.

Das tut not: Denn während etwa Richard Wagner omnipräsent auf der Bühne und in der Literatur ist, Werk und Person in nahezu allen Details ausgeleuchtet und kontrovers diskutiert sind, während sich Gioachino Rossini weltweit und immer mehr auch im deutschen Sprachraum steigenden Interesses erfreuen kann, während Giacomo Meyerbeers epochemachende Opern gerade in aufregenden Inszenierungen neu entdeckt werden, steckt eine umfassende Offenbach-Rezeption noch in den Anfängen.

Auch die seit 20 Jahren beim Verlag Boosey & Hawkes laufende monumentale Offenbach- Edition Jean-Christophe Kecks änderte das nur zeitweise und in einigen prominenten Fällen. Noch bis vor kurzem gab es Theater, die selbst Offenbachs Hauptwerk „Les Contes d’Hoffmann“ und seine bahnbrechenden Operetten nach altem, heutigen kritischen Standards nicht genügendem Material spielten.

Sein Musiktheater war für das Hier und Jetzt gedacht

Das hat vielfältige Gründe: Offenbach verstand sich nicht, wie Wagner, als Schöpfer überzeitlich gültiger Werke, sondern produzierte für sein Hier und Jetzt, für die Gesellschaft des französischen Zweiten Kaiserreichs. Sein Stern sank nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, nach dem er in Frankreich wie in seinem Heimatland Deutschland gesellschaftlich angefeindet wurde und den zunehmenden Antisemitismus zu spüren bekam.

Offenbach konzipierte sein Musiktheater neu, setzte auf märchenhafte, opulent ausgestattete Féerien. Seine zeitaktuellen, satirischen Werke hatten ihre große Zeit hinter sich. Spätere Generationen konnten nichts mehr damit anfangen. Die Kritik konzentrierte sich im Schatten Wagners auf die angeblich „seichte“ Musik und übte sich in moralischer Empörung.

Die großen Erfolgsoperetten degenerierten zu harmlos-heiteren Vergnügungen. Nationalismus und Antisemitismus als treibende Kräfte sorgten dafür, dass gerade die politisch-satirische Seite seines Œuvres, die schon zu seinen Lebzeiten von der Zensur klein gehalten wurde, auf den Bühnen kaum eine Chance mehr hatte.

In alle Winde verstreutes Material

Dass „Orpheus in der Unterwelt“ oder „Pariser Leben“ als relativ viel gespielte Werke nicht nur burleske Parodien der versunkenen Antike oder einer historisch gewordenen Gesellschaft sind, sondern aufmüpfiges Potenzial haben, wurde zwar seit den siebziger Jahren wieder entdeckt. Aber die Nach-68er-Kultur suchte sich andere Ausdruckswege als ausgerechnet Operetten.

So erfreute sich Offenbach zwar eines gewissen Respekts, der sich aber – so jedenfalls in der Erinnerung – nicht in Zahl und Qualität der Aufführungen niederschlug. Dazu kommt die Abwertung der Gattung Operette in den letzten Jahrzehnten, die zwar vor allem dem – seit der Nazizeit geförderten – sentimentalen Genre galt, aber dafür sorgte, dass die Sparte des unterhaltsamen Musiktheaters an den meisten Theatern auf eine oder zwei Produktionen pro Spielzeit schrumpfte, wenn sie nicht ganz aufgegeben wurde, und die spezialisierten Ensembles verschwanden. Und ein Problem ist auch die archivalische Überlieferung: Das Material ist in alle Winde verstreut, nicht zugänglich oder überhaupt nicht bekannt.

Das Problem mit der Aktualisierung

Zu ihrer Zeit waren Jacques Offenbachs Operetten – präziser ist der Begriff der opéra bouffe – topaktuell. Deswegen klappt es mit der Modernisierung meistens nicht. Zwischen laschem Historismus und bemühter Zeitgenossenschaft führt eine tückische Straße geradewegs in Belanglosigkeit, glitschig gepflastert mit groben Gags oder völlig überdreht in den Klamauk abdriftend. Offenbach zu inszenieren gehört in die Königsklasse des Regiehandwerks, und an Figuren wie der Großherzogin von Gerolstein mit ihrer zweifelhaften Entourage oder König Bobèche („Barbe-bleue“) in den Gedärmen seiner Macht scheitern Regisseure unter Umständen erbärmlicher als an Parsifal oder Elektra.

Derzeit in Hagen im Spielplan: Jacques Offenbachs "Pariser Leben". Die Regie von Holger Potocki lässt das nostalgische Paris nur noch als Zitat zu. Veronika Haller und Kenneth Mattice als Ehepaar Gondremarck in der Aufführung in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Derzeit in Hagen im Spielplan: Jacques Offenbachs „Pariser Leben“. Die Regie von Holger Potocki lässt das nostalgische Paris nur noch als Zitat zu. Veronika Haller und Kenneth Mattice als Ehepaar Gondremarck in der Aufführung in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Christoph Marthaler hat in Basel an „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ vorgeführt, was es heißt, die Figuren Offenbachs in ihren ambivalenten Charakteren ernst zu nehmen, ohne Humor, Ironie und Parodie zu verraten. Und auch an kleineren Theater gelingt der eine oder andere Offenbach-Abend, etwa jüngst in Hagen, wo Holger Potocki in „Pariser Leben“ jede Form von Historismus meidet und das damals aktuelle, heute historisch-nostalgisch verklärte Paris nur als sanft ironisches Zitat zulässt.

Der „Sittenverderber“ aus dem frivolen Paris

Inzwischen passé sind die Argumente gegen den Meister des satirischen Humors, wie sie nicht zuletzt in kirchlichen Kreisen lange vorgebracht wurden: Offenbach als „Sittenverderber“ stand für ruchloses Treiben auf (und wie geargwöhnt hinter) der Bühne, für verdammenswerte sexuelle Freizügigkeit, für das Verderben einer für unschuldig gehaltenen Jugend. Dazu hat Manuela Jahrmärker unter dem Titel „Vom Sittenverderber zum ewig klassischen Komponisten“ in einem lesenswerten Band von Rainer Franke über „Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters“ zahlreiche Quellen gesammelt, die nicht nur das christliche Milieu betreffen.

Offenbach ist in seinem völlig säkularen Musiktheater in der Tat ein Komponist der Moderne. Aber über allen moralischen Verdikten wurde übersehen, wofür seine beißende Kritik steht: Er entlarvt die moralische Heuchelei, das Bemänteln von Machtwille, Gier, narzisstischer Egozentrik oder eiskaltem ökonomischem oder politischem Kalkül mit „höheren“ Werten. Er führt Machthaber und ihre subalternen Schmarotzer vor, die Staat und Gesellschaft, Regeln und Gesetze nur als Mittel verstehen, mit denen sie sich Macht oder Lust verschaffen. Der Jupiter in „Orphée aux Ènfers“ ist eben kein drollig parodierter antiker Gott, sondern ein Scheusal, das selbst die – moralisch nicht weniger fragwürdigen – Stützen seiner Macht gegen sich aufbringt.

Dass Offenbach in den wenigen stillen, sentimentalen Momenten die Sehnsucht seiner Figuren nach einer wahrhaftigen, menschlichen Welt durchschimmern lässt, in der vielleicht sogar echte Liebe möglich sei, gibt seinen Operetten einen zutiefst humanen Zug und lässt, was seine Kritiker meist übersehen haben, in der Verderbtheit seiner Welten die „Sehnsucht nach dem Heil“ durchscheinen – nur eben viel menschlicher als bei Wagner.

Entdeckungen auf den Spielplänen der Opernhäuser

Der Blick auf die Spielpläne der Opernhäuser bis Juli 2019 zeigt noch wenig von dem innovativen Impuls, den sich Kenner und Liebhaber Offenbachs vom Jubiläumsjahr erhoffen. Der Opern-Klassiker „Les Contes d’Hoffmann“ steht sowieso im internationalen Repertoire – so von Buenos Aires über Peking, Moskau und Wrocław bis Neapel, in Deutschland in Gera und Karlsruhe. Aber seine erst in jüngerer Zeit wiederentdeckte Oper „Les Fées du Rhin“ („Die Rheinnixen“) wird derzeit lediglich in Biel-Solothurn, sein „Fantasio“ nur in Montpellier und Eindhoven (ab Mai 2019, geplant ist auch ein Gastspiel in Köln) gespielt.

Die nie veröffentlichte, erst jüngst von Jean-Christophe Keck wiederentdeckte und publizierte köstliche Polit-Satire „Barkouf“ – ein Hund regiert als Vizekönig im indischen Lahore – erlebte im Dezember 2018 Strasbourg ihre moderne Erstaufführung und wird 2019/20 in Köln zu sehen sein. Und in Hannover treibt in einer weiteren bissigen Satire auf unfähige Herrscher und korrupte Cliquen „Le Roi Carotte“ sein Unwesen.

Seltenes kündigen auch die Pariser Bühnen an: das Théâtre des Champs-Elysées „Maître Peronilla“ und die Opéra Comique „Madame Favart“. Und mit Hilfe des Palazzetto Bru Zane, einem Zentrum für die Erforschung und Wiederentdeckung der romantischen französischen Oper, führt das Théâtre Marigny unter dem Titel „Bouffes Bru Zane“ von Januar bis Juni eine Serie von einaktigen Werken der opéra-bouffe auf.

Von der „Prinzessin von Trapezunt“ bis zum regierenden Hund „Barkouf“

Nur in Würzburg bis April und ab Mai 2019 in Hamburg wird im deutschsprachigen Raum derzeit Offenbachs Erfolgsoperette "La Belle Hélène" gespielt. In Alexandra Burgstallers Ausstattung ist die fern gerückte Antike nur noch dekorative Assoziation. Foto: Nik Schölzel

Nur in Würzburg bis April und ab Mai 2019 in Hamburg wird im deutschsprachigen Raum derzeit Offenbachs Erfolgsoperette „La Belle Hélène“ gespielt. In Alexandra Burgstallers Ausstattung ist die fern gerückte Antike nur noch dekorative Assoziation. Foto: Nik Schölzel

In Deutschland zeigt das rührige Theater Hildesheim ab 3. März 2019 „Die Prinzessin von Trapezunt“. Andere beschränken sich bisher auf das, was von Offenbach in den Spielplänen überlebt hat: „Die Großherzogin von Gerolstein“ (Aachen, Halle, Köln), „Die schöne Helena“ (Hamburg, Würzburg), „Pariser Leben“ (Hagen, Trier) und „Orpheus in der Unterwelt“ (Bielefeld, Krefeld-Mönchengladbach, Mannheim, Oldenburg).

In Köln umfasst die Liste der Veranstaltungen in nächster Zeit eine Podiumsdiskussion am 22. Januar im Domforum mit dem Kölner PresseClub und dem Katholischen Bildungswerk, bei der das deutsch-französische Verhältnis im europäischen Kontext thematisiert wird. Das Institut Français in Köln eröffnet am 25. Januar eine Veranstaltungsreihe zum Offenbach-Jahr mit dem jungen Kölner Ensemble VivazzA. Das Konzert stellt Offenbach in den Kontext der Musik seiner Zeit.

„Divertissementchen“ zur Karnevalszeit

Ein Riesenspaß dürfte ab 2. Februar „Offenbach – ein Divertissementchen“ der Oper Köln werden, das die Karnevalszeit bis 5. März mit schmissiger Musik und Ballett-Choreografien auf die übliche Kölner Weise ausfüllen wird. Am 16. März nimmt die Kammeroper Köln ihre Produktion von „Orpheus in der Unterwelt“ wieder auf. Am 9. Juni feiert dann „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ ihre Premiere in der Oper Köln. Ab 17. Juni zeigt die Volksbühne am Rudolfplatz in Köln zwei der hintersinnig-amüsanten Einakter: „Die Insel Tulipatan“ und „Salon Pitzelberger“. Und ab 19. Juni stehen Leben und Werk Offenbachs im Zentrum eines Symposions der Hochschule für Musik und Tanz in Köln.

Info: https://www.yeswecancan.koeln/veranstaltungen




Operetten-Passagen (11): Jacques Offenbachs „Pariser Leben“ – goldener Flitter in der grauen Nässe von Hagen

"Pariser Leben" von heute: Richard van Gemert (Gardefeu), Veronika Haller (Christine von Gindremarck), Boris Leisenheimer (Clochard). Foto: Klaus Lefebvre.

„Pariser Leben“ von heute: Richard van Gemert (Gardefeu), Veronika Haller (Christine von Gindremarck), Boris Leisenheimer (Clochard). (Foto: Klaus Lefebvre)

Zu ihrer Zeit waren Jacques Offenbachs Operetten topaktuell – und deswegen klappt es mit der Modernisierung meistens nicht. Zwischen laschem Historismus und bemühter Zeitgenossenschaft führt eine tückische Straße geradewegs in Belanglosigkeit, glitschig glatt gepflastert mit schalen Humor-Versuchen.

Offenbach zu inszenieren gehört in die Königsklasse, und an Figuren wie die Großherzogin von Gerolstein mit ihrer Entourage oder König Bobèche in den Gedärmen seiner Macht scheitern Regisseure unter Umständen erbärmlicher als an Parsifal oder Elektra. In Hagen ist nun unter der Hand von Holger Potocki einer der geglückteren Offenbach-Abende zu erleben.

Das Glück mag darin liegen, dass Potocki jede Form von Historismus meidet und das damals aktuelle, heute historisch-nostalgisch verklärte Paris nur als sanft ironisches Zitat zulässt. Sein Zugriff auf „Pariser Leben“ meint die französische Metropole heute, mit ihren Banlieus, ihren betongesättigten Schnellstraßengürteln, ihren Elendsquartieren und dem Innenarchitekten-Chic ihrer Luxusappartements, mit ihren Menschen aus aller Herren Länder, ihrem Mix von Religionen und dem Kampf ums tägliche Bestehen in der „bevölkerten Wüste“, wie Verdis Violetta die Stadt beschreibt. Und mit ihren Touristen, 34 Millionen pro Jahr sollen es sein, die ihre Erwartungen auf die „Stadt der Liebe“ oder die Kulturschätze zwischen Louvre und Quartier Latin projizieren.

Entlassen ins Leben von heute

Die Gondremarcks sind zwei davon – und sie werden im flotten Tempo der Eröffnungsszene gleich ins volle Pariser Leben von heute entlassen: Aus einem Taxi, das schnell das Weite sucht, retten sie nur sich selbst. Das Handy wird von einem Straßenjungen geklaut, die Handtasche mit Geld und Papieren verschwindet schon im Wagen. Da wird erst einmal auf Schwedisch gestritten, aber die Gäste aus dem Norden haben kaum eine andere Chance, als das Angebot eines vom fast food übergewichtig gewordenen Jungen anzunehmen: eine Nacht im „zufällig“ noch freien Airbnb-Zimmer. Und es zeigt sich: Vom Taxi bis zum Handyklau war alles von diesem Raoul de Gardefeu geplant …

Nur noch ein Traum: Das schwedische Touristenpaar am Bahnhof. Foto: Klaus Lefebvre

Nur noch ein nostalgischer Traum: Das schwedische Touristenpaar am Bahnhof. (Foto: Klaus Lefebvre)

Potocki aktualisiert, ohne die Rollen schrill zu überzeichnen oder ihnen Gewalt anzutun. Er schärft nur die Züge, die Offenbach und seine Librettisten Henry Meilhac und Ludovic Halévy vorgezeichnet haben und übersetzt sie – wie viele Teile des Dialogs – ins Heute. Dazu lässt er ein Panoptikum von Frankreich-Klischeefiguren kreisen, von Rokokokokotten über Karl Lagerfeld bis hin zu Obelix mit Hinkelstein, ausgestattet mit überbordender, manchmal grotesker Kostümpracht. Das mondäne 19. Jahrhundert, präsent in der vor dem vierten Akt eingeschobenen Bahnhofs-Szene des Beginns, ist im stimmungsvollen Bühnen-Setting von Lena Brexendorff nur noch ein Paris-Traum der schlafenden Baronin.

Auch ein Clochard hat sein Auftritts-Couplet unter einem Van-Gogh-Sternenhimmel – und er wird am Ende eine rührend-belehrende Rede halten, während sich zu „Oui, voilá, das ist das Pariser Leben“ noch einmal alles in den Dreh des Cancans stürzt – der Jude, der Muslim und der Christ inklusive. Jetzt erlebt das schwedische Paar im Tanz auf der Straße das „echte“ Paris mit den „echten“ Menschen. Es bräuchte diese Botschaft nicht, aber Potocki integriert sie so unaufdringlich in seine unterhaltsam und humorvoll erzählende Regie, dass sie die Illusion der Operette nicht im Lehrstückhaften verfestigt.

Kein „lustiges“ Aufdrehen

Offenbach ist also in diesem verheißungsvollen Präludium zu seinem Jubiläums-Jahr 2019 glücklich im Paris von heute angekommen – und das Hagener Publikum hätte allen Grund, die leeren Plätze im Zuschauerraum zu besetzen und sich zu unterhalten. Das gewandt spielende Ensemble trägt seinen Teil zum Amüsement bei, weil Potocki vermeidet, die Figuren „lustig“ aufdrehen zu lassen. Das Lachen will nicht mit Gags erzeugt werden, sondern ergibt sich aus dem wissenden Erleben alltäglicher Absurdität. Und wo der Unsinn seinen Triumph auskostet, auf der inszenierten „Pariser“ Party im Etablissement der Madame Quimper-Karadec, lässt Potocki seine Darsteller auch richtig aufdrehen.

Veronika Haller glänzt vor allem in den ariosen musikalischen Momenten; der Konversationston á la Hortense Schneider – der Star der Uraufführung – ist ihre Sache weniger. Aber die innere Entwicklung der Baronin Gondremarck von der kulturbeflissenen Touristin hinein in die frivolen Untiefen der „vie parisienne“ zeichnet Haller charmant nach. Ihren Gatten, den Baron, verkörpert Kenneth Mattice sehr glaubwürdig – ob er als lüsterner Nordmann arglos auf die raffinierten Fallen des amourösen Geschäfts hereinfällt oder als schwerblütiger Schwede mit dem Tempo des Pariser Liebeslebens nicht mithalten kann. Dafür sorgen mit viel Sex-Appeal Elizabeth Pilon – dünn an Figur wie an Stimme – als anziehende Pauline und Kristine Larissa Funkhauser als selbstbewusste, saftig auftretende Metella, die ihrem Ruf als „leichtes Mädchen“ eine ganz andere Realität entgegensetzt.

Korsage aus gelbem Absperrband

Marilyn Bennett als Madame Quimper-Karadec glänzt nicht nur mit dem eingeschobenen „Midnight in Paris“ – dafür muss man auf das irre komische Offenbach-Ensemble von der aufgeplatzten Naht verzichten –, sondern spielt als schriller Vamp aus der Szene in einer Korsage aus gelbem Absperrband Dominanz und Körperreiz aus, begleitet von „Gonzo“ (Thorsten Pröhln), einem devoten Leder-Subjekt an der Kette. Richard van Gemert adaptiert die jugendliche Rolle des Gardefeu mit Bravour: ein kleiner Gauner mit menschlichen Zügen, Humor und erst finanziellem, dann schwärmerisch-unbeholfen amourösem Interesse an der blonden Frau aus Schweden.

Stephan Boving ist sein ungeschickter Partner Bobinet, der bei der Organisation der Party auf die Idee kommt, den Event auf Facebook zu posten. Boris Leisenheimer hat als Clochard die Rolle des millionenschweren Brasilianers in einen weise-abgeklärten Clochard zu verwandeln, was ihm mit leicht komisch schillernder Würde auch gelingt. Das Orchester unter Andreas Vogelsberger erinnert zunächst daran, dass wir uns in Westfalen, nicht an der Place Pigalle befinden: die Töne sind nicht spitz artikuliert, der Rhythmus federt schwerfällig. Aber die Balance stimmt, und im Lauf des Abends gewinnen die Tanzformate und die kurznotigen melodischen Burlesken Elan und Energie. Da überzieht der Schimmer goldenen Flitters selbst die graue Nässe von Hagen.

Weitere Aufführungen: 27., 31. Dezember 2018 – 19., 26. Januar; 24. Februar, 23. März, 26. April, 5. und 12. Mai 2019.

Info: http://www.theaterhagen.de/veranstaltung/pariser-leben-1122/5944/show/Play/




Operetten-Passagen (10): Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“ in Mainz als überdrehtes Spiel zwischen Sein und Schein

Hohe und höchste Herrschaften, und dazu ein Quartett, das "Pam-pam-pam" singt. In Paul Abrahams "Märchen im Grand-Hotel" ist auch höherer Blödsinn angesagt. Foto: Andreas Etter

Hohe und höchste Herrschaften, doch auf der Stiege wird „Pam-pam-pam“ gesungen. In Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“ ist auch höherer Blödsinn angesagt. (Foto: Andreas Etter)

Mainz war schnell: Kaum hatte Paul Abrahams 1934 entstandene Operette „Märchen im Grand-Hotel“ an der Komischen Oper Berlin ihre semi-konzertante deutsche Erstaufführung erlebt, war das Staatstheater am Start: Kein Jahr später rauscht jetzt der einstige Erfolg, der wegen brauner Verunklarung in Deutschland und ab 1938 auch in Österreich und der Tschechoslowakei nicht mehr gezeigt werden durfte, erstmals in Deutschland voll szenisch ausgearbeitet über die Mainzer Bühne.

Es bestätigt sich, was sich in Berlin schon abgezeichnet hatte: Operette braucht die Illusionsmaschine prallen Theaters, um ihre volle Wirkung zu entfalten.

Damit Satirisches wie Sentimentales auch sitzt, hat Mainz das Team Peter Jordan und Leonhard Koppelmann verpflichtet, zwei Routiniers des Komödienfachs, die bereits Ralph Benatzkys „Weißes Rössl“ präsentiert hatten. Sie füttern die Dialoge der Operettenspezialisten Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda mit aktuellen Bonmots auf, ohne dem Text zu viel Gewalt anzutun, blasen das Stück aber auf über drei Stunden Dauer auf – zu viele Spielflussbremser für die Story der Romanzen, die eine hochadlige spanische Infantin und einen tolpatschigen Kellner, einen Wiener Prinzen und eine amerikanische Filmmogultochter zusammenbringen.

Eine Überdosis an Gags und Grimassen

Zumal sich Jordan/Koppelmann nicht auf die Kardinaltugend aller Regisseure im komischen Fach besinnen wollen: Weniger ist mehr, und wenn die Slapstick-Effekte, die gedrechselt überdrehten Bewegungen, Gesten und Grimassen, die running gags und Kalauer, die affektiert ausgestellten Emotionen und die völlig ausgerasteten Dialoge überhand nehmen, stumpfen sie das Interesse ab, werden langatmig und lassen die Charaktere statt witzig oder grotesk nur unglaubwürdig und nervig werden. Die Menge macht das Gift, und das Regieteam füttert das Publikum mit einer so gut gemeinten Überdosierung, dass die genussreiche Digestion durch erhebliches Grimmen des Lachzentrums ersetzt wird.

„Pam-pam-pam“ singt das Männerquartett

Alles Projektion, alles Staffage? "Märchen im Grand-Hotel" am Staatstheater Mainz. Foto: Andreas Etter

Alles Projektion, alles Staffage? „Märchen im Grand-Hotel“ am Staatstheater Mainz. (Foto: Andreas Etter)

Dabei ist die Grundidee durchaus gelungen: Die Bühne von Christoph Schubiger zeigt zunächst einen gesichtslosen Aufbau, der erst durch Projektionen (Stefan Bischoff) zum Schauplatz wird: ein luxuriöses Büro, nostalgische Reiseplakate, durch naive Tricks filmisch belebt, oder eine mondäne Hotelhalle.

Doch die virtuellen Realitäten setzen sich in den Raum der Bühne fort: Das elegante Treppenhaus materialisiert sich als bespielbare Stiege, auf dem ein Vokalquartett á la Comedian Harmonists als running gag immer wieder Melodien mit „Pam-pam-pam“ wie Loriots Männerchor-Männchen vorträgt. Und auf dem Plüsch der Möblierung lässt sich Platz nehmen, wenn sie wie die Ausstattung im Fernsehstudio mitsamt den Darstellern hereingerollt wird.

Das Leben – ein Traum, die Geschichte – eine Illusion, die Gefühle – bloße Projektion. Die Ebene der vermittelten Realität, eine romantische und eine moderne Metapher, funktioniert bestens. Der Film, damals die neueste mediale Illusionsfabrik, und das Hotel, der magische Brennpunkt eines von den einen erträumten, von den anderen in weltfernem Luxus verbrachten Daseins, gehen eine komplexe Symbiose ein. Von Anfang an wird klargemacht, was Paul Abrahams Operette erst am Ende enthüllt: Es geht um einen Film, dessen Vorspann schon die erste Szene auf der Bühne begleitet.

Zwischen realer Fiktion und gemachter Realität

Was geschickt in der Schwebe bleibt, ist die Frage, wie weit uns „Universal Star Pictures“ in allem, was wir sehen, nur eine synthetische Realität vorspielt. Und inwieweit die Menschen auf der Bühne sich selber verkörpern oder nur sich selber spielen. Die Ambivalenz einer als real empfundenen Fiktion und einer ins „Gemachte“ abgleitenden Realität funktioniert und lässt Abrahams Operette in einer Zeit, in der eine hochtechnisierte Brille reicht, um in eine nahezu perfekte künstliche Welt abzudriften, erstaunlich aktuell werden.

Barbara Aigners Kostüme spiegeln die luxuriöse Vergnügungswelt der dreißiger Jahre, aber auch den leicht angestaubten Glanz vergangener Monarchien. Sie setzt die Übertreibung so dezent ein, dass sie witzig, aber nicht aufdringlich wirkt, etwa, wenn die Gefolgsleute des gnadenlos brüllenden und greinenden Filmproduzenten Sam Makintosh (Murat Yeginer) von John-Lennon-Pilzkopf und Brille bis zum übergewichtigen, rothaarigen irischen Einwanderer oder den Spießer im Karo-Pullover auf anglo-amerikanische Typen anspielen. Die adligen Herrschaften sind so glanzvoll gekleidet, die Pracht wird so hemmungslos ausgestellt, dass die Eleganz zur Staffage abgleitet und amüsanten Effekt bereitet.

Die Regie unterstützt diesen Zug ins Groteske und veralbert die Operetten-Sentimentalitäten ums blaue Blut gründlich als Teil einer umfassenden Illusions-Fabrik. Jennifer Panara hat bei ihrem Auftritt als Infantin den besten Moment, wenn sie gesteht, sie wäre so gerne Königin auf einem gold’nen Thron, lässt aber hinter der Fassade der distinguierten Dame durchscheinen, dass sie auch gerne einmal so richtig ausgelassen sein möchte. Michael Dahmen kann – im Gegensatz zu Max Hopp an der Komischen Oper – tenoral schmachten, leiden und locken. Sein Tangolied „Die schönste Rose und ein Herz voller Liebe“ balanciert genau auf der Trennlinie triefenden Sentiments und ironischer Süffisanz. Stimmlich präsent und als Darsteller ein herrlicher Filou: Johannes Mayer als Prinz Andreas Stephan mit weichem österreichischem Akzent.

Ein Film – vom richtigen Leben gekurbelt

Die Marylou Nini Stadlmanns, die sich selbstbewusst „ihren Film vom richtigen Leben kurbeln lassen“ will, setzt flinke Stepschritte, lange Beine, goldene Locken und einen roten Kussmund ein, um Männer mit solchen primären Locksignalen genau dahin zu manövrieren, wo sie sie haben will. Während sie – ohne Opernstimme – besser verstärkt wird, sind die Mikroports bei anderen Darstellern lästige Stimmvergrößerer – eine Mode, die sich in der Operette leider immer mehr durchsetzt. Dass Artikulation, Verständlichkeit und stimmlicher Schliff damit nicht gehobener werden, zeigt Anika Baumann als grotesk überdrehte Gräfin Ramirez: eine potenzierte „komische Alte“. Auch von ihrem pseudospanischen Geschnatter gilt: Maßvoll wäre es genussreicher goutierbar. Lorenz Klee, der voluminöse, goldbetresste Großfürst, und Henner Momann, mal tattriger Haudegen, mal Zofe en travestie, wirken vor allem durch ihre Erscheinung.

Samuel Hogarth garantiert am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz und als Barpianist auf der Bühne für einen stilistisch sorgfältig erarbeiteten Zugriff auf Paul Abrahams mitreißende Musik.  Zwar zündet keiner der Schlager beim ersten Hören, aber beim zweiten Mal gehen die Melodien ins Ohr und zu Herzen. Der rhythmische Reiz der Modetänze lässt nicht kalt – ob mit Bravour quick gestept wird oder beim Tango die falsche Träne glitzert. Wie Hogarth die Farben der Instrumente ausbalanciert, wie er Details – wie die nach Original-Vorbild mit selbstgebauten Megaphonen verstärkten Klarinetten – hervorhebt, wie er die Melodien phrasiert und das Metrum pointiert gestaltet, zeigt treffsicheren Geschmack.

Ähnlich wie mit Abrahams anderer Hotel-Operette „Ball im Savoy“ könnte auch mit dieser Entdeckung ein Märchen wahr werden – das einer Renaissance eines köstlich-frechen Stücks Musiktheater aus einer bis heute aufwühlenden Zeit des 20. Jahrhunderts.

Nächste Aufführungen: 31. Dezember 2018 – 4. und 26. Januar 2019 – 14. und 16. Februar 2019. Weitere Infos: http://www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/oper18-19/grand-hotel




Das Eis der Adria: Winterliche „Nacht in Venedig“ als konsequente Erneuerung der Operette am Aalto-Theater Essen

Wie nähert man sich, nach einer Generation langsamen Erstickens der Operetten-Tradition, diesem Genre des Musiktheaters heute? Noch dazu einer „Nacht in Venedig“ von Johann Strauß, die mit ihren harmlos-heiteren Verwechslungsmaskeraden nicht zu den besten Libretti von Friedrich Zell und Richard Genée gehört?

Auf dünnem Eis: Elbenita Kajtazi (Annina) und Caramello (Albrecht Kludszuweit) im winterlichen Venedig im Aalto-Theater. Foto: Jörg Landsberg

Auf dünnem Eis: Elbenita Kajtazi (Annina) und Caramello (Albrecht Kludszuweit) im winterlichen Venedig im Aalto-Theater. Foto: Jörg Landsberg

Das Aalto-Theater hat sich nach verflixten sieben Jahren der Enthaltsamkeit entschlossen, für die erste Operetten-Neuproduktion der Intendanz Hein Mulders auf einen local hero zu setzen. Man verpflichtete Bruno Klimek, Professor für szenische Ausbildung im Studiengang Gesang/Musiktheater an der Folkwang Universität der Künste.

Das Ergebnis war zu erwarten: Klimek macht mit seinem Bühnenbildner Jens Kilian und der kreativen Kostümfrau Tanja Liebermann die gute alte Operette nackt. Er streift ihr den bunten Karnevalsdress ab, reißt ihr die mondänen Ballroben vom Leibe und schält sie aus den folkloristischen Fischermädchenkleidchen. Aber mehr noch: Er entblößt sie von den veralteten Sentenzen Zells und Genées, schreibt die Dialoge quasi alle neu, greift vereinzelt auch in die Gesangstexte ein. Manchmal verfehlt er den Stil: Dass Herrn Delaqua, seines Zeichens Senator der Serenissima, etwas „glatt am Arsch vorbei“ geht, ist ein gutes Stück zu pöbelhaft als Ersatz für Wiener Wortwitz.

Niente Carnevale!

Die Entscheidung greift tief ein, ist aber gut begründbar: Klimeks gereimte Pointen sind – wie die alten Albernheiten auch – Geschmackssache, aber sie sitzen und sie kommen auch an. Das Publikum bricht selten in offene Heiterkeit aus, schmunzelt aber doch über manche Pointe. Vor allem kann Klimek so die Konstellation der Figuren schärfen: Die Mädels Annina und Ciboletta sind nicht mehr die koketten Dummchen, sondern profilieren sich über die überlebenswichtige Fischhandels- und Zofen-Schläue hinaus als selbstbewusste weibliche Wesen. Sie lassen sich von den Herren der Schöpfung nichts sagen. Sie spielen ihr eigenes Spiel und schauen auf ihr eigenes Vergnügen.

"Frutti di Mare!" bietet Elbenita Kajtazi alias Annina feil. Foto: Jörg Landsberg

„Frutti di Mare!“ bietet Elbenita Kajtazi alias Annina feil. Foto: Jörg Landsberg

Niente Commedia dell’arte, niente Carnevale: Tanja Liebermann verordnet der Schaulust Askese, wo sie das Historisch-Dekorative suchen will. Schon als Christina Clark, alias Ciboletta, aufgeregt vor dem geschlossenen Vorhang herumstöckelt, wissen wir: Ihr gelbes Ölzeug eignet sich vor allem zum Schutz, wenn sich ostfriesische Himmelsfluten nach südlich der Alpen verlagern und „aqua alta“ droht. Öffnet sich der Vorhang, erleben wir, dass auch in Venedig zur Karnevalszeit Winter herrscht: Es schneit, die Menschen haben Mäntel an, zittern, frieren, rutschen auf Glatteis aus.

Dass es dabei schmerzhafte Stürze geben kann, macht Martijn Cornet als Pappacoda bewusst. Der Arme ist Neapolitaner und mit venezianischen Klimafallen nicht vertraut. Und je mehr billigen Korbflaschenwein er in sich hineinschüttet, desto heftiger kommt er zu Fall. Liebermann hat ihn mit fischgrätengemusterter Hose, Sakko, Schal, Scheiter und Brille ausstaffiert wie einen Dramaturgen der siebziger Jahre – wäre da nicht der Riesentopf mit, nun ja, Spaghetti drin. Klimek lässt die Figur immer weiter in Slapstick abgleiten. Das funktioniert nicht; auch das Publikum nimmt die traurige Show regungslos hin.

Lustvoll ausgestellte Klischees

Dekor spielt in Klimeks Inszenierung eine Rolle, wenn er nämlich ganz Venedig dazu erklärt: Jens Kilian hat in den Hintergrund der weiträumigen Aalto-Bühne ein Spielzeug-Venedig gebaut, an dem sich in regelmäßigen Abständen riesige Kreuzfahrtschiffe vorbeischieben. Dass die Miniatur-Palazzi wackeln und von einem Bühnenarbeiter (Hans-Günter Papirnik) immer wieder zurechtgerückt werden müssen, dass sie schließlich komplett zusammenstürzen, ist mehr als eine Anspielung auf die aktuelle Debatte um die Schäden, die diese Riesenpötte an der historischen Bausubstanz verursachen. Klimek entlarvt, dass es gar nicht um Venedig geht – die Stadt ist für die geschätzt 30 Millionen jährlicher Touristen eben vor allem eine Dekoration für schöne Tage.

So stellt die Regie Klischees in Frage – oder stellt sie lustvoll aus, bis sie überdreht in sich zusammenbrechen. In der fast schon mathematisch choreografierten Exposition des ersten Akts rast regelmäßig eine kreischende Weiberhorde über die Bühne: „Er“ wird erwartet, der Herzog, der Macho, dem alle weiblichen Wesen gern und willig zu Füßen liegen. Teenie-Starkult mit reifen Damen, das ist erst witzig, dann nervig. Aber so ist es kalkuliert.

Natürlich werden die Erwartungen enttäuscht: Eine riesige Gangway herab schreitet nicht der Herzog, sondern stolpern die ganz „normalen“ Männer, etwa Caramello, der Leibbarbier des Herzogs. Albrecht Kludszuweit gestaltet diese Rolle mit dem Hintergrund eines operettenerfahrenen Sängers und Darstellers, der noch dazu die Höhenbrillanz und den Sinn für Phrasierung hat, um Schlager wie „Komm in die Gondel“ zu blitzenden musikalischen Sternen zu veredeln.

Die Herrlichkeit des Gockels ist in wenigen Sekunden vorbei

Als dann der tolle Mann endlich eintrifft, ist der Auftritt eine unspektakuläre Enttäuschung für die Ladies. Dennoch reißen sie Dmitry Ivanchey erst mal die Kleider vom Leib, so dass aus der schillernden Adriano-Celentano-Figur ein Normalo in biedern Boxershorts wird, raffen ihre Beute und eilen von hinnen. Die Dekonstruktion der „Gockelherrlichkeit“, wie es Klimek im Programmheft nennt, vollzieht sich in wenigen Sekunden. Ivanchey singt sein „Der Mond hat schwere Klag‘ erhoben“ zwar dynamisch differenziert, aber ohne Charme und Schmelz – da fehlt die Erfahrung mit dem Idiom der Operette.

Auf der weiten, klar strukturierten und mit stimmungsvollen Symbolbildern gestalteten Bühne treibt die muntere Handlung immer weiter ins Absurde. Am Ende des zweiten Aktes schiebt sich der Chor des Aalto-Theaters – dem es spürbar schwer fällt, die Leichtigkeit der Darstellung, wie sie die Operette braucht, zu realisieren – in verblichenen Ballkleidern und aufgetürmten Frisuren aus der Zeit des Endes der Serenissima aus dem Hintergrund. „Karneval ruft zum Ball, der ist Souverän“ wird zum Totentanz, die Gesellschaft bricht auf dünnem Eis ein und versinkt.

Gespenster-Karneval der Vergangenheit: Der Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Jörg Landsberg

Gespenster-Karneval der Vergangenheit: Der Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Jörg Landsberg

Der dritte Akt verschärft die Groteske, wenn im Nebel nur noch Namen gerufen werden und Karel Martin Ludvik, der während der zweidreiviertel Stunden ständig seine Frau sucht, vollends zum wiedergängerischen Gespenst wird. Der zügel- und regellose Karneval wird zum verwirrten Endspiel, in dem einsame Menschen im Dunkel jede Orientierung verlieren. Und die Lösung? Die ist so angeklebt wie (fast) jedes Operetten-Happy-End: Man verabredet sich zum nächsten Karneval!

Luxus-Besetzung in der Fassung von Erich Wolfgang Korngold

Liebestraum im Winter: Liliana de Sousa (Barbara) und Carl Bruchhäuser (Enrico Piselli). Foto: Jörg Landsberg

Liebestraum im Winter: Liliana de Sousa (Barbara) und Carl Bruchhäuser (Enrico Piselli). Foto: Jörg Landsberg

Das Aalto-Theater Essen spielt die Fassung von Erich Wolfgang Korngold. Kapellmeister Johannes Witt lässt mit den Essener Philharmonikern die farbige, klangsinnliche Instrumentierung leuchten und zeigt sich – als versierter Dirigent im Ballett – vor allem mit Gespür für rhythmische Finessen. Wo Strauß auf Marschmusik setzt, ist Witt in seinem Element, wo er die flexible Agogik des Walzers freilassen sollte, reagiert er zu akkurat. Die Streicher sind in der Balance des Klangbilds leicht unterbelichtet, das Schlagzeug trumpft zu sehr auf. Aber Strauß‘ Operette ist ja auch in Berlin uraufgeführt worden – so ist ein preußisch-zackig aufgeputztes Venedig, das ein wenig nach Paul Lincke klingt, vielleicht gar nicht so unangebracht.

Die Besetzung am Aalto ist luxuriös – es zahlt sich eben aus, wenn ein Theater sorgfältige Ensemblepflege betreibt. Elbenita Kajtazi (Annina) turnt mit Luftballons in Fisch- und Krustentierform durch den Zuschauerraum auf die Bühne und preist ihre „frutti di mare“ mit einem Sopran an, der so frisch ist, wie der Meeresfang sein sollte. Die hoffnungsvolle Sängerin wechselt im Sommer an die Hamburgische Staatsoper, wo sie in Robert Schumanns Faust-Szenen debütiert. Kürzlich hat die gebürtige Kosovarin den Publikums- und den Dritten Preis im ersten Glyndebourne Opera Cup gewonnen

Christina Clarks Silberstimme ist seit Jahren eine Stütze des Musiktheaters, auch als Ciboletta setzt sie kratzbürstigen Charme und gewitzte Schläue als Lockmittel und Waffe ein. Liliana de Sousa hat eine wunderschöne Einlage zu singen und wertet mit ihrer cremigen Stimme die Rolle der Barbara auf, die sonst nur mit ihrem „Neffen“ Enrico, dem jungenhaften Carl Bruchhäuser, auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen für eine Liebesnacht ist. Peter Holthausen und Karl-Ludwig Wissmann bilden mit Karel Martin Ludvik das Trio der soignierten Senatoren, die vergeblich versuchen, ihre Frauen im Zaum zu halten – keine Chance: Marie-Helen Joël und Susanne Stotmeister wissen ihnen zu entkommen.

Die Frage, wie man heute Operette macht, hat das Aalto-Theater jedenfalls mit einer mutigen Inszenierung für sich entschieden: Keine billige Aktualisierung, sondern konsequente Erneuerung.

Die nächsten Vorstellungen: 7./10./16./21./29. Juni, 11./13. Juli, Wiederaufnahme am 14. September. Info: www.theater-essen.de




Die Kunst kämpft am Limit: Theater Hagen stellt trotz harter Kürzungen einen ehrgeizigen Spielplan für 2018/19 vor

Hier wird, so kommt es einem vor, mit einem Mut gekämpft, der sich bewusst ist, dass er nichts mehr verlieren kann. Die verordneten Kürzungen treffen das Theater Hagen in der kommenden Spielzeit in vollem Umfang und müssen bis 2022 realisiert sein. 1,5 Millionen sind für einen Etat von rund 14,25 Millionen Euro eine gravierende Summe. Und dennoch kündigt Intendant Francis Hüsers für 2018/19 die gleiche Zahl von Vorstellungen und sogar mehr Produktionen an.

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Wie soll das funktionieren angesichts des notwendigen Abbaus von künstlerischem Personal, etwa in Orchester und Ballett? Hüsers, Intendant seit der Spielzeit 2017/18, will die Ressourcen des „sehr gut aufgestellten Theaters“ ausschöpfen, will Doppelfunktionen des Personals „noch exzessiver“ nutzen. Das Publikum soll nicht merken, was Geschäftsführer Michael Fuchs bei der Vorstellung der kommenden Spielzeit sehr realistisch beschrieb: „Das Hemd ist dünner geworden, die Risiken steigen“. Sagen wir es deutlicher: Das Hemd ist nur noch ein Spinnfädchen, und ob die Risiken einer solchen Null-Reserve-Politik noch zu bewältigen sind, wird das kühne Führungsteam des Theaters Hagen ab Herbst zu beweisen haben.

Selbstausbeutung

Was das alles für die Menschen am Haus bedeutet, muss ungeschminkt ausgesprochen werden. Es ist ja nicht so, dass der künstlerisch erfolgreiche frühere Intendant Norbert Hilchenbach hätte aus dem Vollen schöpfen können. Ein Chronist könnte die Sparwellen aufzählen, die bereits über das Theater hinweggerollt sind. Jetzt geht es wohl nur noch um Selbstausbeutung am Limit. Und die Künstlerinnen und Künstler an diesem Haus verdienen allein dafür Anerkennung, dass sie sich – um der Kunst oder der eigenen Existenz willen – diesen Zumutungen unterwerfen.

Dennoch wäre simple Politikerschelte wohlfeil – und man könnte ihr leicht entgegenhalten, dass Hagen froh sein darf, überhaupt noch ein Theater mit eigenem Ensemble halten zu können. Die Ursachen dieser Krise liegen tief in einer seit langem defizitären Kulturpolitik. Hoffnungen ruhen auf der Landesregierung: Theoretisch könnte sie mit den Baukosten von 300 Metern Autobahn die Finanzierung des Hagener Theaters mit einem Schlag sanieren und den Abbau von hoch kreativen Arbeitsplätzen in dieser nicht gerade von Kultur strotzenden Stadt rückgängig machen.

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. Foto: Theater Hagen

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. (Foto: Theater Hagen)

Doch zurück zur Kunst. Hüsers kündigt einen Spielplan mit Schwerpunkt auf „romantischer“ Oper an – was man eben so landläufig darunter versteht. Darunter fallen sicherlich Antonín Dvořáks „Rusalka“ (ab 1. Dezember 2018) und Richard Wagners „Tristan und Isolde“, ab 7. April 2019 fünf Mal sonntags auf dem Spielplan, mit GMD Joseph Trafton am Pult und Jochen Biganzoli als Regisseur.

Besonderes Profil zeigt Hüsers damit nicht, aber es ist ihm zugute zu halten, dass er bei der Top-Riege der Komponisten nicht zu den populärsten Titeln greift: Von Giuseppe Verdi etwa setzt er „Simon Boccanegra“ an (ab 29. September, Regie Magdalena Fuchsberger), von Gioachino Rossini „Il Turco in Italia“ (ab 2. Februar 2019), für den er Christian von Götz als Regisseur gewonnen hat. Cole Porters „Kiss me, Kate“, „Pariser Leben“ zum Offenbach-Jahr, Richard O`Briens „The Rocky Horror Show“ und Duncan Sheiks „Spring Awakening“ nach Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ in Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück markieren einen Schwerpunkt auf dem unterhaltenden Musiktheater – was Sinn und sicher auch Spaß macht und in der Region eine eigene Farbe setzt. Der beliebte „Zauberer von Oz“ als weihnachtliches Fantasiestück dürfte bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen Beifall finden.

Spannendes Projekt mit dem Osthaus Museum

Ein spannendes Projekt realisiert das Theater gemeinsam mit dem Osthaus Museum. Zu Ostern 2019 kombiniert es auf der Bühne Claudio Monteverdis berührendes dramatisches Madrigal „Combattimento di Tancredi e Clorinda“ mit einer Präsentation von Skulpturen aus dem Museum und will mit dieser Verbindung der Künste die existenziellen Motive von Liebe, Tod und Auferstehung umkreisen.

Ab 18. Mai 2019 arbeiten Ballett und Oper zusammen in einem Doppelabend mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ und Georg Friedrich Händels „Wassermusik“. Alfonso Palencia übernimmt die Inszenierungs-Choreografie und wird mit Sängern und Tänzern einen dialogischen Abend erarbeiten, der mit Mut zum Risiko die Schranken zwischen den Sparten einzureißen verspricht. Das Ballett eröffnet Alfonso Palencia zu Beginn der Spielzeit am 15. September mit der Wiederaufnahme eines Klassikers: „Cinderella“ mit der Musik Sergej Prokofjews (Premiere war am 14. April).

„Trotz aller Unkenrufe – es gibt das Schauspiel in Hagen und es wird es weiter geben“, verkündete Hüsers bei der Pressekonferenz. Im Programm stehen Shakespeares „Wie es euch gefällt“ mit der bremer shakespeare company und eine Adaption des Romans „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum vom Rheinischen Landestheater Neuss, aber auch ein Solo-Abend mit Marilyn Bennett, der einer Figur aus James Joyces „Ulysses“, Molly Bloom, gewidmet ist. Als Eigenproduktion kündigt Hagen Friedrich Schillers „Die Räuber“ ab 12. Januar 2019 an – und zwar mit Kristine Larissa Funkhauser aus dem Sängerensemble als Amalia.

In den Sinfoniekonzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. Foto: Fritz J. Schwarzenberger

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. (Foto: Fritz J. Schwarzenberger)

Ein Blick ins Programm der zehn Sinfoniekonzerte lohnt sich: Beim ersten Konzert der Saison am 11. September dirigiert Joseph Trafton Gustav Mahlers Erste und das Mandolinenkonzert von Avner Dorman, der 2017 mit der Oper „Wahnfried“ in Karlsruhe einen grandiosen Erfolg feiern konnte. Im dritten Konzert am 13. November spielt ein „rising star“ der Klavierszene, Adam Laloum, das B-Dur-Konzert von Johannes Brahms; zuvor erklingen John Adams‘ „The Chairman Dances“ – ein Echo auf die künstlerisch so ergiebige Reihe amerikanischer Opern der letzten Jahre am Hagener Theater. Am 28. Mai 2019 kombiniert Trafton Adams‘ „Harmonielehre“ mit Richard Strauss „Ein Heldenleben“.

Auch in den anderen Konzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken, ob Sinfonien von Luigi Boccherini, die Uraufführung eines Konzerts für Horn und Trompete von Wolf Kerschek am 9. Oktober, verbunden mit Dvořáks Sechster Symphonie, Werke von Ralph Vaughan Williams oder am 18. Juni 2019 ein Abend mit HK Gruber und dem Pianisten Frank Dupree mit amerikanischer Musik von Gershwin und Weill bis Duke Ellington. Und wer sich für regionale (Musik-)Geschichte interessiert, dem sei das Gedenkkonzert an den ersten Großangriff auf Hagen 1943 am 1. November 2018 ans Herz gelegt. Darin erklingt die „Trauermusik“ des damaligen Hagener GMD Hans Herwig.

Info: www.theaterhagen.de




Parallelwelt, Schwanensee, Taubensuppe – Theater Dortmund stellt sein Programm für die kommende Spielzeit vor

Auch wenn es auf diesem Foto nicht so scheint – im Dortmunder Opernhaus tobt in der kommenden Spielzeit wieder das Leben (Foto: Philip Lethen / Theater Dortmund)

Gabriel Feltz fehlte. Ein wichtiger Termin auf dem Balkan hinderte den Orchesterchef  daran, an der Programmpressekonferenz des Theaters Dortmund teilzunehmen. Doch Feltz hatte ein sehr nettes Video mit Musikumrahmung vorbereitet, in dem er seine Pläne schilderte. „Krieg und Frieden“ sei das Leitthema des Orchesters in der kommenden Spielzeit, verkündete er, und deshalb gelangt nun viel Musik zur Aufführung, die auf die eine oder andere Weise damit zu tun hat – von Beethovens „Eroica“ bis zu Schostakowitschs „Leningrader“.

Thorsten Schmidt und Philip Pelzer in „Tschick“. Das Stück wird auch in der Spielzeit 2018/2019 im Kinder- und Jugendtheater gespielt (Foto: Birgit Hupfelf/Theater Dortmund)

Konzert zu „Panzerkreuzer Potemkin“

Die Reihe Wiener Klassik macht die europäischen Metropolen Wien, Paris und Berlin zu Themenschwerpunkten der einzelnen Abende und bedient so das Thema ganz mustergültig, weil Metropolen immer mit Krieg und Frieden zu tun haben. Start ist in „Wien“ am 3. Dezember 2018 mit Beethovens „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria op. 91“, immerhin.

Ansonsten im Programm: schöne Sonderkonzerte, unter denen das Stummfilmkonzert „Panzerkreuzer Potemkin“ (26.3.2019) besonders auffällt, Kammerkonzerte, Familienkonzerte, Babykonzerte („Maxi“ und „Mini“). Es findet sich alles im einwandfrei strukturierten Programmbuch und im Netz, deshalb erspare ich mir hier das Aufzählen der weiteren Highlights und Merkwürdigkeiten.

Auslastung nahe an 80 Prozent

Das Orchester habe zahlreiche Gastspiele in fernen Landen absolviert, Mahler und Rachmaninow seien jetzt gänzlich eingespielt, die 80-Prozent-Marke bei der Auslastung sei so gut wie erreicht. Als Feltz in Dortmund anfing, erinnert er sich, lag die Marke bei 65 Prozent. Da kann man schon stolz sein.

Das Ballett plant wieder zwei Premieren. Zum einen gibt sich Chef Xin Peng Wang an Dantes Göttliche Komödie und inszeniert im ersten Teil „Inferno“. Bis 2021 soll jedes Jahr ein weiteres Teilstück hinzukommen (Musik von Michael Gordon und Kate Moore, Uraufführung Samstag, 3.11.2018).

Die zweite Premiere ist wieder ein Gemeinschaftswerk dreier Choreographen. Douglas Lee, Jacopo Godani und Wubkje Kuindersma haben „Visionen“ (erstmalig am 9.3.2019).

Wiederaufnahme des Balletts: „Alice“ (Foto: Theater Dortmund)

„Alice“ bleibt

„Schwanensee“, in Xin Peng Wangs Einrichtung erstmalig 2012 in Dortmund zu sehen, ist ebenso bei den Wiederaufnahmen wie „Alice“ nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti mit Musik der Gruppe Assurd. Zwei internationale Ballettgalas sind für Mitte Oktober 2018 und Juli 2019 eingeplant. Außerdem, in Stichworten: Sommerakademie, Seniorentanztheater, Open Classes und etwas Drumherum.

„Echnaton“ von Philip Glass

In der Oper „Aida“, Der Barbier von Sevilla“, „Das Land des Lächelns“, „Turandot“ und (immerhin) „Echnaton“ von Philip Glass. Regie und Choreographie bei „Echnaton“ führt Demis Volpi, und es steht zu hoffen, daß ihm Besseres gelingt als Laura Scozzi in Bonn mit ihrer verunglückten Verlagerung des Stoffes in eine Schulklasse mit submotivierten Pubertierenden.

Neben den erwähnten unverwüstlichen Ohrwürmern findet sich mit „MusiCircus“ nach John Cage oder „Fin de partie – Endspiel“ von György Kurtág auch Experimentelles im Spielplan, doch ist so etwas wie ein Stil des Hauses nicht recht erkennbar. Anders als sein Vorgänger Jens Daniel Herzog inszeniert der neue Intendant Heribert Germeshausen nicht selber, sondern plant in großen Würfen. Die Oper werde sich zukünftig in die Stadtgesellschaft öffnen, sagt er, und ab 2020 stehe Wagner verstärkt im Fokus. Von 2021 bis 2024 soll ein kompletter „Ring“ neu entstehen.

Neue Ästhetik im Sprechtheater?

Im Sprechtheater arbeitet Schauspielchef Kay Voges an einer Koproduktion mit dem Berliner Ensemble, Titel „Die Parallelwelt“. Das Projekt, erläutert er, basiere auf der Grundkonstellation, daß an zwei Orten zur gleichen Zeit zwei identische Aufführungen stattfinden. Und daß diese miteinander, via Glasfaserkabel und Videokunst, miteinander in Verbindung treten. Nach dem Weggang Claus Peymanns steht der neue Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, solchen experimentellen Projekten positiv gegenüber. Man darf also gespannt sein, ob es beim technischen Spiel bleibt oder ob mit seiner Hilfe eine neue Ästhetik, neue Kunst mithin, erwächst.

Das Schauspiel zeigt weiterhin „Das Internat“. Bild mit Ensemble und Studenten der Folkwang UniversitäŠt der KŸünste (Foto: Birgit Hupfeld  /Theater Dortmund)

Horror – frei ab 18

Jörg Buttgereit, „der Papst des deutschen Horrors“ (O-Ton Voges), setzt mit dem Stück „Im Studio hört Dich niemand schreien“ zu neuen Schandtaten an, und sicherheitshalber hat das Theater hinter diese Ankündigung schon mal den „ab 18 Jahren“-Vermerk geschrieben. Eine „Hedda Gabler“ sticht ins Auge, die der Regisseur Jan Friedrich im Studio zur Aufführung bringen will, ebenso ein Stück des Dortmunder Sprechchores, in dem es „über Fußball und heimliches Begehren“ geht. Genauer gesagt geht es in „Echte Liebe“ um Homosexualität, die im Fußball nach wie vor kaum akzeptiert wird.

Viele Wiederaufnahmen

Diverse größere und kleinere Sachen stehen in der Ankündigung, einige noch etwas unfertig, daneben etliche Wiederaufnahmen: „Das Internat“, „Biedermann und die Brandstifter/Fahrenheit 451“, „Der Theatermacher“, „Die Show“, „Zerline“, „Der Kirschgarten“, „Endspiel“, „4.48 Psychose“ und weitere.

Gerburg Jahnke führt Regie

Ja und dann ist da Gerburg Jahnke, die man vielleicht noch als eine Hälfte der „Missfits“ in Erinnerung hat, die treffsicheres Frauenkabarett macht und regelmäßig auch Regie führt. Jetzt tut sie das in Dortmund, im Stück „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“. Das Stück entstand nach dem gleichnamigen Roman von Anna Basener und beschreibt launig das Aufeinandertreffen der hippen Nichte aus Berlin, die eine vielversprechende, aber erfolglose Designerin von Damenschlüpfern ist, mit – eben – Oma, die einen Großteil ihres Erwerbslebens als Puffmutter verbrachte. Die Musik macht, wie in vielen anderen Produktionen auch, Tommy Finke, und den Kostümverantwortlichen, wenngleich er schon lange im Geschäft ist, muß man einfach seines „märchenhaften“ Namens wegen einmal wieder nennen: Michael Sieberock-Serafimowitsch, die Bühne gestaltet er auch.

Anke Zillich wechselt vom Schauspielhaus Bochum an das Theater Dortmund (Foto: Schauspielhaus Bochum)

Abiturstoff im Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) schließlich tritt mit acht Premieren an, von denen zwei – „Fast Faust“ nach Goethe und „Der Sandmann“ nach einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann – demnächst auch Abiturstoff sein sollen. Alle Produktionen sind präzise auf Altersgruppen zugeschnitten, was durchaus auch als künstlerische Herausforderung gesehen werden muß.

„Cinderella“ ist das neue Weihnachtsmärchen (ab 6 Jahren). Als Autor zeichnet KJT-Chef Andreas Gruhn selbst, und er bediente sich der Vorlage Charles Perraults. Uraufführung ist am 15. November, glücklicherweise jetzt wieder im renovierten Schauspielhaus, wo hoffentlich genug Platz für die erwarteten Besucherscharen sein wird.

Weitere Programminfos, noch einmal sei es gesagt, stehen im dicken Programmbuch. Lediglich eine Personalie sei noch erwähnt: Schauspielerin Anke Zillich wechselt vom Bochumer Schauspielhaus nach Dortmund. Fraglos eine Bereicherung des Ensembles.

www.theaterdo.de




Lagerfron und „Soma“-Trip: Dominique Horwitz inszeniert Schostakowitsch-Operette in Gelsenkirchen

Die Arbeitsanzüge schweben von der Decke: Eröffnungsszene aus der Schostakowitsch-Operette „Moskau, Tscherjomuschki“ am MiR Gelsenkirchen (Foto: Bettina Stöß)

26 Jahre lang mochte Dmitri Schostakowitsch keine Oper mehr schreiben, nachdem Josef Stalin seine „Lady Macbeth von Mzensk“ öffentlich ächtete und der Komponist lange, schlaflose Nächte in Todesangst verbrachte. Erst in der Tauwetterperiode der Chruschtschow-Ära wandte er sich wieder dem Musiktheater zu.

Zum allgemeinen Erstaunen schrieb er 1958 eine Operette, die sogleich große Beliebtheit errang: „Moskau, Tscherjomuschki“ erzählt von Wohnungsnot und Korruption und vom Glücksstreben einfacher Leute, die sich in der gleichnamigen Trabantenstadt ein besseres Leben erhoffen.

Selten und eher als kleine Produktion auf Werkstattbühnen findet sich die musikalische Komödie heute auf den Spielplänen. Das Gelsenkirchener Musiktheater gönnt dem Dreiakter jetzt sein Haupthaus, vertraut die Inszenierung aber einem Regie-Novizen an, dem prominenten Sänger und Schauspieler Dominique Horwitz. Eine Fehlentscheidung, wie sich leider bald heraus stellt.

Horwitz glaubt nicht daran, dass die Geschichte vom Kampf dreier Paare um das kleine Glück und um den heiß begehrten Wohnungsberechtigungsschein heute noch trägt. Das Werk dient ihm lediglich als Folie, um Systemkritik nach Ost wie West zu üben.

Der Opernchor des MiR in Reih und Glied (Foto: Bettina Stöß)

Bühnenbild und Kostüme von Pascal Seibicke zeigen uns eine Lager-Tristesse, als seien wir versehentlich doch in die „Lady Macbeth“ geraten. Das Aufsichtspersonal trägt Komsomolzen-Grau, die Arbeiter tragen Anzüge in Guantanamo-Orange. Die Ausgabe von Glückspillen hat Horwitz dem dystopischen Roman „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley entlehnt. Dort heißt der Stoff „Soma“ und macht die ach so wundervolle Moderne erst so richtig schön. Das organisierte Fähnchenschwenken zielt auf den Sozialismus, die Beschwörung der Arbeit als allein seligmachender Lebensinhalt auf den Kapitalismus, die rhythmische Sportgymnastik im Rudel auf den Faschismus.

Die Frau als Opfer bleigrau gekleideter Komsomolzen (Foto: Bettina Stöß)

Dergestalt rührt Horwitz allerhand zusammen, ohne dass eine Inszenierung daraus entstünde. Im kollektiven Aktionismus auf der Bühne, der das ausgiebige Rampensingen nicht zu kaschieren vermag, gewinnt keine einzige Figur an Kontur. Welcher Sänger welche Rolle verkörpert, ist in dieser als Paradies besungenen Hölle auch egal. Wiederholt enden Szenen so spannungslos, dass wir uns beklommen fragen, wie es denn nun weitergehen soll. Die Regie weiß darauf sichtlich auch keine Antwort, denn sie lässt in solchen Momenten den Vorhang fallen.

Die eigentliche Handlung wird als Hörspiel aus dem Off angedeutet und ist für Nicht-Eingeweihte kaum zu verstehen. Aus der Fron in der Spielzeug-Fabrik entlassen, streifen sich die Arbeiter Ritter- und Feenkostüme über, fechten Holzschwert-Kämpfe aus und kreischen vor Vergnügen. Wir geraten vom Lagerkoller und einer – übrigens gänzlich unmotivierten – Vergewaltigungsszene geradewegs in einen Kindergeburtstag. Ratlosigkeit macht sich breit.

Ritterspiele: Wenn die Akkordarbeit beendet ist, bricht Kindergeburtstagsstimmung aus (Foto: Bettina Stöß)

So wird die Chance vertan, Schostakowitschs ebenso ungewöhnliches wie unterhaltsames Bühnenwerk einmal so recht ins Rampenlicht zu rücken. Unter dem Dirigat von Stefan Malzew gibt sich die Neue Philharmonie Westfalen durchaus mit Erfolg Mühe, den schmachtend-sentimentalen Walzern und feurigen Galopps russisches Temperament einzuhauchen.

Auch die Tänzer des MiR-Balletts, der Opernchor und das Gesangsensemble sind engagiert und klangvoll dabei, aber eine zündende Party kann es in diesem Tscherjomuschki-Albtraum nicht geben. Sängerinnen und Sänger wie Almuth Herbst, Piotr Prochera, Bele Kumberger, Petra Schmidt und Anke Sieloff können wesentlich mehr, als sie hier zeigen dürfen.

„Und täglich grüßt das Murmeltier“ will Horwitz uns vermutlich sagen, wenn er die Eingangsszene zum Abschluss wiederholen lässt. Zu diesem Zeitpunkt ist es beinahe wie im Film: Es ist doch erleichternd, wenn der Spuk vorbei ist.

Termine und Infos:
https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2017-18/moskau-tscherjomuschki/

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Operetten-Passagen (9): Paul Abrahams „Märchen im Grand Hotel“ wirft leise satirische Blicke auf das mondäne Leben

Hotels, die großen, mondänen, waren und sind bis heute Traumorte: Hier verkehren Menschen, die Geschichten mit sich tragen; hier gibt es Skandale und Geheimnisse; hier tummeln sich Verliebtheit und Verbrechen. Heute ist kaum mehr zu ermessen, was die Hotels der Vorkriegszeit bedeuteten: Man schlief und speiste nicht nur im Hotel, man vergnügte oder verbarg sich, man tanzte und träumte.

Tanzt erstklassig: Sarah Bowden in Paul Abrahams "Märchen im Grand Hotel" an der Komischen Oper Berlin. Foto: Robert-Recker.de

Tanzt erstklassig: Sarah Bowden in Paul Abrahams „Märchen im Grand Hotel“ an der Komischen Oper Berlin. Foto: Robert-Recker.de

Das Hotel war der magische Brennpunkt des luxuriösen Lebens, das der eine aus dem Vollen schöpfte, der andere wenigstens für ein paar Stunden erhaschte. Kein Wunder, dass es Menschen gab, die quasi im Hotel existierten. Ein letzter Spross dieser Hotelkultur war wohl der legendäre Opern-Erklärer Marcel Prawy, der hinter der Wiener Staatsoper im Hotel Sacher seine letzten Jahre verbrachte.

„Märchen im Grand Hotel“ – der Titel der kaum mehr bekannten Operette von Paul Abraham, die an der Komischen Oper Berlin wiederentdeckt wurde, ließ also zur Zeit ihrer Uraufführung 1934 eine ganze Lichterkette von Assoziationen aufgehen. Man wusste, wovon sie erzählt, oder man konnte es sich nach Vicki Baums 1929 erschienenem Roman „Menschen im Hotel“ – bereits drei Jahre später Thema eines mit dem Oscar geschmückten Films – irgendwie vorstellen. Und Abraham selbst, der Jahre seines Lebens in Hotels verbrachte, hatte wohl aus eigener Erfahrung einen sehr konkreten Begriff von Glanz und Elend der Nobelherbergen.

Paul Abraham freilich schildert nicht das vereinsamte, depressive Luxus-Treibgut, das sich in Baums Roman sammelt. Er überhöht das Etablissement – wie viele andere Operettenschreiber – zur Traumkulisse. Seine Hotelbewohner sind entweder fröhliche Angestellte wie der stets alerte Zimmerkellner Albert, oder sie sind exotisch-exzentrische Reizfiguren wie eine spanische Infantin im Exil nebst Zofe, ein mit jener verlobter Prinz und der Geldadel der neuen Welt, die Herrscher über die damals neuen Medien: ein Filmproduzent und seine selbstbewusst sorgenfreie Tochter. Figuren, die sich als Projektionsfläche für Wünsche, Träume und Begehrnisse bestens qualifizieren.

Träumen und Staunen mit Ironie

Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda, die anerkannten Operettenroutiniers, verknüpfen diese Typen nicht ohne satirischen Blick zu einer augenzwinkernd vorhersagbaren Story: Am Ende der unglücklichen Liebe zwischen Niedrig und Hoch findet sich ein toller Zufall, der alles gut werden lässt – und die neue mediale Illusionsfabrik, der Film, tut einen Teil dazu.

Dass solche Geschichten nicht in peinliche Banalität abrutschen, ist dem Talent der Macher zu verdanken, sich immer wieder mit Ironie zu distanzieren; leise genug, um ein vergnügungssüchtiges Publikum nicht beim Träumen und Staunen zu stören, aber ausreichend vernehmbar, um den Geist nicht mit dem erstbesten Groschenroman-Sujet zu betäuben.

Henning Hagedorn (links) und Markus Grimminger haben - wie bei anderen Abraham-Operetten auch - die noch auffindbaren Quellen ausgewertet und eine bühnenpraktische Fassung erarbeitet. Foto: Werner Häußner

Henning Hagedorn (links) und Markus Grimminger haben – wie bei anderen Abraham-Operetten auch – die noch auffindbaren Quellen ausgewertet und eine bühnenpraktische Fassung erarbeitet. Foto: Werner Häußner

Wortwitz ist eine Methode, musikalische Raffinesse die andere: Abraham zeigt sich in dieser nach seiner Vertreibung aus dem hakenkreuzdurchseuchten Berlin entstandenen Operette nicht ganz auf der Höhe seiner melodischen Erfindungsgabe, aber im Drive der Nummern, im Nervenreiz der Rhythmen, in der Eleganz und sprühenden Farbigkeit der auch bei diesem Werk wieder von Henning Hagedorn und Matthias Grimminger eingerichteten Instrumentation ist er ganz der Alte, wie wir ihn aus „Viktoria und ihr Husar“ oder „Ball im Savoy“ kennen.

Mit „Märchen im Grand Hotel“ hat die Komische Oper Berlin eine Reihe begonnen, die in den nächsten Jahren fünf Operetten von Paul Abraham vorstellen soll. Zu denken wäre an seine frühen Werke wie „Zenebona“ oder „Der Gatte des Fräuleins“ oder an seine ungarischen Operetten wie „Julia“, „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“, oder gar an „Tambourin“, jenes Schmerzenskind, an dem er im Exil in den USA arbeitete und das bisher nie aufgeführt wurde.

Punktgenau aufs Tempo der Operette eingeschworen

Leider sind vollständige Inszenierungen der unbekannten Trouvaillen nicht geplant, aber Hausherr Barrie Kosky weiß nur zu gut, dass eine „konzertante“ Aufführung einer Operette ein Unding ist. So richtet er auf der Vorderbühne – das Orchester sitzt dahinter – einen Spiel-Raum ein, den die von Kathrin Kath herrlich schrill kostümierten Darsteller mit flott choreographiertem Spiel ausfüllen. Den Chor ersetzt das Lindenquintett mit Arrangements á la Comedian Harmonists. Und weil Kosky einem seiner Operettenstars, Max Hopp, neben der Rolle des Albert auch die eines Conférenciers überlässt und sich die meisten Sprechtexte spart, haben die 90 Minuten auch ohne ausgebaute Szenerie das atemlose Tempo, bei dem keine Sekunde die Spannung verloren geht.

Dafür sorgen die Darsteller, allesamt hochprofessionell auf die Kunstform der Operette eingeschworen: flink, punktgenau, pointensicher, selbstironisch, aber dennoch voll in der Rolle drin. Das Manko ist nur: Das Singen ist ihre am wenigsten entwickelte Kunst. Ungeachtet der Frage, ob man in der Operette wirklich Microports verwenden sollte: Ohne Technik kämen wohl weder Max Hopp noch Sarah Bowden, die „Stars“ der Produktion, mit ihrer Stimme über die Rampe. Wie war das denn anno 1934? Vergessen wir die Frage schnell …

Nun hat es durchaus Qualitäten, wie Max Hopp, ein gescheiter Conférencier, eine wunderbar zugespitzte Sprache führt, aber für die „schönste Rose und ein Herz voller Liebe“ hätte man sich doch einen stimmbeherrschenden Operettentenor statt ein heiseres Falsettsäuseln gewünscht. Man sollte nicht jedes Unvermögen zum künstlerischen Mittel hochstilisieren.

Sarah Bowden (Marylou) ist ein anderer Fall: Sie tritt als Tanzsoubrette par excellence auf, hat Esprit und Glamour im Auftritt, kann sprechen, aber singt mit dem flach-nasalen Ton und dem aufgesetzten Vibrato, wie es im kommerziellen Musical heute üblich ist. Talya Lieberman bringt als Infantin Isabella dagegen eine sauber gestützte Stimme, ein angenehmes, vom Vibrato nicht zerschlagenes, sondern geadeltes Timbre und eine technisch abgesicherte Flexibilität mit – genau richtig für die sentimentalen Lieder, mit denen Abraham ihre Partie geschmückt hat.

Üppiger Schaum und ein wenig Pfeffer

Johannes Dunz, adrett im Auftritt, müsste sich wohl nicht elektronisch stützen lassen; sein frischer Tenor verspricht hinter dem technisch aufgepeppten Sound einen attraktiven „Natur“-Klang. Philipp Meierhöfer als Filmproduzent Sam Makintosh ein quirliger Lieferant eines musikalischen Running Gags und Tom Erik Lie als soignierter Hotelbesitzer und en travestie als überdrehte spanische Gräfin in ebenso herrlich überdrehter Robe pfeffern die Handlung mit genau dem richtigen Zuviel, das vor der Überwürze des Klamauks gerade noch gefeit ist.

Mit Adam Benzwi steht ein operettenversierter Dirigent am Pult des Orchesters der Komischen Oper, der weiß, wie die Rhythmen der damaligen Modetänze flexibel zu halten, wie instrumentale Details zu beleuchten, wie Tempo in Schmiss zu verwandeln ist. Da geht es oft um agogische Detailarbeit, um Präzision im Laissez-faire, um den treffsicheren Geschmack in der Phrasierung.

Die Bühne ist allerdings nicht der optimale Spielort für das üppig besetzte Orchester: Der Klang bleibt oft unbestimmt, Details sind im Raum nicht durchgezeichnet, die verstärken Stimmen übertönen die Finessen. Dennoch: Paul Abrahams mitreißend gemachte Musik garantiert schäumendes Vergnügen, das man gerne an anderer Stelle – und dann szenisch voll durchgearbeitet – noch einmal serviert bekommen würde.




Operetten-Passagen (8): Emmerich Kálmáns Rarität „Die Faschingsfee“ in Mönchengladbach

"Die Faschingsfee" am Theater in Rheydt: Szene aus dem ersten Akt. Foto: Matthias Stutte

„Die Faschingsfee“ am Theater in Rheydt: Szene aus dem ersten Akt. Foto: Matthias Stutte

Das Theater Krefeld-Mönchengladbach besinnt sich auf eine gute Tradition und greift wieder einmal in die stillen, dunklen Räume, in denen abseits des bis zum Überdruss ausgeleuchteten Mainstreams vergessene Werke einer Wiedergeburt auf der Bühne entgegenschlummern.

Während allein in Deutschland in dieser Spielzeit fünf Theater eine neue „Csardasfürstin“ herausbringen, wagen sich nur zwei an Unbekanntes aus der Feder von Emmerich Kálmán. Das Stadttheater Gießen spielt seine frühe Operette „Ein Herbstmanöver“ von 1909. Und in Mönchengladbach widmet sich der Regisseur und Sänger Carsten Süss im Theater Rheydt einer Operette, die vor genau 100 Jahren entstand, als der Erste Weltkrieg schon absehbar zum Zusammenbruch Europas führen sollte: „Die Faschingsfee“.

Seit der Nazizeit – Kálmán musste 1938 emigrieren – aus den Spielplänen verschwunden, feierte die flotte Reminiszenz an die Fünfte Jahreszeit in der letzten Spielzeit ein Comeback, für das Münchner Gärtnerplatztheater bearbeitet von dessen Intendant Josef E. Köpplinger. Mönchengladbach hielt sich enger an das Original von Alfred Maria Willner und Rudolf Österreicher. Süss schrieb neue Dialoge und bereinigte das personalreiche Stück um einige Nebenfiguren. Dennoch wurde der Abend, auch wegen der zwei Pausen, mit drei Stunden ziemlich lang.

Ohne flotte Wendigkeit und Selbstironie

Der Grund liegt auch im Werk selbst: Köpplinger hatte in München ein hohes Tempo vorgelegt und sein Ensemble auf rasche Reaktionen und geschliffene Pointen trainiert. Süss hat Darsteller, denen die flotte, wendige Art der Komödie, das Arbeiten auf einen zündenden Punkt hin nicht geläufig ist.

Der Regisseur und Sänger Carsten Süss. Foto: Theater Mönchengladbach/privat

Der Regisseur und Sänger Carsten Süss. Foto: Theater Mönchengladbach/privat

Wenn die unbekannte Schöne, die sich später als eine hochadelige Dame entpuppt, in der verlotterten Souterrain-Kneipe (atmosphärisch stimmige Bühne: Siegfried E. Mayer) auftaucht, zeigt Debra Hays weder die leicht genervte Arroganz gegen eine Welt, die sie sonst nie betreten würde, noch die zögerliche Verlegenheit angesichts fremder Menschen einer kaum vertrauten sozialen Schicht. Sie tritt vielmehr, nicht einmal besonders spektakulär oder gar selbstironisch, als Operettendiva auf.

Zudem konzentriert sich die Regie auf das (künftige) Liebespaar. Der Maler Victor Ronai (Mark Adler, alternierend mit Michael Siemon) hat soeben einen Preis gewonnen, der mit einem Haufen Geld dotiert ist, und freut sich in einem flotten Song („Heut flieg ich aus“) auf eine zünftige Faschingsfeier, zu der ihm die attraktive fremde Frau gerade recht kommt. Ein romantisches Auftrittslied, ein Duett im Walzertakt – und schon ist man sich sicher: „Seh’n sich zwei nur einmal, ist’s beinahe kein Mal …“. Doch das Milieu der Künstler-Bohème konkretisiert sich nicht. Chor und Statisterie liefern ihre Szenen wacker ab, aber das Bild einer Zeit von Mangel und Depression will sich nicht einstellen.

Rüde sexuelle Belästigung fegt den harmlosen Spaß beiseite

So bleiben wir in szenischen Abläufen, wie sie aus standardisierten Operetten-Arrangements bekannt sind und längst Inszenierungs-Geschichte sein sollten. Aber Halt: Wenn sich plötzlich ein öliger Schnösel unter die feiernde Gesellschaft mischt und die unbekannte Dame auf rüde Weise sexuell belästigt, verlassen wir den (stets scheinbar) harmlosen Spaß. Juan Carlos Petruzziello zeigt mit dem nötigen, auch schneidend stimmlichen Nachdruck, dass die Übergriffe nicht als Galanterie oder frivole Anspielung gemeint sind, sondern einen Mann charakterisieren, der sich wie selbstverständlich anmaßt, über andere Menschen zu verfügen.

Konfrontatin im Atelier: Fürstin Alexandra (Debra Hays) und ihr Bräutigam, Rittmeister von Grevelingen (Michael Grosse). Foto: Matthias Stutte

Konfrontation im Atelier: Fürstin Alexandra (Debra Hays) und ihr Bräutigam, Rittmeister von Grevelingen (Michael Grosse). Foto: Matthias Stutte

Leider bricht diese Exposition im zweiten Akt wieder zum – ob der vielen Dialoge – langwierigen Operettenspaß zusammen. Inzwischen wissen wir, dass die Dame der höheren Gesellschaft angehört und einen älteren Rittmeister ehelichen soll. Ihr Chauffeur nämlich ist mit einer der Bohème-Künstlerinnen liiert und weckt durch seine verzweifelten Bemühungen, das Abenteuer seiner Herrschaft nicht ausarten zu lassen, das Misstrauen seiner Lori: Gabriela Kuhn als eifersüchtiges Fräulein Aschenbrenner und Markus Heinrich als ihr der Untreue verdächtiger Favorit ziehen alle Register, um ihre turbulenten Szenen mit Charme und Schmiss über die Bühne zu bringen. Aber um die beiden herum fehlen das Tempo und der messerscharfe Schliff der Pointen. Das Fest zieht sich bis zum Finale, in dem das „hohe Paar“ nach einer Liebesnacht im Atelier, den Konventionen der Operette entsprechend, getrennt wird.

Den dritten Akt spitzt Regisseur Süss entschieden deutlicher zu: In einem muffigen Ambiente der Fünfziger Jahre – die einfallsreichen Kostüme von Dietlind Konold verorten das Werk in der Nachkriegszeit – soll die Hochzeit zwischen Fürstin Alexandra und dem Rittmeister (mit sonorer Würde: Intendant Michael Grosse höchstselbst) gefeiert werden. Unter röhrenden Hirschen taucht im Hintergrund – eine makabre Prophetie künftigen Ehelebens – ein Zitat an „Dinner for one“ auf, die Stolperfalle Eisbärfell eingeschlossen. Blond bezopfte Mädels in Höschen im SS-Schwarz tanzen auf der Tafel zu Kálmáns Schlager „Wenn die Garde schneidig durch die Stadt marschiert“ aus der „Herzogin von Chicago“.

Braune Schatten hinter konservativ-bürgerlicher Fassade

Der schmierige Typ aus dem ersten Akt, inzwischen bekannt als Staatssekretär Dr. Lothar Mereditt, schwadroniert in konservativ-grauem Cutaway von Leitkultur, Vorsehung und tausendjähriger Zukunft. Am Ende rutscht ein Wagner-Gemälde von der Wand und legt für Sekunden ein Hitlerbild frei. Süss hebt den Spiel-Realismus auf, um die Tiefenschichten einer Mentalität offen zu legen, die heute wieder alles andere als ein historisches Phänomen der Adenauerzeit ist. Hinter Wagner als Inbegriff einer bürgerlichen Kunstreligion verbirgt sich der braune Schatten; in den erstarrten Konventionen gesellschaftlichen Lebens tarnt sich ein Ungeist, der Menschen, Menschlichkeit und Moral verachtet.

Auch wer die Symbolik für zu dick aufgetragen hält, wird zugestehen müssen, dass der Versuch, die Operette aus belangloser Seligkeit zu befreien, mit konzeptionellem Ernst unternommen wurde. Die ideensprühenden Melodien Kálmáns, die das Orchester unter Diego Martín-Etxebarría sängerfreundlich und flexibel, aber manchmal auch konturenarm spielt, bekommen so einen zwiespältigen, melancholischen, sogar leise resignierten Unterton. Mit Sicherheit nicht der schlechteste Beitrag, den Krefeld mit der „Faschingsfee“ zur ausgedünnten Operetten-Landschaft der Rhein-Ruhr-Region leistet.

Vorstellungen: 21. und 31. Dezember, 4. und 16. Februar in Mönchengladbach-Rheydt; in der Spielzeit 2018/19 dann im Theater Krefeld. Info: http://theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/die-faschingsfee/




Operetten-Passagen (7): Bei Paul Abrahams „Ball im Savoy“ in Koblenz tanzt der braune Schatten mit

Szene aus "Ball im Savoy" von Paul Abraham am Theater Koblenz. Foto: Matthias Baus

Szene aus „Ball im Savoy“ von Paul Abraham am Theater Koblenz. Foto: Matthias Baus

Berlin, Februar 1933: Drinnen im Großen Schauspielhaus bejubelt die Menge der Zuschauer die neueste Operette „Ball im Savoy“. Draußen am Bühneneingang steht ihr Autor, Paul Abraham. Nazi-Schläger bedrohen den jüdischen Komponisten und hindern ihn mit Gewalt, das Theater zu betreten. Ein paar Tage später lässt Abraham den Ort seiner Triumphe hinter sich, flieht aus Berlin. „Die werden doch keinen Krieg gegen die Operette führen?“, soll er noch kurz zuvor ungläubig gefragt haben. Oh doch, haben sie geführt, und zwar mit unheimlicher Konsequenz.

Koblenz, November 2017: In der Villa des Marquis Aristide de Faublas tanzen eine Menge Gäste in den Morgen, an dem das junge Paar soeben ein pikantes amouröses Problem gelöst hat. Zunächst kaum bemerkt mischen sich zwei Männer im Schwarz der SS unter die Nachtschwärmer, zwei weitere schieben sich nach vorne.

Die Uniformierten beginnen im Takt der Musik zu marschieren. Hinter ihnen formieren sich die Feiernden zur Front. Das Licht wird fahl, Abrahams schmissige Klänge mutieren, ohne sich zu verändern, zum bedrohlichen Kampflied. Der Gleichschritt vertreibt das Paar: Mit seinen von den Flitterwochen noch nicht ausgepackten Koffern eilt es hinaus.

Inszenierung zeigt Brisanz der Zeit

Mit dieser Szene hat Regisseur Ansgar Weigner in Paul Abrahams „Ball im Savoy“ am Theater Koblenz die ganze Brisanz der Zeit des „tragischen Königs der Operette“ – wie ihn sein Biograf Klaus Waller nannte – eingefangen. Abraham versucht 1933 in Wien und Budapest, weiterzumachen, als habe sich in Europa nichts verändert, rettet sich 1939 in die USA, verkraftet den tiefen Fall und die Erfolglosigkeit nicht und kehrt psychisch zerrüttet erst 1956 nach Deutschland zurück.

Seine Musik wird nach den Krieg verharmlost und ironiefrei für den Heile-Welt-Kitsch verwendet, mit dem die „gesunde“ Operette gemäß der Kulturideologie der Nazis das Volk unterhalten sollte. Weigner macht deutlich, wie schnell der Vulkan ausgebrochen ist, auf dem man frivol und scheinbar unberührt von Politik getanzt hat.

Schon vor dem Finale des Operettenabends deutet sich an, dass der nächtliche Tanz im noblen Hotel nicht so harmlos unbeschwert ist, wie der temporeiche Schwank um die Ehe des Ex-Lebemanns und seiner zunächst arglosen Frau vermuten ließe. Da schleichen Gestalten durch das pragmatisch aus ein paar Hängern gebaute Bühnenbild von Kristopher Kempf und haben Augen und Ohren weit offen. Da wird am Rande ein Transvestit verhaftet und ein Kellner zusammengeschlagen.

Schon zu Beginn mischt sich ein Brauner unter die Gäste, die das Paar bei seiner Rückkehr aus dem Hochzeitsurlaub begrüßen. Aber Weigner lässt die Gelegenheit ungenutzt, an dieser Stelle dem bewusst zuckersüßen Postkarten-Kitsch der Introduktion schon den Schatten der untergründigen Gefahr an die Seite zu stellen. Das holde Venezia, das Abraham mit allen bewusst eingesetzten Klischees ausstaffiert und auf das Kempf eine herzförmige Reiseroute projiziert, bleibt zunächst unbehelligt.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Dann widmet sich Weigner dem ganzen kosmopolitischen Personal von Abrahams Operettenwelt: Dem französischen Roué Aristide, dem Michael Siemon seine angenehm entspannte und klangvolle Stimme leiht und der nur zu dankbar für jede Ausrede ist, um sein altes Leben wenigstens für eine Nacht weiterzuführen. Dem beflissenen Kammerdiener Archibald, den Sebastian Haake nicht an die ausgeleierten Klischees des alten Komödianten verrät. Der Madeleine von Désirée Brodka, die sich bei ihrem sensibel vorgetragenen Song „Was hat eine Frau von der Treue“ wie geistesabwesend ein Männer-Sakko überzieht, die aber im dritten Akt ihre Enttäuschung über den Treuebruch ihres Mannes etwa zu melodramatisch zelebriert.

Ihren großen Auftritt hat die Ursache aller Verwicklungen, die spanische Schautänzerin Tangolita, die einen Scheck auf ein nächtliches Mahl zu zweit einlösen will. Die dramaturgisch im Original Abrahams seltsam isolierte Szene ist mit ihren metrosexuellen Boys dem Vorbild der Inszenierung an der Komischen Oper nachempfunden. Anne Catherine Wagner spielt jedoch nicht so selbstironisch wie Agnes Zwierko in Berlin mit ihrer Körperlichkeit; ihr Dialog wirkt wie vorgelesen, und erst im Lauf des Abends gewinnt die Rolle Konturen, die aber von der Regie nicht deutlicher nachgezeichnet werden.

Temperament und darstellerisches Format

Wie Weigner überhaupt seine Figuren im Stich lässt, wenn es auf pointierten szenischen Witz oder auf genaues Interagieren ankommt. Verschenkt ist etwa die Szene des Mustapha Bey mit seinen geschiedenen Frauen, bei der es auf Timing und Schlagfertigkeit ankäme. Für diese schillernde Figur aus dem imaginierten Morgenlande bräuchte es einen versierten Komiker, der Christof Maria Kaiser (aus dem Schauspielensemble) nicht ist. Da er keine Singstimme hat und die Töne durch die Zähne presst, bleibt er den attraktiven Songs des türkischen Attachés den musikalischen Humor schuldig.

Anders die Amerikanerin Daisy Darlington, die am Ende ihrem schwerreichen Vater zum Trotz den elegant-durchtriebenen Galan heiratet: Haruna Yamazaki ist zwar nicht „dirty“ im Timbre, hat aber das Temperament für den „Känguru“-Tanz und darstellerisches Format für ihren Auftritt als Komponist „Pasodoble“. Auch Christopher Menk als unglücklicher Célestin macht gute Figur.

Dass in den Schlagern die Stimmen verstärkt werden, ist ambivalent und zeigt, dass das Aussterben der Operetten-Ensembles an den Theatern künstlerisch nicht folgenlos ist. Die durchsetzungsfähige, leichte Nonchalance einer Diva, eines Buffo-Paares, eines Sing-Schauspielers ist von einer Opernstimme eben nicht ohne weiteres zu erwarten.

Daniel Spogis am Pult der Rheinischen Philharmonie lässt sich mit den Musikern auf den Schwung der Schlager ein. Auch wenn der eine oder andere Bläser seinen Einsatz verwackelt oder den Ton zerdrückt, auch wenn manchen Momenten das Brio und eine Spur frecher Unbekümmertheit fehlt – der Biss und das Sentiment der musikalischen Ideen Abrahams sind getroffen. Der Chor, einstudiert von Ulrich Zippelius, bemüht sich erfolgreich, der tranig-zähen Statik „lebendiger Bilder“ zu entgehen und wird dabei von Ballett und Statisterie in Choreografien von Luches Huddleston jr. unterstützt.

Ein unterhaltsamer Beitrag zum Genre der Operette, genau richtig platziert zum 125. Geburtstag von Paul Abraham.

Vorstellungen am 12., 23., 31. Dezember, 11., 12., 14. Januar, 11., 12., 19. Februar, 12., 18. März 2018. Info: www.theater-koblenz.de




Operetten-Passagen (6): Rauschender Erfolg, tragischer Fall – Leben und Werk des „Operettenkönigs“ Paul Abraham

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Vor 125 Jahren (am 2. November 1892) erblickte, wohl im ungarischen Apatin, eine der prägenden Gestalten der Berliner Operette des 20. Jahrhunderts das Licht der Welt: Paul Abraham, um dessen Leben sich zahllose Mythen und Legenden ranken, hat mit „Viktoria und ihr Husar“, „Die Blume von Hawaii“ und „Ball im Savoy“ in der kurzen Zeitspanne zwischen 1930 und 1932 drei Meisterwerke der „leichten Muse“ geschaffen, bevor er von den Nazis ins Exil getrieben wurde.

In Witten/Ruhr lebt der Journalist Klaus Waller, der seit seiner Jugend von Abrahams Musik und seinem farbigen, selbst an eine Operette erinnernden Leben fasziniert ist.

Der Autor einer Abraham-Biographie erzählt in einem exklusiven Interview mit Werner Häußner über das Leben des „tragischen Königs der Operette“.

Frage: Herr Waller, wie kam es bei Ihnen zu der Begeisterung für den Komponisten Paul Abraham?

Klaus Waller: Für heutige Ohren mag das merkwürdig klingen: In den fünfziger Jahren war es unvermeidlich, den Melodien Paul Abrahams in den Rundfunkprogrammen zu begegnen. Da ich nach dem Krieg aufgewachsen bin und ein begeisterter Radiohörer war, kannte ich alle seine Melodien. Die Filme, die nach seinen Operetten gedreht wurden, habe ich damals allerdings nicht gesehen.

Den Anstoß zur näheren Beschäftigung mit Abrahams Leben gab mir viele, viele Jahre später eine Zeitungsnotiz anlässlich einer Tourneeaufführung von „Die Blume in Hawaii“. In dieser Meldung wurde über seine psychiatrische Erkrankung in New York berichtet. Ich versuchte, mich über Abraham zu informieren, aber es gab nichts. So habe ich mir Literatur besorgt und bin in das Thema ‚reingerutscht‘.

Der Autor und Abraham-Forscher Klaus Waller. Foto: Werner Häußner

Der Wittener Autor und Abraham-Forscher Klaus Waller. (Foto: Werner Häußner)

2012 habe ich dann eine Webseite erstellt. Dort habe ich Fakten gesammelt, die durch veröffentlichtes Material zur Verfügung standen. Die Recherchen zu meinem Buch haben mir gezeigt, dass die Materialien nicht nur lückenhaft, sondern vielfach fehlerhaft waren.

Was hat Sie auf die Spur der Quellen zu Paul Abraham gebracht?

Waller: Das Nachprüfen der Informationen war ein mühevolles Geschäft. Ich entdeckte zunächst viele Widersprüche, auch in den Aussagen von Abraham selbst. Mein wichtigstes Arbeitsmittel beim Mangel an zuverlässigen Quellen war die Prüfung jeder Aussage auf Plausibilität. Die Internet-Seite eröffnete mir neue Kontakte; außerdem bekam ich neues Archivmaterial, etwa von der Franz-Liszt-Akademie in Budapest, das mir dankenswerterweise Magdolna Wiebe von der Ruhr-Uni Bochum übersetzt hat. Dabei zeigte sich: Vom ‚Wunderkind‘ Abraham, als das er sich selbst stilisiert hat, kann keine Rede sein.

Gerade die Zeit, in der Abraham in Budapest studierte und seine ersten Schritte in eine berufliche Existenz startete, liegt im Dunkel. Was haben Sie herausgefunden?

Waller: Die Merkwürdigkeiten beginnen schon mit der Geburt. Alle Quellen und auch Abraham selbst geben das damals ungarische Apatin – heute im Nordwesten Serbiens – als Geburtsort an. Aber ich fand auch heraus, dass in seiner Heiratsurkunde die dortige Kreisstadt Sombor als Geburtsort genannt wurde. Dort wiederum gibt es aber keinen Eintrag im jüdischen Geburtsregister. Abraham ist jedenfalls in Apatin aufgewachsen, wo seine Familie seit Generationen lebte.

Auch die Zeit zwischen 1923 und 1927 bleibt dunkel. Sicher ist, dass Abraham als Börsenmakler gearbeitet hat und nach einem Konkurs im Januar 1924 verhaftet wurde. Keine Belege habe ich dafür gefunden, dass er mit Jazzbands musiziert oder in Kneipen Klavier gespielt habe, wie oft berichtet wird.

1927 taucht er als Kapellmeister am Hauptstädtischen Operettentheater Budapest wieder auf, schreibt 1928 für die Operette „Zenebona“ einige Lieder und führt mit „Der Gatte des Fräuleins“ seiner erste eigene Operette auf – unter anderem mit dem späteren Ufa-Star Marta Eggerth.

Waren seine ersten Operetten erfolgreich?

Waller: Die Rezension zu „Zenebona“ füllt eine ganze Zeitungsseite. Das deutet auf einen großen Erfolg hin. Abraham steht auch als Autor der Operette im Verzeichnis des ungarischen Operettentheaters. Aber der erste internationale Theatererfolg stellte sich erst mit „Viktória“ 1930 ein. Seinen ersten Hit landete Abraham allerdings schon 1929 mit dem Lied „Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier“ aus dem Film „Melodie des Herzens“. Danach hat er in rascher Folge bis 1940 – zuerst in Berlin, nach 1933 in Ungarn – eine Reihe von Filmmusiken geschrieben.

Wie kam es zur Übersiedlung nach Berlin im Sommer 1930? Spielte da der Film eine Rolle?

Waller: Der näherliegende Weg aus Ungarn wäre tatsächlich der nach Wien gewesen, um das Talent aus der ‚ungarischen Provinz‘ zur Geltung zu bringen. Offenbar hatte ihn Erich Pommer nach Berlin empfohlen. Pommer, der Entdecker Marlene Dietrichs und 1930 Produzent von „Der blaue Engel“, hatte in den USA für Paramount und MGM gearbeitet und war bei der UfA als Produzent verpflichtet. Erich Pommer hatte „Melodie des Herzens“ produziert, der als erster deutscher komplett vertonter Spielfilm gilt.

Es folgten knapp drei Jahre rauschhaften Erfolgs in Berlin, bis Abraham im Februar 1933 vor dem Nazi-Terror ziemlich überstürzt aus seiner großzügigen Wohnung in der Berliner Fasanenstraße nach Budapest flüchtete. Wie waren für Abraham die Jahre in Ungarn zwischen 1933 und 1939?

Waller: Auch für diese Jahre ist die Quellenlage dürftig. Nach Auskunft von Abrahams Frau Charlotte war Budapest ihr Lebensmittelpunkt. Abraham fuhr allerdings häufig nach Wien, schrieb die Operette „Märchen im Grand Hotel“, die 1934 im Theater an der Wien uraufgeführt wurde, und landete mit „Roxy und ihr Wunderteam“ 1936 in Budapest und ein Jahr später in Wien noch einmal einen großen Erfolg. Darüber, wie seine weiteren ungarischen Operetten, die nicht übersetzt wurden, aufgenommen wurden, kann ich nicht berichten: Die dortigen Kritiken konnte ich bisher nicht einsehen.

1939 verließ Abraham Ungarn und ging über Paris in die USA. Dort erlitt er nach Jahren der Erfolglosigkeit 1946 einen völligen psychischen Zusammenbruch und verbrachte die Jahre bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1956 in der Psychiatrie. Was ist über diese Zeit bekannt?

Waller: Abraham schrieb in den USA die Operette „Tamburin“ nach einem Libretto von Alfred Grünwald, die bis heute niemand kennt. Sie ist nie aufgeführt worden; das Material liegt in der Nationalbibliothek in New York. Ich kann nicht einmal sagen, bis zu welchem Grad dieses Werk überhaupt vollendet ist. Mehr würde ich gerne auch über die Jahre nach 1956 wissen, als ein Kreis von Freunden Abraham nach Deutschland zurückgeholt hat. Er kam ja zunächst in die Eppendorfer Psychiatrie, lebte danach aber mit seiner Frau in einer Wohnung in Hamburg. Sicher ist: Er wurde nie wieder in der Öffentlichkeit gesehen. Und der Erzählung nach soll er bis zu seinem Tode geglaubt haben, in New York zu sein.

Wie würden Sie Paul Abraham als Person charakterisieren?

Waller: Abraham war eine einzigartige, ausgesprochen schillernde Person.  Er war wohl äußerst gewinnend, aber auch prahlerisch. Über sein Leben hat er viele widersprüchliche, auch erfundene Angaben verbreitet. Er musste sich selbst stets größer machen, als er war. Und er lebte immer in der Angst vor dem Fall. Seine Tragik ist, dass er höher gestiegen ist, als er es sich je erträumt hätte, aber dafür auch tiefer fiel, als er sich das in seinen schlimmsten Albträumen ausmalen konnte.

Und Abrahams Bedeutung als Komponist? Woher kommt seine Aktualität, die Renaissance seiner Werke?

Waller: Wie bedeutend Abrahams Musik ist, möchte ich nicht beurteilen, da ich kein Musikwissenschaftler bin. Für herausragend halte ich seine melodische Erfindungsgabe. Abraham hat Melodien geschrieben, die nach 100 Jahren immer noch gültig sind. Er hat den Sprung geschafft aus der Walzerseligkeit der alten Wiener Operette in die Moderne mit ihren Jazz-, Show- und Folklore-Elementen.

Das Jazzige, Revuehafte seiner Operetten trifft das Herz unserer Zeit. Die Unruhe und Unsicherheit der Zeit Abrahams, die sich in seinen Werken spiegelt, scheint uns anzusprechen. Heute erkennen wir: Seine Musik ist fetzige Unterhaltung; sie muss raus aus dem Seniorenprogramm.

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Im 125. Geburtsjahr Paul Abrahams gibt es an einigen wenigen deutschen Bühnen Neuinszenierungen und Wiederaufnahmen seiner Operetten:

Nach der deutschen Erstaufführung von „Roxy und ihr Wunderteam“ 2014 in Dortmund zeigt das Theater Augsburg ab 9. Dezember eine neue Produktion der Fußball-Operette. Das Theater Koblenz setzt die Aufführungsserie von „Ball im Savoy“ der letzten Jahre (u.a. in Hagen) fort und bietet bis 18. März 2018 noch 13 Vorstellungen.

Die Komische Oper Berlin, an der sich Barrie Kosky – unter anderem mit einer viel beachteten Inszenierung von „Ball im Savoy“ – sehr für Paul Abraham einsetzt, eröffnet mit einer konzertanten Aufführung von „Märchen im Grand Hotel“ am 17. und 30. Dezember eine Serie, die in den nächsten Jahren unbekannte Abraham-Operetten vorstellen soll.

Die Westfälischen Kammerspiele Paderborn zeigen ab 27. Januar in einer Regie von Ingmar Otto Abrahams Hit „Die Blume von Hawaii“. Auch in Hildesheim hat die turbulente Operette am 5. Mai 2018 Premiere; es dirigiert Florian Ziemen, der sich mit historisch-kritischen Aufführungen von Operetten einen Namen gemacht hat. Ab 27. Januar 2018 spielt das frisch renovierte Gärtnerplatztheater in München Abrahams ersten internationalen Erfolg, „Viktoria und ihr Husar“.

Zur ausführlichen Information über das Leben des Komponisten:

Klaus Waller: „Paul Abraham. Der tragische König der Operette“. 240 Seiten. Erschienen 2017 in zweiter Auflage als book on demand und für 14,90 im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-7431-4328-9).

 




Fünf Sparten des Dortmunder Theaters präsentieren für 2017/18 ein üppiges Programm – Personalkarussell dreht sich

Das Programm ist üppig, das Programmbuch ein Schwergewicht. Wenn das Theater Dortmund seine Pläne für die neue Spielzeit vorstellt, mangelt es an Masse nicht. Trotzdem aber wohnt der munteren Zusammenkunft im Opernfoyer, wo die fünf Sparten Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel sowie Kinder- und Jugendtheater ihre Pläne dartun, etwas Passageres, Flüchtiges inne. Das ist auch kein Wunder, denn das Personalkarussell dreht sich.

Wie berichtet, wechselt Opernchef Jens Daniel Herzog nach der kommenden Spielzeit 2017/18 als Intendant an das Nürnberger Staatstheater, und wenige Stunden vor der Konferenz wurde bekannt, daß die langjährige Dortmunder Verwaltungschefin Bettina Pesch bereits zur kommenden Spielzeit nach Magdeburg geht. Verwaltungsdirektorin und stellvertretende Generalintendantin ist sie dann dort. Ihre Nachfolge ist noch nicht geregelt, während der Nachfolger Herzogs feststeht. Heribert Germeshausen, bislang noch Heidelberger Operndirektor, soll ihm – wie berichtet – nachfolgen.

Pesch dankte Herzog, Herzog dankte Pesch, wie sich das gehört.

Megastore ist bald Vergangenheit

Schauspielchef Kay Voges ist zwar nach wie vor im Dortmunder Boot, war aber durch die Bauarbeiten im Schauspielhaus für längere Zeit auch mehr oder weniger abwesend. Gänzlich schuldlos, wohlgemerkt, war sein Schauspiel doch gezwungen, in einer unfreundlichen Industriehalle mit dem sinnreichen Namen „Megastore“ zu spielen, wo manches gar nicht und vieles nur mit Abstrichen lief. Am 16. Dezember aber soll es jetzt wirklich wieder im Schauspielhaus losgehen, ein „Doppelabend“ aus Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ und Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ macht den Anfang, erstaunlicherweise nicht in der Regie von Voges.

Musentempel in Schwarz-Gelb: Die Ausweichspielstätte „Megastore“ im Hörder Gewerbegebiet (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kay Voges ist, gleichermaßen erstaunlich, auch nur ein einziges Mal für Regie eingetragen, Thomas Bernhards „Theatermacher“ hat er sich vorgenommen, Premiere am 30. Dezember. Grund für diese Abstinenz, so Voges, seien alte Verträge mit Gastregisseuren, die man abgeschlossen habe – lange bevor man um die sich endlos hinziehenden Bauarbeiten wußte. Jetzt sollen die engagierten Kräfte auch das Vereinbarte liefern, sonst werden Vertragsstrafen fällig, muß ja nicht sein.

Voges hat aber noch so einiges im Sack, deutet er an, will aber noch nicht darüber sprechen. Auf jeden Fall steht zu hoffen, daß das Schauspiel Ende des Jahres wieder unter zumutbaren Bedingungen in ein ruhiges, produktives, kreatives Fahrwasser zurückfindet. Angekündigt werden unter anderem „Übergewicht, unwichtig: Unform – Ein europäisches Abendmahl“ von Werner Schwab im Studio (Premiere 17.12.), ein Tschechowscher „Kirschgarten“ als opulentes Ensemblestück ebenfalls im Studio (29.12.), „Orlando“ nach Virginia Woolf (ab 11.2.2018) und leider auch wieder „Die Kassierer“.

Die Kassierer mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland (vorn) kommen wieder. Ihr neues Stück heißt „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Drei von der Punkstelle“

Die Punk-Rentnerband um Wolfgang „Wölfi“ Wendland droht die „Punk-Operette“ „Die Drei von der Punkstelle“ an (ab 26.5.2018). Und wo wir schon dabei sind: Unter den Extras und noch ohne festes Datum kündigt sich in der „Gesprächsreihe für wahre Freunde der Trashkultur“ Jörg Buttgereits Beitrag „Nackt und zerfleischt“ an. Freut euch drauf!

Auf dem Opernzettel stehen „Arabella“ von Richard Strauss (ab 24.9.), „Eugen Onegin“ von Peter Tschaikowski (ab 2.12.), „Nabucco“ von Verdi (ab 10.3.2018) und schließlich „Die Schneekönigin“ von Felix Lange als „Familienoper“ (ab 8.4.2017). Die Abteilung Leichte Muse wird von Paul Lincke, dem Erfinder des Lincke-Ufers, mit der Revue-Operette „Frau Luna“ beschickt (ab 13.1.2018), und als obligate Musicalproduktion erwartet ein geneigtes Publikum „Hairspray“ von Marc Shaiman (ab 21.10.). Kammersänger Hannes Brock, Dortmunder (Verzeihung) „Opern-Urgestein“, Homeboy, Publikumsliebling und was nicht sonst noch alles wird sich mit dieser Produktion in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden. Eine festliche Gala mit Philharmonikern und Band ist zudem am 17. Februar 2018 für Hannes Brocks Verabschiedung geplant, der Titel ist, wenn ich nicht irre, ein Satz des letzten österreichischen Kaisers Franz-Josef I.: „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“ sprach er einstmals in einen Edison-Phonographen, die Aufnahme ist erhalten.

Xin Peng Wangs Ballett „Faust II – Erlösung!“ bleibt im Programm (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Abstraktes Ballett

Drei Klavierkonzerte von Rachmaninow, 6 Symphonien von Tschaikowski liefern das musikalische Material, mit dem Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang ein neues, abstraktes Ballett gestalten will, das die Namen dieser beiden Komponisten zum Titel hat. Außerdem kommt „Alice“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventure in Wonderland“, zu dem die italienische Frauenband Assurd die Musik machen wird (ab 10.2.2018). Wiederaufnahmen sind „Der Nußknacker“, ein Ballett von Benjamin Millepied, sowie „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Und die traditionsreiche Internationale Ballettgala trägt mittlerweile hohe Ordnungsziffern, XXVI und XXVII (30.9. u. 1.10.2017, 30.6. u. 1.7.2018).

Mahlers Vierte und Achte

Den meisten Platz in den gedruckten Programmankündigungen, so jedenfalls scheint es, beansprucht jedes Jahr Generalmusikdirektor Gabriel Feltz. Das liegt aber einfach daran, daß die Philharmoniker schon lange vor Spielzeitbeginn festlegen, was sie spielen werden, Reihe für Reihe, Konzert für Konzert. Und das schreiben sie dann eben auch schon auf, daher der Umfang.

Zweimal ist in der Konzertreihe nun Mahler im Angebot (die Vierte im Oktober 2017, die Achte im Juli 2018). An Mahler habe er sich in seinen ersten Dortmunder Jahren nicht herangetraut, erklärt Feltz, erst wollte er den Klangkörper besser kennenlernen. Nun aber traut er sich; auch an die Achte, die gern die „Sinfonie der Tausend“ genannt wird. Gut, tausend Mitwirkende wie bei der Uraufführung bringt Dortmund nicht auf die Bühne, aber 330 sind es schon, vor allem wegen der machtvollen Chöre. Neben dem Knabenchor der Chorakademie Dortmund werden der Tschechische Philharmonische Chor Brno und der Slowakische Philharmonische Chor Bratislava zu hören sein.

Blick in das Dortmunder Konzerthaus (Foto: Anneliese Schuerer/Theater Dortmund)

90 Prozent Auslastung im Blick

Um die 80 Prozent Auslastung können die Philharmoniker derzeit vorweisen, das ist nicht schlecht. Wäre es da nicht an der Zeit, den Montagstermin wieder aufleben zu lassen? Feltz’ Vorgänger Jac van Steen hatte den dritten monatlichen philharmonischen Aufführungstermin wegen mangelnder Nachfrage abgeschafft, was die Dortmunder nicht begeisterte. Feltz sagt, er sei in dieser Frage unentschieden, im Orchester werde die Frage kontrovers diskutiert. Unter einer Auslastung von 90 Prozent allerdings sei ein weiterer regelmäßiger philharmonischer Termin schwer vorstellbar. Aber bei Mahlers 8. Sinfonie mit ihrem aberwitzigen Aufwand sollte man vielleicht mal eine Ausnahme vom Zweierzyklus machen – zumal nicht so viele Menschen ins Konzerthaus paßten wie sonst, der großen Chöre wegen.

Die Violinistin Mirijam Contzen (Foto: Mirijam Contzen/Tom Specht)

Übrigens: Die beiden Mai-Konzerte der Dortmunder Sinfoniker waren restlos ausverkauft, zweimal 1260 Plätze. Grund war, wie wir vermuten wollen, der Auftritt der Violinsolistin Mirijam Contzen, die familiäre Wurzeln in Asien, Lünen und Münster hat. Ein „Home-Girl“, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Sie spielte Tschaikowskis Violinkonzert d-Dur op. 35.

Meinung aus zweiter Hand

Schließlich das Kinder- und Jugendtheater unter Leitung von Andreas Gruhn, das mit sorgfältiger Alterszuordnung eine erstaunliche Vielzahl von Stücken stemmt. Kafkas „Verwandlung“ bringen sie für Menschen ab 14 heraus (ab 22.9.), den „Gestiefelten Kater“ (ab 10.11.) finden wir – als Weihnachtsmärchen – auf der Liste der Premieren ebenso wie etliche pädagogisch unterfütterte Projekt-Stücke, Stück-Projekte, die sich um Themen wie Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Existenzangst drehen, um Schwierigkeiten und Chancen und manchmal auch um dumme Rollenbilder. Von Omas und Opas in meinem Alter, die dort mit den Enkeln hingehen, höre ich immer wieder begeisterte Berichte über die Qualität des Kinder- und Jugendtheaters. Ich gebe das mal so weiter, Meinungen aus zugegeben zweiter Hand, trotzdem recht seriös in meinen Augen.

So viel erstmal in groben Zügen. Natürlich wird in allen Sparten noch viel mehr gemacht, als in diesem Aufsatz erwähnt werden konnte. Das dicke Programmbuch, das man mit seiner Orange-Dominanz und seinen 60er-Jahre-Schriften gestalterisch nicht unbedingt gelungen nennen muß, liefert eine Menge Informationen zur kommenden Spielzeit, die Lektüre ist ausdrücklich anempfohlen. Dem Schauspiel schließlich sei gewünscht, daß dessen karge Megastore-Zeit nun recht bald enden möge und sich der Vorhang wieder im angestammten Theater hebt.

 




Programmlinien langfristig verfolgen: Pläne von Philharmonie und Aalto-Theater Essen in der nächsten Spielzeit

240 Seiten in Gold: Das Jahresheft der Philharmonie Essen. Abbildung: TuP

240 Seiten in Gold: Das Jahresheft der Philharmonie Essen. Abbildung: TuP

Ein Afrika-Festival, die Erstaufführung eines neuen Violinkonzerts von Anthony Turnage durch den Artist in Residence Daniel Hope, ein Porträt des Komponisten Jörg Widmann, der 100. Geburtstag von Leonard Bernstein, Heinrich Marschners romantische Oper „Hans Heiling“ und Giuseppe Verdis beliebter „Troubadour“ mit drei Gästen: Die Theater und Philharmonie Essen – kurz TuP genannt – will auch in der Spielzeit 2017/18 trotz angespannter finanzieller Lage ein vielfältiges und anspruchsvolles Programm bieten. Das Aalto-Theater hat erstmals seit zehn Jahren die Zahl seiner Neuproduktionen auf sechs erhöht und bietet Operettenfreunden mit Johann Strauß‘ „Eine Nacht in Venedig“ wieder einmal eine Premiere in diesem einst beliebten, heute an den Rand gedrängten Genre.

Im Gespräch mit den Revierpassagen zieht Intendant Hein Mulders die programmatischen Linien weiter: Der seit 2013 gepflegte Blick auf das weite Feld der „slawischen“ Musik richtet sich diesmal auf Bedřich Smetanas beliebte Oper „Die verkaufte Braut“, dirigiert von GMD Tomáš Netopil (Premiere am 14. Oktober) und inszeniert von dem tschechischen Team SKUTR (Martin Kukučka und Lukáš Trpišovský). Flankierend dazu erklingen im Programm der Essener Philharmoniker zwei Raritäten: Antonín Dvořáks „Sinfonische Variationen“ op. 78 und Bohuslav Martinůs Konzert für Streichquartett und Orchester mit dem Pavel Haas Quartett (7./8. September).

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Auch für 2018/19 kündigt Mulders weitere Entdeckungen aus dem Erbe dieser an Musik so reichen Länder an. Dvořáks sinfonische Musik steht auch im Programm von Gastorchestern: die Siebte erklingt am 11. März 2018 mit dem Houston Symphony Orchestra unter Andrés Orozco-Estrada, die Achte unter Thomas Hengelbrock am 15. September mit dem Royal Concertgebouw Orkest.

Eine Oper über Bergbau

Das Aalto-Theater nimmt das Ende des Bergbaus im Ruhrgebiet 2018 zum Anlass, Heinrich Marschners „Hans Heiling“ in einer Regie von Andreas Baesler zu zeigen. Die selten gespielte romantische Oper, die in den letzten Jahren nur in Wien und Regensburg zu sehen war, handelt von einem Erdgeist, dessen Kameraden in der Tiefe nach verborgenen Schätzen graben. Hans Heiling allerdings sehnt sich danach, Mensch zu werden und folgt gegen den Rat seiner Mutter, der Königin der Erdgeister, seiner Liebe zu dem Bauernmädchen Anna – mit fatalen Folgen. Frank Beermann wird sich der Musik Marschners annehmen, die in ihrer innovativen Art erheblichen Einfluss auf Richard Wagner hatte.

Das Repertoire des Essener Opernhauses wird mit Neuproduktionen von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Giuseppe Verdis „Il Trovatore“ und Richard Strauss‘ „Salome“ in einer Inszenierung von Mariame Clément und mit Netopil am Pult erweitert. Offen bleibt der Wunsch nach Aufführungen zeitgenössischer Opern – ein Thema, dem schon Mulders Vorgänger Stefan Soltesz mit wenigen Ausnahmen ausgewichen ist. Aber der Intendant ist sich dieser Lücke bewusst: „Wir beabsichtigen längerfristig, eine Uraufführung anzusetzen und auch erfolgreiche zeitgenössische Oper nachzuspielen.“

Teure Gagen sind nicht mehr möglich

Aber Mulders macht kein Hehl daraus, dass der Mut zu Neuem durch die knapp gewordenen Finanzen nicht gerade beflügelt wird. „Bei bisher nur fünf Neuproduktionen sind die Möglichkeiten begrenzt und man muss sehr genau hinschauen, was man wählt.“ Essen sei eben nicht Frankfurt, wo Intendant Bernd Loebe in der Spielzeit bis zu zwölf neue Inszenierungen anbieten kann. „Bei uns ist kein Fleisch mehr auf den Knochen“, beschreibt Mulders die Lage. Das zeigt sich übrigens auch in den Besetzungen: Gagen für teure Gastsänger sind – anders als zu Soltesz‘ Zeiten – nicht mehr drin.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Höhepunkte im Programm der zwölf Sinfoniekonzerte der Essener Philharmoniker sind große Sinfonien wie die Fünfte, die „Reformations-Symphonie“, von Felix Mendelssohn-Bartholdy (28./29. September), Bruckners Achte unter Philippe Herreweghe (14./15. Dezember), Tschaikowskys Vierte (12./13. April 2018) oder Mozarts g.Moll-Sinfonie Nr. 40 am 5./6. Juli 2018. Immer wieder ergeben sich reizvolle Kombinationen wie etwa am 8. und 9. Februar 2018, wenn Tomáš Netopil Leonard Bernsteins „Divertimento für Orchester“ mit Gustav Mahlers Neunter Sinfonie verbindet und damit auf die Bedeutung hinweist, die Bernstein als Dirigent für die Neuentdeckung der sinfonischen Werke Mahlers hat.

Schwerpunkt zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag

Er gestaltet als Artist in Residence acht Konzerte: Daniel Hope. Foto: Margaret Malandruccolo

Er gestaltet als Artist in Residence acht Konzerte: Daniel Hope. Foto: Margaret Malandruccolo

Bernsteins 100. Geburtstag zieht sich durch die gesamte Spielzeit: Etwa am 17./18. Mai 2018, wenn Daniel Hope unter dem Stichwort „Hollywood“ Erich Wolfgang Korngolds Violinkonzert spielt, flankiert von einer Bearbeitung von Max Steiners Filmmusik zu „Vom Winde verweht“; Bernsteins „On the Waterfront“ und einer raren Suite für Violine und Orchester des in USA erfolgreichen, aus Nazi-Deutschland vertriebenen Kurt Weill. Oder im letzten Sinfoniekonzert am 5./6. Juli 2018, wenn eine von Charlie Harmon arrangierte Suite aus Bernsteins „Candide“ erklingt, verbunden mit dem Klarinettenkonzert von Aaron Copland, einem engen Freund und bewundertem Vorbild Bernsteins.

Auch auf die weniger spektakulären Formate der Philharmoniker sollte geachtet werden: In den acht Kammerkonzerten etwa erklingen nicht nur Zugstücke wie das Septett op. 20 von Ludwig van Beethoven, sondern etwa auch dessen Serenade op.25, kombiniert mit einem Notturno von Václav Tomáš Matějka, der unter anderem als Gitarrist im Wien der Beethoven-Zeit bekannt war (15. Oktober). Am 14. Januar 2018 präsentiert Christina Clark französische Lieder und Chansons, bereichert von einem Arrangement von Paul Dukas‘ „Zauberlehrling“ und einem Quartett aus der Pariser Zeit von Bohuslav Martinů in der originellen Besetzung Klarinette, Waldhorn, Cello und kleine Trommel.

Erstmals ein Weltmusik-Festival

Erstmals bietet die TuP mit Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung ein Weltmusik-Festival: Unter dem Titel „Sounds of Africa“ kommen von 25. bis 27. Mai 2018 international gefragte Stars aus Westafrika zu vier Konzerten in Philharmonie und Stadtgarten. Auch das Festival NOW! wird fortgeführt und steht in seiner mittlerweile siebten Ausgabe unter dem Stichwort „Grenzgänger“: Gemeint sind Musiker, die sich im Grenzbereich zwischen klassischer Komposition und Jazz, europäischer und außereuropäischer Musiksprache oder der Synthese von Musik mit Bild, Video und Tanz bewegen.

Michel van der Aa. Foto: Marco Borggreve

Michel van der Aa. Foto: Marco Borggreve

Ein aufwändiges Projekt ist die deutsche Erstaufführung der 3-D-Filmoper „Sunken Garden“ des Niederländers Michel van der Aa, Kagel-Preisträger des Jahr 2013, am 29. Oktober. Eröffnet wird NOW! am 20. Oktober vom Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra unter Sascha Götzel und den Solisten Daniel Hope und Vadim Repin, die Mark-Anthony Turnages neues Konzert für zwei Violinen „Shadow Walker“ zum ersten Mal in Deutschland spielen. Dazu erklingt Musik von Ives, Adams, Bartók und Ferit Tüzün. Und am 4. November steht Jörg Widmann im Mittelpunkt eines Konzerts mit dem Ensemble Modern.

Verengtes Konzertrepertoire

Der Blick in das 240 Seiten starke goldene Programmbuch der Philharmonie Essen lässt die – auch anderswo – zu beobachtende Tendenz erkennen, das Repertoire der „großen“ Sinfonik auf die international geläufigen Namen zwischen Beethoven und der (Spät-)Romantik zu verengen: Brahms, Bruckner, Dvořák, Mahler, Schumann, Strauss – in dieser Spielzeit überraschend wenig Tschaikowski, kein Schostakowitsch, von moderner Sinfonik von Prokofjew bis Henze oder Glass ganz zu schweigen.

Ein vierteiliges Künstlerporträt widmet sich dem Komponisten, Klarinettisten und Dirigenten Jörg Widmann. Foto: Marco Borggreve

Ein vierteiliges Künstlerporträt widmet sich dem Komponisten, Klarinettisten und Dirigenten Jörg Widmann. Foto: Marco Borggreve

Mulders ist sich dessen bewusst und verweist auf das Dilemma einer Planung mit prominenten Gastorchestern und deren eigener Programmatik, aber auch auf das Publikumsinteresse: Schostakowitschs Elfte in der laufenden Spielzeit etwa sei schon ein Risiko gewesen, und ein neugieriges Publikum heranzubilden ein langwieriger Prozess, der bei knappen Ressourcen umso schwieriger zu bewerkstelligen sei.

Fatale Zwickmühle

Es zeigt sich: Die fatale, vielfach beklagte Zwickmühle funktioniert leider allzu gut. Festgefahrene Erwartungen, der Fetisch der Auslastungszahlen angesichts allzu knapper Finanzen, Promi-Dirigenten mit immergleichem Repertoire und die scheinbar schlüssige und gerechte Auslese der „Besten“ durch die Musikgeschichte wirken zuverlässig. Gegen solche Trends anzugehen, erfordert außer Mut und Kreativität vor allem (finanzielle) Ressourcen und politische Unterstützung.

Auf seine Kosten kommt das Publikum, das – sicher zu Recht – auch große Namen und angesagte Stars erwartet. Da ist ein Stern am Himmel des Gesangs gerade recht: Diana Damrau kommt am 4. Juni schon mit einem Meyerbeer-Programm in die Philharmonie und eröffnet den Konzertreigen der kommenden Spielzeit am 15. September mit dem Concertgebouw Orkest und Arien von Mozart. Ein drittes Mal ist sie am 18. Februar 2018 zu hören, diesmal in einem luxuriösen Liederabend mit Jonas Kaufmann und Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch.

Am 16. September stellt sich der Residence-Künstler Daniel Hope mit einer „Hommage an Joseph Joachim“ vor. Dem berühmten Geiger des 19. Jahrhunderts widmet er einen Duo-Abend mit Simon Crawford Philips am Klavier und Werken von Brahms, Clara Schumann und Felix-Mendelssohn-Bartholdy. Und die Reihe „Große Stimmen“ führt am 24. September Anja Harteros in die Philharmonie – mit Liedern von Schubert, Schumann und Strauss.

Weitere Höhepunkte: Arcadi Volodos mit einem Klavierabend am 3. Oktober, Händels Oper „Giulio Cesare“ konzertant am 14. Oktober mit der Accademia Bizantina, Magdalena Kožena mit Händel-Arien am 1. November, Renaud Capuçon mit drei Mozart-Violinkonzerten am 3. November, Isabelle Faust mit dem neuen Pultstar Teodor Currentzis und dem Mahler Chamber Orchestra mit Berg und Mahler am 18. November, Philippe Herreweghe mit zwei Beethoven-Außenseiterwerken, der „Chorfantasie“ op. 80 und der Messe op. 86 am 30. November und die Marienvesper des Jahres-Jubilars Claudio Monteverdi mit Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble unter Thomas Hengelbrock am 2. Dezember. Und zu Weihnachten Händels „Messiah“ mit The King’s Consort am 18. Dezember. Das neue Jahr startet dann mit Thomas Hampson (6. Januar) und Khatia Buniatishvili, die am 14. Januar Schumanns a-Moll-Klavierkonzert mit dem Kammerorchester Basel musiziert.

Info: http://www.philharmonie-essen.de
http://www.aalto-musiktheater.de
Der Vorverkauf hat begonnen, Karten-Telefon: (0201) 81 22 200.




Was der Mensch so alles glauben kann: Die neue Spielzeit im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. (Foto: Georg Lange)

Von einem mutigen Spielplan sprach Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski bei der Vorstellung der Saison 2017/18 am Musiktheater im Revier. In der Tat: Zwei Schlüsselwerke der Oper des 20. Jahrhunderts in einer Spielzeit zu inszenieren und dazu eine bissig-heitere Farce von Dmitri Schostakowitsch zu platzieren, dazu gehört Vertrauen in die eigenen Kräfte und auf ein gewogenes Publikum. Generalintendant Michael Schulz kann sich auf beides verlassen – das hat die weit über das Ruhrgebiet hinaus beachtete Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ in der laufenden Spielzeit gezeigt.

OB Frank Baranowski (links) und Generalintendant Michael Schulz bei der Vorstellung des Spielplans 2017/18. Foto: Werner Häußner

OB Frank Baranowski (links) und Generalintendant Michael Schulz bei der Vorstellung des Spielplans 2017/18. (Foto: Werner Häußner)

An solche Erfolgsgeschichten knüpft das Team des Musiktheaters im Revier an: Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ und Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ sind die prominenten Opern-Titel der neuen Spielzeit. Beide stehen für programmatische Schwerpunkte: Einmal will das MiR in den vielfältigen Chor derer einstimmen, die in diesem Jahr der Reformation gedenken – als einem der wichtigen Impulse auf dem Weg in das Denken der Neuzeit.

Zum anderen geht es dem Musiktheater im Revier um das – in letzter Zeit an verschiedenen Theatern aufgegriffene – Thema Religion und Glaube. Dazu sieht die Spielzeit auch Andrew Lloyd Webbers populäre Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ vor (Premiere am 22. Dezember). Und „Nabucco“ thematisiert das Scheitern eines Herrschers, der sich selbst zum Gott hochstilisiert. Giuseppe Verdis Oper hat sich in den letzten 30 Jahren einen Platz im Repertoire zurückerobert – nicht zuletzt wohl wegen des melodisch inbrünstigen „Gefangenenchors“. Sonja Trebes, die in dieser Spielzeit Nino Rotas „Florentiner Hut“ inszeniert hat, setzt sich mit Verdis erstem internationalem Erfolg auseinander (Premiere am 16. Juni 2018).

Ben Bauer inszeniert die „Gespräche der Karmeliterinnen“

Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ erzählt am Beispiel des bis heute geheimnisumwitterten Schöpfers des Isenheimer Altars ein Künstlerdrama über die Verantwortung des Individuums in der Gesellschaft. Ein Thema, das auch den Komponisten in seinem Leben einholte: Die geplante Uraufführung des „Mathis“ an der Berliner Krolloper wurde von den Nazis untersagt, Hindemith mit einem Aufführungsverbot belegt. „Mathis der Maler“ konnte erst 1938 in Zürich uraufgeführt werden. In Gelsenkirchen inszeniert Schulz selbst in einem Bühnenbild von Heike Scheele, die Premiere ist am 28.Oktober.

Ballettchefin Bridget Breiner und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann. Foto: Werner Häußner

Ballettchefin Bridget Breiner und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann. (Foto: Werner Häußner)

Auch „Gespräche der Karmeliterinnen“, 1957 uraufgeführt, ist in den letzten Jahren erfolgreich auf die Bühne zurückgekehrt, unter anderem in Essen, Düsseldorf, Köln, Münster. Am MiR stellt sich der Bühnenbildner Ben Bauer, einer der „rising stars“ der Regie-Szene, nach dem aktuellen „Don Giovanni“ der komplexen Thematik von Poulencs Oper nach Vorlagen von Georges Bernanos und Gertrud von Le Fort: Es geht um die Lebensangst einer jungen Frau, um den Terror der Französischen Revolution, um die Bereitschaft zum Martyrium und um die Frage, wohin ein standhafter Glaube führt, wenn eine Entscheidung gefordert ist. Ab 27. Januar 2018 ist Ben Bauers Ergebnis – und Poulencs farbig-vielfältige Musik – auf der Gelsenkirchener Bühne zu erleben.

Wenn man so will, geht es auch in anderen Stücken der kommenden Spielzeit um Glauben, freilich nicht im religiösen Sinn: In Gaetano Donizettis „L’Elisir d’amore“ glaubt ein junger Mann an die magische Wirkung eines Liebestranks – natürlich mit entzückendem Ergebnis. Die Koproduktion mit der Dresdner Semperoper hat am 5. Mai 2018 Premiere. In Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“ glaubt eine verliebte junge Frau an die beständige Liebe, die selbst den Abstand ins ferne Batavia überbrücken kann – ebenfalls mit wundervoll überraschendem Ergebnis. Thomas Rimes gibt dem Operettenklassiker für das Kleine Haus ein neues, am jazzigen Klang des Originals orientiertes Klanggewand (9. Februar 2018).

Nach der Koch-Oper gibt’s echte Suppe

Die Satire Dmitri Schostakowitschs mit dem Titel „Moskau, Tscherjomuschki“ thematisiert den nachhaltig erschütterten Glauben an die Bürokratie und andere höchst irdische Einrichtungen. Dominique Horwitz wird das Stück von 1959 auf den Irrsinn heutiger Tage beziehen (31. März 2018). Horwitz ist auch der Schöpfer einer Revue, die ab 5. November unter dem Titel „Reformhaus Lutter“ nicht nur mit gesunder Ernährung, sondern wohl auch mit kränkelnden Erscheinungen des Glaubens, Unglaubens und Irrglaubens zu tun haben wird. Dazu passt, was Moritz Eggert ab 19. November in „Teufels Küche“ anrichten wird: Die Kinderoper kocht nämlich nicht nur alle möglichen musikalische Zutaten zu einer kulinarischen Sinfonie. Es soll am Ende auch eine richtige, essbare Suppe auf dem Tisch stehen!

Szene aus dem Ballett „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ am Musiktheater im Revier. Foto: Costin Radu

Szene aus dem Ballett „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ am Musiktheater im Revier. (Foto: Costin Radu)

Bridget Breiner kündigt einen (zu) viel gespielten Klassiker an: Mit „Romeo und Julia“ zur Musik Sergej Prokofjews setzt die Gelsenkirchener Ballettchefin ihre Beschäftigung mit Shakespeare-Stoffen fort (Premiere am 17. Februar 2018). Eröffnet wird die Serie der Novitäten im Ballett am 25. November mit „Old, New, Borrowed, Blue“ – drei Arbeiten von Meistern des zeitgenössischen Tanzes, ergänzt durch Breiners „In Honour of“, entstanden 2014 für Riga. David Dawson („A sweet spell of oblivion“, 2016 schon zu sehen), Jiři Kylián (“Indigo Rose”) und Uwe Scholz (“Jeunehomme-Klavierkonzert, 2. Satz“) sind die Choreografen, von Breiner ausgewählt, weil sie von allen dreien in ihrer eigenen Arbeit inspiriert worden ist. Die dritte Premiere am 28. April 2018 ist das Debut des belgischen Choreografen Jeroen Verbruggen, der das Kleine Haus mit seiner Performance mit einem neuen Raumkonzept (Bühne: Ines Alda) in eine Lounge verwandeln wird.

Wieder aufnehmen will die Ballettcompagnie „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ anlässlich des 100. Geburtstags der 1943 in Auschwitz ermordeten Künstlerin. Der 2015 mit dem Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnete Ballettabend wird ab 29 September noch vier Mal gezeigt. Ab 5. September ist im Zeiss-Planetarium Bochum eine multimedial aufbereitete Ausstellung zur Inszenierung zu sehen: Filmähnlich montierte Serienbilder, sogenannte Sequentials, des Fotokünstlers Heinrich Brinkmöller-Becker werden auf die Kuppel des Planetariums projiziert. Passend zum Shakespeare-Projekt Breiners kehrt am 15. Oktober Cathy Marstons „Hamlet“-Ballett auf die Bühne des Musiktheaters im Revier zurück.

Info: www.musiktheater-im-revier.de, Karten-Telefon: (0209) 4097 200




Operetten-Passagen (5): Ausflug ins alte Ägypten – Nico Dostals „Prinzessin Nofretete“ kommt in Leipzig ans Tageslicht

Altägyptische Romantik: Lilli Wünscher als Prinzessin Nofretete. Foto: Ida Zenna

Altägyptische Romantik: Lilli Wünscher als Prinzessin Nofretete. (Foto: Ida Zenna)

Die altertümliche Bahnhofsuhr mahnt zur Eile. Junge Damen und Herren in adrettem Dress händigen Tickets und Reiseunterlagen aus – und los geht’s zu einer fantastischen Reise nach Ägypten. „Am schönen blauen Nil, da gibt es Mädchen viel“ heißt es in der Operette von Nico Dostal, die nun (80 Jahre nach ihrer Kölner Uraufführung) an der Leipziger Musikalischen Komödie wieder ausgegraben wurde. Und das schönste Mädchen ist weltberühmt: Die Büste der Nofretete, heute in Berlin, strahlt bis heute einen magischen Reiz aus. Die Geschichte der rätselhaften Pharaonentochter gab der Operette ihren Namen: „Prinzessin Nofretete“.

Wie kam es dazu? Bloße Lust am Exotischen? Ein Essay von Christian Geltinger im Programmheft klärt auf: Das Thema war 1936 ziemlich aktuell; drei Jahre vorher hatte Hitler durch ein Machtwort den Streit um den Verbleib der archäologischen Kostbarkeit entschieden: Niemals werde er „den Kopf der Königin aufgeben“. Nofretete, erst 1924 erstmals öffentlich zu sehen, war also ein Politikum.

Unklar bleibt nach wie vor, warum Dostals Operette gleich wieder verschwand, nie wieder aufgeführt wurde und lange Zeit als verschollen galt. Denn die Nazis hatten gewaltigen Bedarf an unterhaltsamen Stücken. Die jüdischen Librettisten, Komponisten und Interpreten waren vertrieben, ihre beliebten Werke durften nicht gespielt werden. Ersatz musste her, sollte doch die saubere, anständige deutsche Operette die „entarteten“ Produkte schnell vergessen machen.

Ägyptische Prinzessin fällt in Ungnade

Dostal tat sich offenbar nicht schwer, die neuen Machthaber zu bedienen: Seine „Ungarische Hochzeit“ sollte Emmerich Kálmáns „Gräfin Mariza“ ersetzen, seine „Monika“ anstelle des beliebten „Schwarzwaldmädels“ von Leon Jessel gespielt werden. In Dortmund hatte 1937 „Zauberin Lola“ von Eduard Künneke Premiere, dort wurde sogar die erste „Kraft durch Freude“-Operette des Reiches uraufgeführt – aus der Feder eines gewissen Hugo Lämmerhirt.

Nofretete jedenfalls fiel – aus welchen Gründen auch immer – in Ungnade. An Rudolf Köllers und Nico Dostals Text kann es wohl kaum gelegen haben, denn der Ironiepegel bleibt unter der Wasserkante des Goebbels-Geschmacks. Allenfalls die starken Frauen des Stücks, die sich gegen so autoritäre wie trottelige Vaterfiguren verbünden, passen nicht zur blondierten Unterwürfigkeit der idealen deutschen Frau von damals. Und der Pharao Rhampsinit – den gibt’s in antiken Quellen wirklich, nämlich bei Herodot – ist auch kein schnarrender „Föhrrer“, sondern eher ein politischer Schwächling.

Der Pharao und seine Tochter. Foto: Kirsten Nijhof

Der Pharao und seine Tochter. (Foto: Kirsten Nijhof)

Wie auch immer: In Leipzig haben Franziska Severin als Bearbeiterin und Regisseurin auf der Bühne von Frank Schmutzler eine opulente musikalische Komödie in schwelgerischen Kostümen von Sven Bindseil gestaltet. Sie beginnt mit einem Seitenhieb gegen den Herdentrieb des Massentourismus und findet ihren Höhepunkt in Bildern, die einer Hollywood-Aida entlehnt sein könnten.

Die gewollt absurde Handlung verblendet eine Liebesgeschichte aus dem Ausgräberlager mit einer parallelen Schmonzette aus Altägypten: Während in der „Jetztzeit“ der spleenige Archäologe Lord Callagan und die energische Matrone Quendolin Tottenham mittels Heirat von Tochter Claudia und Neffe Totty „zwei Aktienpakete zusammenlegen“ wollen, soll im Pharaonenreich Nofretete einen arroganten Prinzen Namens Thototpe ehelichen, liebt aber einen unbekannten Sänger, der sich später als kleiner Offizier in einer unbedeutenden Grenzfestung entpuppt.

Der Pharao hat aber noch ein Problem: Ein Dieb sucht nächtens seine Schatzkammer heim, der sich einfach nicht stellen lässt. So wird Nofretete ausersehen, eine Nacht alleine in dem Gewölbe eingesperrt zu werden – als Lockvogel für den Eindringling …

Cakewalk, Marsch und Dramolett

Bis sich die richtigen Liebespaare ganz nach Operettenart sortiert haben, gibt es zwei Akte und ein Zwischenspiel lang jede Menge Verwicklungen und Anlässe für gediegen gearbeitete Musik – vom kessen Cakewalk über sehnsuchtsvoll lyrische Melodie-Ergüsse, vom flotten Marsch bis zum unheimlichen Dramolett, vom spritzigen Duett  über den fidelen Schlager bis zu den melismatischen Schlangenlinien orientalisch durchtränkter Ballettmusik.

Dostal, zweifellos ein Könner seines Fachs, hat der „Prinzessin Nofretete“ zwar keine Melodie mitgegeben, die man auf der Stelle nachpfeifen könnte. Aber aufs zweite Hören funkeln die Einfälle wie Edelsteine im Zwielicht. Die Pharaonenhymne klingt verdächtig nach Reichsparteitag, aber das verpönte Saxophon hat auch seinen Auftritt.

Die Regie nutzt die Vorlage, ohne ihr einen Subtext unterzujubeln oder einen Überbau aufzusetzen: Severin verlässt sich auf die unterhaltsame Story, auf ihre animierten Darsteller und auf gekonnte, nur selten ins Klamaukige abrutschende Übertreibungen. Die drei Stunden im alten Ägypten verfliegen, als habe eine Zauberhand die Uhr vorgedreht.

Man amüsiert sich über absurde Reime („Nofretete, wo hast du deine Kette“) und über grenzwertige Sprüche („Jede Frau ist ohne Mann nur ein Fragment…“), lässt wohliges Schaudern zu, wenn sich das Tonnengewölbe des Zuschauerraums in die Decke der Schatzgruft verwandelt, riesige Käfer, Asseln und Spinnen drüberkrabbeln und sich der Meisterdieb vom Balkon auf die Bühne abseilt.

Charme in Stimme und Spiel

Buhuu ... gleich wird's gruslig: Wer ist der böse Dieb in der Schatzkammer? Foto: Kirsten Nijhof

Buhuu … gleich wird’s gruslig: Wer ist der böse Dieb in der Schatzkammer? (Foto: Kirsten Nijhof)

Die beiden Frauen, die das „Schicksal“ selbst in die Hand nehmen, sind die Archäologentochter Claudia und die Reiseführerin Pollie Miller. Die eine kennt, wie sie in einem wehmütigen Lied bekennt, die Liebe „nur aus Romanen“, setzt sich aber mit weiblichem Witz gegen ihren Vater durch – sei er nun Lord oder Pharao. Lilli Wünscher zeigt dabei viel Charme in Stimme und Spiel. Die andere steht auf den „Goldjungen“ Totty und erfüllt am Ende – zur Reporterin mutiert – die Aufgabe der seriösen Presse, die Wahrheit ans Licht zu bringen: Die Aktien-Vermähler müssen klein beigeben.

Nora Lentner zeigt Spielwitz als halb verzweifelnde Touristen-Bändigerin und energische stimmliche Qualitäten in den buffonesken Duetten mit ihrer früheren College-Liebe Totty. Dem muss mit einem schmissigen Chor („Ran, junger Mann“) erst mal etwas nachgeholfen werden; dann aber zeigt Andreas Rainer, wie der leicht linkische Millionenerbe dem familiären Gespinst seiner Tante allmählich entkommt und zu seinen wirklichen Gefühlen durchbricht.

Romantisch-resignativer veranlagt ist der archäologische Assistent des großmächtigen Professors, der sich im ägyptischen Zwischenspiel in den mittellosen Soldaten Amar verwandelt: Radoslaw Rydlewski, mit arg grellem Tenor, erreicht schließlich dank weiblicher Schlauheit auch sein Glück. Da hilft weder die subversive Energie seiner Tante (untergründig komisch: Angela Mehling) noch die geschichtsklitternden Winkelzüge seines Chefs und künftigen Schwiegervaters (Patrick Rohbeck genau auf der Bruchkante zwischen witzig und gefährlich).

Stefan Klingele versucht, mit dem Orchester der Musikalischen Komödie in der üppig instrumentierten Musik statt überbordender Lautstärke gezähmte Eleganz zu erreichen. Das gelingt anfangs nicht, im Lauf der Vorstellung aber immer überzeugender. Dostals ironische Orientalismen und seine farbenreiche Instrumentierung kommen, wie seine rhythmischen Ideen, immer vergnüglicher zur Geltung. Um bei Dostal zu bleiben: Für drei Stunden schenkt uns die Operetten-Fantasie ein Glück, das uns im Wachen nie gegeben werden könnte.

Vorstellungen am 29. und 30.  April, 6., 16. und 30. Juni, 1. Juli, 9. und 10. September, 25. und 26. November, 30. und 31. Dezember 2017. Karten: (0341) 12 61 261, www.oper-leipzig.de




Operetten-Passagen (4): Karneval auf der Bühne – Emmerich Kálmáns „Die Faschingsfee“ in München ausgegraben

Eine Operetten-Rarität in München, passend zum Karneval: "Die Faschingsfee" von Emmerich Kálmán. Foto: Marie-Laure Briane

Eine Operetten-Rarität in München, passend zum Karneval: „Die Faschingsfee“ von Emmerich Kálmán. (Foto: Marie-Laure Briane)

Karneval, Fasching, Fasenacht: Das war früher goldene Zeit für die Operette. Heute haben die Theater in Deutschland an Rosenmontag und Faschingsdienstag meist geschlossen; wenn nicht, spielt man auch einmal „Lulu“ oder „Elektra“. Man mag zu den närrischen Tagen stehen, wie man will: Auch bei ihnen zeigt sich die Erosion von Festen, die eine ganze Gesellschaft zusammenbinden konnten.

In München sieht es – wie übrigens hierzulande in Düsseldorf („Der Graf von Luxemburg“) und Gelsenkirchen („Die lustige Witwe“) – ein wenig anders aus. Josef E. Köpplinger, Intendant des momentan wegen Generalsanierung geschlossenen Gärtnerplatztheaters, hat sich eine Operetten-Rarität vorgenommen, die noch dazu mit München zu tun hat: Emmerich Kálmáns „Die Faschingsfee“, seit Jahrzehnten, eigentlich seit der Nazi-Zeit, aus den Spielplänen verschwunden, feiert in der Alten Kongresshalle ein Comeback.

Es geht um den Münchner Fasching 1917, mitten im Ersten Weltkrieg. Damals ein zeitgenössisches Stück, denn Kálmán arbeitete eine seiner früheren ungarischen Operetten („Zsuzsi kisasszony“) um, Alfred Maria Willner und Rudolf Österreicher schrieben ein Libretto, das Köpplinger nicht gefällt – und so textete der Experte für’s Unterhaltungstheater geschickt (und ein gutes Stück frecher als im Original) Kálmáns musikalischen Münchner Künstlerfasching um.

Gesellschaftsstück und Sittendrama

So bekommt das Stück in seinen gut zwei Stunden Spieldauer ein rasantes Tempo – und wenn sich am Ende nach endlosen, amüsanten Missverständnissen die unbekannte „Faschingsfee“ als hochadeliges Blut entpuppt, das sich lieber mit dem Bohème-Maler als mit dem ältlichen Herzog vermischen will, fühlt sich das Publikum prächtig unterhalten und applaudiert mit Hingabe.

In seiner Inszenierung bleibt Köpplinger – er hat am Essener Aalto-Theater Verdis „La Traviata“ in Szene gesetzt – nicht beim harmlosen Faschingsscherz stehen. Er schärft Situationen und Charaktere und macht aus Kálmáns Kriegsablenkung fast ein gleichnishaftes Gesellschaftsstück, ein Sittendrama, das auch von Gerhart Hauptmann oder von Carl Sternheim stammen könnte.

Wenn Graf Lothar Mereditt die schöne Unbekannte anbaggert, ist das kein wohlgesetztes Charmieren, sondern sexuelle Belästigung an der Grenze zur Gewalt – und Maximilian Mayer, schneidig in Figur und Stimme, gibt den rücksichtslosen Macho, für den Frauen in solchen Etablissements einfach Freifleisch sind.

Sexuell zudringlich ohne jeden SkrupeL Maximilian Mayer als Graf Mereditt. Foto: Marie-Laure Briane

Sexuell zudringlich ohne jeden SkrupeL Maximilian Mayer als Graf Mereditt. (Foto: Marie-Laure Briane)

Das Etablissement ist von Karl Fehringer und Judith Leikauf als bescheidene Vorstadt-Kneipe aufgebaut. Ein Ambiente, in dem ausgezehrte Leute nach Festesfreuden gieren, die sich, zumal im Krieg, nur kärglich einstellen. Da helfen auch die zehntausend Mark nicht, die der Maler Viktor Ronai bei einem Wettbewerb gewonnen hat. Immerhin, das Geld ist noch etwas wert, der Maler könnte damit die Zeche für die muntere Gesellschaft begleichen – wenn nicht ein dummer Zufall den Gewinn gleich wieder in Nichts aufgelöst hätte… Daniel Prohaska singt und spielt seine Liebhaber-Rolle mit viel Einsatz, aber manchmal doch zu wenig leicht und mit einem an Schmelz armen Tenor.

Illusionslose Frau: Nadine Zeintl als Lori Aschenbrenner, hier mit Simon Schnorr (Baron Hubert von Mützelberg) und Franz Wyzner (Josef, Oberkellner). Foto: Marie-Laure Briane

Illusionslose Frau: Nadine Zeintl als Lori Aschenbrenner, hier mit Simon Schnorr (Baron Hubert von Mützelberg) und Franz Wyzner (Josef, Oberkellner). (Foto: Marie-Laure Briane)

Zu einer Studie jenseits der Tanzsoubretten-Fröhlichkeit hat Köpplinger auch die Choristin Lori Aschenbrenner ausgebaut – eines jener Theatermädchen von damals, die ihre mies bezahltes Engagements vor allem dazu benutzen mussten, sich einen besser gestellten Gatten zu angeln. Mit sexueller Selbstbestimmung war da nicht viel – und die mit dem Mundwerk ebenso flink wie mit ihren Beinen agierende Lori (Nadine Zeintl) will sich ihren jungen Baron (Simon Schnorr) unter keinen Umständen streitig machen lassen. So ist sie, ein bissl doof, ein bissl rechthaberisch, vor allem aber tief um ihre Existenz geängstigt, ziemlich rabiat dabei, ihr Revier zu verteidigen. Eine Chuzpe, der die inkognito erscheinende Fürstin – die Faschingsfee eben – nicht viel entgegenzusetzen hat.

Keine Chance für die Dame

Camille Schnoor macht deutlich, dass sich solche Frauen höheren Standes im vulgären Trubel des Karnevals nicht souverän bewegen können. Ob sie den Maler – besungen mit einem voll tönenden, dunkel gefärbten Sopran, der sich dem Metier Operette noch nicht so sicher ist – wirklich um seiner selbst willen liebt, bleibt offen: Die Dame könnte auch nur fasziniert sein, weil er ihr das Tor in eine andere als ihre steife Adelswelt geöffnet hat. Verliebt ins pralle, ungeschützte Leben?

Drumherum herrscht viel Bewegung – und Köpplinger hält das personenreiche Stück so unerbittlich in Aktion, dass es am Ende fast zu viel der Hektik wird. Ruhepunkte, etwa reflektierende Arien, Szenen inniger Liebe oder intimer Begegnung, kennt diese Operette offenbar nicht. Die rein physische Leistung von Chor, Solisten und Ballett ist bewundernswert; die Bilder klappen auf den Punkt, der Bühnentrubel ist präzise ausgearbeitet.

Zu jeder Operette gehört die große Liebe: Camille Schnoor (Fürstin Alexandra Maria), Daniel Prohaska (Viktor Ronai). Foto: Marie-Laure Briane

Zu jeder Operette gehört die große Liebe: Camille Schnoor (Fürstin Alexandra Maria), Daniel Prohaska (Viktor Ronai). (Foto: Marie-Laure Briane)

Dennoch kommen die Typen zur Geltung, die Köpplinger porträtiert und die Dagmar Morell in eine überbordende Vielfalt sehenswerter Kostüme steckt. Sie nehmen ihren Raum ein, wischen nicht einfach nur peripher vorbei. Zum Beispiel der Transvestit Julian (Josef Ellers), für den der Fasching die ideale Gelegenheit ist, unauffällig seiner Neigung zu frönen, und der eine überraschende Begegnung mit einem coolen Corpsstudenten hat. Oder der Tiermaler Lubitschek, ein wohl stets zu kurz gekommener älterer Herr, an dem Köpplinger den latenten Antisemitismus der Zeit in einer winzigen, beklemmenden Szene offenlegt. Oder das Wirtshaus-Personal, für das die Urgesteine des Theaters, Gisela Ehrensperger und Franz Wyzner, die Bühne mit ihrer Aura füllen. Oder Maximilian Berling, der als Hilfskellner Toni in ein paar Gängen und Szenen genau die Präsenz zeigt, die für seine Rolle nötig ist.

Aber Köpplinger belässt es nicht nur beim scharf beobachteten Zeitmilieu. Er zieht noch eine Ebene ein, die das Stück ins Parabelhafte steigert. Schon zu Beginn sickern geisterhafte Gestalten in den Raum: Soldaten, Rotkreuzschwestern, mit schwarz geränderten Augen, stumm, steinern in der Miene. Sie gruppieren sich um die Bühne, lassen auf Stichwort blutrote Luftballons hochpoppen, mischen sich wie unsichtbar unter die quirlige Gesellschaft. Mahnen sie an die Hunderttausende, die im Krieg einem ganz anderen Feuerwerk zu Opfer gefallen sind? Sind es die Geister der Gefallenen, die sich unter den Lebenden bewegen? Die Regie lässt diese Fragen offen – tut aber zu viel des Guten: Wenn die Toten dann im Schnee tanzen, wirkt der Bogen überspannt und das Bild verliert seine Schärfe. Weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen.

In den Händen von Michael Brandstätter liegt die Musik Kálmáns: Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz spürt mit geschmeidigen Linien den melodischen Einfällen nach, bringt die Tanzmusik auf den Punkt, lässt die Reize des Instrumentariums entdecken. Das ist hinter der Szene nicht so einfach; der Klang ist stets versucht, sich zu kompakter Mischung zu verdichten.

Aber was man hört, ist geeignet, wieder einmal den Hut zu ziehen vor der ideensprühenden Kunst des Komponisten. Auch wenn die Melodien nicht so eingängig sind wie in seinen Welterfolgen, gehen sie mit ihrer ungarischen Farbe –München klingt sehr magyarisch – ins Blut und Nummern wie „Heut flieg‘ ich aus“ haben das Zeug zu einem Mitsing-Faschingsschlager. Da geht man dann mit einem kleinen Kálmán-Schwips nach Haus und freut sich, dass es wieder einmal gelungen ist, eine lebensvolle Operetten-Partitur dem staubigen Schlaf der Archive zu entreißen. Hoffentlich ist am Aschermittwoch nicht alles vorbei…

Alle Vorstellungen waren schon vorab ausverkauft – einer Wiederaufnahme steht also, was das Interesse des Publikums betrifft, nichts im Wege.