Wer war der dritte Torwart beim „Wunder von Bern“?

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen mehr oder minder bekannten Fußballspieler aus Essen:

Es gibt Fragen, die muss der richtige Fußballfan einfach beantworten können. Zum Beispiel diese: Wer war der dritte Torwart in der Weltmeistermannschaft von 1954? Ex-Bundeskanzler Schröder soll sie manchmal stellen, wie ich hörte. Und da kommt dann erstaunlicher Weise mancher Fan ins Schleudern.

„Kicker"-Titelbild von 1956. (© Kicker)

„Kicker“-Titelbild vom 1. Oktober 1956. (© Kicker)

Ich stelle die Frage so ähnlich, aber etwas anders. Bei Lesungen in Essen, wenn ich einen Text zum Thema Fußball lese, frage ich die Zuhörer, welche beiden Spieler aus ihrer Stadt zum Weltmeisterteam 1954 gehört haben.

Klar, auf Helmut Rahn kommt jeder. Aber gab es da noch einen zweiten? Doch, den gab es, auch wenn er kurz vor dem Turnier vom Essener Traditionsverein Sportfreunde Katernberg zum FK Pirmasens wechselte. Heinz Kubsch war das und er ist auch der ominöse dritte Torwart in der Weltmeisterauswahl von 1954.

Dramatischer Vorfall bei einer Bootstour

Aber eigentlich ist Heinz Kubsch die falsche Antwort auf die Frage nach dem dritten Torwart. Kubsch war nämlich nicht als dritter, sondern als zweiter Torwart vorgesehen. Aber er und der andere Ersatztorwart Heini Kwiatkowski aus Dortmund rauchten gerne. Und weil Herberger das nicht leiden konnte, ruderten die beiden auf den Spiezer See hinaus, der direkt vor dem WM-Quartier der deutschen Mannschaft lag, pafften dort und kamen suchtgestärkt zurück. Aber als sie irgendwann nach einer ihrer Extratouren anlandeten, geschah das Unglück. Das Boot kenterte und offenbarte die zweite Überraschung. WM-Torhüter Heini Kwiatkowski konnte nämlich nicht schwimmen, und so musste Heinz Kubsch den wild um sein Leben strampelnden Kwiatkowski unter Aufbietung aller Kräfte aus dem Wasser ziehen. Dabei hat er sich die Schulter verrenkt. Herberger soll getobt haben.

Frage an die Ehefrau: „Hätte er den nicht halten müssen?“

So kam es, dass in dem Vorrundenspiel gegen Ungarn, das Herberger von vornherein verloren gab und mit einer B-Mannschaft bestritt, Heini Kwiatkowski im Tor stand und nicht Heinz Kubsch. Es war übrigens Kwiatkowskis erstes Länderspiel. Er erzählte mir später, dass seine Frau stolz in die nächste Kneipe gegangen sei, um dort die Fernsehübertragung zu sehen. „Mein Mann spielt heute in der Nationalmannschaft.“ Aber bei jedem Treffer, den Heini kassierte, drehten sich alle Kneipenbesucher zu ihr um und sahen sie vorwurfsvoll an. „Hätte er den nicht halten müssen?“

Nach dem sechsten Treffer ist Heinis Frau wutentbrannt nach Hause gegangen und hat sich so die beiden letzten Tore der Ungarn erspart. Mit 3:8 ist das Spiel verloren gegangen, und es ist gut, dass es bei diesen 8 Toren geblieben ist und es nicht mehr wurden, denn Heini hatte gar keinen Platz mehr am Torpfosten für weitere Striche, um so die Übersicht über den Spielstand zu behalten.

Seine Nationalmannschaftskarriere verlief sowieso etwas unglücklich. Viermal hat er gespielt und dabei sage und schreibe 18 Tore kassiert. Dabei wurde eines dieser Spiele sogar noch mit 3:0 gewonnen.

Aber immerhin, er hatte einen Einsatz bei dem Turnier 1954, das die Deutschen schließlich gewannen. Heini hat also aktiv teilgenommen an dem Gewinn der Weltmeisterschaft, wenn sein Anteil auch hauptsächlich darin bestanden hat, Stammtorwart Toni Turek zu schonen. Heini hat damit genau jenen Einsatz gehabt, der eigentlich für Heinz Kubsch vorgesehen war, wenn der nicht, ja wenn der nicht die gute Tat begangen hätte, seinem Konkurrenten und Freund im Paffen vor dem Ertrinken zu retten. Die Welt ist eben ungerecht.




Von Rahn bis Reus – Was wären die deutschen WM-Teams ohne Fußballspieler aus dem Ruhrgebiet?

Gastautor Heinrich Peuckmann über die unverkennbar wichtige Rolle von Kickern aus dem Revier:

Hat Jogi Löw für die morgen beginnende WM Fußballer aus dem Ruhrgebiet übersehen? Wenn es nach meinem jüngsten Sohn Niklas (Theologe an der Ruhruniversität Bochum) ginge, wäre da unbedingt Andreas Luthe zu nennen.

Essener Denkmal für den Fußballer Helmut Rahn, der von 1951 bis 1959 für Rotweiß Essen spielte und 1954 den deutschen Siegtreffer im WM-Endspiel erzielte. (Foto: Sebastian Ritter / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)

Essener Denkmal für den Fußballer Helmut Rahn (1929-2003), der von 1951 bis 1959 für Rot-Weiss Essen spielte und 1954 den deutschen Siegtreffer im WM-Endspiel erzielte. (Foto: Sebastian Ritter / Wikimedia – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)

Luthe ist Ersatztorwart beim Zweitligisten VfL Bochum, der mit seinen Paraden so manche Partie entschieden hat, einige freilich auch zugunsten des Gegners. Wenn bei einer Fußballübertragung ein Torwart einen Fehler macht, ruft mein Sohn: „Luthe! Die sollten sich den Luthe holen.“

„Die sollten Andreas Luthe holen!“

Zuletzt war das beim Finale der Champions League der Fall, als Karius von Liverpool das Spiel ganz alleine entschied, allerdings für Real Madrid. Da schlug Niklas wieder Liverpools Trainer Klopp vor, den Luthe zu holen. Aber mein Sohn trinkt auch das Bochumer Fiege-Bier, und wer Fiege trinkt, der darf auch Luthe gut finden.

Aus dem Ruhrgebiet ist diesmal Marco Reus von Borussia Dortmund dabei, und dem haben wohl alle Fans im Revier die Berufung gegönnt, war er doch bei Großturnieren stets verletzt. EM, WM, egal was kam, Reus lief an Krücken. Aber diesmal ist er fit, die Fans im Revier staunen. Zuletzt haben sie gewitzelt, dass Löw ihn in den Testspielen besser nicht aufstellen sollte, damit bloß nichts passiert. Aber Löw hat nicht auf die Fans gehört, hat Reus (ein echter Dortmunder Junge übrigens) spielen lassen und der hat tatsächlich das Spielfeld verlassen, ohne zu humpeln. Es gibt in diesen harten Zeiten auch noch gute Nachrichten.

Weigl und Götze – leider nicht dabei

Hätte Löw noch andere Spieler aus dem Revier mit nach Russland nehmen sollen? Den Julian Weigl vom BVB vielleicht. Weigl ist ein Abräumer vor der Verteidigung, er läuft die Lücken zu, unterbindet wunderbar die Angriffe des Gegners und sorgt für Stabilität. Leider war er lange verletzt und fehlte Borussia. Bis auf den 8. Tabellenplatz rutschte der BVB zwischenzeitlich ab, dann kam Weigl zurück und es reichte gerade noch für die Qualifikation zur Champions League. Ein paar schöne Abende im kommenden Herbst bedeutet das. Mindestens. Fünfmal hat Weigl für die Nationalmannschaft gespielt, vielleicht ist er, wenn es bei der Borussia in der nächsten Saison (hoffentlich!) wieder besser läuft, bald wieder dabei.

Das könnte auch für Mario Götze gelten, Schütze des entscheidenden Tores bei der letzten WM. Sein Schuh, mit dem er das Tor zum 1:0-Siege gegen Argentinien im Endspiel erzielte, steht nun in einer Vitrine im Dortmunder Fußballmuseum. Wer sagt eigentlich, dass die Zeit der Reliquienverehrung vorbei ist? Götze hat sich damit in die Reihe der anderen WM-Finaltorschützen eingereiht: Helmut Rahn 1954, Gerd Müller 1974, Andreas Brehme 1990.

Entscheidende Finaltore von Revierjungs

Helmut Rahn, dies nebenbei, war auch ein echter Ruhrgebietsjunge, was man nicht zuletzt an seiner Liebe zum Bier erkennen konnte. Rahn stammte nämlich aus Essen und hat die längste Zeit für Rot-Weiss gespielt, das mit ihm den Meistertitel gewann und Pokalsieger wurde. Heute dümpelt der Verein in der vierten Liga rum. Wer die B1 durch Essen fährt, kann an den Brücken ablesen, wie präsent der Helmut noch immer ist. Der unsterbliche Kommentar von Herbert Zimmermann ist nämlich dort zu lesen. Erste Brücke bei der Einfahrt: „Rahn müsste schießen“, zweite Brücke: „Rahn schießt auch“, dritte Brücke bei der Ausfahrt: „Tor, Tor, Tor!“

Mario Götze war auch lange verletzt und hat nicht mehr rechtzeitig zu seiner alten Form gefunden. Schade. Für Borussia und die Nationalmannschaft. Götze ist ein eher langsamer Spieler, er war das von Jugend an. Umso wichtiger war daher für ihn die Ballbehandlung und die ist Klasse. Wie er den Ball stoppt, ihn fast blind weiterleitet, wie er auf engstem Raum den Gegner austricksen kann, eine Augenweide! Aber dafür muss er in Form sein und das war er lange nicht. Erst zuletzt blitzte in einigen Spielen sein Können auf. Leider nicht in jedem.

Keine Chance für Fährmann bei Jogi Löw

Auf Schalke, wie man im Revier sagt, spielt ein guter Torwart. Fährmann heißt er und der hätte, das sagen selbst wir „Feinde“ aus Dortmund, längst mal eine Chance bei Löw verdient. In den berühmten Derbys hat er die Spieler von Borussia so manches Mal zur Verzweiflung gebracht. So gut wie Trapp, dritter Torwart im Löw-Team, ist er auch. Aber merkwürdig, Fährmann bekam nie eine Chance. Aber vielleicht ergeht es ihm ja wie dem Dortmunder Torwart Roman Weidenfeller, der auch jahrelang großartig hielt und von  Löw penetrant übersehen wurde, so dass Trainer-Idol Klopp schon witzelte, Weidenfeller sei der weltbeste Torhüter ohne Länderspiel. Das änderte sich erst kurz vor der WM 2014, als er überraschend doch berufen wurde, im reifen Alter von 34 Jahren noch zur WM mitgenommen wurde und es auf insgesamt 5 Länderspielen brachte.

Mit dabei ist noch Leon Goretzka, wie Reus ein richtiger Ruhrgebietsjunge, der aus Bochum stammt. Bis Ende dieser Saison spielte er für Schalke, nun wechselt er nach München. Dort spielt Manuel Neuer, trotz monatelanger Verletzung wieder Torwart Nummer 1 bei Löw. Neuer kommt auch aus dem Revier, aus Gelsenkirchen-Buer. Er ist der beste Torhüter der Welt, ein Junge von uns, aber seit er nach München gewechselt ist, mögen ihn auf Schalke nicht mehr viele.

Gelsenkirchen liegt nicht in der Türkei

Ja, und dann kommen noch andere Spieler aus dem Ruhrgebiet, die nun in ausländischen Spitzenclubs spielen. Julian Draxler, Mesut Özil und Ilkay Gündogan, alle aus Schalke, Verzeihung aus Gelsenkirchen. Auch wenn Özil und Gündogan zuletzt vielleicht gemeint haben, Gelsenkirchen liege in der Türkei und werde von Erdogan regiert.

Allein mit den Ruhrgebietsjungen könnte man also eine halbe Topmannschaft bilden. Nur fällt das leider nicht auf. Die Jungs verlassen uns. Warum eigentlich? Im Ruhrgebiet ist es doch „klasse“. Trotzdem, bei so viel „Ruhrgebiet“ im Löw-Team sind die Chancen auf den fünften WM-Titel riesig. Zweimal haben unsere Jungs schon die WM entschieden, Rahn und Götze. Deshalb stellt sich nicht die Frage, ob Deutschland wieder Weltmeister wird. Nein, einzig die Frage, wer von unseren Ruhrgebietsjungen das entscheidende Tor schießt, muss noch beantwortet werden.




Die Kunst kämpft am Limit: Theater Hagen stellt trotz harter Kürzungen einen ehrgeizigen Spielplan für 2018/19 vor

Hier wird, so kommt es einem vor, mit einem Mut gekämpft, der sich bewusst ist, dass er nichts mehr verlieren kann. Die verordneten Kürzungen treffen das Theater Hagen in der kommenden Spielzeit in vollem Umfang und müssen bis 2022 realisiert sein. 1,5 Millionen sind für einen Etat von rund 14,25 Millionen Euro eine gravierende Summe. Und dennoch kündigt Intendant Francis Hüsers für 2018/19 die gleiche Zahl von Vorstellungen und sogar mehr Produktionen an.

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Wie soll das funktionieren angesichts des notwendigen Abbaus von künstlerischem Personal, etwa in Orchester und Ballett? Hüsers, Intendant seit der Spielzeit 2017/18, will die Ressourcen des „sehr gut aufgestellten Theaters“ ausschöpfen, will Doppelfunktionen des Personals „noch exzessiver“ nutzen. Das Publikum soll nicht merken, was Geschäftsführer Michael Fuchs bei der Vorstellung der kommenden Spielzeit sehr realistisch beschrieb: „Das Hemd ist dünner geworden, die Risiken steigen“. Sagen wir es deutlicher: Das Hemd ist nur noch ein Spinnfädchen, und ob die Risiken einer solchen Null-Reserve-Politik noch zu bewältigen sind, wird das kühne Führungsteam des Theaters Hagen ab Herbst zu beweisen haben.

Selbstausbeutung

Was das alles für die Menschen am Haus bedeutet, muss ungeschminkt ausgesprochen werden. Es ist ja nicht so, dass der künstlerisch erfolgreiche frühere Intendant Norbert Hilchenbach hätte aus dem Vollen schöpfen können. Ein Chronist könnte die Sparwellen aufzählen, die bereits über das Theater hinweggerollt sind. Jetzt geht es wohl nur noch um Selbstausbeutung am Limit. Und die Künstlerinnen und Künstler an diesem Haus verdienen allein dafür Anerkennung, dass sie sich – um der Kunst oder der eigenen Existenz willen – diesen Zumutungen unterwerfen.

Dennoch wäre simple Politikerschelte wohlfeil – und man könnte ihr leicht entgegenhalten, dass Hagen froh sein darf, überhaupt noch ein Theater mit eigenem Ensemble halten zu können. Die Ursachen dieser Krise liegen tief in einer seit langem defizitären Kulturpolitik. Hoffnungen ruhen auf der Landesregierung: Theoretisch könnte sie mit den Baukosten von 300 Metern Autobahn die Finanzierung des Hagener Theaters mit einem Schlag sanieren und den Abbau von hoch kreativen Arbeitsplätzen in dieser nicht gerade von Kultur strotzenden Stadt rückgängig machen.

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. Foto: Theater Hagen

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. (Foto: Theater Hagen)

Doch zurück zur Kunst. Hüsers kündigt einen Spielplan mit Schwerpunkt auf „romantischer“ Oper an – was man eben so landläufig darunter versteht. Darunter fallen sicherlich Antonín Dvořáks „Rusalka“ (ab 1. Dezember 2018) und Richard Wagners „Tristan und Isolde“, ab 7. April 2019 fünf Mal sonntags auf dem Spielplan, mit GMD Joseph Trafton am Pult und Jochen Biganzoli als Regisseur.

Besonderes Profil zeigt Hüsers damit nicht, aber es ist ihm zugute zu halten, dass er bei der Top-Riege der Komponisten nicht zu den populärsten Titeln greift: Von Giuseppe Verdi etwa setzt er „Simon Boccanegra“ an (ab 29. September, Regie Magdalena Fuchsberger), von Gioachino Rossini „Il Turco in Italia“ (ab 2. Februar 2019), für den er Christian von Götz als Regisseur gewonnen hat. Cole Porters „Kiss me, Kate“, „Pariser Leben“ zum Offenbach-Jahr, Richard O`Briens „The Rocky Horror Show“ und Duncan Sheiks „Spring Awakening“ nach Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ in Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück markieren einen Schwerpunkt auf dem unterhaltenden Musiktheater – was Sinn und sicher auch Spaß macht und in der Region eine eigene Farbe setzt. Der beliebte „Zauberer von Oz“ als weihnachtliches Fantasiestück dürfte bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen Beifall finden.

Spannendes Projekt mit dem Osthaus Museum

Ein spannendes Projekt realisiert das Theater gemeinsam mit dem Osthaus Museum. Zu Ostern 2019 kombiniert es auf der Bühne Claudio Monteverdis berührendes dramatisches Madrigal „Combattimento di Tancredi e Clorinda“ mit einer Präsentation von Skulpturen aus dem Museum und will mit dieser Verbindung der Künste die existenziellen Motive von Liebe, Tod und Auferstehung umkreisen.

Ab 18. Mai 2019 arbeiten Ballett und Oper zusammen in einem Doppelabend mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ und Georg Friedrich Händels „Wassermusik“. Alfonso Palencia übernimmt die Inszenierungs-Choreografie und wird mit Sängern und Tänzern einen dialogischen Abend erarbeiten, der mit Mut zum Risiko die Schranken zwischen den Sparten einzureißen verspricht. Das Ballett eröffnet Alfonso Palencia zu Beginn der Spielzeit am 15. September mit der Wiederaufnahme eines Klassikers: „Cinderella“ mit der Musik Sergej Prokofjews (Premiere war am 14. April).

„Trotz aller Unkenrufe – es gibt das Schauspiel in Hagen und es wird es weiter geben“, verkündete Hüsers bei der Pressekonferenz. Im Programm stehen Shakespeares „Wie es euch gefällt“ mit der bremer shakespeare company und eine Adaption des Romans „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum vom Rheinischen Landestheater Neuss, aber auch ein Solo-Abend mit Marilyn Bennett, der einer Figur aus James Joyces „Ulysses“, Molly Bloom, gewidmet ist. Als Eigenproduktion kündigt Hagen Friedrich Schillers „Die Räuber“ ab 12. Januar 2019 an – und zwar mit Kristine Larissa Funkhauser aus dem Sängerensemble als Amalia.

In den Sinfoniekonzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. Foto: Fritz J. Schwarzenberger

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. (Foto: Fritz J. Schwarzenberger)

Ein Blick ins Programm der zehn Sinfoniekonzerte lohnt sich: Beim ersten Konzert der Saison am 11. September dirigiert Joseph Trafton Gustav Mahlers Erste und das Mandolinenkonzert von Avner Dorman, der 2017 mit der Oper „Wahnfried“ in Karlsruhe einen grandiosen Erfolg feiern konnte. Im dritten Konzert am 13. November spielt ein „rising star“ der Klavierszene, Adam Laloum, das B-Dur-Konzert von Johannes Brahms; zuvor erklingen John Adams‘ „The Chairman Dances“ – ein Echo auf die künstlerisch so ergiebige Reihe amerikanischer Opern der letzten Jahre am Hagener Theater. Am 28. Mai 2019 kombiniert Trafton Adams‘ „Harmonielehre“ mit Richard Strauss „Ein Heldenleben“.

Auch in den anderen Konzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken, ob Sinfonien von Luigi Boccherini, die Uraufführung eines Konzerts für Horn und Trompete von Wolf Kerschek am 9. Oktober, verbunden mit Dvořáks Sechster Symphonie, Werke von Ralph Vaughan Williams oder am 18. Juni 2019 ein Abend mit HK Gruber und dem Pianisten Frank Dupree mit amerikanischer Musik von Gershwin und Weill bis Duke Ellington. Und wer sich für regionale (Musik-)Geschichte interessiert, dem sei das Gedenkkonzert an den ersten Großangriff auf Hagen 1943 am 1. November 2018 ans Herz gelegt. Darin erklingt die „Trauermusik“ des damaligen Hagener GMD Hans Herwig.

Info: www.theaterhagen.de




Nicht nur zum Ende der Zechen-Ära eine Erinnerung wert: August Siegel, Bergmann und Gewerkschafts-Pionier

Gastautor Horst Delkus erinnert – nicht zuletzt aus Anlass der bald endenden Zechen-Ära im Ruhrgebiet – an den Bergmann und Gewerkschafter August Siegel (1856-1936), einen Pionier der Arbeiterbewegung des Reviers:

Die Heilige Barbara – Schutzpatronin der Bergleute – muss mit dem Kopf geschüttelt haben, als sie erfuhr, wie die katholische Geistlichkeit gegen den neu gegründeten Verband der Bergarbeiter hetzte: Gewerkschaftlich organisierte Bergarbeiter, hieß es da von der Kanzel herab, seien Mordbuben, der Auswurf der Menschheit.

August Siegel - Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Deutsches Bergbau-Museum / montan.dok / Sammlung Delkus)

August Siegel – Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Sammlung Delkus)

Ein Pfaffe hatte sogar das Bündnis des Bergarbeiterverbandes mit der Hölle entdeckt. „Wo die ‚Bergarbeiterzeitung‘ auf dem Tische liegt“, predigte er den Frauen der Bergarbeiter, „da sitzt der Teufel unterm Tisch.“ Und die ‚Tremonia‘, die katholische Zentrums-Zeitung des einflußreichen Dortmunder Verlegers Lambert Lensing, mahnte: „Wehe unserem Arbeiterstande, wenn er sich in die Hände der Sozialdemokratie begibt.“

Panikmache anno 1889. Denn die organisierte Sozialdemokratie war damals im Ruhrgebiet noch eine Sekte; ihre heimlichen Hauptstädte hießen Leipzig, Hamburg oder Berlin. Auf den Bergarbeiterstreik im Mai hat sie wahrscheinlich nicht mehr Einfluß gehabt, als die Apo 70 Jahre später auf die Septemberstreiks 1969. „Sie ist mit dem Ausbruch desselben gerade so überrascht worden, wie die übrige Welt“, schrieb einer, der es wissen mußte: August Bebel.

Er galt als bester Agitator der Gründungszeit

Einfluss im Bergarbeitermilieu des Ruhrgebiets hatten um 1889 vor allem drei Sozialdemokraten: die mit dem Nimbus der „Kaiserdelegierten“ versehenen Bergleute Ludwig Schröder, Friedrich Bunte und August Siegel. Ein zeitgenössischer Chronist über diese „Volksverführer und Hetzer“: „Schröder, der Älteste, wird als ‚mehr erfahren‘, ‚offen‘ und ‚gutmütig‘ im Gegensatz zu dem hinterhältigeren Bunte geschildert. Siegel scheint der geistig Beweglichste zu sein. Er scheint auch für weit greifende Organisationspläne und für die eigentlichen Lohnkämpfe mehr eingenommen als die zwei anderen.“

Alle drei waren an der Gründung und am Aufbau der Bergarbeitergewerkschaft maßgeblich beteiligt. In der Phalanx der Gewerkschaftsführer aber sind sie – im Gegensatz zu Hue, Sachse, Husemann und Schmidt – in Vergessenheit geraten. Immerhin ist einer von ihnen im Internationalen Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens von 1932 noch mit einer Kurzbiographie vertreten: August Siegel. In ihm, heißt es da, „verkörpert sich ein Stück Geschichte des Verbandes der Bergarbeiter, war er doch in der Gründungszeit sein bester Agitator“.

Mit elf Jahren täglich zwölf Stunden auf der Kohlehalde

Geboren wurde August Siegel am 1.April 1856 in Zwickau. Sein Vater war Bergmann, starb jedoch fünf Monate vor Augusts Geburt. Die Witwenrente reichte für die neunköpfige Familie nicht aus. August besuchte die Armenschule, unternahm Bettelstreifzüge aufs Land. Über seine Kindheit schrieb er später: „Bei den Bauern konnte ich manchen Überfluss entdecken, der mich dazu zwang, Vergleiche anzustellen mit der furchtbaren Not, die bei uns zu Hause herrschte. Warum ist es so? Warum kann sich nicht jeder satt essen, wenn er Hunger hat? Das waren meine ersten philosophischen Gedanken.“

Zwölf Stunden täglich arbeitete er bereits mit elf Jahren täglich auf der Kohlenhalde. Als ein älterer Bruder beim Rangieren der Kohlenwaggons schwer verunglückte, stand für seine Mutter fest: Mein Sohn soll kein Bergmann werden! Er wurde Sandformer in einer Chemnitzer Maschinenfabrik. Hier ergaben sich die ersten Kontakte zu Sozialdemokraten. Mit 16 Jahren trat er der Partei bei. Nach dem Chemnitzer Metallarbeiterstreik 1872 folgte Siegel seiner älteren Schwester von Sachsen nach Westfalen. In Dortmund und Umgebung fand er Arbeit auf verschiedenen Zechen.

„Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden…“

Siegel in seinen Erinnerungen: „Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden, ist kaum zu beschreiben. Warum, wird man fragen, haben die Leute die betreffende Zeche nicht verlassen und auf einer anderen Grube gearbeitet? Das ist leichter gesagt als getan. Viele von der Belegschaft waren Kleinhauseigentümer und hatten ohnehin schon einen weiten Weg zur Arbeitsstelle. Bei einem Arbeitswechsel mußten sie noch weiter laufen. Zumal fanden sie das, was sie auf der einen Zeche verlassen hatten, auf der anderen getreulich wieder.“ Streiks ohne eine Organisation im Rücken erschienen wenig aussichtsreich.

Als Vorsitzender eines nichtkonfessionellen freien Knappenvereins arbeitete Siegel bald mit anderen Dortmunder Bergarbeiterführern zusammen und agitierte mit seiner kräftigen Stimme die Bergleute auf zahllosen Versammlungen. In seinen Lebenserinnerungen, 1921 als Serie für die Jugendzeitschrift des Bergarbeiterverbandes verfasst, schreibt er später: „Wie oft wunderte ich mich in jenen Tagen, wenn die bürgerlichen Zeitungen schrieben, daß die sozialdemokratischen Agitatoren von den Schweißtropfen der Arbeiter lebten. Nicht einen Pfennig bekamen wir. Fahr- und Zehrgeld, wie alles, was wir sonst noch ausgeben mußten, ging aus unserer Tasche. Hin und wieder verspielten wir noch dazu eine Schicht. Das hielt uns aber nicht ab, unserem Ziel treu zu bleiben. Unsere Arbeit war auch keineswegs umsonst. Es kam etwas mehr Leben in die ruhig dahinbrütenden Knappen.“

Streikführer für wenige Minuten zur Audienz beim Kaiser

Alle in Deutschland existierenden Bergarbeitervereine erhielten für den 2.Juni 1889 eine Einladung zu einem Delegiertentag der Knappenvereine nach Dortmund-Dorstfeld. Zentraler Tagesordnungspunkt: Wie die miserable Lage der Bergarbeiter in Deutschland zu beseitigen sei.

Doch wegen des Massenstreiks im Mai, bei dem rund 100.000 Bergarbeiter die Arbeit niederlegten, wurde die Versammlung verschoben. Während dieses Streiks schickten die Dortmunder Bergarbeiter Bunte, Schröder und Siegel zum Kaiser nach Berlin, um ihm die Forderungen der streikenden Ruhrkumpels vorzubringen: Wiedereinführung der Acht-Stunden-Schicht, Lohnerhöhungen und Abschaffung der Schikanen auf den Zechen. Als die drei zur Kaiser-Visite aufbrachen, bröckelte der Streik rasch ab. Die Audienz dauerte nur wenige Minuten und gipfelte in der Drohung Wilhelms II., alles über den Haufen schießen zu lassen, falls der Streik unter den Einfluß der Sozialdemokratie geriete.

Nach erfolglosem Streik auf die Schwarze Liste gesetzt

Nach diesem erfolglosen Streik wurden Siegel und die anderen Streikführer gemaßregelt. Sie kamen auf die Schwarze Liste. Mit Hilfe von Spendengeldern aus der Parteikasse konnten sie sich jedoch eine bescheidene Existenz aufbauen. August Siegel wurde Flaschenbierhändler und später hauptamtlicher Agitator des Bergarbeiterverbandes, den 200 Zechendelegierte und Knappenvereinsvertreter am 18.August 1889 in Dorstfeld gegründet hatten. Einige Klagen wegen „indirekter Aufreizung zum Ungehorsam“ und Beleidigung (unter anderem hatte er die Knappschaftsältesten in einer Bergarbeiterversammlung unfähige „Strohköpfe“ genannt und ihnen vorgehalten, sie würden ihre Stellung nur zum eigenen Vorteil ausnutzen) brachten ihm mehrere Gefängnisstrafen ein.

Der alte Friedrich Engels hilft dem nach London geflüchteten Siegel

Anfang Januar 1892 sollte Siegel eine neunmonatige Haftstrafe im Zuchthaus Siegburg, einer ehemaligen Irrenanstalt, antreten. Fünf weitere Anklagen standen noch aus. Ludwig Schröder riet seinem Freund zur Flucht. Am 12.Januar 1892 machte sich Siegel aus Dorstfeld davon. Erste Station seines Asyls: London. Hier halfen dem mittlerweile steckbrieflich Gesuchten Friedrich Engels und Julius Motteler bei der Übersiedlung nach Schottland, wo Siegel im Bergbau Arbeit fand und bald seine Familie nachreisen lassen konnte.

Beim alten Engels hat Siegel einen guten Eindruck gemacht: „Das ist doch mal wieder ein deutscher Arbeiter, mit dem man sich vor allen anderen Nationen sehen lassen kann.“ Er empfahl Siegel eindringlich die englische Sprache zu lernen und „täglich, wenn nicht stündlich“ Kontakt zu den schottischen Arbeitern zu halten.

Als Mitglied der Bergarbeitergewerkschaft und der sozialistischen Independent Labour Party (ILP) beteiligte sich August Siegel an zahlreichen Streiks der britischen Bergarbeiterbewegung. Auch hier wurde er als Streikführer gemaßregelt. Als deutscher Asylant verlor er während des Ersten Weltkrieges seinen Arbeitsplatz. Bald folgte die Ausweisung als „lastiger Ausländer“.

Ausweisung und Rückkehr ins Ruhrgebiet

Im Januar 1919 kehrte Siegel ins Ruhrgebiet zurück. In Bochum, in der Hautpverwaltung des Bergarbeiterverbandes, arbeitete der humorvolle Graubart noch bis zu seiner Pensionierung 1929. Er starb im Alter von 80 Jahren am 5.Oktober 1936.

Geprägt durch die Aufbruchstimmung der frühen Sozialdemokratie sowie etlicher Arbeitskämpfe verkörperte August Siegel die Gründergeneration der heutigen Gewerkschaften. Sein Leben umfaßt eine Periode der Arbeiterbewegung, die vom Sozialistengesetz, dem ersten Massenstreik 1889 und den ersten stabilen Gewerkschaftsorganisationen bis zur kampflosen Zerschlagung der Gewerkschaften durch den Faschismus reicht. Ein Gewerkschaftsbeamter, ein Apparatschik ist August Siegel nie geworden. Weil die Gewerkschaft als Organisation erst mit ihm aufgebaut wurde und weil für ihn die Sache selbst wichtiger war als die eigene Karriere.

Durch und durch Sozialist und Idealist

Bernhardine Gierig, 88 Jahre alt, hatte Siegel in den zwanziger Jahren über ihren Vater persönlich kennengelernt. Tief beeindruckt erzählt sie heute noch: „Siegel war ein richtiger Mensch. Er machte kein Theater daraus, daß er gelitten hat für die Bewegung; er wollte keinen Profit aus der Sache schlagen. Er war sozialistisch gesonnen durch und durch. Ein wirklicher Idealist.“

Die Heilige Barbara wird an diesem Pionier der Bergarbeiterbewegung sicher ihre helle Freude gehabt haben.




Schier 60 Jahre ist es her: Am 18. Mai 1958 wurde Schalke 04 zum letzten Male Deutscher Fußballmeister

Schon seit Wochen wird im Hinblick auf dieses eher unangenehme Jubiläum einschlägig gescherzt und in digitalen Fotokisten gekramt.

Die begehrte Schale für Deutsche Fußballmeister. (Foto: Florian K. / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Die begehrte Meisterschale, auf Schalke lange nicht mehr erblickt, also dort allmählich ein unbekanntes Objekt. (Foto: Florian K. / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Wat ham wer da gelacht: Als Schalke 04 zum letzten Male Deutscher Fußballmeister war, gab es diese und jene historischen Automodelle, solche vorsintflutlichen Telefone und dergleichen nostalgischen Kram mehr. Adenauer hatte jedenfalls noch fast fünfeinhalb Kanzlerjahre vor sich, Dwight D. Eisenhower war US-Präsident. Popmusikalisch machten beispielsweise der munter gepfiffene „River Kwai March“ und Paul Ankas Heuler „Diana“ Furore.

Jaja, genau 60 Jahre ist es her, dass die Blauen aus Gelsenkirchen ihren letzten Meistertitel errungen haben. Es war am 18. Mai 1958, als sie das Endspiel gegen den dieser Tage aus der ersten Liga abgestiegenen Hamburger SV (!) glatt mit 3:0 gewinnen konnten. In der Schalker Mannschaft standen u. a. Günter Siebert, Berni Klodt und Willi Koslowski. Klingt irgendwie kernig und authentisch, woll? Ich sach dir!

Manchmal ziemlich dicht dran

Jawohl, es war ein Endspiel. Denn die Bundesliga mit Punkten und Tabellen wurde ja erst Jahre später aus der Taufe gehoben – übrigens per Beschluss in Dortmund… Aus Jux wurde jetzt auch schon gemunkelt, dass Schalke die einstweilen abgelaufene Bundesliga-Uhr aus Hamburg übernehmen werde, um all die verflossenen titellosen Jahre anzuzeigen. Um es mal donaldistisch und comictauglich zu sagen: kreisch! schenkelklopf!

Zugegeben, seit 1958 waren die „Knappen“ immerhin ein paar Mal ziemlich dicht dran am ersehnten Erfolg. Doch genau darin liegt ein Teil des Langzeit-Witzes, dass sie es immer wieder verfehlt haben, manchmal auf geradezu groteske Art und Weise, als laste ein listiger und irgendwie auch lustiger Fluch auf ihnen. Gern nennen sie sich selbst „Meister der Herzen“. Wenn’s ihnen Freude bereitet…

Die Häme höret nimmer auf

Einmal hat ihnen auch der BVB quasi in letzter Minute den Titel vermasselt. Wie singen sie heute noch auf der schwarzgelben Tribüne, wenn’s um S04 geht: „Ein Le-heben laaaang / keine Schale in der Hand…“ Sie haben da auch schon Schlimmeres gegrölt. Anders gesagt: Wer die Schale so dauerhaft nicht hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Vor allem in und um Dortmund höret die Häme nimmer auf. Revier-Solidarität? Tja. Öh… Vielleicht ein andermal.

Zugegeben auch, dass der einst hart konkurrierende oder gar zeitweise enteilte BVB diesmal – frei nach Roman Weidenfeller – gar keine „grandios Saison gespielt“ hat und deutlich hinter dem Vize(!)-Meister Schalke zurück geblieben ist. Auch haben die Schwarzgelben das letzte Revierderby kläglich vergeigt, nahezu ohne nennenswerte Gegenwehr. Es war quälend, wie so vieles in der gottlob abgelaufenen Spielzeit. Leute, es kommen auch wieder andere Jahre. Aber es muss dringend etwas geschehen. Etwas? Nein, jede Menge.

Unverrückbare Tatsache bleibt jedoch: Der BVB hat acht Deutsche Meisterschaften eingefahren, und zwar beginnend direkt vor dem letzten Schalker Titel, also 1956 und 1957; danach noch 1963, 1995, 1996, 2002, 2011 und 2012. Hinzu kamen vier Pokalsiege und zwei legendäre europäische Triumphe (1966 und 1997). Auch in der „Ewigen Tabelle“ der Bundesliga zeigt sich der feine Unterschied: Da haben die Dortmunder 2730 Punkte gesammelt, die Gelsenkirchener deren nur 2444.

Zahlen, Herr Ober!




Großes Theater und peinliches Scheitern – das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen fiel durchwachsen aus

Warum er das getan hat, ist restlos nicht klar geworden. Ewald Palmetshofer, österreichischer Dramatiker der jüngeren Generation, hat sich Gerhart Hauptmanns Stück „Vor Sonnenaufgang“ vorgenommen und mit Aktualitäten angereichert. Kann man machen, ist auch nicht mißlungen, bringt aber auch keinen nennenswerten Erkenntnis-Zugewinn.

Szene aus „Barbarische Nächte“ (Foto: Nathalie_Sternalski / Ruhrfestspiele)

Thematisch geklammert wird der Gang der Handlung durch eine Schwangerschaft, die im Stück entlarvend wirkt und (natürlich, ist man fast geneigt zu sagen) mit einer Fehlgeburt endet, linke und rechte Positionen geraten gegeneinander, der Arzt bringt eine existentielle Dimension ins Spiel, zulässige und weniger zulässige Liebesbeziehungen entstehen, und auch die Klagen über die vertanen Chancen fehlen nicht. Dies kurz in Stichworten.

Begeisterndes Theater wie seit Jahren nicht

Die „deutsche Erstaufführung“ nach jenen in Basel (Uraufführung) und Österreich fand nun bei den Ruhrfestspielen statt, eine Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, Regie: Jette Steckel. Und diese Produktion, warum lange drumherumreden, ist grandios!

Zweieinhalb Stunden fesselndes Schauspielertheater mit minimalen inszenatorischen Zutaten, sieht man einmal von der (auf der Bühne stehenden, nicht in ihr, wie sonst üblich, versenkten) Drehbühne ab, die sich während der gesamten zweieinhalb Stunden ohne Unterlaß langsam dreht (Bühne: Florian Lösche). Vorwiegend auf ihr (manchmal am Rand neben ihr) agieren die Darsteller, moderat, von der Regie gut geführt. Die permanenten Positionsveränderungen durch die sich drehende Bühne sind sinnhaft, ein paar Stühle reichen als Requisiten aus. Manchmal ein bißchen Musik, so viel Licht wie nötig, ansonsten aber, im besten Sinne: Schauspiel. Ein so begeisterndes Theater hat man seit Jahren nicht mehr gesehen.

Übrigens war die Baseler Inszenierung jetzt beim Mülheimer „Stücke“-Wettbewerb zu sehen. Völlig zu Recht fragt der geschätzte Kollege P. in der WAZ, mit welcher Berechtigung dies eigentlich geschah, ist doch die Substanz von „Vor Sonnenaufgang“ ganz unbestreitbar 100 Jahre alter Gerhart Hauptmann.

Wurzeln im Breakdance

Abgesehen vom Sonnenaufgang war das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen allerdings eher durchwachsen. Die Compagnie Hervé Koubi, die im Marler Theater ihr Stück „Barbarische Nächte oder der erste Morgen der Welt“ (Les nuits barbares) zur Aufführung brachte, überzeugte athletisch weitaus mehr als mit der recht einfallslosen Choreographie. Tolle Sprünge, Heber, Kopfstände; die Ursprünge im Breakdance erkennt man noch, doch haben die jungen Männer auf der Bühne diese Anfänge schon weit hinter sich gelassen.

Bunt bemalte Witzfiguren

Absoluter Tiefpunkt dieses Wochenendes aber war „Die Präsidentin“, eine Produktion des Theaters Magdeburg mit Corinna Harfouch in der Titelrolle. Das Stück spielt mit der Vorstellung, die Kandidatin des Front National wäre französische Präsidentin geworden. Ein französisches Comic-Buch habe als Vorlage gedient. Was also folgt? Scharfe Analysen, emotionslos-kühles Weiterdenken nach Art des Herrn Houellebecq?

Was man tatsächlich zu sehen bekommt, ist das trashige Herumgemache bunt bemalter Witzfiguren, die sich um Posten streiten, Ausländer hassen, den Staatsbankrott herbeiführen und was nicht sonst noch alles. Einfallslos ist diese Darbietung bis über die Schmerzgrenze hinaus, ironiefrei und dumpf. Kindertheater, hätte man früher vielleicht gesagt, aber Kinder würden sich so etwas nicht bieten lassen, jedenfalls nicht zweieinhalb Stunden lang. Nur der Vollständigkeit halber sei es erwähnt: natürlich wird ausgiebig mit der Videokamera gefilmt, werden die Szenen mit den unerquicklich bunt angemalten Mimen überlebensgroß auf eine Leinwand über der Bühne oder auch auf die Bühne selbst projiziert – Theater mit ganz, ganz langem Castorf-Bart.

Corinna Harfouch als Präsidentin mit Krone und Entourage (Foto: Marcel Keller / Ruhrfestspiele)

Wie konnte die Harfouch nur!

Bald schon, hallo Königsdrama, ist auch die Präsidentin dran und wird abgelöst, doch das Stück ist dann noch lange nicht am Ende. Identitäre und Reichsbürger kommen nun (thematisch) zum Zuge, Antifeminismus und, wenn ich jetzt nicht irre, auch noch das eine oder andere Umweltthema und irgend etwas mit Finanzmärkten. Außerdem Putin und seine 5. Kolonne und die hohen Reproduktionsraten der Nordafrikaner, die die Angst vor „Umvolkung“ schüren.

In ihrer Besessenheit, nun aber auch wirklich jedes Bedrohungsthema noch unterzubringen, gehen dieser Produktion (Regie: Cornelia Crombholz) zum Ende hin auch die Positionen verloren, klingen manche Sätze wie der AfD-Werbung entlehnt, was aber sicherlich eher Ausdruck inszenatorischer Inkompetenz ist.

„Die Präsidentin“ – ein Ärgernis. Unverständlich bleibt, warum Corinna Harfouch, die längst bewiesen hat, daß sie eine grandiose Schauspielerin ist, sich für so etwas hergibt. Unvergeßlich ist sie mir noch immer als Martha in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Deutschen Theater. Und jetzt das.

Im Uhrzeigersinn von oben links: Nils, Till, Maja und Lina Beckmann – „die Spielkinder“ (Foto: Die Spielkinder / Ruhrfestspiele)

Die erfrischenden Beckmanns

Für einen versöhnlichen Ausgang dieser kleinen Wochenendbetrachtung sorgten schließlich „Die Spielkinder“, die vier Geschwister Beckmann auf der Sonntagsmatinee im ausverkauften großen Haus. Die Mädels Maja und Lina, sind wohl etwas fernseh- und bühnenbekannter als die Jungs Nils und Till, alle vier haben mit dem Theater zu tun. Als Gäste waren Charly Hübner, Jennifer Ewert und Sebastian Maier mit dabei.

In der gekonnt unperfekt dargebotenen szenischen Lesung kamen neben ein paar Albernheiten Texte von Ralf Rothmann zum Vortrag, Schule, Ohrfeigen, Pubertät, Schlaghosen – aber auch intensive Passagen über Sterben und Tod der Mutter. Erstaunlicherweise paßten sie in diese Veranstaltung recht gut hinein; das muß etwas mit dem familiären Zusammenhalt zu tun haben, mit jener Vertrautheit, die auch den Tod nicht ausblendet.

Wenn man ziemlich genau so alt ist wie Rothmann, ist es übrigens gleichsam ein V-Effekt, daß die Stories, die die Beckmannkinder vortragen und vorspielen, einem in der Grundierung bekannt vorkommen, die jungen Leute das aber auf keinen Fall erlebt haben können. Wenn sie sich die Geschichten trotzdem zu eigen machen und auf ihre Art erzählen, kann man sicher sein, keiner Nostalgieveranstaltung beizuwohnen. Bei den Beckmanns entsteht da Neues, das ist überaus vergnüglich.

So. Nächste große Produktion im Großen Haus ist „König Lear“ in der Regie von Claus Peymann.

www.ruhrfestspiele.de




(Fast) alles über „Kunst & Kohle“: 17 Museen in 13 Revier-Städten stemmen Mammutprojekt zum Ende der Zechen-Ära

Schwarz. Schwarz. Schwarz. Es ist, in mancherlei Schattierungen bis hin zu diversen Grauwerten, der beherrschende „Farb“-Ton dieses wahrlich ausgedehnten Ausstellungsreigens.

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation "Die Trinkenden" im Museum Ostwall im Dortmunder "U". (Foto: Bernd Berke)

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation „Die Trinkenden“ im Museum Ostwall im Dortmunder „U“. (Foto: Bernd Berke)

Hie und da erscheint die Finsternis schon im Titel: Schlichtweg „Schwarz“ lautet er im Bochumer „Museum unter Tage“, „Reichtum: Schwarz ist Gold“ heißt es derweil im Duisburger Lehmbruck-Museum. Anderwärts dominiert das Schwarz jedenfalls die verwendeten Materialien oder wird durch vielfältige Kontraste und sozusagen durch Legierungen anverwandelt. Wirklich kein Wunder, denn es geht ja im gesamten Revier um „Kunst & Kohle“.

Der Ausstellungssommer 2018 hat durchaus fordernden Charakter. Kulturbeflissene müssen sozusagen alles geben (bekommen dafür aber auch etliches geboten): In den letzten Tagen eröffneten eine raumgreifende Schau zur Geschichte des Steinkohle-Bergbaus in Essen und ein fünffach aufgefächertes Friedens-Projekt in Münster. Wir berichteten jeweils. Hier und jetzt aber geht es um eine weitere Unternehmung, die sich aufs Ende des deutschen Bergbaus bezieht und insgesamt alles andere von den Dimensionen her in den Schatten stellt: Gleich 17 Ausstellungshäuser in 13 Städten des Ruhrgebiets vereinen ihre Kräfte just zum revierweiten Ereignis „Kunst & Kohle“, das an den meisten Orten bis zum 16. September dauert.

Hilfreiches Netzwerk der RuhrKunstMuseen

Ohne das gemeinsame Netzwerk jener 20 „RuhrKunstMuseen“, die seit 2008 – damals im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010 – zunehmend kooperieren, wäre der Kraftakt so nicht möglich gewesen. Auf diese Strukturen ließ sich aufbauen, als es darum ging, das weitläufige Themenfeld in aller Vielfalt, Breite und Tiefe darzustellen. Das Ganze soll natürlich auch touristisch beworben werden. Die nicht nur insgeheime Hoffnung: Wer für die Kunst ins Revier kommt, wird hier vielleicht auch ein bisschen „Kohle“ ausgeben.

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Einige Museumsdirektor(innn)en des Reviers und Vertreterinnen der Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Direktor(inn)en diverser Kunstmuseen des Ruhrgebiets und Vertreterinnen der beteiligten Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Sprachspielchen beiseite. Schon seit 2011 liefen die Vorarbeiten zu „Kunst & Kohle“, bereits seit 2007 sah man ja das epochale Datum der letzten Zechenschließungen in Bottrop und Ibbenbüren unweigerlich kommen. Also kann man jetzt (inklusive museumseigener Mittel) auf einen stolzen Etat von 2,5 Millionen Euro zurückgreifen und Arbeiten von rund 150 Künstler(inne)n auf insgesamt 20000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeigen.

Hauptförderer ist mit 750.000 Euro einmal mehr die RAG-Stiftung, die vor allem gegründet wurde, um die enormen „Ewigkeitskosten“ (Grundwasserschutz etc.) nach dem Ende des Bergbaus zu tragen, welche jährlich rund 220 Millionen Euro ausmachen dürften. Das Stiftungsvermögen liegt allerdings auch, wie es in vornehmer Diskretion hieß, im „niedrigen zweistelligen Milliardenbereich“, so dass auch noch dies und das für Kultur und Bildung übrig bleibt. Außerdem sind bei „Kunst & Kohle“ u. a. die Kunst Stiftung NRW und die Brost Stiftung mit an Bord.

Im Bottroper Josef Albers Museum ausgestellt: Bernd und Hilla Becher "Fördertürme" (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur - Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Im Bottroper Josef Albers Museum: Bernd und Hilla Becher „Fördertürme“ (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, Courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Wie bekommt man das in den Griff?

Das sind fürwahr imponierende Zahlen und Fakten. Doch wie bekommt man das gesamte, nahezu monströse Unterfangen als Besucher (oder Berichterstatter) „in den Griff“? Wie kann man sich welche Schneisen schlagen?

Wie zu hören war, schicken sich mehrere Regional-Zeitungen an, mit all den einzelnen Ausstellungen gleichsam in Serie zu gehen und so auch das von Journalisten gefürchtete „Sommerloch“ Stück für Stück zu füllen. Glückauf dazu! Wir bringen hingegen einen schier endlosen „Riemen“, der dennoch nur Hinweise und Stichworte enthalten kann…

Die einstige Bergbaustadt Hamm ist leider nicht dabei

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge "Drawing for Mine", Kohlezeichnung (1991) (© William Kentridge)

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge „Drawing for Mine“, Kohlezeichnung (1991). (© William Kentridge)

Einstweilen muss ich freimütig bekennen, nicht etwa alle 17 Ausstellungen gesehen zu haben. Das kann – außer dem federführenden Koordinator Prof. Ferdinand Ullrich (vormals Leiter der Kunsthalle Recklinghausen) – bisher wohl niemand von sich behaupten. Es ist ja auch schön, die Auswahl unter so vielen Optionen zu haben. Zur Erschließung größerer Bereiche werden (kostenlose!) Bustouren angeboten, die jeweils zu drei Ausstellungen führen. Ich habe fürs Erste eine westfälische Route im östlichen Ruhrgebiet vorgezogen – mit den Stationen Herne, Dortmund und Unna.

Apropos Ost-Revier: Hamm, früher eine ausgesprochene Bergbaustadt mit mehreren großen Zechen (Sachsen, Radbod, Heinrich Robert) ist aus unerfindlichen Gründen nicht am Projekt beteiligt. Freilich war das dortige Gustav-Lübcke-Museum in den letzten Jahren auch nicht mit personeller Kontinuität gesegnet. In Hagen, dessen zwei Kunstmuseen auch nicht mitmachen, hat man’s eh weniger mit der Steinkohle gehabt. Sonst aber sind praktisch alle Ecken und Enden der Region mit von der Partie.

Spektakuläre Verhüllung des Herner Schlosses mit Jutesäcken

Nun geht’s aber auf die Tour:

In Herne ist das größte und spektakulärste Kunst-Signal schon aus einiger Entfernung sichtbar. Dort hat der aus Ghana stammende Ibrahim Mahama, der auch schon die letzte documenta bereicherte, große Teile des Schlosses Strünkede unter dem bezeichnenden Titel „Coal Market“ mit Jutesäcken verhüllt. Anders als Christo, ist es ihm nicht in erster Linie um die ästhetische oder gar ästhetisierende Wirkung zu tun, seine Arbeit ist vor allem mit gesellschaftlicher und politischer Bedeutung aufgeladen.

Die in Asien gefertigten, überwiegend in Afrika verwendeten, nunmehr zerschnittenen und sodann in vielen Arbeitsstunden von freiwilligen Helfern miteinander vernähten Jutesäcke sind sichtlich gebrauchte Exemplare, sie riechen buchstäblich noch nach dem Schmutz und nach der Knochenarbeit auf den Transportwegen durch Afrika und auf interkontinentalen Strecken. In etlichen Säcken wurde tatsächlich Kohle transportiert (etwa von Afrika nach Europa), in anderen beispielsweise Lebensmittel. Wenn ein eher herrschaftliches Gebäude wie das Schloss damit verhüllt wird, ist dies eine nachdrückliche, auch provokante Erinnerung an globale Kapitalströme und weltweiten Warenverkehr, in dem vielen Ländern hauptsächlich die Drecksarbeit bleibt.

Trotzdem freut man sich in Herne über den ungewohnten Anblick. Das Schloss ist nämlich beliebte Kulisse für viele Hochzeiten. Es soll Brautpaare geben, die es kaum noch erwarten können, hier und möglichst bald zu heiraten, denn so besonders wird das alte Gemäuer später wahrscheinlich nie wieder aussehen…

Die Verwandlung von Holz durch Feuer

Weiter zur zweiten Station in Herne: In den Flottmann-Werken wurde einst der Abbauhammer erfunden und produziert, mit dem die Massenproduktion in den Revierzechen recht eigentlich begonnen hat. Heute sind von den vielen Werksgebäuden „nur“ noch die Flottmannhallen übrig. Dort stellt jetzt der englische Bildhauer und Zeichner David Nash seine Arbeiten aus, die gerade in dieser lichten Ausstellungshalle wunderbar zur Geltung kommen. Sie fügen sich derart gut zum Generalthema Kohle, dass man meinen könnte, es seien eigens hierfür ausgeführte Auftragsarbeiten. Doch das ist nicht der Fall.

Blick in die Ausstellung mit Arbeiten von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Nash ist vorwiegend Holzbildhauer, doch seine in Herne präsentierten Skulpturen haben gleichwohl die Anmutung von Steinkohle-Produkten. Er rückt dem Holz mit Kettensägen,  Bunsenbrennern, zuweilen auch mit Flammenwerfern zuleibe und lässt es allseits gezielt verkohlen. Vorzugsweise sind die Skulpturen nicht zusammengefügt, sondern aus einem großen Stück herausgearbeitet. Aus all dem ergibt sich ein anregendes Wechselspiel zwischen natürlichen Oberflächen (Risse und Sprünge im Holz) sowie geometrischen Figurationen. Hier und in Nashs Zeichnungen wird man gewahr, wie vielfältig die Valeurs zwischen Schwarz, Grau und Weiß sind.

Auf nach Dortmund, durch den üblichen Nachmittagsstau. Hier geht es ins Museum Ostwall im Dortmunder „U“, sechste Etage. Edwin Jacobs, Direktor des Hauses, ist zugleich Sprecher des eingangs erwähnten Verbundes der RuhrKunstMuseen.

Bergmännische Laienkunst im Kontrast zu professionellen Positionen

Bergbau gilt gemeinhin als Männersache, doch hier haben sich drei Kuratorinnen Aspekten des Themas gewidmet: Regina Selter (stellv. Direktorin), Karoline Sieg und Caro Delsing. Sie haben nicht nur ermittelt und in einer Karte visualisiert, dass es in der Hoch(ofen)zeit der 50er/60er Jahre in Dortmund 15 fördernde Zechen gegeben hat. Sie haben zudem die Geschichte des Museums erforscht und herausgefunden, dass Leonie Reygers, die Gründungsdirektorin nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Faible für naive Kunst und Laienkunst hatte. Demgemäß richtete sie einen entsprechenden Sammlungsschwerpunkt ein. Naive Kunst aus Paris zeigte sie schon 1952 unter dem heute treuherzig klingenden Titel „Maler des einfältigen Herzens“.

All das war Anlass genug, um im ersten Teil der Ausstellung die Bilder einiger naiver Künstler aus der Ostwall-Sammlung und vor allem Beispiele fürs Schaffen bergmännischer Laienkünstler zu versammeln. Gewiss, manche von ihnen haben zu einem eigenen Stil und eigenen Ausdrucksformen gefunden. Dennoch deutet schon die drangvoll enge „Petersburger Hängung“ darauf hin, dass die künstlerische Wertschätzung für diese Arbeiten insgesamt auch ihre Grenzen hat. Es sind teilweise etwas unbedarfte Idyllen. Doch ein paar Bilder künden auch von Ängsten und Alpträumen der Arbeitswelt.

Wenn Dinge des Bergbaus zu abstrakten Mustern geraten

Es geht ein deutlicher Riss durch diese Dortmunder Ausstellung, der auch gar nicht gekittet werden soll. Getrennt durch einen Kreativbereich, in dem Besucher sich einschlägig betätigen können, folgen als Teil zwei einige gegenwärtige künstlerische Positionen, die denn doch völlig andere, ungleich reflektiertere Zugänge zum Thema Kohle eröffnen – freilich sozusagen „von außen“ her, aus der Perspektive des professionellen Kunstbetriebs und lange nach der eigentlichen Zechenzeit.

Abstrakte Wirkung: Andreas Gursky "Hamm, Bergwerk Ost" (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 - Courtesy Sprüth Magers)

Abstrakte Wirkung aufgehängter Bergmannskleidung in der Waschkaue: Andreas Gursky „Hamm, Bergwerk Ost“ (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 – Courtesy Sprüth Magers)

Das Spektrum reicht hier von Andreas Gurskys Fotografie „Hamm, Bergwerk Ost“, der die aufgehängte Bergmannskleidung in der Waschkaue zu einer geradezu abstrakten Komposition verwandelt, beispielsweise bis zum Bochumer Künstler Marcus Kiel, der textile Hinterlassenschaften von Bergmännern zu einer – ebenfalls abstrakt wirkenden – Wandinstallation von gehöriger Größe zusammengefügt hat. Es sind dies originelle Bergbau-„Denkmäler“ besonderen Zuschnitts – und von besonderer Güte. Fron und Schweiß der bergmännischen Maloche haben sie allerdings weit hinter sich gelassen.

Die „Heilige Barbara“ als Modepuppe

Bemerkenswert z. B. auch die Arbeiten zweier Frauen: Die Modedesignerin und Künstlerin Eva Gronbach hat eine gesichtslose Frauenfigur mit leichtem Sommerkleid auf einen Haufen mit grober Bergmannskleidung postiert. Bei näherem Hinsehen merkt man, dass auch die Frauenmode aus recycelter Bergmannskluft gewonnen wurde. Überdies erweist sich die Figur als Anspielung auf die „Heilige Barbara“, die Schutzpatronin der Bergleute. Hier stellt sich recht deutlich die Frage nach einer Zukunft jenseits des Bergbaus, auf die auch die gesamte Ausstellungs-Serie zu gewissen Teilen abhebt. Nicht nur ein mehr oder weniger wehmütiger Abschied von der Kohle soll gefeiert werden, sondern man will erklärtermaßen auch Grüße in die heraufdämmernde Zukunft aussenden. Wohl auch darauf spielt der lokale Dortmunder Ausstellungstitel „Schichtwechsel“ an.

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit "Was vergeht, was bleibt, was entsteht". (Foto: Bernd Berke)

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit „Was vergeht, was bleibt, was entsteht“. (Foto: Bernd Berke)

Der zweite Frauenname folgt sogleich: Alicja Kwade fasziniert mit ihrer Installation „Die Trinkenden“, in der höchst konventionelle Porzellan-Nymphen („weißes Gold“) am Fuß einer Kohlehalde („schwarzes Gold“) knien. Daraus erwächst eine durchaus rätselhafte Spannung. Wer mehr von dieser Künstlerin sehen will, hat dazu reichlich Gelegenheit: Das Kunstmuseum in Gelsenkirchen widmet ihr im „Kunst & Kohle“-Kontext eine Einzelausstellung.

Überhaupt finden sich Querbezüge zwischen den Museen. Einen losen Anknüpfungspunkt gibt es etwa nach Oberhausen, wo in der Ludwiggalerie Bergbau- und Kumpel-Figuren im Comic das Spezialgebiet sind. Auch in Dortmund sieht man eine Arbeit in diesem Geiste: Stephanie Brysch, also eine weitere Frau, hat ihre Collage „Unter Tage“ aus Comic-Figuren erstellt, die sich allesamt unter die Erdoberfläche begeben.

In Dortmund drei Kuratorinnen, in Unna drei Künstlerinnen

Nun aber noch etwas weiter ostwärts nach Unna. Dort befindet sich das weit und breit einmalige Zentrum für internationale Lichtkunst mit etlichen „Ikonen“ des Metiers. Und siehe da: Hier sind drei Künstlerinnen mit ihren Licht-Installationen gar unter sich. Bergbau als Männersache? Das gilt längst nicht mehr, wenn es um die ästhetischen Hinterlassenschaften und die weiteren Aussichten geht.

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers' Neon-Installation "Mein Berg" (2015) (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers‘ Neon-Installation „Mijn Berg“ (Mein Berg,  2015). (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Das Lichtkunst-Museum ist thematisch von vornherein prädestiniert, geht es doch zum Rundgang durch die ehemalige Linden-Brauerei einige Meter abwärts in den früheren Gärkeller; wenn man so will: unter Tage. Alle drei Installationen der meditativen Ausstellung „Down here – Up there“ (Hier unten, dort oben) spielen mit wechselnden Effekten von Licht und Dunkelheit.

Die Niederländerin Diana Ramaekers hat rot gefärbten Neonröhren montiert, deren Licht langsam entsteht und verlischt, immer und immer wieder – ein geheimnisvoller Energiefluss in der Dunkelheit. Nicola Schrudde hat ihren vielschichtigen Raum unter dem Titel „Schwarzdichte“ mit keramischen Plastiken und Videoloops so gestaltet, dass man nur allmählich und schemenhaft erkennt, was sich da begibt. Offenbar werden Kräfte der Natur beschworen, die in der Zukunft des Ruhrgebiets wieder mehr hervortreten sollen.

Schließlich Dorette Sturms raumfüllende „Breathing Cloud“, eine atmende Wolke also, die stets an- und abschwillt. Sehr sanftmütig kommt einem das vor – wie eine milde Verheißung. Man mag an die einst so schwarzen Wolken denken, die „damals“ über dem Revier hingen. Nun füllen sie sich offenbar mit neuem Leben. Und die Schwärze ist geschwunden.

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„Kunst & Kohle“: je nach Stadt ab 2., 3., 5. oder 6. Mai (Ausnahme: Küppersmühle in Duisburg erst ab 8. Juni). In den meisten Museen bis zum 16. September (Ausnahmen: Dortmunder „U“ nur bis 12. August, Museum Folkwang Essen nur bis 5. August).

Die beteiligten Museen (nach Städte-Alphabet) und ihre Themen:

Kunstmuseum (Bochum): Andreas Golinski „In den Tiefen der Erinnerung“
Museum Unter Tage (Bochum):
„Schwarz“
Josef Albers Museum (Bottrop):
Bernd und Hilla Becher – Bergwerke
Museum Ostwall im „U“ (Dortmund): „
Schichtwechsel“ – von der (bergmännischen) Laienkunst zur Gegenwartskunst
Lehmbruck-Museum (Duisburg): „
Reichtum: Schwarz ist Gold“
Museum DKM (Duisburg): „
Die schwarze Seite“
Museum Küppersmühle (Duisburg):
Hommage an Jannis Kounellis
Museum Folkwang (Essen):
Hermann Kätelhön – Ideallandschaft: Ruhrgebiet
Kunstmuseum (Gelsenkirchen):
Alicja Kwade
Flottmann-Hallen (Herne):
David Nash
Emschertal-Museum / Schloss Strünkede (Herne): „
Coal Market“ – Verhüllung durch Ibrahim Mahama
Skulpturenmuseum Glaskasten (Marl): „
The Battle of Coal“
Kunstmuseum (Mülheim/Ruhr):
Helga Griffiths „Die Essenz der Kohle“
Ludwiggalerie im Schloss (Oberhausen): „
Glück auf! Comics und Cartoons“
Kunsthalle (Recklinghausen):
Gert & Uwe Tobias
Zentrum für Internationale Lichtkunst (Unna): „
Down here – up there“
Märkisches Museum (Witten):
Vom Auf- und Abstieg

25 Euro (ermäßigt 15 Euro) kostet ein Kombi-Ticket, das auch zum mehrmaligen Besuch aller Ausstellungen über den gesamten Zeitraum berechtigt. Erhältlich in allen teilnehmenden Museen und unter der Ticket-Hotline der Ruhr Tourismus GmbH: 01806/18 16 50.

Kostenlose Bustouren, jeweils zu drei beteiligten Museen (ca. fünfeinhalb Stunden lang). Termine im Ausstellungs-Booklet: Anmeldungen unter buchungen@ruhrkunstmuseen.com oder telefonisch: 0203/93 55 54 723

Massiver Katalog in 17 Bänden im Wienand-Verlag, begrenzte Auflage der Gesamt-Publikation im großen Schuber, ansonsten in Einzelexemplaren für die beteiligten Museen erhältlich. Zur ersten Orientierung gibt es zudem ein Gratis-Booklet mit knappen Infos zu allen Ausstellungen.

Alle weiteren Informationen unter:

www.ruhrkunstmuseen.com/kunst-kohle.html




Durchs „Schwarze Gold“ wurde Europa hell und bunt: Schau auf Zeche Zollverein zelebriert das Kohle-Zeitalter

Bergmann und Grubenpferd als "Arbeitskameraden", Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Bergmann und Grubenpferd als „Arbeitskameraden“, Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Im Dezember ist Schicht im Schacht, dann wird mit Schließung der Bottroper Zeche Prosper-Haniel das Steinkohle-Zeitalter im Ruhrgebiet und damit in ganz Deutschland enden. Da sollte man sich noch einmal bewusst machen, was die Kohle eigentlich bedeutet hat. Jetzt gibt es Gelegenheit. Und wie!

Eine geradezu ausufernde Ausstellung in Essen schickt sich an, uns die Sinne zu öffnen, wenn man sich denn von der betäubenden Menge und Vielfalt nicht ins Bockshorn jagen lässt: „Das Zeitalter der Kohle“ heißt sie, laut Untertitel erzählt sie (wohl auch wegen entsprechender Fördermittel) „eine europäische Geschichte“, und zwar so ungefähr seit 1800 bis heute. Die Macher wissen nicht einmal so ganz genau, ob sie nun rund 1000 oder 1200 Exponate zeigen. Ist ja im Endeffekt auch zweitrangig.

Treibstoff der Moderne

Ohne Kohle keine Moderne. Auf diese knappe Formel könnte man den „Parcours“ (so sportlich benennen sie in Essen den Rundgang) auf mehreren Ebenen in der gigantischen Mischanlage der Zeche Zollverein bringen. Beispielsweise hätte es ohne Kohle keine künstlichen Farbstoffe gegeben. Plakativ gesagt: Die Welt wurde bunt, während die Bergleute unter Tage schwarz wurden. Eine grandiose Installation aus etwa 3000 bis 4000 Original-Fläschchen mit derlei Farbstoffen führt das Ausmaß vor Augen. Auch hier hat wohl niemand exakt nachgezählt, es kommt halt auf den optischen Gesamteindruck an.

Aus Kohle entstanden: Tausende Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Aus Kohle entstandene Substanzen: Mehrere Tausend Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Die Welt wurde nicht nur bunter, sondern auch heller, denn die Gaslaternen, die damals immer mehr Städte erleuchteten, hätte es ohne Kohle so ebenfalls nicht gegeben. Ohne Kohle und ihre Nebenprodukte wären schließlich auch die Anfänge der modernen Chemie undenkbar gewesen. Da reden wir unter anderem von lebenswichtigen Medikamenten. Und von Düngemitteln. Von Bakelit. Und und und.

Keim des einigen Kontinents

Weit mehr noch: Mit Kohle wurden Dampfmaschinen angetrieben, hernach auch Dampflokomotiven und Dampfschiffe. Also änderte sich die Verkehrs-Infrastruktur grundlegend. Mit Kohle-Energie wurden sodann auch die verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts geführt, Kohle und Stahl galten als besonders „kriegswichtig“. Diesem Aspekt ist ein Extra-Kapitel der Ausstellung gewidmet.

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Und wie war das noch mit Europa? Nun, die Kohle, sprich die Gründung der Montanunion im Jahr 1951, stand am Beginn des europäische Einigungsprozesses. Der Impuls, der dahinter stand: Nie wieder sollten auf diesem Kontinent Kriege um Energie geführt werden. Ohne Kohle auch keine EU? Hört sich gewagt an, aber in den Anfängen ist was dran. In Essen kann man jetzt das staunenswert gut erhaltene Gründungsdokument des europäischen Kohleverbundes sehen – u. a. mit den Unterschriften von Robert Schuman und Konrad Adenauer, der nicht als Kanzler, sondern in seiner damals zusätzlichen Eigenschaft als Außenminister signierte.

Gewichtiger Auftakt zur Ausstellung: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest der größte in Deutschland. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewichtiger Auftakt zum Rundgang: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest in Deutschland der größte. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewaltige Geschichten

Man ahnt: Die Bedeutung der Kohle kann schwerlich überschätzt werden, sie hat tatsächlich ein ganzes Zeitalter geprägt, im Ruhrgebiet und anderswo bis tief in die Sozialstrukturen und in den Alltag hinein. Gewaltige Geschichten von Migration, Klassenkämpfen und Naturzerstörung sind hierbei zu erzählen. Was freilich gleichfalls stimmt: Die Kohlegewinnung hat auch einige Waldstücke gerettet, denn sonst wäre viel mehr Holz verbrannt worden.

All diese Phänomene – und einige Verzweigungen mehr – werden in der Schau aufgegriffen, für die das Ruhr Museum und das Deutsche Bergbau-Museum Bochum ihre eh schon gehörigen Kräfte vereint haben, als Hauptförderer tritt zudem die RAG-Stiftung in Erscheinung. Der Gesamtetat beträgt deutlich über 2 Millionen Euro, bei 80.000 Besuchern wäre man finanziell „aus dem Schneider“. Heinrich Theodor Grütter, Chef des Ruhr Museums, wäre sicherlich noch zufriedener, wenn um die 100.000 kämen.

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Zugang auch per Standseilbahn

Falls es so viele Besucher sein werden, so müssten sie sich beim originellsten Zugang per Standseilbahn (150 Meter) gewiss auf längere Wartezeiten einrichten, denn hier können immer nur wenige Leute auf einmal zusteigen. Aber man kann ja auch mit dem Aufzug ganz nach oben fahren, wo die Schau beginnt und dann etagenweise abwärts führt. So geht es sich allemal bequemer, als wenn man „bergauf“ müsste. Außerdem ist es themengerecht, denn man kann sich dabei Gänge und Fahrten in die Tiefe besser vorstellen. Rein theoretisch, versteht sich.

Der immense Aufwand ist jedenfalls angemessen. Denn derart vielfältig ist die Themenpalette, dass natürlich selbst über 1000 Ausstellungsstücke bei weitem nicht ausreichen, das Spektrum in aller Breite und Tiefe darzustellen. So erschöpft sich selbst diese streckenweise strapaziöse Groß-Inszenierung notgedrungen in lauter Hinweisen und Anspielungen, die füglich zu ergänzen wären. Will man mehr Durchblick und Zusammenhang, so wird man sich wohl den Katalog zulegen und/oder eine Führung buchen müssen. Auch wäre ein mehrfacher Besuch ratsam. Dann kann man sich auch eingehender den Grundsatzfragen widmen, wie etwa der, warum Menschen eigentlich auf die wahnwitzige Idee gekommen sind, derart brachial in die Tiefen der Erde vorzudringen.

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Kohlegürtel von England bis zur Ukraine

Um 1750/1800 begann zwar in einem europäischen West-Ost-Gürtel, der schließlich von England über Nordfrankreich, Belgien und das Ruhrgebiet bis in die Ukraine reichte, das eigentliche Kohle-Zeitalter mit zusehends intensiverem Abbau. Doch blickt die Ausstellung gleich eingangs noch viel weiter zurück, nämlich um einige Millionen Jahre, als das nachmalige „Schwarze Gold“ ursprünglich aus Farnwäldern entstanden ist. Man hat eine australische Sorte aufgetrieben, die den damaligen Gewächsen recht ähnlich sein soll. Daneben thront ein kolossales Stück Kohle, es ist wohl mindestens das größte in Deutschland, wenn nicht noch weiterer Superlative würdig: Sieben Tonnen wiegt der Würfel, er wäre längst gebröckelt, hielte ihn nicht Epoxidharz zusammen. Das Schaustück wurde – abseits der üblichen Produktion – anno 2016 abgebaut.

Ein Mobile aus Arbeitswerkzeug

So ist man denn eingestimmt auf die Inszenierungen der (Stuttgarter) Gestaltungs-Agentur „Space 4“, die sich beispielsweise ein Riesen-Mobile aus bergmännischem Gerät ausgedacht und implantiert hat. Überhaupt bietet die Ausstellung etliche imponierende Schauwerte und Punkte zum Innehalten. So manches Objekt verströmt überdies die Aura des Authentischen, die über das rein Museale hinausweist. Leitidee im Kernbestand der Ausstellung ist die vielfältige Bedeutung von Feuer, Wasser, Luft und Erde für den Bergbau. Man geht also ganz elementar ans Thema heran.

Lebensrettender Schuh

Welche weiteren Stücke soll man aus der Fülle nun besonders hervorheben? Das Ensemble der historischen Gaslaternen, die über den Köpfen der Besucher schweben? Die Wandtapete mit Darstellung der Eisenbahn von St. Ètienne nach Lyon? Die internationale Gemäldegalerie mit Porträts steinreich gewordener „Schlotbarone“? Die vielen prägnanten Fotografien, die vom Alltag der Bergleute und von nahezu mörderischen Arbeitsbedingungen zeugen? Vielleicht jenen unscheinbaren Arbeitsschuh des Hauers Fritz Wienpahl, der 1930 in der Castroper Zeche Victor verschüttet wurde und just diesen Schuh als lebensrettendes Trinkgefäß verwenden konnte? Die gewaltigen Gerätschaften auf dem Freigelände um die Mischanlage, die als eine Art Skulpturenpark präsentiert werden? Oder jenes Dokument, welches belegt, dass sich schon 1962 in Essen eine Interessengeminschaft gegen Luftverschmutzung im Revier formierte?

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Wehmut und Zukunft

Doch vergessen wir nicht die eher unspektakulären Momente, die das Ganze einrahmen: Ganz zu Beginn blicken wir in die gleichermaßen erschöpften und stolzen Gesichter von Bergleuten direkt nach der Schicht; am Schluss sehen wir Video-Aufzeichnungen ehemaliger Kumpel, die darüber nachdenken, was das Ende des Bergbaus für sie und für die Region bedeutet. Einer sagt fassungslos: „Da stehsse da. Wat machsse denn jetz?“ Überhaupt vernimmt man da viel Wehmut und Resignation, gegen die all die vielen Kohle-Kulturprojekte dieses Jahres unter dem Strukturwandel-Motto „Glückauf Zukunft!“ angehen wollen. Es möge nützen.

Der Abschied von der Kohle vollzog sich in unseren Breiten übrigens deutlich glimpflicher als in England. Dort fielen die Menschen in der berüchtigten Thatcher-Ära tatsächlich ins „Bergfreie“ und in die Verarmung. Auch dazu gibt es Exponate in Essen, so einen Solidaritätsaufruf aus dem Ruhrgebiet für die britischen Kollegen – und ein Plakat zum Benefizkonzert der Gruppe „Clash“ von 1984.

„Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“. 27. April bis 11. November 2018. Essen, Unesco-Weltkulturerbe Zeche Zollverein, Areal C (Kokerei), Mischanlage (C 70), Eingang am Wiegeturm, Arendahls Wiese.

Geöffnet täglich Mo-So 10-18 Uhr, Eintritt 10 €, ermäßigt 7 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie Studierende unter 25.

Öffentliche Führungen Mo-So 11 Uhr, 90 Minuten, 3€ pro Person plus Eintritt (Infos/Buchungen Tel. 0201 / 24681-444 und per Mail: besucherdienst@ruhrmuseum.de), Audioguide 3 €. Katalog (Klartext Verlag) 24,95 €. Umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Exkursionen usw.

Mehr Infos: www.zeitalterderkohle.de

 

 




Ein Herz für die Sammlung und eine Absage an Blockbuster – Peter Gorschlüter wird neuer Direktor des Folkwang-Museums

Peter Gorschlüter (geb. 1974 in Mainz) wird der neue Direktor des Essener Folkwang-Museums. Bis er kommt, dauert es allerdings noch etwas. Sein Vertrag mit dem Museum für moderne Kunst (MMK) in Frankfurt endet erst Mitte 2018. Gorschlüters anschließender Essener Vertrag soll über acht Jahre laufen, und man darf gespannt sein, ob er es hier so lange aushält.

Peter Gorschlüter wird zum 1. Juli Direktor des Essener Folkwang-Museums.(Foto: rp)

Gorschlüters Vorgänger waren schneller wieder weg; Hubertus Gassner zog es 2006 nach nur vier Jahren in die Hamburger Kunsthalle, Hartwig Fischer, wiewohl erster Chef im neuen Chipperfield-Gebäude, verließ Essen nach sechs Jahren in Richtung Dresden (dann London), Tobia Bezzola wechselte jetzt nach fünf Jahren gen Lugano, um sich dort dem Aufbau des Museo d’arte della Svizzera italiana zu widmen.

Überstürzter Abschied

Zwar war in den letzten Jahren manchmal zu hören, daß es Tobia Bezzola in Essen nicht wirklich gut gefiele, trotzdem kam sein vorzeitiger Abgang etwas überraschend, zumal seine Leistungsbilanz sich sehen lassen kann. Man denke etwa an die Ausstellung des Fotografen Thomas Struth, an die deutschlandweit erste Präsentation der edlen zeitgenössischen Sammlung François Pinaults oder die Lagerfeld-Schau. Auch die Entscheidung der Krupp-Stiftung, fünf Jahre lang freien Eintritt in die Folkwang-Sammlung zu finanzieren, fiel in Bezzolas Amtszeit. Die Absage der Balthus-Ausstellung wegen des vehement erhobenen Pädophilie-Vorwurfs gegen Künstler und Werk im Jahr 2013 wiederum kann sicherlich nicht als Ausdruck persönlichen Scheiterns des Museumsdirektors gesehen werden.

Andrea Bezzolas Ausstellungen hatten Strahlkraft

Bezzola weiß um die Bedeutung großer Veranstaltungen für ein großes Haus, um deren Strahlkraft und Attraktivität. Es muß ja nicht gleich ein „Blockbuster“ sein wie vor 17 Jahren die Turner-Schau. Die wäre heutzutage, ohne potente Sponsoren und angesichts immer höherer Versicherungsprämien, sowieso nicht mehr vorstellbar.

Gorschlüter jedoch hält von Blockbustern wenig, er nennt sie nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen möchte er andere Formen der Museumsarbeit erschließen, die er im Pressegspräch kurz umriß. So strebt er „Interdisziplinäre Ausstellungsformate“ an, die Kunst etwa mit Mode, Musik oder Theater verbinden sollen. Mit „gemeinsamen Themenschwerpunkten“ möchte er unterschiedliche Teile der Sammlung neu präsentieren, „Vergangenheit und Zukunft“ oder „Utopie und Dystopie“ wären vorstellbare Überschriften. Auch zahlreiche Aspekte des Riesenthemas „Großstadt“ böten sich an.

Kooperieren und kartographieren

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt, so Gorschlüter, könnten Kooperationen mit Künstlern aus anderen Disziplinen sein. In Liverpool zum Beispiel, einer seiner früheren Wirkungsstätten, arbeitete der neue Folkwang-Chef mit Carol Ann Duffy zusammen, der Hofdichterin der Queen immerhin.

Die Sammlung möchte Gorschlüter „neu kartographieren“, aufs Neue sozusagen fragen nach den Beziehungen zu anderen Kulturen, zu bisher unberücksichtigten Impulsen. Dies sei ein lohnender Ansatz auch für eine gewachsene Sammlung.

Schließlich geht es Gorschlüter um den Dialog des Museums mit der Stadtgesellschaft. Das Museum solle sich durchaus stärker in Richtung Innenstadt bewegen, gerne auch performativ.

100 Jahre Folkwang – ein trauriger Tag für Hagener

Das konkreteste Projekt der vor ihm liegenden Amtszeit indes ist definitiv für das Jahr 2022 vorgesehen. Da wird das Essener Folkwang-Museum nämlich 100 Jahre alt. „Ich denke daran, das Museum dann in die Stadt zu bringen“, sagt Gorschlüter.

Sollen sie feiern, die Essener, es sei ihnen gegönnt. Weiter östlich im Revier wird das Fest gemischte Gefühle auslösen, markiert es doch den Verlust der einzigartigen Osthaus-Sammlung für die Stadt Hagen. Tröstlich ist da lediglich das Wissen, daß das Essener Folkwang-Museum mit der Osthaus-Sammlung gut umgegangen ist und dies, da sind wir ganz sicher, auch in Zukunft tun wird. Gorschlüter zeigt sich der Osthaus-Tradition bewußt und strebt (auch) deshalb eine enge Kooperation mit dem Fotoarchiv Marburg an, wo im Jahre 1933, was aber kaum einer weiß, das Fotoarchiv von Karl-Ernst-Osthaus verblieb.

Gern auf Augenhöhe mit Ludwig und MoMA

Tja. Um mal kurz persönlich zu werden: Ich hätte nichts gegen einige Ausstellungen, die bundesweit oder auch in den Nachbarländern wahrgenommen würden und Folkwang zumindest zeitweise auf Augenhöhe mit Ludwig in Köln oder Gropius in Berlin brächten (oder MoMA in New York oder Centre Pompidou in Paris usw.).

Es wäre schon sehr schön, wenn man Finanzierungsmöglichkeiten fände, um die eine oder andere große, „wandernde“ Schau nach Essen zu holen; es wäre auch sehr gut für die Wahrnehmung all dessen, was Folkwang überdies zu bieten hat, allem voran natürlich die eigene Sammlung. Die starke Fokussierung der Museumsarbeit auf den Eigenbestand, die in den programmatischen Äußerungen Gorschlüters anklang, kann hingegen zu einem Bedeutungsverlust des Hauses führen.

Kuratoren gesucht

Doch man soll nicht unken. Der neue Mann muß sich noch etwas sortieren für seinen neuen Job, „ein halbes Jahr Findung – die Zeit braucht es“ sagt er selbst. Und dann schauen wir mal.

Wichtig ist natürlich auch, daß bald neue Leute für die beiden anderen Vakanzen im Folkwang-Museum gefunden werden. Nach dem Weggang von Florian Ebner wird ein neuer Kurator für die fotografische Sammlung gesucht, ebenso einer für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.




Heikle Situation für Dortmund: Gerät das Deutsche Fußballmuseum finanziell ins Minus?

Der frühere Rundschau-Kollege Gregor Beushausen hat jetzt recherchiert, was man quasi von Anfang an befürchten musste: Offenbar steht es ums Deutsche Fußballmuseum in Dortmund finanziell nicht gerade rosig. Laut Bericht drohen mittelfristig gar rote Zahlen.

Das Deutsche Fußbballmuseum hat in Dortmund keinen allzu markanten Architektur-Auftritt. Es ist das flache weiße Gebäude ganz links im BIld. (Foto = Ausblick vom "U"-Turm: Bernd Berke)

Das Deutsche Fußballmuseum hat in Dortmund keinen allzu markanten Architektur-Auftritt. Es ist das flache helle Gebäude ganz links. (Foto = Ausblick vom „U“-Turm: Bernd Berke)

Die Stadt begibt sich demnach dringlich auf weitere Sponsorensuche fürs Fußballmuseum und will diverse Förderer überreden, ihre Beträge aufzustocken. Beushausen deutet an, dass dies – falls es überhaupt geschieht – auf Kosten anderer Einrichtungen gehen dürfte. Beispiel: Der örtliche Energieversorger DEW21 stellt anscheinend die Förderung so um, dass das „einst mit mehreren Zehntausend Euro pro Jahr“ unterstützte Konzerthaus „in die Röhre“ gucke. Oha!

Im Vertrauen gesagt: Angesichts solcher Perspektiven bin ich doppelt froh, kürzlich Strom- und Gasvertrag bei DEW21 gekündigt zu haben und zu einem günstigeren Anbieter gewechselt zu sein. Dortmunder Stallgeruch brauche ich bei Strom- und Gaslieferungen bestimmt nicht. Den brauchen höchstens jene Sozialdemokraten, die bei derlei kommunalen Unternehmen wahrlich wohlversorgt auf die Leitungsebene gehievt werden.

Jedenfalls habe ich so gar keine Lust, das von der vielfach gebeutelten Stadt Dortmund und dem pekuniär weitaus besser gestellten Deutschen Fußballbund (DFB) gemeinsam getragene Fußballmuseum indirekt nochmals mitzufinanzieren. Als Steuerzahler und Bürger dieser Gemeinde gibt man ja eh schon sein Scherflein. Oder sollte es sich um ein ausgewachsenes Scherf handeln?

Scherz beiseite. Die ernste Sache ist die: Bis zu einem Defizit von 500.000 Euro haften Stadt Dortmund und DFB gleichermaßen. Was darüber hinaus geht, muss nach den jetzigen Verträgen die Stadt allein tragen, die eh schon etliche Sach- und Personalleistungen beisteuert.

Da wird man schon fragen dürfen, ob die Vertreter Dortmunds im Vorfeld geschickt verhandelt haben oder ob sie sich haben blenden lassen. Sollten sie das Potenzial und die bundesweite Anziehungskraft des Hauses überschätzt haben? Kämmerer und Stadtdirektor Jörg Stüdemann möchte jetzt aus guten Gründen im Sinne der Kommune nachjustieren. Für dieses enorm ambitionierte Unterfangen ist ihm Fortune zu wünschen. Ob der DFB tatsächlich ein Einsehen haben wird?

Gewiss: Dortmund hat mehrere andere Bewerber-Städte aus dem Feld geschlagen, als es um den Standort des Museums ging. Mehr noch: Die Auslosungen zu den Hauptrunden des DFB-Pokals finden jetzt stets in Dortmund statt. Auch will Bundestrainer Löw am 15. Mai höchst medienwirksam sein vorläufiges WM-Aufgebot im hiesigen Fußballmuseum verkünden. Das alles bedeutet sicherlich gehörige Werbung für die Stadt; freilich wieder und wieder auf dem Felde, auf dem sich Dortmund ohnehin am meisten profiliert, wenn auch in letzter Zeit nicht immer vorteilhaft, was den BVB angeht.

Zugleich hat die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) über die neue Ausstellung des Fußballmuseums („Schichtwechsel – FußballLebenRuhrgebiet“) längst nicht nur in üblicher Art berichtet, sondern legt dazu eine veritable Serie auf. Tagein tagaus geht es da um einzelne Exponate und/oder Geschichten des Revierfußballs. Kann man machen, zumal als Ruhrgebiets-Blatt. Schmeckt aber trotzdem auch nach spezieller Hilfestellung fürs Haus. Irgendwie müssen sich die Besucherzahlen ja festigen oder steigern lassen.

Apropos: Das Museum teilt bislang nicht etwa das konkrete Aufkommen zahlender Besucher (satte 17 Euro Vollzahler-Eintritt) mit, sondern nur eine – weit weniger aussagekräftige – Gesamtziffer. Was soll man davon halten?

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Um mal ein Stück vom (kommerziellen) Umfeld zu skizzieren:

Laut Homepage des Deutschen Fußballmuseums gibt es zwei „Premium-Partner“, nämlich die Dax-Konzerne Adidas und Daimler-Benz. Weitere Partner sind Bitburger, Rewe, Sky, Sparkasse Dortmund und Deutsche Post.

Als Förderer werden genannt: DEW 21, Wilo und Gelsenwasser.




Globaler Hype um ein Training in Dortmund-Brackel: Weltrekord-Sprinter Usain Bolt zu Gast beim BVB

Welch ein Hype! Usain Bolt, als 100-Meter-Weltrekordler schnellster Mensch unseres Planeten (jedenfalls zu Fuß), hat heute öffentlich beim Bundesligisten Borussia Dortmund mittrainiert – und im Testspiel gleich ein Kopfballtor erzielt. Auch hat er einen „Elfer“ souverän verwandelt. Nach rund einer Stunde war er allerdings sichtlich aus der Puste…

Usain Bolt (rechts) beim Lauftraining im BVB_Trikot. (Screenshot vom YouTube-Kanal des BVB)

Usain Bolt (rechts) beim Lauftraining im BVB-Trikot. (Screenshot: YouTube-Kanal des BVB)

Schon im Vorfeld hatte es halbironisch großmundig geheißen: „Dortmund, mach dich bereit!“ Man fühlte sich glatt an die lang zurück liegenden Tage erinnert, als der für alle Zeiten weltbeste Boxer Cassius Clay (später: Muhammad Ali) sein „I am the Greatest“ postulierte.

Usain Bolt bevorzugt bekanntlich die siegesgewisse Bogenschießer-Geste. Gelbe Trikots müssten ihm übrigens liegen, ist er doch in dieser Farbe auch als Sprinter für sein Heimatland Jamaika angetreten. Die gerade mal 5 Grad plus, die beim Training in Dortmund herrschten, dürften freilich nicht seine Lieblings-Temperatur sein.

War es nur ein harmloses Späßchen, oder hat Bolt mit 31 Jahren tatsächlich noch Ambitionen auf eine Fußball-Karriere? Oder sollte etwa der Sportartikel-Ausrüster, auf den der BVB und Bolt gleichermaßen zurückgreifen (Quizfrage: weder Adidas noch Nike, sondern welches Tier…?), hier einen speziellen Crossover-Werbecoup gelandet haben? Man muss das Ganze wohl mit mehrfachem Augenzwinkern zur Kenntnis nehmen. Global verbreitete Reklame auch für die Stadt, die dutzendfach genannt wurde, ist es nebenher sowieso. Nach dem Extra-Honorar für Bolt wollen wir lieber nicht fragen, sonst geht die Neiddebatte wieder los.

Das heftig gewollte und gepushte Ereignis war selbstverständlich live zu verfolgen. Ich habe es auf einem BVB-Kanal bei YouTube gesehen, mit munterem englischem Dialog-Kommentar, der offenbar für die interessierte Weltgemeinde zwischen Jamaika, Japan, Australien und China gedacht war.

Elfmeter versenkt: Usain Bolt am Punkt. (Screenshot: YouTube-Kanal des BVB)

Elfmeter versenkt: Usain Bolt am Punkt. (Screenshot: YouTube-Kanal des BVB)

Am Ort des Geschehens waren immerhin rund 1400 Fans dabei, als es auf dem Trainingsgelände im Dortmunder Ortsteil Brackel zur Sache ging. Hinzu kamen etwa 140 akkreditierte Medienvertreter, darunter 25 Kamerateams und rund 25 Fotografen. Wer wollte auch nicht für die Nachwelt festhalten, wie Mario Götze einen Traumpass auf Usain Bolt spielt?

Leider waren nicht alle BVB-Stars mit von der Partie. Manche sind verletzt, andere weltweit bei Länderspiel-Begegnungen im Einsatz. Jammerschade vor allem, dass es nicht zum Laufduell zwischen Usain Bolt und dem ebenfalls recht pfeilschnellen Pierre-Emerick Aubameyang kommen konnte. Der Mann, der sich aus dem BVB-Vertrag herausgelümmelt hat, treibt sich halt nun bei Arsenal London herum. Wie man hört, richten sich Bolts fußballerische Amibitionen ebenfalls nach England. Sein Lieblingsverein soll Manchester United sein. Die sollen dort auch ziemlich gut zahlen, dem Vernehmen nach sogar noch ein bisschen besser als der BVB…

Jedenfalls soll das alles auch Labsal für die zuletzt öfter geschundene BVB-Seele sein. Die englischsprachigen Kommentatoren spekulierten, ob sich Bolts Siegermentalität ansteckend auf Borussia Dortmund auswirken könne. Sie hielten diesen Effekt durchaus für möglich. Wir werden ja sehen.

 




Nach dem Debakel gegen Salzburg: Servus, Peter Stöger! Der BVB muss sich völlig neu orientieren…

Ach, du meine Güte! Der BVB ist gegen RB Salzburg aus der Europa League ausgeschieden. Gegen Salzburg! Und zwar völlig verdient. Die Österreicher waren im Hin- und Rückspiel eindeutig stärker und wacher als Borussia Dortmund.

Noch BVB-Trainer: Peter Stöger gegen Ende des Rückspiels gegen RB Salzburg. (Screenshot der Sky-Übertragung)

Noch BVB-Trainer, resignativ gestimmt: Peter Stöger kurz vor dem Ende des Rückspiels gegen RB Salzburg. (Screenshot der Sky-Übertragung)

Und jetzt? Muss der (österreichische) BVB-Trainer Peter Stöger nach der Saison wohl seiner Wege gehen. Gewiss: Er ist sympathisch. Er hat Humor. Aber das genügt eben doch nicht. Wenn er jetzt auch noch den entscheidenden Platz vier in der Bundesliga vergeigt… Oha!

BVB-Geschäftsführer Watzke ist keineswegs schuldlos: Der Sauerländer hat – nach Jürgen Klopps Abgang – den Erfolgstrainer Thomas Tuchel ‚rausgeekelt. Er hat zunächst den glücklosen Niederländer Peter Bosz als Nachfolger geholt. Dann hat er Peter Stöger, den Trainer des desolaten Tabellenletzten Köln, antreten lassen. Die Erfolge, die Stöger in Dortmund hatte, kamen beinahe allesamt glücklich zustande. Der Offenbarungseid hätte schon viel früher geleistet werden müssen.

Hochnotpeinlich war schon das Ausscheiden aus der Champions League, vor allem gegen die Pseudo-Giganten aus Nikosia. Danach wähnte man sich – im alten Größenwahn – schon als Gewinner der Europa League. Denkste!

Gegen die Mannschaft aus der bislang nicht gerade sonderlich fußballaffinen Mozartstadt Salzburg war schon wieder Sense. Wat willze gegen die Nockerln ausrichten? Nix. Zu kaum einem Zeitpunkt hatte man das Gefühl, dass da noch etwas ginge… Und nun vergleiche man mal die Ablösesummen und die Gehaltsstrukturen! Ach, es ist einigermaßen trist.

Es läuft einfach nicht. Es fehlt jede Leichtigkeit. Wenn überhaupt Siege verzeichnet werden, dann solche, die der Fußballgott gnädig verfügt hat. Arbeitssiege. Kampfsiege. Nichts leichthin Erspieltes.

Nein, wir wollen keine einzelnen Spielernamen nennen. Wir wollen auch nicht einen Mannschaftsteil gegen den anderen ausspielen. Was hier vorgeht, ist grundsätzlicher. Es fehlen die Leitfiguren. Es fehlen die Anstöße.

Nun, denn: Servus, Peter Stöger!

 

 




Zukunftsfroh erblüht die Stadt: Ein lange verschollener Image-Film aus dem Jahr 1964 macht derzeit in Dortmund Furore

Fünf ausgebuchte Vorstellungen gab’s schon im Kino des „Dortmunder U“. Welches attraktive Lichtspiel wird denn da geboten? Welcher Blockbuster zieht die Menge so magisch an?

Hurra, die Schule ist aus! Vielleicht erkennen sich hier ein paar ältere Dortmunder als Kinder von 1964 wieder. (Screenshot aus dem besprochenen Film - Stadtarchiv Dortmund/RWE-Archiv)

Hurra, die Schule ist aus! Vielleicht erkennen sich hier ein paar ältere Dortmunder als Kinder von 1964 wieder. (Screenshot aus dem besprochenen Film – Stadtarchiv Dortmund/RWE-Archiv)

Nun, es ist eigentlich ein unscheinbares Werk, das sicherlich keinerlei Spuren in der Filmgeschichte hinterlassen wird. Der gerade mal 49 Minuten lange Streifen mit dem wenig aussagekräftigen Titel „Moderne Großstadt Dortmund“ schlummerte bis vor einiger Zeit unbeachtet im Archiv des Essener RWE-Konzerns. Es ist ein Marketingfilm der Dortmunder Stadtverwaltung aus dem Jahr 1964, der die damalige Gegenwart und Zukunft der Kommune geradezu schwärmerisch ausmalt. Selbst dem Dortmunder Stadtarchiv war die Existenz des Films bis dato völlig unbekannt, der als zeitgeschichtlicher Fund von gewisser lokaler und regionaler Bedeutung gelten darf.

Nostalgie-Effekt und Heimatgefühl

Als Präsentator der Dortmunder Erfolgsgeschichten tritt im Film zwischendurch mehrfach Dietrich Keuning auf, von 1954 bis 1969 Oberbürgermeister der Stadt. Er lobt und preist die fruchtbaren Anstrengungen von Rat und Verwaltung in allen Fachbereichen, die zu einer neuen Blüte der Stadt geführt hätten. Erklärte Ziele sind laut Keuning eine „Stadt aus einem Guss“ und „Arbeiten für ein glückliches Leben“. Zumindest in der Online-Fassung, die ich gesehen habe, spricht er übrigens keineswegs lippensynchron.

Keuning beschwört überdies Dortmunds große Vergangenheit als Freie Reichsstadt und Hansestadt – ungeachtet der Tatsache, dass „seine“ SPD nach dem Zweiten Weltkrieg einen zusätzlichen Abriss-Kahlschlag in der Stadt vorangetrieben hat und also mit manchen Zeugnissen der Tradition nicht gerade pfleglich umgegangen ist; womit die ungeheure Aufbauleistung nach 1945 natürlich nicht geschmälert werden soll.

Der damalige Oberbürgermeister Dietrich Keuning präsentiert "sein" Dortmund. (Screenshot)

Der damalige OB Dietrich Keuning präsentiert in dem Film „sein“ Dortmund. (Screenshot / Stadtarchiv Dortmund)

Der Film vermittelt jedenfalls – in längst fahl gewordenen Farben – eine beschönigende, hie und da auch etwas verlogene Sicht der Dinge. Doch der Nostalgie-Effekt ist heute allemal stärker als derlei Bedenken. Hier können die „Baby-Boomer“ auf eine kleine Zeitreise in die Stadt ihrer Kindheit gehen, die noch eine ganz andere war als heute. Wer damals schon hier gelebt hat, kann so manche Filmsequenz nach sich selbst und seinesgleichen absuchen. Wie seltsam wird einem da zumute.

Beim erstaunlich gesteigerten Interesse dürfte auch eine Sehnsucht nach Identifikation und – tja – „Heimatgefühl“ eine Rolle spielen. Wie immer man das deuten mag.

Als man noch mit 750.000 Einwohnern rechnete

Schauen wir hin: Wie es da überall wimmelte! Wie viele Kinder es offenkundig gab! Dortmund hatte um 1964 immerhin 651.000 Einwohner, die halt auch nicht daheim am Computer hockten, sondern vielfach draußen unterwegs waren, und zwar mehrheitlich zu Fuß oder mit Bussen und Bahnen, noch nicht so sehr mit eigenen Kraftfahrzeugen.

Heute liegt man gerade mal wieder bei knapp 600.000 Einwohnern und ist – nach etlichen Jahren des Schwundes – mächtig stolz darauf. Damals plante man mit einer Perspektive auf künftig 750.000 Bürger… Es war eben die Zeit vor den großen Kohle- und Stahlkrisen, als das Ruhrgebiet noch die dampfende Lokomotive des bundesdeutschen Wohlstands war. Doch die Schwerindustrie spielt in diesem Film nur am Anfang eine gewichtige Rolle. Sie wurde sozusagen als selbstverständliche Basis wahrgenommen. Wenn man damals all das Kommende geahnt hätte…

Bauzustand des 1966 eröffneten Dortmunder Opernhauses im Jahr 1964. (Screenshot)

Bauzustand des 1966 eröffneten Dortmunder Opernhauses im Jahr 1964. (Screenshot / Stadtarchiv Dortmund)

Die Stadtspitze macht dem Film zufolge quasi alles richtig, sie führt die Bürger goldenen Zeiten entgegen. Für alles wird gesorgt. Unfreiwillig komischer Satz: „Wenn die Tiefbauer kommen, wird es ernst…“ Und so nimmt einen der Film, stets zukunftsfrohen Sinnes und auf die Segnungen der Technik vertrauend, mit in moderne Sportstätten, Krankenhäuser und Schulen sowie schnell hochgezogene neue Siedlungen.

Und weiter geht’s zum BVB in die Kampfbahn Rote Erde (weise Prophezeiung: deren 42500 Plätze reichten nicht aus), in die Westfalenhalle und zum gerade als Neubau entstehenden Stadttheater, auf Spielplätze mitten „im Steinmeer“, zum Zoo, in den Westfalenpark und in den Rombergpark. „Zeitgemäß“ verbreiterte Straßen und der noch ziemlich holprige Pisten-Flugplatz werden gleichfalls besichtigt. Selbst Seitenblicke auf Müllabfuhr und Feuerwehr fehlen nicht. Überall gibt es im Grunde nur Gutes zu berichten. Später hätte man wohl getextet, Dortmund sei rundum „bestens aufgestellt“. Nun ja.

Angehende Dortmunder Krankenschwestern anno 1964. (Screenshot)

Angehende Dortmunder Krankenschwestern anno 1964. (Screenshot / Stadtarchiv Dortmund)

Überall wirkten „fleißige Hände“

Auch sprachlich macht sich der Abstand von 54 Jahren deutlich bemerkbar. Die zeitüblich noch leicht schnarrende, wenn auch nicht  mehr martialisch klingende Sprecherstimme aus dem Off verkündet immerzu das „tüchtige“ Wirken „fleißiger Hände“, wahlweise auch flinker oder rühriger Hände, Kinder können sich auf dem Robinson-Spielplatz im Westfalenpark „nach Herzenslust tummeln“, Schüler und Lehrlinge (man sagte noch nicht „Auszubildende“) erhalten ihr „Rüstzeug“ fürs Leben, im Altersheim verbringt man einen „behaglichen und sorgenfreien“ Lebensabend. Na, und so weiter. Es war eigentlich noch der Sound der 50er Jahre, obwohl man doch so sehr zu neuen Ufern streben wollte.

Doch trotz alledem sollte man sich über die Altvorderen nicht erhaben dünken. Wer weiß denn, wie peinlich ein heutiger Imagefilm – und gebe er sich jetzt noch so „hip“ – in ein paar Jahrzehnten wirken wird?

Eine weitere öffentliche Vorstellung folgt noch: am nächsten Dienstag, 13. März, um 19 Uhr im Kino des „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Kostenlose Karten gibt es ab 18 Uhr am Kino. Außerdem ist der Film jetzt online zu sehen, und zwar hier: www.film1964.dortmund.de




Festival Klangvokal in Dortmund: Musikalische Schätze und Raritäten aus acht Jahrhunderten für die menschliche Stimme

Bei so manchem Festival wird das Blaue vom Himmel versprochen – und der Horizont bleibt dann doch grau. Beim Dortmunder „Klangvokal“, seit der Gründung geleitet von Torsten Mosgraber, ist das anders: Die zehnte Ausgabe mit dem Thema „Auf Schatzsuche“ löst tatsächlich den Anspruch ein, aus dem reichen Spektrum der Musik für eine, mehrere oder viele menschliche Stimmen ein paar ungewöhnliche Farben nach vorne zu spielen. Vom 11. Mai bis 10. Juni 2018 lässt sich bei 23 Veranstaltungen die Vokalmusik der letzten 800 Jahre durchstreifen. Dabei kommen nicht nur Klassik-, sondern auch Crossover- und Weltmusik-Fans auf ihre Kosten.

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Die Eröffnung am Freitag, 11. Mai steht im Zeichen des 100. Geburtstags von Leonard Bernstein. Wayne Marshall, Komponist, Dirigent und Organist, steht am Pult seines WDR Funkhausorchesters und bringt die „Chichester Pslams“ und Bernsteins Erste Sinfonie „Jeremiah“ mit. Der Kammerchor der TU Dortmund und der Philharmonische Chor Essen übernehmen die Partien der Vokalensembles auch in Francis Poulencs „Gloria“ und „The Fruit of Silence“ des lettischen Komponisten Peteris Vasks, geschrieben 2013 auf einen Text von Mutter Teresa.

Monteverdi-Oper rekonstruiert

Eine Rarität erklingt am Freitag, 18. Mai in der Reinoldikirche: Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker führen – gemeinsam mit den renommierten Solisten Eleonore Marguerre (Sopran), Thomas Laske (Bariton) und Uwe Stickert (Tenor) – Jules Massenets Oratorium „Ève“ auf. Am Freitag, 1. Juni mischen sich Alt und Neu auf eine Weise, die so ungewöhnlich wie umstritten ist: Zum ersten Mal erklingt in einer öffentlichen Aufführung im Orchesterzentrum NRW eine rekonstruierende Neukomposition von Claudio Monteverdis Oper „L’Arianna“.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Cavina, italienischer Countertenor und Experte für Alte Musik, wollte nicht warten, bis vielleicht eines Tages die Originalpartitur Monteverdis in einer verschlossenen Bibliothek oder einem vernachlässigten Archiv auftauchen könnte, und hat sich auf der Basis eines tiefgründigen Wissens um Kompositionsweise und Aufführungspraxis des 17. Jahrhunderts an eine musikalische Ausformung gemacht, die er selbst allerdings nur ungern als „Komposition“ bezeichnet.

Ausgehend von Ottavio Rinuccinis Libretto, dem erhaltenen berühmten „Lamento“ aus der Oper und Kompositionen wie dem „Ballo delle Ingrate“ hat er selbst Musik im Geiste Monteverdis geschrieben. Die Aufführung mit Cavinas Ensemble La Venexiana, die „L’Arianna“ bereits 2015 in Venedig erstmals gespielt haben, umfasst in etwa 100 Minuten die acht Szenen plus einen Prolog der ursprünglichen Oper. Davide Pozzi leitet das Ensemble und elf Solisten.

Geschichte der Büßerin Maria Magdalena

„Echten“ Barock gibt es dann am Sonntag, 10. Juni in St. Reinoldi zu hören: Das Ensemble Le Banquet Céleste gastiert unter Damien Guillon mit einem der mindestens 43 Oratorien des in Wien gestorbenen Venezianers Antonio Caldara. „La Maddalena ai piedi di Cristo“, wohl um 1700 für Rom geschrieben, thematisiert in einem allegorischen Spiel um die irdische und himmlische Liebe die Geschichte der Büßerin Maria Magdalena auf der Basis des Lukas-Evangeliums.

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis "Giovanna d'Arco". ©Janis Deinats

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis „Giovanna d’Arco“. ©Janis Deinats

Auch die Oper kommt wieder zu ihrem Recht: Mit der Sopranistin Marina Rebeka, in New York als „Norma“ und Mathilde in Rossinis „Guillaume Tell“ gefeiert, und dem aufstrebenden Bariton Baurzhan Anderzhanov aus Essen erklingt am Sonntag, 27. Mai im Konzerthaus „Giovanna d’Arco“, ein früher verschmähtes Werk aus Giuseppe Verdis mittlerer Schaffensperiode, das in den letzten Jahren etwa durch Aufführungen in Salzburg (mit Anna Netrebko), aber auch durch szenische Produktionen in Bonn und Bielefeld neu entdeckt wurde. Daniele Callegari dirigiert das WDR Funkhausorchester Köln, es singt der LandesJugendChor Nordrhein-Westfalen.

„Gänsehaut-Musik“ aus Belgien

Die Vielfalt der Chormusik durch die Jahrhunderte setzen Ensembles aus Großbritannien, Estland und Tschechien präsent. Oder aus Belgien: Dem 2004 von Lionel Meunier gegründeten Ensemble Vox Luminis wird etwa von Bayerischen Rundfunk bescheinigt, „Gänsehaut-Musik“ zu machen. Am Samstag, 12. Mai singt der Chor in der Marienkirche Motetten der Bach-Familie aus dem 17./18. Jahrhundert, darunter unbekannte „Bäche“ wie Johann Christoph oder Johann Ludwig, dem Vetter Johann Sebastians, der in Meiningen als Kapellmeister wirkte.

Der Estnische Philharmonische Kammerchor singt am Sonntag, 20. Mai in der St. Nicolaikirche A-cappella-Chormusik von Arvo Pärt, Cyrillus Kreek und Veljo Tormis. Mit einem so raren wie erlesenen Programm kommen das Ensemble Clematis und der Choeur de Chambre aus Namur am Samstag, 26. Mai in die Maschinenhalle von Zeche Zollern. Unter Leonardo García Alarcón öffnet der Chor die Welt der barocken geistlichen Musik der iberischen Halbinsel und greift auch in die „Neue Welt“ aus, wo Komponisten an Kathedralen oder in Jesuitenreduktionen tätig waren. Tomás Luis de Victoria ist noch der bekannteste von ihnen, aber von Juan de Araujo, der in Lima (Peru) und an anderen lateinamerikanischen Bischofskirchen wirkte, von Matheo Romero, Kaplan mehrerer gekrönter Häupter, oder von Mateu Fletxa et Vell, dem Musiklehrer der Töchter Kaiser Karls V., haben selbst Spezialisten noch kaum etwas gehört.

Rund 150 Chöre beim Fest in der Innenstadt

Zu den ältesten Wurzeln geistlicher Musik dringt am Dienstag, 29. Mai in der Marienkirche das Ensemble Tiburtina mit Musik von Hildegard von Bingen vor. Aus England und Spanien kommt die Musik, die The Tallis Scholars am Samstag, 9. Juni in der Propsteikirche singen. Und nicht zu vergessen ist das 10. Fest der Chöre am Samstag, 2. Juni, bei dem zwischen 10 und 22 Uhr rund 150 Chöre in der Dortmunder Innenstadt ihr Können dem Publikum präsentieren.

Freunde der Weltmusik können sich auf die Argentinierin Lily Dahab (Sonntag, 13. Mai), das Ensemble Saz’Iso aus Albanien (Samstag, 19. Mai), auf portugiesischen Fado mit Gisela João am Freitag, 25. Mai und auf Yorkstone Thorne Khan am Donnerstag, 7. Juni freuen, die britischen Folk und indische Musik miteinander verbinden.

Infos und Karten: www.klangvokal-dortmund.de




Alfried Krupp auf der Bühne: Heinrich Marschners Bergbau-Oper „Hans Heiling“ als Ruhrgebiets-Familienstory in Essen

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Die Schätze, die schliefen in ewiger Nacht, fördern die Erdgeister in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ ans Licht – den Menschen zum „Heil und Verderben“. Das „schwarze Gold“, das dem Ruhrgebiet fast 200 Jahre lang Reichtum und Elend gebracht hat, versiegt in diesem Jahr: Mit Prosper-Haniel in Bottrop schließt am 21. Dezember 2018 die letzte Steinkohlenzeche. So lag es für das Aalto-Theater nahe, sich mit Marschners romantischer Oper an den vielfältigen Aktivitäten rund um das Ende dieser Ära zu beteiligen.

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Marschner wusste, worüber er Musik schrieb; er erinnerte sich wohl an die Braunkohlenförderung rund um seine Heimatstadt Zittau und den traditionsreichen Bergbau im benachbarten Gebirge.

Regisseur Andreas Baesler und sein Bühnenbildner Harald B. Thor knüpfen daran an: Sie rücken die böhmische Sage vom designierten König der Erdgeister, der auf die Erde flieht, um menschliche Liebe zu erlangen und dabei scheitert, eng an eine Geschichte aus dem Ruhrgebiet. Und decken verblüffende Parallelen auf: Hans Heiling wird zu Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, die Königin der Erdgeister schreitet als perlenbehangene Mutterfigur Bertha Krupp umher.

Zwei gescheiterte Verbindungen

Der Konflikt erinnert an die Heirat Alfrieds mit der geschiedenen Anneliese Lampert im Jahr 1937. Sie mag den Krupp-Erben glücklich gemacht haben, war aber eine Ehe gegen den Willen seiner Eltern. Nach drei Jahren trennte er sich – wohl auf Betreiben der Mutter – von Frau und Sohn, übernahm die Firma, führte aber ein zurückgezogenes, innerlich einsames Leben.

Hans Heiling muss entsetzt erkennen, wie seine mit „rasendem Verlangen“ geliebte Anna ihrem unheimlichen Bräutigam aus einer anderen Sphäre immer fremder wird, sich in der Gesellschaft der einfachen Leute wohler fühlt und schließlich (ihre wahren Gefühle erkennend und unter dem Einfluss der Geisterkönigin und ihres dämonischen Gefolges) Konrad heiratet, einen einfachen Mann aus ihrer Schicht.

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Bis ins Detail arbeitet das Produktionsteam die Gleichsetzung durch: Gabriele Heimann lässt sich von dem bekannten Familienporträt der Krupps zu nobel-dezenter Nachkriegsmode inspirieren. Der Chor trägt das Gewirk einfacher Leute aus den sechziger Jahren, als sich die Zechenstilllegungen ankündigten, aber in dem im Bild zitierten Essener „Blumenhof“ bei Tanztee und Schnitzeltag das gesellschaftliche Leben florierte.

Der gewaltige vertäfelte Saal der Villa Hügel kontrastiert mit der beengten Stube mit Bett, Kohleherd und Schwarz-Weiß-Fernseher, in der Witwe Gertrud die Rückkehr ihrer Tochter Anna bei nächtlichem Sturm erwartet. Gefeiert wird in einem hohen, schmutzigweißen Raum, wie einst auf großen Zechen als Lohnhallen oder Waschkauen zu finden. Dort spielt auch das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen in schönsten Bergmannsuniformen das Glückauf-Lied.

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Popularmythen des Potts strapaziert

Couleur locale also allenthalben, liebevoll entworfen. Das geht immerhin über die bloße Äußerlichkeit hinaus, wie sie 2008 in Essen in Wagners „Tannhäuser“ von Hans Neuenfels und Reinhard von der Thannen bemüht wurde. Lästig wird’s dann aber, wenn Hans-Günter Papirnik langwierige Dialoge in breiten Ruhri-Slang überträgt und von der Brieftaube bis zum Karnickel alle Popularmythen des Potts bemüht. Zur Sinnfindung tragen derlei biedere Anleihen, wie wir sie aus missglückten Operettenabenden kennen, nichts bei.

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Auch im ehrgeizig gedachten dramaturgischen Ausbau knirschen die Stempel. Die Bergleute-Metapher funktioniert noch einigermaßen: Unter Tage sind die Arbeiter mit Helm und Grubenlampe die Geister, die ihren König zurückhalten wollen und deshalb gegen die Verbindung mit einem Menschen opponieren. Oben demonstrieren sie mit Spruchband und Schildern gegen Stilllegungen und damit gegen den Krupp-Heiling aus der Oberschicht.

Grenzen der soziologischen Sicht

Aber wenn Anna in der neusachlichen Sechziger-Jahre-Villa ihres noblen Bräutigams im „Zauberbuch“ blättert und maßlos erschrecken soll, aber nur die Vorhänge wehen wie in einem schlechten Gruselfilm; wenn in der von Marschner genial konzipierten Arie „An jenem Tag“ Hans Heiling plötzlich in türkisgrünes Licht getaucht ist, wenn im nächtlichen Park rotes Hilfslicht die Erscheinung der „Geister“ beglaubigen soll, ist sichtbar, wie das Konzept Baeslers an seine Grenzen kommt. Der Konflikt erschöpft sich eben nicht in der Klassen-Herkunft seiner Protagonisten, lässt sich soziologisch nur oberflächlich beschreiben. Eher wäre danach gefragt, die Konstellationen psychologisch zu erschließen oder die romantische Doppelnatur eines Hans Heiling überzeugend zu dechiffrieren.

Noch eins ist schade: Die bemühte Verortung in der Region rückt Marschners allzu selten gespielte Oper in die Ecke einer Ausgrabung, die man gerade mal aus passendem Anlass auf den Spielplan setzen kann. Mitnichten: Schon in den siebziger Jahren haben Aufführungen in Frankfurt, Zürich oder Bielefeld die innovativen musikalischen Errungenschaften Marschners und die dramatische Qualität des Librettos von Eduard Devrient erwiesen. Dass „Hans Heiling“ auf der Bühne selten zu erleben ist – zuletzt am Theater an der Wien und in Regensburg – spricht nicht gegen die Oper, sondern eher gegen routinierte Spielplan-Bastler.

Der Dirigent der Premiere von "Hans Heiling", Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Der Dirigent der Premiere von „Hans Heiling“, Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Frank Beermann und die Essener Philharmoniker machen die Qualität der Musik hörbar – und lassen nebenher erfahren, wie ungeniert sich etwa der Bayreuther Meister Richard Wagner bei Marschner bedient hat, dessen Oper er 1833 brandneu in Würzburg mit einstudiert und den er später in seinen Schriften höhnisch niedergemacht hat.

Dirigent Beermann setzt auf eine aufgehellte, vor allem zu Beginn im Tempo etwas zu rasche Lesart, auf brillant-durchsichtige Bläser und schlanke, manchmal zu wenig betonte Streicher. Aber in Szenen wie dem unerhört expressiven Melodram der Gertrud, in den bedeutenden Arien von Heiling und Anna oder in den auffallend großräumig konzipierten Finali kehrt er die vielgestaltige und farbenreiche Musik heraus und zeigt, dass sich Marschner vor Zeitgenossen nicht verstecken muss.

Bedauerlich, dass der spätere Hannoveraner Hofkapellmeister nie wieder ein so zündendes Libretto gefunden hat: In späteren Jahren beklagt er sich bitter über die Qualität der Opern-„Dichtungen“. Aber über die Qualitäten seiner Musik lässt sich nichts aussagen. Opern wie „Des Falkners Braut“, „Das Schloss am Ätna“ oder „Der Bäbu“ kennt einfach kein Mensch mehr, und die Forschung ist über tradierte Allgemeinplätze auch kaum hinausgekommen.

Bewährtes Ensemble im Einsatz

Das Aalto-Theater setzt bei den Sängern auf sein bewährtes Ensemble und fährt in den meisten Partien gut damit. Heiko Trinsinger fügt mit „Hans Heiling“ seinem breiten Repertoire – das etwa auch Marschners „Vampyr“ umfasst – eine weitere wichtige Bariton-Rolle hinzu. Wirkt die fordernde Höhe anfangs noch etwas erzwungen und fest, steigert sich Trinsinger in der früher noch in Wunschkonzerten und Arienabenden beliebten große Szene „An jenem Tag“ überzeugend, befeuert den brennend schmachtenden Ton des rasend Verliebten, verliert sich in seine Rachefantasien, falls Anna – was später ja auch geschieht – ihm die Treue bräche. Als Darsteller bleibt er in der steifen Rolle des Außenseiters in allen Welten; am Ende bricht er als Entwurzelter zusammen und löst eine Sprengung aus: Im Hintergrund fliegt in historisierendem Schwarz-Weiß ein Zechengebäude in die Luft, stürzen Fördergerüste ein – eine Projektion, die Heilings innere Katastrophe nachzeichnet: Den Wunsch, diese Welt hinter sich zu lassen, die ihm kein Heil, aber bitteres Verderben brachte.

Psychologisches Meisterstück in der Musik

Oft unterschätzt wird die Figur der Anna, die Jessica Muirhead vor Soubretten-Putzigkeit bewahrt. Die Rolle entwickelt sich vom leichten Tonfall der jungen, noch recht naiven Tochter zu den dramatischen Linien einer jungen Frau, die sich und ihrer wahren Gefühle bewusst wird. In der Stimme beglaubigt Muirhead diesen Weg in leuchtendem Ton, in der Gestaltung der Rolle lässt sie die Regie in diesem Punkt eher im Stich. Auch Bettina Ranch als Gertrud erfasst das Spektrum der Figur zwischen den angedeutet buffonesken Zügen der Mutter, die ihrer Tochter die reiche Partie zuschanzen will, und des im Melodram vom Unbewussten ins Erkennen wandernden Schrecken – ein stimmlich einfühlsam nachgezeichnetes psychologisches Meisterstück in Marschners Musik.

Jeffrey Dowd ist über den Konrad längst hinaus: Statt seines reifen Tenors, dem in der Höhe Glanz und Frische fehlt, bräuchte es ein jugendliches Timbre für den Liebhaber und Retter Annas. Rebecca Teem orgelt als Königin der Erdgeister nach schlechter Wagner-Manier – das bedeutet flackernde, bisweilen gewaltsame Tonemission, und eine monochrome tour de force. Teem ist freilich nicht die einzige Sängerin, die mit dieser Partie ihre Probleme hat: Den Typ des dramatischen, aber schlank-beweglichen Soprans mit strahlender Höhe, wie ihn etwa auch Rezia in Webers „Oberon“ fordert, gibt es kaum mehr. Karel Martin Ludvik und Hans-Günter Papirnik stehen ihren Mann an der Seite des forschen Konrad.

Der Opernchor des Aalto-Theaters wirkt in der Szene der Erdgeister anfangs noch dünn und inhomogen – liegt das an der breiten Aufstellung im Hintergrund? –, findet aber schnell seine bewährte Form, für die Jens Bingert als Chordirektor in allen Stilformen einsteht.

Heinrich Marschners Oper „Hans Heiling“ steht bis Juni auf dem Spielplan in Essen. Am 10. März um 19.05 Uhr wird die Aufzeichnung aus dem Aalto-Theater auf Deutschlandradio Kultur übertragen, am 1. April um 20.04 Uhr auf WDR 3. Eine CD-Aufnahme ist geplant.




Hat Literaturförderung eine Zukunft? Oder: Ein Interview als Selbstversuch

Zum 1. April 2018 habe ich im Literaturbüro Ruhr e.V. als wissenschaftlicher Leiter gekündigt. Kein Wunder, dass ich des Öfteren gefragt werde, ob ich zum vorzeitigen Abgang ein Interview gäbe. Angeregt durch die Sammlung „Unmögliche Interviews“ des Wagenbach Verlags und David Foster Wallaces „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ habe ich mich heute endlich dazu entschlossen, mich – mir nichts, dir nichts – selbst zu interviewen. Denn, so sagt Novalis, „Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.“

Beim „Kaputten Abend 1“ im Maschinenhaus der Zeche Carl – Maria Neumann (Theater an der Ruhr), geschultert von Gerd Herholz; Foto: Jörg Briese

Drei Jahrzehnte Literaturbüro Ruhr? Wie hält man das aus?
Sie hatten doch intelligente Fragen versprochen. Naja …
Heute scheint tatsächlich jeder verdächtig, der sich über längere Zeit einer Sache widmet. Die Beschäftigung mit Literatur in all ihren Facetten aber bleibt ein Leben lang  inspirierend und bereichernd. Man kann übrigens hier- und dennoch nicht zurückbleiben.

Empfinden Sie Wehmut zum Abschied?
Mut und Weh zugleich. Von Meister Eckhart stammt der Satz: „Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist.“ Da stimme ich gottloser Humanist dem begnadeten Mystiker zu, spät und wahrscheinlich auch zu spät.

Wahrlich mystisch! Das heißt konkret?
Innehalten. Es braucht Muße, um wieder zu sich zu kommen. Als Rollenspieler im Hamsterrad der Literaturförderung war ich zu oft außer mir, eingespannt bei der Suche nach Fördermitteln, medialer Aufmerksamkeit, Publikum, aber auch in die bitter notwendige Kritik öffentlicher Kulturpolitik, war also Teil eines zwar noch nicht rasenden, aber rasanten Stillstands. Die Literatur, das Lesen, das Dem-Gelesenen-Nachsinnen, all das kommt eindeutig zu kurz. Ein Literaturbüro ist zwar immer auch ein Biotop für Literaturbekloppte, aber eben viel zu selten.

Hate Poetry-Abend des Literaturbüros im Essener Katakombentheater – u.a. mit Hasnain Kazim & Doris Akrap; Foto: Jörg Briese

Das war’s jetzt mit dem Weh?
Nein. Weh tut im Moment des Abschieds, dass es so scheint, als ob die Zukunft des Literaturbüros als Komplize literarischen Eigensinns verramscht würde. Da machen gedankenlose Vordenker  wohl schon länger obskure Planspiele zum Um- oder Abbau des Trägervereins, ohne dessen Vorstand und Mitglieder oder mich als Leiter des Büros überhaupt zu informieren. Insbesondere aus dem Umfeld des Regionalverbands Ruhr hört man, dass sich das Literaturbüro Ruhr mehr zu vernetzen habe, umzustrukturieren, vielleicht seine Landeszuschüsse in ein neues „Literaturzentrum“ überführen, sich gar einen neuen Standort außerhalb Gladbecks suchen solle.

Wäre denn Veränderung so schlecht?
Die behutsame Entwicklung des Literaturbüros, sein Ausbau wären mir lieber. Die Selbstständigkeit des Vereins, seine Souveränität müssen geachtet werden. Ich lege seit vielen Jahren beharrlich, aber vergeblich auch dem RVR Konzepte dazu vor, wie ein Literaturhaus, ein Literaturnetz Ruhr, Residenzen/Stadtschreiberstellen und der Literaturpreis Ruhr zukünftig aussehen könnten.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(von rechts nach links): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Mitglied des Vorstandes Stiftung Zollverein), Dr. Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung),Eva Schuderer (Programm lit.RUHR),Bettina Böttinger (Moderatorin), Dr. Thomas Kempf (Mitglied des Vorstandes der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Der RVR allerdings zeichnete sich bisher nicht durch eine ideenreiche und die Region vehement unterstützende Literaturförderung aus, im Gegenteil: Er hat sie eher verschleppt. Noch planloser sind nur die großen Stiftungen des Ruhrgebiets. Sie geben ab 2017 jährlich eine halbe Million Euro an Kölner Veranstalter, um von dort aus jeweils im Herbst die lit.RUHR organisieren zu lassen. Diese ‚lit.KOLONE‘ ist aber nichts weiter ist als eine schlichte Kopie der lit.COLOGNE: Das Ruhrgebiet – ein starkes Stück Köln! Am grünen Planertisch der hiesigen Eliten-Darsteller denkt man leider nur noch in Kategorien wie Kulturtourismus, Veranstaltungstaumel oder „Dachmarkenmarketing“ – und landet eher bei einem Dachschaden-Marketing.

Das klingt ziemlich aggressiv und verbittert.
Aggression, das heißt auch: sich auf etwas zubewegen. Meinen kleinen Zorn möchte ich mir bewahren. Den Anschein von Einstimmigkeit zu durchbrechen, das macht auch Spaß.
Verbittert? Nein. Aber enttäuscht, vor allem extrem gelangweilt von der immer gleichen größenwahnsinnigen Kulturkampagnenpolitik im Ruhrgebiet, die nicht einmal nach der Loveparade-Katastrophe gründlich infrage gestellt wird. Ich muss mir aber auch selbst vorwerfen, dass ich mich angesichts der kargen Mittel des Literaturbüros Ruhr und der fehlenden kulturpolitischen Unterstützung verschlissen habe bei dem Versuch, Literatur- und Leseförderung auf möglichst hohem Niveau zu gestalten. Man kommt sich vor wie ein Bastard aus Sisyphos, Don Quichotte und Freigänger.

Textrevolte – eine Reihe des Literaturbüros Ruhr

Wie sieht die Zukunft der Literaturförderung im Ruhrgebiet aus? Hat sie überhaupt eine?
Ein Großteil des geistigen Lebens im Alltag der Region wird auf der Strecke bleiben, wenn die Sparpolitik bei der kulturellen Infrastruktur – etwa bei den öffentlichen Büchereien – so fortgesetzt wird. Das dürfte hier aber kaum jemandem auffallen.
Die vielen selten subventionierten Enthusiasten und kleinen Initiativen wird es weiter geben. Solides ehrenamtliches Engagement gegen anämische Festivalitis und Eventitis. Ansonsten: Die hoch bezuschusste lit.RUHR als Festivalzirkus der Beliebigkeit wird das große Geld und vieles an Energie binden. Also immer öfter: Promis als Programm, Kunstsimulation als Konzept. So etwas kann man aber auch von den Ruhrfestspielen sagen: ein Kessel Buntes, Culture-to-go.

Dem Publikum scheint’s zu gefallen.
Man kann dennoch versuchen, nicht populistisch zu werden, wenn man Populäres macht. Und es gibt ein Publikum, das wünscht sich auch im kleineren Rahmen des Alltags das gekonnte Gespräch, den Vortrag guter Literatur auf der Bühne, neue Formate und vor allem politisch-kulturelle Intervention – abseits allen Talkshow- und Marketing-Gesumses. Stattdessen wird es seit Jahren vor allem von der Krimi-Flut überrollt. Ein Wellenreiter wie Sebastian Fitzek wird dabei tatsächlich als Schriftsteller gehandelt und ist doch bloß einer, der in Serie Sprache killt. Allerdings sieht man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten auch viele Kulturpolitiker und –‚manager‘, sogenannte Intendanten, Experten, Hobby-Moderatoren, Dichterdarsteller, die sich so vor die gekonnte Literatur, die Literaten schieben, dass man diese gar nicht mehr sieht.

Wieso setzt sich die Festival-Blase überall durch, wenn sie doch nur einfallslose Mono-Kultur bietet?
Es gibt – wie gesagt – die Begierden der Festivalmacher, immerhin agieren sie in sehr gut bezahlten Jobs. Dazu jede Menge offene und verdeckte Politik-, Verwaltungs- und Sponsorinteressen. Alle wünschen sich den Abglanz glitzernder Kunst-Fassaden, den Imagetransfer. ‚Social washing‘: Da lässt sich halt ein Kulturfestival von ‚Gönnern‘  wie VW oder Mercedes sponsern und die Auto-Patriarchen sind erfreut, sich für ein paar Peanuts abseits aller Abgas- und Affenversuchsskandale in veritable ‚Kultur‘ einzukaufen – eine Kultur, die sie selbst nicht besitzen. Und während des Festivals wird dann dreist von Literatur als Widerstand gesprochen, ein Widerstand, der längst verraten und verkauft wurde. Das Großformat erstickt per se aufrechte Haltung und Integrität.

Und wenn man von der öffentlichen Hand gefördert wird, dann bleibt man sauber?
Mitnichten. Öffentlich geförderte Einrichtungen werden nicht nur ins Abseits gespart, sondern zunehmend mit Zielvereinbarungen, Evaluationen usw. gegängelt. Die Landesrechnungshöfe würden im Gegenzug für öffentliche Förderung gern Mindestzahlen beim Publikumsbesuch fixieren. Quotenwahn statt künstlerischer Freiraum. Um so Quote zu machen, werden Kulturförderer sich schlechtem Massengeschmack weiter anpassen müssen und ihn damit selbst immer neu erzeugen. Das wäre die Selbstaufgabe kritischer Literatur- und Leseförderung. So hechelt sie dem Markt nur noch hinterher, statt dessen Korrektiv zu sein und Freiheitsübungen zu ermöglichen.

Harald Welzer plädiert für eine offene Gesellschaft; Foto: Jörg Briese

Denken ist ein großes Vergnügen, meinte Brecht, aber eben auch anarchisch und gefährlich. Dieser ganze sinnentleerte Kulturtrubel, der nur noch dem Profit, den Zuschauerzahlen und der Standortkonkurrenz verpflichtet ist, das ganze sich totlaufende Eventkarussell als austauschbare Fun-Fassade scheinen mir gewollt. Da sollen sich die Leute zu Tode amüsieren, statt über die Zukunft des Gemeinwesens zu diskutieren.

Wüssten Sie ein Gegengift?
Manchmal wünsche ich mir, ein zweijähriges Moratorium, wie es Hans Magnus Enzensberger 1993 in der FAZ gefordert hat, würde endlich umgesetzt und wir lassen den ganzen hypernervösen, von Sponsoren und öffentlichen Förderern abgerichteten Literaturbetrieb zwei Jahre ruhen, um Literaturförderung neu auszurichten. Das Geld sollte stattdessen dem Erhalt und Ausbau der Bibliotheken zugutekommen. Wer dennoch Literatur auf die Bühne bringen will: okay! Aber das soll man bitte aus der eigenen Tasche oder der der Zuhörer zahlen. Wie viel Zeit wir gewinnen würden fürs Lesen, Nachdenken und für Gespräche!




Wenn der Mensch neben dir nicht Duke Ellington ist – Helge Schneiders Auftritt im Dortmunder Konzerthaus

Warum nicht mal wieder zu Helge Schneider pilgern? Das letzte Mal ist ja schon wieder ein paar Jährchen her (es war seinerzeit im erzkatholischen Paderborn), und der Mann ist und bleibt doch wohl schließlich Kult. Bei ihm trifft diese Bezeichnung unumwunden zu, auch wenn man sie sonst nur ungern verwendet.

Cello kann er auch: Helge Schneider in Aktion. (Foto: www.helge-schneider.de)

Cello kann er auch: Helge Schneider in Aktion. (Foto: www.helge-schneider.de)

Also auf ins ausverkaufte Dortmunder Konzerthaus. 1500 Plätze bietet die Kulturstätte. Helge Schneider begehrt vom Publikum zu wissen, wie viele Einwohner Dortmund eigentlich habe. Soso, aha, rund 600.000. Und warum bitteschön seien die heute Abend nicht alle hier? Wahrlich eine bittere Enttäuschung!

Aber gut. Er lässt sich nicht lumpen und tritt trotzdem über zwei Stunden auf, auch wenn der Schelm gleich anfangs, nach den ersten paar Takten von „Lady Be Good“, gesagt hat: „So, das war’s für heute…“ Nur gut, dass er den Steinway nicht wirklich zugeklappt hat.

Ich will nicht behaupten, Helge Schneider (Jahrgang 1955) sei etwa altersmilde oder „verträglicher“ geworden, was immer das bei einem wie ihm heißen könnte. Aber er lässt doch nicht mehr so riesige Sinn- und Unsinnslücken klaffen wie ehedem. Zuweilen plaudert er wie nur je ein charmanter Conférencier. Und wahrlich: Schon nach wenigen Sekunden hat er das eh schon außerordentlich lachbereite Publikum da, wo er es haben möchte. Ein Phänomen, diese Präsenz.

Ein klein wenig wie ein großväterlicher Freak sieht er jetzt aus, dieser geborene „Ruhri“; aus Mülheim, nach Dortmunder Lesart beinahe schon exotisches Ausland. Aber verdammt noch eins, die Art seines Humors weckt in den hiesigen Breiten tatsächlich auch eine Art Heimatgefühl. Jawoll.

Klar, er ist ein begnadeter Komiker der unverwechselbaren Art. Er ist ein Entertainer sondergleichen, der bei aller Sprachspielerei auch dem Nonverbalen Raum lässt. Einmal legt er einen Stepptanz aufs Parkett, nachdem er auf den sauglatten Klacker-Schuhen wie übers Eis geglitten ist, panisch mit den Armen rudernd. Für einen Moment vollführt er plötzlich die Bewegung eines Eisschnellläufers. Eine quasi-olympische Sekunde: kaum geschehen, schon verweht. Anhaltendes Kichern im Saale.

Vor allem aber ist Helge Schneider ein reich begabter Musiker, der sich offenbar jedes, aber auch jedes Instrument schnell erschließt. Wenn er solo oder mit seinen beiden – in Ehren ergrauten – musikalischen Begleitern Rudi Olbrich (Kontrabass) und Peter Thoms (Schlagzeug) klassischen Jazz spielt, dann swingt es wie bei den Größen der Zunft. Vor allem der „geile Rudi“ (O-Ton Schneider) lässt sich manchen Scherz auf seine Kosten gefallen. Übrigens: Olbrich und Thoms seien alte Freunde, und das sei – wie Schneider verrät – auch besonders kostengünstig. Hähähä.

Helge Schneider (li.) und seine musikalischen Mitstreiter Rudi Olbrich (Mi.) und Peter Thoms. (Foto: www.helge-schneider.de)

Helge Schneider (li.) und seine musikalischen Mitstreiter Rudi Olbrich (Mi.) und Peter Thoms. (Foto: www.helge-schneider.de)

Auch wenn Helge Schneider zur Gitarre greift und dazu stilsicher übertriebene Essenzen französischen, spanischen oder auch chinesischen Liedguts knödelt, wenn er dann herzzerreißend simultan Klavier und Panflöte spielt („As Time Goes By“) oder das Letzte aus einem Cello herausholt (pickende Vögel etc.), so erweist sich jeweils aufs Köstlichste, wie erzmusikalisch er ist. Solche Parodien kann man nur liefern, wenn man ein Instrument wirklich beherrscht.

Apropos Jazzgrößen. Ein Bringer und Brüller des Abends ist jene windungsreiche Erzählung von anno 1974, als er mit 19 Jahren erstmals in Berlin war und beim Jazzfest Duke Ellington sehen wollte. Immer wieder schweift Helge Schneider zu seiner „Omma in Düüsburch“ ab. Schließlich führen die Erzählpfade doch wieder nach Berlin, genauer: oben auf den Doppeldecker-Bus zum Sightseeing. Und jetzt aber: Steigt doch unten ein Mann zu, der… Duke Ellington ist. Und setzt sich auch noch neben ihn. Wahnsinn. Man denke. Der große Duke Ellington. Schließlich nimmt der junge Helge allen Mut zusammen und knufft den Nachbarn in die Seite – und da ist es gar nicht Duke. Unglaublich! Unverschämtheit! Diese impertinente Person ist nicht nur nicht Duke Ellington, sondern sogar eine Frau, die Gemüse gekauft hat. Die Porreestange guckt aus ihrer Tasche… Aber bitte: Das alles kann man eigentlich gar nicht nachbeten, das muss man vom Meister selbst hören.

Das laufende Tourneeprogramm heißt derzeit „Ene mene mopel“, hebt aber nirgendwo auf den alten, bekanntlich etwas ekligen Kinderreim ab. Wie aus Bausteinchen, so setzt Helge Schneider seine Abende immer wieder neu und anders zusammen. Damals in Paderborn hat er beispielsweise eine herrlich ausgiebige Parodie auf Udo Lindenberg hingelegt, diesmal lässt er nur aufblitzen, dass er halt auch den Udo perfekt imitieren kann. Und überhaupt.

Ein paar seiner Nonsens-Klassiker stimmt er gleichfalls an, beispielsweise den Song von der „Wurstfachverkäuferin“ oder das ebenso wahnwitzige „Es gibt Reis, Baby“. Das über die Maßen strapazierte „Katzeklo“ lässt er hingegen nur ganz kurz anklingen, um daraus eine aber nun wirklich ganz und gar rührselige Geschichte von einer armen alten Frau und ihrer Katze fortzuspinnen. Da kommen einem die Tränen zwischen Lachen und Weinen. Aber echt jetzt.

Weitere Tournee-Termine/Karten:
http://www.helge-schneider.de/termine/all




Schürfen im Schoß der Erde: Interview mit dem Dirigenten Frank Beermann zur Premiere von „Hans Heiling“ in Essen

Am 24. Februar hat am Aalto-Theater in Essen die Oper „Hans Heiling“ Premiere. Mit dieser Rarität leistet das Essener Musiktheater seinen Beitrag zu den Veranstaltungen rund um den „Abschied von der Kohle“, dem Ende der Steinkohleförderung in Deutschland. Im Interview mit Werner Häußner wirft der Dirigent der Neuproduktion, Frank Beermann, einen Blick auf die Musik von Heinrich Marschner.

Der Dirigent der Premiere von "Hans Heiling", Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Der Dirigent der Premiere von „Hans Heiling“, Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

In Marschners Oper spielt der Bergbau, das Schürfen der Schätze im Schoß der Erde, eine Rolle als Rahmen der Handlung. Der König der Erdgeister, Hans Heiling, verlässt gegen den Willen seiner Mutter sein unterirdisches Reich, um auf der Erde unter einfachen Menschen wahre Liebe zu finden. Dafür muss er auf seine magischen Kräfte verzichten. Doch das Glück währt nicht lange …

Der 1795 in Zittau geborene und 1861 als pensionierter Hofkapellmeister in Hannover gestorbene Komponist wurde lange nur noch als „Bindeglied“ zwischen Carl Maria und Weber und Richard Wagner wahrgenommen, während in den 1830er Jahren als führender deutscher Opernkomponist galt.

Mit „Der Vampyr“ gelang Marschner 1828 ein sensationeller Erfolg, den er 1833 mit „Hans Heiling“ noch steigern konnte. Die dritte unter seinen beliebtesten Opern, „Der Templer und die Jüdin“ nach Sir Walter Scotts „Ivanhoe“, 1829 uraufgeführt, wurde von den Nationalsozialisten in Deutschland unterdrückt und nach dem Zweiten Weltkrieg – auch aufgrund der desolaten Quellenlage – nur noch selten aufgeführt. In den letzten Jahren stoßen Marschners hochromantische Sujets wieder auf gesteigertes Interesse; so wurde „Hans Heiling“ in den letzten Jahren in Wien und Regensburg, „Der Vampyr“ zuletzt in Koblenz gezeigt.

Frage: Herr Beermann, Marschner als „Bindeglied“ zwischen Weber und Wagner: Erschöpft sich die Bedeutung des Komponisten in dieser von der Musikgeschichtsschreibung bis in Gegenwart wiederholten Funktion?

Frank Beermann: Marschner war nicht „dazwischen“, sondern „gleichzeitig“. Seine erste große Oper „Heinrich IV. und Aubigné“ wurde 1820 unter Weber in Dresden uraufgeführt. Seine letzte kam 1863 in Frankfurt heraus, da saß Wagner über den „Meistersingern“. Marschner hat, wenn ich auf den „Fliegenden Holländer“ schaue, über weite Strecken auf Augenhöhe mit Wagner komponiert. Und seine Nähe zu Felix Mendelssohn-Bartholdy – ich denke an dessen „Erste Walpurgisnacht“ – ist wohl schon aus antisemitischen Gründen nicht beachtet worden.

Worin zeigt sich in „Hans Heiling“ der Rang des Komponisten Marschner?

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Beermann: Erstens spürt man, wie wichtig es Marschner war, sehr nahe am Text Eduard Devrients zu komponieren. Er hat wohl äußerst eng mit seinem Librettisten zusammengearbeitet – ein Glücksfall. Den Schritt Wagners, den Text selbst zu schreiben, ist er jedoch noch nicht gegangen. Musikalisch fällt auf, wie verschwenderisch reich seine melodische Erfindung war. Visionär war seine musikdramatische Idee, vor die Ouvertüre ein Vorspiel zu setzen. Und das große Terzett im „Holländer“ folgt dem Vorbild des Terzetts in „Hans Heiling“.

Zweitens ist auffällig, wie frei Marschner mit den musikalischen Formen seiner Zeit umgegangen ist. Die berühmte Arie Heilings „An jenem Tag“ besteht auf den ersten Blick aus den traditionellen Formen Rezitativ, langsamer und schneller Teil. Genau betrachtet ist das Rezitativ jedoch schon eine Agitato-Arie, der langsame Teil entwickelt sich durch Beschleunigung und dynamische Entwicklung zu einem wahnsinnigen Reigen, der fast schon an Hector Berlioz gemahnt. Der schnelle letzte Teil endet eigenartig still, in sich gekehrt. Auch das gespenstische Melodram von Gertrud, der Mutter Annas, steht einzigartig da: Draußen heult der nächtliche Wind, die Mutter wartet auf die Rückkehr ihrer Tochter, spricht zu sich selbst und gerät allmählich, wie unabsichtlich, ins Singen.

Bemerkenswert ist drittens, wie detailliert die Partitur gearbeitet ist. Es gibt zum Beispiel unglaublich viele dynamische Angaben. In der Arie des Hans Heiling schafft es Marschner mit schlichten Mitteln zu zeigen, wie sich der Wahnsinn in die Seele Heilings krallt, wie sich die Liebe zu Anna zur Getriebenheit steigert. Marschner setzt ein Crescendo, eine dynamische Veränderung, und man spürt, wie sich diese Person, halb Mensch, halb Erdgeist, verändert.

Wo finden Sie in Marschners Musik die Beziehung zu Mendelssohn?

"Steile Lagerung", eine Bronzeskulptur von Max Kratz, erinnert hinter dem Essener Hauptbahnhof an die Zeit, als Essen die größte Bergbaustadt Europas war. Foto: Werner Häußner

„Steile Lagerung“, eine Bronzeskulptur von Max Kratz, erinnert hinter dem Essener Hauptbahnhof an die Zeit, als Essen die größte Bergbaustadt Europas war. Foto: Werner Häußner

Beermann: Zunächst in der Orchestrierung. Marschner verwendet die Mittel, die Mendelssohn zur gleichen Zeit – um 1832 – entwickelt hat. Zum Beispiel gibt es in „Hans Heiling“ eine unglaublich schwere Bassstimme in schnellem Tempo über lange Strecken und in unterschiedlichen Tonarten. Die explizite Betonung des Basses ist eine Idee Mendelssohns, gespeist aus der Kenntnis von Johann Sebastian Bachs Musik und den Regeln des alten Kontrapunkts. Auch die Chorbehandlung erinnert an Mendelssohn. Der Gesang in der Kirche im Finale, wenn Anna den gräflichen Leibschütz Konrad heiratet, ist ein reiner Mendelssohn-Choral. Mit dem Chor geht Marschner überhaupt weit über die sonstigen Gepflogenheiten der Zeit hinaus, setzt ihn lautmalerisch und textausdeutend ein.

Wie erklären Sie sich dann das Verschwinden der drei bedeutenden Marschner-Opern aus dem Repertoire?

Beermann: Die Aufführungstradition bricht nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend ab. „Hans Heiling“ etwa wurde in Essen zuletzt 1940/41 gespielt. „Der Templer und die Jüdin“ verschwindet zu Beginn des Dritten Reiches aus ideologischen Gründen. Vermutlich waren die Themen – die Schauerromantik, die Geistergeschichten – überholt und mit der gelebten Realität nicht mehr vereinbar. Aber spätestens mit dem Aufkommen des Regietheaters hätte jemand auf die Idee kommen können, die Stoffe wieder neu zu befragen.

Was muss ein Dirigent beachten, wenn er heute Marschners Musik interpretiert?

Frank Beermann (links), Dirigent der Neuproduktion von Marschners Oper am Aalto-Theater Essen, im Gespräch mit Werner Häußner. Foto: Christoph Dittmann

Frank Beermann (links), Dirigent der Neuproduktion von Marschners Oper am Aalto-Theater Essen, im Gespräch mit Werner Häußner. Foto: Christoph Dittmann

Beermann: Er muss auf die detaillierten Angaben in der Partitur achten und sich anhand der Textur vorstellen können, wie diese Musik in der Zeit ihrer ersten Aufführung geklungen haben mag.

Ein Hinweis ist die erwähnte Nähe zu Mendelssohn. Man sollte Marschners Musik nicht spätromantisch spielen. Mit dem Instrumentarium ihrer Entstehungszeit kommt man auf ein transparentes, leichtes Klangbild. So gewinnt die Musik Tiefenschärfe. Und der Wechsel zwischen dramatischer Anspannung und heiterer Einfachheit in den Szenen der Landbevölkerung wird dramaturgisch einsichtig – ganz im Sinne Verdis, der sinngemäß sagte, jedes Drama werde nur im Spiegel der Komödie dramatisch. So erfahren wir auch die Fallhöhe eines Charakters wie Hans Heiling.

Auch in den Tempi sollte man Marschner trauen. Die „Gemütlichkeit“ der Musik – etwa im Terzett Nr. 4 „Wohlan wohlan, so lasst uns gehen!“ – hat einen dramaturgischen Sinn. Schneller und virtuoser genommen verliert die Musik ihre Folgerichtigkeit und lässt den Aspekt der Textgestaltung außer Acht.

Herr Beermann, Sie sind in Hagen geboren, also auch der Region verbunden. Bis 2016 waren Sie GMD in Chemnitz und Chefdirigent der Robert-Schumann-Philharmonie. Seit 2007 haben Sie dort eine Menge vergessener Opern aufgeführt, etwa Otto Nicolais „Il Templario“ oder Franz Schrekers „Der Schmied von Gent“. Viele davon sind auf CD dokumentiert, so Hans Pfitzners „Die Rose vom Liebesgarten“ oder Emil Nikolaus von Rezniceks Persiflage „Benzin“, die zur Zeit in Bielefeld nachgespielt wird. Ein Höhepunkt Ihrer Tätigkeit war wohl Giacomo Meyerbeers – ebenfalls auf Tonträger vorliegender – „Vasco da Gama“, bisher bekannt unter dem Titel „L’Africaine“. Seit 2016 sind Sie frei tätig. Wo setzen Sie Ihre künftigen Schwerpunkte?

Beermann: Mein Interesse verlagert sich in die deutsche Romantik und Spätromantik. Für diese Epoche wird man als international tätiger deutscher Dirigent als erstes gefragt. Viel Zeit habe ich mir für das einzigartige Projekt genommen, in Minden den „Ring des Nibelungen“ zu erarbeiten. Es ist eine wunderbare Arbeit, Wagner Wort für Wort und Takt für Takt zu lesen. In Essen habe ich 2017 auch „Tristan und Isolde“ dirigiert.

Im September 2018 folgt in Minden die „Götterdämmerung“, danach bin ich häufig in der Schweiz, etwa in Lausanne mit der „Fledermaus“ und Richard Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“. Außerdem ist in Frankreich ein „Parsifal“ geplant. Im Konzert dirigiere ich jetzt verstärkt Richard Strauss, Anton Bruckner und Gustav Mahler. Beim KlassikSommer in Hamm leite ich im Juni 2018 drei Konzerte. Im Mittelpunkt dieser Programme steht Strawinskys „Sacre du Printemps“, worauf ich mich sehr freue.

 




Heute vor fünf Jahren: das Ende der „Rundschau“

Das frühere "Rundschauhaus" wird zur Zeit umgebaut. (Foto: Bernd Berke)

Das frühere „Rundschauhaus“ wird zur Zeit umgebaut. (Foto: Bernd Berke)

Keine Angst, dies wird kein langer Text. Nicht mehr. Heute vor genau fünf Jahren wurde die gesamte Redaktion der Westfälischen Rundschau (WR) durch die Führung der WAZ-Gruppe (heute: Funke Gruppe) mit einem Federstrich entlassen. Damit endete praktisch die Geschichte der Zeitung, die nur noch als fremdbefülltes Phantomprodukt erscheint.

Wie man dem beigegebenen Foto entnehmen kann, wird derzeit das Gebäude der einstigen Zentralredaktion, das frühere „Rundschauhaus“ am Dortmunder Brüderweg 9, für andere Zwecke umgebaut – mutmaßlich für die üblichen Arztpraxen, Anwaltskanzleien und dergleichen. Wenn man dies sieht, spürt man immer noch einen gewissen Phantomschmerz, sofern einem die traditionsreiche Zeitung etwas bedeutet hat.

Schräg gegenüber hat sich am Brüderweg die Dortmunder SPD niedergelassen. Bemerkenswerter Zufall: Just heute Abend will Parteichef Martin Schulz nach Dortmund kommen, um im immer noch bundesweit bedeutsamen Unterbezirk für die GroKo zu werben. Vielleicht sollte er zwischendurch eine klitzekleine Gedenkminute für die Rundschau und alle seinerzeit (und teilweise bis heute) betroffenen WR-Kolleg(inn)en einlegen? Schließlich war die SPD-Medienholding Mitbesitzerin des Blattes; wenn auch mit einer Minderheitsbeteiligung.

Doch Schulz hat bestimmt Wichtigeres zu tun.

 




Fördertürme als prägende Bauten einer ganzen Region – Rolf Arno Spechts Fotoband „Kathedralen im Revier“

Wie schon hie und da gesagt: Im Revier wird heuer allerorten der Zechen-Vergangenheit gedacht, denn die hier so lange prägende Ära der Steinkohle endet im Dezember 2018 mit Schließung der allerletzten Schachtanlagen.

Der Zusammenschluss der RuhrKunstMuseen wird ebenso seinen Ausstellungs-Reigen beisteuern, wie beispielsweise das Ruhr Museum (Essen) und das Deutsche Bergbaumuseum (Bochum), die mit einer gemeinsamen Schau groß ins Geschehen einsteigen. Überdies gibt es einschlägige Film- und TV-Dokus, literarische Aufarbeitungen und Sachbücher zum Themenkreis. Womit wir sicherlich noch nicht alle Sparten genannt haben. Wird vielleicht auch irgendwo eine Zechenoper aufgeführt?

Im Essener Klartext Verlag, der seit einigen Jahren zur Funke Mediengruppe gehört, ist jetzt ein Bildband erschienen, der die Fördertürme in den Mittelpunkt stellt, sein nicht gar zu origineller, jedoch treffender Titel lautet „Kathedralen im Revier“. Tatsächlich ist der sakrale Bezug nicht so weit hergeholt, die imposanten Industrie-Ensembles können es an Wucht und Pathos mit so manchem Kirchenbau aufnehmen. Übrigens gibt es auch eine Art heimliches Pathos der Sachlichkeit.

Manche Motive zeigen sich so nur sehr selten

An Begleittexten wird bis zum Punkt der Kargheit gespart. Ein knappes Grußwort und ein ebenso kurzes Vorwort sowie ein paar Zwischenrufe müssen reichen. Die Bilder des 1969 in Marl geborenen Fotografen Rolf Arno Specht, im gesamten Ruhrgebiet zwischen Duisburg/Dinslaken im Westen und Hamm/Ahlen im Nordosten entstanden, sprechen ja auch weitgehend für sich. Der Mann muss sich wahrlich intensiv und extensiv mit seinem Thema befasst haben. Bestimmte Motive hat er nach eigenem Bekunden auf diese Weise bestenfalls einmal im Jahr aufnehmen können, als Wetter, Lichtverhältnisse und Perspektiven exakt seinen Vorstellungen entsprachen.

Für die relativ wenigen Untertage-Fotos hat Specht – wegen der Explosionsgefahr – keine womöglich Funken auslösende Digital-Ausrüstung verwenden können, auch Belichtungsmesser und Autofokus waren nicht erlaubt. Althergebrachte fotografische Tugenden und Fähigkeiten waren also unabdingbar.

Bauten im dichten Nebel und bei Sonnenuntergang

Der Band beginnt mit einer ganzen Reihe von Aufnahmen im ungemein dichten Nebel, welcher an den einst alltäglichen Smog gemahnt, der oft durchs ganze Ruhrgebiet waberte. Nur schemenhaft tauchen die imposanten Bauwerke zunächst auf; ganz so, als müssten sie erst noch einmal behutsam ans Tageslicht geholt werden und als müsse man der Erinnerung vorsichtig aufhelfen. Oder ist just schon das Gegenteil der Fall: Entschwinden die Gebäude etwa schon in die Gefilde des Vergessens? Doch hoffentlich nicht.

Des weiteren sieht man Bilder zur Einbettung der Zechengerüste in (Stadt)-Landschaften, aus denen sie gleichsam erwachsen und über die sie sich – zuweilen geradezu majestätisch – erheben.

Eine weitere Reihe zeigt Fördergerüste im Licht von Sonnenuntergängen bzw. Sonnenaufgängen, dabei kommt etwas beinahe Überirdisches oder Magisches ins Spiel. Schließlich folgen noch einige Luftbilder, die abermals die herausragenden Plätze der Fördertürme in den diversen Stadtlandschaften markieren. Tatsächlich sind es architektonische „Auftritte“, wie man sie sonst von Sakralbauten kennt.

Imposante Signaturen von Heimat und Identität

Man erfährt noch einmal ein- und nachdrücklich, wie sehr diese Bauten das Bild der ganzen Region bestimmt haben, so dass sie natürlich unbedingt denkmalwürdig sind; vielleicht nicht jedes einzelne Ensemble, aber doch etliche von ihnen. Und ja: Das alles hat mit Begriffen wie Heimat und Identität zu tun. Vieles andere ist im Revier ja mittlerweile so ähnlich wie in anderen Gegenden. Aber eine Zechenlandschaft haben sie in München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt eben nicht, ja noch nicht einmal im nahen und mental doch so fernen Düsseldorf.

Der Erhalt der Gebäude und möglichst vielfältiges neues Leben an diesen einstigen Stätten härtester Arbeit sind wichtige Aufgaben der Revierstädte und der Ruhrkohle AG (RAG), die über ihre millionenschwere Stiftung ja auch mancherlei technische „Ewigkeitskosten“ zu tragen hat, damit das von Bergsenkungen durchzogene Revier nicht „absäuft“.

Einige Gerüste wanderten von Stadt zu Stadt

Das Buch schließt mit einer schnellen „Bestandsaufnahme“ über alle noch existierenden Fördertürme – insgesamt 125, wenn ich richtig mitgezählt habe. Diesen Überblick hätte man sich noch ein wenig ausführlicher gewünscht.

Doch auch so lernt man im Schlussteil, dass im Gefolge des Bergbau-„Wanderzirkus'“ dieses oder jenes Fördergerüst schließlich noch den Ort gewechselt hat. So stand etwa das Wahrzeichen des Deutschen Bergbaumuseums Bochum einst an der Dortmunder Zeche Germania, während wiederum die heute an der Dortmunder Zeche Zollern II/IV“ aufragenden Türme früher zu Schachtanlagen in Gelsenkirchen bzw. Herne gehört haben. Aus heutiger Sicht nicht zu fassen: Die gesamte Zollern-Anlage, heute Zentrale des Westfälischen Industriemuseums, sollte ursprünglich komplett abgerissen werden. Deshalb fehlen die Original-Fördergerüste, denn der Akt der Barbarei hatte schon begonnen.

Rolf Arno Specht: „Kathedralen im Revier. Zechenlandschaft Ruhrgebiet“. Klartext Verlag, Essen. 176 Seiten Bildbandformat, Hardcover, durchgehend farbig. 24,95 Euro.




Glanz und Elend der Zechen-Ära im Revier – die wehmütige WDR-Dokumentation „Der lange Abschied von der Kohle“

Zahllose Veranstaltungen im Ruhrgebiet werden sich 2018 mit dem Ende der Steinkohle-Ära befassen. Mit der letzten Schicht auf der Bottroper Zeche Prosper-Haniel wird im Dezember nicht nur die Förderung im Ruhrgebiet, sondern zugleich in ganz Deutschland enden.

Drei von vielen: Die Bergleute Bernd Blosze, Matthias Ehmke und Ilhan Yaldiz (von links) zwei Wochen vor Schließung "ihrer" Zeche Auguste Victoria in Marl. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Drei von vielen: die Bergleute Bernd Blosze, Matthias Ehmke und Ilhan Yaldiz (von links) in der Waschkaue – zwei Wochen vor Schließung „ihrer“ Zeche Auguste Victoria in Marl. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Größtes Erinnerungs-Projekt dürfte die gemeinsame Ausstellung des Essener Ruhrmuseums und des Deutschen Bergbaumuseums in Bochum sein. Für einen gewichtigen Jahresauftakt zum Thema sorgt jetzt schon einmal der 90-minütige Dokumentarfilm „Der lange Abschied von der Kohle“ (WDR, 5. Januar 2018, 20.15 Uhr und in der Mediathek).

Werner Kubny und Petra Neunkirchen haben für diesen Film Bergleute durch die letzten Monate vor der Schließung der Zeche Auguste Victoria in Marl (bis zum 18. Dezember 2015) begleitet und diesen Stoff mit etlichen Gesprächen und Geschichten zum Ruhrbergbau angereichert.

Obwohl man es seit Jahrzehnten immer deutlicher kommen sah: Fürs Ruhrgebiet ist das politisch gewollte, endgültige Aus für die Steinkohle wahrhaftig ein historischer Moment und allemal ein Anlass zum Innehalten. Naturgemäß kommen dabei – auch in dieser Dokumentation – Wehmut und eine gewisse Nostalgie auf. Übrigens: Warum läuft ein solcher Film eigentlich nicht zur besten oder wenigstens zur zweitbesten Zeit im bundesweiten ARD-Hauptprogramm?

Dieser großartige Zusammenhalt unter Bergleuten

Ein Leitgedanke bzw. leitendes Gefühl des gesamten Films ist der ungeheure Zusammenhalt unter den Bergleuten – ganz gleich, woher sie kamen. Ein paar türkische Kollegen legen davon Zeugnis ab. Bessere Integration geht schwerlich. Nicht nur „auf Zeche“ selbst, auch in der Nachbarschaft der Kolonie (und in mancherlei Arbeitskämpfen) hielt man unverbrüchlich zusammen. Und man war stolz auf seine Arbeit. Selbst die letzten Lehrlinge in Marl, die sich demnächst andere Jobs suchen müssen, sind bereits von diesem Gemeinschaftsgeist ergriffen und bedauern, dass das alles ein Ende haben wird.

Unter Tage musste sich einer hundertprozentig auf den anderen verlassen können. Das schweißte wohl dermaßen zusammen, dass einer im Rückblick sogar meint: „Das kannste mit dem schönsten Mädchen im Bett nich‘ erleben…“ Über fortschreitende Entsolidarisierung, Ellenbogen-Mentalität und Mobbing in anderen Bereichen der Wirtschaft mag man da am liebsten gar nicht nachdenken. Man sollte es aber!

Als das Revier noch die Triebkraft des Wachstums war

1956, im Jahr der größten Steinkohleförderung, waren im Ruhrgebiet noch 148 (!) Zechen in Betrieb, in denen fast 500.000 Menschen arbeiteten, die für damalige Verhältnisse relativ gut entlohnt wurden. Damals war das Revier mit seinen Berg- und Stahlwerken der stärkste Motor fürs bundesdeutsche „Wirtschaftswunder“. Aus der Keimzelle „Montanunion“ entstand auch der politische und wirtschaftliche Zusammenschluss (west)europäischer Staaten, zuerst als EWG, dann als EG, schließlich als EU.

Gewaltige Anlage, von oben betrachtet: Zeche Auguste Victoria in Marl, Schacht 8. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Gewaltige Anlage, von oben betrachtet: Zeche Auguste Victoria in Marl, Schacht 8. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Schon bald aber, noch in den späten 50er Jahren, wurden im Revier die ersten Feierschichten gefahren und es kam vereinzelt zu Zechenschließungen. Die erste ganz große Krise, die letztlich zur Gründung des Einheitskonzerns RAG (Ruhrkohle AG) führte, erfasste den Bergbau um 1966.

All diese Entwicklungen werden in der WDR-Doku gesprächsweise und mit historischen Filmausschnitten aufbereitet. Gelegentlich mit breit ausladender, feierlicher Musik unterlegt (Komponist Rainer Quade / Bochumer Sinfoniker), hat der Film einige seiner stärksten Momente, wenn die Kamera einfach nur in die Gesichter der Bergleute blickt.

Man möchte pathetisch werden – aber das passt nicht

Man könnte mit einigem Pathos darüber reden und sie als „Helden der Arbeit“ preisen, doch das wäre diesen Menschen nicht angemessen. Sie sind allesamt bodenständig und erdverbunden geblieben, wie es ihr knochenharter Beruf nun einmal mit sich bringt. Sie stehen für das, was das Ruhrgebiet einmal ausgemacht hat. Selbst der hippe DJ aus Gelsenkirchen findet, dass man die alten Zechenbauten als Stätten der Identifikation erhalten solle. Durch Eltern und Großeltern haben viele noch eine Ahnung vom einstigen Revier. Es war schmutzig, aber es war die Heimat.

Dass Kubny und Neunkirchen sich nur durchs westliche und mittlere Ruhrgebiet um Essen, Gelsenkirchen, Bottrop, Duisburg, Herne, Dorsten und Marl bewegen, dass sie das (nord)östliche Revier um Bochum, Dortmund, Lünen, Hamm und Ahlen gänzlich außen vor lassen – geschenkt. Dass sie nicht einmal die Dortmunder Jugendstil-Zeche Zollern mit dem Westfälischen Industriemuseum aufgesucht haben – auch geschenkt. Dass sie als einzigen kumpeltauglichen Fußballverein nur Schalke 04 gelten lassen – ebenfalls zähneknirschend geschenkt. Das müssen sie mit ihrem Gewissen ausmachen.

Der Dreck, die Mühsal, die Unglücke

Sie entschädigen mit grandiosen Aufnahmen der gewaltigen Industrieanlagen, die teilweise dem Verfall preisgegeben sind, teilweise aber auch mit neuem, oft kulturträchtigem Leben gefüllt werden. Andernorts holt sich das Grün die Brachen zurück. Neben solcher Industrie-Ästhetik werden freilich auch die Schattenseiten des einst so dreckig verrußten Reviers nicht verschwiegen. Ein kurzes Kapitel handelt vom schweren Leben der Ruhrgebiets-Frauen, die die Wäsche nur unter größten Mühen sauber bekamen – ohne Maschinenhilfe, dafür aber mit vielen quirligen Kindern auf engstem Wohnraum. Und die Blagen hatten, wie man früher so sagte, mächtig Kohldampf.

Von Staublunge, Unfällen und Unglücken ganz zu schweigen. Einer erinnert sich, sichtlich bewegt, wie er mit den Jahren nach und nach neun Kollegen und Freunde für immer verloren hat. Hier ist nur noch Schweigen angebracht.




Werke von großer Aussagekraft – eine nachdrückliche Erinnerung an den Künstler Werner Habig

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den Künstler Werner Habig, der u. a. viele Jahre als Kunsterzieher in Bergkamen tätig war:

Vor dem Städtischen Gymnasium in Bergkamen steht auf dem Rasenstück neben dem PZ eine abstrakte Skulptur. Es ist eine aufgeschnittene Kugel, deren Einzelteile in einer reizvollen Kombination nebeneinander gesetzt sind und so eine neue Einheit bilden. Die Skulptur ist zum Logo des Gymnasiums geworden und findet sich u.a. auf dem Briefkopf der Schule wieder.

Der BIldhauer Werner Habig (Foto: © Stefan Milk)

Der in Wattenscheid geborene Künstler Werner Habig (1924-1990) (Foto: © Stefan Milk)

Der Bildhauer, der dieses Werk geschaffen hat, ist Werner Habig, er war damals einziger Kunsterzieher am Gymnasium, durch dessen Unterricht ganze Generationen an Schülern gegangen sind.

In Bergkamen ist er leider als Schöpfer dieses Kunstwerks in Vergessenheit geraten. Bei einer Auflistung der Kunstwerke in Bergkamen durch das Kulturamt wurde die Skulptur vor dem Gymnasium mit „Künstler unbekannt“ aufgeführt. In einer späteren Liste tauchte sie gar nicht mehr auf.

Habig liebte abstrakte Formen, er schulte seine Gymnasiasten in diese Richtung und es entstanden viele Bilder nach mathematisch durchgerechneten Überlegungen.

In seiner eigenen Kunst, den Zeichnungen, vor allem aber den Skulpturen, blieb Habig nicht bei der Abstraktion. Er war ein vielseitiger Künstler, der vor allem durch Porträts von sich reden gemacht hat. Im Foyer des Recklinghauser Festspielhauses steht bis heute ein Porträt des Mitbegründers der Ruhrfestspiele, Otto Burrmeister, das Habig geschaffen hat. Ebenso gibt es von ihm eine Herbert-Wehner-Büste, die der SPD-Politiker von allen seinen Darstellungen am meisten schätzte. Stolz ließ sich Wehner in den achtziger Jahren neben der Habig-Büste ablichten.

Erschütterndes Gegenbild zu heldenhaften Christus-Darstellungen

Erschreckendes Sinnbild von Diktatur und Terror ist Habigs Büste des spanischen Diktators Franco: ein hohler Kopf mit greisenhaftem, bösartigem Gesicht und toten Augen. Davon sprach Habigs Freund Gerd Holtmann, Kamener Junge und späterer Leiter der Ruhrfestspiele, immer in einer Mischung von Bewunderung und Abscheu. „Man kann die Figur nicht lange um sich ertragen“, urteilte er. „Man hat das Gefühl, das Bösartige greift nach einem.“

Habig-Skulptur: Christus von Kevelaer. (Foto: © Stefan Milk)

Bekannte Habig-Skulptur: Christus von Kevelaer. (Foto: © Stefan Milk)

Gänzlich anders, wenn auch ebenfalls erschreckend, ist Habigs sehr bekannte Darstellung „Der Christus von Kevelaer“ gestaltet, die Einzug gefunden hat in viele Religionsbücher. Für die evangelische Kirche in Kevelaer hatte er in den fünfziger Jahren den Auftrag erhalten, ein Kruzifix zu gestalten. Habig erinnerte sich an die heldenhaften Darstellungen des germanisch geprägten Christus während der Nazizeit und hielt ein Antibild dagegen.

Vorbilder für seinen Christus waren die ausgemergelten, zu Tode geschundenen KZ-Insassen, die aus dem Gasofen gezogenen Skelette, eine Provokation, die auch in Kevelaer anfangs zu heftigen Auseinandersetzungen führte.

Ein verzerrter, entsetzlich entstellter Körper hängt an einem schmalen Bronzekreuz, der Brustkorb hat ein tiefes Loch, Ellbogen und Schultergelenke sind überdeutlich herausgedrückt, dabei ist die Figur weit nach vorn gesackt und nur noch durch die Nägel mit dem Kreuz verbunden. Man bleibt gebannt stehen, wenn man die Christuskirche in Kevelaer besucht.

1990, nur wenige Monate nach seiner Pensionierung, ist er in seinem Haus in Hamm-Sandbochum im Alter von 65 Jahren gestorben. Es ist an der Zeit, an diesen Künstler zu erinnern, der leider viel zu wenige, dafür aber großartige Werke geschaffen hat.

 

 

 

 

 

 




Die „Kumpel“-Zeit im Ruhrgebiet ist längst vorbei: Jetzt sind nur noch „Akteure“ auf der Zeche

Stillgelegte Fördertürme der Marler Zeche Auguste Victoria (Schacht 1 und 2). (Foto: Daniel Ullrich / Threedots - Wikimedia CReatice Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Stillgelegte Fördertürme der Marler Zeche Auguste Victoria (Schacht 1 und 2). (Foto: Daniel Ullrich / Threedots – Wikimedia Creative Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Es scheint ganz so, als käme man beim Regionalverband Ruhr (RVR) vom angeblich metropolitanen Urbanitäts-Sprech nicht mehr herunter, das eigentlich ein von Bürokraten und Funktionären ausgehecktes, besinnungsloses Event-Sprech ist, welches sich wiederum im Grunde als lebensfernes Schnarch-Sprech erweist.

Auch rückwirkend werden Menschen nach diesem Kauderwelsch kategorisiert. Wollt ihr beispielsweise wissen, wer früher „auf Zeche“ tätig war, also denkbar hart gearbeitet oder – noch viel wahrer ausgedrückt – malocht hat?

Hier erfahrt ihr es. In einer heute lancierten Pressemitteilung aus dem Hause RVR kommt dieser weichgespülte Satz zum WDR-Dokufilm „Der lange Abschied von der Kohle“ vor, der von der Schließungsphase der Zeche Auguste Victoria in Marl handelt:

„Parallel zur Schließungsgeschichte schlägt der Film mit Archivmaterial und Erzählungen von Akteuren den Bogen von den 1950er Jahren bis heute.“

„Erzählungen von Akteuren“. Um mal herzhaft auf Herbert Knebel zu machen: Boaah, ey, glaubsse! Meine Fresse! Auch hier wären sie also zugange (gewesen): die notorischen, laut RVR stets auch für allerlei Ausprägungen der Revierkultur zuständigen „Akteure“ – und offenbar erst in zweiter Linie Bergleute, von „Kumpeln“ ganz zu schweigen.

Diese immer wieder gedankenlos herbeizitierten „Akteure“ können alles und nichts bedeuten. Es müssen wohl blutleere, künstliche Wesen, Zombies oder Aliens sein, die mit Klassenzusammenhängen oder gar Kämpfen nichts mehr zu schaffen haben. Woran sich zwanglos die Frage anschließt: Sind auch landläufige Betriebsnudeln „Akteure“?

Nun aber Fakten, Fakten, Fakten: Für seinen Dokumentarfilm hat Werner Kubny ab Herbst 2015 ein Jahr lang einige Bergleute begleitet. Am Freitag, 5. Januar, läuft die 90-minütige Doku um 20.15 Uhr im WDR-Fernsehen.

Hintergrund ist das endgültige Aus für den Steinkohlebergbau im gesamten Ruhrgebiet, das 2018 mit Schließung der Bottroper Zeche Prosper Haniel bevorsteht. Es ist das Ende einer Epoche, das sich freilich schon seit Jahrzehnten abzeichnet. In diesem neuen Jahr wird das Thema so manche Kultur-Unternehmung prägen.




Von Dortmund-Dorstfeld bis Donald Trump: der Geierabend 2017/2018

Auf Zeche Zollern feierte der 26. „Geierabend“ Premiere – Auftakt einer Session, in deren Verlauf weit über 10.000 Besucherinnen und Besucher aus dem ganzen Ruhrgebiet nach Dortmund-Bövinghausen kommen werden, um das Jahr kabarettistisch Revue passieren zu lassen – von Donald Trump bis Dortmund-Dorstfeld.

Alle Fotos in diesem Beitrag: © StandOut Tania Reinicke und Ekkehart Bussenius. www.standout.de

Alle Fotos in diesem Beitrag: © StandOut Tania Reinicke und Ekkehart Bussenius. www.standout.de

Im „Amt für entschwundene Kunst“ verwaltet die schwangere Vertretung der Schwangerschaftsvertretung die Lücken im Bestand, als Paul auftaucht. Paul hat viel Gerümpel im Keller und bringt das ahnungslose Fräulein vom Amt dazu, sein Waschbecken für eine verschwundene Installationen von „Villeroy Boch dem Älteren“ und seine alten Winterreifen für das Werk des Fluxus-Künstlers Michelin zu halten – und so die für ihn kostenlose Abholung zu veranlassen.

Der „Dortmunder Kunstschwund“ ist damit zweiten Mal Thema im Ruhrpott-Karneval „Geierabend“, diesmal in einer Nummer, die die Realität urkomisch-lakonisch auf den Punkt bringt: Das Schlimmste am vermeintlichen Skandal sind Menschen, die ihn für eigene Zwecke instrumentalisieren.

Die Kunstschwund-Nummer ist typisch für den 26. Geierabend, der am Donnerstagabend auf Zeche Zollern Premiere feierte: Randvoll mit aktuellen Anspielungen und bissigen Kommentaren aufs Zeitgeschehen, und dabei weder platt noch wirklich böse. Das war in den vergangenen Jahren schon mal anders, als Themen wie Flucht oder Rechtsextremismus verarbeitet wurden und das Lachen auch mal im Hals steckenblieb. Diesmal: intelligente Unterhaltung für politisch interessierte Ruhris – gemischt, natürlich, mit ausreichend Klamauk aus Schnöttentrop oder Kaninchenstall.

Martin F. Risse und Sandra Schmitz. Foto: StandOut

Der „Steiger“ wird hoffentlich bleiben

„Bye Bye Bottrop“ ist das titelgebende Motto diesmal – im Jahr 2018 endet mit der Schließung der Zeche Prosper Haniel in Bottrop die Steinkohleförderung im Ruhrgebiet und damit eine Ära. Es ist nur einer von mehreren Abschieden beim Geierabend: Das kreative Multitalent Günter Rückert gibt in dieser Session seinen Ausstand als Regisseur, und auch Ensemblemitglied Hans Martin Eickmann ist zum letzten Mal dabei. Dass dagegen der „Steiger“ dem Geierabend erhalten bleibt, darauf darf man trotz seiner traditionell anderslautenden Ankündigung wetten, es zumindest sehr hoffen: Neben der großartigen fünfköpfigen Band macht vor allem die blitzgescheite und pointierte Moderation von Martin Kaysh als „Steiger“ den Geierabend unverwechselbar.

Dafür steht zum Beispiel die Verleihung des „Pannekopp-Ordens“, die zum Ende der Session demjenigen winkt, der sich aus Sicht des Publikums am meisten um die 28,5 kg rostigen Stahlschrotts verdient gemacht hat. Nominiert sind in diesem Jahr NRW-Ministerpräsident Armin Laschet für seine Pläne, die Olympischen Spiele ins Ruhrgebiet zu holen („Wo das Stadion von Westfalia Herne nicht mal Rasen hat!“) , sowie das Literaturfestival lit.cologne, das in diesem Jahr mit dem Ableger „lit.RUHR“ die „Alphabetisierung vom Ruhrgebiet“ versucht hat – in der allzu offenkundigen Annahme, die Gegend zwischen Duisburg und Dortmund sei, literarisch gesehen, Diaspora.

„Der Steiger“ Martin Kaysh. Foto: StandOut

„Gebiet der Gebieter“

Überhaupt: Wenn andere versuchen, ein Selbstverständnis des Ruhrgebiets zu formulieren, schaut der Geierabend besonders genau hin. So gibt es Spott für die neue Standortmarketing-Kampagne der Metropole Ruhr, die mit dem Slogan „Stadt der Städte“ wirbt – Gegenvorschläge der Geier: „Gebiet der Gebieter“ – oder, noch besser, „Metropole der Polen“?

Es bleibt nicht bei der Kritik – der Geierabend liefert konstruktive Vorschläge zur Zukunft des Reviers. Was aus dem Ruhrgebiet werden soll, wenn die letzte Kohle gefördert ist? Zum Beispiel ein unterirdisches Endlager für all den Hass, der online gepostet, getwittert und getippt wird. In der Nummer „Prosper Haniel reloaded“ brodelt und dampft ein Leck geschlagener Hass-Castor, übervoll mit Kommentaren von „Wutbürgern, Reichsbürgern und ganz normalen Arschlöchern“. „Unter Adolf wär das nicht passiert“, entfleucht es, und die Grubenwehr steht hilflos daneben – bis die Heilige Barbara kommt. Auch diese Nummer hat einen ernsten Hintergrund: In Essen beschäftigt Facebook hunderte Mitarbeiter damit, Hass-Kommentare zu erkennen und zu löschen.

Die mächtigsten Tänzer der Welt beim „Pas de Doof“: Kim Jong-Un (Murat Kayi) und Trump (Martin F. Risse). Foto: StandOut

Dirty Dancing mit Kim Jong-Un

Die Spannungen zwischen Nordkorea und den USA bringt der Geierabend in einem herrlichen „Pas-de-Doof“ auf die Bühne: Trump (Martin F. Risse) und Kim Jong-un (Murat Kayi) praktizieren „Dirty Dancing“ und liefern sich einen tänzerischen Schlagaustausch, der die Absurdität der gegenseitigen Provokationen wortlos umso deutlicher macht. Auf der Bühne endet die Eskalationsspirale in der berühmten Hebefigur – allerdings mit Hilfe einer kleinen Leiter.

Ein depressiver Bundesadler (Sandra Schmitz) macht SPD-Witze („Was liegt am Boden und kann trotzdem noch fallen? Die SPD auf dem Weg zur Großen Koalition“) und wünscht sich, Angela Merkel würde mit der AfD regieren – bislang habe sie schließlich alle Koalitionspartner in Grund und Boden regiert.

Angela Merkel (Franziska Mense-Moritz) beim ausgelassenen Singen mit dem depressiven Bundesadler (Sandra Schmitz). Foto. StandOut

Respekt verdient Franziska Mense-Moritz, die nach ihrem Wadenbeinbruch humpelnd auftritt – ein absoluter Bühnen-Profi, die es schafft, ihre Krücke überzeugend in die Nummern einzubauen, sei es als eine der „Zwei vonne Südtribüne“, die diesmal gegen die Ausweitung der Spieltage und den „Kommarz“ im Fußball ansaufen, sei es als genervte Brautjungfer, als „Sonne“ in Tommy Finkes anspruchsvollem Klimasong oder als heiserer „Wemser“. Der entwickelt gemeinsam mit seinem Bruder „Missgeburt“ (Sandra Schulz) die Idee, die nach Hannibal-Räumung wohnungslos gewordene Mutter zu verprügeln, damit sie im Frauenhaus unterkommen könne. Was aus dem Hannibal werden könnte, auch dazu gibt es eine Idee: Dort könnten die Dorstfelder Nazis unterkommen. Die zündeln doch so gerne…

Geierabend noch bis 13. Februar im LWL Industriemuseum Zeche Zollern, Eintritt 37 Euro (ermäßigt 20.90 Euro)




Zwei magere Jahre sind vorbei – nach Renovierung spielt das Theater Dortmund endlich wieder im angestammten Haus

Das Leben kehrt zurück. Nach fast zweijähriger Umbaupause wird im Dortmunder Theater endlich wieder Theater gespielt, auf großer und auf kleiner Bühne, und einen leichten Anflug von Freude darüber kann der Verfasser dieser Zeilen nicht verhehlen. Der Mensch braucht eben sein Stadttheater, das auch deshalb so heißt, weil es in der Stadt ist (und nicht im Gewerbegebiet).

Ansicht des Dortmunder Schauspielhauses - Aufnahme von 2009. (Foto: Bernd Berke)

Ansicht des Dortmunder Schauspielhauses – Aufnahme von 2009. (Foto: Bernd Berke)

Trotzdem darf natürlich auch an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß sich das Theater in seiner Ausweichspielstätte „Megastore“ wacker behauptet hat und daß dem Intendanten Kay Voges dort mit der „Borderline Prozession“, die Inszenierung ebenso wie Rauminstallation und Video-Arbeit war, definitiv Außergewöhnliches gelungen ist.

Doch im „eigenen Haus“ mit aufgefrischter Technik und optimiertem Brandschutz kann man einfach mehr machen. Und im übrigen auch mehr Publikum bespielen. Eine bange Frage für den Rest der Spielzeit wird daher sicherlich sein, ob das Publikum jetzt wieder in so reicher Zahl wie vordem strömen wird, oder ob es sich möglicherweise anderswo hin, nach Bochum beispielsweise, orientiert hat. Das hängt natürlich auch von dem ab, was geboten wird.

Warten auf den „Theatermacher“

Als erste Produktion gelangte am Samstag „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch zur Aufführung, sinnfällig kombiniert mit Ray Bradburys düsterer Zukunftsvision „Fahrenheit 451“, wo es ebenfalls um Feuer und Verbrennen (von Büchern) geht. Regie führte Gordon Kämmerer.

Kurz vor Jahresende steht das nächste Premierenwochenende in Dortmund an. Tschechows „Kirschgarten“ kommt als Studio-Produktion in der Regie von Sascha Hawemann am 29. Dezember heraus. Und erst am 30. Dezember wird der Chef selbst Regie im frisch renovierten Schauspielhaus führen. Der Theatermacher inszeniert den „Theatermacher“: In der Regie von Kay Voges gelangt Thomas Bernhards bittere Komödie zur Aufführung, mit Andreas Beck (wem sonst!) als Theatermacher Bruscon und Uwe Rohbeck als Wirt. Auch am Silvesterabend läuft die Produktion, und sie ist fast schon ausverkauft.

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Pressemitteilung des Dortmunder Schauspiels vom 27.12.2017:
Premiere „Der Theatermacher“ wird verschoben
„Das Schauspiel Dortmund muss die für den 30. Dezember geplante Premiere von „Der Theatermacher“ aufgrund von Erkrankungen im Ensemble verschieben. Der neue Premierentermin wird noch bekannt gegeben. Die Silvester-Vorstellung muss leider ersatzlos entfallen. Aufgrund des späten Spielzeitbeginns nach dem Rückzug aus dem Megastore kann das Schauspiel keine Ersatzvorstellung anbieten. Bereits gekaufte Karten können an der jeweiligen Vorverkaufskasse zurückgegeben oder umgetauscht werden. Das Schauspiel Dortmund bedauert den kurzfristigen Ausfall und die Unannehmlichkeiten für das Publikum sehr.”
Nachtrag:
Neuer Premierentermin ist Samstag, 3. März 2018 (Schauspielhaus, 19.30 Uhr).




Knochenbrecher und geile Gans – Die im Revier gemachte Zeitschrift „Ruhrgebeef“ feiert das Fleisch mit jeder Faser

Lange keine Zeitschrift mehr gesehen, die mit so viel Wumm aufgetreten ist: „GANS. SCHÖN. LECKER.“ rufen einem die Versalien auf dem Cover der weihnachtlichen Ausgabe lauthals zu. Darüber prangt das Titelfoto einer kross gebratenen Gans in denkbar fleischiger Weise.

Titelseite der Zeitschrift "Ruhrgebeef", Ausgabe 5. (© Überblick Medien GmbH & Co. KG, Bochum)

Titelseite der Zeitschrift „Ruhrgebeef“, Ausgabe 5. (© Überblick Medien GmbH & Co. KG, Bochum)

Ja, entgegen allen Trends zum vegetarischen oder gar veganen Essen zelebriert diese Illustrierte das Fleisch mit virilem, manchmal geradezu beißwütigem Gestus. Die Postille erscheint im Revier und nennt sich wortspielerisch „Ruhrgebeef“.

Saftiger Braten in Nahaufnahmen

Im besagten Stil geht es auch im Heftinneren weiter beherzt zur Sache. Immer und immer wieder sieht man saftige Fleischstücke von jedwedem Getier, bevorzugt in Großaufnahmen, die jede Faser erkennen lassen und zuweilen beinahe schockierend wirken.

Ein Veganer dürfte beim bloßen Anblick schnell in Schnappatmung verfallen. Fehlen nur noch kernige Sprüche wie „Wir wollen sein ein einzig Volk von Metzgern“. Oder auch „Das Schlachten ist des Ruhris Lust“. Naja, jetzt geht meine Phantasie durch. Aber die haben angefangen!

Die „Ruhrgebeef“-Macher lassen es ja auch verbal nicht an Entschiedenheit fehlen. Die empfehlende Vorstellung einer Geflügelschere wird mit der nur bedingt empfindsamen Überschrift „Der Knochenbrecher“ versehen. Die Titelgeschichte über Gänse bekommt diese Zeile, abermals in brüllenden Großbuchstaben, diesmal mit frivolem Beiklang: „DIE GEILE GANS AUSM KRANZ“. Gemeint ist das Hattinger Landhaus-Restaurant „Kranz im Katzenstein“. Illustriert ist das wiederum sehr detailfreudig mit Fleisch-Nahansichten, die überhaupt das ganze Blatt dominierend durchziehen. Und nicht jedes dieser Bilder ist geeignet, den Appetit anzuregen.

Ratschläge vom „Fleischflüsterer“

Die nächsten Storys befassen sich mit den Gans-Zerlegungstipps von Christoph Grabowski, eines Fleisch-Sommeliers (es muss nicht immer „Metzger“ heißen) aus Castrop-Rauxel, der zuweilen auch bewundernd „Fleischflüsterer“ genannt wird. Unter dem Motto „Wild geworden“ geht’s ferner um Schwarz- und Rotwild. Einige Seiten zuvor musste „Beef Bacon“ gegen „Pork Bacon“, also Rind gegen Schwein, zum „Duell“ antreten. Großer Sport.

Außerdem wandelt man über etliche Seiten mit arg wiederholungsträchtiger Fotoauswahl auf den rauchigen Spuren des Bochumer Grill-Weltmeisters Oliver Sievers, der den Titel in Limerick (Irland) geholt hat und nach eigenem Bekunden daheim zehn verschiedene Grills hat. Der Mann verwendet übrigens auch schon mal Gemüse als Grillgut, was einem im Kontext von „Ruhrgebeef“ seltsam fremd vorkommt.

Besonderer Mix für die Männlichkeit

Ein Abstecher nach Dortmund verströmt einen speziellen Duft von Männlichkeit und (prothesenhafter?) Potenz. Folgender Themenmix (nein, nicht Thermomix, Sie haben falsch gelesen) wird da angerichtet: In einer „Tuningschmiede“, in der halt Autos tiefergelegt und aufgemotzt werden, gibt es auch knackige Burger. Fleisch und Motoren, das ist eine Kombi, wie sie die „Ruhrgebeef“-Macher Macher wohl besonders schätzen.

Direkt danach sind wir zu Gast bei einem Duisburger Wurstmetzger, außerdem bei einem Metzger aus Essen, es folgen u. a. ein Testbericht über Waygu-Rinder, um die inzwischen weit über Japan hinaus ein Kult entstanden sein soll, ein längeres Stück über den „Steak-Patriarchen“ Eugen Block sowie eine Hymne auf den „Schinkenhimmel“ am Essener Großmarkt. Vom münsterländischen Iberico-Schweinezüchter gar nicht erst zu reden.

Themenfeld wohl noch lange nicht abgegrast

Puh! Doch damit noch nicht genug. Ein Besuch im Grillzentrum der Dortmunder Firma S & E lässt erneut ahnen, dass (auch) auf diesem Felde redaktionelle Berichte und Werbung nicht immer in wünschenswerter Deutlichkeit getrennt werden (können). Mehrfach wird man Inserate von Gastro-Betrieben finden, denen auch ein Beitrag gewidmet ist.

Sodann wird noch dem Whisky als Fleischbegleiter gehuldigt (ein edles Destillat kommt gar aus dem Sauerland), und es werden einige der besten Pommesbuden im Ruhrgebiet genannt – Stichwort „Currywurst“. Keine ganz taufrische Idee. Unter dem sportiven Begriff „Trainingslager“ werden uns schließlich noch ein paar Rezepte schmackhaft gemacht.

Angesichts des einschlägigen Themenspektrums, das ja auch in dieser fünften Nummer schon wieder so manches abdeckt, fragt man sich, was die Redaktion des Überblick-Verlags (Bochum) eigentlich in den nächsten Ausgaben präsentieren will. Aber wir zweifeln natürlich nicht daran, dass das Team um Chefredakteur Tom Thelen auch weiterhin noch jede Menge Fleischiges aus der Region anrichten und servieren wird.

„Ruhrgebeef“ (hier: Ausgabe 5). Zeitschrift. 6,50 Euro.




„Fast wie im echten Leben“: Gründlich umgestaltete Ostwall-Sammlung im Dortmunder „U“ wirkt geradezu erfrischend

Da schau her! Wie hat sich die Präsentation dieser Sammlung verändert! Man erkennt sie streckenweise kaum wieder. Hier gilt’s nicht mehr so sehr der hehren Kunst, die sich vom schnöden Alltag abhebt, sondern im Gegenteil: Die Kernfrage lautet, wie sehr die Werke mit uns und unserem Alltag zu tun haben, wie sie aus ihm hervorgehen und ihn wiederum beeinflussen; selbst noch aus historischem Abstand – und sei’s als Gegenpole. Die gründlich neu gestaltete Sammlung des Museum Ostwall (MO) im Dortmunder „U“ ist im besten Wortsinne „ansprechender“ geworden.

Die Leiterin und Kuratorin der Ostwall-Sammlung, Nicole Grothe, erläutert eine Ansammlung von Arbeiten Bernhard Hoetgers. (Foto: Bernd Berke)

Die Leiterin und Kuratorin der Ostwall-Sammlung, Nicole Grothe, erläutert eine Ansammlung von Arbeiten Bernhard Hoetgers. (Foto: Bernd Berke)

Die alles überwölbende Ausstellungs-Parole heißt denn auch: „Fast wie im echten Leben“. Gleich im neuen Eingangsbereich auf der 5. Etage des „U“-Turms blicken einen lauter andere Ausstellungsbesucher von ehedem frontal an. Das großformatige Tableau mit Schwarzweiß-Fotografien stammt von Jochen Gerz und ist ein geradezu monumentales Relikt seiner groß angelegten Dortmunder Aktion „Das Geschenk“ aus dem Jahr 2000. So wird bereits signalisiert: Das Ganze hier hat vor allem mit Euch zu tun!

Bildnisse der Besucher

Zudem wird man sogleich freundlich ermuntert, selbst zum Zeichenstift zu greifen und sein eigenes, mehr oder weniger verfremdetes Spiegelbild zu entwerfen, womöglich auch inspiriert von einem kleinen Matisse-Bildnis aus Dortmunder Eigenbesitz, das direkt über dem Zeichentisch hängt.

An dieser Stelle darf man sein eigenes Spiegelbildnis zeichnen. (Foto: Bernd Berke)

An dieser Stelle darf man sein eigenes Spiegelbildnis zeichnen. (Foto: Bernd Berke)

Die so entstandenen Selbstporträts sollen täglich gesammelt und an einer freien Wand aufgehängt werden. Auf diese Weise nimmt man also zur Kenntnis, welche Leute vor einem in der Ausstellung waren oder vielleicht noch sind; zumindest erfährt man’s physiognomisch, selbstverständlich ohne alle weiteren Daten. Oder halt gänzlich abstrakt.

Acht weitere dieser Aktionspunkte werden im Laufe des Rundgangs noch folgen. Mal kann man zu mehreren ein Bild kreieren, mal eine Landschaft nach Belieben ergänzen. Wer will, muss jedenfalls nicht passiv und unbeteiligt bleiben.

Partizipation als Leitlinie

Derlei Ansätze fügen sich zum Credo des niederländischen „U“- und Ostwall-Chefs Edwin Jacobs, der entschieden auf Partizipation setzt. Kuratorin Nicole Grothe und ihr Team haben konsequent die Leitlinie verfolgt, die auf Einbeziehung der Besucher(innen) hinausläuft. In eine voluminöse Arbeit, die bei Berührung musikalische Töne von sich gibt, darf man sich gar (vorsichtig) hineinlegen. Trotz alledem macht das Museum jedoch keine Abstriche am Eigenwert der Kunst. Manche Arbeit erscheint einem, derart neu besehen, überraschend anders und wie erfrischt.

Vier farblich deutlich, aber dezent abgegrenzte Bereiche sind nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet. So kommt es, dass Beispiele für die Dortmunder Sammlungsschwerpunkte (Expressionismus und Fluxus-Kunst seit den 60er Jahren) miteinander vielfach in direkte Dialoge treten können.

Christian Rohlfs: "Clowngespräch", 1912. Öl und Tempera auf Leinwand. (Museum Ostwall)

Christian Rohlfs: „Clowngespräch“, 1912. Öl und Tempera auf Leinwand. (Museum Ostwall)

Intensiviert werden solche ästhetischen Zwiesprachen durch eine großzügige Öffnung der Räume. Es sind einige Zwischenwände verschwunden, deren Standspuren noch am Boden zu gewärtigen sind. Auch dies hat Methode und soll besagen: Wir sind noch lange nicht fertig. Dies ist ein „work in progress“, es soll beileibe nicht die letzte Veränderung bleiben.

Von einer wünschenswerten „Dynamisierung“ der Sammlung spricht Edwin Jacobs. Die Kunst soll nach seinem Verständnis an- und aufregende Geschichten erzählen und Assoziationen anstoßen. In weiteren Erneuerungs-Schritten sollen auch neue Pfade durch gesamte Haus gezogen werden. Dafür werden noch hochkarätige Museums-Designer gesucht.

Geradezu frappierender Effekt schon zu Beginn: Porträtbüsten und Vorarbeiten des Dortmunder (genauer: Hörder) Lokalmatadors Bernhard Hoetger werden gleichsam en masse und seriell gezeigt, auf einem Regal gestapelt, ohne Sockelgehabe oder sonstige Überhöhung ihrer Entstehungszeit. Damit kontrastiert eine Arbeit von Dieter Roth (1930-1998), der sich und sein Seelenleben – gewiss nicht ohne Selbstironie –  in einem tierischen Turm aus lauter Schokoladen-Löwen dargestellt hat. Auch hier das serielle Moment, doch willentlich vom Künstler ins Werk gesetzt und mit völlig anderer Intention.

Am Beispiel Hoetger lernt man auch gleich, wie die Herrichtung durch Kuratoren künstlerische Arbeiten verändern und in neue Kontexte stellen kann. Apropos: Zum neuen Konzept gehört auch, dass man an einer bestimmten Stelle immer mal wieder Museumsleuten bei der Arbeit über die Schulter schauen und sie dabei ein wenig stören kann. Fragen erwünscht, auch nach dem Motto: „Was machen Sie eigentlich so den ganzen Tag?“

August Macke: "Großer Zoologischer Garten", 1913. Öl auf Leinwand, ehemals Sammlung Gröppel. (Museum Ostwall)

August Macke: „Großer Zoologischer Garten“, 1913. Öl auf Leinwand, ehemals Sammlung Gröppel. (Museum Ostwall)

Die leicht fasslichen Titelzeilen der vier Bereiche lauten: „Du und ich“ (Menschendarstellungen), „Ausflug ins Grüne“ (Natur in allerlei Formen), „Freund oder Feind“ (Kampf, Krieg und Ausgrenzung) sowie „Kunst und Leben“.

Schließlich wird anhand ausgewählter Arbeiten erwogen, wieviel Alltag in der Kunst steckt – und wieviel Kunst im Alltag. Ob das in jedem Einzelfalle schlüssig gelingt, ist eine andere Frage, mit der man sich eingehender befassen muss.

Im Kapitel „Freund oder Feind“ wird unterdessen ausdrücklich an die Gründungsimpulse der Nachkriegszeit erinnert, als das Ostwall-Museum ganz bewusst die von den Nazis als „entartet“ verfemten Künstler rehabilitierte. Die nahezu unterschiedlos dichte „Petersburger Hängung“ an einer Wand führt vor Augen, wie nahezu wahllos und konfus die NS-Machthaber Kunstwerke aussortiert hatten.

Wolf Vostell: "TEK (Thermoelektrischer Kaugummi)", 1970. 5 Lichtquellen, 30 Metallpfähle mit Stacheldraht, 5 Koffer mit Radios und wärmeempfindlichen Mikrophonen, 13000 Löffel und Gabeln. (© VG BIld-Kunst, Bonn 2017)

Wolf Vostell: „TEK (Thermoelektrischer Kaugummi)“, 1970. 5 Lichtquellen, 30 Metallpfähle mit Stacheldraht, 5 Koffer mit Radios und wärmeempfindlichen Mikrophonen, 13000 Löffel und Gabeln. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Die Veränderungen gehen bis ins Detail der Vermittlung. Vermehrt wird mit zusammenfassenden Wandtexten gearbeitet, die einzelnen Exponate werden zusätzlich erklärend beschriftet, und zwar endlich auch durchgehend in englischer Sprache. Warum sollte man denn nicht mit internationalem Publikum rechnen? Als anglophones Markenzeichen klingt das Museum Ostwall (MO) denn auch beinahe pop-verdächtig: „The MO“. Mal versuchshalber so gesagt: Hey, let’s go to the Mo…

Wer in der Sammlung bekannte Künstlernamen sucht, wird nach wie vor an vielen Stellen fündig: hie eine Arbeit von Jörg Immendorff, dort eine raumfüllende Installation von Wolf Vostell, Werke von Otto Piene, Daniel Spoerri, Yves Klein; von Max Beckmann und einigen Expressionisten ganz zu schweigen. Und so weiter.

Doch es kommt laut Nicole Grothe in diesem Zusammenhang weniger auf Prominenz an, sondern darauf, was einen die Kunst angeht und wie sie einen angeht. Selbst ein Stolz der Sammlung wie August Mackes „Großer Zoologischer Garten“ (1913) erstrahlt nicht nur für sich selbst, sondern auch im erhellenden Zusammenspiel mit Landschafts- und Natur-Darstellungen von ganz anderer Art.

Vorläufiges Fazit: Auch und gerade altgediente Kenner der Dortmunder Sammlung können hier das Entdecken und Staunen wieder lernen. Wenn sich das alles herumspricht, darf man wohl auch hoffen, neue Besucherkreise anzuziehen.

„Fast wie im echten Leben“. Museum Ostwall im Dortmunder „U“, Neupräsentation der Sammlung in der 4. und 5. Etage.

14. November 2017 bis 4. März 2018. Öffnungszeiten: Di / Mi 11-18 Uhr, Do / Fr 11-20 Uhr, Sa / So /Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt 5 Euro (ermäßigt 2,50), Kinder und Jugendliche unter 18 frei.

Adresse: Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Tel.: 0231 / 50 24 723. Internet: www.museumostwall.dortmund.de

Zeitlich parallel läuft im Ostwall -„Schaufenster“ die kleine Ausstellung „Today I want to show you“ des Kölner Künstlers Bastian Hoffmann, der die Form von Erklärvideos bei YouTube und anderen Plattformen aufgreift. Dabei setzt er sich hintersinnig mit der „Do it yourself“-Bewegung auseinander; zwar humorvoll, aber keineswegs hämisch. Hoffmann ist just zum Träger des Kunstpreises „Follow me Dada and Fluxus“ gekürt worden, der von den Freunden des Museums Ostwall e. V. ausgelobt wird.




Ein Ruhri als Arbeitsmigrant in Istanbul – burlesker Musikabend des Bochumer Schauspiels mit Liedern von Sezen Aksu

Im Dolmus, dem speziellen türkischen Sammeltaxi, kommen sich die Menschen sehr nah. Ensembleszene aus „Istanbul“. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Schummrig glimmende Messinglampen, dicke Teppiche, im Hintergrund die Blaue Moschee: ganz klar, der Orient.

Umrahmt indes wird die orientalische Szenerie vorne, links und rechts von voll besetzten Biertischen und –bänken, und käme im nächsten Moment eine blonde Resi Maßkrüge stemmend um die Ecke, wunderte es einen nicht. Man ahnt, dass hier Kulturen aufeinanderstoßen werden, und liegt damit natürlich richtig.

Türkische Künstlerin

„Istanbul“ heißt das Stück von Selen Kara und Torsten Kindermann, in dem es meistens laut und lustig zugeht und in dem es viel Musik zu hören gibt – Premiere im Kleinen Haus des Bochumer Theaters.

Zu hören sind an diesem Abend Lieder der türkischen Sängerin Sezen Aksu (Jahrgang 1954). Sie ist in der Türkei seit Jahrzehnten ein Star, singt von Sehnsucht, Liebe, Trauer, Verlust. Im Jahr 1990, verrät uns das Internet, gab es eine Zusammenarbeit mit Udo Lindenberg, dennoch dürfte die Künstlerin in Deutschland nur wenigen bekannt sein. Diesem Defizit mit einem Liederabend zu begegnen, ist somit ein löbliches Unterfangen.

Wie sagt man, daß man Kaffee lieber mag als Tee? Aufmerksame Barkeeper und sprachunkundiger Gastarbeiter (von links): Koray Berat Sari, Torsten Kindermann, Gregor Hengesbach, Jan Sebastian Weichsel, Roland Riebeling. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Die Rahmenhandlung spielt mit einer Fiktion. Wie wäre es, wenn die türkisch-deutsche Arbeitsmigration umgekehrt verlaufen wäre? Wenn nicht Türken zum Broterwerb nach Deutschland hätten kommen müssen, sondern Deutsche in die Türkei, vor allem nach Istanbul, Boomtown am Bosporus?

Klaus Gruber, VfL-Fan aus Bochum, ereilt dieses Schicksal. Die entwürdigende medizinische Untersuchung erklärt ihn für tauglich, und in einem Ort namens Börök bekommt er Arbeit. Klaus (Roland Riebeling) versteht kein Wort Türkisch, seine Behausung ist winzig, seine Arbeit eine Knochenmühle, immerzu muss er, der notorische Kaffeetrinker, Tee trinken, und erotischen Offerten beiderlei Geschlechts – schließlich ist er verheiratet – muss er entschlossen widerstehen. Doch Klaus schluckt all das, schickt Geld nach Hause, schwört sich und allen, die es hören wollen, dass er das höchstens zwei Jahre macht.

Klaus‘ Frau kam nach

Bekanntlich kam es anders für die Männer und Frauen der „ersten Generation“. Die neue Heimat haben sie nicht gewonnen, die alte aber Stück um Stück verloren. Irgendwann ist Klaus’ Frau Luise (Tanja Schleiff) nachgezogen, und als Rentner sitzen sie immer noch in Istanbul. Obwohl Klaus in Bochum ein Haus gebaut hat, blau-weiß angestrichen, mit Wintergarten. Anfang und Ende der Handlung ist übrigens eine Beerdigungsszene, in der die Hinterbliebenen darüber streiten, wo Klaus’ Urne denn nun vergraben werden soll.

Neben Klaus und Luise wirken eine türkische Geliebte (Raphaela Möst), ein Barkeeper (Martin Weigel) und ein Dolmetscher (Daniel Stock) mit, und alle fünf singen sie abwechselnd Lieder von Sezen Aksu. Begleitet werden sie von einer Viermannkapelle (Gregor Hengesbach, Torsten Kindermann, Koray Berat Sari, Jan-Sebastian Weichsel), die sich auch, wie man spätestens bei der Zugabe hören wird, mit hartem Rockgeschrammel recht gut auskennt. So viel zur Konstruktion dieser eher schlicht gestrickten Zweistundenproduktion.

Klaus (Roland Riebeling) auf seinem Teppich. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Selbstgemachtes Musiktheater hat in Bochum Tradition. Ein sehr erfolgreicher Johnny-Cash-Abend mit Thomas Anzenhofer in der Titelrolle stand während der Intendanz Anselm Webers jahrelang auf dem Programm. Auch hier verantwortete Torsten Kindermann das musikalische Konzept. Wahrscheinlich hoffen er und die anderen „Istanbul“-Verantwortlichen – zu nennen wäre noch Regisseur Selen Kara, der zusammen mit dem Texter Akin E. Sipal die Fassung dieses Stücks schuf – auf einen ähnlichen Erfolg.

Doch wirklich überzeugend geraten die Musikbeiträge hier nicht. Die eher burleske Darbietung auf der Bochumer Bühne (Thomas Rupert) unterscheidet sich nachteilig vom stilvollen, intensiven Vortrag der türkischen Diseuse.

Auch die musikalische Begleitung gerät zu derb, lässt mit lautem Trommeln eher an den Balkan-Sound eines Emir Kusturica denken. Subtile „orientalische“ Klänge hingegen, die, wenngleich sparsam gesetzt, den Reiz der Lieder von Sezen Aksu zu einem nicht geringen Teil ausmachen, sind Sache dieser Musikanten nicht. So wie in Bochum vorgetragen, klingen die Lieder auch deshalb bald schon einförmig, und ungeduldig harrt man des Fortgangs der Handlung.

Keiner versteht Ruhri-Deutsch

Nun, trotzdem bleibt es vergnüglich, und das ist vor allem Roland Riebeling als Gastarbeiter Klaus zu verdanken. Mit Mutterwitz ist er gesegnet, die Sprache des Reviers ist ihm vertraut, und mit gutem Gespür für die rechte Balance von Tragik und Komik arbeitet er auch die traurigen Valeurs des Gastarbeiterschicksals heraus: Ein armer Ruhri, dessen Ruhri-Sprache keiner versteht und der in seiner existentiellen Not unser Mitleid erregt. Auch die anderen vier Mitspieler wissen zu überzeugen, wenn die Inszenierung ihnen dazu die Gelegenheit gibt. Alle arbeiten sie hoch präsent und mit beeindruckendem Körpereinsatz.

Das Publikum bejubelte „Istanbul“ am Premierenabend frenetisch. Auch zu Silvester, wenn das Schauspielhaus mit Doppelvorstellungen in beiden Häusern maximales Programm bietet, ist das Stück im Angebot. Spaßtheater zum Jahreswechsel, warum auch nicht. Die Sängerin Sezen Aksu indes sollte man sich im Original anhören. Im Internet geht das problemlos.

 




Was ist denn nur los mit Borussia Dortmund? Muss jetzt der Trainer schleunigst gehen?

Jetzt mal Butter bei die Fische: Borussia Dortmund ist derzeit schwach. Erschreckend schwach. So schwach wie lange nicht mehr. Als Jürgen Klopp, nach all den bahnbrechenden Erfolgen, auf einmal seine unerklärliche „schwarze Serie“ hatte, war es so ähnlich. Doch sein Nachnachfolger Peter Bosz kann, bis auf ein paar anfängliche Strohfeuer, noch keine nennenswerte Erfolgsserie aufweisen.

...und wieder ein Tor für die Bayern (das 0:3). (Screenshot: Sky-Übertragung)

…und wieder ein Tor für die Bayern (das 0:3). (Screenshot: Sky-Ticket-Übertragung)

Mit 1:3 haben sie soeben das Heimspiel gegen die Bayern verloren. Keine normale Niederlage. Sie haben nicht verloren wie der BVB, sondern – mit Verlaub – eher wie Mainz o5. Daran ändert auch der späte Anschlusstreffer in der 88. Minute nichts. Ansonsten: grottige Chancenverwertung, furchtbar wacklige Verteidigung; wie fast schon üblich in letzter Zeit.

Ist das heutige Gewürge etwa wieder in ca. 180 Länder übertragen worden? Gnade! Bitte nicht! Was sollen sie da draußen denken?

Nicht nur die in den letzten Wochen oft gescholtene Abwehr spielt weit unter Form, auch Mittelfeld und Angriff schwächeln deutlich, ja mitunter erbärmlich. Es könnte einem so vorkommen: Schießen die Gegner, ist beinahe jeder „drin“, zielen „wir“, geht praktisch alles daneben. Es ist wie verhext.

Fragt mich bitte nicht nach meiner Meinung über Neuzugänge wie „Toto“ (Toprak / Toljan), sonst werde ich vielleicht noch ausfallend. Aber es liegt beileibe nicht nur an ihnen. Der einstige Torjäger Aubameyang ist nur noch ein Schatten seiner selbst, sogar der sonst so unerschütterliche Sokratis bleibt unter seinen Möglichkeiten. Heute hat eigentlich nur Pulisic gänzlich überzeugt. Doch glücklos blieb auch er.

BVB-Geschäftsführer Watzke muss sich allmählich ernsthaft fragen, ob es richtig war, den doch recht erfolgreichen Trainer Thomas Tuchel achtkantig `rauszuwerfen und statt dessen den Holländer Peter Bosz zu holen. Der Mann mit dem eleganten Outfit hat binnen weniger Wochen nahezu alles vergeigt. Ihm fehlt einfach die Fortune.

Das Ausscheiden aus der Champions League ist gewiss, nicht einmal die Teilnahme an der Europa League ist gesichert. Ein zweifaches 1:1-Unentschieden gegen einen Club wie Apoel Nikosia entspricht bei weitem nicht den Ambitionen des Vereins.

Die Tabellenführung mit fünf Punkten Vorsprung auf die Bayern ist nicht nur rapide geschmolzen, sondern hat sich in einen Rückstand von sechs Punkten verwandelt. Auch Leipzig hat jetzt den BVB überholt, Schalke ist bereits punktgleich. Zu fürchten steht, dass die Dortmunder nach unten „durchgereicht“ werden.

Aufs „Aus“ im DFB-Pokal darf man sich wohl ebenfalls einrichten. In der kommenden Runde geht es ausgerechnet zu den Bayern nach München. Nach den heutigen Eindrücken ist dort kein Blumentopf zu gewinnen.

Die meisten Sportjournalisten haben sich inzwischen darauf geeinigt, dass Bosz nach seinem (offenbar von Gegnern inzwischen leicht berechenbaren) Hurra-Stil keinen „Plan B“ habe, also vorerst nicht mehr weiter wisse.

Es sieht also ganz so aus, als müsse „man“ die Reißleine ziehen und schleunigst einen Trainer holen, der ein Spielsystem installiert, das zu den Fähigkeiten des vorhandenen Kaders passt. Oder kann Bosz diese Kehrtwende noch selbst vollziehen? Ich wage zu zweifeln.

P.S.: Mir ist bekannt, dass es oft vernünftiger ist, vertrauensvoll zuzuwarten und nicht gleich alle Flinten ins Korn zu werfen. Doch es gibt Grenzen.




Bochumer Ausstellung „Umbrüche“: Wie Fotokünstler den stetigen Wandel des Ruhrgebiets gesehen haben

Das Ruhrgebiet kann man auf sehr verschiedene Arten betrachten – auch und gerade mit künstlerisch inspiriertem Sinn. Diese an sich nicht allzu überraschende Weisheit wird jetzt in einer Bochumer Fotografie-Ausstellung sehr entschieden bekräftigt. „Umbrüche“ heißt die anregende Schau im „Museum unter Tage“ („MuT“), das im allseits durchgrünten Ambiente des Schlossparks von Bochum-Weitmar gelegen ist.

Rudolf Holtappel: "Die letzte Schicht", Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Rudolf Holtappel: „Die letzte Schicht“, Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Der Titel lässt ahnen, dass es abermals um den Wandel der Industrielandschaft geht, der sich schon seit etlichen Jahrzehnten vollzieht. Dennoch ist es keine regionalgeschichtliche Themen- und Überblicksausstellung, sondern eine genuin künstlerische, die just unterschiedliche ästhetische Positionen markiert.

Anlass zum Innehalten

Gewichtiger Anlass zum Innehalten: 2018 wird mit Prosper Haniel in Bottrop die letzte aktive Zeche des gesamten Ruhrgebiets den Betrieb einstellen. Da lohnt sich erst recht der Blick zurück, der womöglich auch Perspektiven für die Zukunft eröffnet. Denn die Frage, wie man den viel beschworenen Strukturwandel gestalten soll, ist ja immer noch nicht hinreichend beantwortet. Wie denn auch? Es ist eine bleibende Aufgabe.

Den Schwerpunkt und den Auftakt des Ausstellungs-Rundgangs bildet ein famoses Konvolut mit rund 110 Fotografien von Rudolf Holtappel. Selbst Ruhrgebietsbewohner, hat der als Reportage-, Theater- und Unternehmensfotograf tätige Holtappel Wesen und Wandel dieser Region besonders in den 60er und 70er Jahren festgehalten. Trotz weltweiter beruflicher Reisen sind die vorwiegend in Duisburg und Oberhausen entstandenen Revier-Bilder der Kern seines Lebenswerks.

Weit entfernt von Revier-Klischees

Tatsächlich formieren sich geradezu monströse Industrieanlagen in seinen Aufnahmen zu „Landschaften“ ganz eigener Art, die sich übermächtig in ursprünglich agrarisch genutzte Areale gefräst haben. Diese Fotografien sind freilich weit entfernt von Ruhrgebiets-Klischees. Mit den Begriffen Wirklichkeit und zumal Wahrheit soll man bekanntlich vorsichtig sein, doch hier leuchten Momente auf, die dem Ideal einer wahrhaftigen Essenz wohl sehr nahekommen.

In Bochum sind ausschließlich eigenhändige Abzüge Holtappels zu sehen, nach weniger guten Erfahrungen mit Profi-Laboren („Das sind nicht mehr meine Bilder!“) hat er seinerzeit den ganzen Herstellungsprozess an sich gezogen. Und siehe da: Auch anhand seiner relativ kleinformatigen Abzüge (er wollte die Betrachter nicht mit schierer Größe überwältigen), die vorwiegend für den Druck und nicht für Museumswände gedacht waren, kann man dennoch der Textur der Dinge und den feinsten Nuancen von Grautönen nachspüren. Nie und nimmer könnte man solche ästhetischen Valeurs mit Digitalfotografie erzielen.

Verwurzelung und ungebrochene Vitalität

Der Fotokünstler hat nicht nur Industrieanlagen und den damals noch so rußigen Himmel auf Bilder gebannt, sondern auch einprägsame Momente des Ruhrgebiets-Lebens – von Bergarbeiterstreiks gegen die ersten Zechenschließungen in den 1960er Jahren bis hin zu Kleingarten-Refugien und prallen Kneipenszenen, die von Verwurzelung und unverfälschter Vitalität künden.

Rudolf Holtappel ist 2013 mit 90 Jahren in Duisburg gestorben. Seine Witwe Herta hat der Bochumer Stiftung „Situation Kunst“ (zu der das Museum unter Tage gehört) etwa 150 Ruhrgebiets-Fotografien als Schenkung überlassen. Von den Arbeiten, die nun zu sehen sind, ist die Hälfte noch nie öffentlich gezeigt worden.

Bernd und HIlla Becher: "Hochofen", Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Bernd und Hilla Becher: „Hochofen“, Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Gespür für kulturhistorischen Wert

Wie grundlegend anders erscheinen Revier-Ansichten im Oeuvre von Bernd und Hilla Becher! Fast schon steril und blutleer muten ihre Aufnahmen der Oberhausener Gutehoffnungshütte seit Mitte der 60er Jahre an. Doch es ist eben eine andere, ebenso schlüssige Herangehensweise.

Als monumentale Denkmäler ihrer selbst erscheinen hier die gigantischen Industriebauten. Spuren von Alltag und Arbeit scheinen sich verloren zu haben. Schon früh entwickelten die Bechers offenkundig ein weit vorausschauendes Gespür für den kulturhistorischen Wert solcher Anlagen, den sie möglichst „objektiv“ dokumentieren wollten. Wenn man weiß, dass die Gutehoffnungshütte bereits damals von Schließung bedroht war, so könnte die fotografische Serie auch den (hilflosen) Gestus eines Rettungsversuchs haben.

Verletzungen der Stadtlandschaft

Bis hierher hat man Schwarzweiß-Aufnahmen gesehen, jetzt beginnt die Farbzeit, allerdings in verhaltenen Tönen: In den 80er Jahren hat sich der in Dülken/Niederrhein geborene Joachim Brohm (Jahrgang 1955) fotografisch im Revier umgetan. In nahezu verblichen wirkenden Farben hat er vor allem schmerzliche „Verletzungen“ in Randzonen der Stadtlandschaften aufgesucht.

Joachim Brohm: "Ruhr", Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Joachim Brohm: „Ruhr“, Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Es sind bestürzende Hinterlassenschaften der Industrie und brachialer Umgestaltung: veritable Wüsteneien und öde Orte der Tristesse, in denen kaum noch etwas zu geschehen scheint. Eine ganze Region, so der Eindruck, ist gleichsam entleert worden und liegt brach. Darüber ist man heute noch nicht überall hinweg.

Bis zum Rand der Abstraktion

Jitka Hanzlová, 1982 ohne jegliche deutsche Sprachkenntnis aus der Tschechoslowakei ins Ruhrgebiet „verweht“, wie sie sagt, setzt die beinahe abstrakten Schlussakzente der Ausstellung. Fast schon Hassliebe sei es, was sie ans Ruhrgebiet binde, sie könne nur sehr subjektiv ans Sichtbare herangehen. Mit ihrer zuweilen radikal ausschnitthaften Sichtweise begibt sie sich an unscheinbare Stellen, die unter ihrem besonderen Blick freilich mit rätselvoller Magie aufgeladen werden. Ob es ein böser oder guter Zauber sei, verraten diese Bilder gewiss nicht.

„Umbrüche: Industrie – Landschaft – Wandel“. Museum unter Tage („Situation Kunst“, Schlossstr. 13, Bochum, Parkgelände Haus Weitmar). Geöffnet Mi-Fr 14-18 Uhr, Sa/So/Feiertage 12-18 Uhr. In Bochum noch bis zum 25. März 2018 (anschließend im Willy-Brandt-Haus, Berlin: 5. April bis 27. Mai 2018). Vierteiliger Katalog im Schuber 32 Euro.

Infos: www.situation-kunst.de

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Wenn Vater von der Zeche kam, sagte er nur „Na, Sohnemann“ – Kindheit im Revier, geprägt von Liebe und Begrenztheit

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, mit einer Kindheitserinnerung aus dem Revier von damals:

Da ist ein Bild, ganz tief in mir gespeichert, das mich nicht loslässt mein Leben lang. Ich bin noch Kind, nicht mal zehn Jahre alt. Die Schule ist aus, wir spielen Fußball auf dem großen, freien Platz, dem Kamener Schützenhof, direkt vor unserer Haustür.

Wie aus einer anderen Zeit: in einer Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Zeugnis einer anderen Zeit: in Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Wir wollen Tilkowski werden, Fritz Walter oder dieser neue, dieser Uwe Seeler. Wir spielen selbstvergessen, eingetaucht in eine Welt, die ganz uns gehört und niemand sonst. Und wenn wir im Spiel auch erbitterte Gegner sind, sind doch vor allem eines, nämlich Freunde, teilweise bis heute.

Fußballbilder in Tüten vom Kiosk

Wenn die Glocken der Pauluskirche mit dem schiefen Turm dreimal läuten, schaue ich hinüber zum Ende des Platzes, von dem aus man die Geschäftsstraße unserer Stadt erreichen kann. Die alte Politz hat dort an der Ecke ihr Kiosk. Sprudel können wir dort kaufen, wenn wir völlig verschwitzt sind und vor allem die Tüten mit den Fußballbildern. „Die Politz“, sagt meine Oma, „ist deine Sparkasse.“

Gleich, um kurz nach drei, das weiß ich, wird mein Vater dort auftauchen. Er ist Bergmann und kommt immer gegen drei Uhr von Zeche Heeren mit dem Bus nach Hause. Wenn ich ihn dann sehe, unterbreche ich mein Spiel, laufe hin zu ihm und merke, wie er lächelt, wenn er mich entdeckt. „Na, Sohnemann“, sagt er, wenn ich ihn erreiche und streichelt mir über den Kopf. Immer nur dies, „Na, Sohnemann“, dazu das Streicheln mit der Hand und sein Lächeln. Sonst nichts. Ein paar Schritte gehe ich neben ihm her, fasse ihn an der Hand, dann renne ich zurück zum Fußball, wo meine Freunde, deren Väter auch Bergleute sind, auf mich warten.

Ein tief erschöpfter Mann

Meine Mutter, das weiß ich, wartet schon mit dem Essen auf ihn, Gemüse, Kartoffeln aus dem Garten hinter unserem Haus, wir haben nicht viel Geld für Lebensmittel. Und anschließend, wenn er gegessen hat, raucht er Zigaretten in der Küche, zwei, drei. Immer zu viel. Er sitzt dann weit vorgebeugt auf seinem Stuhl, raucht und stöhnt zwischendurch leise. Ein tief erschöpfter Mann, für den die Arbeit vor Kohle viel zu schwer ist. Kaufmann hatte er gelernt, aber keine Arbeit gefunden, bis er dann dahin gekommen war, wohin alle Väter meiner Freunde im Ruhrgebiet gekommen waren. In den Pütt oder ins Loch, wie meine Mutter immer sagte.

Dieses Bild begleitet mich, mein Vater, wenn er von der Zeche kommt, wenn ich ihn begrüße und er nach Hause geht. Und unser selbstvergessenes Spiel mit meinen Freunden. Eine Kindheit, geprägt von Liebe und Begrenztheit.

„Wer so eine große Zahnlücke hat…“

Manchmal, wenn ich durch unser Haus lief, hielt meine Oma mich fest.
„Mach mal den Mund auf“, sagte sie und schaute auf die Zahnlücke zwischen meinen Schneidezähnen.
„Du kommst noch mal weit rum in der Welt“, sagte sie dann.
„Warum komme ich weit rum, Oma?“
„Wer so eine große Zahnlücke hat, der kommt weit rum“, antwortete sie.

Zwei Bäume aus jener Zeit stehen noch

Was das eine mit dem anderen zu tun hat, habe ich damals nicht verstanden und weiß es bis heute nicht, aber meine Oma hat recht gehabt. Ich bin in vielen Ländern gewesen und habe dort teilweise sogar Vorträge über deutsche Literatur und Lesungen gehalten, in Ländern, die sie sich nicht vorstellen konnte.

Den Platz meiner Kindheit gibt es noch, er sieht ganz anders aus als zu meiner Zeit. Vierstöckige Gebäude, Flachdach, unten Geschäftsräume, darin inzwischen viele Leerstände, darüber Wohnungen. Zwei Bäume stehen noch aus meiner Kindheit, zwei Bäume. Eine Platane, die zum Schulhof unserer Schule gehörte, die direkt neben dem Schützenhof lag, und eine Kastanie, die im Garten des Pfarrhauses, der Schule gegenüber stand. Ich habe ein Gedicht über diese letzten Zeugen meiner Kindheit geschrieben.

In diesem Bild lebt die Liebe meiner Eltern fort, die mir Kraft gab, große Schritte zu gehen und die Enge, die mich umgab, zu überwinden. Doch da ist auch die Trauer, dass sie, meine Mutter und mein Vater, die eine Begrenztheit, die geographische, nur sehr spät und auch das nur ein wenig, überwinden konnten. In dem anderen, in ihrer Liebe, aber waren sie grenzenlos.




Künftiger Ruhrfestspiel-Chef heißt Olaf Kröck

Hier mal ein dürre Nachricht, einstweilen noch ohne allzu viel „Fleisch“, wie man so sagt: Der kommende Intendant der Ruhrfestspiele heißt Olaf Kröck, ist derzeit (Interims)-Intendant des Bochumer Schauspielhauses und wird sein Amt in Recklinghausen am 1. August 2018 antreten.

Wird Intendant der Ruhrfestspiele: Olaf Kröck. (Foto: © Knotan)

Wird Intendant der Ruhrfestspiele: Olaf Kröck. (Foto: © Knotan)

Der 45-jährige Kröck tritt die Nachfolge von Frank Hoffmann (63) an, der den Ruhrfestspielen seit 2004 nur selten ästhetische Offenbarungen, jedoch hervorragende Auslastungszahlen beschert hat.

Mit Kröck, der ein Studium der Angewandten Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Universität Hildesheim absolviert hat, entscheidet man sich nicht für einen etablierten großen Namen der Theaterzunft, sondern eher für ein Versprechen auf die Zukunft. Die Zusammenarbeit dürfte wunschgemäß langfristig angelegt sein.

Der in Viersen geborene Olaf Kröck wird seinen jetzigen Bochumer Posten, den er gerade erst eingenommen hat, im Sommer 2018 für Johan Simons, den bisherigen Chef der RuhrTriennale, räumen.  Simons` Triennale-Nachfolge wiederum wird aus einer „Doppelspitze“ mit Stefanie Carp und Christoph Marthaler bestehen.

Die Karten in der Theaterlandschaft des Reviers werden also gründlich neu gemischt.

Der neue Ruhrfestspiel-Mann Kröck war bisher vorwiegend als Dramaturg tätig, und zwar in Hildesheim, Luzern, am Schauspiel Essen und (vor seiner jetzigen Kurz-Intendanz) am Schauspielhaus in Bochum, wo er wesentliche Inszenierungen der letzten Jahre mitgeprägt hat.

Die Entscheidung für den neuen Ruhrfestspielchef wurde im Aufsichtsrat des traditionsreichen, 1947 gegründeten Festivals einstimmig getroffen. Gesellschafter der Ruhrfestspiele sind der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Stadt Recklinghausen.

Am 27. Oktober soll Olaf Kröck in Recklinghausen offiziell vorgestellt werden. Mal schauen und hören, welche konzeptionellen Vorstellungen er dann womöglich schon im Gepäck hat.

 




Beunruhigend kontemplativ: „Kleine Seelen“ nach Louis Couperus bei der Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale 2017 ist zu Ende, wieder mal erfolgreich, wieder mit guten Auslastungszahlen und viel Lob von allen Seiten. Der turnusgemäß scheidende Intendant Johan Simons, künftiger Schauspielchef in Bochum, hat die menschliche, emotionale Dimension der Werke in den Vordergrund geschoben.

Szenenbild aus "Kleine Seelen" (Foto: Jan Versweyfeld / Ruhrtriennale)

Szenenbild aus „Kleine Seelen“ (Foto: Jan Versweyfeld / Ruhrtriennale)

Die Industriekulissen sind nach wie vor Anziehungspunkt fürs Publikum, nicht nur für das auswärtige. Es entsteht bei den meisten Inszenierungen eine andere Nähe, eine andere Realität. Es muss kein Tempel betreten werden, eher ein Raum des Erkenntnisgewinns. So war es auch bei der Schauspiel-Inszenierung „Kleine Seelen“ in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.

Die Unzulänglichkeiten des Lebens

Zum dritten Mal wählt einer der bekanntesten Regisseure Der Niederlande, Ivo van Hove, einen Roman des Schriftstellers Louis Couperus als Vorlage für eine Inszenierung. „Die Bücher der kleinen Seelen“ schrieb Couperus zwischen 1901 und 1903, in der unruhigen Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es geht um eine Familie, die sich in einem Haus außerhalb der Stadt eingerichtet hat und daran verzweifelt.

Ihre Lebenslinien sind anders verlaufen als erhofft. Sie befinden sich alle in einem Dilemma mit sich selbst. Nun ist dies keine muffige Replik auf die Zeit der Jahrhundertwende, sondern eine immerzu aktuelle Auseinandersetzung mit dem Leben, mit den Unzulänglichkeiten, den unerfüllten Wünschen. In einem großen, fast leeren Raum auf einem riesigen grünen Teppich spielen die Monologe und Dialoge zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn, Mutter und Anverwandten. Die Oma gehört zum Mobiliar und fabuliert übers Wetter, den Wind.

Verloren in der großen Welt

In den zwei Stunden geschieht nicht viel. Es ist eher beunruhigend kontemplativ. Man beobachtet missvergnüglich die kaputten Seelen dieser „sozialen Gemeinschaft“. Dann und wann scheinen Perspektiven auf, die das Leben doch noch zu einem lebenswerten machen könnten, aber am Ende wird es nicht funktionieren. Man ist gefangen. Die „kleinen Seelen“ sind scheinbar in der großen Welt verloren.

Nur die Innenleben spielen eine Rolle, selbstbezogene Menschenkinder sind zur Beobachtung freigegeben. Die niederländischen Darsteller von der Toneelgroep Amsterdam haben den starken Applaus verdient. Gut gelaunt geht niemand nach Hause, aber nachdenklich.




Festival als Fetisch – Versuch über das Scheitern regionaler Literaturpolitik am Beispiel der Kölner lit.RUHR

Von 2017 bis 2019 leisten sich fünf Ruhr-Stiftungen für eine halbe Million Euro jährlich den Aufbau einer Außenstelle der lit.COLOGNE. Mit dieser Filialisierung verpasst die selbsternannte Metropole Ruhr erneut die Chance zu zeigen, was sie aus eigenen Kräften zu leisten imstande wäre. Statt eigensinnige Ansätze der Literaturförderung zu wagen und aus dem sich totlaufenden Event- und Kampagnenkarussell auszusteigen, wird Kölner Literatrubel dreist kopiert. Darin könnte auch eine Chance für selbstbewusste Literaturprojekte abseits des Rummels liegen.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(v. r. n. l.): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Vorstandsmitglied Stiftung Zollverein), Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung), Eva Schuderer (Programm lit.RUHR), Bettina Böttinger (Moderatorin), Thomas Kempf (Vorstandsmitglied der Krupp-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Viel zu lange haben es sowohl Kulturpolitik als auch Unternehmen und Stiftungen längs der Ruhr versäumt, Literaturförderung beherzt so zu unterstützen, dass sich mehr gute Ideen bis zur Projekt- oder Bühnenreife hätten entwickeln lassen.

An Konzepten wie dem zum Europäischen Literaturhaus Ruhr, zum Literaturnetz Ruhr, zur Stadtschreiber-Residenz oder zur Fortführung des Schulschreiber-Modellversuches herrschte kein Mangel. Viele klopften damit als bittstellende Buch- und Bettelmönche an die Türen der Internationalen Bauausstellung Emscherpark, der Kulturhauptstadt-Macher, der RAG-Stiftung oder des Regionalverbandes Ruhr.

Konzepte leichthin abkupfern

Doch hiesige Geldgeber scheinen guten Ideen, die aus der Region kommen, abgrundtief zu misstrauen. Sie fürchten schlicht jenes dräuende Mittelmaß, das ihnen aus der eigenen Arbeit so wohl vertraut ist. Niemand wollte Interesse daran bekunden, behutsam Qualität aufzubauen, konnte man doch leichthin Kulturtourismus-Konzepte anderswo abkupfern – zuletzt ging es so zum Shoppen auf nach Köln.

Mit dem Ankauf des hochglänzenden lit.COLOGNE-Ablegers lit.RUHR – so hoffte wohl eine dezent agierende „Elite“ – bekäme man über den Hintereingang doch noch Zutritt ins austauschbare Event- und Marketingbusiness großer Vorbild-Metropolen wie Berlin, London, New York. Dass angesichts solch öden Kopisten-Coups wirklich schöpferischer und inspirierender Austausch im öffentlichen Leben des Ruhrgebiets nicht vermisst wird, zeigt bereits, wie ruiniert jede Debattenkultur hierzulande ist.

(Ach, Ruhrgebiet, du sick apple. Gestern Abend ging ich durch Essens Kettwiger Straße und dachte: Wer es hier nicht schafft, schafft es nirgendwo. Bin ich wirklich der Einzige ohne Bierflasche in der Hand?)

Simulation statt Stimulation

Um Missverständnissen vorzubeugen: Über die lit.RUHR und deren Glamour-Mäntelchen ist zu sprechen. Infrage steht aber ebenso eine ideenlose Literaturpolitik, die lebendiges literarisches Leben weder gestalten kann noch fördern will. Statt genau dieses Leben zu stimulieren, wird es immer nur simuliert.

Infrage steht die Arroganz reicher Ruhr-Stiftungen, die besser zu wissen wähnen, was das literaturinteressierte Publikum wünscht. Infrage steht ihre als „gut gemeint“ deklarierte, aber schlecht gemachte Modernisierung von oben, vom grünen Sponsor-Tisch aus. Infrage steht mit diesen Stiftungen und deren Vorständen, Kuratorien, Juristen aus Wirtschaft und Politik eine eitle Literaturförderung nach Gutsherrenart, die sich qua Kultur vor allem dem Standortkonkurrenz-Denken und der Politikrepräsentation verpflichtet fühlt (zu dieser Mentalität s. auch FAZ).

Pressekonferenz lit.RUHR
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Mit beschränkter Haftung

Zurück zunächst aber zur geschäftstüchtigen lit.COLOGNE-GmbH (und dem ihr eng verbundenen gemeinnützigen lit e.V.). Hochprofessionell hat man in Köln Denkfaulheit und Geltungssucht an der Ruhr genutzt, um einen Marken-Klon namens lit.RUHR zu platzieren und sich dabei exorbitant subventionieren zu lassen. Allerdings darf man dies Verein und GmbH nicht ernsthaft vorwerfen.

Die lit.COLOGNE hat so eine zweite Abspielstätte gefunden, hat allen Fensterreden zum Trotz aber über die Eigenart des Ruhrgebiets bisher nicht wirklich nachgedacht. Schade, dass mit der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Brost-Stiftung, der RAG-Stiftung, der innogy Stiftung sowie der Stiftung Mercator gleich fünf Stiftungen der Versuchung nicht widerstanden, an der lit.COLOGNE anzudocken.

Sehr gekonnt gepanschter Wein in gebrauchtem Schlauch

Kaum etwas an der lit.RUHR überrascht, die meisten Schauspieler, Moderatoren, Musiker und – nicht zu vergessen – Autoren waren längst zu Gast an der Ruhr. Zugegeben, Literaturveranstalter kochen überall nur mit Wasser und selbstverständlich werden auch der lit.RUHR gute Abende gelingen.
Schließlich hat er Hochkonjunktur, dieser im deutschen Sprachraum sich überbietende Eventzirkus: vom ‚internationalen literaturfestival berlin‘ über ‚Harbour Front‘ in Hamburg und „Leipzig liest“/“Zürich liest“ bis hin zur Frankfurter Buchmesse, zum Erlanger Poetenfest oder all den Crime-Festivals landauf landab. Viele dieser Festivals sind zum Erfolg verdammt, auch ökonomisch. Und wo Erfolg sich nicht einstellen will, redet man ihn über PR-Arbeit herbei.

Heinz Strunk: Kommt zur lit.Ruhr und war letztes Jahr Gast der Reihe"ausgebootet" im Katakombentheater Essen; Copyright-Foto: Jörg Briese

Heinz Strunk: Kommt zur lit.Ruhr und war letztes Jahr Gast der Reihe“ausgebootet“ im Katakombentheater Essen; Copyright-Foto: Jörg Briese

Gut aufgestellt? Schlecht nachgestellt!

Angesichts dieser Festivalitis und Überfülle nähme die lit.RUHR den Mund allerdings sehr voll, wenn sie irgendein „Alleinstellungsmerkmal“ auch nur ansatzweise behaupten wollte. Beileibe nicht nur die IKIBU Duisburg, die Internationale Kinderbuchausstellung, stellt seit Jahrzehnten Kinder- wie Jugendbuchautoren aus aller Welt vor und kämpfte immer mal wieder ums Überleben. Auch Jugendstil, das Dortmunder Kinder-und Jugendliteraturzentrum NRW, unterstützt vehement das Engagement für „kreative Literaturvermittlung und Leseförderung“.

Nun also liest auch die lit.kid.RUHR den Jüngeren was vor, das ist sehr lieb, aber beileibe nichts Unerhörtes, zumal trotz Förderung durch die Brost-Stiftung nicht einmal dies kostenlos zu sein scheint. Und in Gelsenkirchen durfte eine Jungautoren-WG aus Studenten des Literaturinstituts Leipzig sogar fünf Wochen lang das Ruhrgebiet erkunden und beschreiben. Schön für die Transitreisenden, doch auch nur wunderbar kalter Kaffee. Die Katholische Akademie in Mülheim hat so etwas unter dem Projekttitel „Metropolenpilger“ bewerkstelligt – und auch sie war damit nicht die Erste oder Einzige.

"Morgenstund hat Gift im Mund" -Sophie Rois las auf Einladung des Literaturbüros im Ringlokschuppen gallige Texte Dorothy Parkers; Fotot: © Jörg Briese

„Morgenstund hat Gift im Mund“: Sophie Rois las auf Einladung des Literaturbüros im Ringlokschuppen gallige Texte Dorothy Parkers; Foto: © Jörg Briese

Permanente Revolution

Ende August 2017 gingen die lit.COLOGNE SPEZIAL und die lit.RUHR gleich mit zwei zum Verwechseln ähnlichen Pressemitteilungen/Programmvorstellungen in Köln und Essen ins Festival-Windhundrennen. Wer es vom 3. bis zum 15. Oktober 2017 nicht schaffen sollte, Zadie Smith, Donna Leon, Sven Regener, Ulla Hahn oder Uwe Timm in Köln zu erleben, kann sie vom 4. bis 8. Oktober im Ruhrgebiet sehen und hören. Nicht nur jene Fans wird das freuen, die an der Ruhr bereits bei einem der vielen Auftritte dieser Autoren dabei waren.

Allein Zadie Smith war im Revier nie zu Gast, jeder aber kennt Donna Leon, die einst sogar in der Stadtbücherei Gladbeck las, später trat sie mehrmals bei „Mord am Hellweg“ auf. Auch Robert Menasse kommt zur lit.RUHR. Bei seinen drei Auftritten für das Literaturbüro Ruhr war er immer ein sehr kluger, liebenswerter Gast; etwa als er seinen Essayband „Permanente Revolution der Begriffe“ im Essener Grillo-Theater vorstellte.

Anteasern und wiederkäuen

Apropos Revolution in Permanenz: In der Tat wenig Lust auf die lit.RUHR macht einer der Video-‚Teaser‘ auf Youtube. Mariele Millowitsch nuschelt da vor Kölner Lärmkulisse so über die lit.RUHR hinweg, als ob diese längst gelaufen wäre. Sprachlich ergiebiger dürfte dagegen die Eröffnungsgala der lit.RUHR werden. Neben Iris Berben, Christoph Maria Herbst, Bettina Böttinger, Max Mutzke sind sogar zwei Literaten zu hören, einer davon Wladimir Kaminer, auch ihn kennen viele von seinen Lesungen im Ruhrgebiet.

Die Eintrittspreise für einen Platz bei der Eröffnungsgala liegen zwischen 24 und 56 Euro. Nicht auszudenken, wie hoch sie lägen, wenn nicht fünf Ruhrstiftungen die lit.RUHR mit 500.000 Euro gesponsert hätten. Wofür gibt man diese Summe plus der Einnahmen durchs Ticketing wohl aus? Die Honorarkosten des diesjährigen Programms scheinen eine solch hohe Summe kaum herzugeben, zumal durch Mehrfachauftritte in Köln und an der Ruhr sowie die Sponsoren einiges an Fahrt-und Hotelkosten eingespart werden dürfte. Doch sicher werden viele Tausender auch in die Werbung und die Infrastruktur gehen müssen, um im Ruhrgebiet einen Hype um die lit.RUHR erstmals zu entfachen.

Ziemlich versteckt: Landschaftspark Duisburg-Nord, das 2010-Publikum der Grass-Lesung des Literaturbüros Ruhr. Foto: © Jörg Briese

Schelte und Ignoranz

Dabei sollte mit der lit.RUHR alles ganz anders werden. Wie meinte in der WAZ Essen die „Vorsitzende der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Stiftung Zollverein und seit langem ein Fan der lit.Cologne“, wie also sprach Dr. Anne Rauhut, die die spannende Vielfalt der Lesungen und Literaturgespräche vor Ort nicht zu kennen scheint und also die lit.COLOGNE ins Revier lockte: Vieles sei „zu versteckt und relativ weit weg von den Menschen“, findet Rauhut.

Ein Lesefest wie die lit.RUHR, so Rauhut weiter, sei eine „gute Mischung aus Anspruch und Unterhaltung“, eine große Bühne, auf der Fußball und Musik genauso Platz haben wie Tolstoi und Tucholsky. ‚Man muss die Hemmschwellen niedriger legen‘, meint Rauhut.“ Gratulation, Letzteres scheint nun gelungen. Fehlen auf der Bühne eigentlich nur noch Carmen Nebel und ein Pony. Aber wer weiß?

Fehlgriff Stadtschreiber Ruhr, Glücksgriff Gila Lustiger

Nun aber wirklich Schluss mit der Kritik an der lit.RUHR, ihrem Marketing-Sprech, ihrem rasenden Event-Stillstand. All das hat die Ruhr-Stiftungen nicht davon abgehalten, die lit.COLOGNE auch noch zu Beratern des frisch installierten Stadtschreiber Ruhr-Projekts zu machen. Die gute Nachricht war: Gila Lustiger wird erste Stadtschreiberin Ruhr; die schlechte: Die Kölner „lit.Cologne berät“ – so die WAZ – beim Stadtschreiber-Projekt die Essener Brost-Stiftung.

Jens Dirksen, Kultur-Chef der WAZ, war in seinem Print-Artikel so freundlich zu erwähnen, dass das Literaturbüro und die Literarische Gesellschaft Ruhr seit Jahren eine Stadtschreiber-Residenz fordern. Niemand hat allerdings hingehört. Nun machen Brostens dabei erneut diskret-gemeinsame Sache mit der lit.COLOGNE.

Bodo Hombach formulierte erläuternd: „Im Ruhrgebiet ist eine reiche menschliche, kulturelle und historische Schatzsuche möglich.“ Was mag das sein, eine ‚menschliche Schatzsuche‘? Das Gegenteil einer ‚unmenschlichen Schatzsuche‘? Hombach möchte wahrscheinlich sagen, dass es auch an der Ruhr großartige Menschen zu entdecken gäbe, wenn man denn hinsähe. Da hat er allerdings recht.

„Wir müssen draußen bleiben“

Doch auch beim Stadtschreiber-Projekt hat man davon abgesehen, Autoren, Kritiker, Literaturwissenschaftler oder Literaturveranstalter aus der Region einzubeziehen. Wiederum borgt man sich das, was man für Kompetenz hält, aus der karnevalesk schillernden Ruhrmetropole Köln (die so gerne wie Berlin wäre).

Von Balance und dem rechten Maß kann nirgendwo mehr die Rede sein: hier der Tribut der Stiftungen für die lit.COLOGNE, dort die Missachtung der Literaturförderer vor Ort. Sprach nicht der Philosoph Odo Marquard einst von Inkompetenzkompensationskompetenz?

„Mehr Licht“ forderte völlig vergeblich Günter Grass bei seinen 2010er-Lesungen fürs Literaturbüro Ruhr in Bochum und Duisburg.

Kampagne – von „campagne“: „Feldzug“

Konfuse Kulturpolitik im Ruhrgebiet hat ohne Not kapituliert, sich selbst entmündigt und große Teile konzeptioneller Eigenständigkeit aus der Hand gegeben. Obszön ist das, im ursprünglichen Sinn des Wortes, beschämend für alle Beteiligten.

Woher kommt sie, diese Dominanz des Herumprotzens mit dem Fetisch ‚Festival‘, mit dem Irrglauben an dessen zwingenden Erfolg und überragende Außenwirkung? Als ob es im Ruhrgebiet nicht bereits ernüchternde Erfahrungen mit Kampagnenpolitik, deren bösen Folgen oder deren Verpuffen gegeben hätte. Überfällig, dies endlich zu evaluieren; nur bitte nicht weiter von jenen, die solche Kampagnen selbst inszeniert haben.

Statt Literatur zu lesen, darüber in Muße nachzudenken und sich in Gesprächen öffentlich auszutauschen, werden mit der Festivalisierung der Stadtpolitik Kunst und Kultur weiterhin vor den Karren von Marketing und Politik gespannt. Dabei vernachlässigt man gern auch die äußerst unterschiedlichen strukturellen Rahmenbedingungen Kölns und des Ruhrgebiets.

Das Ruhrgebiet ist Flächen- und Splitterstadt, es fehlt an großen Sendern, Verlagen, es fehlt trotz guter Journalisten an einem international ausstrahlenden Feuilleton und all jenen Medienmenschen, Kritikern, Autoren, die in Köln dafür sorgen, dass die lit.COLOGNE mediale Schaufenster ins Bundesweite hat. Immerhin: Für die lit.RUHR hat man wichtige  ‚Medienpartner‘ wie WDR und Funke-Medien gewonnen, dies dürfte zumindest garantieren, dass unabhängige Eventkritik nicht stattfindet.

2014: US-Autor Stewart O’Nan als Gast von lit….. äh… des Literaturbüros Ruhr; Foto: © Jörg Briese

Ruhrgebiets-Bashing

Wobei neben der Eventkritik auch Diskursanalyse bitter nötig wäre. Michel Foucault hatte einst über sie nachgedacht, jene unausgesprochenen Regeln, die beeinflussen, was wie wann von wem zur Sprache gebracht werden kann und was nicht. Vielleicht ließe sich so erklären, warum Rainer Osnowski von der lit.COLOGNE im Rahmen seiner Vorankündigungsrhetorik in der Kölnischen Rundschau verlauten ließ: „Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen „erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind“. Das interessiere auch jene Verlage, „für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist‘.“

Wer austeilt, sollte auch einstecken können: Alles, was man im Leben braucht, sind Ignoranz und Selbstvertrauen, heißt es bei Mark Twain – und davon hat Osnowski anscheinend reichlich. Bös missglückte ihm aus enger Kölner Perspektive die Werbung für die lit.RUHR gleich zu Beginn. Um die lit.RUHR aufzuwerten, griff er zur Entwertung des literarischen Lebens an der Ruhr.

Mit osnowskischer Geringschätzung und Erlöserpose treten Missionare auf, nicht aber Förderer der Literatur, die doch Kenner und Könner der Sprache sein sollten. Zwischen Duisburg und Dortmund würde man noch mehr Osmose durch internationalen Austausch der Künste und Künstler durchaus begrüßen, auf die lit.RUHR aber und Großformate ohne Format könnte man gut und gern verzichten.

Keine Fixierung auf die lit.RUHR, sondern Eigensinn ganzjährig stärken

In diesen Zeiten der postdemokratischen Kultur- als Symbolpolitik kann allen Literaturliebhabern an der Ruhr in heiterer Verlassenheit nur geraten werden, ihre eigenen und eigensinnigen Projekte weiter voranzutreiben (viele davon habe ich für die ‚Revierpassagen‘ recherchiert). Und: Warum sollte man sich beim Tanz ums goldene Festival-Kalb überhaupt abstrampeln? Kraft und Fantasie kostet das und mit jeder Überdosis Organisation verkümmert schnell die Lust am Lesen.

Nervtötend ist zurzeit deshalb auch die Dauerfrage, warum denn die ‚literarische Szene‘ an der Ruhr (was soll das sein?) nicht selbst ein ‚hochkarätiges‘ (drunter geht’s nicht) Festival auf die Beine gestellt habe. Ganz einfach: Viele investieren hierzulande all ihr beharrliches Engagement, manchmal auch einen Teil ihres Geldes in die eigenen Projekte der Literatur- und Leseförderung, des Zeitschriftenmachens oder internationalen Austauschs – damit haben sie mehr als genug zu tun. Niemand von ihnen könnte nebenbei auch noch die ‚Szene‘ dauerhaft vernetzen oder ein Festival organisieren. Und vor allem: Kaum jemand will das. Warum auch? Siehe oben.

Heinz Helle & Hubert Winkels zu Gast bei „Über Leben! Von der Hoffnung auf Zukunft“ – September 2017, Medienforum Bistum Essen

Kleine Volte: Hoch lebe die lit.RUHR!

Die lit.RUHR kommt so sicher wie das Amen im Essener Dom und für vier Tage im Jahr wird sie ihr ganz eigenes Publikum finden: Und? Mögen doch „Hannelore Hoger, Richie Müller und die Gummi-Ente“ (Programmbeilage der lit.RUHR) im schadstoffarmen Diesel des Sponsors Mercedes zu ihrem Auftritt „Fetisch“ (7.10., Zollverein) fahren, ihre „literarische Expedition in die Welt des Fetischismus“ starten und danach erschöpft ins Kissen der Hotel-Suite des Sponsors Sheraton sinken. Wieder ein – sagen wir mal – bunter Rezitationsabend, den man nicht selbst veranstalten musste (Verzeihung, verehrte Frau Hoger).

„Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, daß der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, daß es Zeit wird.“ So heißt es in Paul Celans Gedicht „Corona“. Man darf das UNIFORMAT „FESTIVAL“ getrost der lit.RUHR und ihren Gönnern überlassen und … abhaken.

An der Zeit wäre es allerdings, im Ruhrgebiet die Förder-Balance nicht noch weiter zu verlieren und ideell wie finanziell endlich Initiativen zu ermutigen, deren nachgewiesene Kompetenz es verdient hätte. Aber dafür werden Sachverstand, Mut und Geld bei den Stiftungen wohl nicht ausreichen – von Kommunen und RVR ganz zu schweigen.

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Gerd Herholz, der Autor des Beitrags, ist langjähriger Wissenschaftlicher Leiter des in Gladbeck angesiedelten Literaturbüros Ruhr. (Anm. d. Red.)




Nominierungen zum Theaterpreis „Der Faust“: Auszeichnungen für Oberhausen, Essen, Dortmund und Düsseldorf

DER FAUST - so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

„Der Faust“ – so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

Alle Achtung! Da kommt soeben die Pressemeldung des Deutschen Bühnenvereins zum Theaterpreis „Der Faust“ 2017 herein – und wir entdecken gleich mehrfach Nominierungen für Bühnen in Nordrhein-Westfalen.

Waren die Theater in NRW nicht sonst eher so ein Geschwader hässlicher Entlein, die schüchtern im Kielwasser der glanzvollen Schwäne aus Berlin, Hamburg etcetera mitpaddeln durften? Diesmal könnte es anders sein. Und dass ein nicht gerade auf Rosen gebettetes Theater wie Oberhausen in der Kategorie „Regie Schauspiel“ nach 2014 erneut für einen Preis infrage kommt, darf durchaus mit Stolz zur Kenntnis genommen werden. Neben Oberhausen stehen Düsseldorf, Essen und Dortmund in der Liste der „Faust“-Nominierungen.

„Látszatélet / Imitation of Life“ des unbequemen ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó soll einen „Faust“ für die beste Schauspiel-Regie erhalten. „Dieser Abend wühlt auf und wühlt im Zuschauer“, schreibt der Kritiker Sascha Krieger über die Oberhausener Premiere im Juni 2016. In der Kooperation des ungarischen Proton Theaters – eines der kritischen Ensembles, die keine staatliche Unterstützung mehr bekommen –, der Wiener Festwochen und weiterer Partner geht es um Alltagsrassismus und Ausgrenzung am Beispiel einer Roma-Familie. Krieger: „Es ist der Kreislauf von Hass und Ausgrenzung, den Mundruczó an diesem Abend zeichnet. Ein intensiver, stiller Abend, an dem man zuweilen kaum hinsehen will.“

Einen Regie-Faust hat für NRW auch Johanna Pramls „Sommernachtstraum“ am Schauspielhaus Düsseldorf in Aussicht. Auf der neu gegründeten Bürgerbühne entwickelte die 1980 in Offenbach geborene, mehrfach ausgezeichnete Regisseurin ihr Projekt gemeinsam mit Laien und Schauspielern. Am Freitag, 6., und Sonntag, 8. Oktober ist das Ergebnis noch einmal zu sehen. Der Kritiker Stefan Keim sagt dazu, das Verwirrspiel frei nach Shakespeare sei „wunderbar sympathisch, selbstironisch und auch mutig, denn die Darsteller erzählen von ihren eigenen Träumen, von ihren Ängsten und dann wird es auch richtig magisch.“

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Szene aus Tatjana Gürbacas „Lohengrin“-Inszenierung in Essen, nominiert für den Theaterpreis „Der Faust“: der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Im Musiktheater steht neben Paul-Georg Dittrichs Berlioz-Deutung in „La Damnation de Faust“ am Theater Bremen und Christoph Marthalers „Lulu“ in Hamburg die Essener „Lohengrin“-Inszenierung Tatjana Gürbacas auf der „Faust“-Liste. In einem beziehungsreichen Bühnenbild Marc Weegers hat Gürbaca im Aalto-Theater Wagners häufig interpretiertes Werk in einer klugen, komplexen Regie an die Gegenwart angenähert, ohne die Deutungswege der letzten Jahre weiter auszutreten, aber auch ohne in die Extreme verstiegenen Überbaus zu flüchten oder das Heil in der Rückkehr zu Opulenz und Konvention zu suchen. Sie inszenierte weder ein „Künstlerdrama“ noch eine bloß politische Parabel, sondern gab der Offenheit des Dramas, dem „Wunder“ einen sinnlich und sinnhaft ausgedeuteten Raum. Ab 18. April 2018 ist Gürbacas Inszenierung in der Wiederaufnahme in Essen wieder zu erleben.

Im Bereich Bühne/Kostüm konnte sich Dortmund – nach Pia Maria Mackerts Bühne zu „Das goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ 2014 – wieder eine „Faust“-Nominierung sichern: Michael Sieberock-Serafimowitsch (Bühne) und Mona Ulrich (Kostüm) erhielten sie für ihre Ausstattung von „Die Borderline Prozession“ am Schauspiel Dortmund. Im Megastore erarbeiteten Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin ein aufwendiges Gesamtkunstwerk: eine detailreich ausgestattete Villa, bewohnt von Schauspielern und umzogen von einer Prozession. Eine „verstörende Lebens-Geisterbahn“ nennt Rezensentin Dorothea Marcus die Produktion; eine „philosophische Welt-Installation über das Draußen und das Drinnen, Arm und Reich, Grenzen und Übergänge. Darüber, wie Bilder und Worte den Blick auf das Echte verstellen können.“ Die „Borderline Prozession“ war zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladen und wird bis 14. Oktober noch fünf Mal im Dortmunder Megastore gezeigt.

Einen „Faust“ für Choreografie kann Dewey Dells „Sleep Technique – Eine Antwort an die Höhle“ erhalten; eine Performance, die in der Berliner Tanzfabrik und im März 2017 in PACT Zollverein ihre Uraufführung feierte. Die 2007 gegründete Kompanie Dewey Dell hat als Team – als Choreographin wird Teodora Castellucci genannt – eine „poetische Reise zu den Tiefen des Ursprungs europäischer Kultur“ entwickelt. Auch diese Arbeit versteht sich als ein Gesamtkunstwerk aus Choreographie, Musik, Bühnenbild und Licht.

Der Deutsche Theaterpreis „Der Faust“ wird am Freitag, 3. November 2017 im Schauspiel Leipzig zum zwölften Mal verliehen. Der undotierte Preis umfasst Auszeichnungen in acht Kategorien sowie den Preis für das Lebenswerk, den in diesem Jahr die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek erhält. In der Begründung heißt es: „Als eine der prominentesten Mitgestalterinnen der Umbrüche im deutschsprachigen Theater nach 1968 hat sie mit ihrer Absage an traditionelle dramatische Strukturen und mit ihren wortgewaltigen, sprachlich verdichteten Textflächen eine neue Richtung vorgegeben.“ – Zum ersten Mal wurde der Theaterpreis 2006 im Aalto-Theater Essen vergeben. Damals ging je eine „Faust“-Nominierung nach Düsseldorf, Essen und Moers.




„Situation Kunst“ in Bochum-Weitmar: Hier wuchs ein durchgrüntes Kulturgebiet sondergleichen

Kunst-Kubus in der alten Schlossruine - ein wesentlicher Teil der "Situation Kunst". (Fotos: Bernd Berke)

Kunst-Kubus in der alten Schlossruine – ein wesentlicher Teil der „Situation Kunst“. (Foto: Bernd Berke)

Nicht, dass ich noch ins haltlose Schwärmen gerate! Doch es kann und soll nicht verschwiegen werden, dass es im Ruhrgebiet ein Kunst-Areal von besonderer Güte gibt, das nicht nur zu Ausflügen ins Grüne animiert, sondern innige Zwiesprachen zwischen Kunst, Architektur und Natur stiftet, nicht zuletzt mit Skulpturen im Außenbereich (von Größen wie Richard Serra, Ulrich Rückriem u. a.). Im gesamten Revier, ja in ganz Deutschland gibt es wohl nichts Vergleichbares. Und wo denn überhaupt?

Ich meine den Schlosspark in Bochum-Weitmar, dem sich nach und nach immer mehr Ausstellungsorte angegliedert haben, ohne den Erholungswert zu beeinträchtigen. Im Gegenteil. Hier kann die Seele vielfach gelüftet werden.

Zu meiner nicht geringen Schande muss ich gestehen, dass ich das Ambiente bis gestern noch nicht in seiner jetzigen, mit den Jahren gehörig angewachsenen Ausdehnung und Ausformung gekannt habe. Mit diesen Zeilen leiste ich Abbitte fürs Versäumnis.

Kubus in der Ruine und ein „Museum unter Tage“

Das Ganze nennt sich „Situation Kunst“ und besteht aus einer ersten Stufe (1988-90) mit vier helllichten Baukörpern, einem Erweiterungsbau von 2006 sowie neuerdings vor allem aus dem Kubus, der zum Kulturhauptstadt-Jahr 2010 als Kunststätte in die Reste einer alten Schlossruine eingesenkt wurde (ein Meisterstück zeitgenössischer, Historie aufnehmender Architektur). Rings um die modern angefüllte Ruine ist ein Wassergraben entstanden, nahebei findet sich ein pittoresker Teich mit mächtiger Trauerweide. Hier lasset uns bleiben für einige Zeit…

Oberirdischer Eingangsbereich des "Museums unter Tage". (Foto: Bernd Berke)

Schmucklos-nüchtern: oberirdischer Eingangsbereich des „Museums unter Tage“. (Foto: Bernd Berke)

Im November 2015 wurde schließlich das „Museum unter Tage“ („MuT“) eröffnet, dessen Räumlichkeiten tatsächlich – bis auf einen recht unscheinbaren Eingangsbereich – unter der Erde liegen und somit die umliegende Landschaft mit ihrem ehrwürdigen alten Baumbestand so gut wie gar nicht antasten.

Apropos Landschaft: Die Dauerschau des „MuT“ zeigt hochkarätige Landschaftsmalerei aus sechs Jahrhunderten. Hinzu kommen immer wieder Wechselausstellungen, wie jetzt gerade die sehr sehenswerte Fotografie-Präsentation „Umbrüche“ zum Wandel des Ruhrgebiets seit den späten 50er Jahren – mit Arbeiten von Rudolf Holtappel, Bernd und Hilla Becher, Joachim Brohm und Jitka Hanzlová. Über diese Schau (bis 25. März 2018) wird bei Gelegenheit noch ausführlicher zu reden sein. Versprochen.

Idyllisches Ambiente im Schlosspark. (Foto: Bernd Berke)

Idyllisches Ambiente im Schlosspark. (Foto: Bernd Berke)

Um das Kunstglück noch zu steigern: In direkter Nähe der erwähnten Bauten liegt auch noch die renommierte „Galerie m“, die bereits im rebellisch gestimmten Jahr 1968 von Alexander von Berswordt-Wallrabe gegründet wurde und seit 2003 von Susanne Breidenbach geleitet wird.

Alexander von Berswordt-Wallrabe als Spiritus rector

Damit sind wir ganz zwanglos beim Spiritus rector des ganzen Ensembles angelangt, der immer noch wohltätig im Hintergrund wirkt. Berswordt-Wallrabe hat vor Jahr und Tag den Schlosspark geerbt und hatte schon vorher bekundet, dass er ihn öffentlich zugänglich machen und künstlerisch ausgestalten wollte. Derlei „linke“ Ideen und Umtriebe missfielen seinem Vater, der ihn deshalb eigentlich schon enterbt hatte. Im gültigen Testament stand dann aber doch der Name des Sohnes, der also seine Pläne nach und nach umsetzen konnte. Welch‘ günstige Fügung…

Erste Annäherung ans Gelände auf dem Fußweg über die Schlossstraße. (Foto: Bernd Berke)

Erste Annäherung ans Gelände auf dem Fußweg über die Schlossstraße. (Foto: Bernd Berke)

Träger des durchgrünten Kunstgebiets ist die 2005 gegründete, gut ausgestattete Stiftung „Situation Kunst“, deren Vorstandsvorsitzende Alexander von Berswordt-Wallrabes Ehefrau Silke ist. Beide haben ihre famose Kunstsammlung in die Stiftung eingebracht. Dem Stiftungs-Kuratorium gehört u. a. der nunmehr aus dem zweithöchsten Staatsamt scheidende Alt-Bundestagspräsident Norbert Lammert an.

Zum Gedenken an den Kunsthistoriker Max Imdahl

„Situation Kunst“ ist dem Andenken ans Lebenswerk des einflussreichen Bochumer Kunstprofessors Max Imdahl (1925-1988) gewidmet, fungiert offiziell als Teil der Bochumer Ruhr-Universität (RUB) und wird vom dortigen Kunstwissenschaftlichen Institut betreut. Studierende können sich hier im laufenden Ausstellungsbetrieb beweisen – längst nicht nur als zunehmend kundige Wächter der Kunstschätze, sondern auch im kuratorischen Team unter Leitung von Maria Spiegel.

Genug der Einzelheiten. Jetzt aber rasch auf die Strecke; vor allem, sofern dieser Herbst noch ein paar schönere Tage mit sich bringt.

Weitere Infos mit Anfahrtsbeschreibung, Öffnungszeiten der Ausstellungen etc.: http://www.situation-kunst.de




„Wenn der Wind von Hörde kam, roch es wie Pech und Schwefel“ – Erinnerung an eine Kindheit im Dortmunder Süden

Unsere Gastautorin, die aus Dortmund stammende Malerin und Lyrikerin Marlies Blauth, ergänzt und erweitert mit diesem Beitrag die vor wenigen Tagen erschienene Dortmunder Kindheitsskizze von Bernd Berke:

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Dortmunder Süden, jedenfalls Berghofen, war früher noch ziemlich ländlich. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich was drauf einzubilden, dort zu wohnen – allenfalls wusste man zu schätzen, einen Garten zu haben und nutzen zu können. Es gab kaum einen, in dem nichts Essbares wuchs. Auch die „besseren“ Leute hatten immerhin ein Eckchen mit Johannisbeeren im Garten und zogen ein paar Kräuter und Salatköpfe.

War Erntezeit und diese ertragreich, wurde wild herumverschenkt oder getauscht: Birnen hin, Kartoffeln zurück. Ab einem bestimmten Alter hatte ich diese Botengänge zu übernehmen. Wir besaßen mittlerweile ein Auto, wären aber nie auf die Idee gekommen, damit zwei Kilo Kartoffeln eine Straße weiter zu transportieren.

Der Eierkauf war manchmal Glückssache

Auch einzukaufen war meine Aufgabe. Bereits als ich vier Jahre war, schickte man mich zum Tante-Emma-Laden „umme Ecke“, um „mal eben ein Pfund Mehl“ zu holen. Man gab mir einen Zettel ins Portemonnaie, ich reichte es an der Theke vorbei (da ich noch nicht oben dran kam), erhielt meine Sachen und das Wechselgeld auf demselben Weg und dackelte nach Hause.

Manchmal musste ich auch zweimal gehen, wenn etwas bei Tante Emma (es waren in Wirklichkeit zwei Schwestern, die den winzigen Laden betrieben) bereits ausverkauft war. „Dann gibt’s halt Wirsing, wenn kein Rotkohl da ist. Geh nochmal schnell.“ Eier wurden grundsätzlich bei Omma L. gekauft, die Hühner hielt. Manchmal bekam man die Anzahl, die man wollte, manchmal nicht, manchmal gab es überhaupt keine, weil auch die allerbeste Legehenne mal Urlaub braucht.

Ein Uhrengeschäft – welch ein Luxus

Nach Norden sahen wir auf das Himmelrot von Phoenix. Das war Hörde, da begann „die Stadt“. Denn dort gab es größere Läden als Tante Emmas. Ein Uhrengeschäft, wahrer Luxus! Eine Schulfreundin träumte einmal, dass der Phoenix-Kühlturm explodiert sei, an dem wir oft vorbeifuhren. An diesen dramatischen Traum muss ich manchmal denken, wenn ich heute von derselben Stelle zum Phoenixsee (durch-)gucke, ohne den Turm.

Manchmal, wenn der Wind von Hörde kam, roch es „wie Pech und Schwefel – mach’s Fenster zu“. Die Emscher und deren kleinere Bach-Geschwister kommen als „grauer Leberpudding, der aus dem Mund stank“ in einem meiner Gedichte vor. Ich war übrigens schon länger in der Schule, als Berghofen noch immer nicht vollständig kanalisiert war: Bäche mit Bäh-Wasser flossen neben der Straße her.

Einfaches „Häuschen“ auf gepachtetem Acker

Diejenigen, die dem Süden seinen Ruf einer privilegierten Gegend verpassten, kamen erst deutlich später, ich mag so im dritten oder vierten Schuljahr gewesen sein. Meine Eltern hatten zwar auch neu gebaut, allerdings ohne jedes Kapital ein „Häuschen“, einfach und dünnhäutig, auf gepachtetem Acker. Diese Bedingungen waren es wohl, weshalb wir überhaupt in Berghofen gelandet sind.

Natürlich waren wir nicht wirklich arm, da mein Vater Lehrer war; der aber wurde er erst ziemlich spät im Leben, da er sieben Jahre seines Lebens in Krieg und Gefangenschaft gezwungenermaßen vergeudet hatte, krank zurückkam, seine musikalische Aufnahmeprüfung ein zweites Mal machen musste (alle Dokumente waren verbrannt) und sich – früh vaterlos geworden – sein Studium mit irgendwelchen musikalischen „Jobs“ finanzieren musste.

Die wenigsten Kinder hatten ein eigenes Zimmer

Meine Mutter war das älteste Kind einer Flüchtlingsfamilie. Meine Eltern hatten also beide bei Null angefangen, es gehörte ihnen vom „Häuschen“ erstmal so gut wie nix. Vielen Nachbarn ging es damals ähnlich. Obwohl es sich in unserer Straße ja um durchweg neue Häuser handelte, war es nicht üblich, dass jedes Kind ein eigenes Zimmer besaß. Bei mir war das allein deshalb so, weil ich keine Geschwister hatte. Waren mehr Kinder da, teilten sie sich selbstverständlich einen Raum.

Ich kannte auch eine Familie, die gar kein Kinderzimmer hatte, die drei Kinder wurden einfach irgendwo in der engen Wohnung verteilt. Ein Kind aus meiner Klasse wohnte die ersten Jahre sogar in einer Baracke. Ein Spielkamerad lebte mit seiner Mutter, auch einer Lehrerin, im winzigen „Keller“ (also Souterrain) eines Hauses in unserer Straße.

Einige Jahre später bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

…und einige Jahre danach bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

Ich erinnere mich auch an eine Berghofer Familie mit zehn Kindern, sie wohnten in einem abgerumpelten Bauernhaus neben dem Friseur, zu dem ich gescheucht wurde, wenn meine Haare „keine Facon mehr“ hatten. „Aber lass dir genug abschneiden, sonst musste bald wieder hin“ (und das wäre zu teuer). Scheußlich, den Friseurladen jedesmal als hässliches Entlein zu verlassen!

…und später zogen ein paar hochnäsige Leute zu

Eins von den „edlen“ Kindern, die dann später zuzogen (und in größeren, aufwändiger gebauten Häusern wohnten), bekam hingegen seine Haare jede Nacht „aufgedreht“, damit sie morgens zu schönen Löckchen würden. Diese Familie war es auch, die eines Tages meinte, hochnäsig feststellen zu müssen, dass ich „wieder mal was Selbstgestricktes“ trug. Bislang war das ganz normal, wir liefen meistens in geflickten und gestopften Sachen herum und fanden nichts dabei. Beim Herumstrolchen und Baumklettern war das ohnehin egal. Viele Anziehsachen waren auch gebraucht übernommen; das „beleidigte“ mich insofern, als die Mädels, von denen ich den Kram bekam, einen völlig anderen Geschmack hatten als ich. Aber das half überhaupt nichts. Was „noch gut“ war, wurde genutzt, egal, um was es ging.

Bei uns gab es fast immer einfaches Essen, und auch damit standen wir nicht allein. Der riiiesige Luxus eines jeden Kindergeburtstages bestand aus zwei oder drei Kuchen (einer davon war „Kalter Hund“, mit dem ich mich regelmäßig überfressen habe), abends dann Bockwürstchen mit Kartoffelsalat.

Der Wohlstand kam auf ganz leisen Sohlen

Der Wohlstand erwischte uns alle auf ganz leisen Sohlen, und er brauchte viele Jahre dafür. Irgendwann „ließ“ meine Mutter mal irgendwas machen, das war ein Anzeichen. Einige Bekannte hatten dann bessere (und auch zweite) Autos.

Ich erinnere mich allerdings auch an die Zeit, in der es nur ganz wenige Autos gab und stattdessen immer mittwochs der „Gemüsewagen“ kam. Na klar, und die Milch wurde jahrelang gebracht; „gold und silber“. Die gespülten Glasflaschen stellte man wieder raus, sie wurden bei der frischen Lieferung mitgenommen.

Der Bierkutscher mit seinem Gaul

Der Bierkutscher – ich glaube, er hieß Hoffmann – kam jahrzehntelang mit seinem Gaul vorbei, ich höre immer noch sein „Hüah“. Meine Mutter bedauerte das Pferd jedesmal, da es doch nun Autos gab. Und wenn ich heute fahrende Schrotthändler sehe, denke ich immer dran, dass „unsere“ früher grundsätzlich aus Essen kamen und noch auf einer richtigen Flöte „piffelten“. Vor allem fuhren sie viel langsamer als heute, so dass jeder es noch in den Keller schaffte, um irgendwas Metallenes nach oben zu wuchten. Und man bekam noch Geld dafür.

„Die Reichen“ wohnten, so hörten wir, in Kirchhörde, die „ganz Reichen“ in Lücklemberg. Einmal war ich dort, bei so entfernten wie ungeliebten Bekannten in deren Haus, dessen Ausmaß mir unbegreiflich vorkam und auf dessen „offenen Treppen“ über drei Stockwerke ich einen Heulanfall kriegte, weil mir vor Höhenangst schwindelig wurde.




Etwas Dortmunder Kiez-Nostalgie und eine jähe Offenbarung der Klassenverhältnisse

Wie ich gemerkt habe, dass es Klassenunterschiede gibt? Über so etwas Unfeines redeten wir zu meiner Grundschul-Kinderzeit nicht.

Blick aus einem Fenster in der Arneckestraße: etliche Jahre nach der skizzierten Zeit und doch auch schon wieder elend lange her. (Foto: Bernd Berke)

Fensterblick in eine Straße des besagten Viertels: etliche Jahre nach der skizzierten Zeit und doch auch schon wieder elend lange her. (Foto: Bernd Berke)

„Unser“ Dortmunder Viertel, etliche Jahre später Szene- und Studentenkiez, heute zu nicht geringen Teilen ein Hort wohlstandsverwöhnter und vielfach ergrauter Bionade-Bürger, war seinerzeit ziemlich homogen kleinbürgerlich. Man kam einigermaßen zurecht, konnte aber „keine großen Sprünge machen“, wie man das damals ausdrückte.

Über soziale Hierarchien machte man sich also wenig Gedanken, schon gar nicht als Kind. Da hat man ja beispielsweise auch die eigentlich nicht zu übersehenden Ensembles der Gründerzeitbauten kaum bemerkt, in denen die meisten wohnten und die man erst rund zwanzig Jahre danach schätzen lernte.

In der fraglichen Zeit gab es beinahe an jeder zweiten Ecke einen „Tante-Emma-Laden“, allein zwei Mädels aus unserer Schulklasse hatten einen Ladeninhaber zum Vater. Da konnte man sich entscheiden, bei wem man nun kaufte. Meist gab die schrittweise kürzere Entfernung den Ausschlag. Und so gab es eben die Kundschaft bei Sch. und die Kundschaft bei M. Später eröffnete dann eine Tengelmann-Filiale. Erstes Zeichen einer neuen Zeit.

Hinzu kamen im näheren Umkreis noch zwei Milchgeschäfte, wo man seine Blechkanne füllen lassen, aber auch schon die Sorten „Gold“ und „Silber“ in Flaschen kaufen  konnte, eine Bäckerei sowie ein Zigaretten- und Zeitschriftenladen, der anfangs zugleich eine private Leihbücherei war. Die zusätzlichen Schutzumschläge waren aus schmucklosem Packpapier. Die betagte Frau K. in dem einen Milchgeschäft sagte immer „Juchott“ statt Joghurt. Und „anne Bude“ sagten wir nur „Was zu trinken“ – und erhielten für ein paar Pfennige ein gefärbtes No-Name-Gesöff.

Hach ja.

Aber ich schwiff und schwoff ab. Was ich eigentlich erzählen wollte: Eines Tages kam ein kleiner Junge in einen der besagten Läden und verlangte: Erbswurst.

Betretenes Schweigen. Man wartete ab, bis er das Geschäft verlassen hatte. Dann ging’s aber los. Die versammelten älteren Frauen zerrissen sich die Schandmäuler. „Och je. Erbswurst hat er gewollt!“ – „Na, das sind ja Verhältnisse!“ – „Der arme Junge…“ Und man wunderte sich, dass das Kind nicht vollends in Lumpen herumlief.

Nun, immerhin hatte der Laden Erbswurst im Angebot. Was also war falsch? Das war Grübelstoff, den ich mir – wie ihr seht – bis heute gemerkt habe.

Während in der Grundschule die Kinder des Viertels unter sich blieben, erhob sich die soziale Frage hernach im Gymnasium, das vielfach auch Kinder aus betuchteren Familien des Dortmunder Südens anzog. Nun gehörte man eher zur vergleichsweise „einfacheren“ Schicht – und manche Lehrer waren geradezu fassungslos, dass meine Mutter (als einzige der ganzen Klasse) arbeiten ging. Dass sie das offenbar nötig hatte…

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Preisfragen: Wie heißt das Viertel – und wie hießen die erwähnten Ladengeschäfte?




Irrwitz zwischen Dortmund und Barcelona: Der BVB verkauft den (derzeit) zweitteuersten Fußballer aller Zeiten

Seien es nun 140 oder 150 Millionen Euro, die Borussia Dortmund vom FC Barcelona für den hochbegabten, aber noch keineswegs ausgereiften Spieler Ousmane Dembélé kassiert. Derlei pekuniäre Details sind schon beinahe zweitrangig. Dass der vorherige Verein Stade Rennes auch noch ein millionenschweres Stück vom Kuchen abbekommt, mutet ebenfalls wie eine Petitesse an.

In solchen Dimensonen ist Dembélé jedenfalls (derzeit) der zweitteuerste Spieler aller Zeiten – hinter Neymar, der bekanntlich für 222 Mios von Barcelona nach Paris wechselte. Mal schauen, wie lange dieser Rekord Bestand hat. In Relation müssten jetzt Messi und Christiano Ronaldo je ca. eine halbe bis eine ganze Milliarde kosten, oder?

Natürlich sind das wahnwitzige, geradezu obszöne Preise, was denn sonst? Ans soziale Umfeld des Ruhrgebiets, in dem sich das zuträgt, und erst recht an Dembélés Herkunft darf man in diesem Zusammenhang eigentlich gar nicht denken.

Die Rendite für den börsennotierten Club kann sich jedenfalls sehen lassen. Für gerade mal 15 Millionen war der jetzt 20jährige Dembélé vor einem Jahr nach Dortmund gekommen, jetzt steht nahezu der zehnfache Betrag zu Buche.

Den herben sportlichen Verlust wird der BVB allerdings irgendwie wettmachen müssen, und zwar rasend schnell; bevor sich das Transferfenster Ende August wieder schließt. Schließlich steht seit gestern fest, dass man in der Champions League mal wieder gegen Real Madrid und Tottenham antreten muss.

Man kann jetzt schon wetten, dass Spieler, für die sich der BVB interessiert, sogleich immens im Markt-„Wert“ steigen dürften. Schließlich weiß ja alle Welt, wie viele Milliönchen neuerdings in die BVB-Kasse gespült werden. Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, dass der Verein vor 13 Jahren um ein Haar in die Pleite geschlittert wäre…

Und nein: Dembélé wird trotz seiner tollen Dribbeltricks nicht in allerbester Erinnerung bleiben. Gewiss, er hat magische Momente gehabt, hat Fußball mitunter staunenswert zelebriert. Aber das unwürdige Gezerre um seinen Vertrag, seine geradezu kindische Weigerung, zum Training zu erscheinen – das war ungefähr das Gegenteil dessen, was sie in Dortmund von einem Spieler erwarten. Er möge also seiner Wege ziehen.




Rennstrecke der 1000 Herzen: Bericht vom schonungslosen Selbstversuch beim Triathlon in Essen

Die Ruhr in Kettwig. Foto: es

Wieviel Grad hat die Ruhr? Solche Fragen musste man sich jahrelang gar nicht stellen. Kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, in diesem Revierfluss zu schwimmen. „Entengrütze“ hieß das Wasser zu meiner Schulzeit. Doch das ist zum Glück vorbei.

Vom Baldeneybad in Essen kann man sich jetzt wieder in die Fluten der gestauten Ruhr stürzen. Auch die Essener Triathleten haben den Fluss für die Disziplin Schwimmen bei der Neuauflage 2016 in ihren Wettkampf eingebaut, aus nostalgischen Gründen: Denn 1982 fand am Baldeneysee der erste deutsche Triathlon überhaupt statt. Allerdings wurde damals im Rüttenscheider Bad geschwommen. 2017 will ich mit dabei sein und habe mich kurzerhand zum „1000 Herzen Triathlon“ am 20. August angemeldet.

Lieber mit Neoprenanzug

Am 19. August regnete es und wurde plötzlich kalt. Da ich nicht größenwahnsinnig bin, hatte ich mich zwar nur für die Sprintdistanz (500 Meter Schwimmen – 24 Kilometer Radfahren – 5 Kilometer Laufen) entschieden, aber kaltes Wasser ist kaltes Wasser und 15-20 Minuten im kalten Wasser sind noch kälter.

In der Wechselzone…
Foto: es

Also musste ein Neoprenanzug her und zwar sofort. Zum Glück haben Sportgeschäfte in der Essener Innenstadt so etwas im Angebot und siehe da, ein Modell passte und ließ sich mit Schnur am Rücken auch schnell öffnen: Denn nichts nervt den Triathleten mehr als lange Wechselzeiten, die versauen das ganze schöne Ergebnis.

„Zügig ins Wasser da vorne!“

Doch der Ruhrgebietsgott ist ein Naturfreund und deswegen ließ er am Sonntagmorgen die Sonne scheinen: Ruhr, du mein Heimatfluss, ich komme! Mit mir kamen rund 600 weitere Athleten und wollten alle am Campingplatz Cammerzell in Kettwig ins Wasser gehen.

Doch nicht ohne Wettkampfbesprechung, die der Rennleiter fröhlich und geduldig für alle neun Startgruppen nacheinander abhielt: „Ihr seht die große orange Boje auf der linken Seite? (Alle Köpfe nach links) Da schwimmt ihr mit der rechten Schulter vorbei, dann durch die zwei Bojen in der Mitte zur großen Boje auf der rechten Seite (alle Köpfe nach rechts), wieder rechte Schulter vorbei, dann zur kleinen Boje vor dem Ausstieg, linke Schulter vorbei, zügig bis an die Rampe schwimmen, die Helfer ziehen euch aus dem Wasser. Alles klar? Noch neun Minuten bis zum Start, jetzt alle ins Wasser gehen und zur Startposition schwimmen!“

Ich glaube, es wird ernst, doch Zeit zum Nachdenken ist keine mehr. Eisig packt mich die Ruhr an den Fußknöcheln. „Zügig ins Wasser da vorne!“, rufen die Helfer – nix für Zimperliche! Sehnsüchtig schaue ich ans sonnige Kettwiger Ufer gegenüber, noch fünf Minuten bis zum Start.

Ich hole tief Luft und schmeiße mich rein, der Neo saugt sich voll und siehe da, er wärmt tatsächlich ein wenig. Von links nähert sich ein Schiff der Weißen Flotte, allerdings in sicherer Entfernung, und ehe ich noch denken kann, ob ich nicht lieber auf dem Schiff fahren würde, ertönt der Countdown zum Start: „Zehn, neun, acht…los!“

Da ist ja mein Rad…
Foto: es

Die Ruhr ist dunkelgrün und kühl

Wat willste machen? Ich schwimme los, die kühle Ruhr umfängt mich ganz. Sie ist dunkelgrün und schmeckt ein wenig metallisch. Manchmal wickeln sich abgerissene Wasserpflanzen um meinen Hals und lösen sich wieder. Alles fließt. Ich keuche etwas, als ich nach dem Wenden gegen die Strömung schwimmen muss, doch so stark finde ich sie nicht.

Weit hinten schimmert die zweite Boje, autsch, jetzt habe ich aus Versehen in etwas Weiches getreten, das war mein Hintermann, der mir zu nahe gekommen ist – überholen geht auch hier nur mit Abstand. Nach der zweiten Boje kommt der Flow, mit Strömung im Rücken trägt er mich ans Ufer.

Hände strecken sich mir entgegen, helfen mir aus dem Wasser, jetzt schnell in die Wechselzone laufen, wo ist bloß mein Rad? Ohne Brille nicht so leicht zu finden, Mist, ich bin in der falschen Reihe! Ach, da drüben leuchtet es weiß, das geliebte „Cervélo“! Nassen Neo aus, wieso klebt der jetzt so? Helm auf, Schuhe an, Rad zum Start schieben, aufsitzen, losfahren.

Auf der Radstrecke…
Foto: es

Demütig auf dem Rad

Zum Glück sind Radstrecken an Flüssen entlang meist flach, doch nach der ersten Runde an der Laupendahler Landstraße zwicken die Oberschenkel – wegen all der Kilometer, die ich im Training nicht gefahren bin. Und ich muss noch zwei Runden drehen. Da überholen mich schon Staffelfahrer, die eine halbe Stunde nach mir gestartet sind.

Triathlon macht demütig, aber ich lasse mir die Laune nicht verderben. Es ist erst mein fünftes Rennen überhaupt und die mussten ja schließlich nicht schwimmen. Die Luft ist klar, der Fluss blitzt durch die Bäume und die Straße ist nur für uns abgesperrt: Kein Autoverkehr, keine Fußgänger stören die ultimative Raserei. Letzte Runde, komm, die schaffe ich jetzt auch noch.

Das Koppeltraining versäumt

Den Gedanken an den Lauf danach verdränge ich lieber erst mal. Bis er sich nicht mehr verdrängen lässt: Ich schiebe mein Rad in die Wechselzone und hänge den Helm dran. Das Schild zur Laufstrecke zeigt nach rechts, also los. Doch die Beine funktionieren nicht richtig, sie sind noch ans Radfahren gewöhnt. Das ist zwar völlig normal, ich kenne das Gefühl und weiß auch eine Maßnahme dagegen, die Triathleten nennen sie „Koppeltraining“: Also öfter mal erst radeln und dann sofort danach laufen. Blöd ist nur: Ich habe kein Koppeltraining gemacht, ich war einfach zu faul. Das rächt sich jetzt, also muss ich langsam machen, einen Fuß vor den anderen setzen.

Finisher-Shirt
Foto: es

Nach anderthalb Kilometern normalisiert es sich, die Beinchen haben sich ans Joggen gewöhnt, der Weg führt an der Ruhr entlang, dann über die Felder, schöne Strecke, doch wann kommt endlich der Wendepunkt? Drei Kilometer, Eva, es ist nicht mehr weit.

Grillwürstchen am Ziel

Ich sammele mein Bändchen ein und darf auf den Rückweg, nun kommt der schönste Moment: Wenn man den Ziel-Lärm hört. Die Namen derer, die gerade angekommen sind, werden laut ausgerufen, die Musik schwillt an. Und ich rieche Gebratenes vom Grill…letzte Kurve, das Zieltor liegt vor mir, Augen auf und durch! Geschafft!

Meine Güte, ich habe das Ruhrding gerockt, jetzt bin ich total stolz! Mein Kopf ist leer und ich brauche dringend einen Isodrink und Bananen, beides steht schon bereit. Wie ging es den anderen? Da sind sie ja, wir fallen uns um den Hals, total verschwitzt. Vielleicht sollte man nochmal in die Ruhr tauchen? Nee, heute nicht mehr, aber bald komme ich wieder, du kühler, grüner Fluss, du hast uns alle zurückgewonnen.

Weitere Infos:
www.triathlon-essen.de
www.seaside-beach.de