„Kinder First. Westentasche Second.“ oder: Eine lustige Mail von der Digital-Partei

Kommt mal ein bisschen näher! Ich muss Euch was erzählen. Hinter vorgehaltener Hand. Ohne Ross und Reiter genauer zu nennen:

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Es begab sich aber zu der Zeit, dass eine kleine deutsche Partei sich zur Antreiberin und Hüterin der Digitalisierung aufschwingen wollte. Ihr oberster Guru, einer mit Zweieinhalb-Tage-Bart, gab gar in schreienden Versalien und ausgefuchstem Hipster-„Denglisch“ diese Plakat-Parole aus:

„DIGITAL FIRST. BEDENKEN SECOND.“

Das konnte man schon sprachlich ein wenig bedenklich finden, vom „Inhalt“ mal abgesehen. Aber es kommt noch besser. Dieser Tage kursierte im Raum Dortmund eine E-Mail, in der eine regionale Gliederung just jener Partei zum neudeutschen „ChancenTalk“ (Wow!) mit einem gewissen „Christian Kinder“ einlud. Moment mal! Heißt der nicht etwas anders? War nicht etwa genau der Mann gemeint, der auf dem Digital-Plakat zu sehen war? Potzblitz! Das wäre ja…

Noch rätselhafter der Name der Haltestelle, an der man aussteigen sollte, sofern man zum besagten Termin den ÖPNV nutzte (was man Anhängern jener Partei nicht unbedingt als Gewohnheit zuschreibt): U-Bahn-Station „Westentasche“. Ähemm. Die findet man wohl auf keinem Dortmunder Fahr- oder Stadtplan. Allenfalls Westentor.

„Kinder First. Westentasche Second.“?

Bald darauf kam die Korrektur. Der nicht ganz einflusslose Parteifunktionär bekannte, ein neues Tablet zu haben und damit (mit diesem digitalen Biest?) noch nicht so zurechtzukommen. Einfaches Korrekturlesen vor dem Absenden hätte vielleicht segensreich sein können. Aber wer wird denn so kleinlich sein! Obwohl: Hieß eine Lieblingslosung jener Partei nicht „Leistung muss sich wieder lohnen“?

Natürlich werde ich niemals verraten, wer den Rundbrief verfasst hat. Immerhin haut er im Vorfeld des „ChancenTalks“ (Wow!) so richtig auf die Pauke: „Wir (…) wollen Europa wieder zum Leuchten bringen“. Hoffentlich haben sie auch die entsprechenden Leuchtmittel.




Erinnerungen an die Kohle und ein sehr männliches Tanzprogramm zum Auftakt der Ruhrfestspiele

Gesundes Grünzeug für Künstler und Publikum: Im libanesischen Tanztheaterstück „Beytna“ gab es auch etwas zu essen. (Foto: D. Matvejev/Ruhrfestspiele)

Eine Frau sitzt am Tisch und schneidet Gemüse. Endlos lange tut sie das, und nach einiger Zeit fragt sich wohl jeder im Publikum, warum. Gewiss, der Stücktitel „Beytna“ gibt einen ersten Hinweis: Beytna heißt im Libanon die Einladung in das eigene Heim. Zu essen gibt es dann vielleicht Fatouch, ein traditionelles libanesisches Gericht, für das offensichtlich viel geschnippelt werden muss.

Deshalb die Frau am Küchentisch, welcher, wie man sehen wird, wenn er gedreht wurde, fast so lang ist wie die Bühne breit. Nach gehöriger Wartezeit werden Männer auftreten, einzeln, zu zweit, zu dritt, die in kraftvollen Tanzbewegungen geradezu explodieren, bevor sie wieder von der Bildfläche verschwinden. Dazu spielen vier Musiker auf Oud und Schlagzeug. Mit „Beytna“ startete das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele, gegeben im Großen Haus nach obligatorischer Eröffnungszeremonie und Dichterlesung.

Der neue Intendant der Ruhrfestspiele Olaf Kröck (Foto: Knotan/Ruhrfestspiele)

Judith Schalansky spricht

Gefolgt von flockig vorgetragenen Gruß- und Begrüßungsworten von Bürgermeister und Gewerkschaftsvertreter, einer klugen Rede des Ministerpräsidenten Armin Laschet über die nicht kleinzuredende Bedeutung der Kultur in unserer Zeit samt Ankündigung, die Landesmittel für die Ruhrfestspiele in den nächsten Jahren zu erhöhen, sowie einem etwas zu langen Vortrag des neuen Intendanten Olaf Kröck – kam schließlich die Schriftstellerin Judith Schalansky zu Wort. Ihr letztes Buch heißt „Verzeichnis einiger Verluste“, und methodisch folgerichtig reihte sie in ihrer Eröffnungsrede in diese Liste der Verluste nun den endgültigen Verlust des Kohlebergbaus im Ruhrgebiet ein.

Mythologie und Realität

Auch der Kunst-für-Kohle-Gründungsmythos der Ruhrfestspiele, es ging wohl nicht anders, fand Eingang in ihre Rede. Doch hatte sich, da wurde Fleiß erkennbar, Schalansky auch in der vorindustriellen Geschichte des Reviers umgesehen, Legenden und Spökenkiekerei aufgetan, Geschichten von hellsichtigen Menschen, die Dampflokomotiven ähnliche Drachenmonster schon erschrocken vorahnten lange bevor die erste Schiene lag. Es war dies keine Materialsammlung um ihrer selbst willen, sondern der kluge Versuch, aus Beziehungen zwischen Mythologie und Realität in der Vergangenheit Bestimmungen für das Hier und Jetzt und für eine Zukunft zu erkennen, in der die ungeheuren Umwälzungen durch Kohle und Stahl nurmehr Vergangenheit und mit wechselnden Gewichtsanteilen eben auch Mythologie sein werden.

Ein Schnaps namens „Kumpeltod“

Intelligent, differenziert, streckenweise auch überaus scharfsichtig war diese Rede, der man höchstens den Vorwurf machen könnte, die Schufterei in der Industrie allzu schnell zur heiligen Handlung zu verklären. Immerhin jedoch tauchten auch ernüchternde Kindheitserinnerungen in der Rede der 1980 in Greifswald geborenen Dichterin auf, so die an das Erholungsheim „Glück auf“ auf Usedom, wo die Bergleute der Urangrube „Wismut“ im Erzgebirge Urlaub machten. Schnaps, Bergleute wissen das, schafft etwas Erleichterung bei Silikose; der Deputatschnaps von der Wismut hieß unter den Bergleuten auf Usedom „Kumpeltod“.

Besser stünde hier natürlich das Tanzfoto, das sich wegen eines „HTTP-Fehlers“ aber nicht hochladen ließ. Deshalb kommt jetzt das erwartungsfrohe Publikum ganz groß raus. (Foto: Ruhrfestspiele)

Auch im Tanztheaterstück „Beytna“ – nach der Pause, die ärgerlicherweise um mehr als eine halbe Stunde überzogen wurde – nehmen sie irgendwann einen Schnaps. Dies ist ja ein geselliges Zusammentreffen von Individualisten, auf der Bühne wie auch, wenn man so sagen will, im richtigen Leben. Die Herren aus verschiedenen Ländern, die Omar Rajeh in diesem Stück des „Maqamat Dance Theatre Lebanon“ neben sich versammelt, sind ihrerseits (auch) Choreographen: Koen Augustijnen, Anani Sanouvi, Moonsuk Choi.

Größte Körperbeherrschung

Einige wenige Hinweise für das Verständnis des Bühnengeschehens kommen von außen – ein wiederholungsschleifiges, englisch aus dem Off vorgetragenes Bekenntnis zur chinesischen Küche etwa, die viel besser als die japanische sei; die unvermittelte Projektion des Wortes „Blender“; ein dunkler Filmausschnitt mit nicht lesbaren Untertiteln. Die Bewegungen dazu sind perfekt und mit größter Körperbeherrschung getanzt und scheinen trotzdem kaum mehr zu sein als hochmobiles eitles Posing. Da huldigt einer dem Bewegungskanon des asiatischen Kampfsports, ein Zweiter (mit Sakko) kämpft sich immer wieder in männlich-aggressive statische Haltungen hinein, ein Dritter gibt (im Schlabberpulli) das Gummimännchen und ein Vierter irrlichtert mit ausholenden Bewegungen von Händen und Füßen wie ein Gespenst über die Bühne. Von solcher Art sind die Momentaufnahmen, alles ist sehr schön anzuschauen, geizt jedoch mit weiterreichenden Botschaften.

Wir vermissen Tänzerinnen

Schließlich ist vom Regisseur zu erfahren, dass das zubereitete Gericht in seiner Buntheit quasi Land und Volk des Libanons abbilde und die Essenseinladung dieses Abends nicht nur an die Herren Tänzer gehe, sondern an alle im Saal. Auch an die Frauen, möchte man hinzufügen, die man im Tänzerquartett auf der Bühne bedauernd vermisste. Das Motiv der großherzigen Einladung an die Völker dieser Welt rundet sich deshalb nicht völlig, zumal es wenig sensationell ist, dass die Tänzer „aus ganz verschiedenen Kulturen und Tanztraditionen stammen“, wie der Programmzettel verkündet. Im kosmopolitisch aufgestellten Tanztheater ist das nichts Besonderes.

Politik war vor der Pause

Essen, trinken, Völkerverständigung, gutes Leben – Olaf Kröcks Entscheidung, dieses Stück an den Beginn seiner Regentschaft auf Recklinghausens Grünem Hügel zu stellen, ist nachvollziehbar, auch wenn sein Beitrag zum Motto der Festspiele „Poesie und Politik“ eher allgemein bleibt. Aber dem Motto hatte man ja im ersten Teil des Abends schon hinlänglich gehuldigt.

www.ruhrfestspiele.de




Dortmund im Juni: Kunst, Kultur und Kabarett beim Evangelischen Kirchentag

Wiederkehr zum Kirchentag: Pop Oratorium „Luther", hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015 – mit Frank Winkels (Mitte) in der Titelrolle. des Reformators.

Zum Kirchentag wieder zu erleben: das aufwendige Pop-Oratorium „Luther“ – hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015, mit Frank Winkels (vorn Mitte) in der Titelrolle des Reformators. (© Stiftung Creative Kirche, Witten)

Vier Bundespräsidenten, neben dem amtierenden drei seiner Vorgänger, die Bundeskanzlerin, der NRW-Ministerpräsident, zahlreiche Bundes- und Landesminister, sie alle haben zwischen dem 19. und 23. Juni Termine in Dortmund. Während der fünf Tage ist die Stadt Gastgeber des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags, der mit geballter Polit-Prominenz aufwartet.

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hält einen der Hauptvorträge und befasst sich mit „Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne“, Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht über die Frage „Vertrauen als Grundlage internationaler Politik?“ NRW-Ministerpräsident Armin Laschet findet sich zur Bibelarbeit ein, Bundesaußenminister Maas diskutiert mit Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, wie es sich mit der Verantwortung Deutschlands zum Schutz von Frauen und Kindern verhält – und Arbeitsminister Hubertus Heil erörtert mit Verdi-Chef Frank Bsirske, wie es um den Wert der Arbeit bestellt ist.

Insgesamt 2500 Veranstaltungen

Die Auftritte der Politiker sind Teil eines Programms mit rund 2.500 Veranstaltungen. Täglich werden rund 100.000 Besucher erwartet. Neben Debatten und Podiumsgesprächen gehören Gottesdienste, Workshops und Konzerte ebenso dazu wie Ausstellungen und Installationen. Kulturelle Angebote machen mit rund 600 Veranstaltungen fast ein Viertel des Programms aus. Mit dabei sind z. B. die Schauspielerin und Sängerin Anna Loos, der Musiker und Songwriter Adel Tawil, die Band Culcha Candela und das Bundesjugendjazzorchester. Konzertbühnen werden auf dem Hansa- und Friedensplatz sowie dem Alten Markt stehen.

Das „Depot“ an der Immermannstraße soll zu einer „Kulturkirche“ werden. Die Schwerpunktthemen sind hier Heimat und Kunstfreiheit. Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Programmchef des Deutschland Radio Kultur, Hans-Dieter Heimendahl, der Intendant der Ruhrfestspiele, Olaf Kröck, und Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), sind zu Gesprächsrunden eingeladen. Das Programmkino des Depots zeigt eine Reihe von aktuellen Filmen, unter anderem „The Cleaners – Im Schatten der Netzwelt“. Die Dokumentation berichtet über die Arbeit Zehntausender von Menschen, die im Auftrag von Internetkonzernen belastende Fotos und Videos auf den Portalen von Facebook, Twitter etc. löschen. Darüber hinaus wird der Regisseur Züli Aladag über seinen Film „Die Opfer – Vergesst mich nicht!“ sprechen, der sich mit den NSU-Morden befasst.

Vertrauen auch als literarisches Thema

Im Freizeitzentrum West (FZW) an der Ritterstraße gibt‘s Kabarett aus der und über die Kirche, die Gruppe Klangwerk aus Bayreuth bringt Deutschpop zu Gehör, der Dortmunder Liedermacher Fred Ape ist zu Gast und zudem wird die Veranstaltungsstätte Ort für einen Techno-Gottesdienst sein, Thema: „Menschenrechte – Gottes Wort!?“ Eine bunte Musikvielfalt bieten zahlreiche Songwriter im „domicil“ an der Hansastraße, in dem auch abends um 22.30 Uhr ein kabarettistischer Tagesrückblick gehalten wird. In den Westfalenhallen wird sich der Kabarettist Serdar Somuncu an einer Runde zur #MeToo-Debatte beteiligen. Eckhardt von Hirschhausen diskutiert mit Jugendlichen über Klima und Umwelt.

Im Industriemuseum Zeche Zollern (Stadtteil Bövinghausen) setzt sich unter dem Leitgedanken „Erinnern, Begegnen, Bedenken“ eine Ausstellung mit der Geschichte des Reviers auseinander. Darüber hinaus sind Aufführungen vorgesehen, die weltweite historische Ereignisse eingehen. Das Hoesch-Museum zeigt eine Ausstellung, die dem Thema „Migration und Religion im Ruhrgebiet“ gewidmet ist.

Da der Kirchentag das Motto „Was für ein Vertrauen“ trägt, steht auch das Literaturfest der Großveranstaltung unter dieser Losung. Zahlreiche Autoren aus der Region lesen aus ihren aktuellen Büchern passende Passagen. Nachmittags ab 15 Uhr sind Kinder eingeladen, sich zu einem Mitmachprogramm einzufinden, Zeit für Erwachsene nehmen sich Frank Goosen, Sarah Meyer-Dietrich, Ralf Thenior und weitere Autoren ab 19 Uhr.

Gewaltiges Pop-Oratorium über Luther

Freunde elektronischer Musik können sich auf die Uraufführung der Kammeroper „Nova – Imperfection Perfection“ des zeitgenössischen Komponisten Franz Danksagmüller freuen. Das Pop-Oratorium „Luther“ mit 2.000 Mitwirkenden erlebt eine weitere Aufführung am 20. Juni in den Westfalenhallen.

Während der gesamten Dauer des Kirchentages ist am Fredenbaumplatz eine Installation aus Klang und Licht zu sehen, die die evangelische Jugend aus dem Osten Berlins geschaffen hat. Die Klanginstallation Kuckucksuhrenorgel des Künstlers Erwin Stache, wird am Donnerstag von 10 bis 22 Uhr zwei Mal pro Stunde an St. Nicolai (Lindemannstraße) zu hören sein. Südkoreanische Künstler stellen ein Projekt vor, das das Thema Frieden in den Fokus rückt. Darüber hinaus öffnen Museen ihre Türen. Im Dortmunder U ist eine interaktive Ausstellung zur Skate-Kultur zu sehen.

Mit drei Gottesdiensten (am Ostentor, auf dem Hansa- und dem Friedensplatz) wird der Kirchentag am 19. Juni eröffnet, gefolgt vom Willkommensfest, das die Stadt und die Evangelische Landeskirche von Westfalen ausrichten. Der Abschluss erfolgt im Westfalenpark und im Westfalenstadion („Signal Iduna-Park“).

Infos unter https://www.kirchentag.de/




Der Mann, der keinen Roman mehr schrieb – Gespräche und Interviews mit Wolfgang Koeppen als Band 16 der Werkausgabe

In der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur dürfte das Phänomen einzigartig sein. Da gab es einen recht prominenten Schriftsteller, der von 1954 bis zu seinem Tod 1996 partout nicht mehr jenen Roman vollendete, den so viele anspruchsvolle Leser dringlichst von ihm erwarteten.

Dennoch fand dieser Autor in Siegfried Unseld (Suhrkamp) einen Verleger, der ihn durch die Jahrzehnte währende Schreibkrise allzeit (auch und gerade finanziell) generös fördernd und mit wahrhaftiger Engelsgeduld begleitete.

Bei all dem weckte der Schriftsteller, gleichsam als lebende Legende, reges publizistisches Interesse. Immer und immer wieder wollten andere Autoren, Kritiker oder anderweitig kultursinnige Journalisten Gespräche mit ihm führen. Wer mit Wolfgang Koeppen gesprochen hatte, sah sich gleichsam in der Zunft geadelt.

Die Liste der illustren Interviewer(innen)-Namen ist lang, es stehen darauf u. a. – hier in alphabetischer Folge: Heinz Ludwig Arnold, Horst Bienek, Volker Hage, Günter Kunert, Angelika Mechtel, André Müller, Karl Prümm, Marcel Reich-Ranicki und Asta Scheib; um nur einige zu nennen.

Wolfgang Koeppen (1906-1996) hatte (nach vergleichsweise eher unscheinbaren Anfängen in den 1930er Jahren) mit „Tauben im Gras“ (1951) und „Das Treibhaus“ (1953) in der noch jungen Bonner Republik zwei höchst bemerkenswerte Romane vorgelegt, die nicht nur zu großen Hoffnungen berechtigten, sondern diese zum gewissen Teil bereits einlösten. Und ein solcher Mann verstummte dann unversehens für alle übrige Zeit – zumindest als Romancier!

Reich-Ranicki wollte endlich mehr Privates erfahren

Eben dieser Umstand hat zahlreiche Gesprächspartner Koeppens wohl besonders gereizt. Sie haben versucht, seinem „Geheimnis“ auf die Spur zu kommen; sie wollten ergründen, warum ein weiterer großer Roman noch und noch auf sich warten ließ und wie das Nicht-Erscheinen allmählich zum anwachsenden Mythos werden konnte.

Geradezu angriffslustig hat vor allem Marcel Reich-Ranicki ihn bedrängt, endlich einmal mehr Privates von sich zu geben. Koeppen wusste sich dem Ansinnen weitgehend und recht elegant zu entziehen. Er blieb dabei ausnehmend freundlich, schließlich war gerade Reich-Ranicki ein entschiedener Befürworter seiner Schreibkunst. Mit einem derart einflussreichen Fürsprech verdarb man es sich tunlichst nicht.

Es ziehen sich also durch Band 16 der von Hans-Ulrich Treichel herausgegebenen Koeppen-Werkausgabe, welcher just Gespräche und Interviews versammelt, bestimmte Themen mit großer Regelmäßigkeit: allen voran eben die fortwährende Schreibkrise und die daraus resultierenden finanziellen Sorgen. Letztere, so Koeppen, hätten sich von selbst erledigt, wäre er ein Erbe gewesen wie etwa Flaubert oder Proust. Angesichts solcher Namen ahnt man: Koeppen hätte eigentlich zu den allerhöchsten Gipfeln streben wollen… Damit es kein Vertun gibt: Wolfgang Koeppen hat nie öffentlich über seine missliche pekuniäre Situation „gejammert“. In früheren Zeiten hätte die Formulierung gelautet: Er hat es mannhaft getragen.

Der Unterschied zwischen Arbeitslager und Arbeitsdienst

Auf Länge gesehen, ergeben sich im Interview-Band durch die Konzentration auf bestimmte Themen einige Redundanzen, freilich nicht nur als bloße Wiederholungen, sondern auch in Form von Widersprüchen. Wolfgang Koeppen, der mit der Zeit seine speziellen Strategien entwickelt hatte, um nicht mehr Wahrheit(en) als nötig preiszugeben, sagt gleichwohl nicht immer dasselbe. Nuancen oder gar diametral entgegengesetzte Angaben lassen Raum für Deutungen und Spekulationen. Ein unerschöpfliches Spielfeld der Literaturwissenschaft.

Immer wieder andere, teils paradoxe Interview-Einlassungen Koeppens haben für Verwirrung gesorgt – beispielsweise darüber, ob, wann, wo und unter welchen Umständen ein früher Roman verschollen sei. Er hat gesprächsweise mal diese, mal jene Variante bevorzugt. Gravierender noch: Stirnrunzeln und Rätselraten rief seine (wider besseres Wissen?) immerzu wiederholte Behauptung hervor, in einer üblen Rezension des Jahres 1934 sei ihm „Arbeitslager“ an den Hals gewünscht worden. Tatsächlich gab es da eine ruchlose Kritik, in der es zum Roman „Eine unglückliche Liebe“ hieß, Koeppen gehöre in den „Arbeitsdienst“, was freilich – speziell für sprach- und geschichtsbewusste Menschen – denn doch einen deutlichen Unterschied zum „Arbeitslager“ ausmacht.

Ein fataler Setzfehler und seine Folgen

Wollte Koeppen sich mit seiner Übertreibung etwa so darstellen, als habe er dem Widerstand gegen die NS-Diktatur angehört? Hat er deswegen so getan, als sei er in eine Traditionslinie mit Thomas Mann gestellt worden, obwohl dessen Name in jener schmählichen Kritik überhaupt nicht genannt wurde? Andere Aussagen sprechen wiederum gegen eine solche Absicht. Da hat Koeppen nicht viel Wesens um seine gar nicht recht einzuordnende Haltung und sein (freiwilliges) holländisches Exil gemacht, das ihm auch finanziell etwas Luft verschaffte. Er war wohl weder im Widerstand, noch war er Kollaborateur.

Weit über Wortklauberei hinaus ging auch die Auseinandersetzung über einen Artikel von Karl Prümm, der 1983 in der (verdienstvollen) Essener Literaturzeitschrift „schreibheft“ erschien. Darin stand gedruckt, Koeppen habe in der NS-Zeit „nationalsozialistische“ Neigungen gehabt. Der ungeheure Vorwurf, der im Gefolge auch den „Großkritiker“ Fritz J. Raddatz zu einer wüsten Attacke auf Koeppen in der „Zeit“ anstachelte, erwies sich als schlimmer Setzfehler, tatsächlich hatte es „nationalistisch“ heißen sollen. Auch nicht eben fein, aber auf der Schändlichkeits-Skala schon ungleich harmloser. „schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr leistete tätige Abbitte, indem er in einer der nächsten Ausgaben Platz für ein begütigendes Interview mit Wolfgang Koeppen freiräumte. Hier war von derlei harschen Vorwürfen gar nicht mehr die Rede, obwohl (oder weil) einer der Interviewer Karl Prümm selbst war.

„Der Schriftsteller (…) ist kein Gewerbetreibender“

Wenn Koeppen ansonsten mit einem Gespräch im Nachhinein, aber vor Drucklegung unzufrieden war, hat er gelegentlich rigide gekürzt, redigiert und streckenweise umgeschrieben, so dass man sich bei Lektüre vereinzelt kaum noch in den Gefilden halbwegs spontaner Äußerungen, sondern doch wieder auf literarischem Gebiet befindet; nicht nur thematisch, sondern auch, was ausgearbeitete Formulierungen anbelangt. Da finden sich hellsichtige, manchmal geradezu visionäre Passagen, in denen Koeppen nicht nur Verhältnisse seiner Zeit auf den Begriff bringt, sondern auch weit ins Kommende zu schauen scheint. Über die stets gefährdete Außenseiter-Rolle des Schriftstellers an und für sich haben wohl nur ganz wenige so nachgedacht wie dieser Mann in seiner permanent durchlittenen Schreibkrise.

In diesem Sinne noch ein bezeichnendes Zitat aus dem Gespräch mit Angelika Mechtel, die ihn – nicht allzu einfühlsam – gefragt hat, ob er sich vorstellen könne, z. B. auf Sachbücher „umzuschulen“, um seine finanzielle Misere zu lindern. Darauf Koeppen, spürbar aufgebracht:

„Umschulung? Welch scheußliches Wort! Es trifft nicht zu. Der Schriftsteller, den ich meine (…), ist kein Gewerbetreibender, auch wenn das Finanzamt ihn so mißversteht. Das Schreiben, um das es hier geht, ist keine Frage der Erwägung, der Marktanalyse, der Berechnung, der Erfolgsaussicht. Dieser Schriftsteller kann nur sein, was er ist, er selbst, er kann nur schreiben, wie er schreibt, das ist ein Zustand, keine Wahl…“

Wolfgang Koeppen – Gespräche und Interviews. Werke, Band 16 (Hrsg. Hans-Ulrich Treichel). Suhrkamp Verlag, 770 Seiten, 48 Euro.

 




Viele Gründe zum Entsetzen: Dortmunder Ausstellung „Der Alt-Right Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“

Bibliothek des Hasses: Nick Thurston „Hate Library“, 2017 © the artist.

Eine Bibliothek des Hasses: Nick Thurston „Hate Library“, 2017 © the artist

Ungeheure Naturgewalten brechen über die Menschheit herein. Wilde Raubtiere zerreißen ihre Beute. Innere und äußere Feinde zersetzen die ganze Gesellschaft. Immer und immer wieder stürzen solche Szenen einer allseits bedrohten Welt auf die Betrachter ein. Woher stammen sie, was soll das alles? Wer will uns da fürchterlich Angst machen?

Nun, wir sehen auf etlichen Bildschirmen, wie sich ein gewisser Steve Bannon (weltberüchtigter Rechtsaußen und zeitweise höchster Berater von Donald Trump) die Apokalypse vorstellt oder besser: Dieser Mann will durch filmischen Dauerbeschuss erreichen, dass sich möglichst viele Leute das nahende Ende so vorstellen und nach brutal starken Ordnungsmächten rufen. Der niederländische Künstler Jonas Staal hat derlei Untergangs-Phantasien auf ihre optischen Begriffe gebracht, indem er die wiederkehrenden „rhetorischen“ Muster kenntlich macht, mit denen Bannon seine Propaganda betreibt. Ein Lehrstück, fürwahr. Und es bleibt nicht das einzige.

Inke Arns, Leiterin des Dortmunder Hartware MedienKunstVereins (HMKV), hat die neue Ausstellung kuratiert, welche sich anhand von 12 internationalen Kunstprojekten ebenso intensiv wie abwechslungsreich mit dem „Alt-Right Komplex“ befasst.

Ausstellungsplakat zu „Der Alt-Right-Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“ (Design: e o t . essays on typography)

Dröhnende Stimmen: Ausstellungsplakat zu „Der Alt-Right Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“ (Design: e o t . essays on typography)

Eine „Bibliothek“ voller Hasstiraden

So oder so ist gar manches erklärungsbedürftig, sofern man bislang noch nicht tiefer durch jenen globalen Ideologie-Sumpf gewatet ist. „Alt-Right“ steht für die vielfältigen Formen und Auswüchse einer „alternativen Rechten“, insbesondere in den USA. Mehr als nur ein paar Ausläufer reichen freilich auch nach Europa, wo rechte Netzwerke sich in einer Art Kulturkampf anschicken, Demokratie und europäische Einigung zu unterminieren. Auch das virulente Gezerre um den Brexit gehört letztlich in diesen Zusammenhang. Was sich da, vorwiegend im Internet, überaus giftig zusammengebraut hat, lässt den Untertitel der Ausstellung („Über Rechtspopulismus im Netz“) beinahe schon untertrieben erscheinen.

Man blättere nur in den ringsum auf Notenständern verteilten, dickleibigen Büchern der „Hate Library“ (Hass-Bibliothek), die Nick Thurston (England) aus europäischen Netzfunden zusammengestellt hat. Das Elend setzt sich auf Wandtafeln fort. Hier zeigen sich vieltausendfach die Abgründe der so genannten „freien Rede“ im Internet. Selbstredend anonym werden da die niedersten Instinkte ausgekotzt, seien sie rassistisch, sexistisch, antisemitisch, nazistisch oder sonstwie gewaltsam. Der Kontrast dieser Inhalte zu einer kultivierten Gesangs-Partitur ist natürlich schreiend; wenn auch nicht schreiend komisch.

Man fragt sich, warum solche Hetz-Portale und Seiten über Jahre hinweg weitgehend ungehindert bestehen dürfen. Und man könnte schon ob der schieren Menge solcher Entäußerungen depressiv werden – hier sehen wir zwar viele Beispiele, aber doch nur einen kleinen Ausschnitt der wahren Ausmaße. In solchen Foren haben sich auch die Massenmörder von Norwegen und Neuseeland (deren Namen bewusst weggelassen seien) umgetan. Dort haben sie sich mehr und mehr radikalisiert.

Schiere Überwältigung durchs Video-Gewitter

Einen anderen, geradezu entgegengesetzten Weg der Beschäftigung mit rechtsextremen Netz-Phänomenen hat das schweizerisch-österreichische Künstlerduo namens „Ubermorgen“ (sic! – mit „U“) gewählt. Sie setzen auf blanke Überwältigung mit einem rasenden Video-Gewitter aus rechtsradikalen Netz-Quellen. Das ist schwer auszuhalten – und auch die Möglichkeit, das Ganze per Mausklick zu verzerren und zu verlangsamen, schafft keine sonderliche Abhilfe. Die beiden Künstler nennen die Gruppe „Rammstein“ (in diesen Tagen wegen eines Musikvideos mit KZ-Anspielungen viral im Marketing) als einen Haupteinfluss. Diese Gruppe mit ihrem ständigen Reichsparteitags-Gehabe steht ebenfalls für ein Überwältigungs-Konzept. Kann es sein, dass die Gefahr, vom gesammelten Rechtsaußen-Stoff selbst fasziniert zu werden, auch bei „Ubermorgen“ nicht allzu fern liegt? Und zwar nicht erst (über)morgen, sondern schon heute.

Für den Rundgang sollte man sich Zeit nehmen. Hie und da gilt es, Videos möglichst ausgiebig anzuschauen. Selbst ohne Wartezeit in einer etwaigen Schlange dauert das ziemlich. Dieser Hinweis betrifft auch die Arbeit des Schweizer Theaterregisseurs Milo Rau, der die schrecklich ausführliche Gerichtsprozess-Erklärung des erwähnten norwegischen Attentäters ungerührt und geradezu „cool“ (Kaugummi kauend) von einer türkischstämmigen Schauspielerin lesen lässt – 78 quälende Minuten lang. Es erhebt sich die Frage, ob es hier wirklich um einen Wahnsinningen geht – oder nicht vielmehr um einen Überzeugungstäter. Einer von vielen Gründen zum Entsetzen: Hier kehren etliche Vorstellungen wieder, die auf breiter Front im Netz kursieren. Und man kann, ja muss sich ganz auf den Wortlaut konzentrieren. Eine heftige Herausforderung.

Wie nationalistische Aggression konstruiert wird

Paula Bulling und Anne König haben – mit den Mitteln eines Comics oder einer Graphic Novel – die Rolle dreier Frauen im Umkreis des NSU-Prozesses thematisiert. Dazu haben sie auch mit Gamse Kubaşık gesprochen, der Tochter des Dortmunder NSU-Mordopfers Mehmet Kubaşık. Die Arbeit, die bildlichen Spuren des eigentlich Unbegreiflichen folgt, ist eigens für die Dortmunder Ausstellung erweitert worden.

Auf den Spuren eines sonderbaren Flaggenkults: Die serbische Künstlerin Vanja Smiljanic hat sich zu Demonstrations-Zwecken eine Fahnenschwenk-Apparatur umgeschnallt. (Foto: Bernd Berke)

Auf den Spuren eines sonderbaren Flaggenkults: Die serbische Künstlerin Vanja Smiljanic hat sich zu Demonstrations-Zwecken ihre Fahnenschwenk-Apparatur umgeschnallt. (Foto: Bernd Berke)

Auch osteuropäische Positionen sind vertreten: Szabolcs KissPál (Ungarn) untersucht mit Fotografie, Video und Vitrinen-Objekten die Konstruktion eines aggressiven ungarischen Nationalismus‘, dessen Vertreter anno 1919 verlorene Gebiete wie Transsilvanien zurückerobern wollen. Erraten: Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei zählen zu den Protagonisten dieser Richtung.

Die Serbin Vanja Smiljanic tritt derweil als „Ministerin“ der Cosmic People (religiös sich gebende UFO-Bewegung) für Ex-Jugoslawien, Portugal und dessen frühere Kolonien auf. Auch spürt sie der Flaggenverehrung in der christlich inspirierten „Flag Nation Society“ nach. Klingt etwas abgedreht? Tja. Was soll man da sagen? Seht selbst.

Die sich aufs Schlimmste gefasst machen

Der neuseeländische Künstler Simon Denny hat sich unterdessen Brettspiele auf den Spuren rechter Welteroberungs-Wünsche ausgedacht. Apropos: In der internationalen „Prepper“-Szene (von to prepare = sich vorbereiten / Leute, die sich aufs Schlimmste gefasst machen, so auch mit Waffenübungen) galt Neuseeland bislang als eine letzte Zuflucht, wenn alles zusammenbricht. Diese eh schon irrwitzige Hoffnung ist nach Christchurch auch gestorben. Die wutschnaubenden „Prepper“-Zurüstungen sind auch Thema im Video „RIP in Pieces America“ des Kanadiers Dominic Gagnon – ebenfalls eine im Grunde unfassbare Ansammlung aus Filmschnipseln, die inzwischen im Netz zumeist gelöscht sind. Aber es kommen ja immer wieder neue Ungeheuerlichkeiten nach.

Das alles verlangt nach übersichtlicher Einordnung. Einen solchen Versuch hat – allerdings wohl nicht im vollen Ernst – das Duo disnovation.org unternommen: Auf einer Art Landkarte haben Maria Roszkowska und Nicolas Maigret (Frankreich/Polen) ideologische (und quasi auch psychologische) Positionen auf den Achsen rechts-links und autoritär-libertär bildlich eingetragen, also verortet. Das reiche Spektrum umfasst auch Memes wie etwa Pepe, den Frosch, das Symboltier der Trump-Anhänger. Dumm nur, dass die wirkliche Welt nicht so ordentlich eingeteilt und somit berechenbar ist. Übrigens darf man einen Plakatdruck der „Landkarte“ kostenlos mit nach Hause nehmen.

Weiterer Erklärungs-Ansatz ist ein hochinteressantes Glossar, das eingangs der Ausstellung einige Begriffe, Plattformen, Symbole, Phantasien, Praktiken und Personen aus dem Alt-Right-Kontext erläutert. Auch da erfährt man Dinge, die man am liebsten gar nicht wissen möchte – wohl aber wissen sollte…

„Der Alt-Right Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“. Vom 30. März bis zum 22. September 2019 (Eröffnung: Freitag, 29. März, 19 bis 22 Uhr). Hartware MedienKunstVerein (HMKV), 3. Etage im „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt frei. Internet: www.hmkv.de

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Bestandteil der Ausstellungs-Eröffnung: die Verleihung des angesehenen Justus Bier Preises für herausragende kuratorische Leistungen. Ausgezeichnet werden Inke Arns, Igor Chubarow und Sylvia Sasse – für die HMKV-Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast – Forensik eines Bildes“.

 

 

 

 




„Alles nur geklaut?“ – Dortmunder Schau auf Zeche Zollern zeichnet „abenteuerliche Wege des Wissens“ nach

Vorführung des von Karl Drais erfundenen Laufrades anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Wichtige Station in der Erfindungsgeschichte des Rades: Vorführung des vom Karlsruher Karl Drais erfundenen Laufrades – anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Das gibt’s beileibe nicht in jeder Ausstellung: In der Dortmunder Schau mit dem flotten Fragezeichen-Titel „Alles nur geklaut?“ (ebenfalls geklaut: beim gleichnamigen Song der „Prinzen“) wird das Rad gleichsam noch einmal neu erfunden.

Auch sonst werden „Die Abenteuerlichen Wege des Wissens“ (Untertitel) beschritten. Es geht um Entstehung und Weitergabe des Wissens, aber auch um Geheimhaltung und Spionage – mit historischen und aktuellen Weiterungen bis zum Datenschutz. Ein weites Feld, fürwahr, das da mit 370 Exponaten auf 1000 Quadratmetern ausgeschritten wird.

Symboltier der Ausstellung für „geklautes" Wissen: die diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Steht als Symboltier der Ausstellung für „geklautes“ Wissen: eine diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Kurz zurück zum Rad. Das älteste Exponat im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern ist ein jungsteinzeitliches hölzernes Scheibenrad, aufgefunden im Moor bei Aurich und daher staunenswert gut konserviert. Es stammt aus der Zeit um 2350 v. Chr.

Sodann kann man wesentliche Entwicklungsschritte bis hin zum heutigen Formel-1-Reifen verfolgen. Zwischendurch hat eine holographisch erzeugte „Geistererscheinung“ ihren Auftritt. Da spricht im Kleinformat ein dreidimensionaler Schauspieler zu uns, stilecht gewandet als Freiherr Karl von Drais, welcher anno 1817 das Laufrad („Draisine“) erfunden hat. Gleich daneben kann man Drais‘ Antlitz als Lebendmaske bewundern, zusätzlich versehen mit echten Wimpern des Mannes. Ein Stück wie aus der Wunderkammer.

Diese Ausstellung arbeitet mit verschiedensten Medien und Methoden, um eben auch möglichst viele Menschen anzusprechen. Herkömmliche museale Exponate und Vitrinenstücke werden vielfach flankiert von künstlerischer „Intervention“ (mit einer Arbeit von Jean Tinguely bis hin zur Performance) und vor allem (multi)medialer Aufbereitung. Wo irgend möglich, geht es betont spielerisch zu, im nicht gar so schönen Neusprech gesagt: „Gamification“ genießt im Zweifelsfalle Vorrang.

Wer knackt die Codes in den Geheimkammern?

Ein Clou sind die sechs „geheimen Kammern des Wissens“. Nach dem Muster der schwer angesagten Escape Rooms (man darf ins Freie, wenn man vorher Rätsel gelöst hat) soll man in diesen abgetrennten Räumen knifflige Fragen beantworten und Codes knacken; natürlich alles auf freiwilliger Basis. Wer es schafft, wird in die „Loge des Wissens“ aufgenommen. Und selbstverständlich bleibt niemand, der die Antworten nicht findet, hilflos in der Raumzelle gefangen…

Die Loge in allen Ehren. Aufschlussreich ist aber schon der ganz normale Rundgang durch die Schau. Eingangs wird der Prometheus-Mythos aufgegriffen, demzufolge alles Wissen ursprünglich von den Göttern herrührt, das ihnen jedoch vom Menschen entwunden („geklaut“?) wurde.

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England entscheidend erweiterte. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man gesagt: ein „Spionier". (Foto: LWL/Hudemann)

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England erwarb. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man die Worte kombiniert: ein „Spionier“. (Foto: LWL/Hudemann)

Doch allmählich wurde offenbar, dass der Mensch auch selbst neues Wissen generieren konnte. Und zwar mit der Zeit dermaßen viel Wissen, dass es irgendwie gespeichert werden musste: Da steht man unversehens zwischen einem 243 Bände umfassenden Lexikon des Universalgelehrten Johann Georg Krünitz und einem Bildschirm mit Wikipedia-Zugriff. Vertreter dieser Online-Enzyklopädie wollen die Schau besuchen, Workshops veranstalten – und dabei auch um potenzielle Mitarbeiter werben, an denen es zunehmend mangelt; womit auch eine Frage zur Weitergabe des Wissens berührt wäre.

Wissen schützen, Wissen stehlen

Weitere Themen-Facette: der Schutz des Wissens und die Verletzung dieses Schutzes. Als sinnfälliges Beispiel dient die ehedem äußerst lukrative Porzellanherstellung, die über lange Zeit ein bestens gehütetes chinesisches Geheimnis blieb. Erst 1710 kam man im sächsischen Meißen auf den „Trichter“ (Kaolin hieß das Zauberwort), führend daran beteiligt war Samuel Stöltzel. Sein Expertenwissen galt unter August dem Starken quasi als Staatsgeheimnis. Stöltzel freilich übte Verrat. Er ließ sich vom Kaiser in Wien das wertvolle Wissen abkaufen – und kehrte hernach wiederum mit frischen Erkenntnissen um Porzellan-Bemalung nach Sachsen zurück. Ein Doppelagent also. Auch er begegnet uns als sprechendes Hologramm und versucht, seine Beweggründe zu erklären.

Besonderes Exponat: In sauerstoffarmem Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

Heikles Exponat: im sauerstoffarmen Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

An etlichen Stellen stößt man in der Schau auf Ambivalenzen und Widersprüche, manchmal auch auf schreckliche Untiefen: Wernher von Braun war mit seiner Raketenforschung zunächst den Nazis zu Diensten. In Dortmund sind Teile einer V2-Rakete, der in Peenemünde entwickelten, so genannten „Wunderwaffe“ zu sehen, bei deren Fertigung mindestens 12.000 Zwangsarbeiter aus dem KZ Mittelbau-Dora (Thüringen) ums Leben gekommen sind. Wissens-Weitergabe der überaus wendigen Art: Später war von Braun eine treibende Kraft der Raketenentwicklung und des Weltraumprogramms in den USA. Sein Weg führte sozusagen von Hitler zu Kennedy, was in Dortmund durch ein irritierendes Kippbild veranschaulicht wird. Allemal ist es ein Denk- und Lehrstück zur angeblich wertneutralen Wissenschaft.

Kein Patent auf Röntgenstrahlen

Manche Leute waren aufs Eigentum an Wissen bedacht, andere zeigten sich freigebig: Wilhelm Conrad Röntgen verzichtete tatsächlich auf ein Patent für seine bahnbrechende Entdeckung der Röntgenstrahlen (Ausstellungsstück: durchleuchteter Schädel Sigmund Freuds), er befand, solches Wissen gehöre der ganzen Menschheit. Konrad Adenauer kämpfte hingegen vergebens um ein Patent für eine ungleich geringere Erfindung. Der nachmalige Bundeskanzler hatte sich einen beleuchteten Stopfpilz ausgedacht…

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma" aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma“ aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Um Geheimhaltung und Entschlüsselung geht es an einer anderen Station: Ein Exemplar des legendären, weil weltweit beispiellosen deutschen Verschlüsselungs-Apparats „Enigma“ steht für den Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg. Rund 10.000 Menschen arbeiteten in London an der Entschlüsselung deutscher Militär-Nachrichten, lediglich vier deutsche Fachkräfte waren als „Enigma“-Abwehr eingeteilt, wie Ausstellungs-Kurator Georg Eggenstein zu berichten weiß.

Bochum mit James Bond und Stasi

Natürlich konnte man auch diesen populären Aspekt nicht verschenken: In Sachen Spionage wirft man einen kecken Seitenblick auf James Bond, der ja bekanntlich aus dem heutigen Bochumer Stadtteil Wattenscheid stammt. Zudem wird die abenteuerliche Geschichte des Bochumer Stasi-Spitzels Karl Heinz Glocke angerissen, wie es denn überhaupt einige frappierende regionale Bezüge gibt.

Spionage-Chefin aus Dortmund setzte Mata Hari ein

Am erstaunlichsten vielleicht diese Verbindungslinie nach Westfalen: Haben Sie schon einmal den Namen Elsbeth Schragmüller gehört? Ihre Geschichte ist ein Thema für sich, sie ist wohl noch lange nicht auserzählt und dürfte weitere Recherchen lohnen. Die Frau wurde im später zu Dortmund gehörenden Vorort Mengede geboren und besaß offenbar einen scharfen analytischen Verstand. In Berlin brachte sie es im Ersten Weltkrieg zur Leitung der Spionage-Aktivitäten gegen den „Erzfeind“ Frankreich. Mancherlei Legende rankte sich um „Mademoiselle Docteur“. Genaueres wusste kaum jemand. Sie selbst hat sich – erst 1929 – nur ein einziges Mal öffentlich zu ihrer Funktion geäußert.

Verantwortliche Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (v. li.): LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor der Zeche Zollern) und Kurator Georg Eggenstein). (Foto: Bernd Berke)

Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), von links: LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor des Industriemuseums Zeche Zollern), Kurator Georg Eggenstein. (Foto: Bernd Berke)

Frau Schragmüller setzte auch die berühmte Mata Hari ein, die vormals halbseidene Tänzerin, die nach ihrer Bühnenkarriere weiter ein glamouröses Leben führen wollte und sich daher auf Spionage einließ. Hilfreich waren dabei ihre teils hochrangigen Nachtclub-Bekanntschaften. Auch dazu gibt es neue Einsichten, weil erst seit Ende 2017 die französischen Prozessakten gegen Mata Hari eingesehen werden dürfen. 1917, also 100 Jahre zuvor, hatte das Verfahren zur Hinrichtung der Spionin geführt.

Gar vieles könnte man noch erwähnen: Besucher-Selfies, die in einer Cloud auf Stoffbannern auftauchen; einschlägige Objekte zu „Fake News“ und sonstigen Fälschungen von Schülern aus Irland, Polen und Deutschland; eine ebenso niedliche wie gruselige Spielzeugpuppe, die ins Kinderzimmer hinein lauscht und in Deutschland verboten ist. Und, und, und. Nun ist’s aber auch genug der Vorrede: Ein Besuch der schlauen Schau ist schlichtweg ratsam.

„Alles nur geklaut? Die abenteuerlichen Wege des Wissens“. Vom 23. März bis zum 13. Oktober 2019. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund, Grubenweg 5. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 8 Euro, Kinder/Jugendliche (bis 17) frei. Katalog 29,95 Euro. Tel. Führungen/Museumspädagogik: 0231/6961-211. Internet: allesnurgeklaut.lwl.org




Spott über Promis, Herrschende, Wundergläubige, über alles und jedes – Die Herren Gsella, Rohm und Booß legen los

So. Jetzt verderb‘ ich’s mir mal wieder mit ein paar Leuten. Wie das? Nun, gleich drei staunenswert produktive Herren haben jüngst neue Bücher herausgebracht. Mit zweien bin ich per Facebook virtuell verbunden, den dritten kenne ich aus beruflichen Zusammenhängen persönlich. Und jetzt schicke ich mich an, die Neuerscheinungen kurz vorzustellen. Oha!

Gegenstücke zur polizeilichen Maßnahme

Naja, alles halb so wild. Der erste Kandidat ist vielleicht der prominenteste (wusch, sind die beiden anderen schon vergrätzt…), er heißt Thomas Gsella und kann Gedichte reimen, bis die Schwarte kracht – wie nur je eine literarische Rampensau. Sein neuer Band trägt den quasi amtlichen Titel „Personenkontrolle“ und spießt vor allem Promis jeder Couleur auf die Gabel. So ziemlich in jedem Gedicht gibt’s eine überraschende Volte, die geeignet ist, befreiendes Gelächter auszulösen. Das muss man erst mal zuwege bringen.

Während die Personenkontrolle sonst eine polizeiliche Maßnahme ist, die sich oft genug (meist / immer) gegen die ohnehin Beherrschten wendet, richtet Gsella das verbal geschärfte Instrumentarium vornehmlich gegen Herrschende und/oder Begüterte. Seit dem Frühjahr 2013 verfolgt er das Projekt auf der Humorseite des „Stern“, im selben Jahr setzt auch das Buch ein. Der neueste Text in diesem Kompendium stammt von 2019.

Zu allermeist stehen die lyrischen Interventionen unter dem guten alten Sarkasmus-Motto „Warum sachlich, wenn’s auch persönlich geht?“ Nur mal ein kleines Beispiel unter der Überschrift „Weltfußballverband“, mal nicht einer einzelnen Person zugeeignet:

Du bist schon völlig unten und
Willst gerne noch viel tiefa?
Dann schule um auf Lumpenhund
Und gehe in die Fifa!

Du korrumpierst gern exzessiv
Auf Superluxusreisen?
Dann mache deinen Meisterbrief
Bei geisteskranken Greisen!

Na, und so giftig weiter. Aus Urheberrechtsgründen wollen wir hier nicht seitenweise zitieren. Wie bitte? Ja, gewiss, das ist kein Goethe, kein Rilke und kein Hölderlin – und will es natürlich auch gar nicht sein. Da scheppert so mancher Reim bis nah an die Schmerzgrenze, doch Gsella lässt sich eben sehr gezielt aus der Kurve tragen und kann notfalls auch gar zierliche Verse klöppeln. Letztlich beherrscht er souverän die Mittel, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, die auf möglichst entlarvende Komik hinausläuft. Und darauf kommt es an.

Thomas Gsella: „Personenkontrolle. Leute von heute in lichten Gedichten“. Verlag Antje Kunstmann. 192 Seiten. 16 €.

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Bis kein Wort mehr verlässlich ist

Auf seine Art nicht minder kreativ ist der aus der beschaulichen Domstadt Fulda stammende Guido Rohm. Doch er hat nichts „Provinzielles“ an sich. Diesem funkelnden, irrlichternden Geist ist nichts, aber auch gar nichts „heilig“.

Vor allem scheint dieser Wort-Kobold nichts ernst nehmen zu können. Auch die seinem Buch beigegebenen Allgemeinen Lesebestimmungen (ALB) und selbst die Angabe zu Satz und Druck („Gesetzt aus der Vollkorn von…“) zeugen davon.

In seinem neuen Band „Tyrannei in Senfsoße“ versammelt er abermals zahllose ultrakurze Dialog-Szenen, die sich allemal rasch in schiere Absurdität und Widersinnigkeit fräsen. Seine grotesk typisierten Personen verrennen sich immerzu in den Untiefen von Missverständnissen, verheddern sich in den Fallstricken der Logik – bis kein Wort mehr seine herkömmliche, verlässliche Bedeutung behält und kein Vorgang mehr von „Vernunft“ angekränkelt ist.

Bei Facebook kann man tagtäglich in nuce beobachten, wie solche Dramolette (oder wie soll man das Genre nennen?) entstehen, Guido Rohm kann immer wieder aus einem Füllhorn verrückter Einfälle schöpfen und bringt es sozusagen auf einen gehörigen „Ausstoß“. Die Resultate sind häufig so „abgedreht“, dass man die Lektüre in Buchform füglich rationieren sollte. Mal hier ein paar Stückchen, mal da ein paar Bröckchen. So ist’s recht und bekömmlich.

Doch fragt man sich auf Dauer, ob Rohm unentwegt bei solchen (gekonnt und geradezu routiniert ausgeführten) Etüden bleiben möchte – oder ob er sich eines Tages anderen Formen und Inhalten zuwendet. Nein, von ihm ist wohl nicht der – Trrrrremolo-Stimme – grrrroße Roman zum Stand der Dinge zu erwarten; vielleicht aber ein ausgemachtes Schelmenstück etwas weiteren Zuschnitts. Darf man hoffen?

Guido Rohm: „Tyrannei in Senfsoße. Texte für stille und laute Örtchen“. Schräg Verlag (in 86949 Windach), 260 Seiten, Taschenbuch, 13,91 € (sic!). Vertrieb vor allem über den Verlagsshop.

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Was die menschliche Torheit vermag

Rutger Booß hat bis vor ein paar Jahren den von ihm gegründeten Grafit-Verlag in Dortmund betrieben, der sich vor allem mit Regionalkrimis hervortun konnte. Inzwischen frönt er schreibend ganz anderen Vorlieben.

Vor einiger Zeit hatte er ein streckenweise hundsgemeines Ulk-Buch über Rentner („Immer diese Senioren!“) vorgelegt, jetzt macht er sich über Wunder- und Aberglauben so mancher Sorte lustig. Der Mensch hat halt so seine Steckenpferde.

Man sollte denken, dass sich das Thema „Wunderglaube“ weitgehend erledigt hat, doch in Zeiten von Verschwörungstheorien und Fake News wackelt generell das Gerüst der einst so mühsam errungenen Aufklärung.

Und so sammelt Booß unter dem spöttischen Titel „Wer’s glaubt, ist selig“ unverdrossen Beispiele für „Wunder“ in Religion, Politik und Fußball – Bereiche, die eben besonders anfällig für allerlei Zinnober sind.

Man mag einwenden, dass derlei Unternehmungen auch etwas Wohlfeiles an sich haben. Egal, hin und wieder schaut doch mancher Spaß heraus. Jedenfalls für notorische Skeptiker, die hier reichlich Material über die menschliche Torheit der wesentlichen Epochen vorfinden. Das irrwitzige Spektrum reicht von der göttlichen Vorhaut über Nostradamus bis zum fliegenden Spaghettimonster.

Und der Effekt? Nach dieser Lektüre traut man sich kaum noch, irgend etwas zu glauben…

Rutger Booß: „Wer’s glaubt, ist selig! Eine kurze Geschichte der Wunder und warum wir an sie glauben“. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, 280 Seiten, Paperback, 12,99 €.

 




Scham, Schuld und verschüttete Gefühle: Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ am Schauspiel Köln

zene aus "Rückkehr nach Reims". Foto: Thomas Aurin/Schauspiel Köln

Szene aus „Rückkehr nach Reims“. Foto: Thomas Aurin/Schauspiel Köln

Eine soziologische Schrift als Theaterstück? Hat das genug dramatisches Potential, hört man sich da nicht lieber eine Vorlesung an?

Tatsächlich ist das Schauspiel Köln nach der Berliner Schaubühne und dem Theater Lübeck nun das dritte Haus, das Didier Eribons autobiographischen Roman „Rückkehr nach Reims“ auf die Bühne bringt.

Nicht zuletzt hat das bestimmt mit der Brisanz des Themas zu tun. Es geht dabei um die Frage, wie es möglich sein konnte, dass eine vormals linke, sozialdemokratische oder kommunistische Arbeiterschaft in den letzten Jahren dazu übergegangen ist, verstärkt rechte Parteien zu wählen. Der französische Philosoph, Soziologe und Schriftsteller Didier Eribon analysiert dabei am Beispiel seiner eigenen Familie diese Entwicklung in Frankreich in Bezug auf den Front National; in Deutschland drängt sich der Vergleich mit dem Erstarken der AfD natürlich auf.

Konfliktbeladene Familiensituation

Das Ergebnis ist auf jeden Fall gelungen: Pralles Welttheater kann man die Inszenierung von Thomas Jonigk, der auch die Bühnenfassung besorgt hat, zwar nicht nennen; dennoch gelingt ihm ein differenziertes Kammerspiel, dessen dramatisch-düstere Momente sich aus der konfliktbeladenen Familiensituation speisen. Denn die Hauptfigur Didier (Jörg Ratjen), die nach langer Funkstille mit seiner Familie wieder nach Reims zurückkehrt, hat in seiner Kindheit und Jugend doppelt gelitten: Als Homosexueller war er in seinem Milieu übelsten Diskriminierungen ausgesetzt und nutze die erste Gelegenheit, in die Großstadt Paris zu fliehen. Außerdem litt er als erster Gymnasiast in der Familie, als Intellektueller, unter den Beschränkungen des Arbeiter-Milieus, ja er schämte sich für seine proletarische Herkunft.

Dies beschreibt Eribon schon in der Romanvorlage, die 2016 auf Deutsch erschien, dezidiert: Zwar hatte er sich jahrelang auch wissenschaftlich mit seinem Coming Out, dem Finden seiner homosexuellen Identität auseinandergesetzt, doch die soziale Scham, seine niedere Herkunft verschwieg oder verleugnete er sogar. Nun also unternimmt er jenseits der 50 eine Zeitreise in die Verhältnisse seiner Kindheit und Jugend, die hier in Rückblenden erzählt wird.

Coming Out auf freizügig urbane Art

Eine nüchterne Werkshalle ist auf die Bühne des Depots in Köln-Mühlheim gebaut, das Personal besteht aus Didier, seiner Mutter (Sabine Orléans), die die herzliche Dicke sehr überzeugend verkörpert, seinem Vater (Nicki von Tempelhoff), der als demenzkranker Mann den ruppigen Arbeiter nur noch erahnen lässt. Außerdem hat Thomas Jonigk zwei junge Männer dazu erfunden, die für das Coming Out stehen (Justus Maier, Nicolas Lehni), freizügig und urban agieren und eine Atmosphäre des 68er Aufbruchs heraufbeschwören.

Monotonie der rassistischen Vorurteile

Die Monotonie der Fabrikarbeit illustrieren einige exemplarische Szenen mit Technoklängen und wiederkehrenden Handgriffen, die manchmal etwas langatmig geraten. Am stärksten ist die Inszenierung, wenn sie privat wird, wenn es um Scham, Schuld und verschüttete Gefühle aus der Kindheit geht. Und wenn Didier die theoretischen Hintergründe der Arbeiterbewegung erläutert: Jörg Ratjen nimmt man den bebrillten, zwischen Arroganz, Mitleid und qualvollen Gefühlen schwankenden Intellektuellen besonders gut ab. Eine gewisse Steifheit und Gehemmtheit ist nahezu in seinen Körper eingeschrieben, den die Scham nie vollständig verlässt.

Ein starkes Bild findet die Inszenierung gegen Ende, als die Arbeiter und Familienmitglieder um den mit der Trikolore gedeckten Tisch sitzen und mit monoton-verlangsamter Stimme rassistische Vorurteile produzieren. Der Verfremdungseffekt mildert die Wucht der Worte ab. Die soziale Analyse ist schlüssig. Eine Lösung wird allerdings nicht präsentiert und das ist vielleicht auch nicht Eribons Absicht. Dennoch: Besteht überhaupt die Chance, die verlorenen Arbeitermilieus wieder zurückzuholen zur Linken? Ihnen eine neue kulturelle Identität zu verleihen? Diese Aufgabe beschäftigt viele Sozialisten bzw. Sozialdemokraten in Europa zurzeit und das macht „Rückkehr nach Reims“ hochaktuell.

Weitere Informationen: https://www.schauspiel.koeln/spielplan/monatsuebersicht/rueckkehr-nach-reims/




Schulz ist aufgestanden – Wow!

Du meine Güte! Was für ein Gerödel und Gemöhre um so gut wie nichts!

Hä? Worum geht’s? Na, um den Mega-Aufreger bei Anne Will. SPD-Mann Martin Schulz ist doch wirklich und wahrhaftig für etwa eine Minute (???) aufgestanden und dann plötzlich durchs Bild gelaufen, um sich wieder hinzusetzen. Wow! Muss nun die Zeitgeschichte umgeschrieben werden? Müssen alle Rückblicke auf 2018 neu geschnitten werden?

Schulz‘ einigermaßen müßige und wohlfeile Klage just in besagter Sendung, es werde (medial) viel zu viel über Personen und nicht genug über Sachfragen geredet, wurde postwendend bestätigt, nachdem er sich kurz erhob und seinen Platz verließ.

Aufgeregt stoppten einige Medien anhand der Aufzeichnung mit, wie lange Schulz abwesend war (Sendeminute 49:30 bis 51:05). Auch spekulierten sie, was ihn wohl zu diesem ungeheuren Schritt veranlasst haben möge… Manche wussten dann auch schon Bescheid. Hinter dem Horizont (sprich: der Bezahlschranke) ging’s weiter: „Lesen Sie mit BILDplus, warum Schulz die Sendung kurzzeitig verlassen musste…“

Soll ich Euch was sagen? Mir ist es schnurz. Ob nun sein Smartphone zur Unzeit vibriert hat, ob er halt mal austreten oder sich schnäuzen musste, ob sein Mikro oder sonstwas locker war, ist absolut nicht der Rede wert.

Ansonsten frage ich mich ohnehin, warum ich mir den Talk mal wieder angetan habe. Mit allem Komfort: mit einer höchlich empörten AKK, die den Ruf ihres Saarlandes mit Klauen und Zähnen gegen Anwürfe des Wirtschaftsjournalisten Gabor Steingart verteidigte; mit einem FDP-Kubicki, der zu allem nur feixte; mit einer Anne Will, die genüsslich verkündete, die Zeit der „alten weißen Männer“ (*gähn*) sei auch in den einstigen Volksparteien vorüber. Ach!

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P. S.: Um die schier unerträgliche Spannung aufzulösen, gebe ich nachträglich das investigative Recherche-Ergebnis des Portals web.de weiter. Sie haben im Büro Schulz nachgefragt, wo es hieß, der Chef sei nur kurz auf Toilette gewesen. Irre, nicht wahr? Um nicht von Pieselgate zu reden…




Erich Fried: Schriftsteller, Philanthrop, Vor-Denker und Zu-Viel-Schreiber – ein Versuch, Widersprüche zu verstehen

Lachte gerne: Erich Fried. Foto-Copyright: Jörg Briese

Lachte gerne: Erich Fried.
(Foto: © Jörg Briese)

Vor dreißig Jahren, am 22. November 1988, starb der große Schriftsteller Erich Fried in Baden-Baden. Im Sommer zuvor war er auch Gast einer Lesereise quer durchs Ruhrgebiet und schlug privat sein Quartier bei Gerd Herholz auf, dem Autor dieses Beitrags:

Kult und Legendenbildung um Erich Fried dauern ebenso an wie die rigorose Abwertung seines Werks. Höchste Zeit, sich Texte und Leben Frieds wieder einmal genauer anzuschauen.

Wer war Erich Fried?

1921 wird Fried in Wien als einziges Kind der Graphikerin Nellie Fried und des Spediteurs Hugo Fried geboren. Als kleiner Junge spielt er als Mitglied einer Kinderschauspielgruppe auf Bühnen Wiens und der Umgebung. Fried besucht ein Gymnasium im neunten Bezirk, bis dieses im Mai 1938 aufgelöst wird und man die jüdischen Schüler separiert. Im selben Monat stirbt Hugo Fried nach der Haftentlassung an den Folgen eines Gestapo-Verhörs.

Drei Monate später flieht Erich Fried nach London. Seiner Mutter Nellie gelingt es 1939, nach London zu kommen. Am 26. März 1943 stirbt die Großmutter Malvine Stein im Konzentrationslager Auschwitz.

Erich Fried arbeitet in London als Hilfsarbeiter, Bibliothekar, Redakteur. Ab 1950 ist er freier Mitarbeiter/Rundfunk-Kommentator des „German Service“ des BBC World Service. In den letzten Kriegsjahren erschienen seine ersten Gedichtbände unter den Titeln „Deutschland“ und „Österreich“. Seit 1958 publizierte er zahlreiche Bände mit Gedichten und Erzählungen, einen Roman, ein Opernlibretto, Hörspiele und Übersetzungen, vor allem von Shakespeare, Dylan Thomas und T.S. Eliot.

Sein politisches Engagement (u.a. gegen den Vietnam-Krieg, gegen Aspekte der Politik Israels und die Formen der Terrorismus-Bekämpfung in der Bundesrepublik) hat viele politische Kontroversen ausgelöst.

Erich Fried war Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Nach langem Krebsleiden starb er während einer Lesereise am 22. November 1988 in einem Baden-Badener Krankenhaus.

So. Das also war Erich Fried?

Seine 2015 verstorbene Frau Catherine Boswell Fried nannte ihn zärtlich einen „Weisen und Narren in einem“ und schrieb weiter, er sei „unterhaltsam, erhellend oder peinlich“ gewesen „und häufig auch alles zugleich oder in rascher Folge.“
(Catherine Fried: „Über kurz oder lang. Erinnerungen an Erich Fried“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008)

Lebenshunger – Erich Fried an Herholz‘ Küchentisch.
(Foto: © Jörg Briese)

Aber hören wir doch auch einmal in ein Stimmengewirr, eine Pro-und-Contra-Montage von Äußerungen einiger Kritiker und Kollegen Frieds, hören wir, was Walter Hinck, Helmut Heißenbüttel, Matthias Schreiber oder Henryk M. Broder und viele andere über ihn gesagt haben, hören wir Fried-Hasser und seine Bewunderer.

Erich Fried war …
– … ein Stören-Fried!
– … nein, ein wirklicher Dichter. Und das wollte er auch werden. Mit 17 Jahren erklärte er 1938 in London vor dem Jüdischen Flüchtlingskomitee: „Meine Absicht ist, ein deutscher Dichter zu werden.“
– Dieser Emigrant? Ein deutscher Dichter? Dieser Österreicher mit britischem Pass?
– Dieser Sinn-Stifter!
– Dieser Unruhe-Stifter!
– Nein, ein großer alter Mann der Lyrik, ein Mahner…
– … ein „dichtender Verschwörungsneurotiker“.
– Nein, nein. Ein Tabubrecher, ein „Genie im Auffinden öffentlicher Fettnäpfchen“.
– Ach was, ein Nestbeschmutzer, „immer dieselbe Mischung aus ergreifender Naivität, entwaffnender Weltfremdheit und pueriler Selbstgefälligkeit“.
– Als Jude, mit dieser Biographie?
– … als Heimatloser, als Antizionist, als jüdischer Selbsthasser zwischen allen Stühlen eben.
– Hasser? Dieser Menschenfreund? Ein Moralist im besten Sinne!
– Ein Querulant! Ein Demagoge!
– Ein „genialer Lyrikerneuerer“, ein „Sprachakrobat“ …
– … ein Vielschreiber, ein „flotter Platitüdensammler“, Erich Fried, der „rasende Verworter“!
– Ein couragierter Menschenrechtler, der …
– … vor allem eins lieferte: „Trauerarbeit vom lyrischen Fließband“, eben nur ein „Schreihals vom Dienst“.
– … Quatsch, ein „ironischer Dialektiker“, „ein virtuoses Schreibtalent, ein sprachbesessener Wortspieler“ ….
– O Gott. Dieser lyrische Weichzeichner, dieser zum Kitsch, zum Pathos neigende, immer sturzbetroffene „Wanderrabbi“?

Reich-Ranicki und der „revolutionäre Überwachungsdienst“

Jaja. Und in Israel ist Fried nach dem Erscheinen seines Romans „Ein Soldat und ein Mädchen“ für einen der Rezensenten gar ein „schlecht getarnter Nazi“. Die FAZ bezeichnet Fried im Oktober 1977 nach der Veröffentlichung des Gedichtes „Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback“ als einen Verfasser von „Mörderpoesie“. Und in seinem Nachruf auf Fried, den er mit „Mein Freund Erich Fried“ begann, erklärte Marcel Reich-Ranicki, Erich Fried „verkörperte den permanenten Protest“, er sei so etwas gewesen wie ein „revolutionärer Überwachungsdienst“.

„Revolutionärer Überwachungsdienst“? Das hieße doch, zu Ende gedacht, Fried wäre eine Art Ein-Mann-Über-Ich der Linken mit umfassenden Stasi-Kompetenzen gewesen? Da soll ausgerechnet dem Dichter, der nie eine andere Macht als die des Wortes zur Verfügung hatte, genau der Machtmissbrauch unterstellt werden, den M.R.-R. aus der FAZ heraus gelegentlich selbst betrieb?

Am deutlichsten wurde am 3. November 1977 die CDU in der Bremer Bürgerschaft. Sie stellte einen Missbilligungsantrag gegen Fried-Gedichte im Schulunterricht. Anlass war in erster Linie das Gedicht „Die Anfrage“. Der Vorsitzende der CDU-Fraktion Bernd Neumann erklärte „(…) so etwas würde ich lieber verbrannt sehen (…)“.

Und wissen Sie noch, welches Amt Bernd Neumann später bekleidete? Genau. Er war Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Immer lesend, immer schreibend: Erich Fried.
(Foto: © Jörg Briese)

Schreibzwang und Dialektik

Anders als solche Schmähungen ist aber weder Legende noch übler Nachruf: Erich Fried hat in der Tat Abertausende von Gedichten geschrieben. Darunter viele schlechte. Zu viele davon hat er leider auch veröffentlicht.

Erich Frieds dritte Frau, Catherine Boswell Fried, schreibt in ihren „Erinnerungen“ (a.a.O., S. 75):
„Erich war ungeheuer produktiv; er schrieb Gedichte in hohem Tempo. Aber wer weiß, wahrscheinlich war er mit vielen schon ein halbes Leben unterwegs gewesen. Ich kam morgens nach unten und fragte mich, wo er wohl war, weil er mir gewöhnlich gern eine Tasse Tee heraufbrachte, und dann saß er am Tisch, grinste fröhlich und erzählte mir von sechzehn Gedichten, die er schon geschrieben habe, auch wenn er später vielleicht einräumte, dass nicht alle besonders gut seien.“

Fried bewertete die Texte aus den Bänden „Deutschland“ und „Österreich“ später selbstironisch mit den Worten: „… im Grunde Jugendgedichte von recht konventioneller Form, wenn auch inhaltlich für mich noch heute nicht ganz veraltet. (…) einige bedienen sich auch noch des Volksliedtones – oder fallen ihm zum Opfer.“

Sicher, oft gelang es Fried nicht, bei seiner enorm hohen Produktivität, die souveräne Haltung des aufgeklärten Aufklärers in seinen Texten glaubhaft durchzuhalten und ihr sprachlich Ausdruck zu verleihen. Selbstverständlich geriet er in seinem missionarischen Eifer oft in die Gefahr, pathetisch zu werden, besserwisserisch zu belehren, platte Appelle statt Gedichte zu produzieren, Leitartikel nur pseudo-literarisch zu illustrieren. Sein „Ausdruckszwang“ (wie Hans Mayer das nannte) führte eben immer auch zu Gedichten zweiter und dritter Wahl, viel zu oft schlichtweg zu Poesie-Placebos und Laber-Lyrik.

Vielleicht ein Versteckenspielen vor den eigenen traumatischen Kindheits- und Jugenderfahrungen, ein Versteckenspielen vor den Möglichkeiten und Abgründen der Sprache, Versteckenspielen vor der Komplexität der Wirklichkeit. Und nicht nur der junge Fried schrieb Unfertiges, Epigonales, Plattes. Immer wieder führten Frieds Schreibwut und sein Mitteilungsdrang tatsächlich nur in die belanglose Spielerei, ins Politgeplapper, in die Langeweile.

Andererseits:
Franz Fühmann schrieb einmal den Satz: „Das fast völlige Verschwinden der politischen Lyrik ist ein Phänomen, das beunruhigen sollte.“ Angesichts des Kasinokapitalismus, des Syrienkrieges, angesichts des alltäglich gewordenen Nationalismus und Rassismus fehlt heute eine komplexe politische Lyrik, wie sie die besten Gedichte Frieds lieferten. Die nämlich erhellten verdeckte Zusammenhänge, entlarvten mit Hilfe der Montage von Medienmeldungen deren Desinfomationsstrategien und Lügengebäude. Nie gab sich der Dichter Erich Fried zufrieden mit der Rolle des pseudo-neutralen Chronisten, schon gar nicht mit der des bloß betroffen zeilenschindenden Dichter-Darstellers.

Die grundsätzlicheren und von Erich Fried immer wieder selbst reflektierten Fragen sein Schreiben betreffend müssten also eher so lauten: Wie radikal verhält sich der Autor zu seiner eigenen Moral, seiner Betroffenheit? Inwieweit gelingt es Fried, Betroffenheit sprachlich so zu übersetzen, dass er Larmoyanz und öffentliche Heuchelei vermeiden kann?

Erich Fried 1988 als Gast des Literaturbüros Ruhr im Mülheimer Theater an der Ruhr. (Foto: © Jörg Briese)

Stilmittel gegen Stillstand

Die Gegner des Dichters Erich Fried kleideten ihre politischen Angriffe oft in fadenscheinige literaturkritische Gewänder und hätten gerne erreicht, dass man Frieds Werk mit seinen schlechtesten Texten verwechseln und also besser nicht zur Kenntnis nehmen sollte. Der Dichter Erich Fried hat Abertausende von Gedichten geschrieben, darunter auch viele sehr gute, jedenfalls mehr als die von Gottfried Benn bei jedem Dichter allein für möglich gehaltenen fünf oder sechs.

Indem man Erich Fried als Dichter zu demontieren versuchte, wollte man auch seine politischen Einmischungen als Torheiten enttarnen. Angriffe auf Frieds ästhetisches Programm oder gar die Unterstellung, Fried sei zu wahrhaft ästhetischer Gestaltung gar nicht in der Lage, zielten oft nur auf die von ihm vorgetragenen Inhalte.

Entgegen solcher Diffamierung aber war es so – und man kann dies an Frieds Texten auch jederzeit nachvollziehen –, dass er ein großes Repertoire an Kunstmitteln entwickelte. Zudem erweiterten Frieds Lektüre- und Übersetzer-Erfahrungen schon in jungen Jahren seine Palette literarischer Gestaltungsmittel.

Das ernsthafte Wortspiel

In Interviews, Briefen, Vor- und Nachworten ging Fried immer wieder auf das Stilmittel des ernsthaften Wortspiels ein, verteidigte es gegen seine Kritiker und erklärte seine Möglichkeiten. Das ernsthafte Wortspiel, so Fried, sei ein „Kunstmittel der Aussage durch Montage von Wortklangassoziationen“, es sei ein Stück „Spracherotik“ und stoße deshalb – wie alle wirkliche Erotik – auf einiges Unverständnis in Deutschland.

Man könnte über Fried hinaus auch argumentieren, dass das ernsthafte Wortspiel vor allem alle Möglichkeiten der „écriture automatique“ eröffnete, des automatischen Schreibens also, des zunächst unzensierten sprachlichen Assoziierens, des Springens zu ähnlichen Wortklängen und ihren unterschiedlichen Bedeutungen, des Beim-Wort-Nehmens und des In-die-Sprache-Fallens. Nicht nur, aber auch durch das ernsthafte Wortspielen gelang es Fried in seinen Texten immer wieder, das Politische mit dem Unbewussten, das Private mit dem Öffentlichen, die Sprache mit der Geschichte zu verschränken.

Mit dem ernsthaften Wortspiel tritt am deutlichsten der „Fried-Gestus“ (Alexander Bormann) hervor: „Frieds Sprachspiele lösen alte Zuschreibungen auf, erproben neue Lesarten, zeigen, wie die Alltagssprache Wirklichkeit feststellen möchte.“

Erich Frieds Gedichte setzten zudem immer genaue Lektüre, seine Recherchen, sein Informiertsein en détail voraus, bevor sie Zusammenhänge erhellen konnten und zum Mitdenken gegen die „Verschwörung des Ver-/Schweigens“ einluden. Alexander von Bormann schrieb: „Was in Kritiken immer wieder auffällt: dass Erich Frieds poetische Leistung (…) gar nicht wahrgenommen wird. Sie besteht in einer Brecht weiterführenden Wiederversöhnung von Poesie und Rhetorik, die in der deutschen Poetik seit der Klassik als unvereinbar galten.“

Und in der Tat, neben dem „ernsthaften Wortspiel“ arbeitete Fried mit allen möglichen rhetorischen Figuren (behauptete aber oft, dass er dies nie bewusst getan habe). Etwa mit der Frage als vorherrschender Redefigur, mit Figuren der Wiederholung, der Häufung, der Überkreuzstellung, der Paradoxie usw. Mit Hilfe dieser rhetorischen Figuren entwickelt Fried seine Aphorismen, Sentenzen und Sprüche, seine Grotesken, seine Warn- und Gegengedichte, aber manchmal eben auch seinen hohen oder hohlen Ton, sein Pathos.

(Foto: © Jörg Briese)

Politik und Gedicht

Wer Fried liest, das haben Sie zu Anfang dieses Beitrags zu lesen bekommen, befindet sich – ob er will oder nicht – im Schilderwald der deutschen Literaturkritik, und das ist immer auch der Wald von Schilda. Auf den Schildern in diesem Schilda-Wald stehen unzählige Ge- und Verbote, die das Schreiben und Lesen verregeln, also verriegeln sollen:

Du sollst nicht komisch sein. Komik und Literatur vertragen sich nicht./ Du sollst nicht realistisch schreiben. Realismus ist überholt. In einer korrumpierten Sprache lässt sich Wirklichkeit nicht mehr erfassen./ Du sollst nicht formalistisch sein./ Du sollst nicht experimentell sein./ Du sollst nicht moralisch sein./ Du sollst nicht politisch sein. Wer in der Literatur politisch wird, bringt sich um seine ästhetischen Möglichkeiten./ Du sollst mit Literatur nicht eingreifen wollen./ Du sollst nicht obszön werden. Du sollst, du sollst, du sollst …

Dazu einige Passagen aus einem Interview, das ich im Juni 1988 mit Erich Fried führte:

Du unterscheidest bei deinen politischen Gedichten zwischen Agitationstexten für den Tag, Gedichten als Informationsträgern und solchen, in denen es um Haltungen geht.

Fried: Das erste sind Kampftexte, die haben eigentlich nur Sinn, wo es Situationen gibt, in denen diese Texte auch wirklich von bewegten Massen aufgenommen werden können. (…) Informationsträger sind Gedichte oft dann, wenn sie statt Agitation, die immer auch Forderungen stellt, mehr aufklären, Informationen geben möchte, die sonst nicht zu haben sind.

Ein Beispiel?

Fried: In einem meiner Gedichte sage ich etwas über die israelische Einheit 101. Das sind Leute, die über die Grenze nach Jordanien gefahren sind und einfache Menschen erschossen haben, die ihnen vor das Auto kamen. Auch Frauen und Kinder. Das muss die Öffentlichkeit erfahren. Ich kann diese Aussagen natürlich belegen.
Bei der letzten Art von politischen Gedichten geht es oft um Haltungen, Verhaltensmuster, die ich kritisiere oder solche, die ich mir wünsche. In den Liebesgedichten, z. B. in dem „Dich dich sein lassen“, versuche ich, überholten Haltungen wie dem Besitzdenken im Hinblick auf die Partnerin zu begegnen. Von da aus sind die Übergänge fließend zu den nichtpolitischen Gedichten. Jedes Gedicht ein politisches Gedicht zu nennen, das sprengt den Begriff des Politischen Gedichts.“

Peter Rühmkorf meinte vor allem Frieds Gedichte aus „und vietnam und“, als er von ihnen als „Dechiffriergeräte(n)“ sprach und bewunderte an ihnen „die schritt- und zeilenweise vorangetriebene Aufklärung bis hin zum erlösenden Aha-Erlebnis“. „Der vom Gedicht beabsichtigte Aufklärungsvorgang“, so Rühmkorf, lasse „wohltuend entqualmte Köpfe zurück“.

Frieds Verse ermöglichen nicht nur „das plötzliche Erfassen der Zusammenhänge“, wenn man ihnen folgt, nein, indem sie Denken vormachen, ermöglichen sie es auch dem Leser. In vielen seiner Gedichte ist Fried eben nicht der Besserwisser, Prediger oder belehrende Mahner, sondern ein verletzlicher Vor-Denker, der sein Denken, aber auch seine Gefühle so weit offenlegt, dass man sich als Leser selbst öffnet, dass man der Einladung folgt, dem Vor-Denker nach zu denken, im Nachdenken auch dem Vorgedachten zu widersprechen.

Und, indem sich Fried auch selbst in Frage stellt, stellt er zugleich uns Fragen.

In seinem Gedicht „Realistischer Realismus“ schreibt er ironisch: „Die ewigen/ Wahrheiten/ meiner Gedichte/ langweilen mich// Wann/ kommen endlich/ ihre Irrtümer/Träume/ und Lügen//“

Salman Rushdie hat einmal gesagt, dass für ihn der Zweifel die Grundhaltung der Moderne sei. Insofern war Fried ein sehr moderner Autor. Für Fried schloss der Zweifel immer auch den Selbstzweifel mit ein. Am deutlichsten wird dies in Erich Frieds Gegengedichten. Im Vorwort zu „Befreiung von der Flucht. Gedichte und Gegengedichte“ schreibt Fried: „Der Gedanke, Gegengedichte zu meinen eigenen Versen zu schreiben, kam mir, als mein vergriffener (…) Band Gedichte neu aufgelegt werden sollte. Beim Wiederlesen wurde mir klar, wie sehr ich mich seither geändert habe, aber auch, dass ich nicht nur deshalb und nicht nur aus ästhetischen Gründen anders schreibe, sondern mehr noch weil die Zeit, die sich auch in den Gedichten spiegelt, nicht mehr dieselbe ist.“
(Erich Fried: Gesammelte Werke, Band 1, S. 521)

Erich Fried 1988 – wenige Monate vor seinem Tod.
(Foto: © Jörg Briese)

„Ein Dichter muss lernen, seine Einfälle jederzeit zu respektieren.“

Vor allem Frieds politische Gedichte wurden oft als verkopfter Agitprop abgewertet, einmal sogar als „Gedachte“ statt als Gedichte bezeichnet. An der offensichtlichen Tatsache, dass er kein Dichter der heftigen Bilder war, litt auch Fried selbst ein wenig.

Dazu noch einmal ein kleiner Auszug aus meinem Interview mit Erich Fried (Interview-Auszug DVZ/die tat, Nr. 48, 2. Dez. 1988):

Möchtest du noch auf andere Weise schreiben können?

Fried: Nein. Das, was mir in den Kopf kommt und was mir am Herzen liegt, will ich ordentlich formulieren können. Dafür mach’ ich mir nicht zu viele Regeln. Wenn ich jetzt hergehen würde und darüber nachdächte: Wie will ich jetzt schreiben und nach welchen Regeln?, das wäre das Ende. Es ist wichtig, dass man sich nicht verbaut. Es ist auch wichtig, dass man seine Einfälle respektiert. Wenn man zu Einfällen ein ausbeuterisches oder gleichgültiges Verhältnis hat, dann trocknet die Phantasie mit der Zeit aus. Ein Dichter muss lernen, seine Einfälle jederzeit zu respektieren.

Du bist kein Dichter der heftigen Bilder.

Fried: Bilder habe ich überhaupt nicht viele. Wenn ich Liebeslyrik schreibe, gelingen mir Bilder noch am leichtesten. Im Allgemeinen: viel Gedankenlyrik im Verhältnis zur Bilderlyrik. Bei mir ist es so, dass der Bilderreichtum abnahm, je genauer ich formulieren lernte. Und das scheint mir keine rein erfreuliche Sache. Ich hab deshalb immer Anlässe gesucht, bilderreich zu sein. (…) Ich – als Erich Fried – wenn ich nicht Celan oder Hölderlin nachempfinde, dann fällt es mir schwer bilderreich zu sein. Weil ich doch versuche – letzten Endes – die Welt mit Hilfe der Ratio – trotz meiner Sinnlichkeit – zu bewältigen, mich der Welt zu erwehren, überhaupt leben zu bleiben. ‚Bewältigen‘: Darin liegt schon eine ungeheure Hybris.“

Liebes- und Leibesgedichte

Sich lebend zu spüren, hieß für Fried auch, sich liebend zu spüren. In den Liebesgedichten aber artikulierte sich nicht etwa ein ganz anderer Erich Fried. Obwohl er in den Liebesgedichten seiner Wort-Lust und Sinnenfreude freien Lauf lassen konnte, sind auch sie von der gleichen Haltung durchdrungen wie die politischen Gedichte: von der Skepsis gegenüber allen Illusionen und Fremdbestimmungsversuchen, und von der Hoffnung auf Menschlichkeit.

Und auch zu seinen Liebesgedichten behielt Fried ironische Distanz. Ich zitiere noch einmal aus Catherine Frieds Erinnerungen an Erich Fried (a.a.O., S. 56):
„Seine Gedichte standen auf Transparenten, auf Plakaten, an Brücken. Einmal sahen wir sein ungeheuer populäres Gedicht ‚Es ist was es ist‘, Vers um Vers sorgfältig abgeschrieben, auf der Mauer einer Unterführung. ‚Manchmal wünschte ich, ich hätte das Ding nie geschrieben‘, seufzte Erich.“

Sie aber seufzen bitte nicht, sondern lesen sie wieder, die Gedichte Erich Frieds, dieses Autors zwischen Dilettantismus und Dichterhimmel, zwischen argumentativer Schärfe und Geschwätz, zwischen Pathos und Poesie, Bild und Begriff, zwischen Dialog und Dialektik, Moral und Moralin, Mut und Melancholie.

In Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ fand ich die Worte, von denen ich finde, dass sich mit ihnen Leben und Werk Erich Frieds am treffendsten charakterisieren lassen: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst. (…) der Mensch ist immer ein Lernender, die Welt ist ein Versuch.“

– Erich Fried: Gesammelte Werke. Band 1-4. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 1993
– Erich Fried: Ein Leben in Bildern und Geschichten. Herausgegeben von Catherine Fried-Boswell und Volker Kaukoreit. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1996
– Catherine Fried: Über kurz oder lang. Erinnerungen an Erich Fried. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2008




Nations League: Abstieg des deutschen Teams besiegelt – Ob „Jogi“ Löw nun endlich die Konsequenzen zieht?

Schluss und ‚raus! Das war’s. „Die Mannschaft“ kann sich aus eigener Kraft nicht mehr vor dem Abstieg retten. Es hat gereicht, dass die Niederlande Frankreich heute Abend 2:0 geschlagen haben, um die Gruppen-Arithmetik vorzeitig zuungunsten des deutschen Teams zu entscheiden. Die Begegnung mit den Niederlanden am nächsten Montag in Gelsenkirchen ist damit nur noch Formsache. Künftig heißt es: zweitklassig in der Nations League. Trotzdem reden Trainerstab und DFB-Spitze die Lage schön.

Welchen Ball hätten'S denn gern? (Foto: BB)

Welchen Ball hättens denn gern? (Foto: BB)

Kann es denn Zufall sein, dass die Krisen und Niedergänge der CSU, des FC Bayern München, der deutschen Autoindustrie und der deutschen Fußball-Nationalmannschaft sich gleichzeitig manifestieren? Wohl kaum! Allerorten scheinen Neuanfänge und/oder Rücktritte fällig zu sein. Und das betrifft nicht mehr nur den bislang so erfolgsverwöhnten Süden der Republik.

„…dann ist es halt so“

Bundestrainer Joachim Löw, der eh mindestens rund 50 Millionen Kolleginnen und Kollegen im Lande hat, war inzwischen überaus reif für den Rückzug. Die „Bild“-Zeitung, mit der die Prominenz jeder Schattierung bekanntlich im Fahrstuhl aufwärts und dann irgendwann meist wieder rasant abwärts fährt, hat dafür ein geradezu teuflisch untrügliches Gespür: „Jetzt reicht’s, Jogi“, hieß neulich eine Brüllzeile im Online-Auftritt.

„Wenn wir absteigen, dann ist es halt so“, hat Löw schon vorauseilend verkündet. Googelt einfach mal: „Dann ist es halt so“ (oder „eben so“) ist eine immer mal wieder verwendete, geradezu flapsig-resignative Formel von Löw. Einen solchen Satz sollte sich mal ein Bundesliga-Trainer erlauben. Er wäre am nächsten Tag entlassen. Ebenso wie ein Firmenchef, der äußerte: „Wenn unsere Umsätze und Gewinne schrumpfen, dann ist es halt so.“ Doch der gleichsam verbeamtete, offenbar auf Lebenszeit bestallte Jogi darf die Misere weiter aussitzen. Oder etwa nicht? Tritt er nun in Etappen zurück, ähnlich wie Angela Merkel?

Die nie wieder verlieren können

Allzu lange hat Löw am vermeintlich Bewährten festgehalten; etwa nach dem insgeheimen Motto: Wer 2014 Weltmeister war und Brasilien 7:1 besiegt hat, kann quasi nie wieder verlieren. Ganz ähnlich, wie nach dem WM-Sieg 1990 Franz Beckenbauer getönt hatte, das nunmehr wiedervereinte Land sei „auf Jahre hinaus“ unschlagbar. Und so spielten sie denn entsprechend bräsig. Kritik ließen sie kaum an sich heran.

Wie lange beispielsweise ein Khedira noch auf dem Feld herumstehen durfte! Da ging jede Menge Zeit verloren, in der man begabte und ehrgeizige Nachfolger hätte aufbauen können. Löws geduldiges Zuwarten erwies sich zunehmend als beratungsresistente Sturheit und betraf beileibe nicht nur diesen Posten, sondern das gesamte Gefüge des Teams. Experimente wurden stets nur halbherzig in Angriff genommen, es fehlte die grundlegende Reform. Derweil bastelte der ach so smarte Oliver Bierhoff am coolen Image. Im Namen von Adidas und Mercedes-Benz.

Den Richtigen Zeitpunkt zum Rücktritt verpasst

Doch dann zeigte die bittere Wahrheit ihre Fratzen, sie feixte sich eins. Das gar frühe Aus bei der WM – hochnotpeinlich. Das 0:3-Debakel gegen die Niederlande – quälend oder lachhaft, je nach Betrachtungsweise. Sodann das nicht ganz so schlimme Match gegen das schier übermächtige Frankreich. Gegen die etwas unbedarften Russen lief es eine Halbzeit lang sogar wie am Schnürchen. Man wird sehen, ob es etwas zu bedeuten hatte.

TV-Motzki Oliver Kahn hat es schon recht früh gesagt: Hätte Löw gleich nach dem erfolgreichen WM-Finale 2014 seinen Bundestrainer-Posten quittiert, wäre er eine Art Lichtgestalt geblieben. So aber hat der Mann, der so gerne Leute aus dem deutschen Süden und Südwesten um sich versammelte (speziell Dortmunder Spieler hingegen mit Vorliebe ignorierte), sein eigenes Andenken gründlich beschädigt.

Künftig Gekicke à la Merz oder Spahn?

Und nun? Wird es wieder so sein, wie man seit Jahrzehnten munkelt: dass das Nationalteam eben jenen Fußball spielt, der „irgendwie“ der waltenden Bundespolitik entspricht (z. B. frischwärts unter Willy Brandt, behäbig unter Kohl)? Ich wage mir nicht vorzustellen, wie ein Gekicke à la Friedrich Merz oder nach Art von Jens Spahn aussähe. Wie bitte? Nee, AKK-Fußball wäre wohl auch nicht die Offenbarung. Was aber dann?




Der enteignete Flüchtling oder: Wie Helfer sich selbst helfen

Von wegen: Der Flüchtling, Geflüchtete, Migrant nimmt „den Deutschen“ die Arbeit weg! Theaterpädagogen, Erwachsenenbildner, Sprachlehrer, Bittsteller aller Art sowie Kulturpolitiker und Ministerien haben beim Geldbeschaffen und -ausgeben seit Längerem die „Flüchtlingsarbeit“ entdeckt. So hält man gekonnt sich selbst und seine Institution über Wasser oder in der Presse.

Ilija Trojanow signiert sein Buch „Nach der Flucht“ – Literaturhaus Dortmund, Herbst 2017.
Foto: Jörg Briese

Projekte & „Maßnahmen“

Clevere Kultur-/Bildungsinstitutionen produzieren unentwegt Projekte & „Maßnahmen“, in deren subventioniertem Rahmen sesshafte Deutsche gestrandete Boatpeople fürsorglich betreuen. Der Flüchtling als aufzupäppelndes Mündel erzählt dann beim Integrations-Coaching, auf der Bühne oder im Video seine Geschichte, erregt kurzfristig Mitleid – das zu nichts führt.

Anästhesie statt Aufwachen

Welch öde Fassadenmalerei: Weder die Künstlerin noch der Pharmaziestudent aus Aleppo werden sich je geglückt zur Sprache bringen, indem sie sich auf ihr Flüchtlingsdasein reduzieren (lassen).

Und nach der „Maßnahme“? Der syrische Zahnarzt wird in die Altenpflege gedrängt, die IT-Fachfrau zum Caritas-Praktikum. Nur die Träger der „Integrations“-Projekte selbst haben allerdings eine Zukunft: Mein lukrativer Flüchtling komme, mein Wille geschehe. „Flüchtlingsindustrie“ heißt das obszön. Interkulturelles Lernen sieht sicher anders aus.

Da bleibt’s  doch komfortabler bei der Mär, die Einwanderer nähmen uns jene Arbeit weg, die wir eh nicht mehr machen wollten. Doch wehe uns! Eines Tages vielleicht treffen wir in Pflegeheimen mit Deutschlandfahnen in den Fenstern auf arabische, nordafrikanische, afghanische Pflegekräfte – und dürfen froh sein, wenn sie uns mit der Bettpfanne (inklusive Notdurft) keins überziehen.




Aufruhr in der Provinz: Das Jahr 1968 in Westfalen

„1968 in Westfalen“: Der Buchtitel lässt aufhorchen, stehen doch Sauer- und Münsterländer ebenso wie Bewohner von Bergmannssiedlungen im Revier nicht gerade in dem Ruf, Rebellionen anzuzetteln. Folglich müsste es doch eigentlich vor 50 Jahren ganz ruhig geblieben sein, als in Frankfurt, Hamburg, München und Berlin Studenten in Scharen mit der Parole „Unter den Talaren Muff aus 1000 Jahren“ auf die Straße gingen.

Der Historiker Thomas Großbölting von der Uni Münster betreibt in dem Band nun eine Spurensuche. Er will rekonstruieren, was das Jahr 68 im Westfalenland nun wirklich ausgemacht hat. Herausgekommen ist dabei weit mehr als eine simple Chronik von Ereignissen, sondern die prägnante und zugleich einordnende Darstellung eines Umbruchjahres mit seinen Folgewirkungen für die Provinz. Großbölting ist übrigens der Ansicht, dass Dortmund oder Münster seinerzeit eher Mittel- als Großstädte gewesen seien.

Vom kurzen und vom langen ’68

Auch in Westfalen riefen die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und des charismatischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke sowie die Massaker der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam massive Reaktionen hervor. Die Menschen versammelten sich in großer Zahl zu Gedenk- oder auch Gebetsstunden, auch kam es zu offenen Protesten gegen Rassismus, Diskriminierung und das militärische Vorgehen der USA in Indochina.

Nachdem Großbölting gleich zu Beginn seines Buches erklärt hat, 1968 könne nicht rein als Jahreszahl verstanden werden, sondern sei vielmehr Chiffre für Widerstand, Proteste und Revolte, geht er auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen jener Zeit ein. Dabei kommt er zu einer aufschlussreichen Unterscheidung. Der Wissenschaftler spricht von dem „kurzen“ und dem „langen“ 1968.

Er meint damit einerseits die eher ereignisorientierte Ebene. Die beginnt für ihn bereits am 2. Juni 1967 mit dem Tod von Benno Ohnesorg, den während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss. Diese Phase endet mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze Ende Mai 1968 im Bundestag – gegen alle Widerstände in der Bevölkerung.

Nachhaltige Veränderung der Gesellschaft

Andererseits – und das ist dann die Langversion – hat 1968 zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Nach Darstellung des Historikers sind „ökologisches Bewusstsein, Gleichstellung von Mann und Frau, die Akzeptanz verschiedener Formen von Sexualität, Friedensorientierung, Emanzipation und Partizipation“ heute nicht nur Teil des Mainstreams, sondern man definiere damit auch die „Loyalität zum System“.

An diesen Umwälzungen und speziell an dem „kurzen“ 1968 haben traditionelle Unistädte wie Münster mit den Studierenden ihren Anteil, aber ebenso die dazu im Vergleich noch sehr jungen Hochschulen in Ruhrgebiet. Dass es überhaupt zur Gründung der Unis in Dortmund, Bochum oder Bielefeld kam, steht im engen Zusammenhang mit dem Bildungsnotstand, der nicht nur in Deutschland, sondern in der damaligen westlichen Welt in Folge des Sputnik-Schocks ausgemacht wurde. Sputnik hieß der erste Satellit, den die Sowjetunion ins Weltall geschickt und damit im Westen Bedrohungsängste ausgelöst hatte. Mit der Forcierung von Bildung wollten nun die Industriestaaten im Wettlauf mit den Russen deutlich punkten.

Bildungsnotstand als Keim der Kritik

Bildungsnotstand und Kritik am Bildungssystem sollten allerdings auch zum Thema der Studierenden werden. Ihr Aufbegehren in Westfalen entsprang aber vor allem universitären Anlässen, wie beispielsweise in Bochum als Protest gegen eine geplante Univerfassung. Oftmals ging es allerdings auch um politischen Ereignissen, unter anderem bei der wohl größten Aktion in Münster mit über 2000 Beteiligten, die den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger bei einem Besuch der Stadt mit Sprechchören ob dessen Nazi-Vergangenheit empfingen.

Nun ist das Buch aber nicht nur lesenswert, weil es aufzeigt, dass auch Studierende in Westfalen es verstanden, auf die Straße zu gehen, sondern es beschreibt auch das gesamte Ausmaß von Aufruhr in Westfalen und darüber hinaus. Wenn man so will, blieb kaum eine gesellschaftliche Gruppe verschont, auch die Kirchen nicht. Beim Katholikentag in Essen gab‘s Debatten am laufenden Band und eine bis dahin kaum gekannte Heftigkeit der Kritik an den Kirchenoberen. Schüler und Lehrlinge machten Front gegen zu hohe Busfahrpreise, Jugendliche forderten mehr Jugendzentren. In Bochum oder auch in Münster machten Aktivistinnen von sich reden, die die traditionelle Rolle von Mann und Frau in Frage stellten und damit die Emanzipationsbewegungen nach vorne brachten.

Als Rudi Dutschke mit Johannes Rau diskutierte

Dass es in diesen stürmischen Zeiten auch Momente gab, die von Sachlichkeit geprägt waren, macht der Autor am Beispiel einer Debatte in der Wattenscheider Stadthalle deutlich. Im Februar 1968 diskutierte dort der damalige Fraktionschef der NRW-SPD (und spätere Bundespräsident) Johannes Rau mit Rudi Dutschke, der sich nach Meinung von Beobachtern nicht als radikaler Studentenführer präsentierte, sondern eher als „parteipolitischer Konkurrent der SPD“.

Wer nun wissen möchte, wo denn eigentlich der Protest seinen Ausgang nahm, den nimmt Großbölting mit auf einen Besuch in den USA Mitte der 60er Jahre, als Studierende sich für Redefreiheit auf dem Campus einsetzten, Woodstock zur Legende wurde, Schwule und Lesben, Native Americans sowie Vietnamkriegsgegner Demonstrationen organisierten. Apropos USA: Großbölting nutzt die letzten Zeilen des Buches, um eindringlich darauf hinzuweisen, dass die heutige Liberalität, die zweifellos 68 zuzuschreiben ist, keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Thomas Großbölting: „1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung“. Ardey Verlag, Münster. 172 Seiten, 13,90 €.




Zwei Rüpel in den Palästen

Eigentlich muss man über diesen Typen gar nicht mehr viel reden. Er hat sich oft genug selbst bis zur Kenntlichkeit dargestellt, besser gesagt entstellt; vulgo: sich selbst entlarvt und demaskiert.

Harmloses Bild zum todernsten Thema. (Foto: BB)

Harmloses Bild zum todernsten Thema. (Foto: BB)

Dreimal dürft Ihr raten, wen ich meine. Selbstverständlich den notorischen Twitterer, der sich jüngst bei der Queen mal wieder schwer daneben benommen hat. Er mochte beim Abschreiten ihrer britischen Ehrengarde nicht auf sie warten und stampfte gegen jede Regel elefantig voraus. Dann aber bremste er so abrupt, dass die ehrwürdige alte Dame beinahe auf ihn aufgelaufen wäre. Du meine Güte! Zuvor hatte er mal mal wieder einige Staats- und Regierungschefs rüde attackiert. Normal. Jedenfalls bei ihm.

Tage später benahm sich sein russischer Präzeptor ebenso ungeschlacht. Beim WM-Finale ließ er die versammelten Damen und Herren um sich herum im starken Regen stehen, während er sich selbst einen Schirm reichen ließ. Ihr alle kennt die Szene. Andere warten lassen und blöd aussehen lassen. Das gehört bei solchen Strolchen dazu.

Tropfnass wurden immerhin Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic, die freilich selbst etwas über die Stränge schlug, allerdings eher im beschwipsten Sinne (und deshalb von einem Boulevardblatt „Alkoholinda“ getauft wurde). Ihr kleiner Kontrollverlust ist schon eher verzeihlich.

Zurück zu diesen Kerlen, den zwei egomanischen Selbstdarstellern, die alle diplomatischen Gepflogenheiten beiseite fegen. Beider Treffen in Helsinki hat inzwischen gezeigt, wer nun wirklich das Zeug zum Zaren haben könnte und wer nur ein pathologisch polternder Kasper ist. Einig sind sie sich offenbar im rücksichtslosen Verhalten, im Rempeln und Pöbeln.

Verdammt dumm nur, dass beide über diese roten Knöpfe verfügen. Im Grunde könnten sie in ihren Palästen ganztags ballonseidene Trainingsanzüge tragen und zu haltlosem Gelalle Bierpullen schwingen. Wobei zu sagen wäre, dass rund ums Revier-Büdchen unter Trunkenen oft noch mehr Ehrenkodex herrschen dürfte. Friede den Hütten!

Habt ihr etwas Älteren früher auch Bücher wie „Der gute Ton“ an die Hand bekommen? Wie stocksteif ist einem das damals erschienen. Und wie hat man es begrüßt, wenn eine öffentliche Person mal vom gar zu strengen Regelwerk abgewichen ist. Jaja, auch über einen wie Fritz Teufel hat man herzlich gelacht. Und heute? Gilt einer wie D. T. (dem ich nicht mal den kompletten Namen gönne) manchen als „Anarchist“. Nein, danke! So darf diese Bezeichnung nicht beschmutzt werden.

Früher habe ich mal gedacht, Benimmregeln seien überhaupt nebensächlich, es komme nur auf die Inhalte an. Doch nein! Es gilt, eine Form zu wahren. Auch und gerade in der Sphäre der zugewachsenen Macht kann und sollte man/frau ein gewisses Mindestmaß an Anstand verkörpern. Daraus ergibt sich dann im besten Falle auch ein anderer Umgang mit politischen Fragen.




Standardsituationen und schwindende Gewissheiten – eine kurze, weitgehend schmerzlose Bilanz zur Fußball-WM

Meine kleine Ballsammlung (Foto: BB)

Unsere kleine Ballsammlung (Foto: Bernd Berke)

Na gut, äh! Irgend eine Bilanz zur Fußball-WM muss man jetzt wohl ziehen. Sei’s drum. Wir haken das mal eben Punkt für Punkt ab. Bei Nummer 22 (naturellement 2 x 11) ist dann aber Sense. Versprochen.

  1. Gratulation dem Weltmeister Frankreich. Es war – nehmt alles nur in Allem – tatsächlich das beste, in allen Mannschaftsteilen ausgewogene Team. Und der pfeilschnelle, erst 19-jährige Kylian Mbappé war vielleicht d e r Spieler dieser WM. Was aus dem noch werden kann! (Übrigens muss man den Nachnamen wirklich nicht „Emm-Bappeee“ aussprechen, wie das gewisse Experten im deutschen Fernsehen tun. Anlautendes M geht auch bruchlos mit nachfolgendem B).
  2. Um ein Haar wäre es zum Finale zweier kleiner Länder gekommen, Belgien und Kroatien. Ganz so, als sei die Zeit der „Großen“ vorbei. Kroatien war ein starker Finalteilnehmer, in der Anfangsphase zweifach entscheidend (?) vom Schiri benachteiligt.
  3. Die Engländer können neuerdings Torwart. Und sie können Elfmeterschießen. Und auch noch die ziemlich effektive „Buswarteschlange“ bei Ecken oder Freistößen. Sie haben mit dem alten Kick & Rush nichts mehr zu schaffen. Auch scheint es ihnen nicht zu schaden, dass so viele Leute aus anderen Ländern in der Premier League spielen. Da schau her, die wohligen alten Gewissheiten sind dahin. Dass die Engländer mit ihrem Trainer und eleganten Westenträger Gareth Southgate zudem einen vorbildlichen Gentleman aufgeboten haben, entspricht hingegen den althergebrachten Vorstellungen.
  4. Die These, dass der Fußball den Zustand einer ganzen Nation widerspiegele, mag füglich bezweifelt werden. Es lassen sich immer Argumente dafür, aber auch dagegen aufführen. So schlimm kann es um England nach dem Brexit eigentlich nicht stehen, wenn man die Leistung der „Three Lions“ zum Maßstab nimmt.
  5. Sportlich war es ein recht mittelmäßiges Turnier mit nur wenigen, wirklich packenden Partien. Viele magere 1:0-Ergebnisse, etliche Quälereien bis in Verlängerungen und ins Elferschießen hinein. Einige Abwehr-Bollwerke bis zum Abwinken. Entscheidungen oft nicht durch kreatives Spiel, sondern durch „Standardsituationen“ mit ruhendem Ball.
  6. So genannte Superstars nützen offenkundig überhaupt nichts, wenn nicht etwas hinzu kommt. Nach und nach durften Messi, Ronaldo und Neymar mit ihren Teams vorzeitig nach Hause fliegen. Der Satz, Fußball sei halt ein Mannschaftssport, taugt nicht nur fürs Phrasenschwein. Er hat was für sich.
  7. Sorry, aber: Nach dem frühen Ausscheiden habe ich (und haben wohl viele) die deutsche Mannschaft kaum vermisst. Man konnte auch mit den Konter-Königen aus Belgien oder mit sonstwem fiebern. Die Belgier haben sogar dieselben Flaggenfarben, wenn auch anders angeordnet. Das deutsche „Aus“ hatte auch sein Gutes: Auf diese Weise blieb Kanzlerin Merkel ein Tribünen- oder Kabinenbesuch erspart.
  8. Das ewige, überaus gestenreiche und zuweilen aggressive Reklamieren beim Schiri geht einem nur noch auf den Geist. Und das unsägliche „Markieren“ von Fouls (mit Neymars vielfacher Platzrolle als wahnwitzigem Tiefpunkt) sollte viel härter bestraft werden; ebenso wie die wild gestikulierende Forderung nach der gelben oder roten Karte für den Gegenspieler. Übrigens: Findige Leute haben ermittelt, dass Neymar während seiner Turnier-Auftritte rund 14 Minuten auf den Plätzen gelegen bzw. sich dort gewälzt hat. Scheint sein Hobby zu sein.
  9. Die deutschen TV-Kommentatoren bei ARD und ZDF waren zu allermeist nicht WM-tauglich. Hier sollte man grundlegende Reformen anstreben und vielleicht je zwei Sprecher(innen) bzw. ehemalige Spieler mit wachem Geist im möglichst munteren und uneitlen Dialog einsetzen. Nein, auch Claudia Neumann war nicht besser als ihre männlichen Kollegen. Aber auch nicht schlechter. Die endlosen Experten-„Analysen“ vor und nach den Spielen tue ich mir sowieso gar nicht mehr an. Ihr etwa?
  10. Immer häufiger beschränken sich die Kommentatoren als Künder des Offensichtlichen auf belanglose Feststellungen wie „gute Bewegung“, „gute Körpersprache“, „guter Laufweg“, „gut aufgepasst“ oder „geblockt“. Dazwischen irrwitzige Statistiken und Boulevard-Gewäsch. Das ist oft ziemlich ärmlich.
  11. Jetzt doch noch mal zur deutschen Mannschaft, die insgesamt aufreizend überheblich aufgetreten ist. Mir ist schleierhaft, warum Löw nicht loslassen mag. Oliver Kahn hat recht: Löw hätte nach dem Finale 2014 aufhören sollen, als er alles erreicht hatte. Noch viel fälliger zum Rücktritt wäre allerdings der ach so smarte Oliver Bierhoff. Er hat zunehmend nur noch aalglattes Marketing im Sinn gehabt. Von seinem Umgang mit der Causa Özil/Gündogan/Erdogan ganz zu schweigen. Erst abwiegeln, nach dem Ausscheiden auf einmal übel nachtreten und Özil für alles haftbar machen wollen. Unmöglich! Und die DFB-Spitzen? Versuchen sich ebenfalls rauszuwinden und wegzuducken. Welch ein Elend!
  12. Nicht unbedingt sympathischer: Auch ein Vielzahl von Salonlinken hat den Fall Özil“ auf die eigenen Mühlen lenken wollen. Erstaunlich, wie sie den Erdogan-Freund mit Pauken und Trompeten verteidigt haben, weil ja angeblich nur teutsche Nationalisten und Rassisten gegen ihn Stellung bezogen haben. So ein Unsinn! Es dürften auch etliche Gegner der Erdogan-Diktatur darunter gewesen sein. Ach so, wie konnte ich es nur vergessen: Es herrscht ja längst Redeverbot in dieser Sache. Es sei denn, man schwinge den politisch korrekten Degen.
  13. Auf verquere Art links gestrickt sind auch die blödsinnigen Versuche, die Migrantenquote abermals auf die Qualität des Fußballs anzuwenden. Nach der Formel „Je mehr Migranten in der Mannschaft, umso besser der Fußball“ predigen manche quasi einen auf links gekrempelten Rassismus. Es ist letzten Endes nur die spiegelbildliche Umkehr dessen, was rechts gestrickte Typen blöken: „Zu viele Ausländer im Team…“
  14. Das Getue um den Videobeweis hat nicht nur in der Bundesliga genervt, sondern auch bei dieser WM. Ungefähr jeder vierte Torjubel wird im Keim erstickt und infrage gestellt. Ständig fordern Spieler, die sich benachteiligt fühlen, mit der notorischen Rechteck-Geste die Videoprobe ein. Mag sein, dass der eine oder andere grobe Fehler korrigiert wird. Doch ob es insgesamt „objektiver“ zugeht, darf bezweifelt werden.
  15. Wirklich gerecht wird es erst im Jenseits sein. Das wird ein sonderbares Ding, wenn Begegnungen vor den versammelten himmlischen Heerscharen völlig ohne Fehler und Fouls vonstatten gehen. Klingt ganz schön langweilig, nicht wahr?
  16. Eins wollen wir nicht vergessen: Es war eine WM ohne terroristische Bedrohung oder gar einen Anschlag. Dazu darf man sogar Vladimir Putin gratulieren. Ansonsten aber…
  17. Wenn wir schon beim „lupenreinen Demokraten“ Putin sind: Ex-Kanzler Gerhard Schröder hat sich unterdessen mit beiden Potentaten getroffen: Putin und Erdogan, bei dem er im staatlichen Auftrag als „besonderer Freund“ aufkreuzte. Auf seine alten Tage wird der Mann zusehends zur peinlichen Hofschranze. Ich kann mich an keinen Kanzler erinnern, der mir im Nachhinein widerlicher gewesen wäre.
  18. Man fragt sich, was aus all den Arenen in der russischen Provinz werden soll. Werden die sündhaft teuren Bauten jemals wieder auch nur annähernd gefüllt sein? Selbst zur WM sind ja schon etliche Plätze leer geblieben. Verrückt genug: Inzwischen verpflanzen die Russen schon ganze Vereine in die Diaspora. Ein Oligarch muss „seinen“ Erfolgsclub aus St. Petersburg nach Sotschi umtopfen. Was die Fans wohl dazu sagen? Man stelle sich vor, Bayern München würde seine Heimspiele nur noch in Erfurt oder Osnabrück austragen.
  19. Gibt es jemanden, der sich auf die nächste WM 2022 in Quatar/Katar freut? Müsste man dafür nicht ein Wort wie Vorzorn statt Vorfreude verwenden?
  20. Und danach? Sollen 2026 die USA und Mexiko ein WM-Turnier gemeinsam mit Kanada ausrichten. Schon allein das würde gegen die Mauer sprechen, die Donald T. an der Grenze zu Mexiko errichten will. Aber 2026 ist der Kerl eh schon längst ein irres Nebenkapitel der Geschichte.
  21. Freuen wir uns vorerst auf den Wiederbeginn der Bundesliga. Und auf die nächste Europameisterschaft 2020. Diese WM war ja am Schluss auch schon ein rein europäischer Wettbewerb.
  22. Zugabe: Entscheidend is aufm Platz!

 




Soziale Miniaturen (19): Schimpf und Schande in der Republik

Es ziehen dunkle Wolken auf. (Foto: BB)

Es ziehen dunkle Wolken auf. (Foto: BB)

Es herrscht eine ungute Stimmung im Land. Zunehmend. Gereiztheit und Verbitterung schwelen oder grassieren nicht nur im Osten der Republik.

Ich rede nicht einmal von Idiotismen wie jener unsäglichen „Vogelschiss“-Rede. Zu berichten ist jedoch von zwei „zufällig“ am selben Tag aufgeschnappten Äußerungs-Fetzen auf offener Straße, reichlich laut an die direkte Umgebung gerichtet; jeweils von Männern, was nicht unbedingt etwas Spezielles besagen muss. Oder etwa doch?

1.) „Nein, ich höre n i c h t damit auf. Ich als Deutscher muss es mir nicht gefallen lassen, dass…“ (jäh aufbrausend, zu einer Begleiterin, die offenbar sanft zu widersprechen gewagt hatte)

2.) „Wir werden ja noch nicht mal mit den Flüchtlingen fertig…“ (einsames Schimpf-Solo)

(Zwischenfrage: Wie wird man mit Flüchtlingen „fertig“?)

Beim Rest des haltlosen Geredes war ich beide Male als gegenläufiger Passant schon weit genug entfernt, um nichts Genaues mehr zu vernehmen. Wahrscheinlich besser so. Sonderlich menschenfreundlich kann es nicht gewesen sein.

Jaja, is‘ klar, ich hätte sofort zivilcouragiert einschreiten sollen. Doch was hätte es bewirkt – außer vielleicht ein Handgemenge oder Schlimmeres?

Beide Herrschaften waren übrigens nicht etwa sozial auffällig im Sinne von „abgehängt“ oder sichtlich verarmt. Eher schon ziemliche Durchschnittstypen. Leute also, die von Linken kurzerhand als „besorgte Bürger“ verhöhnt werden.

Wiederum der Zufall (?) wollte es, dass ich ebenfalls dieser Tage in eine Feierlichkeit geraten bin, bei der gediegenes Bildungsbürgertum weitgehend unter sich war. Professoren, Studienrätinnen und so weiter. Doch man höre: auch dort sehr harsche Töne zur Lage der Nation, vor allem eine (offenkundig nach und nach angeschwollene) grundsätzlich entschiedene Abwehrhaltung gegen Folgen verstärkter Migration. Demnach verkommen die Schulen und überall werden christliche Kirchen zu Moscheen umgewidmet…

Es fielen dabei einschlägige Worte wie „Lügenpresse“. Und ein Neurotiker redete von Messerstechern in einer bedenklich angsterfüllten Weise, als stünde hinter jeder Ecke mindestens einer. Überdies galt es als ausgemacht, dass die Messermänner praktisch ausnahmslos Muslime sind. Wenn sie gerade mal nicht das Messer zücken, können manche von ihnen jederzeit Frauen betatschen. Einfach so. Auf offener Straße. Ungestraft. Und die Justiz? Ist letztlich machtlos. Und die Medien? Verschweigen alle Probleme. Na, und so weiter. All das klang reichlich pegidisch.

Nein, es war keineswegs eine explizit AfD-lastige Gesellschaft, die sich da versammelt hatte. Vielmehr (und das ist besonders erschreckend) überwogen eigentlich allgemein aufgeschlossene, polyglotte Menschen mit sozusagen „bunten“ Biographien, die in den oder jenen Erdteilen gelebt und dort etliche Freundschaften geschlossen hatten. Am Ende ist das Ganze wohl doch wieder eine Klassen- und keine „Rassen“-Frage.

Soll ich Euch jetzt noch erzählen, was ich andererseits neulich in der Dortmunder Nordstadt erlauscht habe? Da gingen zwei Typen mit „Migrationshintergrund“ vor mir her, die sich lautstark über Frauen aufregten – immerhin auf Deutsch. Ungefähr jede dritte Äußerung lautete „Diese Schlampen“ oder „Diese dreckigen Schlampen“. Schließlich zog der eine das zornige Fazit, keinen Einwand duldend: „Die Schlampen werden in der Hölle braten.“

Manchmal kommt es mir so vor, als sei die Parodie Wirklichkeit geworden. Hier wie da.

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen“ erschienen und durch die Volltext-Suchfunktion auffindbar:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15), Peinlicher Moment (16), Ich Vater. Hier. Jacke an! (17), Herrscher im Supermarkt (18)




„Gefährliches Spiel“ – Heinrich Peuckmanns wahre Geschichten über Fußball mit schrecklichen Folgen

Ein Fußballspiel auf dem Roten Platz in Moskau? Es klingt wie eine skurrile PR-Idee für die bevorstehende WM in Russland. In Wahrheit traten dort wirklich einmal zwei Mannschaften gegeneinander an – mit brutalen Folgen.

Es kämpften damals, 1936, Dynamo Moskau und Spartak Moskau um den Sieg. Diktator Stalin sollte mal ein Fußballspiel zu sehen bekommen, deshalb ein Ort in unmittelbarer Nähe zum Kreml. Dass vier Spieler, die bekannten Brüder Starostin, wegen des Erfolgs von Spartak Jahre später in einen Gulag deportiert wurden, hat Stalins Geheimdienstchef Berija entschieden. Der war ein entschiedener Gegner der Siegerelf.

An diese Begegnung erinnert Heinrich Peuckmann in seinem Buch „Gefährliches Spiel“, das unter dem Gattungsbegriff Novelle erschienen ist.

Wie fatal das Zusammenspiel von Fußball und Politik sein kann, zeigt der in Kamen lebende Schriftsteller auch in der zweiten Novelle. Peuckmann beschreibt eine fiktive Begegnung des einstigen HSV-Stürmers und Kapitäns der deutschen Fußballnationalmannschaft in den 20er Jahren, Tull Harder, mit seinem ehemaligen Mannschaftskollegen Björn Halvorsen.

Täter und Opfer aus den Reihen des Hamburger SV

Es ist ein Treffen von Täter und Opfer, ließ sich doch Harder von der SS anheuern, wurde Kommandant in mehreren Konzentrationslagern und war damit auch für das KZ Neuengamme zuständig, in das die Nazis Halvorsen deportiert hatten. Der Norweger, der mit dem HSV mehrere Titel holte, war mit der Machtergreifung der Nazis in seine Heimat zurückgekehrt und hatte sich nach der Besetzung Norwegens durch NS-Deutschland dem Widerstand angeschlossen.

Der Autor zeichnet in Rückblenden nach, wie der beliebte Stürmer („Wenn er spielt, der Harder Tull, steht es bald drei zu Null“) sich von der SS ködern ließ, die ihn zum Helden stilisierte, als seine Karriere schon Geschichte war. Gern sang man auch gemeinsam deutschnationale Lieder, die ganz nach dem Geschmack des Spielers waren.

Auch wenn die Darstellung in dem Buch den Eindruck erweckt, als habe sich Harder eher überwältigt als freiwillig den Nazi-Schergen angeschlossen, wird er zu deren willfährigem Lakai. Halvorsen wiederum kam in Haft, zunächst in ein KZ in Norwegen. Nach der Deportation in ein deutsches Konzentrationslager erkrankte er an Typhus und litt auch nach Ende des Krieges bis zu seinem frühen Tod 1955 unter den Spätfolgen von Krankheit und Unterernährung.

Tull Harder wollte von seiner SS-Zeit nicht mehr hören

Das Aufeinandertreffen der einstigen Mannschaftskameraden vor der Kulisse des WM-Qualifikationsspieles Deutschland-Norwegen im Jahr 1953 geht unter die Haut. Die drängende Frage von Halvorsen, ob sein Teamkollege ihn denn nicht gesehen habe, damals im KZ Neuengamme, quittiert Harder mit dem Verweis, nichts mehr hören zu wollen von alledem. Das sei doch alles lange her.

Überhaupt betreibt der frühere HSV-Stürmer – Peuckmann zufolge – eine Geschichtsklitterung, die ihresgleichen sucht und kann sich darin auch bestätigt fühlen. Nachdem er von einem britischen Militärgericht als Kriegsverbrecher zu 15 Jahren Haft verurteilt wird und bereits nach fünf Jahren freikommt, wird ihm überall Lob und Ehre zuteil.

Peuckmann geht in dem Buch noch auf ein Begebenheit viele Jahre nach dem Tod von Harder ein, die auch zeigt, welch schwieriges Erbe der Umgang mit seiner Person darstellt: Als 1974 zur WM der HSV eine Broschüre drucken ließ, in der Harder als Vorbild für die Jugend präsentiert wurde (neben Uwe Seeler und Jupp Posipal, dem Weltmeister von 1954) hat der „halbe Vorstand“ des Vereins noch in letzter Minute vor der Veröffentlichung die Seite über den früheren Erfolgsstürmer herausgerissen.

Karlsruher Stürmer ins Exil getrieben

Im dritten Kapitel schildert Peuckmann das Schicksal von Gottfried Fuchs, der ein für die deutsche Nationalelf einen immer noch gültigen Rekord aufstellte, gelang es ihm doch, 1912 gegen Russland zehn Tore (Endstand: 16:0) zu erzielen. Auch darüber hinaus hatte Fuchs eine sehr ansehnliche Torbilanz. Der Stürmer des Karlsruher FV war jüdischer Abstammung, die er selbst gern mit gewisser Ironie betrachtete. Er sah sich dann aber mit dem Aufstieg der Nazis zur Flucht gezwungen und fand in Kanada eine neue Heimat.

Sepp Herberger, erster Bundestrainer im Nachkriegsdeutschland, wollte 1972 Fuchs zur Einweihung des Münchner Olympiastadions und zum Spiel Deutschland-Sowjetunion auf Kosten des DFB einladen. Doch die Spitze des Verbandes lehnte mit dem Hinweis ab, man würde einen Präzedenzfall schaffen und das sei angesichts der Finanzlage problematisch. Godfrey Fochs, wie er später hieß, erhielt diese Nachricht nicht mehr, er war kurz vorher gestorben. Herberger hatte sich damals übrigens an den DFB-Vize Hermann Neuberger gewandt, der als Verbandschef im Jahr 1978 über den Juntachef von Argentinien, das vor 40 Jahren WM-Gastgeber war, meinte: „Ich halte ihn für eine Taube. So wird er ja auch allgemein, glaube ich, gesehen.“ (Quelle: Süddeutsche Zeitung)

Peuckmanns Geschichten geben mancherlei Anlass, über die Rolle des Fußballs und seiner Akteure nachzudenken – übrigens auch mit Blick auf den aktuellen WM-Gastgeber Russland.

Heinrich Peuckmann: „Gefährliches Spiel. Fußball um Leben und Tod“. Kulturmaschinen-Verlag. 122 Seiten, 10,80 Euro.

Infos zum Verlag: https://kultur-und-politik.de




Nicht nur zum Ende der Zechen-Ära eine Erinnerung wert: August Siegel, Bergmann und Gewerkschafts-Pionier

Gastautor Horst Delkus erinnert – nicht zuletzt aus Anlass der bald endenden Zechen-Ära im Ruhrgebiet – an den Bergmann und Gewerkschafter August Siegel (1856-1936), einen Pionier der Arbeiterbewegung des Reviers:

Die Heilige Barbara – Schutzpatronin der Bergleute – muss mit dem Kopf geschüttelt haben, als sie erfuhr, wie die katholische Geistlichkeit gegen den neu gegründeten Verband der Bergarbeiter hetzte: Gewerkschaftlich organisierte Bergarbeiter, hieß es da von der Kanzel herab, seien Mordbuben, der Auswurf der Menschheit.

August Siegel - Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Deutsches Bergbau-Museum / montan.dok / Sammlung Delkus)

August Siegel – Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Sammlung Delkus)

Ein Pfaffe hatte sogar das Bündnis des Bergarbeiterverbandes mit der Hölle entdeckt. „Wo die ‚Bergarbeiterzeitung‘ auf dem Tische liegt“, predigte er den Frauen der Bergarbeiter, „da sitzt der Teufel unterm Tisch.“ Und die ‚Tremonia‘, die katholische Zentrums-Zeitung des einflußreichen Dortmunder Verlegers Lambert Lensing, mahnte: „Wehe unserem Arbeiterstande, wenn er sich in die Hände der Sozialdemokratie begibt.“

Panikmache anno 1889. Denn die organisierte Sozialdemokratie war damals im Ruhrgebiet noch eine Sekte; ihre heimlichen Hauptstädte hießen Leipzig, Hamburg oder Berlin. Auf den Bergarbeiterstreik im Mai hat sie wahrscheinlich nicht mehr Einfluß gehabt, als die Apo 70 Jahre später auf die Septemberstreiks 1969. „Sie ist mit dem Ausbruch desselben gerade so überrascht worden, wie die übrige Welt“, schrieb einer, der es wissen mußte: August Bebel.

Er galt als bester Agitator der Gründungszeit

Einfluss im Bergarbeitermilieu des Ruhrgebiets hatten um 1889 vor allem drei Sozialdemokraten: die mit dem Nimbus der „Kaiserdelegierten“ versehenen Bergleute Ludwig Schröder, Friedrich Bunte und August Siegel. Ein zeitgenössischer Chronist über diese „Volksverführer und Hetzer“: „Schröder, der Älteste, wird als ‚mehr erfahren‘, ‚offen‘ und ‚gutmütig‘ im Gegensatz zu dem hinterhältigeren Bunte geschildert. Siegel scheint der geistig Beweglichste zu sein. Er scheint auch für weit greifende Organisationspläne und für die eigentlichen Lohnkämpfe mehr eingenommen als die zwei anderen.“

Alle drei waren an der Gründung und am Aufbau der Bergarbeitergewerkschaft maßgeblich beteiligt. In der Phalanx der Gewerkschaftsführer aber sind sie – im Gegensatz zu Hue, Sachse, Husemann und Schmidt – in Vergessenheit geraten. Immerhin ist einer von ihnen im Internationalen Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens von 1932 noch mit einer Kurzbiographie vertreten: August Siegel. In ihm, heißt es da, „verkörpert sich ein Stück Geschichte des Verbandes der Bergarbeiter, war er doch in der Gründungszeit sein bester Agitator“.

Mit elf Jahren täglich zwölf Stunden auf der Kohlehalde

Geboren wurde August Siegel am 1.April 1856 in Zwickau. Sein Vater war Bergmann, starb jedoch fünf Monate vor Augusts Geburt. Die Witwenrente reichte für die neunköpfige Familie nicht aus. August besuchte die Armenschule, unternahm Bettelstreifzüge aufs Land. Über seine Kindheit schrieb er später: „Bei den Bauern konnte ich manchen Überfluss entdecken, der mich dazu zwang, Vergleiche anzustellen mit der furchtbaren Not, die bei uns zu Hause herrschte. Warum ist es so? Warum kann sich nicht jeder satt essen, wenn er Hunger hat? Das waren meine ersten philosophischen Gedanken.“

Zwölf Stunden täglich arbeitete er bereits mit elf Jahren täglich auf der Kohlenhalde. Als ein älterer Bruder beim Rangieren der Kohlenwaggons schwer verunglückte, stand für seine Mutter fest: Mein Sohn soll kein Bergmann werden! Er wurde Sandformer in einer Chemnitzer Maschinenfabrik. Hier ergaben sich die ersten Kontakte zu Sozialdemokraten. Mit 16 Jahren trat er der Partei bei. Nach dem Chemnitzer Metallarbeiterstreik 1872 folgte Siegel seiner älteren Schwester von Sachsen nach Westfalen. In Dortmund und Umgebung fand er Arbeit auf verschiedenen Zechen.

„Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden…“

Siegel in seinen Erinnerungen: „Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden, ist kaum zu beschreiben. Warum, wird man fragen, haben die Leute die betreffende Zeche nicht verlassen und auf einer anderen Grube gearbeitet? Das ist leichter gesagt als getan. Viele von der Belegschaft waren Kleinhauseigentümer und hatten ohnehin schon einen weiten Weg zur Arbeitsstelle. Bei einem Arbeitswechsel mußten sie noch weiter laufen. Zumal fanden sie das, was sie auf der einen Zeche verlassen hatten, auf der anderen getreulich wieder.“ Streiks ohne eine Organisation im Rücken erschienen wenig aussichtsreich.

Als Vorsitzender eines nichtkonfessionellen freien Knappenvereins arbeitete Siegel bald mit anderen Dortmunder Bergarbeiterführern zusammen und agitierte mit seiner kräftigen Stimme die Bergleute auf zahllosen Versammlungen. In seinen Lebenserinnerungen, 1921 als Serie für die Jugendzeitschrift des Bergarbeiterverbandes verfasst, schreibt er später: „Wie oft wunderte ich mich in jenen Tagen, wenn die bürgerlichen Zeitungen schrieben, daß die sozialdemokratischen Agitatoren von den Schweißtropfen der Arbeiter lebten. Nicht einen Pfennig bekamen wir. Fahr- und Zehrgeld, wie alles, was wir sonst noch ausgeben mußten, ging aus unserer Tasche. Hin und wieder verspielten wir noch dazu eine Schicht. Das hielt uns aber nicht ab, unserem Ziel treu zu bleiben. Unsere Arbeit war auch keineswegs umsonst. Es kam etwas mehr Leben in die ruhig dahinbrütenden Knappen.“

Streikführer für wenige Minuten zur Audienz beim Kaiser

Alle in Deutschland existierenden Bergarbeitervereine erhielten für den 2.Juni 1889 eine Einladung zu einem Delegiertentag der Knappenvereine nach Dortmund-Dorstfeld. Zentraler Tagesordnungspunkt: Wie die miserable Lage der Bergarbeiter in Deutschland zu beseitigen sei.

Doch wegen des Massenstreiks im Mai, bei dem rund 100.000 Bergarbeiter die Arbeit niederlegten, wurde die Versammlung verschoben. Während dieses Streiks schickten die Dortmunder Bergarbeiter Bunte, Schröder und Siegel zum Kaiser nach Berlin, um ihm die Forderungen der streikenden Ruhrkumpels vorzubringen: Wiedereinführung der Acht-Stunden-Schicht, Lohnerhöhungen und Abschaffung der Schikanen auf den Zechen. Als die drei zur Kaiser-Visite aufbrachen, bröckelte der Streik rasch ab. Die Audienz dauerte nur wenige Minuten und gipfelte in der Drohung Wilhelms II., alles über den Haufen schießen zu lassen, falls der Streik unter den Einfluß der Sozialdemokratie geriete.

Nach erfolglosem Streik auf die Schwarze Liste gesetzt

Nach diesem erfolglosen Streik wurden Siegel und die anderen Streikführer gemaßregelt. Sie kamen auf die Schwarze Liste. Mit Hilfe von Spendengeldern aus der Parteikasse konnten sie sich jedoch eine bescheidene Existenz aufbauen. August Siegel wurde Flaschenbierhändler und später hauptamtlicher Agitator des Bergarbeiterverbandes, den 200 Zechendelegierte und Knappenvereinsvertreter am 18.August 1889 in Dorstfeld gegründet hatten. Einige Klagen wegen „indirekter Aufreizung zum Ungehorsam“ und Beleidigung (unter anderem hatte er die Knappschaftsältesten in einer Bergarbeiterversammlung unfähige „Strohköpfe“ genannt und ihnen vorgehalten, sie würden ihre Stellung nur zum eigenen Vorteil ausnutzen) brachten ihm mehrere Gefängnisstrafen ein.

Der alte Friedrich Engels hilft dem nach London geflüchteten Siegel

Anfang Januar 1892 sollte Siegel eine neunmonatige Haftstrafe im Zuchthaus Siegburg, einer ehemaligen Irrenanstalt, antreten. Fünf weitere Anklagen standen noch aus. Ludwig Schröder riet seinem Freund zur Flucht. Am 12.Januar 1892 machte sich Siegel aus Dorstfeld davon. Erste Station seines Asyls: London. Hier halfen dem mittlerweile steckbrieflich Gesuchten Friedrich Engels und Julius Motteler bei der Übersiedlung nach Schottland, wo Siegel im Bergbau Arbeit fand und bald seine Familie nachreisen lassen konnte.

Beim alten Engels hat Siegel einen guten Eindruck gemacht: „Das ist doch mal wieder ein deutscher Arbeiter, mit dem man sich vor allen anderen Nationen sehen lassen kann.“ Er empfahl Siegel eindringlich die englische Sprache zu lernen und „täglich, wenn nicht stündlich“ Kontakt zu den schottischen Arbeitern zu halten.

Als Mitglied der Bergarbeitergewerkschaft und der sozialistischen Independent Labour Party (ILP) beteiligte sich August Siegel an zahlreichen Streiks der britischen Bergarbeiterbewegung. Auch hier wurde er als Streikführer gemaßregelt. Als deutscher Asylant verlor er während des Ersten Weltkrieges seinen Arbeitsplatz. Bald folgte die Ausweisung als „lastiger Ausländer“.

Ausweisung und Rückkehr ins Ruhrgebiet

Im Januar 1919 kehrte Siegel ins Ruhrgebiet zurück. In Bochum, in der Hautpverwaltung des Bergarbeiterverbandes, arbeitete der humorvolle Graubart noch bis zu seiner Pensionierung 1929. Er starb im Alter von 80 Jahren am 5.Oktober 1936.

Geprägt durch die Aufbruchstimmung der frühen Sozialdemokratie sowie etlicher Arbeitskämpfe verkörperte August Siegel die Gründergeneration der heutigen Gewerkschaften. Sein Leben umfaßt eine Periode der Arbeiterbewegung, die vom Sozialistengesetz, dem ersten Massenstreik 1889 und den ersten stabilen Gewerkschaftsorganisationen bis zur kampflosen Zerschlagung der Gewerkschaften durch den Faschismus reicht. Ein Gewerkschaftsbeamter, ein Apparatschik ist August Siegel nie geworden. Weil die Gewerkschaft als Organisation erst mit ihm aufgebaut wurde und weil für ihn die Sache selbst wichtiger war als die eigene Karriere.

Durch und durch Sozialist und Idealist

Bernhardine Gierig, 88 Jahre alt, hatte Siegel in den zwanziger Jahren über ihren Vater persönlich kennengelernt. Tief beeindruckt erzählt sie heute noch: „Siegel war ein richtiger Mensch. Er machte kein Theater daraus, daß er gelitten hat für die Bewegung; er wollte keinen Profit aus der Sache schlagen. Er war sozialistisch gesonnen durch und durch. Ein wirklicher Idealist.“

Die Heilige Barbara wird an diesem Pionier der Bergarbeiterbewegung sicher ihre helle Freude gehabt haben.




Löw hat WM-Kader in Dortmund verkündet, doch das Treffen von Özil / Gündogan mit Erdogan überschattet die DFB-Show

So. Jetzt ist es heraus. Bundestrainer „Jogi“ Löw hat heute in Dortmund sein vorläufiges Aufgebot für die Fußball-WM verkündet. Ein verdammt ungünstiger Zeitpunkt. Just gestern war bekannt geworden, dass die beiden deutschen Nationalspieler mit türkischen Wurzeln, Mesut Özil und Ilkay Gündogan, in London gemeinsam mit dem türkischen Präsidenten Erdogan für Fotos posiert und liebedienerisch Trikots ihrer Vereine Arsenal und Manchester City für ihn signiert haben. Gündogan schrieb gar den Zusatz „Für meinen Präsidenten“. Bloß gut, dass der Kerl den BVB verlassen hat!

Irgendwo in diesem Fotografengewühl saß Bundestrainer Löw. (Screenshot / ZDF Sport)

Irgendwo in diesem Fotografengewühl saß Bundestrainer Löw. (Screenshot / ZDF Sport)

Die beiden Spieler, die anscheinend außer Fußball und weit überzogenen Millionenbeträgen nicht allzu viel im Kopf haben, sehen Erdogan also als „ihren Präsidenten“ an. Und das als deutsche Staatsbürger. Und das mitten im türkischen Wahlkampf, in dem die dämliche Aktion als Sympathiewerbung für den Despoten wahrgenommen wird. Das haben Erdogan und seine Berater perfide eingefädelt. Im Nachhinein wollten die Spieler es als Geste der Höflichkeit verstanden wissen. Lächerliche Ausrede.

Na, klar: Die beiden fahren mit

Diese völlig unnötige, verwerfliche Aktion war gewiss bewusst so hinterhältig terminiert. Was wäre geschehen, wenn sich Löw im letzten Moment ein Herz gefasst und die Nominierung der beiden zurückgezogen hätte? Aber nein, der Bundestrainer glaubt die Herrschaften für die „kreativen Momente im Mittelfeld“ zu brauchen, wie es im Sportreportersprech heißt. Alles ganz unpolitisch, versteht sich.

Leute, ihr ahnt vielleicht, was jetzt in den (a)sozialen Netzwerken los ist. „Spaßes“halber, nein: Aufregungshalber habe ich mal auf der Facebook-Seite der CSU gestöbert. Da geht’s in den Kommentaren richtig zünftig ab. Dass Özil und Gündogan ihre deutschen Pässe abgeben sollen, ist noch einer der milderen Vorschläge. Nein, mit dem AfD-Auftritt habe ich mir dann nicht mehr die Kante gegeben.

Bei jedem Fehlpass wird gegiftet werden

Özil und Gündogan haben nicht nur dem Nationalteam und allen Integrations-Bestrebungen, sondern auch sich selbst enorm geschadet. Was wird während der WM passieren? Bei jedem kleinen Fehlpass von Ö. oder G. werden Millionen selbsternannte Bundestrainer giftige Sprüche absondern – nicht alle vollkommen unberechtigt.

Das alles spielt jenen in die Karten, die ohnehin keine Spieler mit ausländisch klingenden Namen in der Mannschaft sehen wollten. Und mit den hochdotierten Werbeverträgen der beiden Fußballkasper dürfte es auch nicht zum Besten stehen. Welche Firma will schon (wenn auch nur indirekt) mit einem wie Erdogan in Verbindung gebracht werden?

Das Problem kleingeredet und schnell weggebügelt

Doch bei der heutigen Pressekonferenz im Deutschen Fußballmuseum zu Dortmund wurden etwaige Bedenken allesamt rasch weggebügelt. Wortblasen des DFB-Präsidenten Reinhard Grindel: „Menschen können Fehler machen. Und wir müssen das Maß wahren.“ Man werde zum Miteinander zurückkehren und das Trennende überwinden. Fall erledigt. Joachim Löw sekundierte, es sei „keine glückliche Aktion“ gewesen, die Jungs hätten aber einen guten Charakter, es werde ihnen eine Lehre sein. Und dann, besonders bildkräftig: Bei Spielern mit Migrations-Hintergrund schlügen oft zwei Herzen in einer Brust, die schwer unter einen Hut zu bringen seien. Alles klar?

Andere, eher sportliche Einzelfall-Entscheidungen standen so ziemlich im Schatten des hochnotpeinlichen Vorfalls. In Dortmund gab’s ein bisschen medienwirksamen Budenzauber. Das Fußballmuseum war draußen mit 26 Schattenrissen verhängt, die nach und nach durch Porträts der auserkorenen Spieler ersetzt wurden. Das Museum blieb derweil ganztags geschlossen.

Und was ist nun herausgekommen, nachdem der Berg gekreißt hatte?

Ohne Mario Götze und Sandro Wagner

Dass Mario Götze nicht benannt werden würde, war schon im Vorfeld sonnenklar, zumal Joachim Löw selbst in weitaus besseren BVB-Zeiten Berührungsängste hatte, was Dortmunder Kicker anging. In aller Regel nahm er lieber noch einen Münchner und noch einen Landsmann aus dem Südwesten mit… Reicht ja auch, wenn er seine Entscheidungen in Dortmund bekanntgibt. Naja, immerhin steht der Dortmunder Marco Reus (Löw: „Eine besondere Waffe“) im Aufgebot.

Die Namen des vorläufigen Kaders – ohne Mario Götze, ohne Sandro Wagner, vorerst mit Manuel Neuer – wurden in schneller Abfolge eingeblendet (siehe Liste am Schluss), sodann kommentierte Löw seine Präferenzen. Man muss das nicht alles zitieren. Beinahe beiläufig erfuhr man noch, dass die Verträge von Löw und seinem Trainerteam bis 2022 verlängert worden sind.

WM-Vorfreude hält sich vielfach in Grenzen

Es scheint so, als hätten viele Fußballfans eh keine rechte Lust auf diese kommende WM in Russland (14. Juni bis 15. Juli), bei der sich ab Mitte Juni Präsident Putin im Licht der Weltöffentlichkeit sonnen will, in mancher Hinsicht ein Ungeistesbruder von Erdogan. Der Missmut darüber wird allenfalls noch übertroffen von mulmigen Gedanken an die darauf folgende WM 2022 in Katar. Alles ganz unpolitisch, versteht sich.

Auch an solchen trüben Aussichten mag es liegen, dass sich selbst in der „Deutschen Fußballhauptstadt“ Dortmund nicht genügend Sponsoren für größere Public-Viewing-Veranstaltungen zur WM gefunden haben. Es sieht ganz so aus, als seien die Zeiten fürs bierselige Rudelgucken eh vorbei, weil viele Leute daheim inzwischen ziemlich große Bildschirme oder Beamer haben. Und der Kühlschrank ist auch groß genug.

Ach, übrigens: Die Türkei nimmt gar nicht an der Fußball-WM teil. Sie hat sich – ebenso wie Holland und Italien – nicht qualifiziert. Hätten sich Özil und Gündogan seinerzeit für die türkische Nationalmannschaft entschieden, wär’s jetzt also Essig mit der WM.

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Die 27 nominierten Spieler im vorläufigen Kader (endgültige Liste mit 23 Namen folgt am 4. Juni):

Tor: Neuer, Leno, ter Stegen, Trapp
Abwehr: Boateng, Ginter, Hector, Rüdiger, Tah, Hummels, Kimmich, Plattenhardt, Süle
Mittelfeld und Angriff: Brandt, Draxler, Gomez, Goretzka, Gündogan, Khedira, Kroos, Müller, Özil, Petersen, Reus, Rudy, Sané, Werner




„Es kommen härtere Tage“ – Hans Magnus Enzensberger hat 99 literarische Überlebenskünstler porträtiert

Zum Berufsbild von Dichtern und Denkern (jedenfalls von denen, die etwas auf sich und ihr Werk halten) gehört es, den Macken und Marotten des Zeitgeistes zu widerstehen, den Aufregungen der politischen Zeitläufte zu widersprechen, vermeintliche Gewissheiten anzuzweifeln und nicht Öl ins Getriebe der Welt zu gießen, sondern Sand Sand dorthin zu streuen.

Dass sie den Mächtigen stets schwer auf die Nerven gingen, die Geheimdienste schon immer ein Auge auf sie hatten und manche für immer in den Kerkern der Polizei und den Arbeitslagern der Parteidiktaturen verschwanden, liegt auf der Hand. Doch erstaunlich viele dieser Querdenker und literarischen Quälgeister haben die Krisen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt, sind ins Exil geflohen oder in die innere Emigration gegangen, haben sich zum Schein angepasst, um im Stillen einfach weiter zu schreiben an ihrem intellektuellen Aufklärungs- und literarischen Zerstörungs-Werk.

Strategien gegen Verführung und Vermarktung

Wie man zwischen Widerstand und Anpassung jongliert und den Kompromiss zum Lebens-Elixier macht, haben so manche Schriftsteller vorgeführt. „Es kommen härtere Tage“, schreibt Ingeborg Bachmann 1958 in ihrem Gedicht „Die gestundete Zeit“ den Kollegen ins Stammbuch: „Für den Fall, dass sie recht hat, könnte ein Training in der Kunst des Überlebens von Nutzen sein.“ Das jedenfalls meint Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929), dieser literarische Tausendsassa und intellektuelle Luftikus, der in seinem langen Leben schon manchen politischen Drahtseilakt und einige rhetorische Wendemanöver vollführt und es geschafft hat, sich dem Zugriff seiner Feinde und den Umarmungen seiner Freunde zu entziehen. Weil Enzensberger wissen will, welche Strategien Schriftsteller haben, um Verführung und Vermarktung zu widerstehen und Terror und Säuberungen zu überleben, porträtiert er „Überlebenskünstler“ und skizziert „99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert.“

Von Hamsun über Feuchtwanger bis zu Irmgard Keun und Peter Weiss

Seine Auswahl und Herangehensweise ist radikal subjektiv. Er beschreibt nur, was ihn interessiert und seine Fantasie anregt. Knut Hamsun, der mit den Faschisten flirtete, ist genauso dabei wie Maxim Gorki, der sich bei Stalin anbiederte. Lion Feuchtwarmer, der vor Hitler über Frankreich nach Amerika floh und es im Exil schaffte, seinen aufwendigen Lebensstil fortzusetzen. Jaroslav Hasek, der mit seinem braven Soldaten Schwejk listig lächelnd alle Weltbeglücker und Staatenlenker verlachte. Anna Achmatowa und Nelly Sachs, Boris Pasternak und Johannes R. Becher, Irmgard Keun und Peter Weiss – die Liste der Autoren, deren Überlebenskünste Enzensberger mit wenigen Worten umreißt, ist lang.

Das alles ist, weil Enzensberger ein ironischer Flaneur ist, meistens nicht nur ziemlich lehrreich, sondern und oft auch reichlich komisch. Am schönsten aber sind seine „Vignetten“ bei den Autoren, die er persönlich kannte, mit denen er befreundet war oder intellektuelle Scharmützel ausgefochten hat. Mit Heiner Müller hat er sich gern gestritten und ihn, als er bei einer Veranstaltung einen Toast auf ihn ausbrachte, seinen Bewunderern als den „führenden Sado-Marxisten“ ans Herz gelegt.

Die unbegreifliche Tragik des Imre Kertész

Warmherzig denkt Enzensberger an Imre Kertész, der Auschwitz überlebte, sich im stalinistischen Ungarn der Nachkriegszeit mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, bevor er mit dem „Roman eines Schicksallosen“ zu Weltruhm gelangte und den Literaturnobelpreis bekam. Doch auch das schützte den todkranken jüdischen Autor, der 2001 ins Berliner Exil ging, in seiner Heimat nicht vor antisemitischen Anfeindungen. Mit Rührung und Verehrung notiert Enzensberger: „Imre konnte, als ich ihn zum letzten Mal sah, nicht mehr schreiben, er stotterte, zitterte und war hinfällig. Ich wundere mich darüber, dass er es so lange unter uns ausgehalten und dass er es fertigbrachte, auch dieses Wunder noch zu überleben.“

Hans Magnus Enzensberger: „Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert“. Suhrkamp Verlag, Berlin, 377 S., 24 Euro.




Den Frieden von allen Seiten betrachten – eine fünffache Themenausstellung in Münster

Ein globaleres, ebenso zeitübergreifendes Thema kann man sich schwerlich aussuchen: Gleich fünf Münsteraner Museen und Institutionen zeigen jetzt Ausstellungen über den Frieden. Die Präsentationen dauern samt und sonders bis zum 2. September. Und da man beim Thema Frieden nicht ohne den finsteren Kontrast des Krieges auskommt, weitet sich das Spektrum des umfangreichen Projekts „Frieden. Von der Antike bis heute“ noch einmal wesentlich.

Battista Dossi: "Pax" (1544), Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (© bpk / Staatl. Kunstsammlungen Dresden / Hans-Peter Klut)

Battista Dossi: „Pax“ (1544), Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (© bpk / Staatl. Kunstsammlungen Dresden / Hans-Peter Klut)

Münster ist bekanntlich die Stadt des Westfälischen Friedens, der 1648 geschlossen wurde und jetzt also 370 Jahre zurück liegt. Der Dreißigjährige Krieg, der damit aufhörte, brach vor 400 Jahren aus. Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg. Wenn man denn also runde Daten braucht, so gibt es Anlässe genug für eine solche Gemeinschafts-Ausstellung. Die eingehende Beschäftigung mit dem Thema lohnt sich aber auch ohne Ziffern-Jonglage. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist übrigens Schirmherr der Münsterschen Unternehmung.

Entstehung von Bildtraditionen

Beteiligt sind das LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, wo außerdem das Bistum Münster gastiert; das Archäologische Museum der Uni Münster, das Picasso-Museum und das Stadtmuseum. Sie alle zusammen zeigen rund 660 Exponate und gehen dementsprechend auf viele Aspekte des Themenkreises ein. Dabei ergeben sich etliche Kreuz- und Querbezüge zwischen den einzelnen Ausstellungen.

Gemeinsame Ansätze betreffen vor allem die Ikonographie, also quasi die Bildtraditionen des Friedens, die sich im Laufe der Zeiten herausgebildet haben und auf deren Fundus getrost zurückgegriffen werden konnte. Im LWL-Landesmuseum am Domplatz finden sich dafür markante Beispiele. Hier prunkt man u. a. mit allegorischen Kriegs- und Friedensbildern von Peter Paul Rubens (kleinere Ölskizzen), der die Gepflogenheiten bei Friedensverhandlungen in seiner Eigenschaft als Diplomat aus eigener Anschauung kannte.

Friedensgöttin Pax mit Füllhorn

Gleich eingangs der Schau gehen mit der 1544 von Battista Dossi gemalten Friedensgöttin Pax einige Symbole einher, wie sie immer wiederkehren, so etwa Füllhorn, Früchte und Ähren als Wohlstands-Versprechen nach einem Friedensschluss. Zudem hat Pax mit ihrer Fackel eine Rüstung verbrannt. Zu ihren Füßen liegen Wolf und Lamm in schönster Eintracht – auch dies seit Jahrhunderten ein bewährtes Bildmuster für friedliche Zeiten.

Auguste Rodin: "Die Bürger von Calais", Figur Jean d'Aire (um 1895-1899), Kunsthalle Bremen - Der Kunstverein Bremen: Kupferstichkabinett (Foto: LWL/Anne Neier)

Auguste Rodin: „Die Bürger von Calais“, Figur Jean d’Aire (um 1895-1899), Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein Bremen: Kupferstichkabinett (Foto: LWL/Anne Neier)

Das LWL-Museum widmet sich überdies den überlieferten Strategien, Gesten und Ritualen des Friedens, wie sie zumal in den Darstellungen historischer Friedensschlüsse zum Ausdruck kommen. Zu nennen wäre Gerard ter Borchs buchstäblich mustergültiges, in den Grundzügen später vielfach nachgeahmtes Bild einer solch feierlichen Zeremonie: „Beschwörung des Spanisch-Niederländischen Friedens am 15. Mai 1648“.

Demutsgesten vor dem Gnadenakt

Auch gehört die (im Idealfalle großmütig angenommene) Unterwerfungs- und Demutsgeste zum geschichtlichen Repertoire. Besonders trefflich und subtil formuliert ist diese Gestik in Auguste Rodins Figurengruppe „Die Bürger von Calais“ (um 1895-99), welche bei den englischen Belagerern der Stadt flehentlich um Gnade baten. In diesem Kontext kann es eigentlich nicht überraschen, wenn zwischen all den Kunstwerken auch eine berühmt gewordene Fotografie auftaucht, die Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos zeigt und sich in althergebrachte Bildtraditionen einfügt.

Das 20. Jahrhundert brach insofern mit der Überlieferung, als nach den weltweiten Konflikten vornehmlich Siegfrieden herrschte – ohne das Wenn und Aber von ausgehandelten Kompromissen. Eine andere, mildere Form des Friedens schien gar nicht mehr vorstellbar. Und mit Aufkommen der atomaren Bewaffnung ist, wie die Ausstellung ebenfalls zu zeigen sucht, die Frage nach Frieden dringlicher denn je.

Ein etwas kraftloses Finale

Die Schau, die bis dahin doch einige bemerkenswerte Kunstwerke in schlüssiger Anordnung aufbietet (u.a. auch einschlägige Karikaturen von Honoré Daumier und Kriegsbilder von Otto Dix), mündet schließlich in einen Raum, der sich recht plakativ der demonstrativen Ästhetik der Friedensbewegung anbequemt. Es ist, als ob etwas recht Gewaltiges am Ende eher etwas kraftlos auströpfelt.

Otto Pankok: "Christus zerbricht das Gewehr" (1950). Privatsammlung Gerhard Schneider, Olpe und Solingen, Zentrum für verfolgte Künste GmbH im Kunstmuseum Solingen (© Otto Pankok Stiftung)

Otto Pankok: „Christus zerbricht das Gewehr“ (1950). Privatsammlung Gerhard Schneider, Olpe und Solingen, Zentrum für verfolgte Künste GmbH im Kunstmuseum Solingen (© Otto Pankok Stiftung)

Im selben Haus gastiert das Bistum Münster mit einer konzentrierten Auswahl unter dem Leitmotto „Frieden. Wie im Himmel so auf Erden?“ Sie kommt übrigens gerade recht zum Deutschen Katholikentag, der vom 9. bis 13. Mai in Münster stattfindet. Die Friedenssehnsucht, so die eindrücklich belegte Hypothese, zählt zu den zentralen Motiven des Christentums, versinnbildlicht u. a. in der Vorstellung vom „Himmlischen Jerusalem“. Übliche Friedenssymbole sind beispielsweise Tauben und Regenbögen, wie sie in der LWL-Schau etwa bei Otto Piene in moderner Gestalt wiederkehren. Von Tauben wird im Picasso-Museum ebenfalls noch zu reden sein. Die fünf Ausstellungen bestehen zwar je für sich, sie bilden aber eben auch einen hie und da dicht geflochtenen Zusammenhang.

„Mit Gott zum Sieg“

Das Bistum Münster hat keineswegs eine Ausstellung (u.a. gekrönt mit Objekten der Antike sowie Werken von Veit Stoss, Otto Pankok und Christian Schmidt-Rottluf) aus dem Geist der Selbstbeweihräucherung zusammengetragen – im Gegenteil: Man ist so klug und aufrichtig, auch Schattenseiten wie die Missionierung mit dem Schwert gebührend darzustellen. Klerikal abgesegnete Parolen wie „Mit Gott zum Sieg“ dienten weltlichen Kriegstreibern. Und zu den furchtbaren Kreuzzügen sieht man mit Entsetzen die auf 1634 datierte Darstellung eines Christus, der triumphal den abgeschlagenen Kopf eines Muslims in der Hand hält. Gepriesen sei die Aufklärung, die nach und nach das Christentum geläutert hat. Sie möge allen Religionen zuteil werden.

Weiter geht’s ins Archäologische Museum der Universität. Hier schreitet man sogleich auf eine vergoldete Replik der altgriechischen Friedensgöttin Eirene zu. Schon zu dieser Frühzeit findet sich also die anthropomorphe Deutung des Friedens, der Menschengestalt annimmt. Und schon hier steht das Füllhorn sozusagen für die erhoffte Friedens-Dividende, also für wirtschaftliche Blüte. Die Taube hingegen fungierte zunächst nur als bloßes Tieridyll und noch längst nicht als explizites Friedenszeichen.

"Taube mit Olivenzweig fliegt zur Arche Noah" (Buntmetall, Münzstätte Apameia (Phrygien/Türkei) - (Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett - Foto Bernd Berke)

Noch kein ausdrückliches Friedenssymbol: „Taube mit Olivenzweig fliegt zur Arche Noah“ (Buntmetall, Münzstätte Apameia (Phrygien/Türkei). Geprägt unter Kaiser Philippus Arabs (reg. 244-249 n. Chr.)  – (Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett – Foto Bernd Berke)

Inszenierung des Kaisers

Die kleine archäologische Ausstellung schlägt beherzt einen Bogen von etwa 700 vor Chr. bis ins 3. Jahrhundert nach Chr. und berührt griechische wie römische Vorstellungen vom Frieden. Während sie in Griechenland noch mythologisch grundiert war, bezog sie sich in der römischen Antike vor allem auf den Kaiser als Friedensbringer, zumal auf den Imperator Augustus. Ein Modell führt die ausgesprochen raumgreifende, architektonische und städtebauliche Inszenierung des Friedens vor Augen, wie sie den Herrschenden im Römischen Weltreich gefiel. Wer einmal sein weitläufiges Gebiet arrondiert hat, kann wohlfeil den Frieden zelebrieren.

Man erfährt überdies, dass (nicht nur) seinerzeit eine gewisse Korpulenz zum Inbild des gütigen Friedensherrschers gehörte. Kühner Vergleich der Ausstellungsmacher: Ein Foto des wohlgenährten „Wirtschaftswunder“-Ministers und nachmaligen Kanzlers Ludwig Erhard soll quasi an die antiken Bildnisse anknüpfen.

Mit dem Botenstab zwischen den Fronten

Außerdem sieht man Tontafel-Fragmente des ältesten erhaltenen Friedensschlusses der Menschheit von 1259 v. Chr. Dieser Vertrag zwischen Hethitern und Ägyptern ist hier bruchstückweise als Kopie in Keilschrift vorhanden.

Auch lernt man, dass der Botenstab zur Grundausstattung antiker Diplomaten zählte. Mit diesem Stab versehen, der Immunität garantierte, wandelten sie zwischen den Fronten, um zu verhandeln; wie denn überhaupt in der Antike oftmals der vernünftige Interessenausgleich zum Friedensschluss führte – und nicht das einseitige Diktat des Siegers. Allerdings ergibt sich im 3. Jhdt. n. Chr. auch das Paradox, dass viele Münzen die Friedensgöttin Pax zeigen, während die Zeiten in Wahrheit ungemein kriegerisch waren.

Nächste Station: das Kunstmuseum Pablo Picasso. Hier wird das Spannungsfeld zwischen Picassos weltberühmter Kriegsanklage „Guernica“ (die natürlich nicht im Original zu sehen ist, sondern als Paraphrase der Künstlerin Tatjana Doll) und des recht eigentlich von ihm kreierten Motivs der Friedenstaube vermessen.

Pablo Picasso: "Die Taube" (1949), Lithographie (Kunstmuseum Pablo Picasso Münster © Succession Picasso, Paris, VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Pablo Picasso: „Die Taube“ (1949), Lithographie (Kunstmuseum Pablo Picasso Münster © Succession Picasso, Paris, VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Himmelschreiendes Nachtstück

Die Entstehungsphasen seines „Guernica“-Bildes sind gleichwohl präsent, und zwar durch Fotografien seiner damaligen Gefährtin Dora Maar, die das allmähliche Werden des Werks – von April bis Juni 1937 – Schritt für Schritt festhalten. Das letztlich unausdeutbare Großformat bezieht sich auf die barbarische Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch Francos faschistische Truppen, die deutsche „Legion Condor“ und italienische Unterstützer. Es ist ein himmelschreiendes Nachtstück, allen Opfern des Überfalls zugeeignet.

Erst in dieser Phase wurde Picasso überhaupt politisch. Die Münsteraner Ausstellung enthält auch seine schrundige, bewusst ungeglättete Skulptur eines Mannes mit Schaf, die sich (in der Tradition von Auguste Rodin) weit abheben sollte von der Sterilität eines Arno Breker, der damals – unter deutscher Besatzung – gerade in Paris ausstellte. Auch bei dieser Picasso-Schöpfung oszillieren die möglichen Bedeutungen. Was beim flüchtigen Hinsehen als Friedensbotschaft gesehen werden könnte, kippt wohl doch ins schiere Gegenteil um: Bringt der Mann das Tier nicht zur Schlachtbank? Es ist jedenfalls eine subversive Arbeit, die auch der Gestapo verdächtig war, die Picasso in Paris drangsalierte.

Friedenstauben für die Kommunisten

Und die Tauben? Wurden Picassos denkbar breitenwirksames und wohl populärstes Motiv überhaupt. Als ursprüngliches Vorbild dienten vermutlich jene Mailänder Tauben, die Picasso als Geschenk von Matisse erhalten hatte. In Münster sieht man nun einige Varianten des Motivs, das Picasso stets wieder aufgriff, seit er 1949 die Urfassung entworfen hatte. Picasso, nunmehr Mitglied der Kommunistischen Partei, stellte damit die Genossen zufrieden. Endlich sei die Kunst des Avantgardisten einmal verständlich, lobten sie. Hernach stellte er sein Tauben-Motiv häufig der Partei für Plakate zur Verfügung. Kurios: Es gibt ein Zitat von Picasso, das sinngemäß besagt, es sei ein Witz, ein dermaßen aggressives Tier wie die Taube zum Friedenssymbol zu ernennen…

Bliebe noch das Stadtmuseum Münster. Dessen Schwerpunkten entsprechend, wird dort die örtliche und regionale Wahrnehmung des Westfälischen Friedens von 1648 behandelt. Unter dem Titel „Ein Grund zum Feiern?“ beleuchtet man die Aktivitäten zu früheren Jubiläen des historischen Datums. Die Rückblicke reichen in die Jahre 1748, 1848, 1898 und 1948. In Münster galt der Westfälische Frieden lange Zeit als eher missliebiger Gedenkanlass, wähnte man doch, der Katholizismus sei schlecht dabei weggekommen. Erst ganz allmählich rang man sich zu einer gelasseneren und neutraleren Sicht der Dinge durch.

Ob man nun alle fünf Ausstellungen absolvieren soll? Nun, das bleibt selbstverständlich jedem und jeder selbst überlassen. Ich kann nur sagen: Beim Pressetermin ging es in einer Tour de Force über den gesamten Parcours. Und das übersteigt im Grunde die mentale Aufnahmebereitschaft. Ratsam wäre es, sich je nach Interessenlage etwas herauszusuchen oder sich die ganze Sache an zwei verschiedenen Tagen zu Gemüte zu führen. Ganz ruhig und friedlich also.

„Frieden. Von der Antike bis heute“. Bis 2. September 2018 an folgenden Orten in Münster:

  • LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz 10 (mit zusätzlicher Gastausstellung des Bistums Münster). Tel. 0251/ 5907 201
  • Archäologisches Museum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Domplatz 20-22. Tel. 0251 / 832 69 20
  • Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, Picassoplatz 1, Tel. 0251/ 41 44 710
  • Stadtmuseum Münster, Salzstraße 28, Tel. 0251/ 492 45 03
  • Gemeinsame Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr (montags geschlossen). Kombi-Ticket für alle Ausstellungen Erwachsene 25 €, ermäßigt 16 €, Kinder, Jugendliche, Schüler 8 €
  • Sonderöffnungszeiten zum Deutschen Katholikentag, 9. bis 12. Mai, jeweils 10 bis 22 Uhr
  • Zur Ausstellung erscheinen fünf Katalogbände im Sandstein-Verlag, die einzeln oder als Gesamtedition im Schuber erhältlich sind. Die Kataloge kosten einzeln: LWL-Museum 38 €, Bistum 38 €, Archäologie 38 €, Picasso-Museum 24 € und Stadtmuseum 18 €. Alle zusammen (1064 Seiten) 98 Euro.
  • Weitere Infos: www.ausstellung-frieden.de

 

 




Auseinandersetzung mit der „Neuen Rechten“ als Hauptthema – eine Nachlese zur PEN-Jahrestagung

Gastautor Heinrich Peuckmann über das Jahrestreffen der Schriftstellervereinigung PEN in Göttingen:

2017 hatte die Jahrestagung des PEN in Dortmund stattgefunden und die knapp 150 Schriftsteller waren beeindruckt gewesen von dem Erscheinungsbild der Stadt und ihrem weit vorangeschrittenen Strukturwandel. Die diesjährige Tagung fand nun Ende April in Göttingen statt, ein Tagungsort mit großer Symbolkraft für den PEN, denn dort wurde nach der Nazidiktatur vor 70 Jahren der deutsche PEN wiedergegründet.

Das Präsidium des deutschen PEN-Zentrums bei der Jahrestagung in Göttingen (von links): Franziska Sperr, Tanja Kinkel, Ralf Nestmeier, Nora Bossong, Ilja Trojanow, Jutta Sauer, Regula Venske (Präsidentin), Jürgen Jankofsky, Heinrich Peuckmann und Carlos Colido Seidel. (Foto: PEN)

Das Präsidium des deutschen PEN-Zentrums bei der Jahrestagung in Göttingen (von links): Franziska Sperr, Tanja Kinkel, Ralf Nestmeier, Nora Bossong, Ilija Trojanow, Jutta Sauer, Regula Venske (Präsidentin), Jürgen Jankofsky (halb verdeckt), Heinrich Peuckmann und Carlos Colido Seidel. (Foto: Felix Hille/PEN)

Damals waren noch Autoren aus Ost und West dabei, bevor es 1951 zur Spaltung kam. Hans Henny Jahnn war dabei, Erich Kästner, Kasimir Edschmid, Johannes R. Becher und andere. Die heutigen PEN-Mitglieder nutzten die Gelegenheit, den Gründungsraum im alten Göttinger Rathaus zu besichtigen. Mittendrin steht dort ein großer Tisch, an dem die damalige Sitzung stattfand.

Gut 120 Schriftsteller waren diesmal gekommen und folgten dem Motto von Günter Weisenborn „Denken Sie ihre Gedanken zu Ende“, ein Zitat aus seiner Göttinger Kantate, die die Warnung von 18 Wissenschaftlern vor den großen Gefahren des Jahrhunderts, vor allem vor einem Atomkrieg, szenisch darstellt.

Die Grenzen der freien Meinungsäußerung

Die Gedanken, die die Schriftsteller diesmal bewegten und die unbedingt, auch über die Tagung hinaus nicht nur zu Ende, sondern immer weitergedacht werden müssen, betrafen die „Neue Rechte“. „Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Neue Rechte“, war Thema einer großen Podiumsdiskussion, an der u.a. Ulrich Greiner und Zoe Beck teilnahmen. Zoe Beck vor allem nahm scharf Stellung gegen das Denken der Neuen Rechten, die sich gerne als Opfer darstellen, weil man ihnen angeblich das Recht auf freie Meinungsäußerung nehme, ein Recht, für das der PEN ja gerade steht. Deshalb wurden auch keine Rufe nach Verboten laut, sondern es wurde festgestellt, dass das Strafgesetzbuch die Grenzen der Meinungsäußerung festlege.

Im Übrigen will sich der PEN auf eine engagierte und in der Sache scharfe Auseinandersetzung mit den Rechten, ihren Ideologen und Verlagen einstellen. Beim „Kampf um die Köpfe“ (Gramsci) gelte, die Meinungshoheit für ein humanes, friedfertiges Denken und Handeln zu bewahren und vor allem Rassismus keine Chance zu lassen. Ulrich Greiner betonte dagegen die Berechtigung konservativen Denkens, verwahrte sich gegen eine unterstellte Nähe zur AfD, blieb aber trotzdem eine klare Antwort zum Thema schuldig.

In der Nachfolge von Oswald Spengler, Carl Schmitt und Ernst Jünger

In einem Eingangsreferat hatte der Historiker Ulrich Sieg das rechte Denken in der Weimarer Republik dargestellt, dabei aber Parallelen zu heutigem Denken weitgehend vermieden. Die wurden allerdings von den PEN-Autoren im Publikum gezogen, indem aufgezeigt wurde, wie weit die Wortführer der heuten Rechten, etwa Götz Kubischek, das Denken von Oswald Spengler, Carl Schmitt oder auch Ernst Jünger aufgreifen. Parallelen, das wurde weitgehend festgestellt, sind sehr wohl möglich.

Die Neue Rechte war außerdem in einer internen Arbeitsgruppe Thema. Es wurde beschlossen, dies immer neu zu diskutieren, um immer neu auf Strategien und Inhalte der Rechten zu reagieren. Eine einmal gefundene Strategie gebe es nicht, man müsse sich immer neu auf Taktik und Argumentation der Neuen Rechten einstellen.

„Auf der Flucht vor der Machete“ in Bangladesch

In einer anderen großen Podiumsdiskussion ging es im engeren Sinne um die Situation der Blogger in Bangladesch. „Auf der Flucht vor der Machete“ war der Titel dieser Diskussion und er griff das brutale Handeln von radikalen Islamisten in Bangladesch auf, die jene Blogger, die einen liberalen Islam vertreten oder die Atheisten sind, nicht einfach nur töten, sondern mit der Machete brutal zerhacken. Zwei Blogger, die im Writers-in-Exile-Programm des deutschen PEN sind, die eine Wohnung und ein Stipendium gestellt bekommen, waren an der Diskussion beteiligt, u.a. Zobaen Sondhi, der sehr bekannt in Bangladesch war.

Im weiteren Sinne wurde Bangladesch als Beispiel genommen für die weltweite Verfolgung unbequemer Schriftsteller, Journalisten und Blogger, die mit Folter, Gefängnis oder sogar Tod bedroht sind und dies nicht nur in fernen Ländern, sondern auch ganz in unserer Nähe, in der Slowakei etwa oder auf Malta, wo gerade erst investigative Journalisten brutal ermordet wurden. Selbst Deutschland ist betroffen. Can Dündar wird gegenwärtig von fünf Personenschützern rund um die Uhr bewacht. Etwa 900 Autorennamen stehen gegenwärtig auf der Caselist.

Resolutionen gegen Wettrüsten und Waffenexporte

Resolutionen wurden auch verabschiedet, dazu gehörte die Aufforderung an die Bundesregierung, sich entschieden von dem durch die USA, Russland, China und NATO angeheizten Wettrüsten zu distanzieren. Anstatt die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen, sollte in Konfliktvermeidung, Beseitigung von Kriegsfolgen und Entwicklungshilfe investiert werden.

Ebenfalls rief der deutsche PEN die Bundesregierung dazu auf, in der anstehenden juristischen Aufarbeitung illegaler deutscher Waffenexporte absolut transparent vorzugehen und in vollem Umfang mit der Justiz zusammenzuarbeiten.

Auch die Möglichkeit, dass die AfD den Vorsitz im Unterausschuss für auswärtige Kultur- und Bildungspolitik übernehmen könnte, war dem PEN ein Dorn im Auge. Er forderte die übrigen Parteien auf, von ihrem Zugriffsrecht Gebrauch zu machen und einen AfD-Abgeordneten als Vertreter deutscher Kultur und Bildung im Ausland unbedingt zu verhindern.

Neben all den Inhalten nutzten die Autoren auch dieses Treffen wieder zu Gesprächen untereinander. Freundschaften wurden gepflegt, man lernte neue Kolleginnen und Kollegen kennen, Kontakte wurden vertieft und Projekte untereinander verabredet. Autoren sind Einzelgänger. Ihre Arbeit findet einsam an ihrem Schreitisch statt. Umso schöner, wenn man sich dann für ein paar Tage trifft und ausgiebig miteinander reden kann. Göttingen, wurde damit festgestellt, hat ebenso schöne und gemütliche Orte wie Dortmund, an denen man sich treffen und nach Herzenslust miteinander reden kann.

Das nächste PEN-Jahrestreffen findet 2019 in Chemnitz statt.

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Revierpassagen-Gastautor Heinrich Peuckmann ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Beisitzer des Präsidiums.

 

 




Durchs „Schwarze Gold“ wurde Europa hell und bunt: Schau auf Zeche Zollverein zelebriert das Kohle-Zeitalter

Bergmann und Grubenpferd als "Arbeitskameraden", Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Bergmann und Grubenpferd als „Arbeitskameraden“, Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Im Dezember ist Schicht im Schacht, dann wird mit Schließung der Bottroper Zeche Prosper-Haniel das Steinkohle-Zeitalter im Ruhrgebiet und damit in ganz Deutschland enden. Da sollte man sich noch einmal bewusst machen, was die Kohle eigentlich bedeutet hat. Jetzt gibt es Gelegenheit. Und wie!

Eine geradezu ausufernde Ausstellung in Essen schickt sich an, uns die Sinne zu öffnen, wenn man sich denn von der betäubenden Menge und Vielfalt nicht ins Bockshorn jagen lässt: „Das Zeitalter der Kohle“ heißt sie, laut Untertitel erzählt sie (wohl auch wegen entsprechender Fördermittel) „eine europäische Geschichte“, und zwar so ungefähr seit 1800 bis heute. Die Macher wissen nicht einmal so ganz genau, ob sie nun rund 1000 oder 1200 Exponate zeigen. Ist ja im Endeffekt auch zweitrangig.

Treibstoff der Moderne

Ohne Kohle keine Moderne. Auf diese knappe Formel könnte man den „Parcours“ (so sportlich benennen sie in Essen den Rundgang) auf mehreren Ebenen in der gigantischen Mischanlage der Zeche Zollverein bringen. Beispielsweise hätte es ohne Kohle keine künstlichen Farbstoffe gegeben. Plakativ gesagt: Die Welt wurde bunt, während die Bergleute unter Tage schwarz wurden. Eine grandiose Installation aus etwa 3000 bis 4000 Original-Fläschchen mit derlei Farbstoffen führt das Ausmaß vor Augen. Auch hier hat wohl niemand exakt nachgezählt, es kommt halt auf den optischen Gesamteindruck an.

Aus Kohle entstanden: Tausende Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Aus Kohle entstandene Substanzen: Mehrere Tausend Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Die Welt wurde nicht nur bunter, sondern auch heller, denn die Gaslaternen, die damals immer mehr Städte erleuchteten, hätte es ohne Kohle so ebenfalls nicht gegeben. Ohne Kohle und ihre Nebenprodukte wären schließlich auch die Anfänge der modernen Chemie undenkbar gewesen. Da reden wir unter anderem von lebenswichtigen Medikamenten. Und von Düngemitteln. Von Bakelit. Und und und.

Keim des einigen Kontinents

Weit mehr noch: Mit Kohle wurden Dampfmaschinen angetrieben, hernach auch Dampflokomotiven und Dampfschiffe. Also änderte sich die Verkehrs-Infrastruktur grundlegend. Mit Kohle-Energie wurden sodann auch die verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts geführt, Kohle und Stahl galten als besonders „kriegswichtig“. Diesem Aspekt ist ein Extra-Kapitel der Ausstellung gewidmet.

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Und wie war das noch mit Europa? Nun, die Kohle, sprich die Gründung der Montanunion im Jahr 1951, stand am Beginn des europäische Einigungsprozesses. Der Impuls, der dahinter stand: Nie wieder sollten auf diesem Kontinent Kriege um Energie geführt werden. Ohne Kohle auch keine EU? Hört sich gewagt an, aber in den Anfängen ist was dran. In Essen kann man jetzt das staunenswert gut erhaltene Gründungsdokument des europäischen Kohleverbundes sehen – u. a. mit den Unterschriften von Robert Schuman und Konrad Adenauer, der nicht als Kanzler, sondern in seiner damals zusätzlichen Eigenschaft als Außenminister signierte.

Gewichtiger Auftakt zur Ausstellung: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest der größte in Deutschland. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewichtiger Auftakt zum Rundgang: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest in Deutschland der größte. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewaltige Geschichten

Man ahnt: Die Bedeutung der Kohle kann schwerlich überschätzt werden, sie hat tatsächlich ein ganzes Zeitalter geprägt, im Ruhrgebiet und anderswo bis tief in die Sozialstrukturen und in den Alltag hinein. Gewaltige Geschichten von Migration, Klassenkämpfen und Naturzerstörung sind hierbei zu erzählen. Was freilich gleichfalls stimmt: Die Kohlegewinnung hat auch einige Waldstücke gerettet, denn sonst wäre viel mehr Holz verbrannt worden.

All diese Phänomene – und einige Verzweigungen mehr – werden in der Schau aufgegriffen, für die das Ruhr Museum und das Deutsche Bergbau-Museum Bochum ihre eh schon gehörigen Kräfte vereint haben, als Hauptförderer tritt zudem die RAG-Stiftung in Erscheinung. Der Gesamtetat beträgt deutlich über 2 Millionen Euro, bei 80.000 Besuchern wäre man finanziell „aus dem Schneider“. Heinrich Theodor Grütter, Chef des Ruhr Museums, wäre sicherlich noch zufriedener, wenn um die 100.000 kämen.

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Zugang auch per Standseilbahn

Falls es so viele Besucher sein werden, so müssten sie sich beim originellsten Zugang per Standseilbahn (150 Meter) gewiss auf längere Wartezeiten einrichten, denn hier können immer nur wenige Leute auf einmal zusteigen. Aber man kann ja auch mit dem Aufzug ganz nach oben fahren, wo die Schau beginnt und dann etagenweise abwärts führt. So geht es sich allemal bequemer, als wenn man „bergauf“ müsste. Außerdem ist es themengerecht, denn man kann sich dabei Gänge und Fahrten in die Tiefe besser vorstellen. Rein theoretisch, versteht sich.

Der immense Aufwand ist jedenfalls angemessen. Denn derart vielfältig ist die Themenpalette, dass natürlich selbst über 1000 Ausstellungsstücke bei weitem nicht ausreichen, das Spektrum in aller Breite und Tiefe darzustellen. So erschöpft sich selbst diese streckenweise strapaziöse Groß-Inszenierung notgedrungen in lauter Hinweisen und Anspielungen, die füglich zu ergänzen wären. Will man mehr Durchblick und Zusammenhang, so wird man sich wohl den Katalog zulegen und/oder eine Führung buchen müssen. Auch wäre ein mehrfacher Besuch ratsam. Dann kann man sich auch eingehender den Grundsatzfragen widmen, wie etwa der, warum Menschen eigentlich auf die wahnwitzige Idee gekommen sind, derart brachial in die Tiefen der Erde vorzudringen.

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Kohlegürtel von England bis zur Ukraine

Um 1750/1800 begann zwar in einem europäischen West-Ost-Gürtel, der schließlich von England über Nordfrankreich, Belgien und das Ruhrgebiet bis in die Ukraine reichte, das eigentliche Kohle-Zeitalter mit zusehends intensiverem Abbau. Doch blickt die Ausstellung gleich eingangs noch viel weiter zurück, nämlich um einige Millionen Jahre, als das nachmalige „Schwarze Gold“ ursprünglich aus Farnwäldern entstanden ist. Man hat eine australische Sorte aufgetrieben, die den damaligen Gewächsen recht ähnlich sein soll. Daneben thront ein kolossales Stück Kohle, es ist wohl mindestens das größte in Deutschland, wenn nicht noch weiterer Superlative würdig: Sieben Tonnen wiegt der Würfel, er wäre längst gebröckelt, hielte ihn nicht Epoxidharz zusammen. Das Schaustück wurde – abseits der üblichen Produktion – anno 2016 abgebaut.

Ein Mobile aus Arbeitswerkzeug

So ist man denn eingestimmt auf die Inszenierungen der (Stuttgarter) Gestaltungs-Agentur „Space 4“, die sich beispielsweise ein Riesen-Mobile aus bergmännischem Gerät ausgedacht und implantiert hat. Überhaupt bietet die Ausstellung etliche imponierende Schauwerte und Punkte zum Innehalten. So manches Objekt verströmt überdies die Aura des Authentischen, die über das rein Museale hinausweist. Leitidee im Kernbestand der Ausstellung ist die vielfältige Bedeutung von Feuer, Wasser, Luft und Erde für den Bergbau. Man geht also ganz elementar ans Thema heran.

Lebensrettender Schuh

Welche weiteren Stücke soll man aus der Fülle nun besonders hervorheben? Das Ensemble der historischen Gaslaternen, die über den Köpfen der Besucher schweben? Die Wandtapete mit Darstellung der Eisenbahn von St. Ètienne nach Lyon? Die internationale Gemäldegalerie mit Porträts steinreich gewordener „Schlotbarone“? Die vielen prägnanten Fotografien, die vom Alltag der Bergleute und von nahezu mörderischen Arbeitsbedingungen zeugen? Vielleicht jenen unscheinbaren Arbeitsschuh des Hauers Fritz Wienpahl, der 1930 in der Castroper Zeche Victor verschüttet wurde und just diesen Schuh als lebensrettendes Trinkgefäß verwenden konnte? Die gewaltigen Gerätschaften auf dem Freigelände um die Mischanlage, die als eine Art Skulpturenpark präsentiert werden? Oder jenes Dokument, welches belegt, dass sich schon 1962 in Essen eine Interessengeminschaft gegen Luftverschmutzung im Revier formierte?

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Wehmut und Zukunft

Doch vergessen wir nicht die eher unspektakulären Momente, die das Ganze einrahmen: Ganz zu Beginn blicken wir in die gleichermaßen erschöpften und stolzen Gesichter von Bergleuten direkt nach der Schicht; am Schluss sehen wir Video-Aufzeichnungen ehemaliger Kumpel, die darüber nachdenken, was das Ende des Bergbaus für sie und für die Region bedeutet. Einer sagt fassungslos: „Da stehsse da. Wat machsse denn jetz?“ Überhaupt vernimmt man da viel Wehmut und Resignation, gegen die all die vielen Kohle-Kulturprojekte dieses Jahres unter dem Strukturwandel-Motto „Glückauf Zukunft!“ angehen wollen. Es möge nützen.

Der Abschied von der Kohle vollzog sich in unseren Breiten übrigens deutlich glimpflicher als in England. Dort fielen die Menschen in der berüchtigten Thatcher-Ära tatsächlich ins „Bergfreie“ und in die Verarmung. Auch dazu gibt es Exponate in Essen, so einen Solidaritätsaufruf aus dem Ruhrgebiet für die britischen Kollegen – und ein Plakat zum Benefizkonzert der Gruppe „Clash“ von 1984.

„Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“. 27. April bis 11. November 2018. Essen, Unesco-Weltkulturerbe Zeche Zollverein, Areal C (Kokerei), Mischanlage (C 70), Eingang am Wiegeturm, Arendahls Wiese.

Geöffnet täglich Mo-So 10-18 Uhr, Eintritt 10 €, ermäßigt 7 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie Studierende unter 25.

Öffentliche Führungen Mo-So 11 Uhr, 90 Minuten, 3€ pro Person plus Eintritt (Infos/Buchungen Tel. 0201 / 24681-444 und per Mail: besucherdienst@ruhrmuseum.de), Audioguide 3 €. Katalog (Klartext Verlag) 24,95 €. Umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Exkursionen usw.

Mehr Infos: www.zeitalterderkohle.de

 

 




Erst der „Echo“-Skandal, dann die Hakenkreuz-Binde im Theater: Provokation bis zur völligen Verblödung

Hitlers gespenstisch wiederkehrender Geburtstag wird in diesem Jahr besonders ausgiebig begangen. Nein, nicht nur von (Neo)-Nazis, sondern auch von mehr oder weniger kulturell angehauchten Institutionen. Zunächst hatten wir (und haben wir immer noch) die sich seit Tagen hinziehende „Debatte“ um den überflüssigsten aller Musikpreise, den „Echo“, der sich eh nur nach Verkaufszahlen richtet und Qualität quasi nur als nebensächlichen Zusatzeffekt duldet.

Manche Themen kann man eigentlich nur noch abstrakt bebildern. Wenn überhaupt... (Foto: BB)

Manche Themen kann man nur noch abstrakt bebildern. Wenn überhaupt… (Foto: BB)

Die idiotische, unsäglich antisemitische Zeile der Echo-dekorierten Rapper Kollegah & Farid Bang muss zwangsläufig dazu führen, den nunmehr vollends korrumpierten und verseuchten Preis künftig gar nicht mehr zu verleihen. Respekt allen aufrechten Künstlern, die ihre Echo-Auszeichnungen jetzt zurückgegeben haben – mit welcher kurzen Verzögerung auch immer. So. Jetzt haben wir das hier ebenfalls gesagt. Fürs Protokoll.

Ist ja auch wahr. Der Überbietungs-Wettbewerb in Sachen Provokationen geht einem doch schon seit vielen Jahren auf die Nerven. Ständige Grenzüberschreitung scheint irgendwann zwangsläufig mitten in die Verblödung zu führen. Und ich fürchte, dass sich darin, nämlich im unentwegten Lobpreis der Provokation, ein Erbteil der Achtundsechziger verbergen könnte. Wobei die Sache natürlich viel komplizierter liegt.

Von Kollegah bis Konstanz: Bodenlos am Bodensee

Während die Echo-Verleihung wohl eher zufällig in die zeitliche Nähe des besagten Hitler-Geburtstages geraten ist, bezieht sich das Theater in Konstanz ganz bewusst darauf – und legt seinerseits eine angeblich unerhört „kritisch“ gemeinte Provokation just zu diesem Tage auf, gleichsam nach dem Motto „bodenlos am Bodensee“: Zur Premiere – und eventuell zu weiteren Aufführungen – von George Taboris „Mein Kampf“ (Regie: der Kabarettist Serdar Somuncu) gibt’s Freikarten, falls die Besucher sich bereit erklären, im Theater eine Hakenkreuz-Binde zu tragen.

Einige Dutzend Leute haben sich anscheinend schon für die infame Aktion gemeldet – Hauptsache „Schnäppchen“, Hauptsache Betrieb, Hauptsache schrill und krass. Man soll ja keine billigen Scherze mit Namen machen, aber der Konstanzer Intendant, der die Idee gehabt haben soll, heißt nun mal Nix. Vorname Christoph. Er hat wahrscheinlich erkannt, dass Provozieren mit Ficken und dergleichen schon längst nix mehr bringt. Da muss schon härtere Nazi-Action her. Von Kollegah bis Konstanz.

Leider funktioniert der üble Marketing-Gag

Doch halt! Natürlich will das Theater nach eigener Darstellung mit all dem nur zeigen, wie leicht sich Menschen korrumpieren lassen. Was habt ihr denn gedacht? Aber damit nicht genug der Geschmacklosigkeit: Wer eine Karte zum Normaltarif kauft, „darf“ zur Aufführung einen Davidstern tragen – als Zeichen der Solidarität mit den Opfern, wie das Theater eilfertig versichert. O schreckliche Einfalt!

Was wird das für ein Hallo im Zuschauerraum geben! Wahrscheinlich rücken da einige TV-Teams an, die sonst mit „Kultur“ so gar nichts am Hut haben. Eine gewisse Polizeipräsenz ist unterdessen sicherlich ratsam. Es geht ja auch nicht um Kultur, sondern (letztlich ganz ähnlich wie beim „Echo“) um das selbstgefällig provokante Gehabe einiger Ar***. In diesem Falle wird es auch noch öffentlich subventioniert.

Der aberwitzige Marketing-Gag funktioniert selbstverständlich zuverlässig, denn nun reden sie von Flensburg bis Garmisch und von Aachen bis Cottbus über das ansonsten herzlich unbedeutende Konstanzer Theater. Es ist zum Speien!




Hat Literaturförderung eine Zukunft? Oder: Ein Interview als Selbstversuch

Zum 1. April 2018 habe ich im Literaturbüro Ruhr e.V. als wissenschaftlicher Leiter gekündigt. Kein Wunder, dass ich des Öfteren gefragt werde, ob ich zum vorzeitigen Abgang ein Interview gäbe. Angeregt durch die Sammlung „Unmögliche Interviews“ des Wagenbach Verlags und David Foster Wallaces „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ habe ich mich heute endlich dazu entschlossen, mich – mir nichts, dir nichts – selbst zu interviewen. Denn, so sagt Novalis, „Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.“

Beim „Kaputten Abend 1“ im Maschinenhaus der Zeche Carl – Maria Neumann (Theater an der Ruhr), geschultert von Gerd Herholz; Foto: Jörg Briese

Drei Jahrzehnte Literaturbüro Ruhr? Wie hält man das aus?
Sie hatten doch intelligente Fragen versprochen. Naja …
Heute scheint tatsächlich jeder verdächtig, der sich über längere Zeit einer Sache widmet. Die Beschäftigung mit Literatur in all ihren Facetten aber bleibt ein Leben lang  inspirierend und bereichernd. Man kann übrigens hier- und dennoch nicht zurückbleiben.

Empfinden Sie Wehmut zum Abschied?
Mut und Weh zugleich. Von Meister Eckhart stammt der Satz: „Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist.“ Da stimme ich gottloser Humanist dem begnadeten Mystiker zu, spät und wahrscheinlich auch zu spät.

Wahrlich mystisch! Das heißt konkret?
Innehalten. Es braucht Muße, um wieder zu sich zu kommen. Als Rollenspieler im Hamsterrad der Literaturförderung war ich zu oft außer mir, eingespannt bei der Suche nach Fördermitteln, medialer Aufmerksamkeit, Publikum, aber auch in die bitter notwendige Kritik öffentlicher Kulturpolitik, war also Teil eines zwar noch nicht rasenden, aber rasanten Stillstands. Die Literatur, das Lesen, das Dem-Gelesenen-Nachsinnen, all das kommt eindeutig zu kurz. Ein Literaturbüro ist zwar immer auch ein Biotop für Literaturbekloppte, aber eben viel zu selten.

Hate Poetry-Abend des Literaturbüros im Essener Katakombentheater – u.a. mit Hasnain Kazim & Doris Akrap; Foto: Jörg Briese

Das war’s jetzt mit dem Weh?
Nein. Weh tut im Moment des Abschieds, dass es so scheint, als ob die Zukunft des Literaturbüros als Komplize literarischen Eigensinns verramscht würde. Da machen gedankenlose Vordenker  wohl schon länger obskure Planspiele zum Um- oder Abbau des Trägervereins, ohne dessen Vorstand und Mitglieder oder mich als Leiter des Büros überhaupt zu informieren. Insbesondere aus dem Umfeld des Regionalverbands Ruhr hört man, dass sich das Literaturbüro Ruhr mehr zu vernetzen habe, umzustrukturieren, vielleicht seine Landeszuschüsse in ein neues „Literaturzentrum“ überführen, sich gar einen neuen Standort außerhalb Gladbecks suchen solle.

Wäre denn Veränderung so schlecht?
Die behutsame Entwicklung des Literaturbüros, sein Ausbau wären mir lieber. Die Selbstständigkeit des Vereins, seine Souveränität müssen geachtet werden. Ich lege seit vielen Jahren beharrlich, aber vergeblich auch dem RVR Konzepte dazu vor, wie ein Literaturhaus, ein Literaturnetz Ruhr, Residenzen/Stadtschreiberstellen und der Literaturpreis Ruhr zukünftig aussehen könnten.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(von rechts nach links): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Mitglied des Vorstandes Stiftung Zollverein), Dr. Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung),Eva Schuderer (Programm lit.RUHR),Bettina Böttinger (Moderatorin), Dr. Thomas Kempf (Mitglied des Vorstandes der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Der RVR allerdings zeichnete sich bisher nicht durch eine ideenreiche und die Region vehement unterstützende Literaturförderung aus, im Gegenteil: Er hat sie eher verschleppt. Noch planloser sind nur die großen Stiftungen des Ruhrgebiets. Sie geben ab 2017 jährlich eine halbe Million Euro an Kölner Veranstalter, um von dort aus jeweils im Herbst die lit.RUHR organisieren zu lassen. Diese ‚lit.KOLONE‘ ist aber nichts weiter ist als eine schlichte Kopie der lit.COLOGNE: Das Ruhrgebiet – ein starkes Stück Köln! Am grünen Planertisch der hiesigen Eliten-Darsteller denkt man leider nur noch in Kategorien wie Kulturtourismus, Veranstaltungstaumel oder „Dachmarkenmarketing“ – und landet eher bei einem Dachschaden-Marketing.

Das klingt ziemlich aggressiv und verbittert.
Aggression, das heißt auch: sich auf etwas zubewegen. Meinen kleinen Zorn möchte ich mir bewahren. Den Anschein von Einstimmigkeit zu durchbrechen, das macht auch Spaß.
Verbittert? Nein. Aber enttäuscht, vor allem extrem gelangweilt von der immer gleichen größenwahnsinnigen Kulturkampagnenpolitik im Ruhrgebiet, die nicht einmal nach der Loveparade-Katastrophe gründlich infrage gestellt wird. Ich muss mir aber auch selbst vorwerfen, dass ich mich angesichts der kargen Mittel des Literaturbüros Ruhr und der fehlenden kulturpolitischen Unterstützung verschlissen habe bei dem Versuch, Literatur- und Leseförderung auf möglichst hohem Niveau zu gestalten. Man kommt sich vor wie ein Bastard aus Sisyphos, Don Quichotte und Freigänger.

Textrevolte – eine Reihe des Literaturbüros Ruhr

Wie sieht die Zukunft der Literaturförderung im Ruhrgebiet aus? Hat sie überhaupt eine?
Ein Großteil des geistigen Lebens im Alltag der Region wird auf der Strecke bleiben, wenn die Sparpolitik bei der kulturellen Infrastruktur – etwa bei den öffentlichen Büchereien – so fortgesetzt wird. Das dürfte hier aber kaum jemandem auffallen.
Die vielen selten subventionierten Enthusiasten und kleinen Initiativen wird es weiter geben. Solides ehrenamtliches Engagement gegen anämische Festivalitis und Eventitis. Ansonsten: Die hoch bezuschusste lit.RUHR als Festivalzirkus der Beliebigkeit wird das große Geld und vieles an Energie binden. Also immer öfter: Promis als Programm, Kunstsimulation als Konzept. So etwas kann man aber auch von den Ruhrfestspielen sagen: ein Kessel Buntes, Culture-to-go.

Dem Publikum scheint’s zu gefallen.
Man kann dennoch versuchen, nicht populistisch zu werden, wenn man Populäres macht. Und es gibt ein Publikum, das wünscht sich auch im kleineren Rahmen des Alltags das gekonnte Gespräch, den Vortrag guter Literatur auf der Bühne, neue Formate und vor allem politisch-kulturelle Intervention – abseits allen Talkshow- und Marketing-Gesumses. Stattdessen wird es seit Jahren vor allem von der Krimi-Flut überrollt. Ein Wellenreiter wie Sebastian Fitzek wird dabei tatsächlich als Schriftsteller gehandelt und ist doch bloß einer, der in Serie Sprache killt. Allerdings sieht man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten auch viele Kulturpolitiker und –‚manager‘, sogenannte Intendanten, Experten, Hobby-Moderatoren, Dichterdarsteller, die sich so vor die gekonnte Literatur, die Literaten schieben, dass man diese gar nicht mehr sieht.

Wieso setzt sich die Festival-Blase überall durch, wenn sie doch nur einfallslose Mono-Kultur bietet?
Es gibt – wie gesagt – die Begierden der Festivalmacher, immerhin agieren sie in sehr gut bezahlten Jobs. Dazu jede Menge offene und verdeckte Politik-, Verwaltungs- und Sponsorinteressen. Alle wünschen sich den Abglanz glitzernder Kunst-Fassaden, den Imagetransfer. ‚Social washing‘: Da lässt sich halt ein Kulturfestival von ‚Gönnern‘  wie VW oder Mercedes sponsern und die Auto-Patriarchen sind erfreut, sich für ein paar Peanuts abseits aller Abgas- und Affenversuchsskandale in veritable ‚Kultur‘ einzukaufen – eine Kultur, die sie selbst nicht besitzen. Und während des Festivals wird dann dreist von Literatur als Widerstand gesprochen, ein Widerstand, der längst verraten und verkauft wurde. Das Großformat erstickt per se aufrechte Haltung und Integrität.

Und wenn man von der öffentlichen Hand gefördert wird, dann bleibt man sauber?
Mitnichten. Öffentlich geförderte Einrichtungen werden nicht nur ins Abseits gespart, sondern zunehmend mit Zielvereinbarungen, Evaluationen usw. gegängelt. Die Landesrechnungshöfe würden im Gegenzug für öffentliche Förderung gern Mindestzahlen beim Publikumsbesuch fixieren. Quotenwahn statt künstlerischer Freiraum. Um so Quote zu machen, werden Kulturförderer sich schlechtem Massengeschmack weiter anpassen müssen und ihn damit selbst immer neu erzeugen. Das wäre die Selbstaufgabe kritischer Literatur- und Leseförderung. So hechelt sie dem Markt nur noch hinterher, statt dessen Korrektiv zu sein und Freiheitsübungen zu ermöglichen.

Harald Welzer plädiert für eine offene Gesellschaft; Foto: Jörg Briese

Denken ist ein großes Vergnügen, meinte Brecht, aber eben auch anarchisch und gefährlich. Dieser ganze sinnentleerte Kulturtrubel, der nur noch dem Profit, den Zuschauerzahlen und der Standortkonkurrenz verpflichtet ist, das ganze sich totlaufende Eventkarussell als austauschbare Fun-Fassade scheinen mir gewollt. Da sollen sich die Leute zu Tode amüsieren, statt über die Zukunft des Gemeinwesens zu diskutieren.

Wüssten Sie ein Gegengift?
Manchmal wünsche ich mir, ein zweijähriges Moratorium, wie es Hans Magnus Enzensberger 1993 in der FAZ gefordert hat, würde endlich umgesetzt und wir lassen den ganzen hypernervösen, von Sponsoren und öffentlichen Förderern abgerichteten Literaturbetrieb zwei Jahre ruhen, um Literaturförderung neu auszurichten. Das Geld sollte stattdessen dem Erhalt und Ausbau der Bibliotheken zugutekommen. Wer dennoch Literatur auf die Bühne bringen will: okay! Aber das soll man bitte aus der eigenen Tasche oder der der Zuhörer zahlen. Wie viel Zeit wir gewinnen würden fürs Lesen, Nachdenken und für Gespräche!




„Firewall einer freien Gesellschaft“: Wie fördert und bewahrt man künftig hochwertigen Journalismus?

Demokratie braucht qualifizierten Journalismus: Darin sind sich alle Autoren des Bandes „Medien und Journalismus 2030 – Perspektiven für NRW“ einig, und suchen nach Wegen, ihn zukunftssicher zu machen.

Die Medienlandschaft erlebt nun mal, das ist wahrlich keine neue Nachricht, umwälzende Veränderungen. Folgende Kennzahlen dazu: Die Gesamtauflage der Zeitungen in Deutschland hat sich von 2002 bis 2016 um rund ein Drittel reduziert, die Anzahl der Radiosender von 297 auf 415 erhöht und in jeder Minute werden auf YouTube mehr als 400 Stunden Videomaterial hochgeladen.

Soziale Medien sind bisher kein Ersatz

Journalisten, Medienexperten, Verleger und führende Kräfte aus Verlagshäusern betrachten ihn diesem rund 160 Seiten starken Band die aktuellen Gegebenheiten und beschreiben die Herausforderungen, die es in den nächsten Jahren zu bewältigen gilt. Dabei stellt Christian DuMont Schütte beispielsweise heraus, dass die sozialen Medien eine (große) Hoffnung nicht erfüllt haben: Einen professionellen Journalismus haben sie nicht ersetzt. Dabei, das unterstreicht, Klaus Schrotthofer, von 2004 bis 2007 Chefredakteur der Westfälischen Rundschau und heute Geschäftsführer der Mediengruppe „Neue Westfälische“, brauche man guten Journalismus, sei er doch die „Firewall einer freien Gesellschaft“.

In seiner Analyse beschreibt Schrotthofer, dass allerdings Verlagshäuser immer weiter Stellen abbauen und zentralisieren. Um Kosten zu sparen, schlägt er einen alternativen Weg vor: Verlage sollten regional und projektbezogen mehr kooperieren dürfen. Dazu sollten dann auch per Reform des Kartellrechts die Wege geebnet werden. Kritisch merkt Schrotthofer überdies an, dass sich die Tarifbindung von Verlagen „zusehends zum Wettbewerbsnachteil“ entwickele und somit auch die Attraktivität der Medienbranche als Arbeitgeberin insgesamt leide.

Allenthalben der leidige Kostendruck

Kostendruck herrscht aber, wenn auch nicht so eklatant wie bei den Zeitungen, auch im Rundfunk, wobei hier sowohl der private wie auch der öffentlich-rechtliche gemeint ist. WDR-Intendant Tom Buhrow beschreibt die angespannte Lage im eigenen Haus, spricht von 500 Stellen, die man habe streichen müssen, um einem finanziellen Offenbarungseid zuvorzukommen. Perspektivisch betrachtet sieht Buhrow durchaus eine Reihe von Problemen. Die finanzielle Sicherheit für den Sender ist dabei eine ganz entscheidende Frage. Der Intendant überlegt darüber hinaus auch, worin denn dauerhaft die Sender phoenix und tagesschau 24 unterscheidbar sein wollen und welches Publikum eigentlich den Sender One einschalten soll. Insgesamt sieht Buhrow die öffentlich-rechtlichen Sender gut aufgestellt, das attestiert Sascha Fobbe auch dem lokalen Privatfunk in NRW. Um aber dauerhaft wetterfest zu sein, brauche das gesamte System mehr Flexibilität, von denen die einzelnen Sender profitieren sollen.

Zwischen Stiftungen und Crowdfunding

Da an allen Ecken und Enden Geld fehlt, schlagen mehrere Verfasser ganz unterschiedliche Finanzmodelle vor, um Qualitätsjournalismus zu retten oder auch zu ermöglichen. Stiftungen könnten eine solche Lösung sein, Crowdfunding und gemeinnützige Vereine. Doch jeden einzelnen Vorschlag unterziehen Verfasser einer differenzierten Betrachtung. Wer steckt beispielsweise hinter einer bestimmten Stiftung, lautet eine kritische Rückfrage.

Zu Crowdfunding gibt es bereits konkrete Beispiele, aber der Autor und Journalist René Schneider gibt zu bedenken, dass eine solche Schwarmfinanzierung sich nicht für eine dauerhafte, sondern eher für eine projektbezogene Berichterstattung eigne. Die von Klaus Schrotthofer genannten Kooperationen sind zwar auch für die Kölner Kulturredakteurin Anne Burgmer eine große Chance, was sich nach ihren Worten an der Zusammenarbeit von NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung zeigt und hier wieder exemplarisch an den „Panama Papers“. Doch nach Burgmers Ansicht mangelt es an Transparenz, sodass man nicht genau wisse, wie viel Geld nun von welchem Medienhaus stamme.

Wenn der „Prosument“ die Szene betritt

Besonderer Anstrengungen aller Beteiligten bedarf es, die journalistische Ausbildung zu bewerkstelligen und Nachwuchs zu gewinnen. Eine weitere wichtige Aufgabe besteht nach Ansicht mehrerer Autoren darin, dass sowohl Print wie auch Rundfunk die Digitalisierung meistern. Im Internet habe man es inzwischen mit Prosumenten zu tun, also einer Mischung aus Produzent und Konsument, denn der User greife durch eigene Beiträge aktiv in den Journalismus ein, sei aber auch weiterhin Nutzer der Angebote.

Um lokale Informationen zu erhalten, heißt es in dem Band, würden noch immer im großen Umfang die Seiten der Tageszeitungen angeklickt. Blogs hätten noch längst nicht diesen Stellenwert bekommen. Mit der Stiftung „Vor Ort NRW“ der Landesanstalt für Medien sei eine Plattform geschaffen worden, die vor allem das lokale Angebot stärken wolle, heben die Medienfachjournalistin Ulrike Kaiser, zugleich Sprecherin der Initiative „Qualität im Journalismus“, und Simone Jost-Westendorf, Geschäftsführerin der Stiftung, hervor.

Das gesamte Bemühen um professionellen und qualitativ hochwertigen Journalismus sollte aber damit korrespondieren, dass vor allem Jugendliche, aber nicht nur sie, in Medienkompetenz geschult werden, fordern die Medienpolitiker Marc Jan Eumann und Alexander Vogt. Denn schließlich kann man, wie in dem Band dargestellt, in NRW auch einen Sender namens „Russia Today“ empfangen, den man durchaus skeptisch betrachten kann und sollte…

Marc Jan Eumann, Alexander Vogt (Hrsg.): „Medien und Journalismus 2030, Perspektiven für NRW“. Klartext Verlag, Essen. 166 Seiten, 17,95 €.




Explosive Kunst: Folkwang Museum Essen würdigt Klaus Staeck mit einer Ausstellung zum 80. Geburtstag

Klaus Staeck: Vorsicht Kunst, 1982. Offsetdruck, 84 x 59,3 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn, 2018.

Klaus Staeck: Vorsicht Kunst, 1982. Offsetdruck, 84 x 59,3 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn, 2018.

Inzwischen etwas in die Ferne gerückt, gehört das Schaffen von Klaus Staeck untrennbar zur Geschichte der Bundesrepublik in den Siebziger und Achtziger Jahren. Seine satirischen Plakate provozierten, weil sie stets den Kern der Probleme trafen. Jetzt widmet das Museum Folkwang in Essen dem Grafiker, Satiriker, Polit-Aktivisten und ehemaligen Präsident der Akademie der Künste in Berlin zu seinem 80. Geburtstag am 28. Februar eine Retrospektive. Es ist die größte seiner mehr als 3.000 bisherigen Einzelausstellungen.

Der Titel der Schau, „Sand fürs Getriebe“, beschreibt präzise, worum es Klaus Staeck in seiner politisch motivierten Kunst geht – die er zunächst nicht einmal als „Kunst“ verstanden hat. Seit 1971 hat der Jurist, der seit 1968 als Rechtsanwalt zugelassen ist, über 300 Plakate geschaffen. Sie bestehen größtenteils aus Fotomontagen, die Staeck mit eigenen ironischen oder satirischen Sprüchen versieht: Zum Ärger seiner konservativen politischen Gegner greifen sie Missstände auf und entlarven zynische Sprachregelungen.

Auch mit seinen Postkarten-Editionen verfährt Staeck in gleicher Weise. Er will damit durch Provokation zum Nachdenken anregen und Lügen, Halbwahrheiten und das heuchlerische Beschönigen skandalöser Tatbestände aufdecken. Dass Staeck dabei bewusst einseitig verfährt und das linke politische Lager verschont, gehört zu seinem Profil.

Klaus Staeck, Würden sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?, 1971. Offsetdruck, 86 x 61,3 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn, 2018.

Klaus Staeck, Würden sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?, 1971. Offsetdruck, 86 x 61,3 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn, 2018.

Ein besonderer Akzent der Ausstellung liegt auf den frühen abstrakten Holzschnitten und gesellschaftskritischen Siebdrucken des 1938 in Pulsnitz geborenen Graphikers, die den Weg zum ersten kritischen Plakat ebneten: „Sozialfall“ zeigt eine Zeichnung der Mutter von Albrecht Dürer mit dem Slogan: „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?“ Im Kontext des groß gefeierten Dürer-Jubiläums und der damaligen – heute wieder aktuellen – Wohnungsnot traf das Plakat 1971 den Nerv der Zeit.

Bis 8. April zeigt die Essener Ausstellung in sieben chronologisch gegliederten Kapiteln die frühen graphischen Arbeiten Staecks, den Übergang von der Druckgraphik zum Plakat und rund 200 Plakate aus den Jahren 1971 bis 2017. Neun Stunden dokumentarisches Filmmaterial, zwei Großinstallationen und eine in den achtziger Jahren entstandene Fotoserie über Bitterfeld geben Einblick in die politischen Aktivitäten Staecks, ergänzt durch Multiples, Postkarten, Dokumente und Archivmaterial.

Staeck lebt und arbeitet in Heidelberg. Seine ersten Holzschnitte entstanden 1964, ein Jahr später gründete er die edition tangente, aus der später die Edition Staeck entstand. Die Plakataktion zum Dürer-Jahr 1971 und seine Arbeiten im Bundestagswahlkampf 1972 machten Staecks kritische Grafik überregional bekannt.

In 41 Prozessen wurde versucht, gegen seine satirischen Bildmotive und Slogans vorzugehen; laut Pressemitteilung des Folkwang Museums hat er bis heute keinen verloren. Staeck war mehrfach Teilnehmer der documenta Kassel und hatte 1981 in Essen und 1986 in Düsseldorf Gastprofessuren inne. 2015 wählte ihn die Akademie der Künste Berlin zu ihrem Ehrenpräsidenten und zeigte die Werkschau „Kunst für alle“. Seine Auszeichnungen reichen vom 1. Zille-Preis für sozialkritische Grafik Berlin bis zum Großen Bundesverdienstkreuz 2007.

Klaus Staeck. Sand fürs Getriebe. Bis 8. April 2018 im Museum Folkwang, Essen. Öffnungszeiten: Dienstag, Mittwoch, Samstag, Sonntag und an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag und Freitag von 10 bis 20 Uhr. Der Eintritt ist frei. 256-seitiger Ausstellungskatalog in der Edition Folkwang im Steidl-Verlag, 20 Euro.

 




Willi Sitte – ein durchaus widersprüchliches Leben als Maler und DDR-Kulturfunktionär

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den umstrittenen DDR-Maler Willi Sitte:

Mit Willi Sitte ist 2013 auch der letzte der vier großen DDR-Maler gestorben. Werner Tübke zählte dazu, dessen Bauernkriegs-Panoramabild in Bad Frankenhausen sicherlich zu den großen malerischen Leistungen des letzten Jahrhunderts gehört. Werner Mattheuers Skulptur „Der große Schritt nach vorn“ über die politischen, vor allem blutigen Illusionen des letzten Jahrhunderts steht in Leipzig direkt vor dem Eingang zu Auerbachs Keller. Und Bernhard Heisig wurde im Westen bekannt, weil er Helmut Schmidt gemalt hat, als dessen Kanzlerschaft endete.

Der Maler Willi Sitte begrüßt den Staats- und Parteichef Erich Honecker zur Eröffnung der X. Kunstausstellung der DDR im Jahr 1987. (Foto: Bernd Sattnik / ADN / Bundesarchiv Bild 183-1987 - Wikimedia Commons, Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Der Maler Willi Sitte begrüßt den Staats- und Parteichef Erich Honecker (rechts) zur Eröffnung der X. Kunstausstellung der DDR im Jahr 1987. (Foto: Bernd Sattnik / ADN / Bundesarchiv Bild 183-1987 – Wikimedia Commons, Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Sitte war der umstrittenste von ihnen, was einerseits an seiner kraftvollen, mit viel Sinnlichkeit gewürzten Malerei, hauptsächlich aber an seiner Tätigkeit als Kulturfunktionär lag. Sitte war von 1974 bis 1988 Präsident des Verbandes bildender Künstler, war Volkskammerabgeordneter und Mitglied im ZK der SED, alles Tätigkeiten, die ihm nach der Wende heftig vorgeworfen wurden.

Dabei wurde jedoch oft verschwiegen, dass Sitte in den fünfziger und sechziger Jahren selbst erhebliche Konflikte mit der DDR-Führung hatte. Seinem „Lidice-Bild“, gemalt in Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis, fehlte nach Ansicht der Kulturverantwortlichen das Heroische, weil es Sitte um die Brutalität anonymer Mörder gegenüber den Opfern ging: Mehrfach wurde er zur Umarbeitung gedrängt, bis man das Bild schließlich aus dem Verkehr zog. Heute ist es verschollen.

Für gewisse Freiräume gesorgt

Die Graphikerin Lea Grundig war vor Sitte Verbandschefin, formale und inhaltliche Neuerungen  waren ihr suspekt. Sitte erzählte mal, dass sie schon bei seinem Erscheinen zu einer Sitzung gerufen hätte: abgelehnt! So wurde er später von einigen seiner Freunde gedrängt, selber für das Amt zu kandidieren und für Freiraum in der DDR-Malerei zu sorgen. Selbst seine Gegner bestätigen heute,  dass er diesem Auftrag gefolgt ist. Vieles wurde unter seiner Regie möglich, was vorher undenkbar war, zum Beispiel auch, dass Heisig Helmut Schmidts Bitte, ihn zu malen, annehmen durfte. Aus Sicht der DDR-Betonköpfe war das immerhin der Auftrag des reaktionären Feindes.

Sitte stammte aus einer einfachen Bauernfamilie. Im böhmischen Kratzau, heute Chrastava, wurde er 1921 geboren. Mehrfach hat er seine Eltern gemalt, immer in verschiedenen Lebensabschnitten. Es sind sehr warmherzige Darstellungen, die die Armut seiner Herkunft nicht verschweigen, aber auch die menschliche Zuneigung zeigen. Sie gehören zu den großen Zeugnissen der Porträtkunst.

Orientierung an Expressionismus und Kubismus

Am Ende des Krieges wurde er an die Front nach Italien verlegt, wo Sitte desertierte und sich den Partisanen anschloss. Noch heute genießt er deshalb südlich der Alpen höchstes Ansehen. Diesem Land seiner Zuneigung ist er Zeit seines Lebens verbunden geblieben. Der ursprünglichen Absicht, dort zu bleiben, folgte er jedoch nicht, sondern ließ sich in Halle nieder. Dort holte er in den fünfziger Jahren vieles in seiner Ausbildung als Maler nach, was vorher nicht möglich gewesen war.

Sitte orientierte sich den Großen des letzten Jahrhunderts, an Picasso vor allem, dessen kubistische Formgebung ihn stark beeindruckte, aber auch an Léger und Corinth. Mit der Zeit fand er seinen Stil, und wer dabei genau hinschaute, der entdeckte weniger sog. „Sozialistischen Realismus“, was immer das gewesen sein mag, sondern Bezüge zum Expressionismus.

„Ich bin ein dramatischer Typ“

Sitte  malte und zeichnete gerne kraftvolle Körper, meistens nackt, weil Kleidung mit Zeit identifiziert wird, und Sitte das Typische und Grundsätzliche im menschlichen Leben darstellen wollte. Er löste den Strich auf, setzte differenziert Farbflecken an seine Stelle und zeigte auf diese Weise genau die Facetten eines Körpers. „Ich bin ein dramatischer Typ“, hat er mal seine prallen Liebesakte erläutert, die manchmal an einen Ringkampf erinnern. Daneben teilte er seine Bilder in Flächen auf, zeigte in einem Teil das Hauptthema, auf nebengeordneten Flächen Teilaspekte, einen Betrachter der Szene etwa, oft  sich selber.

Großartig sind seine Wasserbilder, in denen er das Durchsichtige wie mit leichter Hand sichtbar macht. Dazu gehört etwa der kraftvolle Schwimmer, ein Motiv, das anlässlich der Moskauer Olympiade 1980 eine Briefmarke zierte.

Kein platter Sozialistischer Realismus

Wer seine Bilder sieht, merkt schnell, dass Sitte keinen platten Sozialistischen Realismus malte, wie ihm das oft unterstellt wurde. Die Themen waren politisch, gelegentlich zudringlich, das stimmt, aber in der formalen Umsetzung war er sehr modern. Manchmal so modern, dass er auch noch in der Zeit seiner Präsidentschaft Anstoß in der DDR erregte.

Angesichts seiner großen, auch als Triptychen anlegten Bilder werden oft Sittes Zeichnungen vergessen. Er war ein großartiger Zeichner, sehr genau in der Darstellung und auch dort findet man wieder Bezüge zu den Großen der Malerei. „Hommage an …“ steht unter vielen seiner Zeichnungen. Sie beziehen sich auf Goya, Camille Claudel und andere. Diese Zeichnungen sind noch nicht genügend in der Beurteilung von Sitte gewürdigt worden.

Tiefer Sturz nach der „Wende“

Der Sturz nach der Wende war jedenfalls für tief für ihn. Gestern noch geachteter Staatsmaler, wollten nun selbst enge Freunde nichts mehr von ihm wissen. Freunde, denen er nachweislich geholfen hatte. Sitte war darüber enttäuscht, aber nicht verbittert. Zu optimistisch hat er das Leben gesehen, die Vitalität, die seine Bilder vor und nach der Wende ausstrahlen, bestätigt das.

Die ursprüngliche Absicht, nicht mehr in den neuen Bundesländern, also der alten DDR auszustellen, hat er am Ende aufgegeben. Zu seinem 90. Geburtstag erinnerte sich Halle an seinen großen Künstler und organisierte eine große Ausstellung, bei der den Zeichnungen breiter Raum gegeben wurde. Sitte war da schon so krank, dass er sie nicht mehr hingehen konnte.

Chance auf spannende Dialoge vertan

Gesehen hat er aber noch das eigens für ihn geschaffene Museum in Merseburg, die Willi-Sitte-Galerie am Domplatz, die einen Besuch wert ist. Neben Sitte-Bildern gibt es dort immer auch Wechselausstellungen.

Die bildende Kunst in Deutschland hat nach der Wende eine große Chance vertan. Zu schnell und zu oberflächlich wurden die DDR-Maler niedergemacht, so dass es gelegentlich wie ein Konkurrenzkampf um Marktanteile wirkte. Die deutsche Malerei hatte plötzlich zwei Wurzeln. Die westliche, die sich an der amerikanischen Moderne, vor allem der abstrakten Kunst orientierte. Und die östliche, die an den Expressionismus anknüpfte und das Gegenständliche bevorzugte. Hier hätte es zu einem spannenden Dialog kommen können, denn Vielfalt ist Reichtum.




Hilfe, die Bär(inn)en sind allgegenwärtig!

Wo wir gerade so schön gemütlich bei Invasions-Phantasien sind: Ich wette, Euch ist der folgende Umstand noch nicht aufgefallen. Bären sind nämlich drauf und dran, die Macht in Politik und Gesellschaft zu übernehmen. Nicht im Handstreich, sondern heimlich. Begonnen hat es vielleicht vor langer Zeit mit „Teddy“ Roosevelt in den USA. Heute kann man es schon längst nicht mehr verkennen.

Sie sehen so harmlos aus. Jedoch... (Foto: BB)

Sie sehen so harmlos aus. Jedoch… (Foto: BB)

Ihr wollt Indizien? Kein Problem. Wir haben sie sogar mit magischer Jahreszahl auf Lager.

Wie heißt jetzt die neue Parteichefin der Grünen? Exakt. Annalena Baerbock, die seit 2013 (!) im Bundestag sitzt.

Auch die CSU hat ihre mittlerweile bundesweit bekannte bekannte Bärin, nämlich Dorothee Bär, die 2013 (!) erstmals zur Staatssekretärin (im Verkehrsministerium) wurde, nun im selben Rang dem Landwirtschaftsministerium angehört und in die erste Reihe ihrer Partei aufgerückt ist.

Und wer ist seit 2013 (!) FDP-Generalsekretärin? Richtig: Nicola Beer. Das heißt: eigentlich nicht so ganz richtig. Denn durch ihre Schreibweise schert sie aus der Bärinnen-Phalanx aus. Und wisst ihr was? Das dürfte der eigentliche Grund sein, warum die FDP aus den Jamaika-Sondierungen ausgestiegen ist. Tja!

Christian Lindner musste halt einsehen, dass es besser ist, gar keine Bärin in die Koalition zu holen, als eine falsche Bärin. Mit anderen Worten: Grüne und CSU haben das Bären-Defizit der FDP vergleichsweise überdeutlich werden lassen. Haben sie der Republik einen Bärendienst erwiesen?

Habt ihr übrigens schon einmal über den vielsagenden Anklang der Worte Koalition und Koala sinniert? Nein? Dann wird’s aber höchste Zeit.

Jedenfalls gilt neuerdings: kaum eine Talkshow ohne Bär oder orthographisch artverwandte Wesen. Und was binden sie uns dort auf? Eben. Quasi sich selbst. Bären!

Doch damit nicht genug: Unter welchem Zeichen tritt Putin in Moskau an? Unter dem eines russischen Bären, der mühelos Tiger zureitet. Welches Wappentier hat die deutsche Hauptstadt Berlin? Genau! Und welches Tier steppt auf der dortigen Szene? Ebenfalls der Bär! Wer steht vor den Börsen der Welt und bedeutet böse Baissen? Nun, der Stier ist es nicht, sondern… Im Kölner „Tatort“ tritt derweil seit vielen Jahren der Dortmunder Dietmar Bär auf. Sie sind eben überall. Ebenso wie all die bärtigen Männer.

Schon unsere Kleinen werden indoktriniert und an die angeblich niedlichen, im Grunde aber ziemlich gefährlichen Tiere gewöhnt. Denkt an die Abermillionen Teddybären, denkt an literarische Figuren wie „Pu“, den Bär, an schier endlose TV-Serien wie „Mascha und der Bär“. In jedem zweiten oder dritten Kinderbuch taucht mindestens ein Bär auf. Und immer wollen sie Honig.

Von wegen „Nich‘ am Bär packen!“ Mit solchen Sprüchen lassen wir uns nicht mehr abspeisen. Das Bären-Desaster liegt so offen zutage, dass es sich nicht mehr um eine Verschwörungstheorie handeln kann. Wir reden hier von echten Zusammenhängen, von glasklaren Ursachen und Wirkungen, die tief in die Struktur unserer Wirklichkeit eingesenkt sind.

Und Psssst! Mich würde es nicht wundern, wenn auch das Merkel ein Bär ist.




Kein dürres Gedenkdatum: Was mir der Élysée-Vertrag und die deutsch-französische Freundschaft persönlich bedeuten

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Was sehe ich denn da im Gedenktagekalender? Der deutsch-französische (oder auch französisch-deutsche) Élysée-Vertrag jährt sich heute zum 55. Mal? Für mich ist das kein abstraktes Datum aus ferner Vergangenheit. Es ist mit persönlicher Bedeutung angefüllt. Lasst mich kurz davon erzählen.

Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichneten das historische Vertragswerk am 22. Januar 1963. Damit wurde die fürchterliche „Erbfeindschaft“ zwischen beiden Ländern, die in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts so viele Menschenleben kostete, höchst offiziell und feierlich beendet. Und es blieb gottlob keine bloße Symbolik.

Tatsächlich herrscht seit 1945 und erst recht seit 1963 dauerhafter Frieden zwischen diesen beiden Völkern, etwaige Konflikte klärt man zeitnah bei regelmäßigen Konsultationen. Dabei spielt es bisher keine Rolle, welche Regierung jeweils am Ruder ist. Und die europäische Einigung wäre ohne Frankreich und Deutschland nicht so immens vorangeschritten – mancherlei Mängel inbegriffen, von denen wir aber jetzt einmal absehen wollen.

Dortmund verkündete schon 1960 Partnerschaft mit Amiens

Im Gefolge des Vertrages gab es nicht nur zahlreiche Jugendbegegnungen zwischen beiden Ländern, es entstanden auch etliche Städtepartnerschaften. Dortmund war ganz früh mit von der Partie, schon vor dem Élysée-Vertrag. Man knüpfte Verbindungen zu Amiens und proklamierte die Partnerschaft bereits 1960. Just aus Amiens kamen die Kinder, mit denen fortan viele Dortmunder Kinder- und Jugendgruppen einige Wochen der Sommerferien verbrachten. Ich durfte mehrmals dabei sein. Schon kurz nach der Anfangsphase. Welch ein Glück des Beginnens.

Urlaub mit meinen Eltern habe ich so gut wie gar nicht erlebt, höchstens mal ein paar Tage an der holländischen Küste oder in der Eifel. An Fliegen oder gar Fernreisen war noch nicht zu denken, ein eigenes Auto hatten wir damals auch nicht. Statt dessen ging’s – erstmals mit elf Jahren – mit dem Bus auf deutsch-französische Gruppenreisen, zunächst dreimal nach Mollseifen im Sauerland, später nach Rieseberg/Königslutter (Niedersachsen), einmal auch nach Sanary in Süfrankreich und nach Marina di Massa in Italien.

Wie Pfadfinder am Lagerfeuer - die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Nach Pfadfinder-Art am Lagerfeuer: die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Herrliches Gemeinschaftserlebnis

Sauerland klingt für heutige Begriffe vielleicht langweilig, war aber als Gemeinschaftserlebnis wunderbar und teilweise abenteuerlich nach Pfadfinder-Art. Allein die Schnitzeljagden, Budenbauten und Indianerspiele in den Wäldern… Ich will nicht behaupten, dass man davon bis heute zehrt. Aber unvergesslich sind so manche Augenblicke doch. Und es will mir scheinen, als sei dies noch wirkliche Kindheit gewesen.

Leider hatten wir anfangs in der Schule noch keinen Französisch-Unterricht, so dass die Kommunikation überwiegend nonverbal erfolgen musste. Doch wie gut das unter uns Kindern ging! Für Zweifelsfälle waren da ja auch noch ein sprachkundiger „Moniteur“ bzw. eine „Monitrice“ (GruppenleiterIn). Wenn wir zusammen durch die Wälder streiften, hitzige Wettspiele austrugen, miteinander malten oder einander Lieder aus dem jeweiligen Land vorsangen, spielte Sprache eh nur eine Nebenrolle.

Die Jungs aus Frankreich waren galanter

Mit der Zeit bemerkten wir auch Unterschiede, die teilweise den Klischees entsprachen: Gleichaltrige französische Jungs waren einfach „früher dran“ und entschieden frecher, was den galanten Umgang mit Mädchen anbelangte; die französischen Mädchen wiederum hatten – wie soll man sagen – vielfach mehr Geheimnis und schon früh etwas Apartes, Anmutiges. Oder war’s eher das lockende Unbekannte, das einen verwirrte? Allein, dass sie mit so wohlklingenden Lauten sprachen, deren Wortsinn sich einem nicht erschloss. Jedenfalls glaube ich, dass aus der Zeit meine – und nicht nur meine – spätere Vorliebe für französische Filme (Truffaut, Rohmer, Rivette etc.) herrührte. Ja, in jenen Ferienzeiten erfuhren wir vielleicht einen Hauch von Nouvelle Vague…

Ich erinnere mich an jenen Tag, als abends „Teppichtanz“ gespielt wurde, in dessen Verlauf man sich unschuldige Küsschen geben durfte. Doch schon das brachte uns ca. Dreizehnjährige einigermaßen in (bestenfalls halbwegs begriffene) Wallung. Sagte nicht eine Monitrice nach Ende des Spiels zu ihrem Kollegen, das habe uns wohl zu sehr aufgeregt? Was sie wohl gemeint hat? Wenn Adenauer und de Gaulle geahnt hätten, was sie uns da beschert haben… Adenauer hätte vielleicht mit rheinischem Zungenschlag einen seiner Lieblingssätze gesagt: „Meine Herren, die Situation ist da…“

„Hitler – c’est fini…“

Und der Krieg? War anfangs noch keine 20 Jahre her, spielte aber unter uns Kindern praktisch keine Rolle mehr. Alles schmeckte so herrlich nach Neuanfang. Einmal sagte ein kleiner Franzose mit plötzlichem Ernst zu uns: „Hitler (sprich: „Itlère“) – c’est passé, c’est fini!“ Hatten sie ihm zu Hause wohlmeinend aufgetragen, das zu sagen? Egal. Jedenfalls haben wir ihn verstanden und waren wirklich erleichtert.

Diese bedeutsamen kleinen Momente. So unscheinbar, doch noch nach Jahrzehnten präsent.




Ein paar unmaßgebliche Stichworte zur GroKo-Entscheidung

Aus meinem Notizblock und Zettelkasten: nur ein paar unmaßgebliche Stichworte zur GroKo-Vorentscheidung der SPD.

Welch eine Woche! Erst "Friederike" (siehe Bild) - und nun der GroKo-Vorentscheid... (Foto: Bernd Berke)

Welch eine Woche! Erst der heftige Januar-Sturm „Friederike“ (siehe Bild) – und nun der GroKo-Vorentscheid… (Foto: Bernd Berke)

  • Zunächst 100 Wortmeldungen à 3 Minuten beim Sonderparteitag, dann tatsächlich rund 50 kontroverse Redebeiträge – ist das nicht ein gutes Zeichen für innerparteiliche Demokratie? Selbst FDP-Chef Lindner, der uns das ganze Gezerre eingebrockt hat, zollte Respekt wegen der offenen Debatte. Man nimmt es amüsiert zur Kenntnis.
  • Das 56,4-Prozent-Ergebnis pro GroKo kommentiert ein Freund auf Facebook so: „Selbstmord aus Angst vor dem Tod“.
  • Mir selbst kam in den Sinn: „Wer hat sich verraten? Sozialdemokraten.“
  • Sonntags in Bonn: Ortssymbolik des ehemaligen Regierungssitzes, die „gute alte Zeit“ der BRD, als man z. B. noch aus voller Brust „Willy wählen“ sagen konnte; als Herbert Wehner und Helmut Schmidt noch leibten und lebten. Obwohl dieses Trio auch nur sehr bedingt miteinander konnte.
  • Ziemlich wenig Beifall für Martin Schulz‘ Rede, sein Anteil am Pro-Entscheid dürfte gering zu veranschlagen sein, wenn er nicht gar seinem „Anliegen“ (welches wäre das genau?) geschadet hat. Womöglich haben auf die letzte Minute Stellungnahmen der Altvorderen (Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler) den Ausschlag pro GroKo gegeben. Es wird wohl bald ohne Schulz gehen müssen.
  • Man könnte ganze Leitartikel darüber schreiben, ob die Zwergenmützen auch für eine Tendenz zur Selbstverzwergung der SPD stehen könnten. Man kann’s aber auch lassen. Jedenfalls ein hübsch-hässliches Detail für die bildgierigen Fernsehleute.
  • Folgen jetzt noch zähe Nachverhandlungen, bei denen niemand sein Gesicht (falls vorhanden) verlieren will? Oder geht alles ganz schnell in Richtung „Weiter so“?
  • „Bätschi“-Nahles hat mal wieder volle Kanne geredet: Man werde „nachverhandeln, bis es quietscht…“ Mit Verlaub: Die Frau hat eine unangenehm wuchtige Aufdringlichkeit.
  • Frohlockt jetzt das nicht-populistische Europa? Kriegen wir ein kleines Lob vom großen Macron?
  • Käme es wirklich zur GroKo, wäre die AfD – wenn auch knapp – zahlenmäßig stärkste Oppositionspartei. Die freuen sich schon auf ihre ungeahnten Profilierungs-Chancen.
  • Wenn man bedenkt, wie Schulz nach den Bundestagswahlen jede SPD-Beteiligung an einer Regierung ausgeschlossen hat – darf man seine SPD nun „Umfaller-Partei“ nennen? Den Titel hatte früher einmal die FDP exklusiv für sich.
  • Juso-Chef Kevin Kühnert ist quasi über Nacht zu einem der prominentesten Sozis geworden. Wird er bald am Kanzleramtstor rütteln und rufen „Ich will hier ‚rein?“ Aber wie denn, wenn die Partei nur noch 17 Prozent der Wählerstimmen bekommt? Falls es gut läuft.
  • Die GroKo-Befürworter sollten sich nicht zu früh freuen. Das alles war ja heute nur eine Vorentscheidung, nach den Sondierungen nun auch in Koalitionsverhandlungen einzutreten. Etwa 440.000 SPD-Mitglieder (schaut mal nach, wie viele es früher mal waren) werden am Schluss über das Resultat dieser Koalitionsverhandlungen abstimmen. Das wird kein leichter Gang.
  • Erste Idee für einen Schlager im Stil der 1920er Jahre: „Gab’s im Rokoko / denn eine NoGroKo?“

 




Wie sich die chinesische Lyrik nach und nach von Fesseln befreite und endlich den Alltag entdeckte

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über chinesische Gegenwartslyrik und eine Begegnung mit einigen ihrer Urheber:

Wenn in Chinas Schulen Lyrik besprochen wird, sind es meist traditionelle Gedichte aus der Tang- (618-907 n. Chr.) und der Song-Dynastie (960-1279 n. Chr.). Dabei hätte die chinesische Gegenwartslyrik durchaus Beachtung verdient, hat sie doch in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen.

Der stilbildende Lyriker Ai Qing im Jahr 1929. (Foto: unbekannt / gemeinfrei - Link mit Lizenzangaben:)

Der stilbildende Lyriker Ai Qing im Jahr 1929. (Foto: unbekannt / gemeinfrei / Wikimedia Commons – Link mit Lizenzangaben: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ai_Qing_1929.jpg)

So viel Lyrikbände und Anthologien wie selten zuvor sind im vergangenen Jahrzehnt veröffentlicht worden. Wer hier allerdings spektakuläre Zahlen angesichts eines 1,35-Milliarden-Volkes erwartet, sieht sich schnell enttäuscht.

Etwa 80 Prozent der Chinesen sind Bauern, die meisten wohnen weit weg von den boomenden Städten. Vom Wirtschaftsaufschwung, der spürbaren Öffnung und dem Bildungshunger bekommen allenfalls einige ihrer Kinder etwas mit. 1000 Lyrikanthologien mit jeweils ein paar tausend verkauften Exemplaren, das sind auch für China respektable Zahlen. Übrigens nicht nur für Lyrikbände.

Annäherung an die Umgangssprache

Das gewachsene Interesse an der Gegenwartslyrik rührt zum Teil daher, dass sie den Lesern weit entgegenkommt, hat sie sich doch von traditionellen Formen und Inhalten gelöst und den Alltag entdeckt, so dass sich die Leser in ihnen wiederfinden.

Chinas Lyrik der letzten Jahrzehnte kann man grob in drei Etappen einteilen. Bis zur „Neue-Literatur-Bewegung“, die sich im Mai 1919 formierte, war die chinesische Lyrik formal und inhaltlich streng festgeschrieben. Beispiel ist hier die chinesische Reimform „Ch`e“ (auch „Tz´i“). Sie besteht aus zwei vierversigen Strophen mit vorgeschriebenem Reimschema, je Vers sieben Silben (ersatzweise auch Wörter), mit Bruch jeweils nach der vierten Silbe. Geschrieben in hohem Tonfall und festgelegter Metaphorik (etwa der gelbe Fluss als Bild für die Mutter).

Danach begannen sich die chinesischen Lyriker der Umgangssprache zu nähern und suchten nach neuen Metaphern, die dem Alltag der Menschen entnommen und folglich zeitaktuell waren. Unter den ausländischen Autoren waren Whitman oder Tagore Vorbilder.

Die Mauer und der Flug der Vögel

Ein weiteres Fortschreiten in diese Richtung erfolgte dann in den 50er Jahren in der Phase der „patriotisch-politischen Lyrik“, wie manche Chinesen diese Richtung nennen. Dichterkreise wie „Juli“ oder „Neun Blätter“ spielten eine wichtige Rolle. Der Sprachrhythmus wurde noch fließender, so dass Emotionen stärker zum Ausdruck gebracht werden konnten.

Dichter wie Ai Qing, Zang Ke-Jia, He Qi-Fang oder Tian Jian traten nun hervor. Insbesondere Ai Qing (Jahrgang 1910) hat der Gegenwartslyrik viele ästhetische Impulse gegeben, er zählt zu den wichtigsten chinesischen Lyrikern. Bei einem Besuch in Deutschland 1979 schrieb er u.a. ein Gedicht über das Geburtshaus von Karl Marx und eines über die Mauer in Berlin, die Ai Qing in bewegenden Bildern kritisierte:

…wie könnte sie
die Flüge der Vögel und den Gesang der Nachtigall verhindern?

Wie könnte sie
das fließende Wasser und die Luft aufhalten?

Wie könnte sie
die Gedanken von Hunderttausenden
freier als der Wind
ihren Willen fester als das Land
ihre Wünsche dauerhafter als die Zeit verhindern?

Als „rechte Elemente“ verfolgt

Schon diese Dichter hatten mit Verfolgung zu kämpfen. Gong Liu (Jg. 1927) zum Beispiel, der ein wunderschönes Vater-Gedicht schrieb, seinen Vater und alle Väter meinend, ein Gedicht,  in dem er den unermüdlichen Fleiß der Väter beschreibt, die doch in der langen Geschichte Chinas stets um den Lohn ihrer Arbeit gebracht wurden, Gong Liu also wurde in den 50er Jahren als „rechtes Element“ verurteilt, in den 80er Jahren aber rehabilitiert und begann dann wieder zu schreiben.

Ähnlich erging es Liu Shahe (Jg. 1931) und Shao Yanxiang (Jg. 1933), die in ihren Anfangsjahren mutig einen subjektiv-ehrlichen Ton gegen die vorherrschende Lob- und Preislyrik der fünfziger und sechziger Jahre setzten, die dafür verfolgt wurden und erst nach ihrer Rehabilitierung (stets Anfang der achtziger Jahre) ihre literarische Arbeit wieder aufnehmen konnten. Sie zeigten Mut und Konsequenz, die Respekt abnötigen.

Monlonliteratur setzt auf Subjektivität

Insgesamt kann man den Trend der chinesischen Lyrik als Entwicklung zu immer mehr Subjektivität im Inhalt, zu immer stärkerer Anknüpfung an die Umgangssprache im Formalen bewerten. Die letzte der drei Etappen wird Monlonliteratur genannt. Monlon bedeutet „verschwommen“.  Es wird also bewusst auf das Vage, Nicht-Eindeutige, auf das Andeutende gesetzt, auf starke Subjektivität also. Sie ist ganz sicher eine Reaktion auf die zerstörerische Kulturrevolution, auf den politischen Druck und hatte ihren Ursprung in der  sogenannten „Schubladenliteratur“, die während der Kulturrevolution geschrieben, aber erst nach deren Ende und vor allem nach Maos Tod 1976 veröffentlicht werden durfte.

Der Lyriker Bei Dao im Jahr 2010 auf dem Freiheitsplatz in Tallinn/Estland. (Foto: Avjoska / Link zur Lizenz:

Auch bei uns bekannt: der Lyriker Bei Dao im Jahr 2010 – auf dem Freiheitsplatz in Tallinn/Estland. (Foto: Avjoska / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/)

Mühsam mussten sich Chinas Schriftsteller danach den Anschluss an die Moderne erarbeiteten. Ganz, so urteilte der Bonner Sinologe Alfred Kubin in einem Vortrag vor einigen Jahren in Shanghai, sei ihr das bis heute nicht gelungen. Die chinesische Literatur sei immer noch sinozentristisch, urteilte er.

Chinas Schriftsteller, unter anderem der stellvertretende Vorsitzende des Schriftstellerverbands Chen Zhong Shi, dessen berühmten Roman „Bai Lu Yuan“, in dem er am Beispiel eines Dorfes Chinas jüngste Geschichte erzählt, jeder Chinese kennt, zeigten Betroffenheit. Kubin hatte etwas angesprochen, das auch Chen Zhong Shi sehr zu denken gab. Es ist eine Lücke, die teilweise den Autoren, zum großen Teil aber den politischen Umständen anzulasten ist.

Bei Dao (Jg. 1949), Gu Cheng (Jg. 1956), Shu Ting (Jg. 1952) und Jiang He (d.i. Yu Youze, Jg. 1949) sind wichtige Namen dieser Richtung. Diese Lyrik hat im heutigen China, das sich vergleichsweise weit geöffnet hat, auch offizielle Anerkennung gefunden. Gu Cheng und Shu Ting beispielsweise bekamen für ihre Lyrikbände Preise des Schriftstellerverbands.

Von allen ist in Deutschland vermutlich Bei Dao der bekannsteste. Von ihm daher der Auszug aus einem Gedicht:

Der Akkord

Der Wald und ich
umkreisen eng den kleinen See
Die Hand ins Wasser getaucht
stört der Möwe tief sinnende Augen
Der Wald einsam und allein
Das Meer weit entfernt

Ich gehe auf die Straße
Der Lärm wird zurückgehalten hinter dem Rot
Der Schatten breitet sich
fächerartig aus
Die Fußstapfen schief und schräg
Die Verkehrsinsel einsam und allein
Das Meer weit entfernt…

Chinesisch-deutsches Treffen in Xi’an

Zwischen bundesdeutschen Schriftstellern und jüngeren Vertretern der Monlonliteratur gab es 1993 in Xi´an eine hochinteressante Begegnung. Über den Hintereingang kamen die chinesischen Schriftsteller ins Hotel, es war ein kalter Wintertag, sie trugen zwei Hosen übereinander, wie es manche Chinesen damals im Winter machten, weil sie zu Hause nicht genügend heizen konnten.

Shen Qi, Lyriker und Hochschullehrer, Yi Sha, ein damals etwas dicklicher junger Mann, Chefredakteur einer Hochschulzeitung und als avantgardistischer Schriftsteller in der Provinz Shaanxi durchaus bekannt, dazu der junge Lyriker Jiang Tao suchten das Gespräch mit den deutschen Kollegen.

Ein Covergirl als Tarnung

Während Tee getrunken wurde, erzählten die chinesischen Lyriker, dass sie die Untergrundzeitung “Genesis“ herausgaben, die von Auslandschinesen finanziert wurde, aber nicht offiziell zu kaufen war, sondern an Abonnenten per Post verschickt wurde. Um ihre Zeitschrift weiter zu tarnen, setzten sie ein Covergirl auf das Umschlagbild, so dass man nicht gleich merken konnte, dass es sich um eine Zeitschrift mit zeitkritischen Monlon-Gedichten handelte.

Sie betonten all die oben beschriebenen Elemente, die die neue chinesische Lyrik auszeichneten, wie die Abkehr von formaler Strenge und die Annäherung an die Alltagssprache. Damals waren sie gerade dabei, die europäische Literatur des Absurden wie etwa Beckett für sich zu entdecken, und die bundesdeutschen Autoren spürten, wie weit sie von den herrschenden Strömungen entfernt waren.

Harndrang über dem Gelben Fluss

Die chinesischen Autoren selbst spürten das auch, baten um Verständnis und erzählten, dass sie, um die Lücken schneller aufarbeiten zu können, in Gruppen zusammenarbeiteten. Dort könnten sie durch Austausch schneller lernen. Gerne würden sie sich auch zu gemeinsamen Spaziergängen verabreden, weil sie dabei am ungestörtesten (gemeint war wohl auch: am sichersten) miteinander reden konnten. Sie legten weniger Wert darauf, gedruckt zu werden, sondern wollten über Lesungen ihre Literatur verbreiten, um so eine direkte Wirkung zu erzielen.

Zum Schluss las damals Yi Sha zwei seiner Gedichte vor, eines, bei dem er stotterte (eine krasse Anlehnung an die gesprochene Sprache), ein weiteres, in dem der Gelbe Fluss auftauchte, in der alten chinesischen Lyrik das Bild für die Mutter. Bei Yi Sha aber war das anders, denn er schilderte eine Zugfahrt und gerade in jenem Moment, als der Zug die Brücke über den Gelben Fluss befährt, muss das lyrische Ich zur Toilette und pinkeln. Drastischer konnte er sich nicht von der alten Metaphorik und ihrem Pathos absetzen. Inzwischen ist er längst ein bekannter Dichter in China. Unter seinem richtigen Namen Wu Wenjian arbeitet er als Professor an der Fremdsprachenuniversität Xisu in Xi´an.




Ex-Feuilletonchef der „Zeit“: Ulrich Greiner bekennt sich jetzt entschieden zum Konservatismus

Kulturbeflissene kennen Ulrich Greiner noch als Feuilletonchef der gediegenen Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Damals war der Mann eher linksliberal geprägt – wie wohl die überwiegende Mehrzahl der bundesdeutschen Kulturjournalisten. Nun aber legt er ein Buch mit dem unterschwellig pathetischen Titel „Heimatlos“ vor, in dem er sich entschieden zum Konservatismus bekennt, dem er sich nach und nach genähert habe.

Ulrich Greiner (Jahrgang 1945) konstatiert, was ihm offenbar selbst und zunächst beinahe unmerklich widerfahren ist, als Zeichen einer allgemeinen gesellschaftlichen Bewegung: Die seit Jahrzehnten gültige kulturelle Hegemonie der Linken sei im Schwinden begriffen, ihre Ideologie sei auf breiter Front gescheitert.

Namensliste, die Linke auf die Palme bringt

Als seine geistigen Bezugspunkte nennt er eine Reihe von Dichtern und Denkern, die gestandenen Linken die Haare zu Berge stehen lassen dürfte: Rüdiger Safranski, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach, Peter Sloterdijk und Botho Strauß, dessen Abkehr von einer „Totalherrschaft der Gegenwart“ beispielhaft sei.

Greiner redet enttäuscht von Fehlern in der Flüchtlingspolitik, von drohender und akuter Islamisierung, vom seiner Meinung nach unguten „Anpassungsmoralismus“ der tonangebenden Medien. Auch das Diktum von der „Lügenpresse“ sei nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Die Globalisierung ähnele eher einem Kampfplatz als einem Versprechen auf erstrebenswerte Zukunft.

Abendland, Christentum, traditionelle Familie

Auch nimmt Greiner insbesondere die katholische Kirche, sofern sie denn nicht liturgisch herabgedimmt und gar zu verweltlicht ist, ebenso gegen gehässige Angriffe in Schutz wie die traditionelle Familie.

Christentum und Abendland sind hier nicht – wie so oft üblich – Zielscheiben für verächtliche Attacken, sondern Anstöße zur erstrebenswerten „Tiefenerinnerung“. Greiner sucht denn auch das Deutsche, das „Eigene“, vom Fremdem abzuheben, insbesondere vom mitunter schwer integrierbaren Islam, dessen radikalisierten Positionen man nicht so bereitwillig nachgeben solle. Da schwingt der vielfach zerfetzte Begriff von der „Leitkultur“ mit.

Kritik am allfälligen Gleichheitsanspruch

Muss man noch eigens betonen, dass der Autor in der „Ehe für alle“ einen Verlust der natürlichen Genealogie sieht und überhaupt die Selbstermächtigung des Menschen durch Reproduktions-Medizin beklagt? Allüberall sieht er egoistische Selbstverwirklichung im Namen eines prinzipiell unerfüllbaren Gleichheitsanspruchs am Werk. Die Gesellschaft verliere sich in lauter Partikularinteressen. Hier fällt denn auch der uralt-konservative Begriff vom bedauerlichen „Verlust der Mitte“. Als Konservativer, so Greiner, fühle er sich jedenfalls in diesem Lande oft ziemlich heimatlos.

Bloß nicht in AfD-Nähe geraten

So sehr scheint sich Greiner zwischenzeitlich sogar in die Nähe von AfD-Positionen zu schreiben, dass er immer mal wieder (glaubhaft) betonen zu müssen glaubt, wie sehr er das Gebaren jener Partei verabscheue. Nicht ganz so vierschrötig-stiernackige Kreise der CSU könnten freilich den feinsinnigen Feuilletonisten durchaus zu perspektivischen und wahrscheinlich größtenteils einvernehmlichen Hintergrund-Gesprächen einladen.

Wäre Greiner nicht Kulturchef der liberalen „Zeit“ gewesen, hätte sein allmählicher Positionswechsel wohl nicht so sehr interessiert. So aber kündet sein Kompendium eines (Neu)-Konservativen womöglich von einem bedeutsamen Paradigmenwechsel, der weitere Felder der Gesellschaft betrifft. Auch Leute, die ganz anders über die Zeitläufte denken, sollten sich damit ernsthaft auseinandersetzen.

Ulrich Greiner: „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“. Rowohlt Verlag, 160 Seiten, 19,95 Euro.

 




Jagdszenen in Deutschland? Zum Abend der Bundestagswahl

Schon kurz nach 18 Uhr, die erste Prognose war gerade öffentlich geworden, fiel bereits ein erschreckender, entscheidender Satz dieses Wahlabends. Wie immer die neue Bundesregierung sich zusammensetzen werde, verkündete AfD-Spitzenkandidat Gauland, man werde sie „jagen“. Und nochmals: „jagen“. Man werde sich, so Gauland weiter, „unser Land und unser Volk zurückholen“.

Prost Mahlzeit! Nicht nur ziehen erstmals Rechtsaußen dieser Sorte in Fraktionsstärke in den Bundestags ein, sondern es dröhnt auch ein neuer Ton. Die Rede von der Jagd auf die künftige Regierung kündet von einer Aggression, die Andersdenkenden offensichtlich an den Kragen will. Jagdszenen in Berlin und anderswo?

Es steht also zu befürchten, dass wir in der nächsten Legislaturperiode Parlamentsdebatten von bislang ungeahnter Schärfe und Infamie erleben werden. Es ist eine Zäsur. Und es ist eine gefährliche Zäsur. Da darf man sich nichts vormachen. Wachsam sein. Dagegen halten, wo es nötig ist. Na klar. Und was noch? Bloß nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren… Übrigens: Die Erfahrung, dass es im Gefolge einer Großen Koalition zur Radikalisierung kommt, ist ja nicht ganz neu.

Mit über 13 Prozent der Wählerstimmen ziehen die „Rechtspopulisten“ in den Reichstag ein – mit deutlich mehr als 80 Abgeordneten, die vermutlich alle parlamentarischen Vergünstigungen ausnutzen und zugleich aushöhlen werden.

Zur rechten Kohorte werden sicherlich einige höchst zweifelhafte Gestalten gehören. Zwischenzeitlich war von Protagonisten der Partei schon die kaum verhohlene Drohung zu vernehmen, man werde im Parlament „ausmisten“. Es verdiente historisch näher untersucht zu werden, woher solche Wendungen wohl kommen.

Was das jetzt alles mit „Kultur“ zu tun hat? Nun ja, erst einmal nur indirekt, den gesellschaftlichen Umgang betreffend. Doch wir werden außerdem hören, wie sich die AfD auch zu kulturpolitischen Fragen positioniert; sicherlich auch gemäß ihrer Ideologie, dass alles Deutsche Vorrang haben müsse. Da gruselt’s einen schon jetzt.

Union und SPD haben heftig verloren, die SPD zieht die wahrscheinlich richtige Konsequenz, den Weg in die Opposition zu gehen. Diskussionswürdiger schon die Entscheidung, den deutlich an seinen Ansprüchen gescheiterten 20-Prozent-Kandidaten Martin Schulz im Amt als Parteichef zu belassen. Kann er’s denn noch richten?

Immerhin: Ganz anders als jüngst noch beim „TV-Duell“ mit Merkel, klang Schulz mal wieder oppositionell, wenn auch noch ziemlich kraus. Es ist, als sei in dieser Hinsicht eine Last von ihm abgefallen. Jedenfalls gibt er Merkel und ihrer „Politik-Verweigerung“ die Schuld fürs Erstarken der AfD.

„Jamaika“, also eine schwarz-gelb-grüne Koalition, dürfte es werden, wobei die beiden kleineren Parten (FDP / Grüne) sich erst einmal zusammenraufen müssen. In den nächsten Tagen werden sie gewiss versuchen, den Preis für ihre Teilnehme hochzuschrauben. Das gehört zum politischen Geschäft. Und wenn die Posten locken, wird’s schon klappen.

Wie unbedarft waren jene CDU-Anhänger, die zum besinnungslosen Wahljubel (übers zweitschlechteste Ergebnis aller Zeiten) schwarzrotgoldene Schildchen mit dem Sprüchlein „Voll muttiviert“ schwenkten. Es wollte so gar nicht zum Kerngeschehen dieses Wahltags passen.

„Ein tiefer Schnitt ins Fleisch der CDU“, „tektonische Verschiebungen“ und „politisches Erdbeben“ waren die häufigsten medialen Formeln des Wahlabends. Im Fernsehen, das wurde auch diesmal wieder deutlich, kann man sich über derlei Ereignisse nur ad hoc und en passant informieren. Die Vertiefung muss auf anderem Wege erfolgen.

Vom Internet wollen wir einstweilen schweigen. Wir wissen nicht, wie sich die „sozialen Netzwerke“ auf diese Wahl ausgewirkt haben. Es kann nicht nur wohltuend gewesen sein.




Beide waren heute nicht in der Kirche, hatten aber ihre spirituellen Momente – das „TV-Duell“ Merkel vs. Schulz

Längere Zeit habe ich mit mir gerungen, dann habe ich es doch getan: Ja, ich bekenne, ich habe das so genannte „TV-Duell“ zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz gesehen. Zur Gänze. Zum Schluss war ich doch ziemlich erschöpft. Obwohl es jetzt intellektuell nicht gar zu anstrengend gewesen ist.

Artikes Shake-Hands zwischen Angela Merkel und Martin Schulz zum TV-Duell in Berlin-Adlershof. (Foto © WDR/Herby Sachs)

Artiges Shake-Hands zwischen Angela Merkel und Martin Schulz zum TV-Duell in Berlin-Adlershof. (Foto © WDR/Herby Sachs)

In den meisten Fragen waren die beiden Probanden ähnlicher oder gar der gleichen Auffassung. Schulz hatte gelegentlich seine liebe Mühe und Not im steten Bemühen, Unterschiede zwischen den Positionen herauszukitzeln.

Locker den Amtsbonus ausgespielt

Merkel hatte das gar nicht nötig, sie konnte die (zumeist ziemlich zahnlosen) Attacken des Widersachers getrost abwarten und gelassen kontern. Hie und da spielte sie, ganz nonchalant und wie nebenbei aus dem Handgelenk, ihren Amtsbonus aus, wenn sie etwa ankündigte, in den nächsten Tagen mal eben mit den USA, Japan und China zu reden…

Ungemein lange hielt man sich anfangs mit der Flüchtlings- und Integrationspolitik auf. Etwa die Hälfte der Sendezeit (insgesamt nur um 120 Sekunden überzogen: 97 statt 95 Minuten, jede halbgare Show darf mehr über die Stränge schlagen) ging dafür ins Land. Auch hierbei unterschieden sich die Kandidaten allenfalls in Nuancen.

Klare Kante gegen Erdogan

Lediglich in der Haltung zur Türkei des „Autokraten“ (man könnte gewiss auch noch kantigere Worte finden) Erdogan gab sich Schulz eine Spur kämpferischer. Als Kanzler, so betonte er mehrfach, wolle er dafür sorgen, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara sofort abgebrochen werden.

Apropos Kanzlerschaft: Schulz‘ in den Vormonaten zwischenzeitlich zur Schau getragene Selbstgewissheit (nach dem Motto: „Ich als Kanzler werde…“) scheint übrigens dahin zu sein. Mehrfach hieß es jetzt aus seinem Munde, f a l l s er das Mandat der wahlberechtigten Bürger erhalte, werde er… Das klingt doch schon weitaus bescheidener.

Was erlauben Strunz?

Die Fragesteller der vier übertragenden TV-Anstalten (warum musste es eigentlich gleich ein Quartett sein?) ARD, ZDF, RTL und SAT1 agierten – wie üblich – im Modus der bedeutsam geschwollenen medialen Wichtigtuer.

Die Damen Maybrit Illner (ZDF) und Sandra Maischberger (ARD), die für die öffentlich-rechtlichen Anstalten antraten, waren noch einigermaßen erträglich – im Vergleich zu den zwei Privatsender-Gockeln Peter Kloeppel (RTL) und vor allem Claus Strunz (SAT1), der schon mal gern quasi-populistische Töne anschlägt. Am liebsten hätte er es wohl gehabt, wenn Merkel und Schulz ihm auf den Leim gegangen wären und noch entschiedener versucht hätten, die eine oder andere AfD-Stimme abzufischen. Um mal eine berühmte Fußballfloskel zu zitieren: Was erlauben Strunz?

Soziale Wohltaten angekündigt

Sowohl Merkel als auch Schulz gerieten hie und da ins Stocken oder Stammeln. Wir wollen das mal als menschlichen Faktor verbuchen und nicht gleich als politische Unsicherheit. Und überhaupt: In diesen Zeiten möchte man nicht unbedingt mit ihnen tauschen…

Nach den vergleichsweise geradezu epischen Auslassungen zur „Flüchtlingsfrage“ und zur Türkei ging es hernach zunehmend hopplahopp. Die katastrophale Gemengelage zwischen Kim und Trump wurde ebenso hastig abgehakt wie die Themenkomplexe „Soziale Gerechtigkeit“, Maut und Diesel sowie Steuern. Natürlich gelobten beide, die Bürger spürbar zu entlasten, Schulz legte sich – inklusive Wegfall der Kita-Beiträge – auf rund 200 bis 250 Euro für eine vierköpfige Familie mit 3500 Euro Monatseinkommen fest, Merkel warf Gesamt-Wohltaten von rund 15 Milliarden Euro in die Manege.

Hektische Runde zum Schluss

Da man sich ein wenig verplaudert hatte (und halt kein weiteres „Duell“ ansteht), sah man sich schließlich zur irrwitzigen Hektik einer Ja-Nein-Fragerunde genötigt. Ehe für alle, Fußball-WM-in Katar, Gerhard Schröders Russland-Jobs, Wahlrecht für 16-Jährige, Terrorabwehr und Polizei-Ausstattung wurden nur noch atemlos durchgehechelt.

Vorher haben wir übrigens noch staunend erfahren, dass weder Merkel noch Schulz heute in der Kirche die Messe begangen haben. Beide beeilten sich allerdings zu sagen, dass sie dennoch spirituelle Momente an Gräbern und in Kapellen gehabt haben.

Nahezu grotesk das allerletzte Statement von Martin Schulz. Zu einer kurzen Schlussaussage aufgefordert, fragte er: „Wieviel Zeit habe ich?“ Nach der Information „60 Sekunden“ (die ihm gewiss vorab bekannt war) kamen ihm sogleich „spontan“ über die Lippen: die  so unterschiedlichen Verdienste einer Krankenschwester und eines Managers in just 60 Sekunden. Auch diese wohlfeile Schläue wird ihm nicht entscheidend genutzt haben.

Ich lege mich – ebenfalls wohlfeil – fest: Wenn nichts Weltumstürzendes geschieht, wird, in welcher Parteien-Konstellation auch immer, die nächste Kanzlerin wiederum Angela Merkel heißen. Welcher Hasardeur würde dagegen wetten wollen?




Scaramucci und all die anderen Typen oder: Ich mag mir nicht mehr die Namen von drittklassigen Kaspern merken

Okay, Anthony „Tourette“ Scaramucci ist also nach gerade mal 10 Tagen ebenfalls weg vom Fenster – warum auch immer. Ist ja im Grunde egal. Dann macht den elenden Sch…-Job eben ein Anderer.

Im Zweifelsfall geht's abwärts. (Foto: BB)

Im Zweifelsfall geht’s abwärts. (Foto: BB)

Eigentlich hat Scaramucci mit seinem rüden Tonfall („I’m not trying to suck my own cock“) recht gut zu der desolaten Truppe gepasst. Man erinnere sich nur ans ordinäre „Grab `em by the pussy“ seines Chefs. Da spielt doch jeder US-Fernsehsender alarmierende Pfeiftöne ein…

Dieser Scaramuschi (oh, sorry für den Mausrutscher – wie überaus gewöhnlich!) hätte vielleicht nur noch etwas warten sollen, bis er solche Sachen `raushaut. Er war ja noch in der Probezeit und hat den Boss schon übertrumpfen wollen. Das geht natürlich nicht. Für halbwegs seriöse Aufgaben dürfte der Mann jedenfalls erledigt sein. Überall wird es heißen, das sei doch derjenige, der damals…

Der Perückendarsteller heuert und feuert die Leute eh nach cholerischem Belieben – und allweil soll man sich als Medienkonsument neue Namen drittklassiger Politkasper merken, die einem das Gehirn verstopfen.

Unsereiner versucht seit Schultagen zu allem Überfluss auch noch, buchstabengerecht korrekt zu schreiben, also muss man getreulich den ganzen Mist abspeichern: Reince Priebus, Steve Bannon und ca. zwei Dutzend weitere Typen; hergelaufene Heimatschutzminister und dergleichen Leutchen.

Mit den Sprechern aber geht es am schnellsten auf und ab. Vorgestern noch Sean Spicer, gestern Anthony Scaramucci – und morgen? By the way: Was ist eigentlich aus Kellyanne Conway geworden? Ist die etwa noch im Amt? Von Würden wollen wir in diesem Kontext gar nicht erst reden.

Angeblich steckt sogar System hinter dem Personalchaos: D. T. sortiert demnach alle aus, die zu sehr mit der Republikanischen Partei verbandelt sind – und behält bzw. holt unverwurzelt ruppige Rechtsaußen-Ideologen und Multimillionäre. Auf dass alles vollends „unpolitisch“ entfesselt werde.

Bleibt uns einstweilen nur das berühmte Rilke-Zitat: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“ Und vielleicht noch Hendrix mit der US-Hymne.




Diktatur und Schnäppchen: „Aufregende Zeiten“ in der Türkei

Unerfindliches (Foto: Bernd Berke)

Unerfindliches (Foto: Bernd Berke)

Wusstet ihr schon Folgendes: „Die Türkei geht durch aufregende Zeiten“. Luft holen. Tief durchatmen.

Doch es nützt nichts. Man muss sich einfach aufregen. Da ich gestern zufällig den Wüterich Gernot Hassknecht („Heute-Show“) in Dortmund auf der Bühne gesehen habe, müsste man sich den nächsten Absatz im Brüllton vorstellen:

Da wird ein Land in die Diktatur getrieben, da werden Abertausende entlassen, drangsaliert oder eingesperrt, da droht die Einführung der Todesstrafe – und da findet jemand das alles „aufregend“? Wie verkommen kann man sein?

Jetzt fragt ihr euch vielleicht noch, in welchem Kontext das vorkommt?

Der unfassbare Satz steht heute in der FAZ-Sonntagszeitung (FAS), und zwar gleich im Vorspann eines Berichts über den türkischen Ferienimmobilien-Markt, auf dem nun das eine oder andere „Schnäppchen“ zu machen sei. Da ist man im allzeit investorenfreundlichen, aber längst nicht immer geschmackssicheren „Wohnen“-Teil des Blattes gleich freudig erregt.

Aus offenbar unerfindlichen Gründen ist die Zahl der deutschen und schwedischen Käufer jüngst zurückgegangen. Käufer aus Saudi-Arabien und anderen Ländern des Nahen Ostens springen freilich „in die Bresche“, wie es heißt. Und auch die reichen Russen kehren zurück. Über Menschenrechte machen die sich halt in der Regel nicht so einen Kopf.

Und so plätschert das Marktgeplänkel des FAS-Artikels weiter reichlich verantwortungslos dahin. Es speist sich wohl vornehmlich aus einer gepflegten Plauderei mit einer Geschäftsführerin des Edelmaklers Engel & Völkers im türkischen Bodrum. Der eine oder andere Ratschlag zum Einstieg gehört natürlich dazu.

Wie wohl deutsche Immobilien in den mittleren 1930er Jahren angepriesen worden sind? Manche sollen ja angeblich besonders preisgünstig gewesen sein. Aus unerfindlichen Gründen.

 




Düsseldorf: Surrealistische Freiheitskunst aus Ägypten

Der Titel weckt erhabene Gefühle: „Art et Liberté“, Kunst und Freiheit! Man erwartet das große Ganze, Wunderbare. Doch im K20, dem schwarz glänzenden Tempel der Kunstsammlung NRW, geht es in diesem Sommer nur um ein sehr spezielles Thema: das vergessene Wirken einer Gruppe ägyptischer Surrealisten um 1940. Mit der vom Pariser Centre Pompidou übernommenen und von einem Scheich gesponserten Schau überbrückt man die Wartezeit bis zum Antritt der neuen Direktorin Susanne Gaensheimer.

Ramses Younane: Ohne Titel (1939). Courtesy H. E. Sh. Hassan M. A. Al Thani collection, Doha. (Foto: Haitham Shebab) / © Kunstsammlung NRW)

Ramses Younane: Ohne Titel (1939). Courtesy H. E. Sh. Hassan M. A. Al Thani collection, Doha. (Foto: Haitham Shebab / © Kunstsammlung NRW)

Salim al-Habschi, Hassan el-Telmisani, Ibrahim Massouda: Nie gehört? Die Namen der Künstler, die sich Ende der 1930er-Jahre in Kairo unter der Parole „Art et Liberté“ zusammentaten, sind unbekannt. Zu Recht, muss man nach dem Besuch der Ausstellung leider sagen. Denn was man da sieht, ist hauptsächlich so etwas wie das schwülstige Abbild der Avantgarde-Werke, die im Paris zwischen den Weltkriegen entstanden waren. In der Tat hatten etliche Talente aus dem zu jener Zeit noch britisch dominierten Ägypten in der französischen Hauptstadt studiert oder zumindest nach Inspiration gesucht.

Das haben sie in Paris gelernt

Antoine Malliarakis zum Beispiel, genannt Mayo, Sohn eines griechischen Suez-Kanal-Ingenieurs, hatte in den 1920er-Jahren das prickelnde Künstlerleben am Montparnasse gesucht. Keineswegs zufällig ähneln Mayos kurios komponierte, sandfarbene Körperteile von 1937 den surrealistischen Strandszenen von Picasso.

Auch die Kollegen guckten ab. Ringsum meint man grobe Kopien der Traumlandschaften von Max Ernst, Salvador Dalí oder Yves Tanguy zu sehen. Hier glotzt ein Auge aus Tentakeln, da erscheint eine weiche Uhr in einer Landschaft, Nackte steigen aus dem Sumpf, trickreich veränderte Fotografien nach Art von Man Ray verbreiten mysteriöse Stimmungen.

Mayo: "Portrait" (1937). Europäisches Kulturzentrum von Delphi, Griechenland (VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: © Kunstsammlung NRW)

Mayo: „Portrait“ (1937). Europäisches Kulturzentrum von Delphi, Griechenland. (VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: © Kunstsammlung NRW)

Um die fatalen Ähnlichkeiten zu durchbrechen, proklamierte der auch theoretisch versierte Maler Ramses Younane den „Subjektiven Realismus“ und malte 1939 eine dürre gebogene Figur, die entfernt an altägyptische Hieroglyphen erinnert.

Nun ja. Man hat schon weit größere Kunst im K20 gesehen. Aber die Schau ist historisch-politisch interessant und wurde von den Gastkuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath mit Hilfe von Filmen, Tönen und großen Fotografien lebendig inszeniert.

Hoffnung auf die Zukunft

In Kairo also, der Metropole des Orients, formierte sich im Dezember 1938 ein Widerstand gegen die faschistische Kulturpolitik in Deutschland, Italien und der Sowjetunion. „Vive l’art dégénéré“, es lebe die „Entartete Kunst“, überschrieben 37 vereinte Künstler und Intellektuelle in Anspielung auf den Titel der Münchner Nazi-Propaganda-Ausstellung ein Manifest für „Art et Liberté“.

In der „entarteten“, also von akademischen Zwängen und Schönfärberei befreiten Kunst, sahen die progressiven Ägypter „alle unsere Chancen für die Zukunft“ und riefen auf: „Lasst uns gemeinsam für ihren Sieg über das Mittelalter arbeiten, das im Herzen des Okzidents entsteht.“ Dazu bildeten sie ein heute weltberühmtes, damals neues Anti-Kriegsbild des spanischen Idols Picasso ab: „Guernica“.

Inji Efflatoun: Surrealistische Komposition (1942), Privatsammlung (Foto: © Kunstsammlung NRW)

Inji Efflatoun: Surrealistische Komposition (1942), Privatsammlung. (Foto: © Kunstsammlung NRW)

Ganz nebenbei registriert man, dass auch Frauen – natürlich ohne Schleier – Mitglied der Künstlergruppe waren. Filmisch dokumentierte Stadtszenen zeigen eine westlich geprägte Gesellschaft. Islamistischer Fanatismus war noch kein Thema. Die Welt hatte andere Probleme. Die Kriegsfront zog sich zwar nicht durch Kairo, aber 1941 waren hier 140 000 Soldaten stationiert. Wie alte britische Nachrichtenfilme zeigen, prägten marschierende Truppen und rollende Panzer das Straßenbild.

Gegen die Stimmen der Kanonen

„Die Stimme der Kanonen“, so der erste Katalogtitel der Künstlergruppe, übertönte alles. Und die Künstler kämpften leidenschaftlich auf ihre Art. Inji Efflatoun, Malerin und Feministin, versetzte „Mädchen und Monster“ in den Dschungel ihrer Fantasie, und Georges Henein, Poet und Diplomatensohn, dichtete Pathetisches: „Die Furchen deiner Stirn seien gleich Salven, die Edelsteine, die prachtvolle Orgien verheißen, die diesen großen parallelen Lüsten vorbehalten sind …“. Vielleicht ist die Übersetzung ja auch etwas kraus, man weiß es nicht.

Maler und Schriftsteller als Mitglieder von "Art et Liberté" auf einem Foto, das um 1945 entstanden ist. (Unbekannter Fotograf / Sammlung Christophe Bouleau, Genf / © Kunstsammlung NRW)

Maler(innen) und Schriftsteller als Mitglieder von „Art et Liberté“ – auf einem Foto, das um 1945 entstanden ist. (Unbekannter Fotograf / Sammlung Christophe Bouleau, Genf / © Kunstsammlung NRW)

Aus einer Ecke tönt der Saint-Louis-Blues von Teddy Stauffer, ein Film zeigt lockere Frauen und Bauchtänzerinnen mit Gasmasken aus dem Cabaret. Es ging wohl recht ungezwungen zu in den Clubs von Kairo. Gleich, was in Europa in und nach dem Krieg geschah – eine reiche Elite amüsierte sich, während die Armut unterprivilegierter Bevölkerungsschichten immer größer wurde. Ausgemergelte Gestalten auf den Bildern von „Art et Liberté“ weisen auf diese Missstände hin. Wie fatal sich eine solche gesellschaftliche Schieflage auf Dauer auswirkt, wissen wir heute. Schon deshalb ist es wichtig, Kunst und Freiheit hochzuhalten.

„Art et Libertè – Umbruch, Krieg und Surrealismus in Ägypten (1938-1948)“. Bis 15. Oktober im K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr, jeden 1. Mittwoch im Monat bis 22 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog: 35 Euro. www.kunstsammlung.de




Worin sich Frankreich und Sachsen ähnlich sind

Nach dem Urnengang ist vor dem Urnengang. Kaum hat England gewählt, ist Frankreich an der Reihe:

Wenn am kommenden Sonntag das französische Parlament neu gewählt wird, dann könnte es nach derzeitigen Umfragen zu einer satten Mehrheit für die neue Partei „La République En Marche“ (LREM)  des jungen Staatspräsidenten Emmanuel Macron kommen. Das scheint für Europa und Deutschland eine positive Perspektive zu sein, aber die politische und gesellschaftliche Spaltung unseres Nachbarlandes ist unübersehbar.

Schein-Idylle an der Côte d’azur. (Foto: HH Pöpsel)

Auf der Landkarte Frankreichs mit den eingefärbten Ergebnissen der Präsidentschaftswahl in den einzelnen Départements sieht man deutlich eine Ost-West-Grenze: In den Regionen östlich von Paris bis hinunter zum Mittelmeer erreichte der rechte Front National mit Marine Le Pen fast überall die Mehrheit, in den westlichen Landesteilen bis hin zum Atlantik gelang Macron der Sieg.

Besonders hoch fiel der Erfolg des neuen Präsidenten in Paris aus – ausgerechnet dort, wo die meisten Migranten leben. Ebenfalls besonders deutlich siegte seine Kontrahentin Le Pen an der Côte d’azur, in Nizza, Cannes und St. Tropez – dort, wo außer algerischen Arbeitern eher wenige Migranten zuhause sind, wenn man mal von den Popstars wie Bono oder Johnny Depp auf ihren Landgütern oder den zahlreichen britischen Rentnern absieht.

Diese Tendenz sieht man so ähnlich auch in den Neuen Ländern in Deutschlands Osten, in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg: Wo die wenigsten Flüchtlinge leben, ist der Widerstand der Bevölkerung am größten und der Einfluss rechter Parteien und Bewegungen am stärksten. Vielleicht bringt ja die neue Pro-Europa-Bewegung mit ihren sonntäglichen Kundgebungen etwas Schwung in die Demokratie-Debatte. Aber wie in privaten Beziehungen weiß man, dass Gefühle sehr schwer zu beeinflussen sind.

Übrigens heißt dieser Blog ja Revierpassagen, deshalb noch ein Hinweis auf eine Querverbindung ins Ruhrgebiet: Der neue französische Präsident Macron wurde im kommenden Dezember vor vier Jahrzehnten im schönen Amiens geboren. Das ist seit langer Zeit eine Partnerstadt Dortmunds.




Erschütternde Anthologie: „Zuflucht in Deutschland“ versammelt Texte verfolgter Autoren aus aller Welt

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), über ein Buch mit Texten verfolgter Autorinnen und Autoren aus vielen Ländern:

Das PEN-Zentrum Deutschland ist das einzige von etwa 140 PEN-Zentren weltweit, das ein „Writers-in-Exile“-Programm hat. Acht verfolgte, mit dem Tode bedrohte Schriftsteller, die nicht selten Gefängnisstrafen mit Einzeln- oder Dunkelhaft hinter sich haben, bekommen für ein oder zwei Jahre ein Stipendium, das heißt eine Wohnung und Geld zum Leben. Das sind die Fakten. Doch Anschaulichkeit stellt sich erst ein, wenn man Texte dieser Autoren liest.

Der ehemalige PEN-Präsident Josef Haslinger und die „Writers-in-Exile“-Beauftragte Franziska Sperr haben nun das verdienstvolle Unternehmen gestartet und eine Anthologie mit Texten von zwanzig dieser verfolgten Autoren herausgegeben. Autoren aus vielen Ländern vereinigt dieser Band, aus Tschetschenien, Kuba, Kolumbien, Kamerun, Syrien, der Türkei, Tunesien, Vietnam usw.

So vielfältig die Länder, so vielfältig auch die Texte. Berichtende Beiträge stehen neben Gedichten, Erzählungen und Romanauszügen. Der Aufbau ist immer gleich. Zuerst werden Autorin oder Autor vorgestellt, werden Ausbildung, literarische Schwerpunkte, Erfolge genannt und dann, unausweichlich, ihre Konflikte mit den Autokraten in ihren jeweiligen Ländern, die sie letztlich zur Flucht veranlassten.

Bei jedem neuen Autor ertappt sich der Leser, obwohl er es längst besser weiß, beim Gedanken, dass solche literarische Leistung nun wirklich kein Grund für Verfolgung, sondern für Anerkennung, ja Stolz sein müsste. Aber nach Veröffentlichung irgendeines kritischen Textes folgen stets die gleichen Reaktionen: Beschimpfungen, Verfolgung, Gefängnis, Morddrohungen.

Dass die Tschetschenin Maynat Kurbanova nach kritischer Berichterstattung über den Krieg in ihrem Land 2003 geflohen ist, war eine richtige Entscheidung. Kurz nach ihrer Flucht wurde nämlich ihre Kollegin Anna Politkowskaja brutal ermordet. Beide hatten sich in ihren Texten nicht an die gewünschte russische Lesart über den Krieg gehalten.

Maynat kam mit ihrer kleinen Tochter nach München und es macht betroffen, ihren Bericht über die Ankunft und das schrittweise Einleben in einer völlig fremden Welt nachzulesen. „Hier in meiner kleinen Geborgenheit“ heißt der Erzählbericht, den Maynat auf Deutsch geschrieben hat, so weit hat sie sich inzwischen eingelebt. Aber der Bericht selbst zeigt, wie mühevoll dieser Prozess abgelaufen ist. Darf sie das, was sie da unternommen hat, ihrem Kind zumuten, fragt sie sich. Wie soll das Kind verstehen, dass es über Nacht getrennt ist von den Großeltern, von allen Freunden und Verwandten? Gerade das Kind hilft ihr aber beim Einleben, wobei die kleine Tochter schnellere Fortschritte macht als ihre Mutter. Ein Bericht, der ebenso bedrückend wie beglückend ist.

Najet Adouani kommt aus Tunesien, nach neuer Lesart ein sicheres Herkunftsland, weshalb es schwierig geworden ist, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Aber Najet kann nicht zurück in ihre Heimat, in der sie die jetzige Regierung wohl nicht verfolgen würde, doch sie steht wegen des modernen Frauenbildes, das sie in ihren Gedichten und anderen Texten vertritt, auf den Todeslisten der Salafisten. Ihr Leben wäre in höchstem Maße bedroht, müsste sie zurückkehren. Najet berichtet von einem ihrer Erlebnisse im Süden Tunesiens. Da hat sie in einem Dorf von ihrem modernen Frauenbild geredet und viel Zustimmung vor allem von den Frauen erfahren, bis plötzlich ein Mann rief: „Dreckige Kommunistin, gottlose.“ Sofort wendeten sich die Frauen, die sie gerade noch beklatscht hatten, von ihr ab und bespuckten sie.

Es sind wunderbar anschauliche, intime Gedichte, die Najet Adouani zu diesem Buch beisteuert, Gedichte der Erinnerung an ihre Großmutter, über die Heuchelei derer, die sich Revolutionäre nennen, die alles besser machen wollen und doch nur an ihren kleinen, mickrigen Vorteil denken, Gedichte über den Verlust der Heimat.

Ein erschütterndes Gedicht hat auch Enoh Meyomesse aus Kamerun beigetragen. Es handelt von seiner Haft, die nicht einfach nur eine Gefängniszeit war. Enoh wurde monatelang in Einzel- und Dunkelhaft gehalten, er hatte Angst, zu erblinden. Wie man mit ihm umging, schildert sein Gedicht „Ich komme zu dir Deutschland“. Was ihm diese Behandlung einbrachte, war seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2011: Enoh ist ein sehr bekannter Autor in Kamerun, er trat an gegen den Diktator Paul Biya, der seit 1982 ununterbrochen das Land unterdrückt. Die Rache Biyas war brutal, aber wer Enoh begegnet, kann nur staunen über seine Freundlichkeit und sein fröhliches Wesen trotz all der Leiden. Ein Romanauszug behandelt die Kolonialzeit Kameruns, das mal deutsches Protektorat war.

Bui Thanh Hieu aus Vietnam schildert in seinem Text die Verhöre, denen er als regierungsunabhängiger Blogger ausgesetzt war. Überhaupt gehören Blogger inzwischen zu den meist gefährdeten Autoren in der Welt. Vietnam, denkt der ältere Leser, haben wir nicht für ein Ende des Vietnamkriegs demonstriert, haben wir dafür nicht Wasserwerfer und Gummiknüppel in Kauf genommen? Das Ende des Krieges wurde auch durch die Demonstrationen im Westen vorbereitet. Mit welchem Recht verfolgen Regierungsstellen in Vietnam nun Kritiker und werfen alles über Bord, was ihnen an westlichen Werten mal zugutegekommen ist?

Es ist fesselndes Buch. Es zeigt, welche Schicksale hinter all diesen Namen verfolgter Autoren stehen. Und es beantwortet ganz nebenbei die oft bei uns so oft gestellte (geschmäcklerische) Frage, ob man mit Literatur etwas bewirken kann. Man muss sich das Handeln der Autokraten und Diktatoren dieser Welt ansehen, dann kennt man die Antwort.

„Zuflucht in Deutschland. Texte verfolgter Autoren“. Herausgegeben von Josef Haslinger und Franziska Sperr. Taschenbuch im S. Fischer Verlag, Frankfurt. 288 Seiten. 9,99 Euro.