Trunk, Zeitreise, Einsamkeit und mehr – ein Stapel mit neuen Büchern

Was die Dichter im Glase hatten

Welch eine Idee, gegenläufig zum oft eher abstinenten Zeitgeist: vorwiegend alkoholische Lieblings-Drinks ruhmreicher Schriftsteller, wie sie in ihren Werken vorkommen, als Rezepte herauszubringen und mit anekdotischen Anmerkungen zu versehen. Das Resultat, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch: „Trinken wie ein Dichter. 99 Drinks mit Jane Austen, Ernest Hemingway & Co.“ (Klett-Cotta, 217 Seiten, 24 Euro). Die größten Fraktionen bevorzugen – in allerlei Formen und Kombinationen – entweder Gin oder Whisky, dahinter folgen die Anhänger von Rum und Wodka. Einige Beispiele: Edgar Allan Poe hielt es mit Brandy, Rum und Schlagsahne. Gustave Flaubert bevorzugte Apfelcider mit Calvados und Aprikosenbrand. James Joyce nahm – wenig überraschend – gern Kaffee mit irischem Whisky zu sich. E. T. A. Hoffmann mixte sich sozusagen „Elixiere des Teufels“, z. B. aus Lipari-Wein, Kirschwasser und Champagner. Novalis fand die „Blaue Blume“ mit Hilfe von Bittermandel-Schnaps, Kirschsaft und – Mohnsirup. Pablo Neruda goss vorzugsweise Cognac und Cointreau ins Glas, Sylvia Plath hingegen Wodka und Martini, der notorische Trinker Joseph Roth schlichtweg am liebsten Pernod, während Friedrich Dürrenmatt Bordeaux-Wein mit Rum zusammenbrachte. Und Goethe? Verkostete schon mal das eine oder andere Glas fränkischen Weines. Prosit!

Ein Frauenleben im Rausch

Wir schließen thematisch ans vorherige Buch an: Wohin verschärfter Alkoholkonsum führen kann, schilderte anno 1929 Colette Andris (Pseudonym für Pauline Totey) in ihrem Debütroman „Eine Frau, die trinkt“ (Aus dem Französischen von Jan Rhein, Wagenbach, 156 Seiten, 22 Euro), der als lohnende Wiederentdeckung erschienen ist. Die Autorin führte in den „wilden Zwanzigern“ – also vor rund 100 Jahren – ein bewegtes Leben mit allen Höhen und vor allem Tiefen. Sie war eine der allerersten Nackttänzerinnen, wurde hernach Schauspielerin und eben Autorin. Eine durchaus mögliche Professorinnen-Karriere hatte sie zuvor in den Wind geschlagen. Bereits mit 8 Jahren war sie das erste Mal betrunken, um die Eltern gezielt zu schockieren. Der Suff wurde später ihr täglicher Begleiter. Nur im Rausch glaubte sie, gewisse Männer ertragen zu können. Ein Inferno aus Lebensdurst und Abstürzen, trotz der historischen Distanz ungemein gegenwärtig.

Auf eine Zeitreise geschleudert

Der Schweizer Christian Kracht war vor allem zu Zeiten seines Romans „Faserland“ enorm „angesagt“ und galt als große literarische Hoffnung seiner Generation. Nun hat er mit „Air“ (Kiepenheuer & Witsch, 215 Seiten, 25 Euro) erneut die literarische Szene betreten und sogleich wieder Scharen von Rezensenten auf den Plan gerufen. Erlesen schon die bloßen Orte der weit ausgreifenden Handlung: Paul, ein Schweizer Innenarchitekt, lebt auf den abgelegenen schottischen Orkney-Inseln und erhält einen rätselhaften Auftrag aus Norwegen, er soll den perfekten White Cube erschaffen. Durch eine Sonneneruption wird er freilich auf eine Zeitreise geschleudert, die ihn u. a. in eine mittelalterlich anmutende Welt führt. Wer will, kann nun am großen Motiv-Entschlüsselungs-Wettstreit teilnehmen – zwischen germanischen Mythen, KI-Phantasien, Dichtung und Philosophie. Wahrhaft gehobene Fantasy, zuweilen poliert wie ein Design-Produkt erscheinend, doch staunenswert reichhaltig und nicht nur ästhetisch überzeugend.

Ein allgegenwärtiges Gefühl

In letzter Zeit haben manche Politiker das Thema Einsamkeit als eines entdeckt, das sie mit ihren begrenzten Mitteln bekämpfen wollen. Die Erfolgsaussichten sind freilich fraglich, denn Einsamkeit könnte ja vielleicht als Konstante zur universellen Conditio humana gehören. Allerdings sollte man sich nicht einfach damit abfinden, und man darf auch die jeweiligen Ursachen und Beweggründe nicht verkennen. Der in Kassel lebende Janosch Schobin, studierter Soziologe, Hispanist u n d Mathematiker (!), legt mit „Zeiten der Einsamkeit. Erkundungen eines universellen Gefühls“ (Hanser, 224 Seiten, 24 Euro) ein Standardwerk zum Thema vor, das so ziemlich alle Ausfaltungen des Phänomens in Historie und vor allem Moderne erkundet. Einsamkeit zeigt sich dabei keineswegs nur als individuelles, sondern als kollektives, gesellschaftliches Problem. Für solche Bücher werden am besten feste Plätze im Regal reserviert – zur ständigen „Wiedervorlage“.

Bis in die Bochumer Discos

Maja aus Montenegro wird in Deutschland aufwachsen. Die Geschichte ihres spurlos verschwundenen Vaters Miko und seiner Familie kennt sie noch nicht. Ihre Mutter wird sie ihr erzählen. Es ist eine rasante, ziemlich abenteuerliche Migrations-Geschichte, die in den 1980er Jahren aus einem montenegrinischen Dorf bis nach Bochum und in die dortigen Discos führt. Die 1978 in Gelsenkirchen geborene Ines Habich-Milović, auch als Theatermacherin und Theaterautorin tätig, kündet davon in ihrem Romandebüt „Dein Vater hat die Taschen voller Kirschen“ (Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 24 Euro). Der Titel bezieht sich auf einen Kirschenklau in Nachbars Garten, der hier eine treibende Rolle spielt. In mancherlei Facetten geht es darum, wie kulturelle Identitäten überhaupt entstehen. Dieses Buch beweist, dass Unterhaltsamkeit und Anstöße zur Nachdenklichkeit durchaus miteinander einhergehen können.

Neue Rock- und Pop-Geschichten

Wir bleiben in Bochum: Der aus dieser Stadt stammende Ulli Engelbrecht ist ein Kenner und emsiger Sammler von Rock- und Popmusik. Zudem häuft er allerlei Geschichten rund um Songs und Sounds an, die gewiss einen wesentlichen Teil seines Lebens und des Lebensgefühls seiner Altersgenossen ausmachen. Man tritt ihm sicherlich nicht zu nahe, wenn man Leute wie den Mit-Bochumer Frank Goosen und den Briten Nick Hornby zu seinen Anregern zählt. Auch im neuen Buch mit dem zunächst seltsam klingenden Titel „Klaus Nomi war ja eigentlich Konditor“ (BoD / Books on Demand, Paperback, 180 Seiten, 13 Euro) erzählt Engelbrecht wieder amüsante Rock- und Popgeschichten, vornehmlich gespeist aus den 70er- und 80er Jahren. Er scheint auf ein schier unerschöpfliches Reservoir an solchen Stories zurückgreifen zu können. Bisher lagen aus diesem Themenkreis bereits vor: „Mir brennen die Schläfen“, „Klingende Wunder“ und „Runde Dinger“. Wohl dem, der ein dermaßen gut sortiertes Archiv hat und es so launig ausbreiten kann!

Lektüre vorzeitig abgebrochen

Dass der Franken Verlag als ambitioniertes Projekt in Dortmund an den Start geht, hat sich verheißungsvoll angehört. Gleich mit der ersten Publikation wird die Vorfreude etwas gedämpft. Die aufs Jahr 1992 und die Folgezeit bezogene, nacholympische Stadterkundung „Feinschnitt Barcelona“ von Adrià Pujol Cruells (Aus dem Katalanischen von Matthias Friedrich, Franken Verlag, Dortmund, 256 Seiten, 24 Euro) mag im Original ein großer Wurf sein, doch das teilt sich in der deutschen Übertragung nur bedingt mit. Der Franken Verlag will Übersetzerinnen und Übersetzer durch Namensnennung auf dem Cover eigens würdigen. Gut so. Auch gebührt prinzipiell allen Respekt, die sich übersetzend ans Katalanische begeben. Nun kann ich mangels Kenntnis dieser Sprache nicht beurteilen, inwieweit die vorliegende Übersetzung gelungen ist. Ich nehme allerdings wahr, dass das Resultat im Deutschen gewöhnungsbedürftig klingt. Gleich die ersten Sätze lauten so: „Aus den Laternen auf der Plaça del Sortidor rinnsalt kränkliches Licht… Die Stadtreinigung hat die Pflastersteine mit phreatischem Wasser begossen…“ – „Rinnsalt“, „phreatisch“. Das sind einfach hinderliche Lesebremsen. In ähnlichem Duktus geht es vielfach weiter. Ich gestehe freimütig, die Lektüre vorzeitig abgebrochen zu haben. Vielleicht passe ich ja einfach nicht zu diesem Buch.




Erst Rocksängerin, dann Bildhauerin – Pia Bohr: „In der Kultur haben es Frauen immer noch schwerer“

Im Atelier: Pia Bohr mit ihrer Skulptur „Big Engel“. (© Foto: Melanie Hoessel)

Geht’s um Frauen im Kulturbetrieb, so kann Pia Bohr (61) fundierte Auskunft geben. Zuerst hat die Dortmunderin sich über 25 Jahre lang als Sängerin der international gefeierten Kultband „Phillip Boa & the Voodooclub“ verdingt, dann ist sie nach und nach in die Kunstszene gewechselt und hat sich als Bildhauerin etabliert – zuerst mit Holzskulpturen, seit einiger Zeit mit ebenso organischen und biomorphen Schöpfungen in Bronze, weil die Arbeit mit diesem Material körperlich weniger aufreibend ist.

Besuch in ihrer Werkstatt im Dortmunder Klinikviertel, Dudenstraße 4. Hier blüht buntes Leben: Im selben Hinterhof befinden sich eine Kita und das BVB-Fanprojekt. Wir sitzen inmitten einiger ihrer neueren Arbeiten. Ihr Werkstatt-Raum atmet die angenehme Atmosphäre früherer Zeiten, hat gleichsam Patina – bis hin zum nostalgischen Radio aus den 1960er Jahren. Es funktioniert noch einwandfrei. Auch ihre Bronze-Skulpturen, so Pia Bohr, „werden so ziemlich alles überdauern. Sie schmelzen erst bei 1100 Grad.“ Bei dieser Temperatur entstehen sie auch – in einer hochspezialisierten Gießerei im münsterländischen Drensteinfurt. Bundesweit gibt es nur noch ganz wenige vergleichbare Betriebe. Veredeltes Handwerk.

Ja, für Frauen sei es in der Kultur immer schwieriger als für Männer, auch heute noch. Als Sängerin habe sie vielen Fans und Kollegen bloß als „blondes Schätzchen“ gegolten, dabei habe sie selbst etliche Songs für Phillip Boa geschrieben. Gut, dafür fließen (oder rinnen) immer noch ein paar Tantiemen, aber die Anerkennung hielt sich in Grenzen. Überdies gab es abstrusen Rechtsstreit: Als Sängerin hieß sie Pia Lund, doch wurde ihr juristisch untersagt, diesen Namen auch als Bildhauerin zu tragen. Dann halt Pia Bohr. Zur Bandgeschichte gehört schließlich auch, dass ihre damalige Ehe zerbrochen ist. Eine tolle Zeit war es gleichwohl, als die Gruppe beispielsweise mit dem Produzenten von David Bowie arbeiten konnte.

Wie war es dann als Künstlerin? Auch da habe sie kämpfen müssen. Nun nicht mehr in konfliktreicher Gruppendynamik, sondern als Einzelne – mit größeren Freiheiten, aber auch gewachsenen Risiken. Ein männlich dominierter Künstlerbund habe sie partout nicht aufnehmen wollen. Es gab gar Kollegen, die ihr ausreden wollten, Skulpturen mit glatten Oberflächen zu gestalten. Warum? Tja. Einfach mal so. Bestimmen wollen. Herrschaft ausüben. Überdies hatte sie kein Kunststudium vorzuweisen, erst recht nicht bei einem prominenten Professor. Als käme es im Schaffensprozess nicht auf andere Dinge an. Auf Liebe zum Material und Beseelung des Stoffes. Auf Formfindung und Proportionen. Auf innere Wahrhaftigkeit. Und dergleichen mehr. Als Bezugsgrößen für ihr Schaffen nennt Pia Bohr die Oeuvres von Hans Arp, Francis Bacon und Louise Bourgeois.

Vor Relikten des früheren Hoesch-Stahlwerks: Pia Bohrs Arbeit „Die Spionin“. (© Foto: Bruno de Piero)

Und die Zukunft? Scheint, gerade für Frauen, nicht eben rosig zu werden. Pia Bohr beobachtet vielfach eine Wendung rückwärts. Mühsam erstrittene Frauenrechte seien zunehmend bedroht, sagt sie. Im Gefolge des Rechtspopulismus machten sich sogenannte „Trad Wives“ (etwa: Traditionsweibchen) breit, die vorzugsweise mit Trachten oder Schürzen dienende Rollen annähmen, fast wie die „braven Muttis“ in den 1950er Jahren. Dementsprechend erstarke auch der Machismo, keineswegs „nur“ in der kulturellen Sphäre. Wehmütig lächelnd erinnert sich Pia Bohr des Titels ihrer digitalen Graphik: „Das Ende des Patriarchats“. Schön wär’s ja…

Als Ur-Dortmunderin hadert sie, wie so viele, gelegentlich mit dieser Stadt: „Dortmund ist kulturelle Provinz.“ Und nebenan? Nun, schon in der Unistadt Bochum sehe es besser aus. Ungleich lebendiger sei es in Berlin, wie sie kürzlich wieder erleben durfte. Doch da wolle sie nicht dauerhaft hin. „Da gibt es schon so viele Künstlerinnen und Künstler.“

Von Selbstverwirklichung in den Künsten redet sie nicht gern. Noch weniger mag sie die Redensart, jemand mache „das Hobby zum Beruf“. Nein, kulturelles Schaffen sei vor allem harte Arbeit. Es sei freilich wunderbar, wenn sie sehe, wie Leute ihre Skulpturen liebevoll berühren. Dabei werden, neben geglätteten Partien, auch Narben und Verletzungen in Holz oder Bronze spürbar. Schmerzliche Schönheit. Frauen riskierten derlei haptische Annäherung übrigens eher und inniger als Männer. Woran es wohl liegt?

Über all die Jahre hinweg macht Pia Bohr dieselbe Erfahrung: Oft ist unklar, wann der nächste Gig (Auftritt) oder Kunstkauf ansteht. Daraus folgt permanenter Druck. Zwar kann sie inzwischen von der Bildhauerei leben, doch haben ihr die Zeiten der freischaffenden Existenz nur einen kümmerlichen Rentenanspruch eingebracht. Wir nennen den Betrag hier nicht, es könnten einem schier die Tränen kommen. In wilder bewegten Jahren macht man sich ja auch wenig Gedanken über Einkünfte im „Ruhestand“. Auch so ein Wort, das ihr widerstrebt.

„Frauen in der Kunst“ – das Thema findet Pia Bohr wichtig. Aber: „Dass es eigens hervorgehoben wird, zeigt auch, dass es leider immer noch nicht selbstverständlich ist.“ Wo sie recht hat…

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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (Münster) erschienen: www.westfalenspiegel.de

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Vom 10. Mai bis zum 8. Juni 2025 ist unter dem Titel „helle wachträume“ eine gemeinsame Ausstellung von Pia Bohr und Sonia Ruskov zu sehen, und zwar in der Produzentengalerie „Friedrich 7″ (Friedrich-Ebert-Straße 7, 44263 Dortmund). Öffnungszeiten: Mittwoch 16-18 Uhr, Samstag/Sonntag 14-17 Uhr.

Weitere Infos über die Künstlerin: www.bohrskulpturen.de




Zum Tod von Marianne Faithfull – Rückblick auf ein Konzert von 1999

Marianne Faithfull 1966 in der niederländischen TV-Sendung „Fanclub“. (Foto: A. Vente / Lizenz: Wikimedia Commons – https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)

Es ist wieder eine dieser ganz und gar traurigen Nachrichten, mit denen man stückweise selbst vergeht: Mit 78 Jahren ist die charismatische Sängerin Marianne Faithfull gestorben. Ihre Bedeutung geht weit über ihre anfängliche Rolle als „Muse der Rolling Stones“ (schon diese altbackene Bezeichnung!) hinaus. 1999 durfte ich sie bei einem Konzert in Köln erleben. Hier noch einmal der damalige Text, auch schon rund ein Vierteljahrhundert alt:

Köln. Ganz in Schwarz gekleidet, betritt sie die Bühne. Seht her, eine Dame! Man könnte sie sich gut in einer distinguierten Hotel-Lobby vorstellen, wartend. Doch schon die Art, wie sie Mikrofon und Zigarette hält, lässt ahnen, dass sie nicht „damenhaft“, sondern glühend, verlangend und oft tragisch gelebt hat: Wir reden von Marianne Faithfull.

Die britische Sängerin, die jetzt im Kölner „E-Werk“ zumeist Songs ihrer neuen CD „Vagabond Ways“ vorstellte, ist eine Frau mit bitteren Erfahrungen. 1964, damals gerade 17 Jahre alt, war sie die Freundin von Mick Jagger und wurde unter den rüden „Rolling Stones“ als sexuelle Trophäe herumgereicht. Immer wieder verfiel sie seither der Drogensucht, doch sie kämpfte sich auch daraus hervor. Sie gehört wohl zu jenen, die eher vor Leidenschaft „verbrennen“ als sich zu bewahren.

All das klingt in ihrer rauchigen, brüchigen, oft aufgewühlten Stimme mit. Wenn sie von den „Wilder Shores of Love“ (Wildere Gestade der Liebe) erzählt, so ist bedrohliche Brandung zu spüren; wenn sie „I Feel Guilt“ (Ich fühle Schuld) haucht, so scheint sie tatsächlich tief verstrickt zu sein.

Die Begleitband arbeitet grundsolide und stellt sich ganz in den Dienste der Sängerin. Wie einfach die Harmonien der Titel auch gelegentlich klingen mögen, Marianne Faithfull macht stets das Besondere, von Erfahrung beglaubigte und Ungeglättete daraus.

Sie singt sozusagen an den Bruchlinien des Lebens entlang – von zerbrochener Liebe, geknickten Flügeln der Hoffnung, brüchiger Welt und letztlich auch von Fragmenten jener Freiheits-Wunschträume der 68er-Generation.

„Broken English“ heißt – gewiss nicht nur zufällig – einer ihrer besten Songs. Und es gibt diese starken Momente zwischen überfallartiger Traurigkeit, Aufbegehren, Trotz, Tapferkeit und plötzlichem Triumph. Beispielsweise, wenn sie die Fäuste ballt zu „Working Class Hero“.

Mit dem Publikum stellt sie sogleich eine vertraute, ja fast schon intime Beziehung her. „We love you, dear!“ ruft einer ihr spontan zu und spricht damit manchen aus der Seele. Ein Konzert kann wie eine Affäre sein. Doch diese hier ist denn doch ein wenig flüchtig, nicht unvergesslich. Dazu sind die ganz und gar innigen Momente etwas zu rar. Etliche Feinheiten ertrinken im Grundrauschen des Rock.

Gegen Schluss stimmt Marianne Faithfull den Stones-Klassiker „As Tears Go By“ an. Es werden nicht die letzten Tränen gewesen sein.




Ruhrtriennale will Lust auf Zukunft wecken

Szene aus „Pferd frisst Hut“ nach Eugène Labiche mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: © Thomas Aurin / Theater Basel / Ruhrtriennale)

Man muss schon sehr tief in die jeweilige kreative Materie eindringen, um solche Kombinationen und Mischformen zu realisieren, wie es auch bei der kommenden Ausgabe der Ruhrtriennale wieder geschehen soll: Unter dem neuen Dreijahres-Intendanten, dem renommierten belgischen Theatermacher Ivo Van Hove (er amtiert bis 2026 im Revier), sollen beispielsweise Lieder von Edvard Grieg inszenatorisch mit Rock-Energie aufgeladen oder Chorwerke von Anton Bruckner mit Songs der Isländerin Björk in elektrisierende Verbindung gebracht werden. Da horcht man doch jetzt schon auf und wünscht gutes Gelingen!

Ivo Van Hove, der bereits in früheren Triennale-Zyklen als Gastregisseur fünf Inszenierungen beigesteuert hat (davon drei unter der Intendanz von Johan Simons), erinnerte sich zu Beginn der heutigen Programm-Pressekonferenz an seine künstlerischen Anfänge. Damals, in seinen frühen Zwanzigern, habe er fast alles langweilig gefunden, was sich seinerzeit in (belgischen) Theatern begab. Die nachhaltige Inspiration kam dann mit Produktionen in verlassenen Hallen am Hafen von Antwerpen – ein Szenario, wie es dann eben vergleichbar die 2002 begründete Ruhrtriennale in aufgelassenen Fabrikgebäuden erschlossen hat. Insofern fühlt sich die neue Aufgabe für Van Hove wie ein Heimkommen an.

Hauptrolle für Sandra Hüller

Ivo Van Hove, der neue Intendant der Ruhrtriennale. (Foto: © Thomas Berns)

Die Industriebauten sind denn auch bereits der wesentliche Beitrag des Ruhrgebiets zur rund 17 Millionen Euro schweren Triennale, die sich (verdichtet auf die Zeit vom 16. August bis zum 15. September) 2024 auf die Städte Bochum, Duisburg und Essen konzentriert. Ansonsten spricht man liebend gern Englisch und vergibt auch die meisten Produktionstitel in dieser Weltsprache, die eben immer noch nicht allen „Ruhris“ total geläufig sein dürfte. Es beginnt schon mit der Eröffnungs-Inszenierung am 16. August, die Ivo Van Hove selbst übernimmt: „I Want Absolute Beauty“ (Ich will absolute Schönheit) handelt (nicht nur) von weiblicher Selbstverwirklichung und wird durch Songs von PJ Harvey in Bewegung gesetzt. Van Hove stellt eine neue Form von Musiktheater in Aussicht, mit der er auch neues Publikum anlocken möchte. Die Hauptrolle spielt und singt die auch international hochgelobte Sandra Hüller. Schon das ist ein Signal erster Güte.

Auch das Motto des ganzen Veranstaltungsreigens lautet Englisch: „Longing for Tomorrow“ (etwa: Sehnsucht nach Zukunft). Noch ein Beispiel für die vorherrschende Anglophilie: „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“, ein Abend über queeres Selbstbewusstsein und die sanfte Kraft der Gewaltlosigkeit. Um etwaige Missverständnisse auszuräumen: „Faggot“ ist ein Slangwort für Schwule und hat nichts mit einem ähnlich geschriebenen Musikinstrument zu tun. Weitere Produktionen, die wir hier nicht weiter auffächern können und wollen, nennen sich „One One One“, „Pump Into the Future Ball“ oder auch – gedacht für unter sechsjährige Menschen – „Little Ears, Tiny Feet“…

Immerhin ein Titel ist französisch: „Bérénice“, 1670 uraufgeführte Tragödie von Jean Racine, kommt als Einpersonendrama zur Triennale. Es spielt ein Weltstar des Theaters und Kinos, nämlich die unvergleichliche Isabelle Huppert.

Isabelle Huppert als Racines Tragödiengestalt „Bérénice“ (Foto: © Alex Majoli)

Ganz ohne waltenden Zeitgeist geht es natürlich auch bei der Triennale nicht. Da wird vielfach schwarze Geschichte aufgerufen, zudem werden queere Identitäten „sichtbar gemacht“. Im breiten Themenspektrum finden überdies Natur und Klima ihre gebührenden Plätze. Schließlich sind einige Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine an diversen Projekten beteiligt.

„Slapstick-Operette“ mit Grönemeyers Musik

Die hauptsächlichen Schwerpunkte liegen auf allerlei Musiktheater-Mischungen mit mehr oder weniger kühnen Grenzüberschreitungen zwischen so genannter „E-Musik“ und Rock. Eine ganz spezielle Darbietung rankt sich um 16 Songs von Herbert Grönemeyer (!). Die Chose wird als „erstes deutsches Slapstick-Operetten-Musical“ angepriesen, wobei „Herbie“ gar in die Nähe eines Rossini gerückt wird. Die turbulente Handlungs-Vorlage stammt jedenfalls vom Komödien- und Farcenschreiber Eugène Labiche und heißt „Ein Florentinerhut“. Der Triennale-Titel des ziemlich schräg anmutenden Projekts lautet „Pferd frisst Hut“. Wohl bekomm’s.

Dermaßen vielfältig kommt die nächste Triennale-Ausgabe daher (u. a. auch mit  Tanzproduktionen, Bildender Kunst, Autorenauftritten und Filmen), dass man sich möglichst die Programmdetails im Internet-Auftritt anschauen oder aber gleich das Programmbuch besorgen sollte. Der Vorverkauf der rund 40.000 Tickets hat unterdessen bereits heute (15. April) begonnen. Wer zuerst kommt…

Ruhrtriennale: 16. August bis 15. September 2024 in Bochum, Essen und Duisburg.

Kartenverkauf:

Ticket-Hotline: 0221/28 02 10 (Mo-Fr 8-20, Sa 9-18, So 10-16 Uhr) www.ruhrtriennale.de/de/tickets




„Lyriksalven pflügen sich kometenhaft ins Gedächtnis“ oder: Höhenflüge beim Poetry Slam

Nur mal so als Beispiel fürs Genre: Sebastian Rabsahl, deutschsprachiger Meister im Poetry Slam 2008, bei einem Slam-Auftritt in Kiel, 2016. (Foto: Wikimedia Commons, © Ichwarsnur / Marvin Radke) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en

Es ist schon sehr lange her, doch erinnere ich mich gut, wie uns schon in den Einführungs-Veranstaltungen des Germanistikstudiums eingeschärft wurde, doch bitte Worte wie „Dichtung“ und „Dichter“ (vom Gendern war noch keine Rede) nicht weiter zu verwenden. So erhaben und feierlich sollte es nicht mehr zugehen, denn derlei Tremolo-Stimmung war oft genug missbräuchlich verwendet worden.

Daher die im Grunde nachvollziehbare Kehrtwende. Schlicht und einfach „Texte“ sollte es fortan heißen; ganz gleich, ob es nun um Lyrik von Hölderlin und Rilke oder einen Artikel der „Bild“ ging. Mit solch nüchterner Nivellierung ging vielleicht auch eine – einstweilen noch unbeabsichtigte – unterschwellige Einebnung, wenn nicht gar Wertminderung schriftstellerischer Schöpfungen einher. Wenn eh alles eins ist, kann ja auch alles Literatur sein. Und überhaupt: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, so lautete ja jene oftmals falsch verstandene Beuys-Parole, die seither im Schwange war.

Es war wohl e i n e der Voraussetzungen für den Aufstieg dessen, was wir seit einiger Zeit als popkulturelle Haupt-Erscheinungsform von Literatur kennen: Poetry Slam. Wörtlich könnte man’s ungefähr mit „Dichtungs-Kracher“ übersetzen. Aber das scheint in Zeiten, in denen sich nahezu alle als perfekt Englisch-Sprechende gerieren (haha!), wohl herzlich überflüssig zu sein.

Poetry Slam also. Gern in Form einer Stand-Up-Comedy-Darbietung (ähnlich wie beim Impro-Theater), in jedem Falle bühnentauglich. Das Publikum muss trampeln und johlen, sonst war es eigentlich nix. Na gut, manchmal darf es auch ein wenig ergriffen sein. Selbst Bewerbungen um Stadtschreib-Posten sollten tunlichst Hinweise auf „Skills“ in Poetry Slam und allfällige Diversität enthalten, sonst sinken die Chancen erheblich.

Die Urheberinnen und Urheber sitzen nicht mehr (oder allenfalls nebenbei) im stillen Poesie- oder Prosa-Kämmerlein und schreiben empfindsam vor sich hin, sondern betreten am liebsten gleich die Bretter und hauen ihre Zeilen beherzt ‚raus. Keine Frage, dass es dabei auch etliche Könnerschaft zu bewundern gilt. Doch es sind inzwischen dermaßen viele Slammer(innen) unterwegs, dass auch viele Dilettierende unter ihnen sind, ja sein müssen. Wie auf jedem anderen Gebiet menschlichen Schaffens auch. Was willst du denn mal werden: Influencender oder Slammerin?

Hehre Kunst der Überleitung: Just heute erreicht uns eine über die Maßen wortmächtige Pressemitteilung aus der Ruhrgebiets-Gemeinde Herne, Absender ist die Organisation WortLautRuhr. Sozusagen mit Pauken und Trompeten wird die Tatsache verkündet, dass mit 16 Veranstaltungen auf acht Bühnen vom 27. bis 30. Oktober 2023 in Bochum die „deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam“ stattfinden, und zwar mit dem Einzelfinale in der „prestigereichsten Location des Ruhrgebiets“. Nun ratet! Welche Location könnte das denn sein? Die Weltkulturerbe-Zeche Zollverein in Essen? Das Dortmunder Westfalenstadion? Das Schauspielhaus Bochum?

Weit gefehlt. Nach dieser Lesart ist es das Bochumer Starlight Express-Theater. Das Kriterium muss also viel mit Show und manches mit Remmidemmi zu tun haben. Egal. Die Leute, die bei der Meisterschaft antreten, kämen jedenfalls „aus allen 7 deutschsprachigen Ländern“ – wobei schon zu fragen wäre, ob etwa Bayern, Sachsen und Thüringen jeweils einzeln mitgezählt werden. Nun ja, ebenfalls egal.

Bei der Beschreibung dessen, was Poetry Slam sei, greifen die Macherinnen und Macher des gastgebenden WortLautRuhr jedenfalls mächtig in die Harfe. Drum wollen wir es abschließend in Form lyrischer Hervorbringungen hierher setzen. Poetry Slam erzeuge immer wieder „Internet-Hypes“ (gähn!), es dränge jede Menge „hungriger Nachwuchs“ (puh!) auf die Bühnen. Und dann, alles wörtlich zitiert:

Poetry Slam ist Party,
Poetry Slam ist Emotion.
Hier haut einen die geballte Wortgewalt
und Performance-Ekstase von den Sitzen,
Lyriksalven pflügen sich
kometenhaft ins Gedächtnis,
Lachmuskelkater garantiert.

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Infos:

www.wortlautruhr.de
www.slam23.de

 




Jane Birkin – Fülle des Lebens

Jane Birkin, wahrhaftig eine Ikone ihrer Generation, ist mit 76 Jahren gestorben. Aus diesem traurigen Anlass nochmals der Text einer Kurzbesprechung, die erstmals am 16. Februar 2008 in der Westfälischen Rundschau erschienen ist:

Wenn Jane Birkin singt, sind Geister gegenwärtig. Dann wird Musik schon mal zur gehauchten Beschwörung.

Nein! Diese knabenhafte Frau in Cargo-Hosen und T-Shirt, die fast zwei Stunden ohne Pause auf der Bühne des Dortmunder Konzerthauses steht, kann keine 61 Jahre alt sein. Niemand mag es glauben.

Und besagte Geister? Nun, natürlich schwingt vor allem die Erinnerung an ihren langjährigen, 1991 gestorbenen Lebens- und Bühnenpartner Serge Gainsbourg mit. Obwohl sie sich einst von ihm getrennt hat: Diese Liebe wirkt spürbar nach – schier grenzenlos. Jane Birkin ist denn auch so klug, seither mit keinem anderen das berüchtigte Stöhn-Lied „Je t’aime – moi non plus…“ (Skandal von 1969) darzubieten. Darauf müssen wir also verzichten.

Sonst aber enthält das Konzert so ziemlich alles, was man sich von ihr wünschen kann. Flankiert wird sie von einem famosen Trio: Die drei Herren beherrschen neben Klavier, Gitarre, Geige und Schlagzeug manche andere Instrumente virtuos. Eine ideale Tragfläche für Jane Birkins sanft-brüchigen Gesang, der zwischen Liebes-Melancholie und kindlicher Freude etliche Schattierungen umfasst.

Eine Glockenstimme hat Jane Birkin nicht. Aber es klingt ihre ganze Lebensfülle an – und das ist mehr. In dieser Liga, in die auch eine Marianne Faithfull gehört, zählt erfahrene, erlittene Individualität. Auch politische Appelle (gegen die Diktatur in Birma) haben da ihren Platz, weil sie von Herzen kommen.

Sie trifft genau die richtige Mischung aus englischen und französischen Akzenten, angejazzten Rock- und Chanson-Elementen. Titel aus neueren Alben und Rückgriffe bis in die 70er Jahre runden sich zum bewegenden Ereignis. Bravo!




Liverpool zwischen Beatles und „Kloppo“

Beatles-Skulpturen an den Gestaden des River Mersey in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal ein paar Zeilen, die so gar nichts mit dem Ruhrgebiet zu schaffen haben – und „irgendwie“ dann doch. Bin jetzt auf einer England-Reise endlich mal einen Tag lang in Liverpool gewesen.

Erwähnt man dort, dass man aus Dortmund kommt, hellen sich manche Mienen auf. Denn alle, die auch nur ansatzweise „Ahnung“ von Fußball haben, wissen natürlich, dass Jürgen Klopp – vor seiner Zeit beim FC Liverpool – Borussia Dortmund meisterlich trainiert hat. Es ist, als schlinge dieser Sachverhalt ein imaginäres Band um beide Städte, auch wenn Dortmunds eigentliche englische Partnerstadt Leeds ist. Aber die sind abgestiegen (unqualifizierter Zwischenruf: „Wie Schalke!“).

Allgegenwärtiger „Kloppo“: „Jürgen’s Bierhaus“ in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Mitten in Liverpool mit seinen (auch baulich) imposanten Museen steht man plötzlich vor einem Pub namens „Jürgen’s Bierhaus“. „Kloppo“ scheint an der Merseyside allgegenwärtig zu sein. Und kaum minder beliebt als einst in Dortmund. Man hat schon etwas über das Phänomen gelesen, hier aber erfährt man es direkt. Apropos: Zweierlei Einschätzungen sind uns im Vorfeld begegnet. Die eine kam von einer gebürtigen Liverpoolerin (deren Bruder ausgerechnet in Dortmund lebt), die ihre „Liverpudlians“ in höchsten lokalpatriotischen Tönen als warm und herzlich pries. Eine andere, südenglische Betrachtungsweise klang hingegen wie eine gelinde Warnung: Bewohner Liverpools, hieß es von jener Seite, seien oft ziemlich direkt und rau („rough“) im Umgangston. Damit sollten Revierbewohner freilich nur begrenzt Probleme haben. Ein offenes Wort wird hier wie dort gepflegt.

Typische Location im Touristenviertel. (Foto: Bernd Berke)

Mit Liverpool war doch noch etwas? Aber ja! Besucht man Liverpool erstmals, so ist selbstverständlich mindestens eine der diversen Führungen auf den Spuren der Beatles zu absolvieren. Unser Guide war eine Frau, stammte aus Irland, bekannte sich fußballerisch zum Lokalrivalen FC Everton, ließ aber Jürgen Klopp notgedrungen gelten. Viel wichtiger: Sie kannte so manche Anekdote zum Leben und Wirken der unvergleichlichen Band – vor allem über ihren erklärten Lieblings-Beatle John Lennon (einverstanden!) und seinen sehr „komplexen Charakter“, die Fährnisse rund um Yoko Ono inbegriffen. Mindestens fünf Mal hat unsere Bärenführerin im Laufe der fast dreistündigen Tour gesagt: „They’ve changed the world.“ Nun, was die damalige Musik und Jugendkultur angeht, ist das nicht übertrieben.

Mit der Musik der Beatles aufgewachsen, habe ich bislang immer „Sgt. Pepper“ und das „White Album“ für die absoluten künstlerischen Höhepunkte gehalten. Was ja auch durchaus stimmen dürfte. Seltsam unterschätzt habe ich jedoch die LP „Revolver“, trotz aller langjährigen Hörpraxis. In dieser Hinsicht hat mir der Rundgang mit Hinweisen der buchstäblich bewanderten Expertin Augen und Ohren geöffnet. Sie hat unbedingt recht: „Revolver“ war, vor den folgenden Höhenflügen, bereits ein Auf- und Durchbruch zu anderen Sphären. Eine gar späte Einsicht, nicht wahr?

Noch so eine Kultstätte. (Foto: Bernd Berke)

Rund 60 Jahre ist es her, dass die Beatles 1963 die Charts umkrempelten und eine Massenhysterie auslösten. US-Präsident John F. Kennedy wurde im November 1963 in Dallas erschossen und es war, als hätten die Beatles (die weder „Fab Four“ noch „Pilzköpfe“ genannt werden sollten) die westliche Welt aus dem damaligen Stimmungstief gerissen. Es musste sie einfach geben. Genau damals. Und genau so, wie sie gewesen sind. Bis sie so wurden, wie sie ewig in Erinnerung bleiben werden, hat es allerdings seine Zeit gedauert. Etliche Einflüsse, Umstände und Menschen mussten „zufällig“ zusammenkommen, um das Wunder zu bewirken. Die Vorläufer-Bands sollen anfangs fürchterlich geklungen haben, doch nach und nach hat sich das gegeben. Und wie!

Kraftvoller Auftritt: Impression aus dem Liverpooler Museumsviertel. (Foto: Bernd Berke)

Gewiss: In bestimmten Straßenzügen von Liverpool (rund um den „Cavern Club“ etc.) werden Touristen aus aller Welt dermaßen unablässig beschallt, dass viele es offenbar nur mit alkoholischer Betäubung durchstehen bzw. zu steigern versuchen. Man muss es ja nicht über sich ergehen lassen.

Der leider zu kurze Aufenthalt hat mich jedenfalls im Gefühl bestärkt, dass zwei der großartigsten kulturellen Dinge in meiner Generation just aus England zu uns gedrungen sind: die Beatles (sowie viele andere Combos neben und nach ihnen) – und Monty Python’s Flying Circus. Na gut, mit den Filmen der Nouvelle Vague haben auch Franzosen einiges zum positiven Lebensgefühl hinzugefügt. Und Deutschland? Nun, Robert Gernhardt und die Neue Frankfurter Schule waren gleichfalls nicht zu verachten. Was einen halt so geprägt hat.




Die Natur des Menschen erkunden – Programm der Ruhrtriennale

Auch diesmal eine zentrale Spielstätte der Ruhrtriennale: die Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: © Jörg Brüggemann)

Rühmen ist eine Kunst, auf die sich nicht alle verstehen. Ganz anders heute bei der Programm-Pressekonferenz zur Ruhrtriennale, die streckenweise geradezu schwärmerisch verlief. Das überwiegend weibliche Leitungsteam um die Intendantin Barbara Frey ließ nach und nach sämtliche am Festival beteiligten Künstlerinnen und Künstler hochleben. Darüber wurden die geplanten 90 Minuten arg knapp.

Intendantin und Sparten-Leiterinnen gingen überdies einfach mal davon aus, dass die Kreativen doch sicherlich samt und sonders allseits bekannt seien. Nun, für ausgesprochene Triennale-Afficionados und dito Habitués mag das wohl zutreffen. Oder eben für die Macherinnen selbst. Ich möchte hingegen wetten, dass nicht ausnahmslos alle Medienschaffenden sofort bei allen Namensnennungen gänzlich im Bilde waren. Aber was soll’s. Manche Vorhaben klingen wirklich vielversprechend, andere beim ersten Hinhören etwas gewöhnungsbedürftig. Oder halt „interessant“; ganz nach dem offenherzigen Motto: „Dann lasst doch mal sehen!“

Vom 10. August bis zum 23. September werden an 12 Orten in den Städten Bochum, Duisburg, Essen und Dortmund (Rachmaninow-Projekt „Abendlob und Morgenglanz“, ab 16. Augustin in der Zeche Zollern) insgesamt 34 Produktionen und Projekte gezeigt, darunter fünf Uraufführungen. Vielfach handelt es sich – wie bei der Ruhrtriennale üblich – um Mischformen („Kreationen“) zwischen Schauspiel, Musiktheater, Tanz, Performance und sonstigen Künsten. Auch der Film kommt diesmal (im Bochumer „Metropolis-Kino“) deutlicher zu seinem Recht als sonst. Noch mehr Zahlen? Bitte sehr: Alles in allem wird es 113 Veranstaltungen geben, der recht ordentliche Jahresetat beträgt rund 16 Millionen Euro.

Nun aber gilt’s der Kunst, notgedrungen anhand von wenigen Beispielen:

Die Eröffnungspremiere (10. August, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord) inszeniert Barbara Frey selbst. Als Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater, aber zuerst im Revier zu sehen, steht William Shakespeares immer noch und immer wieder wunderbar rätselvoller „Sommernachtstraum“ auf dem Spielplan. Barbara Frey sieht das im zauberischen Wald angesiedelte Stück in inniger Verknüpfung mit dem zentralen Festival-Themenkreis: Was ist die Natur des Menschen und wie behandelt dieses seltsame Wesen die Natur um sich herum? Es gehe bei Shakespeare um alles: Kunst, Natur, Macht, Eros und Traum. Kein leichtes Unterfangen also, aber wohl ein reichlich lohnendes. Übrigens habe der weltberühmte Dramendichter auch schon Angst um die Natur gekannt. Schon zu seiner Zeit seien großflächig Wälder abgeholzt worden.

Inszeniert den „Sommernachtstraum“ als Eröffnungs-Premiere: Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey. (Foto: © Daniel Sadrowski)

Die größte Musiktheater-Poduktion heißt „Aus einem Totenhaus“ (Premiere am 31. August, Jahrhunderthalle Bochum) und stammt vom Komponisten Leoš Janáček. Seine Vorlage waren Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, in denen der Schriftsteller seine Leiden im sibirischen Arbeitslager geschildert hat. Die mit rund eineinhalb Stunden Spielzeit ziemlich kurze Oper wird von Dmitri Tcherniakow in Szene gesetzt. Das Publikum soll sich dabei durch eine finstere Gefängniswelt bewegen, die Trennung zwischen Bühne und Parkett werde aufgehoben. Zuschauer würden den Mitgliedern des Ensembles beispiellos nah kommen, heißt es. Zuschauerinnen natürlich auch. Durchgängiges „Gendern“ ist im Triennale-Team versiert ausgeübte Pflicht.

Zumindest indirekte Bezüge zur industriellen Ruhrgebiets-Vergangenheit hat das Musiktheater-Vorhaben mit dem Titel „Die Erdfabrik“ (ab 11. August, Gebläsehalle, Duisburger Landschaftspark). In der Auftragsproduktion, realisiert von dem Komponisten Georges Aperghis und dem Schriftsteller Jean-Christophe Bailly, sollen sich Bergbau-Minen als metaphorische Orte erweisen. Drunten, im tiefsten Dunkel, verwirre sich die gewöhnliche Ordnung der Welt, hier müssten Ur-Ängste überwunden werden, wie Barbara Eckle ausführt, die Leitende Dramaturgin fürs Musiktheater der Triennale. Zugleich habe der Gang in die Tiefe mit unvordenklichen Zeitschichten zu tun, die Kohle lagere dort seit vielen Millionen Jahren.

Eine besondere Tanzproduktion verspricht „Skatepark“ der Dänin Mette Ingvargtsen zu werden, die sich von sozialen „Choreographien“ der Skateboard-Community herleitet und selbige künstlerisch aufbereitet (ab 12. August, Jahrhunderthalle Bochum). Bei den Konzerten ragt u. a. ein „Schlagzeug-Marathon“ (26. August, PACT Zollverein in Essen) heraus, beispielsweise mit Billy Cobham und Mohammed Reza Mortazavi. „Play Big“ (ab 21. September, Jahrhunderthalle Bochum) heißt ein groß gedachtes und in jeder Hinsicht raumgreifendes Zusammentreffen von Sinfonieorchester, Chor und Bigband, bei dem es zu gleitenden oder auch kontrastreichen Übergängen zwischen E-Musik und U-Musik kommen dürfte.

Mit dem dritten Teil dieser Ruhrtriennale endet vertragsgemäß die Intendanz der Schweizerin Barbara Frey, die vordem u. a. das Schauspielhaus in Zürich geleitet hat. Die Journalistenfrage, womit sie wohl in hiesigen Breiten in Erinnerung bleiben werde, mochte sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht beantworten. „Lassen wir es offen.“

Durchzählen unnötig: Wir haben hier selbstverständlich nur einen Bruchteil der Produktionen nennen können. Der ganze große „Rest“ steht im gedruckten Programmheft und auf der Homepage des Festivals. Der Vorverkauf hat bereits begonnen, er läuft seit heute (27. April). 34.000 Tickets sind im Angebot, bis zum 4. Juni gibt es einen „Frühbuchungs-Rabatt“ von 15 Prozent. Und nun bitte hier entlang:

www.ruhrtriennale.de

 




Der große unbekannte Literat – Lesung zu Wolfgang Welt im Bochumer Schauspielhaus

Eine tragische Person. Eigentlich hat er’s schon draufgehabt, das Schreiben: Lapidar und pointensicher, souverän strukturierte und rhythmisierte Prosa, der zuzuhören Freude macht. Einiges davon war jetzt zu hören, live, bei so etwas wie einer nachträglichen Geburtstagsfeier (bzw. –lesung), die das Bochumer Schauspielhaus anläßlich des 70. Geburtstags Wolfgang Welts ausrichtete.

Jele Brückner und Konstantin Bühler aus dem Ensemble lasen zusammen mit Frank Goosen Texte des früh Verstorbenen vor. Und wenn das erst am 3. Februar geschah, ist das zumindest auch dem Umstand geschuldet, daß ein 31.12. – der tatsächliche Geburtstag Welts – kein guter Termin für Lesungen aller Art gewesen wäre. Wolfgang Welt übrigens starb schon 2016, mit 64 Jahren.

Rock und Pop

Wolfgang Welt schrieb literarische, oft autobiographische Texte, er schrieb aber auch Rezensionen für Szene-Blätter wie „Marabo“ oder „Guckloch“, die in den 70er Jahren, gerade im studentisch geprägten Bochumer Raum, einen kräftigen Höhenflug erlebten. Welt hatte ein stupendes Fachwissen zu Rock- und Pop-Musik, war, was er gerne und wiederholt betonte, ein großer Buddy-Holly-Fan. Ein Literat war er zudem, hatte als Autor im Bochumer Intendanten Leander Haußmann, dem Literaturkritiker Willi Winkler, dem Suhrkamp-Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe sowie Peter Handke oder auch Hermann Lenz potente Fürsprecher.

Eigentlich waren die Achtziger eine gute Zeit für Pop-Literaten, zu denen man mit gebührendem Vorbehalt Wolfgang Welt vielleicht doch zählen könnte; warum also blieb der große (oder wenigstens mittlere) Durchbruch aus, war der Bochumer Dichter zeitlebens gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Schallplattenverkäufer, später als Nachtwächter, zu verdienen?

Psychiatrische Erkrankung

Zu erwähnen sind die psychische Erkrankung, die Welt zwang, seine journalistische Arbeit einzustellen und ab 1982 als Wachmann zu arbeiten – ab 1991 übrigens im Schauspielhaus Bochum, wo sein fester Platz hinter der Glasscheibe im Künstlereingang war. Außerdem war er in geschäftlichen Dingen wohl nicht sehr geschmeidig, hielt mit Antipathien nicht hinter dem Berge, schätzte (in seinen Pressetexten) auch die üble Beschimpfung, etwa Heinz-Rudolf Kunzes, dessen Klassifizierung als „singender Erhard Eppler“ noch zu den feineren Formulierungen eines gnadenlosen Verrisses zählte. Vielleicht war es die rote Wut, vielleicht die Wut des Unbeachteten – es gab Korrespondenzen mit den Granden des bundesdeutschen Feuilletons, Karasek zum Beispiel, die sich schön lesen, aber zu nichts führten. Gerade einmal die Tageszeitung „taz“ hat Wolfgang Welt, ein bißchen jedenfalls, entdeckt und druckt nun manchmal Texte von ihm.

Aus armen Verhältnissen

Die eigentümlich ereignisarmen Biographien Annie Ernaux’ gehen einem durch den Sinn, die die Theater derzeit so gerne auf die Bühnen stellen (wie z.B. in Dortmund „Der Platz“). Eine zentrale Botschaft lautet: Kinder aus ärmlichen Verhältnissen, wie erstaunlich, haben es schwer, nach oben zu kommen; und an unverarbeiteten Minderwertigkeitsempfindungen leiden sie häufig auch dann noch, wenn sie im Leben erfolgreich waren.

Wie es damals eben so war

Ob die Herkunft aus einfachen Verhältnissen auch für Wolfgang Welts relative Erfolglosigkeit (zu Lebzeiten) eine Rolle spielt? Kann sein, muß aber nicht. Welts Verhältnis zur Mutter war liebevoll, in den Kindergarten kam er nicht, weil Mutter ihn gerne bei sich behalten wollte, was, wie wir vermuten, dem frühkindlichen Spracherwerb durchaus zuträglich gewesen sein könnte. Der Vater war zwar oft besoffen, aber wenigstens nicht übergriffig, den Kindern gegenüber nicht und auch wohl nicht gegenüber seiner Frau. Es war nur manchmal schwierig, ihn noch ins Bett zu kriegen, wenn er aus der Kneipe kam. Nun denn.

Zu erdig

Aus den autobiographischen Texten grinst dich das Ruhrgebiet der Fünfziger an, wo die Briketts noch tief flogen, aber Depression und Hoffnungslosigkeit keineswegs Leitmotive waren. Goosen erzählt recht ähnliche klingende Geschichten, ähnlich gerade auch dann, wenn es um Fußball geht. (Es geht oft um Fußball.) Vielleicht, aber das ist natürlich schon hoch spekulativ, waren Wolfgang Welts autobiographische Erzählungen einfach zu erdig für das oft recht eskapistische Repertoire der sogenannten Pop-Literatur. Denn ist der Stil auch leicht und locker, so sind die Geschichten doch existentiell, ist die psychische Erkrankung letztlich nicht verwunderlich.

Eine späte Entdeckung

Nach dieser schönen Geburtstagslesung tut es dem Verfasser dieser Zeilen jedenfalls leid, so spät auf den Schriftsteller Wolfgang Welt gestoßen zu sein. Erst als er starb, was in dem Medien ein gewisses Echo fand, wurde ich aufmerksam auf ihn. Früher hatte ich, in den guten alten analogen Zeitungszeiten, lediglich ab und zu die Pressefotos bei ihm abgeholt, die das Schauspielhaus von Premieren zur Verfügung stellte. Denn das gehörte zu seinem Job, Presseunterlagen aushändigen. Als Nachtwächter im Schauspielhaus.

Nachlaß liegt in Düsseldorf

Es gibt eine Reihe von Buchveröffentlichungen Wolfgang Welts, im Internet wird man fündig. Der ausführliche Wikipedia-Eintrag ist ganz aktuell. Sein Nachlaß übrigens, Berge von Schallplatten und eine üppige Bibliothek, ging an das Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut.




Wir sind Helden: Das Theater Hagen inszeniert ein Rock-Konzert zum Mitfeiern

Trio infernale: Vanessa Henning, Patrick Sühl und Hannes Staffler heizten die Stimmung im Theater Hagen mächtig an. (Foto: Matthias Jung)

Zum Finale lässt das Theater Hagen es noch einmal richtig krachen. Bringt die große Show auf die kleine Bühne. Feuert kurz vor Spielzeitende am 12. Juni alles heraus, was seine Abteilungen zu bieten haben, inklusive Bühnentechnik, Kostümabteilung, Beleuchtungsmeister, Tänzer, Sänger, Musiker und Sound-Designer. „Heroes“ heißt dieses theatralische Rock-Konzert zum Mitfeiern, in Anlehnung an den gleichnamigen Hit von David Bowie.

Thilo Borowczak, Disponent und Oberspielleiter des stets von Unterfinanzierung bedrohten Theaters, setzt damit ein Erfolgsformat fort. Schon die von ihm inszenierte Undergroundparty „Take a Walk on the Wild Side“ sorgt seit der Premiere im Jahr 2018 für ausverkaufte Vorstellungen. Mit „Heroes“ folgt jetzt eine Neuauflage, in der die Besucher ein Stück ihrer eigenen musikalischen Sozialisation wiederfinden: von den Rolling Stones bis zu Adele, von The Doors bis Pink.

Was dabei herauskommt, ist mehr als eine Hitparade, mehr auch als eine Ranschmeiß-Orgie an das Publikum. Das liegt an der durchdachten Abfolge der Songs, die oft gesellschaftskritisch sind, aber auch von den individuellen Nöten der Jugend erzählen. Es geht um Sehnsucht, Sex, Liebeskummer und Einsamkeit, manchmal auch um schieren Hedonismus, wie ihn Robbie Williams‘ Ohrwurm „Let me entertain you“ prototypisch zelebriert.

Hannes Staffler als „Englishman in New York“ von Sting. (Foto: Matthias Jung)

Selbstredend surft der Abend auf der Erfolgswelle berühmter Songs. Aber die fließenden Übergänge schmieden aus einzelnen Titeln ein größeres Ganzes. Dabei helfen die Drehbühne und Videobilder, die für Stings „Englishman in New York“ die passende Skyline herbeizaubern, aber auch Zeitgeschichte Revue passieren lassen. Das ist nicht immer ungefährlich. Wenn die Regie zu John Lennons „Imagine“ einen Drohnenflug über zerstörte ukrainische Städte einblendet und im direkten Anschluss Freddy Mercurys pathetisches „The Show must go on“ folgen lässt, bleibt die Botschaft irritierend unklar.

Die Bühnenshow ist aber sondergleichen. Hans-Joachim Köster entfesselt ein verschwenderisches Spektakel aus Scheinwerfer-Effekten, Kunstnebel, Pyrotechnik und Glitzer-Konfetti. Lena Brexendorff ergänzt das durch einen Kostümrausch, der immer neue Überraschungen bietet. Bis zur Erschöpfung verausgaben sich neben den Tänzern drei Sänger, die authentisch bleiben, obwohl sie in die Fußstapfen von Superstars treten.

Bühnenspektakel: Die Show „Heroes“ lädt zum Mitfeiern ein. (Foto: Matthias Jung)

Vanessa Henning, Hannes Staffler und Patrick Sühl rocken im Wortsinne das Haus. Ihre stimmliche Flexibilität reicht für phonstarke Exzesse von Nirvana, aber auch für den erotischen Blues von Amy Whinehouse und den Gentleman-Sound von Sting. Unter der musikalischen Leitung von Andres Reukauf heizen sie die Temperatur im Saal kontinuierlich auf. Im Parkett und auf den Rängen feiern die jung Gebliebenen, die sich gerne an die Revolten von einst erinnern, mit Kissenschlacht und Klatschmärschen.

(Weitere Termine: 16. Juni, 31. August, 25. September, 30. Oktober, 26. November. Karten unter Tel 02331/207-3218 oder unter www.theaterhagen.de)




Abermals Promi-Faktor im Osthaus Museum: Nach Sylvester Stallone ist Bryan Adams an der Reihe – als vielseitiger Fotograf

Schwer kriegsversehrt und mit Auszeichnungen dekoriert: Sergeant Rick Clement. (© Bryan Adams)

In Hagen gibt sich die internationale Prominenz aus vermeintlich museumsfremden Bereichen die Klinke in die Hand.

Noch für dieses Wochenende (bis 20. Februar) sind Gemälde des weltbekannten Hollywood-Stars Sylvester Stallone im Osthaus Museum zu sehen. Und sogleich beginnt am Sonntag eine neue Schau der Rock- und Pop-Größe Bryan Adams. Der wiederum verdingt sich seit längerer Zeit auch als beachtlicher Fotograf.

Es sieht fast so aus, als sei dieser Ansatz das neue Konzept des Museumsleiters Tayfun Belgin. Darüber ließe sich trefflich diskutieren. Jedenfalls versichert Belgin, der Name Stallone habe spürbar die Besuchszahlen gesteigert. Genaueres möchte er aber noch nicht verraten. Schließlich käme ja noch dieses Wochenende hinzu…

Blick in die Hagener Ausstellung – hier mit Bryan Adams‘ Porträts von Mick Jagger und Amy Winehouse. (© Bryan Adams / Ausstellungs-Foto: Bernd Berke)

Weltstars, Obdachlose und Verwundete

Bryan Adams hatte – wie man sich denken kann – relativ leichten Zugang zu seinesgleichen, sprich: zu zahlreichen anderen A-Promis wie zu Beispiel Mick Jagger, Amy Winehouse, Linda Evangelista, Kate Moss, Ben Kingsley oder auch Wim Wenders, Helmut Berger und den Mannen von Rammstein. Dabei sind Fotografien entstanden, die mitunter durchaus Ikonen-Qualitäten haben. Selbst der Queen hat Adams anno 2008 im Buckingham Palace ein besonderes Lächeln abgewonnen. Sie sitzt ganz entspannt auf einem Stuhl, neben ihr stehen zwei Paar Gummistiefel, als wollte sie sich gleich nach der Fotositzung rustikal auf den Weg machen.

Adams‘ großformatig ausgestellte Motive für den berühmt-berüchtigten Pirelli-Kalender 2022 (längst nicht mehr so lasziv wie ehedem) kommen hinzu. Erstmals darf ein Museum solche Bilder zeigen.

Noch ungleich eindrucksvoller ist freilich die ganz andere Seite des Fotografen Bryan Adams, der uns schmerzlich frontal mit Bildnissen von Obdachlosen (Serie „Homeless“) oder fürchterlich Kriegsversehrten (Serie „Wounded: The Legacy of War“) konfrontiert, die in Afghanistan und im Irak gekämpft haben. Das sind Ansichten, die man erst einmal aushalten muss.

Selbstporträt Bryan Adams. (© Bryan Adams)

Bryan Adams: „Exposed“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1. Vom 20. Februar bis zum 24. April. Di-So 12-18 Uhr. Tel.: 02331/207 3138.

www.osthausmuseum.de

Mitte März will sich Bryan Adams seine Hagener Ausstellung persönlich anschauen.

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Nachtrag am 24. Februar: Die Bilder der Kriegsversehrten bekommen noch einmal akutere Bedeutung, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat.




Wie eine gute alte Freundin – Die Westfalenhalle wird 70 Jahre alt

Unverkennbare, verheißungsvolle Silhouette: die spätabendliche Westfalenhalle, aufgenommen am 15. März 2008. (Foto: Bernd Berke)

Es mag seltsam anmuten, wenn man dies über ein öffentliches Gebäude sagt, aber es stimmt: Die Westfalenhalle ist mir – wenigstens ein paar Jahrzehnte lang, immer mal wieder – wie eine gute Freundin erschienen und ans Herz gewachsen.

Vor 70 Jahren, am 2. Februar 1952, ist der imposante Rundbau (der ab 1925 schon einen eleganten, im Zweiten Weltkrieg zerstörten Vorläufer hatte) mit einigem Pomp nach Maß der frühen Nachkriegszeit eröffnet worden, der damalige Bundespräsident Theodor Heuss war selbstverständlich Ehrengast. Wie man nachlesen kann, hat es am allerersten Abend jedoch reichlich chaotisch begonnen, weil die Kartenaufdrucke nicht mit der Bestuhlung übereinstimmten.

Zum Beispiel… Santana. Man beachte die günstig erscheinenden Eintrittspreise. Doch damals war das nicht wenig Geld.

Seinerzeit galt die Westfalenhalle 1 mit ihrem damaligen Fassungsvermögen von bis zu 16.000 Leuten (wenn nur ein Boxring in der Mitte stand) als größte Sporthalle Europas. 2017, zum 65. Jubiläum der Halle, zitierte der WDR rückblickend die historisch-euphorische Stimme des Chefredakteurs von „Les Sports“ in Brüssel, der zur Eröffnung wie folgt in die Harfe griff: „Neben diesem fabelhaften Bauwerk“ habe „Köln eine Fabrik, Brüssel eine Garage und Paris eine Bahnhofshalle.“

Abermillionen Menschen haben hier Gipfelmomente des Show-Gewerbes erlebt. Um mal nur von Rock und Pop zu sprechen: Ich selbst habe hier zwar z. B. die Stones und Pink Floyd versäumt (und jeweils anderswo nachgeholt), aber beispielsweise Muddy Waters, Bob Dylan, Neil Young, Leonard Cohen, die Kinks, Santana oder auch Frank Sinatra in der Westfalenhalle gesehen und gehört. Es waren unvergessliche Abende, von denen man eben gern die Eintrittskarten aufhebt; jetzt mal abgesehen von weniger legendären Events wie etwa den Konzerten mit Eric Clapton, Mark Knopfler, Ideal oder den Toten Hosen (not my cup of tea).

Zum Beispiel… Bob Dylan. Damals gastierte er zusammen mit Tom Petty & The Heartbreakers.

Etliche Weltmeisterschaften (u.a. Eiskunstlauf, Eishockey, Handball, Tischtennis) kamen ebenso hinzu wie große Boxkämpfe, die alljährlichen Sechstagerennen sowie zahllose Fernsehshows und Messen, die immerhin ansatzweise internationales Flair nach Dortmund brachten. Auf unserem Schulweg kamen wir einige Jahre an der Halle vorbei und fanden zur Brauereimesse ringsum verstreute Bierdeckel sowie Kronkorken aus aller Welt. In unseren Taschen trugen wir sie nach Hause, aus purer Sammellust. Auch so eine Erinnerung. Nebensächlich und doch einprägsam.

Die goldenen Zeiten der großen Westfalenhalle sind leider vorüber, seit in Köln, Düsseldorf und Oberhausen ähnlich große, modernere Arenen entstanden sind, die mir allerdings bei weitem nicht so beseelt zu sein scheinen wie die Dortmunder Halle, in der so viele Größen gastiert haben. Es ist, als wäre von ihnen allen etwas geblieben, als würde da noch etwas Unnennbares im Raum schweben. Doch ach! Betrüblich, dass dieser genius loci nicht mehr waltet, sondern allenfalls noch in flüchtigen Spurenelementen vorhanden ist.

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Um das Ereignis chronologisch zu flankieren:

2. Februar 1952 Eröffnung der Westfalenhalle
6. Februar 1952 Elizabeth II. Königin – nach Tod ihres Vaters George VI.
7. Februar 1952 Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ erscheint.




Manchmal dieser Hang zu Legenden – Streiflichter zur Hagener Stadtgeschichte im Osthaus-Museum

Popstars aus Hagen: die Gruppe „Grobschnitt“ im Jahr 1978. (© Fotografie: Ennow Strelow)

Wie bitte? Die Stadt Hagen ist erst jetzt 275 Jahre alt geworden? Stimmt. Ganz hochoffiziell: Am 3. September 1746 erhielt der westfälische Ort durch einen Verwaltungsakt im Namen des Preußenkönigs Friedrich II. die Stadtrechte. Zum Vergleich: Hagens Nachbarstadt Dortmund hat bereits 1982 das 1100-jährige Bestehen gefeiert.

Das Fehlen einer mittelalterlichen Geschichte hat die Hagener oftmals gewurmt. Darum haben sie manchmal eigene Legenden gestrickt. Auch davon zeugt nun die Jubiläumsausstellung im Osthaus-Museum; ein Gemeinschaftswerk mit dem Stadtmuseum, das künftig einen umgerüsteten Altbau gleich neben dem Osthaus-Museum und dem Emil-Schumacher-Museum beziehen wird – zusammen ergibt das ein kulturelles Quartier von überregionaler Bedeutung.

Doch zurück zur historischen Perspektive. Die im Osthaus-Museum gezeigten Bestände stammen hauptsächlich aus dem Stadtmuseum. Es beginnt mit einer Ahnengalerie, prall gefüllt mit Porträts prägender Persönlichkeiten der Stadtgeschichte – allen voran der frühindustrielle Unternehmer Friedrich Wilhelm Harkort (*1793 nah beim späteren Hagener Ortsteil Haspe), einer der Vorväter des Ruhrgebiets. Auf kulturellem Felde ebenso bedeutsam: der Kunstmäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus (*1874 in Hagen). 1902 begründete er hier das Museum Folkwang, weltweit das erste Museum für zeitgenössische Kunst.

Ergänzt wird die Fülle der Honoratioren durch Fotografien „ganz normaler“ Hagener Bürger von heute. Der Blick richtet sich also nicht nur rückwärts. Überhaupt vergisst das Ausstellungsteam die Gegenwart nicht. Die Übersicht reicht bis hin zu Bildern und Berichten vom Hagener Hochwasser Mitte Juli.

Aus dem Fundus des Stadtmuseums ins Osthaus-Museum: die Schreibmaschine des Hagener Dichters Ernst Meister (1911-1979). (Foto: Bernd Berke)

Ein großer Ausstellungssaal, scherzhaft „Hagener Wohnzimmer“ genannt, versammelt Stücke aus der Stadthistorie, darunter die Schreibmaschine, auf der der Hagener Dichter Ernst Meister einen Großteil seines weithin hochgeschätzten Werks verfasst hat. Als Pendant aus der bildenden Kunst findet sich eine von Farbspritzern übersäte Original-Staffelei des gleichfalls ruhmreichen Hagener Malers Emil Schumacher. Zu Ernst Meister gibt es weitere Exponate. Der Lyriker war auch ein begabter Künstler. Zu sehen sind rund 60 seiner Bilder, die das Osthaus-Museum jüngst als Schenkung erhalten hat. Außerdem hat sich der Hagener Maler Horst Becking mit 13 Gedichten Ernst Meisters auseinandergesetzt. Hier greift eins ins andere.

Original-Staffelei des Hagener Malers Emil Schumacher (1912-1999). (Foto: Bernd Berke)

Im „Wohnzimmer“ wecken auch Objekte wie z. B. ein alter Kinderwagen, ein Stadtplan von 1930, Relikte aus Hagener Firmengeschichten (Varta, Brandt, Villosa, Sinn) oder eine Ansammlung örtlicher Kulturplakate die Aufmerksamkeit. Sollte bei dieser Auswahl etwa auch ein Zufallsprinzip gewaltet haben?

Gar erschröcklich wirkt jene bizarr erstarrte, vollkommen verkohlte „Schwarze Hand“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die erstmals das Schloss im 1975 zu Hagen eingemeindeten Hohenlimburg verlassen hat. Eine Legende besagt, dass die Hand einem Knaben gehörte, der sie gewaltsam gegen seine Mutter erhoben hatte. Sie sei daraufhin scharfrichterlich abgeschlagen und zur ewigen Mahnung verwahrt worden. Tatsächlich handelt es sich um das durch Blitzschlag versengte Beweisstück in einem Mordfall.

Hagener haben eben einen Hang zu Legenden, vor allem, wenn sich damit heimische Traditionslinien verlängern lassen. So hat man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Stadtwappen erkoren – mit stilisiertem Eichenlaub statt der damals verpönten französischen Lilie. 1897 verfügte Kaiser Wilhelm II. den Wechsel. Die Hagener glaubten Belege für die örtliche Verwendung des Eichenblatts im 14. Jahrhundert gefunden zu haben, aber das war ein Trugschluss. Das Dokument bezog sich auf eine andere Gemeinde namens Hagen. Und noch so eine Inszenierung, nicht irrtümlich, sondern vollends willkürlich: Ein Hagener Maler, der den NS-Machthabern zu Diensten war, produzierte reihenweise romantisierende Stadtansichten, die es in Wahrheit so nie gegeben hat.

In solche Ausstellungen werden gern die Bürger einbezogen, so auch diesmal. Nach entsprechenden Aufrufen reichten sie etliche Objekte mit Hagener „Stallgeruch“ ein – von lokal gestalteten Schneekugeln bis zum Brettspiel mit Ortsbezug. Da schlägt das lokalptriotische Herz höher.

Humorig-historische Postkarte: „In Hagen angekommen“. (© Stadtarchiv Hagen)

Da war doch noch was mit Hagen? Richtig, wir erinnern uns an die oft und gern zitierte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“, die am 3. Januar 1982 im „Spiegel“ erschienen ist. Die Überschrift entstand im Zuge der Neuen Deutschen Welle, die in Hagen sozusagen ihren Scheitelpunkt hatte. Nicht nur wurden Nena und die Sängerin Inga Humpe hier geboren, in Hagen gründeten sich auch einflussreiche Bands wie „Extrabreit“ (1978) und zuvor „Grobschnitt“ (1971). Letztere besteht – in wechselnden Formationen – nunmehr seit 50 Jahren. Deshalb ist ihrer Story im Untergeschoss eine üppige Extra-Abteilung gewidmet. Mit Dokumenten, Fotos und Objekten (darunter ein kompletter Bühnenaufbau) geht es so sehr ins Detail, dass wohl selbst Spezialisten noch Neues erfahren.

Etwas für eingefleischte Hagener sind auch die Schwarzweiß-Fotografien von Ennow Strelow, der in den 70er und 80er Jahren einige kernige Typen der Hagener Szene porträtiert hat. Ältere Bewohner kennen vielleicht noch den einen oder die andere, Auswärtige werden zumindest die fotografische Qualität zu schätzen wissen. Doch je mehr biographische Verbindungen jemand zu Hagen hat, umso mehr Genuss verspricht diese Schau.

„Hagen – Die Stadt. Geschichte – Kultur – Musik“. Noch bis zum 21. November 2021. Hagen, Osthaus-Museum, Museumsplatz. www.osthausmuseum.de

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Der Text ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de

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Weiterer Beitrag zur Ausstellung, mit einem Schwerpunkt auf Rockmusik:

Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit




Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit

Im heimatkundlichen Angebot der Hagener Jubiläumsausstellung sind selbstverständlich auch alte Postkarten. (Bild: Stadtarchiv Hagen/Osthausmuseum)

Die schwarze Reiseschreibmaschine Ernst Meisters steht hier, die farbbedeckte Staffelei Emil Schumachers. Einen alten Kinderwagen hat man auf das Podest gehoben, biedermeierliche Möbel fördern nostalgische Empfindungen. Und an den Wänden setzt eine auf Eindruck bedachte Malerei vergangener Jahrhunderte wichtige Männer in Szene.

Hagen im Heimatmuseum ist eigentlich nichts Besonderes – sieht man einmal davon ab, dass das Heimatmuseum seine Bestände nun im Osthaus-Museum aufgebaut hat. Anlass ist das 275-jährige Stadtjubiläum, das hier mit einem eindrucksvollen Ausstellungsprojekt gefeiert wird, Titel: „Hagen – die Stadt“.

Karl-Ernst Osthaus ist noch sehr präsent

Ein weiterer zentraler Raum ist voll von Portraitfotos, großen und kleinen, alten und neuen. Er soll dem Publikum wohl vermitteln, dass die Menschen die Stadt ausmachen, keine ganz neue Erkenntnis. Doch was fällt einem zu Hagen außerdem noch ein? Was ist das Besondere? Da wäre natürlich Karl-Ernst Osthaus zu nennen, Industrieller, Sammler und Förderer der modernen Kunst im frühen 20. Jahrhundert, dem das Museum seinen Namen verdankt. Die Architektur des Gebäudes, die bauliche Leichtigkeit und Jugendstil so entspannt verbindet, atmet immer noch den Geist dieses Mäzens. Und auch die heutigen Bestände, die leider nicht identisch sind mit der nach Essen verkauften Sammlung, lassen an die vergleichsweise glücklichen Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise denken.

Auch das ist Hagen: Rockband Grobschnitt im Jahr 1978. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Hotspot

Mehr als ein halbes Jahrhundert danach sind die ortstypischen Sensationen von ganz anderer Art. Anfang der 1970er Jahre wird Hagen zu einem Hotspot der deutschen Rockmusik. Die Gruppe „Grobschnitt“ erregt bundesweite Aufmerksamkeit, „Extrabreit“ formieren sich, ebenso Nena Kerners erste Kapelle mit dem Namen „Stripes“. „Mein Mann hat den Bass gespielt“, erinnert sich Heike Wahnbaeck bei der Präsentation der üppigen Grobschnitt-Abteilung im Souterrain des Museums. Sie hat diesen Teil der Jubiläumsausstellung erarbeitet, mit zahlreichen Fotos, Plakaten, Zeitungsausschnitten, Videos und Tourneeplänen.

Eine komplette Bühne ist aufgebaut, Besucher bestaunen die antike Technik, die teilweise doch recht zeitlos wirkt. Wichtig ist Frau Wahnbaeck, dass es nicht nur um einige bekannte Bands, bekannte Musiker ging. Hagen, erinnert sie sich, war damals auch ein Zentrum für Studio- und Bühnentechnik, kaum irgendwo sonst waren die Roadies so professionell wie hier. Viele Fotos zeigen sie traut vereint, die Musiker und die Männer, die schleppten, schraubten und pusselten, damit die Gigs wie geplant über die Bühnen gehen konnten. Rund 50 Jahre sind seit den Anfängen vergangen, und das Jahr der Abschiedstournee, 1989, liegt auch schon über 30 Jahre zurück.

Hagen-Rock, Teil II: Kai Schlasse, Sänger von Extrabreit, im Jahr 1984. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Ennow Strelows Fotos

Was aus der Szene wurde? Viele Leute leben nicht mehr, viele Lebenswege verlieren sich. Doch manche Biographien wurden fortgeschrieben. Wir wechseln in die nächste Abteilung der Ausstellung, die einen Großteil des Museums füllt. Der Fotograf Ennow Strelow, der „Extrabreit“ und andere Bands getreulich begleitete, hat auch viele andere Menschen portraitiert, Hagener und Personen mit markantem Hagen-Bezug. Zu den Portraitfotos hat er Kurzbiographien geschrieben. Bei ihm nun taucht Eddy Kante auf, der, als er noch viele Haare auf dem Kopf hatte, zum Umfeld der Hagener Bands gehörte. Später, ohne Haare, wurde er Bodyguard von Udo Lindenberg. Die beiden sollen lange Jahre gut befreundet gewesen sein, bis Eddy Kante eine Lindenberg-Biogaphie schrieb, die diesem nicht gefiel. Aus war es mit der Freundschaft.

An der gesellschaftlichen Peripherie

Ennow Strelows fotografischer Beitrag zum Stadtjubiläum, besticht alleine schon durch den Fleiß, der hier erkennbar wird. Ja, er hatte auch Prominenz vor der Linse, Peter Schütze vom Hagener Theater etwa oder Jürgen von Manger, ebenfalls ein Sohn der Stadt Hagen. Doch viel Sympathie brachte er auch Menschen in der gesellschaftlichen Peripherie entgegen, dem Flaschensammler Paul zum Beispiel, Flaschen-Paul genannt, oder dem Schrauber Charly Haschke, der auch auf größere Entfernung noch stark nach Werkstatt roch.

Hagens bekanntester Dichter Ernst Meister griff gerne auch zum Pinsel. Dieses Aquarell „ohne Titel“ aus dem Jahr 1956, 32 x 24 cm groß, ist jüngst in das Eigentum des Osthaus-Museums übergegangen (Bild: Reinhard Meister/Osthausmuseum)

Meisters Bilder

Schließlich gibt es noch ein bisschen Kunst zu sehen, Kunst sozusagen in der kleinen Form, aber dafür um so beeindruk-kender. Das Museum hat als Schenkung ca. 50 Bilder erhalten, die der Hagener Dichter Ernst Meister schuf. Er hat, was weniger bekannt ist, gerne auch gemalt. Erste Arbeiten ab ca. 1954 erinnern, in den Worten von Museumsdirektor Tayfun Belgin, hier und da an Kandinsky oder das Bauhaus, doch spätestens in den frühen 70er Jahren fand er zu einer eigenen Bildsprache, abstrakt und expressiv, stark reduziert in den Gestaltungsmitteln. 13 weitere Bilder schließlich stammen vom Hagener Maler Horst Becking. Er hat sie zu Gedichten von Ernst Meister geschaffen, farbenfrohe Stücke, vereinzelt gegenständlich wahrzunehmen, auch eine Übermalung ist dabei. Bilder und Texte finden sich in einem kleinen Büchlein wieder, das das Museum herausgibt.

Man hätte gerne mehr gewusst

Viel Originelles ist hier also versammelt, was zwingend gar nicht den Anlass „Stadtjubiläum“ gebraucht hätte. Bei angemessener Gewichtung der stadthistorischen Anteile hätte man dem berühmten Maler Emil Schumacher natürlich mehr Raum geben müssen, doch nun gut, der hat sein eigenes Museum gleich gegenüber. Trotzdem wäre gerade bei ihm doch zu fragen, was ihn zeitlebens in Hagen hielt. Auch Nena hätten wir gern prominenter platziert gesehen, ohne deshalb die Hagener Rock-Szene vernachlässigen zu wollen. Jürgen von Manger ist wenigstens ein Video-Räumchen vorbehalten, wo seine alten Fernsehauftritte laufen.

  • „Hagen – die Stadt. Geschichte, Kultur, Musik“
  • bis 21.11.2021
  • Osthaus Museum Hagen, Museumsplatz 1, Hagen
  • Di-So 12.00 – 18.00 Uhr, Eintritt frei, Maskenpflicht
  • www.osthausmuseum.de

 




Der coolste „Rolling Stone“: Charlie Watts ist tot

Charlie Watts 2010, unverbrüchlich an den Drums. (Wikimedia Commons – Flickr: „The ABC & D of Boogie Woogie, Herisau, 13. Januar 2010 – © Poiseon Bild & Text, St. Gallen, Switzerland / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en)

Ich geb’s freimütig zu: Mick Jagger („swagger“) mit all seinen extrovertierten Posen fanden wir damals schon ziemlich geil. An ihm war alles offensichtlich. Mit der Zeit ahnten einige von uns, dass der schier unsterbliche Gitarrist Keith Richards vielleicht noch eine Spur „cooler“ war.

Doch mit noch ein paar Jahren mehr wurde klar, dass der obercoolste von allen Rolling Stones eben doch der unerschütterliche Drummer Charlie Watts gewesen ist. Heute ist er im Alter von 80 Jahren in London gestorben, vermutlich an den Spätfolgen von Kehlkopfkrebs. Wie überaus traurig!

Über die Stones müssen wir keine großen Worte mehr verlieren.  Den Beatles als Kultfaktor nahezu ebenbürtig, doch so ganz anders geartet, haben sie meine, haben sie unsere Generation geprägt wie sonst kaum jemand.

Wenn man Wikipedia glauben darf, so entdeckte Charlie Watts (eigentlich Charles Robert Watts) bereits mit 10 Jahren sein Faible für amerikanischen Jazz und hat sich aus einem alten Banjo die erste Trommel gebaut. So ist das eben mit Künstlern, die ihre Kunst einfach ausüben müssen.

Zu Weihnachten 1955 schenkten ihm seine Eltern (Vater: Lkw-Fahrer) das erste richtige Schlagzeug. War’s Zufall oder Fügung: Nach einige Um- und Irrwegen oder auch sinnreichen Zwischenschritten lernte er 1962 Mick Jagger kennen. Alsbald gründeten sie die Rolling Stones. Am 12. Januar 1963 traten sie erstmals mit Charlie Watts am Schlagzeug auf.

Der weitere Weg ist mit Legenden gepflastert. Die nun wahrhaft sachkundige Zeitschrift „Rolling Stone“ (!) führt Charlie Watts auf Platz 12 der besten Schlagzeuger aller Zeiten… Man höre beispielsweise nur das Intro zu „Get off of my cloud“ und man sollte Bescheid wissen.

Charlie Watts war – ganz anders als Mick Jagger und so viele andere im Business – ein Rockstar ohne Allüren und Skandale. Seit 1964 war er mit seiner Frau Shirley verheiratet. Glaubt es oder glaubt es nicht: Auch Keith Richards hat nur ein einziges Mal geheiratet. Wie sagten die Achtundsechziger: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“. Welch ein Flachsinn! Auch einige der Beständigsten zählen zu den Besten.

Und nun aber ganz schnell an die Lautsprecher! Yeah!

 




Er konnte viel mehr als diese Albernheiten im Wirtschaftswunder – zum Tod von Bill Ramsey

Label von Bill Ramseys Single „Pigalle“ (Polydor NH 24428) aus dem Jahr 1961. (© Deutsche Grammophon / Quelle: www.rocknroll-schallplatten-forum.de)

Ich mach’s kurz, es gibt gar nicht so viel zu sagen: Es stimmt mich traurig, dass Bill Ramsey mit 90 Jahren gestorben ist. Seine Stimme hat ein paar Tonlagen meiner Kindheit und meiner Generation mitgeprägt – bevor die Beatles und all die anderen kamen.

Zu den weit verbreiteten Weisheiten über den 1931 in Cincinnati/Ohio geborenen US-Amerikaner, der sich nach seiner Soldatenzeit dauerhaft in Deutschland niederließ, gehört es, dass er musikalisch viel mehr vermochte, als er in seinen Schlagern zeigen durfte. Eigentlich war er ein Jazz-, Swing- und Blues-Könner von Graden – ähnlich wie etwa Paul Kuhn, mit dem er öfter gemeinsam aufgetreten ist. Doch derlei Fähigkeiten waren in der Adenauerzeit nicht so sehr gefragt.

Bill Ramsey im August 2005. (© Wikimedia / Sven Teschke – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en)

Es musste vielmehr entlastend komisch sein; komisch nach dem biederen Verständnis der Wirtschaftwunderzeit. Und bitte recht pfiffig, aber nicht so anspruchsvoll oder gar schwermütig. Um der lieben Einkünfte Willen trug Ramsey in den späten 1950ern und frühen 60ern vorzugsweise jene etwas anzüglich-albernen Titel vor, die – ob nun gewollt oder ungewollt – ein paar Zeitgeist-Spuren jener Jahre auf den Begriff brachten: allen voran „Pigalle“ („…daaaas ist die größte Mausefalle mit-ten in Pa-ris“ – 1960) oder „Zuckerpuppe (aus der Bauchtanzgruppe)“, welch Letztere schenkelklopftauglich nicht aus dem Orient, sondern aus dem weniger geheimnisumwitterten Wuppertal stammte. Auch erfuhren wir durch ihn, dass die Mimi ohne Krimi nie ins Bett ging. Ach ja. Der Titel ist sicherlich schon zweihunderttausend Mal gelaufen, wenn es um Krimilektüre ging.

Seine Schlager-Popularität zog es nach sich, das er dutzendfach in „Opas Kino“ mitmischte: Besagte Mimi war auch eine Filmfigur, Ramsey spielte ihren genervten Gatten. „Die Abenteuer des Grafen Bobby“ kamen gleichfalls nicht ohne die freundlich-rundliche Präsenz dieses sympathischen Menschen aus.

Aber es gab eben auch den anderen Bill Ramsey, der an der Hamburger Hochschule für Musik dozierte und TV- oder Radio-Sendungen moderierte, die sich ernsthaft mit populärer Musik befassten. Noch im hohen Alter, bis 2019, hatte er eine Musiksendung beim Hessischen Rundfunk. Es war ihm wohl sehr daran gelegen, dem Publikum zum besseren Verständnis zu verhelfen. Ein bleibendes Verdienst.




Großmoguln der Songlisten oder: Selbsternannte Sachwalter von Alan Bangs

Liebe Gemeinde! Anfang Juni habe ich hier einen Beitrag zum 70. Geburtstag des famosen Rockmusik-Vermittlers Alan Bangs eingestellt. Nachträglich möchte ich jetzt von unerfreulichen Erfahrungen berichten, die ich mit angemaßten Sachwaltern seines DJ-Lebenswerks machen musste.

Objekte der Begehrlichkeit: ein Teil meiner Cassetten mit Auszügen aus Sendungen von Alan Bangs. (Foto: BB)

Zunächst ereilte mich aus der mählich gealterten Bangs-Fanszene Lob, auch weil das Medienecho auf den Geburtstags-Anlass ansonsten äußerst dünn, um nicht zu sagen kaum vorhanden gewesen ist.

Doch dabei blieb es nicht. Es kam zu Begehrlichkeiten, als ich so unvorsichtig war, alte Songlisten zu erwähnen, die sich auf meine Cassetten-Aufnahmen aus den 1980er Jahren bezogen. Da ging’s aber zur Sache. Um es comichaft zu sagen: „Habenwoll!“

Top-Virologen, Bundestrainer, Bangs-Experten

Kleiner Exkurs: Teile der Menschheit, weit überwiegend männlichen Geschlechts, sind so gestrickt, dass sie sich überall oder auf ganz bestimmten Spezialgebieten (und seien sie noch so randständig) zu Großmoguln, Muftis oder Päpsten aufplustern müssen – sei’s als tölpelhafte „Top-Virologen“, als dito „Fußball-Bundestrainer“ oder eben als schier unfehlbare Experten für all die Songtitel, die Alan Bangs im Lauf der Jahrzehnte jemals aufgelegt hat. Sie verhalten sich so, als seien ihnen die Musikstücke samt Abfolge als höchstpersönliches Erbe zuteil geworden.

Solche unangenehmen Besserwisser, Klugscheißer und Korinthenkacker tummeln sich auf allen Gebieten, sie lauern an vielen Ecken und Enden und wollen erreichen, dass ihnen die jeweilige Herde demütig folgt. Man sollte sie nach Möglichkeit meiden, aber man kann diesen lachhaften Figuren wohl nicht lebenslang vollends entgehen.

Grabenkämpfe bleiben nicht aus

Oh ja, sie führen umfangreichste Listen. Oh ja, sie wollen auch noch den letzten Track mit Audio-Kopien belegen und dingfest machen. Diese speziellen Vollständigkeits-Bürokraten, die offenbar viel zu viel Zeit haben, wollen sich nicht dazwischenfunken lassen und schwingen sich auch schon mal zu (juristischen) Drohgebärden auf, sollte jemand in ähnlichen Bereichen tätig werden und ihre Kreise stören wollen. Wenn ich einige Mails richtig deute, gab und gibt es zuweilen heftige Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Fraktionen der Alan-Bangs-Adepten, mit allem Drum und Dran. Alan Bangs selbst ist offenbar so klug, sich aus all dem völlig herauszuhalten. Gut so.

Nach dem eingangs erwähnten Beitrag wurde ich freundlichst, mit allerlei gutem Zureden dazu bewogen, einige alte Songlisten zu Alan-Bangs-Sendungen („Nightflight“ usw.) herauszurücken. Aus heutiger Sicht möchte ich sagen, man hat sie mir abgeluchst. Die Begehrlichkeiten gingen so weit, dass ich Audio-Dateien zu allen verzeichneten Titeln kopieren und quasi an ein Zentralkomitee des Bangs-Wesens weiterleiten sollte. Urheberrechts-Bedenken meinerseits wurden hernach vom Tisch gewischt. Tatsache ist: Ich habe solche Dateien (bei mir auf alten MC-Cassetten vorhanden) nicht herausgegeben. Da zürnte man mir.

Unter dem Siegel der „Verschwiegenheit“

Unterdessen wurde ich per Mail in allerlei Konflikte zwischen Bangs-Anhängern eingeweiht – unter dem Siegel der Verschwiegenheit, versteht sich. Wer aber beschreibt meine Verwunderung, als ich gewahr wurde, dass wiederum Auszüge aus meinen Antwort-Mails munter weitergereicht wurden. Doch nicht nur mein Vertrauen wurde eklatant missbraucht. Da war auch jemand so dreist, gleich die Klarnamen zu diversen Mailadressen zu übermitteln. Fehlen eigentlich nur noch die Hausanschriften, auf dass man eine zünftige Schlägerei unter Alan-Bangs-„Freunden“ anstiften könnte.

Eins steht fest: Der Geist der Musik, die Alan Bangs im Radio gespielt hat, ist sternenweit entfernt vom Kleingeist mancher seiner Anhänger.

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P. S.: Zwar fühle auch ich mich nicht mehr rundum an Diskretion gebunden, doch hüte ich mich, hier aus irgendeiner einschlägigen Mail zu zitieren.

Und ja: Es gibt sicherlich auch etliche Bangs-Anhänger, denen an der Sache und nicht am eigenen Ego gelegen ist.




„Dortmunder U“ im Disco-Rausch: Ausstellung feiert den legendären Club „Studio 54″

Rose Hartman (American, born 1937): Zu Pferde zelebriert Bianca Jagger am 2. Mai 1977 ihren 27. Geburtstag im Studio 54. Auf dieser Aufnahme nicht zu sehen: Ein nackter Mann hielt die Zügel. (Black and white photograph. Courtesy of the artist. © Rose Hartman)

Hört sich doll an: Premiere hatte die Schau in New York, in Toronto fiel sie wegen Corona aus, jetzt ist sie in Dortmund zu sehen – und sonst nirgendwo. Es geht um die legendäre Clubdisco „Studio 54″, deren verbliebene Essenzen nun im „Dortmunder U“ wiederbelebt werden sollen.

Die seinerzeit weltberühmte Kult-Disco an der 54. Straße in Manhattan gab es nur 33 Monate lang, zur Eröffnung im April 1977 kamen Celebrities wie Frank Sinatra, Cher oder auch Donald Trump. Bis zur Schließung im Februar 1980 wogten dort schräge, schrille und rauschhafte Partys mit Stars und Sternchen sonder Zahl. Zu nennen wären beispielsweise Glamour-Gestalten wie Mick und Bianca Jagger, Andy Warhol, Liz Taylor, Michael Jackson, Grace Jones oder Liza Minnelli.

Ausstellungsansicht mit Mode-Beispielen: „Studio54: Night Magic“ (Foto: Roland Baege)

Schrille Mode zur Selbstinszenierung

Stop! Wir müssten nahezu die gesamte damalige Prominenz nennen. In der Ausstellung geben 14 Seiten maschinenschriftliche Gästelisten der Eröffnungs-Nacht eine ungefähre Vorstellung. Sinnlich weitaus eindrucksvoller sind die glitzernden, schillernden Modebeispiele, die damals der Selbstinszenierung auf die Sprünge halfen. Viele Originale aus privaten Kleiderschränken finden sich da, aber auch getreulich Nachgeschneidertes und Entwurfsskizzen. Angesichts etlicher Fotografien oder typischer Relikte und Reliquien (z. B. von Andy Warhol himself gestaltete Eintrittskarten) mag man gleichfalls schwelgen. Es geht ums (Nach)-Erleben, nicht so sehr um eine kritische Würdigung, die eh reichlich verspätet käme. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Club 1980 wegen Steuervergehen schließen musste und die Betreiber in den Knast kamen.

Christian Piper (German, born 1941) for Fiorucci (Italian, founded 1967): Poster zur Eröffnungs-Nacht im Studio 54, 1977. (Printed color poster. Courtesy of The Estate of Antonio Lopez and Juan Ramos)

Die vom renommierten Brooklyn Museum reich bestückte, von Matthew Yokobosky kundig kuratierte Ausstellung ist natürlich keine gewöhnliche Vitrinenschau, sondern setzt einiges in Gang, um die Atmosphäre jener frühen, wilden Disco-Zeiten aufleben zu lassen – beispielsweise mit zahlreichen Lichteffekten, mit den tanzbaren Hits jener Jahre, Bühnenbildern oder einem Rundum-Erlebnis im „360-Grad-Fulldome“. Besucherinnen und Besucher sollen Tanzlust verspüren und sodann – wenn irgend möglich – in die örtliche Clubszene ausschwärmen, die sich gerade wieder aufzurappeln beginnt.

„Unglaublich divers“ muss es sein

Das „Studio 54″ bestand zwar nur recht kurz, hatte aber weit reichende Lifestyle-Auswirkungen, es stand und steht also für ein gehöriges, in gewissen Kreisen global wirksames Stück Kulturgeschichte. Damals war’s nicht leicht, an den Türstehern vorbeizukommen, für die Dortmunder Disco-Schau braucht’s nur eine (nicht ganz billige) Eintrittskarte – und schon geht es rein ins kuratierte Vergnügen, das als „Night Magic“ umschrieben wird.

Ron Galella (American, born 1931): New York City, Studio 54, „Grease“-Premieren-Party, Andy Warhol und Grace Jones, 1978. (Courtesy of the artist. © Ron Galella)

Jede nachfolgende Zeit liest aus Phänomenen wie dem „Studio 54″ ihre eigenen Schwerpunkte heraus. Die deutsche Ko-Kuratorin Christina Danick, die gemeinsam mit Yokobosky und Stefan Heitkemper (Leiter des „U“) die über 450 Exponate aufs Dortmunder Format gebracht hat, schwärmt mit einer gängigen Formel unserer Tage davon: „unglaublich divers“ sei diese Ausstellung. Alle Leute könnten ihr etwas entnehmen, die Älteren sich in ihre Disco-Jahre zurückversetzen, die Jüngeren mit eigenen Club-Erfahrungen vergleichen. Mode- und Popmusikfans würden ebenso angeregt wie Liebhaber künstlerischer Fotografie. Nicht auf einzelne Stücke komme es hierbei an, sondern auf die Gesamtheit der Atmosphäre. Yokobosky spricht schlichtweg von „Mood“. Und diese Stimmung sollte eben jede(r) selbst erfahren.

„Hedonistisches Paradies“

Tatsächlich war das „Studio 54″ Katalysator und Ausdruck einer damals zeittypischen Befreiung – mit Langzeitwirkung. Normen und Zwänge waren weitgehend aufgehoben: Wenn Leute irgendwie zu den Schönen, Schrillen und Reichen gehörten oder zu ihnen passten, spielten Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung im Club keine Rolle. Nicht zuletzt die Schwulenkultur, seinerzeit noch längst nicht so ausgeprägt wie heute, erhielt hier neue Impulse.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Dortmund setze mit dieser Schau (oder besser: Show) mal wieder alles auf eine populäre Karte – wie 2018/19 mit der in Sachen Besucherandrang und Einnahmen denn doch enttäuschenden „Pink Floyd“-Ausstellung. Doch Kulturdezernent Jörg Stüdemann (er nennt das Studio 54 ein „hedonistisches Paradies“) dämpft allzu hochfliegende Erwartungen. 10.000 Besucher(innen) wären in Ordnung, alles darüber hinaus erfreulich. Allerdings wisse man noch nicht, ob Corona mit der Delta-Mutante einen Strich durch die ganze Rechnung machen werde.

Zusätzlich zur Schau im „U“ werden einige Dortmunder Clubs vom Hartware MedienKunstVerein (HMKV) mit medienkünstlerischen Aktionen bespielt. Unter dem Titel „hello again“ steuert der HMKV auf seiner 2. Ebene im „U“ überdies Impressionen zur lokalen Clubszene bei. Zum umfangreichen Begleitprogramm gehören ferner Cocktail-Mixabende oder DJ-Workshops.

Guy Marineau (French, born 1947): Pat Cleveland on the dance floor during Halston’s disco bash at Studio 54, 1977. (Photo: Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Eine Bühne für den nächtlichen Exzess

Befragt, warum gerade das nicht gar so glamouröse Dortmund die Ausstellung ausrichte, sagt Matthew Yokobosky, die allermeisten Museen wollten sich nicht auf eine solche mutimediale Darbietung einlassen, die der reinen Kunst-Lehre kaum entspreche. Das Dortmunder U sei eine rühmliche Ausnahme. Yokobosky will ja auch keinen Tingeltangel anrichten, sondern eine Synthese aus musealer Würde („dignity“) und aufregenden („exciting“) Elementen. Großen Wert legt er auf zeit- und kulturgeschichtliche Authentizität.

Zwei Jahre haben allein Yokoboskys Recherchen und rund 100 Interviews mit Zeitzeugen gedauert, dabei habe er allmählich herausbekommen, wo die (nunmehr 85) Leihgeber zu finden waren. Der erfahrene Museumsmann erinnert daran, dass das „Studio 54″ in einem vormaligen Opernhaus eingerichtet wurde. Die Menschen tanzten auf der Bühne, in jeder Nacht konnte eine andere Szenerie zur Selbstdarstellung entstehen. Der exzessiven Phantasie waren in diesem Fegefeuer der Eitelkeiten kaum Grenzen gesetzt. Der Ausstellung zum Trotz: Diese Zeiten kommen nicht wieder. Es kommen andere.

„Studio 54: Night Magic“. 26. Juni bis 17. Oktober 2021 im „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Geöffnet Di, Mi, Sa, So 11-18, Do/fr 11-20 Uhr. Montags geschlossen. Normalticket 18,90 €, ermäßigtes Feierabendticket 11,90 €.

www.studio54.dortmunder-u.de

 




Entdecker in den Gefilden der Rockmusik: Alan Bangs wird 70 Jahre alt

Eine Reihe älterer Musikkassetten. Es sind hauptsächlich Auszüge aus Sendungen von Alan Bangs darauf festgehalten. (Foto: Bernd Berke)

Ja, so ist das halt: Immer mehr Leute, die man als Generationsgenossen (Frauen sind durchweg mitgemeint) empfindet, überschreiten die 70er-Linie. Nun ist der Musik-Moderator Alan Bangs an der Reihe, der am 10. Juni vor 70 Jahren in London geboren wurde und dessen Einfluss auf viele Menschen wohl immer noch anhält, obwohl er schon seit etlichen Jahren keine regelmäßige Hörfunksendung mehr hat.

Alan Bangs hat über Jahre hinweg und mit anhaltenden Folgen beileibe nicht nur meinen (Pop)-Musikgeschmack wesentlich mitgeprägt. Noch heute gibt es in traulichen Internet-Ecken spezielle Seiten, die seine Playlists von damals recherchieren und pflegen. Auf Umwegen lässt sich also Versäumtes nachholen. Den Sammlern sei Dank für so viel leidenschaftliche Fleißarbeit.

Legendäre Sendung „Nightflight“

Der Kult fing mit Alan Bangs‘ legendärer Sendung „Nightflight“ (rund 700 Folgen vom 25. Mai 1975 bis zum 9. April 1989) bei BFBS Germany an. Es war alles andere als das sonst meist übliche Abnudeln von Hitparaden. Von Anfang an horchte man bei Bangs auf. Er machte sich auf zu musikalischen Erkundungen, beseelt von spürsicherer Entdeckerfreude. Alan Bangs war imstande, Neuentdeckungen aus der Independent-Szene beispielsweise auch mit klassischer Musik zu kombinieren, wenn es ihn gelüstete und wenn es Sinn ergab. Tatsächlich: Da gewahrte man so manche gemeinsamen Schwingungen und Querverbindungen. Überhaupt gerieten „Nightflight“-Ausgaben zu abenteuerlichen Überfahrten in vordem ungeahnte Klanggefilde – oder eben zu geheimnisvoll gleitenden Flügen durch die Nacht.

Screenshot der Internet-Seite nightflights.de, die Alan Bangs gewidmet ist und nach eigenen Angaben die Inhalte von über 1100 Sendungen (!) auflistet.

Damals war die Kompaktkassette das Aufzeichnungsmittel der Wahl. Das mit den großen Tonbandspulen hatte sich weitgehend erledigt und wurde hauptsächlich noch von Freaks und Nostalgikern betrieben. Bis heute habe ich ein ganzes Konvolut von Kassetten verwahrt, auf denen vorwiegend Auszüge aus Sendungen von Alan Bangs die Jahrzehnte überdauert haben, klanglich immerhin noch einigermaßen tolerabel. Ein Schatz, auch und gerade in Zeiten von Streamingdiensten mit zig Millionen Titeln. Wobei diese ehedem unvorstellbare Fülle allemal als Weiterung und Ergänzung taugt.

Beim Formatsender „1 Live“ vergrault

So viele großartige Künstler hat man erstmals durch seine Sendungen (hernach kam vor allem noch die „Alan Bangs Connection“ auf WDR 1 in Betracht) kennen und schätzen gelernt. Seine recht sparsamen, jedoch substantiellen Anmoderationen – mit dem gewissen, die Authentizität steigernden englischen Akzent – erschlossen behutsam die je besonderen Qualitäten der Künstlerinnen und Künstler. Alan Bangs hat in Deutschland (jedenfalls in ambitionierten Kreisen) Leute wie etwa Kevin Coyne, Television, Patti Smith, Green on Red oder die Cowboy Junkies bekannt gemacht (weitere Namen im Anhang). Es war Musikvermittlung im allerbesten Sinne.

Im April 1995 begab sich eine zu Teilen schändliche Programmreform, die aus WDR 1 den Formatfunk „1 Live“ machte und in deren Verlauf so ziemlich die letzten Ecken und Kanten abgeschliffen wurden. Alan Bangs sah sich zunächst auf die Nachtschiene verbannt und wurde im September ’95 bei der krähend zwanghaft jugendlichen Welle vollends „vom Hof gejagt“, als er es wagte, zwischendurch eine längere Strecke mit Musik von Chopin zu bespielen. Seither ist er nur noch sporadisch bei deutschen Stationen (z. B. Bayern 2) aufgetaucht. Wir machen das Fass jetzt nicht ganz auf, aber: Von ähnlich gravierenden Vorgängen bei öffentlich-rechtlichen Kanälen hört man in letzter Zeit vermehrt. Bei dem oder jenem Kulturradio bleibt kaum ein solider Stein auf dem anderen. Eine Verfallserscheinung, gegen die sich weithin und weiterhin Protest erheben sollte.

Natürlich muss auch noch der von Peter Rüchel ersonnene Rockpalast im WDR-Fernsehen erwähnt werden, der in den 80ern mit Bangs-Moderationen zeitweise enorme Popularität erlangte. Wer damals am Bildschirm oder sogar live dabei war, wenn es in der Essener Grugahalle zur Sache ging, wird vernehmlich mit der Zunge schnalzen. Ich sage nur: Patti Smith. Van Morrison. Rory Gallagher. Hach!

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Ein bisschen Namedropping muss sein

Wenn ich so ins Verzeichnis meiner besagten und betagten Kassetten schaue, werde ich zum Namedropping animiert. Natürlich kennt man die Leute und Gruppen heute längst. Aber in der ersten Hälfte der 80er Jahre verhielt sich das noch anders. Da war Alan Bangs, der natürlich auch häufig Allzeit-Größen wie Neil Young, Bob Dylan oder die Rolling Stones spielte, zumindest hierzulande ein Pionier.

Nur ein paar Beispiele. Here we go:

Laurie Anderson, Band of Outsiders, Billy Bragg, Alex Chilton, Church, Dream Syndicate, Echo an the Bunnymen, Gang of Four, Gist, Go-Betweens, Rupert Hine, Robyn Hitchcock, Jesus & Mary Chain, Joy Division, Ed Kuepper, Natalie Merchant, OP8, New Order, Ramones, Rose of Avalanche, Michelle Shocked, Sisters of Mercy, Stranglers, Guthrie Thomas, Richard & Linda Thompson, Suzanne Vega, Violent Femmes.

Natürlich mochte ich nicht jeden einzelnen Song. Manche Protagonisten fand ich arg gewöhnungsbedürftig, z. B. das Penguin Café Orchestra, Cabaret Voltaire und Pere Ubu. Aber – und darauf kommt es an – man muss sich erst einmal darauf einlassen. Nur auf diese Weise kann differenzierter Geschmack entstehen.

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P. S.: Auf der Seite nightflights.de (siehe auch Screenshot) geben die Betreiber Gelegenheit, Alan Bangs mit persönlichen Worten zu gratulieren. Bangs möchte demnach gerne bei einer deutschen Radiostation seine Tätigkeit fortsetzen. Möge es gelingen. Das schon genannte Bayern 2, wo etwa ein Roderich Fabian und Kolleg(inn)en gelegentlich in ähnlichem Geiste auflegen, wäre vielleicht als Anlaufpunkt vorstellbar.

Weitere Netzadresse:

blog.nightflights.de




„Ein leuchtender Teil Amerikas“ – Zum 80. Geburtstag von Bob Dylan

Ein geradezu ikonenhaftes Bild aus den alten Zeiten: Bob Dylan mit Joan Baez, am 28. August 1963 beim Civil Rights March nach Washington, D. C. (Foto: Rowland Scherman / U. S. National Archives and Records Administration / gemeinfrei – public domain)

Das Fachmagazin „Rolling Stone“ listet Bob Dylan auf Platz 2 der „größten Musiker“ und auf Platz 1 der „bedeutendsten Songwriter aller Zeiten“. Mit seiner Musik und Poesie hat er Generationen begleitet und geprägt.

Manchen gilt er als Friedensapostel, anderen als Bürgerschreck. Doch für Bob Dylan, der am 24. Mai 1941 als Robert Allen Zimmerman in Duluth/Minnesota geboren wurde, gibt es keine passende Schublade. Er macht, was ihm gefällt, ist nie da, wo man ihn vermutet. Während andere Künstler sich zur Ruhe setzen, ist Bob Dylan, der als erster Musiker den Literaturnobelpreis bekam, seit Jahren auf einer „Never Ending“ Konzert-Tour“. Zum 80. Geburtstag erscheinen zwei Bücher, die sein Leben und Werk würdigen: „Look Out Kid“ und „Forever Young“.

Immer wieder ins Grübeln kommen

„Look Out Kid“ ist eine mehrfach wiederholte Zeile aus dem Song „Subterranean Homesick Blues“. In diesem „Unterirdischen Heimweh-Blues“ werden seltsame Gefahren zu einem Alptraum vermengt, die Zuhörer werden immer wieder gewarnt: „Look Out Kid“, Pass auf! Sieh dich vor! Sei vorsichtig, sonst bekommst du Prügel! So wie mit diesem surrealen Song geht es oft: Man kommt bei den Liedern immer wieder ins Grübeln, erklärt sie sich immer wieder anders, wird sie nie richtig verstehen, bekommt sie aber nicht aus dem Kopf. Deshalb hat Autor Maik Brüggemeyer einige Kollegen gebeten, sich einen Song von Dylan auszusuchen, der sie seit langem begleitet, verzaubert, ärgert. Entstanden sind Texte, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Bekenntnisse, Reiseberichte, Reportagen, Erzählungen, eine Dylan-Hommage mit 20 verschiedenen Stimmen.

Das Dylan-Buch von Stefan Aust und Martin Scholz, erschienen bei Hoffmann und Campe.

Stefan Aust und Martin Scholz gehen einen anderen Weg, um Zeitlosigkeit und Unsterblichkeit von Dylan zu beweisen: Den Song „Forever Young“ kennt jeder, und „Für immer jung“ bleibt Dylan für viele Musiker, Schriftsteller, Politiker, die berichten, warum sie nicht von seinen Liedern lassen können. Zu ihnen gehören T. C. Boyle, Patti Smith, Joan Baez, aber auch Otto Schily und Ursula von der Leyen.

Eine Mundharmonika für Nicolas Sarkozy

Kaum zu glauben: aber Ursula von der Leyen, die ja heute als Inbegriff der garantiert knitterfreien Politikern gilt, hatte früher eine wilde Seite, mit einem kleinen Fiat 500 düste sie durch Europa und hörte dabei gern ihre Lieblings-Songs von Dylan, „Just Like A Women“, „Blowin´ In The Wind“, Lieder, die sie noch heute gern laut singt. Besonders schätzt sie, dass Dylan Fragen stellt, ohne gleich Antworten zu geben, dass er Menschen zum Nachdenken bringen kann und „meiner Generation geholfen (hat), Kritik öffentlich auszusprechen, einfach mal durchzuatmen“.

Bob Dylan im Juni 2010 beim Akzena Rock-Festival in Vitoria- Gasteiz, Spanien (Baskenland, bei Bilbao). (Foto: Alberto Cabello / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz)

Otto Schily, Mitbegründer der Grünen und späterer SPD-Innenmister, bewundert Dylan  als Protagonisten des permanenten Wandels und der Skepsis: „Dylan repräsentiert für mich den Umbruch wie kein anderer“. Die Sängerin Carla Bruni berichtet, wie sie mit ihrem Gatten, Nicolas Sarkozy, nach einem Dylan-Konzert in Paris in die Garderobe gebeten wurde und einen linkischen und schüchternen Dylan erlebte, der zum Abschied Sarkozy seine Mundharmonika schenkte: „Die habe ich sofort an mich genommen“, lacht Carla Bruni. Was auch soll ihr künstlerisch unterbelichteter Mann mit dieser Reliquie eines musikalischen und poetischen Gottes anfangen? So kurzweilig erzählen sie alle von ihren Begegnungen mit Dylan: Für Navid Kermani ist Dylan „ein leuchtender Teil Amerikas, an den man glauben möchte“, und T. C. Boyle, der in seinen Romanen oft musikalische Fährten legt, meint: „Ich höre jeden Tag Bob Dylan, eigentlich höre ich ihn den ganzen Tag.“

Plötzlich die E-Gitarre eingestöpselt

Im Song-Book von Maik Brüggemeyer erfährt man, wie Frank Goosen sich an seine Kindheit und an den Song „It´s All Right Ma (I´m Only Bleeding)“ erinnert, den er bis heute zwar nicht kapiert, aber mit dem langhaarigen Studenten verbindet, der damals im Hause seiner Eltern ein Zimmer unterm Dach bewohnte, ständig Dylan hörte, halbnackte Frauen fotografierte und von seiner Verwandtschaft für einen RAF-Terroristen gehalten wurde.

Maik Brüggemeyers Dylan-Buch, erschienen bei Ullstein.

Tom Kummer erfindet eine Geschichte rund um die Aufnahmen des vielleicht bedeutendsten Albums, „Highway 61 Revisited“ (1965): Dylan verschreckt seine Folk-Fans plötzlich mit E-Gitarren-Rock und spielt Songs für die Ewigkeit: das vom Alleinsein handelnde „Like A Rolling Stone“ und „Ballad Of A Thin Man“, die Ballade vom dünnen Mann, Mr. Jones, dem spießigen Jedermann, der spürt, dass sich irgendwas ändert und vorgeht, der aber nicht weiß, was es ist und soll. Ein visionäres Lied, zu dem sich Tom Kummer eine aberwitzige Geschichte ausgedacht hat, die die Atmosphäre der damals aufgeheizten politischen Zeit einfängt. Enttäuschend dagegen die Geschichte, die sich Benedict Wells zum Song „I´m Not There“ hat einfallen lassen: nämlich gar keine! Durch seinen Kopf rauschen unzählige Gedanken, die er nicht recht fassen kann, deshalb beschließt er, „dass die vielleicht aller-dylanesqueste Weise, über Bob Dylan zu schreiben, ist, nicht über ihn zu schreiben. Sondern ihm nur kurz von Straßenrand aus zuzunicken, während schon die Hand des Lesers kommt, diese Seite umzublättern.“

Wer nach der vielstimmigen Dylan-Hommage den Meister im Original lesen möchte, sollte die Autobiographie aufschlagen, „Chronicles“, die sich wie ein kurzweiliger, spannender Roman liest. Außerdem: „Best Of Lyrics“, eine Zusammenstellung (auf Englisch und Deutsch) von 111 Songs, über die Dylan in seiner Rede zum Literatur-Nobelpreis sagte: „Sie sind etwas anderes als Literatur. Sie sollen gesungen, nicht gelesen werden. So wie die Worte in den Dramen von Shakespeare auf der Bühne gesprochen werden sollen, so sollen die Texte von Songs gesungen werden und nicht auf einer Buchseite gelesen.“ Holen wir also am besten die alten Schallplatten und neuen CDs aus dem Regal, singen wir einfach mit und spüren, wie befreiend das sein kann!

Maik Brüggemeyer (Hrsg.): „Look Out Kid“. Bob Dylans Lieder, unsere Geschichten. Ullstein Verlag, Berlin 2021, 272 S., 18 Euro.

Stefan Aust / Martin Scholz: „Forever Young“. Unsere Geschichte mit Bob Dylan. Hoffmann und Campe, Hamburg 2021, 288 S., 22 Euro.

Die „Chronicles“ sowie „Best of Lyrics“ sind bei Hoffmann & Campe erschienen.

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Hier zur Ergänzung noch ein Link zum Beitrag, der bei den Revierpassagen vor fünf Jahren zu Bob Dylans 75. Geburtstag erschienen ist.




Nach und nach kehrt die Kultur zurück – mit neuer Lust und neuen Formen

Eines von vielen Ausstellungshäusern der Region, die jetzt wieder öffnen dürfen: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, das wahrscheinlich ab 25. Mai wieder besucht werden kann. („Symbolbild“ / Aufnahme vom Juni 2020: Bernd Berke)

Es ist nicht mehr zu übersehen und zu überlesen: Jetzt und in den nächsten Tagen werden etliche, wenn nicht die meisten Museen wieder öffnen, werden Theater wieder erste (Freiluft)-Veranstaltungen anbieten, die nicht nur auf digitalen Wegen goutiert werden. Wir können das hier nicht einzeln nachhalten, jede(r) informiere sich bei den Kulturstätten, Kulturschaffenden und Festivals der Wahl.

Das Ganze ist kein „Pfingstwunder“, sondern hat eben mit stetig gesunkenen Corona-Ansteckungsraten zu tun. Man kann nur inständig hoffen, dass die daraus folgenden Lockerungen den Trend nicht wieder umkehren. Man kann nur hoffen? Nein, man kann sich auch weiterhin dementsprechend vorsichtig verhalten. Die allermeisten Kulturanbieter haben mit ausgefeilten Hygiene-Konzepten das Ihre getan. Ein Wiederbeginn ist ihnen und uns allen ebenso zu wünschen wie etwa dem Handel und der Gastronomie.

Experimente willkommen

Was sich schon seit einiger Zeit abzeichnet: Auch nach einem Abflauen der Pandemie (nach der das Virus mutmaßlich endemisch bleiben wird, wie wir es von der Grippe kennen; es sei denn, es entwickelten sich noch gefährlichere Mutanten oder andere Pandemien) – nach dem erhofften Abflauen also werden digitale Formen kultureller Präsentation ihren gesteigerten Stellenwert behalten.

Neuartige Mischformen – etwa aus Theater, Streaming, Film und anderen Künsten – sind im Entstehen begriffen. Um die Binsenweisheit anzufügen: Sie werden das leibhaftige Erlebnis keineswegs ersetzen, wohl aber sinnvoll ergänzen. Schon haben sich hie und da neue Gestaltungsweisen entwickelt, zunächst holprig, aus Not und Zwängen geboren, nunmehr mit einiger Kreativität vorangetrieben. Pauschales Lob gebührt allen, die an derlei Experimenten mit Herz und Seele beteiligt sind. Gewiss werden manche Ansätze auf Dauer scheitern, aber eigentlich ist fast jeder Versuch erst einmal zu begrüßen.

Die Finanzen nicht antasten

Nach deutlich über einem Jahr des wohlbegründeten Verzichts liegt es beinahe jenseits der Vorstellungskraft, sich imaginär in ein halb- oder gar vollbesetztes Theater, Konzerthaus oder Kino zu versetzen. Aber wenn alles gut geht, werden die alten Freiheiten nach und nach wiederkehren. Vor allem anfangs wird es wohl zu einem wahren „Run“ auf Kulturveranstaltungen kommen, die Tickets werden ein sehr knappes Gut sein. Da wird sich zeigen, wie sehr viele Menschen danach gedürstet haben – nicht so sehr nach schicken „Events“, sondern nach herrlich freiem Spiel und womöglich nach lang entbehrter Sinngebung. Und was schließen wir daraus? Dass niemand Hand an FInanzmittel für Kultur legen sollte. Auch darauf müssen wir im Vorfeld der September-Wahlen achten: Wo gelten kulturelle Belange etwas – und wo pfeift man darauf?




Ein paar Worte über „Pa“, der nicht mehr da ist

Bei Facebook haben ihn alle nur „Pa“ genannt. Anfangs dachte ich, das Kürzel bezeichne ihn als typische Vaterfigur. Und im Grunde war es ja auch so. Er hatte tatsächlich etwas Väterliches. Doch die beiden Buchstaben waren eine Kurzform seines Vornamens Paul.

Wie ich darauf komme? Weil es mich beschäftigt, nein: erschüttert, dass Pa gestorben ist. Weil mir nichts bleibt, als es schreibend zu vergegenwärtigen. Die unfassbare Nachricht ist heute früh eingetroffen, auch via Facebook. Einer seiner drei Söhne hat ihn aufgefunden. Es ist zum Heulen.

Pa hätte einen solchen Vergleich mit sanftem Spott bedacht, aber ich habe ihn mir immer auch ein wenig als „Herbergsvater“ vorgestellt. Er war jedenfalls einer, der Gruppengeist zu stiften wusste wie nur ganz wenige; einer, um dessen imaginäre Lagerfeuer sich im sonst manchmal so asozialen Netzwerk viele versammeln konnten – sei’s im Zeichen des Fußballs (er betreute seit etlichen Jahren geradezu hingebungsvoll eine vielköpfige Tipprunde); sei’s in Gefilden der Rockmusik, auf deren Feldern er profunde, weit ausgreifende Kenntnisse besaß. Er konnte einem so wertvolle Hinweise geben, wie es kein Algorithmus  der Welt vermocht hätte. Hätte er eine Radiosendung gehabt, so hätte man sie unbedingt hören müssen. Musik war bei ihm stets mit den Fährnissen des Lebens verwoben, seichtes Zeug mochte er nicht.

Seine Menschlichkeit erwuchs nicht zuletzt aus Leidenserfahrung. Aus dieser Erfahrung heraus hat er nach Kräften anderen Leuten geholfen, durch Zuhören, Zuspruch und mehr. Dass er selbst kein leichtes Lebensschicksal hatte, war zu erfahren und zu spüren, wenn man einander hin und wieder persönliche Botschaften geschrieben hat – jenseits des freundlich scherzenden, aber doch meist nicht so verbindlichen Gruppenwesens im Netzwerk. In (seltenen) Telefonaten kam eine weitere Dimension hinzu: seine beruhigende, sozusagen weltweise Stimme mit dem tief „geerdeten“ bayerischen Tonfall.

Einige Leute, die ihn – wie ich selbst – „nur“ übers Netz, aber nicht von Angesicht gekannt haben, sagen mehr oder weniger dasselbe. Etwa in diesem Sinne können wir uns alle einigen: Trotz der räumlichen Distanz und der virtuellen Beschränkungen hat man immer seine Warmherzigkeit gespürt – auch durch seinen gelegentlich knorrigen oder schnoddrigen Humor hindurch. Nein, herzig, gefühlig und oberflächlich sentimental war er nicht, aber herzlich und mitfühlend. Ein durch und durch feiner, grundanständiger Kerl. Man hätte so gern irgendwann noch ein zünftiges Weißbier mit ihm getrunken.

Pa, der als aufrechter Nach-Achtundsechziger in der bayerischen Provinz – fern vom Getriebe der Städte – gelebt hat, litt oft geradezu verzweifelt unter den politischen Zeitläuften, zumal unter populistischen und schlimmeren Umtrieben. Vielleicht hat ihn auch das ein Gutteil Lebenskraft gekostet. Aber wir können es nicht wissen.

Pfüat di, Pa.




WDR 4: Radio für Senioren – aber ganz anders als früher

Webcam-Blick ins Studio: vorn rechts Moderator Jürgen Mayer, hinten in der Mitte Moderatorin Cathrin Brackmann, links Nachrichtenfrau Katja Latsch, alle coronagerecht durch Plexiglasscheiben voneinander getrennt. (Screenshot: WDR)

Wir erinnern uns, nicht allzu gern: Die Hörfunkkette WDR 4 stand mal für vieles, was einem musikalisch und vom zugehörigen Lebensstil her zuwider war. Da gab’s bestenfalls elmargunschige Beruhigungs-Stimmen (wobei der alte Knabe wirklich gut und anheimelnd geklungen hat), ansonsten dudelten – horribile dictu – schier endlos deutsche Schlager oder Operetten-Auszüge. Radio für Senioren also. Echt ätzend.

Im Westen weiß man längst, dass es bei WDR 4 seit einiger Zeit ganz anders zugeht. Es wird ungleich lockerer geplaudert. Vor allem aber hauen sie dort Stones, Cream, Kinks, Who, Deep Purple und Konsorten raus, die ganze Pop- und Rock-Chose seit den glorreichen Sechzigern bis in die Achtziger. Wir sind uns doch sicherlich einig, dass es auf diesem Sektor nie bessere Musik gegeben hat, oder etwa nicht? Ruhe da hinten! Unverschämtheit!

Aber Moment mal: Sollte das etwa immer noch bzw. wieder Radio für Senioren sein – nur eben für eine andere Generation in Ehren ergrauter Menschen? Jaja, meinethalben. Is‘ ja auch egal. *räusper* *hüstel* *grumpf*

Wieso ich ausgerechnet jetzt auf all das komme? Nun, heute, morgen und übermorgen (Donnerstag bis Samstag, 29. bis 31. Oktober) absolvieren sie bei WDR 4 einen speziellen Pop-Marathon. Wie bei populären oder Popularität anstrebenden Medien üblich, haben die Hörer(innen) abgestimmt, rund 130.000 an der Zahl. Resultat: die 444 beliebtesten Musiktitel („Top 444″), die nun – einer hübsch nach dem anderen – allesamt abgespielt werden, im munteren Wechsel flott anmoderiert von Cathrin Brackmann und Jürgen Mayer oder Stefan Vogt und Carina Vogt. Per Webcam dürfen die sicherlich ergriffen Zuhörenden währenddessen Live-Blicke ins Studio werfen – aus zwei verschiedenen Perspektiven, aber nur mit den Ton-Anteilen, die auch über den Sender gehen. Man soll und möchte ja zwischendurch auch nicht das womöglich halbprivate Geplänkel der WDR-Leute im Ohr haben.

Übrigens hat das Ganze mit dem Revier zu tun. Normalerweise entstehen die Sendungen für WDR 4 nämlich im Landesstudio Dortmund. Die Aktion mit den 444 Pop-Titeln ist freilich eigens in die Kölner Zentrale gezogen.

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P. S.: Soeben (Donnerstag, 13.30 Uhr) war Platz 358 an der Reihe, beim Aufstieg bis zum Spitzenreiter ist es also noch lange hin. Wenn alle 444 Titel verklungen sind, kann man die komplette Playlist herunterladen und mit dem eigenen Geschmack vergleichen.

 

 




Vor 60 Jahren spielten die Beatles erstmals in Hamburg – für betrunkene Seeleute und „leichte Mädchen“

Rund vier Jahre nach Jahre den Hamburger Anfängen: die Beatles (von links: George Harrison, Paul McCartney, John Lennon, Ringo Starr) am 3. Juni 1964 in Australien. Sie tragen Mützen mit dem Logo einer Security-Firma. (Wikimedia Commons / © WilleeM / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Gastautor Thomas Häußner, Jahrgang 1959, Leiter des Echter Verlags in Würzburg und seit seiner Kindheit großer Beatles-Fans, über die ersten Karriereschritte der „Fab Four“ vor genau 60 Jahren in Hamburg:

  1. August 1960 – Fünf junge Männer steigen aus einem alten, grünen Van, der sie von Liverpool nach Hamburg auf die Reeperbahn gebracht hat. Der älteste ist gerade einmal 20 Jahre alt, der jüngste ist erst 17 und dürfte noch gar nicht in Deutschland arbeiten. Am Abend geben sie ihr erstes Konzert unter dem Namen „The Beatles“.

Noch konnte niemand ahnen, dass gut zwei Jahre später drei von ihnen in der „greatest little Rock´n Roll Band“, wie John Lennon „The Beatles“ einmal selbstironisch nannte, die Musikwelt für fast ein Jahrzehnt dominieren würden. Ihr Weg dorthin war hart und die Auftritte in Hamburg waren die Schule, die sie geformt hat. Rund 800 Stunden stehen sie dort zwischen 1960 und 1962 auf verschiedenen Bühnen, zuletzt im legendären Star Club, Große Freiheit Nr. 39. Doch ihr erster Weg führt sie in einen Club namens Indra, wo sie vor gelangweilten, angetrunkenen Seeleuten und „leichten Mädchen“ 48 Nächte hintereinander spielen. Ihr Vertrag sieht eine Gage von 30 DM pro Kopf und Auftritt vor. Das Geld ist schnell ausgegeben für Essen, Trinken oder neues Musikequipment.

Erster Hamburger Auftrittsort der Beatles: Club Indra, Große Freiheit – hier eine Aufnahme vom August 2007. (Wikimedia Commons / © Raymond Arritt – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ein Kabuff hinter der Kinoleinwand

Ihre Unterkunft passt sich ihrem wenig ermutigenden ersten Auftrittsort an. Es ist noch nicht das Hotel Pacific, in dem sie bei ihrem letzten Gastspiel im Dezember 1962 untergebracht sind. Gleich beim Indra um die Ecke lag das Bambi, ein Kino. Dort hausen sie hinter der Kinoleinwand in einem kleinen Raum ohne Fenster, in dem es nach getragener Wäsche, kaltem Rauch und Essensresten stinkt. Ihre Wäsche wird ihnen von der Mutter Horst Faschers, des Mitbegründers des Star Club, gewaschen. „Tante Rosa“, die Toilettenfrau des Bambi Kinos, von den Beatles „Mutti“ genannt, umsorgt und versorgt sie, wohl auch mit dem Aufputschmittel Preludin. Zum Essen geht es in die umliegenden Kneipen, in denen die Musiker anschreiben lassen konnten, wenn das Geld knapp war. Manche dieser Rechnungen wurden nie bezahlt. Als Paul McCartney 1989 wieder einmal in Hamburg war, hat er endlich in der Bierkneipe „Gretel und Alfons“ die 180 DM Schulden beglichen, die die Band aus ihrer Frühzeit dort noch hatte.

Image-Werbung mit Unterhose und Klobrille

Wer aus Liverpool kommt, findet sich auch auf dem Hamburger Kiez zurecht. Besonders John Lennon scheut nicht davor zurück, sich mit außergewöhnlichen Aktionen in Szene zu setzen. So wirbt er nur mit langer Unterhose und Sonnenbrille bekleidet auf der Straße für den abendlichen Auftritt der Beatles, kommt auch schon einmal mit einer Klobrille um den Hals auf die Bühne gestolpert. Die fünf Liverpooler behaupten sich. Sie üben neue Songs ein, versuchen sich an eigenen Kompositionen oder treffen sich mit Mitgliedern anderer Bands.

So entwickeln sich die Beatles schnell weiter und wechseln im Oktober 1960 vom Indra in den Kaiserkeller, wo sie 58 Auftritte hatten. Dort wird die – am 12. Mai 2020 verstorbene – Fotografin Astrid Kirchherr auf sie aufmerksam und verliebt sich in den damaligen Bassisten der Band, Stuart Sutcliff. Sie überredet ihn, sich die Haare nach vorn in die Stirn und über die Ohren zu kämmen: Die Pilzköpfe, ein späteres Markenzeichen und Anlass für Spott und Entrüstung, waren geschaffen.

Vom Star Club zur Queen

Im November 1960 wird George Harrison aus Deutschland ausgewiesen, weil er noch nicht volljährig ist, Paul McCartney und Pete Best müssen ihm im Dezember folgen, weil sie in ihrer Unterkunft ein Feuerchen entzündet haben. Damit ist das Gastspiel der Liverpooler Band in Hamburg erst  einmal beendet. Doch am 27. März 1961 kommen sie zurück. Jetzt spielen sie im Top Ten Club und später dann im Star Club, der am 13. April 1962 eröffnet wurde. Bis zu seiner Schließung im Dezember 1969 traten dort andere namhafte Künstler wie Fats Domino, Chuck Berry, Jimi Hendrix oder Ray Charles auf. Am Montag, 31. Dezember 1962, geben die Beatles dort ihr letztes Konzert.

In den kommenden Jahren werden Clubs zu klein für ihre Auftritte sein. Schon ein Jahr später spielen die Beatles im Rahmen der alljährlichen Royal Variety Performance vor Königin Elizabeth, Lord Snowden und Prinzessin Margaret im Londoner Prince of Wales Theatre.

60 Jahre nach dem ersten Auftritt der Beatles in Hamburg gibt es das Indra wieder und noch immer wird dort Musik aufgelegt oder live gespielt. Der Kaiserkeller heißt heute „Große Freiheit 36“ und ist der älteste und größte Club Hamburgs. Der Star Club wurde 1986 abgerissen.

 




Neues Album „Rough and Rowdy Ways“ – Bob Dylan auf dem Höhepunkt seines Schaffens

Gastautor Bernd Huber über das neue Album von Bob Dylan:

Bob Dylan legt uns mit „Rough and Rowdy Ways“ die Blaupause seiner künstlerischen Persönlichkeit vor. Er destilliert das, was man von ihm halten darf und bleibt sich selbst treu. Er hatte mit den Musen nie ein Problem, er brauchte sich nie um sie zu bemühen. Aber jetzt ruft er sie an, augenzwinkernd.

Aber so hatte er auch angefangen. Die Musik und die Worte, das war für ihn nie billiger Karneval, kein Tingeltangel, kein Clap your hands und I love you all, immer war das Kunst für ihn. Und weil es immer Kunst war, man in ihm aber einen Botschafter für andere Dinge sehen wollte, schnallte er sich irgendwann die Stratocaster um. Dylan machte aus dem Rock’n’Roll keinen Zirkus, er nahm ihm jeden marktschreierischen Ansatz.

Ich weiß noch, wie er mich als junger Mann erschreckte, so schön war er, und er wusste schon sehr gut, wer er war. So etwas hatte ich nie erlebt. Als er einem Journalisten, der ihm vorwarf, gar nicht richtig singen zu können, antwortete, er sänge schöner als Caruso, war da auch schon Poesie in dieser Antwort.

Melancholie, aber auch Aufbegehren

Von William Blake und Shakespeare bis Jimmy Reed, Dylan hat alles verinnerlicht. Chopin, Beethoven, alles ist in seiner Musik und in seinen Lyrics. „Rough And Rowdy Ways“ ist die Konsequenz seines Schaffens, indem er sich selbst auf die Spitze treibt. Den Preis, den er für das alles bezahlt, nennt er uns, wenn er davon singt, dass man sowohl weinend als auch lachend dichten muss. Und dann ist auch noch der Wunsch unsichtbar zu sein, wie der Wind.

Ich stehe Alterswerken von Rockmusikern skeptisch gegenüber, aber Dylan ist ja kein Rockmusiker im eigentlichen Sinne und wäre er einer, dann wäre er eben auch mit dieser Platte eine Ausnahme, denn er lässt sich nicht hinreißen, „nur“ mit der Altersmelancholie zu kokettieren. Dylan wäre nicht Dylan, wenn da nicht Aufbegehren, ein Anflug von Zynismus und Kraft wären. „How long can it go on?“ Und der nächste Satz: „I crossed the rubicon“. Ich habe mich der Welt geöffnet, singt er, jedoch auch: „Ich zeige Euch vieles von mir, aber nicht alles“.

Den vergessenen Blues neu belebt

Die Musik ist unter all’ diesen Worten ist so wunderbar direkt, druckvoll und verletzlich gleichzeitig. Hier singt ein Narr zu einem Dieb, aber der Dieb hat dem Narren den Text untergeschoben. Haben einmal die Weißen den Blues von den Farbigen geklaut, aus ihm dann Rock’n’Roll gemacht, so steht es Bob Dylan zu, diesen vergessenen Blues wieder aus der Taufe zu heben, ihn mit Country und all’ den großen Songs der amerikanischen Geschichte zu versöhnen. Wenn er singt, er sei kein falscher Prophet, sondern nur einer, der sagt, was er denkt und fühlt, dann bin froh, dass einer so denken und fühlen kann und diesem Denken und Fühlen eine einmalige Form verleihen kann.

Der junge Bob Dylan ist als Intellektueller gestartet. Wenn einer Zimmermann heißt, sich aber selbst zu Bob Dylan macht, dann weiß er schon, wo er hin möchte. Mit seiner neuen CD ist er, wie er singt, ziemlich zwischen Himmel und Erde angekommen. Höher hinauf kommt keiner mehr. Zumindest ist niemand in Sicht, dem das ansteht.

Es ist ein weiter Weg gewesen von ALL ALONG THE WATCHTOWER bis zu ROUGH AND ROWDY WAYS, aber jede Etappe mit Dylan war es wert, dass man sie mitgegangen ist. Sein neues Album ist jetzt schon ein Meilenstein in der Pop-und Rockgeschichte. Wir erleben den größten Songwriter aller Zeiten auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Es gibt nichts Vergleichbares.




In diesen Zeiten muss man sich Gehör verschaffen: Gesammelte Aussagen zu „Corona und Kultur in Dortmund“

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann bei der heutigen Pressekonferenz. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Auch wenn die Aussagen noch nicht allzu konkret sein konnten: Es war schon einmal gut, dass diese Pressekonferenz überhaupt stattgefunden hat. Denn „die Kultur“ muss sich gerade in diesen Zeiten Gehör verschaffen. Unter dem Titel „Corona und die Kultur in Dortmund“ gab es heute im Rathaus der Stadt vor allem Statements auf der Chefebene der großen Kultureinrichtungen, aber auch aus der freien Szene. Ich habe den Termin via Live-Stream verfolgt.

Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann skizzierte eingangs die Lage und erkannte – bei allen Problemen – auch eine „positive Novität“: Im Gegensatz zu mancher früheren Debatte, in der Kultur als „erste Spardose“ gegolten habe, seien die kulturellen Einrichtungen diesmal von Anfang an in Überlegungen und Beratungen mit einbezogen worden.

Insgesamt aber müsse man von „gravierenden Erschütterungen“ sprechen, „wie wir sie bisher nicht kannten“. Das Thema habe etliche Perspektiven und Aspekte. Es gehe um die Situation der Institute, um die der ausübenden Künstlerinnen und Künstler und nicht zuletzt um das Publikum. Bleibe es durch die Krise hindurch loyal und stehe es treu zum Theater, zum Konzerthaus, zu den Museen und anderen Kulturstätten? Bislang, so Stüdemann, habe das Publikum eine erstaunliche Solidarität bewiesen, für die er herzlich danken wolle. Beispiel: Viele vorab bezahlte Tickets für abgesagte Vorstellungen würden nicht zurückgegeben.

Stüdemann mahnte dreierlei dringenden Bedarf an:

1.) Die inzwischen ausgelaufenen, weil hoch „überzeichneten“ Soforthilfe-Programme für Kulturschaffende müssten sehr bald verlängert werden. Als Beispiel nannte er Baden-Württemberg, wo es neuerdings eine Grundsicherung für Künstler(innen) von rund 1100 Euro im Monat gebe, die von anderen Bundesländern gut kopiert werden könne. Ein Appell ans Land NRW also.

2.) Die Einrichtungen der freien Szene bräuchten Infrastruktur-Programme, damit sie auch nach der Krise noch existieren könnten.

3.) Man müsse sehr zeitig „Exit-Strategien“ vorbereiten und einleiten, denn Betriebe wie Theater oder Konzerthaus könnten nicht einfach von heute auf morgen wieder die Bühnen bespielen, sondern bestenfalls nach einem Vorlauf von 6 bis 10 Wochen. In die entsprechenden Planungen sollten unbedingt die Fachleute aus den Kulturhäusern eingebunden werden.

Stefan Mühlhofer, Leiter der Kulturbetriebe Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Stefan Mühlhofer, Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe, sieht es als sicher an, dass man bei Wiederaufnahme des Spielbetriebs und anderer kultureller Angebote nicht einfach „den Schalter umlegen kann“. Es werde zunächst vieles anders sein als vor Corona. Man habe inzwischen einige Aktivitäten (Volkshochschule, Musikschule) auf digitale Verbreitung umgestellt, was auch recht gut funktioniere. Dennoch könne dies auf Dauer kein Ersatz für Präsenz-Veranstaltungen sein. Ein Originalbild im Museum sei eben etwas ganz anderes als eine Abbildung im Buch oder ein Video. Apropos: Wahrscheinlich bis Mitte dieser Woche solle ein Papier zur möglichen Öffnung der städtischen Museen vorliegen – mit einer Perspektive für Anfang oder Mitte Mai. Auch hier gilt freilich: Die Stadt allein kann nichts bewirken. Das Land NRW muss es zulassen. Übrigens: In Berlin dürfen die Museen schon wieder öffnen.

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund, berichtete, man habe sich in den letzten Wochen durch einen wahren Wust an Informationen, Erlässen und Verordnungen kämpfen müssen. Es sei aber gelungen, das alles zu strukturieren – vor allem im Sinne der Kulturschaffenden, denen häufig alle Verdienstmöglichkeiten weggebrochen seien. In der Kulturszene herrsche derweil keine Larmoyanz, im Gegenteil: Geradezu kraftvoll seien ständig neue Ideen entwickelt worden, um trotz Corona (digital) wahrgenommen zu werden.

Claudia Schenk, Sprecherin der freien Szene. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Claudia Schenk aus dem Leitungsgremium des „Depots“ trat als Sprecherin der freien Kulturszene an. Diverse Zentren der freien Szene wären ohne die bislang geleistete Landeshilfe vielleicht schon für immer geschlossen worden, befand sie. Streaming sei zwar gut, um im Gespräch zu bleiben, es generiere aber keine Einnahmen. Sie verwies auch auf Fälle wie etwa jene freiberuflichen Bühnentechniker, die auf einmal vor dem Nichts stünden. Man warte auf konkrete Handlungsanweisungen für einen Exit, also für die Wiederaufnahme des Betriebs unter veränderten Bedingungen. Frau Schenk stellte zudem mit Blick auf die nächsten Jahre die bange Frage, ob es im Kulturbereich wohl Streichungen und Kürzungen geben werde. Schließlich zähle Kultur leider immer noch zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen und nicht zu den Pflichtaufgaben.

Sprach fürs Theater: Tobias Ehinger. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Tobias Ehinger, geschäftsführender Direktor des Theaters, erinnerte sich an die letzten Monate vor der Krise, als das Dortmunder Theater ein Hoch erlebt und neue Besucherrekorde angepeilt habe. Dann wurde man jäh ausgebremst. Sehr schnell habe man dann umgedacht, beispielweise habe die Theaterwerkstatt Mundschutzmasken hergestellt. In der Krise habe sich überhaupt gezeigt, wie wichtig der soziale Aspekt und die Verankerung in der Gesellschaft fürs Theater seien. Streaming könne kein wirkliches Bühnenerlebnis ersetzen, auch seien die digitalen Möglichkeiten schnell ausgereizt. Als eine beispielhafte Aktion nannte Ehinger den Musik-Truck, der vor Altenheimen vorfahre und – draußen vor den Türen – z. B. mit Gesangs-Darbietungen den Senioren ein wenig zwischenmenschliche Wärme vermittle. Ehinger ist überzeugt, dass man ab Anfang September wieder spielen werde – allerdings völlig anders, mit eigens zugeschnittenen Inszenierungen und vor deutlich weniger Zuschauern. Im Hinblick auf den 1. September sei ein Planungsvorlauf von etwa 10 Wochen nötig. Das würde bedeuten: Bereits Mitte Juni müsste man in die Vorbereitungen einsteigen. Insgesamt gelte es, die gesellschaftlichen Errungenschaften durch die Krise zu erhalten. Dabei sei Kultur unbedingt „systemrelevant“.

Konzerthaus-Chef Raphael von Hoensbroech. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses Dortmund, betonte den Gedanken der Systemrelevanz noch stärker. Kultur solle nicht nur am Tisch Platz nehmen, an dem die Relevanz verhandelt werde. Vielmehr sei sie – einem Ausspruch des Cellisten Yo-Yo Ma zufolge – sozusagen selbst dieser Tisch, also die Grundlage der Gesellschaft. Das Konzerthaus mit seinem sehr großen Saal sowie ausgeklügelter Be- und Entlüftung sei bei reduziertem Publikum kein riskanter Ort. Er halte ansonsten nicht viel von pauschalen Obergrenzen, es komme stets aufs Einzelereignis an. Voluminöse Auftritte mit großen Chören und Orchestern seien jedoch vorerst auszuschließen. Die Stadt Dortmund habe sich zu den Perspektiven des Konzerthauses beherzt und klar positioniert. Was jedoch aus Regierungskreisen in Berlin und vom Städtetag komme, sei wenig hilfreich.

Jörg Stüdemann blieb das vorläufige Fazit vorbehalten. Als studierter Germanist quasi von Haus aus kulturaffin und biographisch auch als Mitarbeiter eines Kulturzentrums (schon länger ist’s her: Zeche Carl in Essen) mit der Szene vertraut, kann die Interessenlage von Kulturschaffenden wohl recht gut nachempfinden und in vernünftige politische Bahnen lenken. Allerdings vermag er – obwohl zugleich Stadtkämmerer – natürlich nicht beliebig viele Kulturmittel aus dem städtischen Etat zur Verfügung zu stellen. Für die nächste Zeit mahnte Stüdemann ethische und „wertsetzende Handlungsweisen“ in der Kulturpolitik an, die sich einer bloßen Einspar-Mentalität widersetzen und keinesfalls „autoritativ oder autoritär“ vorgehen solle. Wie sich gezeigt habe, müssten nun vor allem zwei Anforderungen vorrangig erfüllt werden: „Wir müssen mehr in die Digitalisierung investieren, auch in Qualifizierung und technische Ausrüstung.“ Und: In jeder Hinsicht müsse jetzt über „Gestaltungs-Alternativen“ nachgedacht werden. Wohlan denn!

Viel guter Wille also, aber noch unklare Perspektiven. Die Kultur, so ahnt man, wird (ebenso wie andere Bereiche) „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein können wie zuvor.




Von Unna aus ein wenig die Welt verändern – Nachruf auf den vielseitigen Theatermann Peter Möbius

Peter Möbius (1941-2020). (Foto: Thomas Kersten)

Gastautor Horst Delkus mit einem Nachruf auf den Theatermann, Autor und Grafiker Peter Möbius, den älteren Bruder des legendären Rocksängers Rio Reiser („Ton Steine Scherben“). Peter Möbius hat vor allem in Unna und Dortmund gewirkt.

Ist das nicht der Bruder vom Rio? Ja, er war es. Rios großer Bruder, der mich da vor rund neun Jahren in meinem Büro bei der Wirtschaftsförderung des Kreises Unna aufsuchte. Die Kollegin outete sich als große Verehrerin von Rio Reiser: Das ist mein Lieblingsmusiker. Peter hat es gefreut.  War doch eine solche klammheimliche Liebe von notwendigerweise kapitalfreundlicher Wirtschaftsförderung zu dem exorbitant kapitalkritischen Möbius-Bruder eine ausgesprochen ungewöhnliche.

Was es mit „Hermann von Unna“ auf sich hat

Peter holte damals irgendwelche Unterlagen ab. Es ging um „Hermann von Unna, eine Geschichte aus der Zeit der Vehmgerichte“. Erzählt von Benedicte Naubert, die diesen Roman 1788 (!) veröffentlichte. Die Handlung ist simpel, aber der Roman förderte Unnas guten Ruf Anfang des 19. Jahrhundert in ganz Deutschland: Das Städtchen Unna hat ein wichtiges Salzwerk Königsborn; berühmter  aber ist es durch den viel gelesenen Vehmgerichts-Roman: Hermann von Unna!, schrieb 1834 ein gewisser Carl Julius Weber in seinen „Brief(n) eines in Deutschland reisenden Deutschen“.

Der Roman ist von nicht allzu großer literarischer Qualität. Aber sein Stoff wurde selbst in Schweden und Dänemark aufgegriffen und zu einem Theaterstück umgewandelt. Zu einem Schauspiel in fünf Akten. Mit Chören und Tänzen.

Feuer und Flamme für ein spezielles Vorhaben

Mehr als 200 Jahre später war dieser Stoff für den leidenschaftlichen Theatermann Peter Möbius eine Steilvorlage. Er schrieb mir: „Die Texte der Arien und Chöre sind grauenvoll: „Reim Dich , oder ich fress Dich“. Interessant dagegen sind die musikalischen Regieanweisungen, die Bemerkungen, wo und wie Tanzeinlagen und musikalische Überbrückungen in diesem Schauspiel vorgesehen waren. Du fragst Dich, wie es an der Zeitenwende vom Achtzehnten zum Neunzehnten Jahrhundert zu dieser Modewelle kommen konnte, die sich schwärmerisch dem Mittelalter hingab? Heute, bei uns, nennt man das Ostalgie, wenn die Ossis von vergangenen Zeiten schwärmen (…). Wenn die vertraute Wirklichkeit im Umbruch ist, verklärt sich die Vergangenheit. Das war auch in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so (…) Das Buch ist ein herrliches und kluges Plädoyer für die Flucht in eine fassbare Fantasiewelt, wenn die Wirklichkeit unfassbar geworden ist. Mehr dazu und was das mit dem Schauspiel „Hermann von Unna“ zu tun haben könnte, ein andermal.“

Peter hatte Feuer gefangen für dieses Projekt. Als ich ihm nachts schrieb, ich hätte endlich die Partitur gefunden für diese Oper, kam seine Antwort prompt. Am nächsten Morgen, kurz nach fünf Uhr: Deine Nachricht beflügelt mich, das Stück abzuschreiben und mit Reinhard Fehling über das Projekt zu reden. Ich kenne sonst niemanden, der so ein musikalisch-theatralisches Vorhaben fachkundig betreuen könnte. Doch das Projekt „Hermann von Unna“ wurde nach diesem kurzen Strohfeuer von uns beiden auf Eis gelegt, nicht weiter verfolgt. Ich bedaure es noch heute.

Argwöhnisch beobachteter Nachlassverwalter

Kennengelernt haben Peter und ich uns Mitte der neunziger Jahre, als ich wirtschaftsförderlich bei der Kreisstadt Unna anheuerte. Peter war für mich von Anfang an mehr als „der große Bruder von Rio“, dem Sängerpoeten, mit bürgerlichem Namen Ralph, dem jüngsten der drei Möbius-Brothers. Und der bekannteste. Als Rio am 20. August 1996 starb, gab es Berlin wenige Tage später zu seinem Abschied ein „Konzert der Freunde“. Ich wäre gerne hingefahren, konnte aber nicht. Aus beruflichen Gründen. Peter schenkte mir den Konzertmitschnitt. Zwei CDs mit Rios Liedern, gesungen von den Rest-„Scherben“, Ulla Meinecke, Marianne Rosenberg, Herbert Grönemeyer und anderen.

Peter wurde mit seinem Bruder Gert Rios Nachlassverwalter. Kein leichter Job, argwöhnisch beobachtet und verbunden mit viel Kritik von Rios ehemaligen Weggefährten und Fans aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit. Zum Beispiel dafür, dass sie ein Zeile aus dem Kassenschlager „König von Deutschland“ an einen Elektronikkonzern verkauften, um damit das Rio Reiser-Haus in Nordfriesland als Begegnungsstätte für zwei weitere Jahre finanzieren zu können. Nachlassverwalter war nun weiß Gott nicht der Traumjob dieses Multitalentes, dem es –  das Schicksal vieler Allrounder – leider nicht vergönnt war, mit nur einem Werk oder nur einer Begabung, den ganz großen Durchbruch und die damit verbundene Anerkennung  als Künstler zu erreichen.

Schon mit 16 Jahren Bühnenbild-Assistenz bei Heinz Hilpert

Geboren wurde Peter 1941 in Berlin. Sein Vater war Ingenieur für Kartonverpackungen bei der Siemens AG; da er immer wieder mal versetzt wurde, musste die  Familie mehrmals umziehen. Peters Bruder Gert erinnert sich in seinem Buch „Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser“: „Während ich Lehrling bei der Versicherung war, hatte Peter, nachdem er bei der privaten Kunstakademie März in Stuttgart eingeschrieben gewesen war, mit sechzehn Jahren schon einen Job als Bühnenbild-Assistent am Göttinger Stadttheater, damals noch unter der Intendanz von Heinz Hilpert. Nach seiner Rückkehr nach Schmiden [bei Stuttgart; HD] bewarb er sich bei der Stuttgarter Kunstakademie die Professor Gerhard Gollwitzer, dem Bruder des progressiven Theologen Helmut Gollwitzer und wurde sofort ohne Prüfung aufgenommen.

…und auch noch ein hochbegabter Schauspieler

Die Folge war, dass Rio und mir dieser Bruder immer unheimlicher wurde. Dann bekam er auch noch eine kleine Rolle in dem Film von Frank Wisbar „Hunde, wollt ihr ewig leben“, einem kritischen Stalingradfilm. Mehr ging damals in unserer Familie nicht. Wir alle stürmten das Dorfkino in Schmiden, um zu prüfen, wie künstlerisch nachhaltig unser Familienmitglied den von Kugeln durchsiebten Reichswehrsoldaten darzustellen in der Lage war. Natürlich waren wir einhellig der Meinung, dass Peter das großartig gemachte hatte, und natürlich waren wir felsenfest davon überzeugt, dass er auch in Zukunft andere Rollen glaubwürdig darstellen würde. Eine Schauspielausbildung, diesen teuren Quatsch, so unser Vater, hätte Peter nicht nötig. Von Null auf hundert war er nun nicht nur ein begnadeter Maler, sondern auch ein hochbegabter Schauspieler – am besten Filmschauspieler.“

Später studierte Peter an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart, wo er mit Andreas Weißert Theater spielte. Wohl prägend waren für Peter die jungen Jahre in Nürnberg. Hier gründete er das Comic Teater, auch damals schon ohne „h“ geschrieben. Mit sechs anderen jungen Leute, die sich von der Nürnberger Kunstakademie kannten, zog er im Mai 1965 mit Traktor, einem umgebauten Bauwagen und 30 selbst angefertigten Masken und Kostümen einen ganzen Sommer durch Franken und Oberbayern.

Ohne erfolgreiches Theaterspiel kein Abendbrot

„Doktor, Tod und Teufel“ hieß das Stück, das sie auf Dorfplätzen und Märkten spielten. Eine harte Schule für das Comic Teater: „Wir mussten so spielen, dass das Publikum blieb. Sonst hätten wir kein Abendbrot gehabt. Denn gesammelt wurde erst zum Schluss“, erinnert er sich später in einem Interview.

Politisch prägend für Peter war – wie für viele seiner Generation – der  2. Juni 1967: Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration am Ku’damm gegen den Schah von Persien. Peter war bei dieser Demonstration dabei. So wurde aus ihm ein Achtundsechziger. Als Andreas Weißert 1975 in Dortmund Oberspielleiter wurde, holte er Peter Möbius vom Theater am Turm, wo er bei Rainer Werner Fassbinder spielte, nach Dortmund.

Bundesweit beispielloses Engagement in Unna

In Dortmund wurde Peter Möbius Leiter des Kinder- und Jugendtheaters. Mit seiner Comic-Truppe inszenierte er 1975 „FeuerZirkus“  und „Die Struwwelpeter Revue“, Stücke die er selbst geschrieben hatte und zu denen Rio Reiser mit den Scherben die Musik machte. Die agile Truppe wurde in Dortmund gekündigt – man unterstellte ihnen Kontakte zu den Möchtegern-Stadtguerilleros vom „2.Juni“, einer RAF-ähnlichen Gruppierung.

Die Stadt Unna hatte damals den Mut, sie über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme einzustellen, der ersten für eine Schauspielertruppe bundesweit. Mit dem Hoffmans Comic Teater (HCT) bekam Unna die kritische Masse an Akteuren, die Unna als Kulturstadt geprägt haben. Peter war der Motor und Spiritus Rector. Dabei waren unter anderem Hartmut Hoffmeister, Ingeborg Wunderlich, Andy Koch, Rio Reiser, Martin Paul, Uta Rotermund, Claudia Roth und etliche andere. Daraus entstanden sind zahlreiche kulturelle Einrichtungen, die bis heute das kulturelle Leben von Unna prägen: der Kinderzirkus Travados, das Werkstatt Theater Unna (seit 1999 das „Narrenschiff“), das soziokulturelle Zentrum Lindenbrauerei, das Stadtspielwerk und die Jugendkunstschule, zu deren 40jährigem Jubiläum Peter noch eine viel beachtete Laudatio hielt.

Rio Reiser lieferte oft die Songs zu Peters Projekten

Peters Stärke lag vor allem darin, künstlerische Projekte mit Breitenwirkung zu entwickeln. Immer wieder dabei: sein Bruder Rio Reiser, der zu vielen Projekten die Songs lieferte. Zu diesen Projekten gehörte das „Ruhrschrei-Festival“ unter der Liedbachbrücke in der Massener Heide, die „Märzstürme“ (1981), eine „große Freiheitsrevue“ zur Erinnerung and die Märzrevolution 1920 im Ruhrgebiet, die Unnaer Stadtoper „Wasser des Lebens“ (1989), das Musical „Die Braut der Brüder“, aufgeführt bei den Ruhrfestspielen 1995 sowie seine letzte große Inszenierung „Das Tor zum Paradies , „ein musikalisches Portrait in sieben Bildern“ über den streitbaren Prediger und Komponisten heute noch bekannter Choräle, Philipp Nicolai (1997).

Mit den „Märzstürmen“ zog das Hoffmanns Comic Teater durchs Ruhrgebiet. Zur Vorbereitung interviewte man noch Zeitzeugen, die von den Greueltaten der präfaschistischen Freikorps-Truppen im Ruhrgebiet berichteten. Rio Reiser schrieb dazu wunderbare Lieder. Ton Steine Scherben machte die Musik. Der Schreiber dieser Zeilen kann sich noch heute gut an die Aufführung in einem Zirkuszelt vor dem Dortmunder Stadthaus am heutigen Friedensplatz erinnern. Damals dabei unter anderem, als rotbackige Krankenschwester, die heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth und die Dortmunder Kabarettistin Uta Rotermund.

Die Geschichte des inzwischen legendären Hoffmans Comic Teater wollte Peter immer aufschreiben. Ob er es noch geschafft hat, weiß ich nicht. Immerhin gab es 2018 in Unna noch eine Ausstellung: „51 Jahre Hoffmanns Comic Teater 1965 – 1981. Spuren und Impulse einer aufsässigen Künstlerbande“. „Dario Fo“, sagte er einmal, „das war unser Vorbild.“

Grafik und frühe Computer-Experimente

Peter Möbius war nicht nur Theatermann mit Leib und Seele, sondern auch ein hervorragender Grafiker. Er gestaltete etliche Programmhefte für das Summertime-Kulturprogramm in Unna, das er ebenfalls inspiriert und künstlerisch betreut hatte. Ein anderes Projekt von Peter, Jahre später, konnte leider nicht realisiert werden: Ein Computerspiel, das er in unzähligen Stunden in den neunziger Jahren am Computer entwickelte. Mit magischen Bildern und einer phantastischen Geschichte, alles am Computer mühevoll „gezeichnet“. Grafikprogramme gab es damals noch nicht. Daraus sollte eine CD entstehen. Diese Silberlinge kamen damals gerade auf  und waren so „in“ wie heute das Streamen. Ich konnte im den Kontakt zu einem Produzenten von CDs vermitteln. Der spezialisierte sich allerdings, wie sich dann herausstellte, mehr auf Pornos. Die waren marktgängiger. Das Projekt verschwand im digitalen Nirwana.

Einer, der sich ins politische Geschehen einmischte

Peter betätigte sich auch als Filmregisseur. 1990 war er als Autor und Koregisseur (mit Uwe Penner) von „Türmers Traum“. Der Film war ein Beitrag zur 700jährigen Geschichte der Stadt Unna. Mit rund 300 Mitwirkenden, darunter viel Volk, einigen Kommunalpolitikern, sowie Roman Marczewski, dem  heutigen Präsidenten des Ruhrgebiets-Karnevals Geierabend, und Cäcilie Möbius, Peters Tochter, heute Schauspielerin beim Theater Narrenschiff und anderswo. 1997 drehte Peter ein TV-Porträt seines Bruders Rio Reiser: „Ich bieg’ dir den Regenbogen – ein biografischer Dokumentarfilm“.

Als politischer Mensch mischte sich Peter Möbius immer wieder ein in das politische Geschehen seiner Wahlheimat Unna. Das brachte ihm nicht nur Freunde. Er war Mitgründer der Alternativen Liste in Unna, der GAL. Schrieb ein lesenswertes Memorandum zur Weiterentwicklung der Kulturpolitik in Unna, das leider viel zu wenig Beachtung fand. 2008 war er Mitinitiator eines Bürgerbegehrens. Verkleidet als Kommerzienrat, schlug er mit einer Glocke Alarm gegen den Abriss historischer Bausubstanz in Unnas historischer Innenstadt und ihren vermeintlichen Ausverkauf an Investoren. Der Mann mit Hut und Weste wusste, wie man Theater für`s Volk macht.

Peter Möbius starb in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag, am 13. April, im Alter von 78 Jahren an einer Krebserkrankung.




Nach all den Absagen: Helft den Kulturschaffenden – und den Leuten im freien Journalismus!

Leerer Zuschauerraum – hier im Bochumer Schauspielhaus. Aufnahme von November 2018, nach Schluss einer Vorstellung. (Symbolfoto: Bernd Berke)

Nachdem allerorten vermeldet wird, welche (Kultur)-Veranstaltungen nicht mehr ausgetragen werden; nachdem man sich dabei tendenziell immer kürzer fassen kann (Es findet ja praktisch nichts mehr statt) – nach all dem muss man in der Tat dringlich über die vielen Freischaffenden in der Kunst- und Kulturszene reden.

Nicht wenige von ihnen hängen von (teilweise ohnehin geringen) Honoraren bzw. Einzelgagen pro Auftritt ab und befinden sich sowieso häufig am unteren Rande des Ein- und Auskommens. Und da sprechen wir nicht nur von den zahlreichen Musikern, Comedians und Kabarettisten, wie sie speziell auch die Kulturlandschaft des Ruhrgebiets mitgestalten.

Wenn „wir“ (Steuerzahler) jetzt mal wieder Teile der Wirtschaft und womöglich auch erneut Banken retten sollen, so mag das in bestimmten Fällen und Branchen recht und billig sein. Nichts dagegen einzuwenden, sofern der Bedarf auch ernsthaft geprüft wird und keine Lobby-Interessen bedient werden.

Ein Unterstützungs-Fonds wird dringend gebraucht

Freilich sollte gerade dann auch ein ordentlich ausgestatteter und möglichst unbürokratisch gehandhabter Unterstützungs-Fonds für all jene aufgelegt werden, die die vielfältige Kultur stets alltäglich und allabendlich am Leben erhalten haben. Hier herrscht ja vielfach nicht nur Bedarf, sondern echte Bedürftigkeit.

Ein Dieter Nuhr, der sich neuerdings über Corona belustigt und weiterhin auftreten will, wird sicherlich mal ein paar Monate ohne zusätzliche Einnahmen klarkommen. Viele, viele andere haben allerdings nichts für solche misslichen Zeiten zurückgelegt. Was soll aus ihnen werden? Sollen sie jetzt allesamt in andere Berufe wechseln, so dass hernach – wenn sich die Lage hoffentlich schrittweise normalisiert – weite Teile der Szene brachliegen? Sollen sie sich mit Hartz IV durchschlagen? Erst haben wir ihnen gelauscht, sie hin und wieder auch bewundert, viel gelacht, uns oft prächtig unterhalten und überhaupt all das goutiert, was Kultur nun mal vermag – dann sollen sie ihre Schuldigkeit getan haben? Das kann ja wohl nicht angehen.

Nicht zu vergessen übrigens die zahlreichen freien Journalistinnen und Journalisten, die von heute auf morgen so gut wie nichts mehr zu schreiben oder sonstwie zu publizieren haben. Wo nichts stattfindet, kann nur anfangs ein- bis zweimal über den Schwund berichtet werden, doch das schleift sich ganz schnell ab. Und dann? Fehlen zumindest auf Wochen hinaus die Einnahmen. Und dann? Sollten wir auch ihnen helfen.

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P. S.: Dass der Appell auch den freien Journalismus umfasst, ist keineswegs pro domo gesprochen. Bei den Revierpassagen basiert sozusagen eh alles auf selbstausbeuterischem „Ehrenamt“. Also ist kein Eigeninteresse im Spiel.




Schau über den legendären Nachtclub „Studio 54″ – direkt aus New York nach Dortmund

Pat Cleveland auf der Tanzfläche des „Studio 54″ während des „Halston disco bash“, Dezember 1977 (Foto: © Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Würde eine solch mondäne Ausstellung nicht besser nach München oder Berlin passen? Egal. Sie kommt nun mal nach Dortmund, wo man eben zuerst beherzt zugegriffen hat.

Ab 14. August und bis zum 8. November 2020 soll demnach im Dortmunder U eine Ausstellung über den legendären New Yorker Nachtclub „Studio 54″ gezeigt werden, die direkt aus New York kommt. Im dortigen Brooklyn Museum hat sie in wenigen Tagen (13. März) Weltpremiere.

Der Coup erinnert ein wenig ans Zustandekommen der Dortmunder Schau über Pink Floyd, die zwar vom Publikumszuspruch her letztlich enttäuschte, aber Dortmund doch international in die eine oder andere Kultur-Schlagzeile bugsierte. Damals kamen die Exponate aus London (und via Rom), diesmal ist es eben New York. Dortmund hat sich die europäische Premiere gesichert. Immerhin.

Keine Agentur hat das Ereignis vermittelt, sondern die Dortmunder haben direkt mit dem Brooklyn Museum verhandelt. Kurator ist Matthew Yokobosky, in Brooklyn Abteilungsleiter für „Fashion and Material Culture“. Präsentiert und gesponsert wird die Chose übrigens vom Streamingdienst Spotify. Zum Fundus der Ausstellung gehören u. a. Fotografien, Mode-Objekte, Zeichnungen, Filme und Kostüm-Illustrationen.

„Studio 54: Night Magic“ (Arbeitstitel) blättert die nicht nur modisch, sondern auch gesellschaftlich folgenreiche Geschichte jenes (1977 eröffneten und 1986 endgültig geschlossenen) Clubs auf, in dem sich Pop- und Film-Prominenz zuhauf einstellte: beispielsweise Andy Warhol, Diana Ross, Liza Minnelli, Mick Jagger, Michael Jackson, Madonna, Salvador Dalí – und wie sie alle hießen. Zur Eröffnung am 26. April 1977 waren u. a. Frank Sinatra, Margaux Hemingway, Cher, Bianca Jagger und ein gewisser Donald Trump erschienen, damals noch ein ziemlich unbekannter Bauunternehmer. Ach, wäre es mal dabei geblieben…

Um es mal in klischeehaften Stichworten (nicht) zu fassen: Sex, Drogen, Punk und allseitige Toleranz kennzeichneten fortan das Klima des Clubs, dessen Ästhetik auch neue soziale Bewegungen beeinflusst hat. Manches wirkt womöglich bis heute weiter.

Ein Vorbehalt gilt noch: Der Dortmunder Stadtrat müsste dem Unterfangen in seiner Sitzung am 26. März zustimmen. Aber das wird er doch wohl tun.

 




Frank Goosen huldigt den Beatles – ein amüsanter Abend im Dortmunder „Fletch Bizzel“

Das Gesamtwerk der Beatles sollte man schon in wesentlichen Zügen kennen, sonst würde man ihm nicht so recht folgen können: Frank Goosen, mit trockenem Ruhrgebiets-Humor gesegneter Rock-, Fußball- und Revier-Fachmann, ist mit seinem neuen Buch „The Beatles“ angerückt. Im Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“ plaudert er freiweg über seine innigen biographischen Verbindungen zu den „Fab Four“. Im Publikum ist die Generation 60 plus bestens repräsentiert.

Der freundliche Herr Goosen beim Buchsignieren nach seinem Dortmunder Auftritt. (Foto: Bernd Berke)

Im Gegensatz zu Leuten, die in den 1950er Jahren geboren wurden und deren Adoleszenz zeitlich direkt mit dem Aufstieg der Beatles verknüpft war, ist Goosen (Jahrgang 1966) ein „Nachgeborener“, wie er sich selbst bezeichnet. Als ihm Musik überhaupt zu Bewusstsein kam, lag das Oeuvre der Beatles schon fertig vor – abgesehen von dieser oder jener Soloplatte, zumal von Sir Paul McCartney.

Dass nun aber dieser „Nachgeborene“ so überaus viel über die Beatles weiß, das hat mich – als etwas älteren Fan der Liverpooler – beinahe schon gewurmt. Nun gut, ich fasse mich: Es hat mir vor allem Bewunderung abgenötigt, wie sehr sich der Mann in die Materie eingelebt (eingehört, eingelesen) hat. Und wie sinnreich er das mit seiner Jugend verwoben hat, das ist aus Erfahrung gekonnt (und nicht wohlfeil gewollt): Es waren jene Zeiten, als man angehimmelten Mädchen in heißer Hoffnung selbst zusammengestellte Audio-Cassetten zusteckte. In diesem Fall hieß sie Regina. Aber es war zwecklos. Da musste dann halt eine gewisse Michelle herhalten. Moment mal. Michelle? Nein, mehr wird hier nicht verraten. Nur, dass Frank Goosens Opa einmal ziemlich irritiert war, als John Lennons Gefährtin Yoko Ono auf einer Scheibe aufstöhnte, als hätte sie vor dem Mikro einen echten Orgasmus gehabt.

Das konnte doch kein Zufall sein!

Dass sein Vortrag gewohnt unterhaltsam ist, hat man von Goosen nicht anders erwartet. Zwar legt er zwischendurch keine einschlägigen Platten auf (Hallo, GEMA, nix zu holen!), aber am Schluss darf ihm das Publikum Fragen stellen, die er nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet.

Der ebenso bodenständige wie weltoffene Bochumer hat gleich eingangs berichtet, dass die Beatles gerade mal 25 Tage nach seiner Geburt in der Essener Grugahalle gespielt haben. So nah sind sie sich dann nie wieder gekommen – rein räumlich besehen… Und bald darauf sind die Beatles gar nicht mehr mehr live aufgetreten. Sonnenklar: Das konnte doch kein Zufall sein! Sondern? Es war wohl ein Zeichen. Fast so magisch wie die Bedeutung der Zahl 9 im Leben John Lennons (und sei’s in der Quersumme).

Seit den späten 70er Jahren hat sich der pubertierende Frank Goosen denkbar intensiv mit John, Paul, George und Ringo befasst. Los ging’s mit den beiden roten und blauen Doppelalben für den ersten Überblick, dann folgte nach und nach alles Weitere. Mit den Beatles, so dozierte Frank G. schon damals auf dem Schulhof, sei recht eigentlich Farbe in die vordem schwarzweiße oder auch graue Welt gekommen – bis hin ins seinerzeit auch nicht gerade bunte Ruhrgebiet. Goosens mehr oder weniger exklusive Entdeckung: Die zunächst allmähliche, dann explosive Farbwerdung habe sich ja schon an ihren Albumhüllen und an so manchen Songtexten gezeigt. Der selbsternannte Beatles-Experte Michael („Name geändert“), der damals blasiert widersprechen wollte, habe übrigens keinen blassen Schimmer gehabt. Damit das mal klar ist.

Den Vatikan reißt man ja auch nicht ab

Überhaupt waren die Beatles für ihn eine bis heute nachwirkende Offenbarung. Unverzeihlich findet es Goosen, dass der berühmte Cavern Club in Liverpool abgerissen und durch einen weit weniger auratischen Nachbau ersetzt worden ist. Nachvollziehbare Analogie: „Den Vatikan reißt man doch auch nicht ab!“

Dennoch war es ein Lebens-Höhepunkt, als Goosen vor einiger Zeit mit Frau und Kindern endlich einmal Liverpool aufsuchte und auf den Spuren der frühen Beatles unterwegs war – mit dem geradezu besessenen Guide namens Steve, der an Beatles-Detailwissen alle anderen in den Schatten stellte. Welch‘ ein Gänsehaut-Erlebnis, tatsächlich einmal durch die Penny Lane zu schreiten oder die wahrhaftigen Strawberry Fields (bzw. deren Nachfolge-Areal) zu sehen! Allerdings merkt Goosen auch an, welch massentouristische Untiefen dort zu gewärtigen sind. Da wird man an manchen Punkten von allen Seiten dermaßen mit Beatles-Titeln beschallt, dass es kaum auszuhalten ist. Noch weitaus unerträglicher: die idiotische Anmaßung mancher Touristen, sich in New York vor dem Dakota Building (dort wurde am 8. Dezember 1980 John Lennon ermordet) mit dem heutigen Doorman fotografieren zu lassen…

Noch eine Erkenntnis der Marke Goosen gefällig? Nun, wenn man bestimmte Beatles-Titel auf ordentlichen Vinyl-LPs gehört und dabei ungeahnte Instrumente entdeckt habe, so könne man seine CD-Sammlung eigentlich wegwerfen.

Weitere NRW-Tourneedaten mit dem Programm „Acht Tage die Woche – die Beatles und ich“: 3.3. Menden, 4.3. Bottrop, 17.3. Oberhausen, 18.3. Essen, 23.3. Duisburg, 31.3. Waltrop, 1.4. Haltern, 2.4. Gladbeck, 21.4. Herne, 25.4. Hagen. Gesamtprogramm: www.frankgoosen.de

Frank Goosen: „THE BEATLES“. KiWi Musikbibliothek (Kiepenheuer & Witsch). 182 Seiten. 12 €.




„After Midnight“: Clapton, Cash und Cohen treffen sich im Diner und tragen ihre Songs vor

Laura Kiehne in der Inszenierung "After Midnight" von Florian Heller; Regie: Christian Tombeil

Laura Kiehne in „After Midnight“. (Foto: Diana Küster / Theater Essen)

Wo, wenn nicht in einem Diner, trifft man nach Mitternacht auf die einsamen Seelen, die Desillusionierten, die Experten im Scheitern aller Art? Nighthawks werden sie in Amerika genannt, Nachtfalken, gerade so wie Edward Hoppers berühmtes Bild, das ihnen ein Denkmal setzt.

Im „After Midnight“, dem Diner von Pattie (Laura Kiehne) gibt es nicht einmal mehr sie. Keiner mehr da. Der Laden steht irgendwo im Nirgendwo, im „Rustbelt“, dem Rostgürtel, der früher einmal das industrielle Herz Amerikas war, inzwischen aber weitgehend entvölkert ist. Monessen heißt der nächste Ort, den es wirklich gibt, und dessen Name sich im zweiten Teil tatsächlich auf Essen bezieht. (Das Mon- verweist auf den Monongahela-River).

Wer hier noch lebt, zählt sich nicht zu den Gewinnern. Auch Pattie wäre ja schon längst weg, wenn sie eine Alternative hätte. Hat sie aber nicht, Mutter hat ihr lediglich einen Haufen Schulden vererbt, der sie, warum auch immer, zum Weitermachen im verfluchten Diner zwingt. Doch dann, in einer stürmischen Winternacht, in der Internet und Telefon schon zusammengebrochen sind, betreten merkwürdige Personen das Lokal, und danach ist die Welt eine andere.

Szene mit Jan Pröhl, Philipp Alfons Heitmann, Laura Kiehne, Jens Winterstein. (Foto: Diana Küster / Theater Essen)

Alles auf der Bühne

Florian Heller, Jahrgang 1984 und Mitglied der Essener Intendanz, hat sich diese Rahmenhandlung für seinen musikalischen Abend „After Midnight“ ausgedacht, Ivonne Theodora Storm (Bühne und Kostüme) hat sie mit einem fast schon naturalistisch zu nennenden Bühnen-Diner plastisch werden lassen. Zu Beginn sehen wir das hässliche Teil von außen, Neonwerbung, runde Kanten, doch mit einem knappen Turn der Drehbühne wird es flugs zum Interieur. Hinten stehen nun ein paar Stühle und ein Tisch, links prunkt die Bar mit dem Spruch „Crying Is Okay Here“ in Leuchtbuchstaben. Auch die vierköpfige Band „The Hawks“ hat ihren Platz auf der Bühne.

Drei, die Musikgeschichte schrieben

Pattie streitet mit Rick, der heute abend mit dieser Band ein Konzert geben will und auf volle Hütte hofft. Doch statt des zahlenden Publikums laufen nacheinander Cassius (Jan Pröhl) und Norman (Jens Winterstein) ein, die, jetzt lüften wir das Geheimnis, niemand anders sind als Johnny Cash und Leonhard Cohen. Und Rick (Philipp Alfons Heitmann) ist eigentlich Eric Clapton, womit das Trio komplett wäre, das, unausweichliche Phrase an dieser Stelle, in der großen Fachabteilung Folk wirklich Musikgeschichte geschrieben hat. Nach den Gründen für dieses irrwitzige Zusammentreffen wollen, sollen wir nicht fragen. Manchmal fügt Unglaubliches sich auf Erden eben, sagt die Inszenierung. Zumindest darf man sich das vorstellen.

Clapton, Cash und Cohen: Philipp Alfons Heitmann, Jan Pröhl, Jens Winterstein in „After Midnight“. (Foto: Diana Küster / Theater Essen)

Der Tod ist allgegenwärtig

Rick/Clapton eröffnet die Gesangsdarbietungen mit „Wonderful Tonight“, später gelangen unter anderem Cohens „Suzanne“ oder Cashs „The Man Comes Around“ zur Aufführung, letzteres ein düsteres Spätwerk im Angesicht des nahenden Todes. Ja, der Tod ist oft mit im Raum, wenn sich die drei (mit Pattie vier) Protagonisten unterhalten, und von Norman/Cohen wie auch von Cassius/Cash erfahren wir explizit, dass sie krank sind und nicht mehr lange zu leben haben.

Hellers Stückvorlage räumt den Gesprächen der Protagonisten breiten Raum ein, sie sind weit mehr als unausweichliche Zwischenmoderation; eher entsteht streckenweise der Eindruck, dass die Songs in diesem Stück neben der biographisch grundierten Spielhandlung etwas fremdkörperhaft stehen. Auf jeden Fall jedoch ist den drei Sängern zu bescheinigen, dass sie mit ihren Stimmen die Vorbilder sehr gut treffen.

Ohne Gänsehaut-Gefühl

Zwangsläufig fehlt jedoch jenes „Gänsehaut-Gefühl“, das Interpretationen von Clapton, Cash und Cohen augenblicklich beim Zuhörer auszulösen vermögen, es fehlen die unverwechselbaren Artikulationen und auch die eine oder andere stilvoll in die Unverständlichkeit vernuschelte Zeile. Das Essener Bühnenpersonal artikuliert sorgfältig, was sicherlich der richtige Weg ist; ein bisschen klingt das jetzt allerdings so, als sängen Clapton, Cash und Cohen mit deutschem Akzent.

Mit seinem Johnny Cash-Programm war Thomas Anzenhofer im Bochumer Schauspielhaus über Jahre hin sehr erfolgreich, was sicherlich zum Nachmachen reizt. Wenn Regisseur Christian Tombeil in Essen nun aber gleich drei Vorbilder auf die Bühne bringt, stellt sich natürlich schon die Frage nach dem Warum. Warum diese drei?

Einen Bezug zum „Rustbelt“ und seinen zornigen alten (meist weißen) Männern hatte eigentlich nur Johnny Cash. Die anderen beiden sind bzw. waren thematisch etwas anders unterwegs. Bruce Springsteen hätte gut gepasst, Arbeiterdichter wie Pete Seeger oder Woody Guthrie, vielleicht auch Bob Dylan. Andererseits ist das American Songbook so voll von guter Musik und ihren Schöpfern, dass Vorschläge schnell beliebig erscheinen. So bleibt festzuhalten, dass Clapton, Cash und Cohen auf jeden Fall keine schlechte Auswahl darstellen.

Das Publikum war von Florian Hellers „After Midnight“ begeistert, tappte den Rhythmus mit und geizte, auch zwischendurch, nicht mit Applaus.

  • Termine: 28.12.2019 – 10., 18., 19., 21., 21.2.2020
  • Schauspiel Essen, Grillo-Theater, www.theater-essen.de



„Mir brennen die Schläfen“: Sound und Lebensgefühl der 70er und 80er Jahre – von Zappa bis zur ZDF-Hitparade

Alle, die sich mal einen Trip in die 70er und 80er Jahre gönnen möchten, nimmt Ulli Engelbrecht mit auf eine Tour durch Zeiten, als angesagte Bands und Musiker beispielsweise noch Golden Earring oder Frank Zappa hießen.

Schon der Titel des Buches spricht Bände: „Mir brennen die Schläfen“. Dieses Gefühl kommt bei dem in Bochum geborenen Autor aber wohl vor allem auf, wenn er mit Kumpel Benny in der eigenen, ansehnlichen Sammlung von Langspielplatten stöbert. Bei rund 2000 Stück mangelt es wohl kaum an Auswahl.

Dass mit Engelbrecht ein profunder Kenner der Rock- und Popszene am Werk ist, zeigen die vielen Geschichten, die ihm bei Songs und Interpreten in den Sinn kommen; seien es nun Pete Townshend von „The Who“ oder Alice Cooper, Titel wie „Born to be wild“ und „Bicycle Race“: Der Autor erzählt locker-flockig und süffisant aus seinen wilden Jahren und darüber, welche Musik bei der damals jungen Generation (er selbst ist Jahrgang 1957) Konjunktur hatte. Auf unzählige Namen kommt er zu sprechen. Die Geschmäcker waren unterschiedlich. Bisweilen blickt Engelbrecht auf musikalische Seitenwege. Wem beispielsweise Krautrock kein Begriff mehr ist, der erhält mit dem Buch eine kleine Gedankenstütze.

Auch Gitte und Vicky gehörten irgendwie dazu

Da dem Autor daran gelegen ist, möglichst umfassend das Lebensgefühl jener Jahre zu schildern, geht er auch auf Liedermacher wie Franz-Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp ein, die vor allem Fans unter jungen Leuten hatten. Das dürfte sich vom deutschen Schlager eher nicht behaupten lassen, auf den Engelbrecht in amüsanter Weise zu sprechen kommt. Gitte, Vicky Leandros und Udo Jürgens sind da nur drei aus einer Schar an Interpreten, die zu der Zeit unbedingt dazugehörten. Zudem geht es um Jahre, in der eine ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck ein echter Straßenfeger war.

Apropos TV: Mit einem Klassiker des damaligen Programms steigt der gebürtige Bochumer in die erste Episode seines Buches ein und gibt genüsslich wieder, wie ein Dialog aus der Serie „Der Kommissar“ ablief. Ein derart monotones Format könnte man wohl heute den Zuschauern nicht mehr zumuten, resümiert er. Der Beliebtheit hat’s keinen Abbruch getan. Denkt Engelbrecht an die Zeit zurück, dann ist bei ihm nach wie vor Begeisterung für Filme wie Flipper und „Percy Stuart“ groß. Ansonsten zieht er das Fernsehangebot jener Tage auf charmante Art durch den Kakao.

Als mitgebrachte LPs in der Bochumer Kneipe liefen

Da wendet sich der „multifunktionale Öffentlichkeitsarbeiter“ (Engelbrecht über Engelbrecht) doch lieber seinen LPs zu. Sortiert habe er sie alle, mit Ordnungssinn sei er nun mal aufgewachsen. Wenn er früher die eigenen Platten nicht in seinem Zimmer hören wollte, nahm er sie mit in eine Kneipe in der Nähe. Das Bochumer Lokal bot seinen Gästen an, mitgebrachte LPs abzuspielen. Es machte, wie der Autor schildert, wahrlich einen Unterschied, ob der Sound aus gleich mehreren Boxen zu hören oder man auf den Schallplattenspieler daheim angewiesen war. So entstand ein gefragter Treffpunkt für Jugendliche, der sich von anderen Kneipen ums Eck deutlich abhob.

Das Lokal habe sich zu einem idealen Ort entwickelt, um junge Männer und Frauen zusammenzubringen, erzählt der Autor. Er erinnert zugleich daran, dass unter Frauen ein anderes Rollenverständnis aufkam, Stichwort lila Latzhose, mit Folgen für den Plattenteller. Auf einmal waren Sänger wie Klaus Hoffmann und Konstantin Wecker gefragt. Denn sie galten als Frauenversteher.

Zum Schluss stellt der Autor insgesamt 99 Platten vor und unterzieht sie einem kurzen und knackigen Musikcheck. Top oder Flop ist hier die Frage. In seinem Fundus ist Engelbrecht dabei auch auf Scheiben gestoßen, die eine echte Rarität sein dürften. Beispielsweise sind die Norddeutschen Witthüser & Westrupp oder der Este Peeter Vähi wohl eher nicht in ein kollektives Musikgedächtnis eingegangen.

Ulli Engelbrecht: „Mir brennen die Schläfen. Rockstorys & Popgeschichten“. BoD (Books on Demand), 180 Seiten, 9,80 Euro.




Jonathan Meese mit „Lolita“ – und manches mehr: Theater Dortmund stellt sein Programm für die nächste Spielzeit vor

Die Optik betont die Unterschiede. Hier die neuen Programmhefte von Philharmonikern, Schauspiel und Ballett (Foto: Pfeiffer)

Was hat Jonathan Meese mit Dortmund zu tun? Nun, bisher eigentlich nichts. Allerdings hätte sich das in diesem Jahr ja ändern sollen, weil Edwin Jacobs – noch, aber nicht mehr lange Chef des „Dortmunder U“ – den Künstler eingeladen hatte, die Sammlung nach seinem Geschmack neu zu hängen. Daraus wird jedoch nichts.

 

Den Meese soll es aber auf jeden Fall geben, wenn auch im Theater und erst im nächsten Jahr. Für den 15. Februar 2020 plant das Schauspiel die Uraufführung des Stücks „Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer Selbst!“ aus der Feder des nämlichen Artisten. Man ahnt: Das wird konzeptionell. Erste Absichts-Erklärungen waren jetzt im Theater zu hören, bei der Spielplanpräsentation für 2019/2020, im Programmheft kann man sie nachlesen. Wie immer es auch werden mag – Meeses (erhoffter) Auftritt ist fraglos ein Höhepunkt im ansonsten nicht unbedingt prickelnden neuen Programm.

Wolfgang Wendland kommt wieder. Hier ist er noch in „Häuptling Abendwind“ zu sehen, in der neuen Spielzeit erleben wir ihn und seine Kapelle „Die Kassierer“ in der Punk-Operette „Die Kassierer und Die Drei von der Punkstelle“. Das kann ja heiter werden. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Voges hält Rückschau

Schauspielchef Kay Voges verabschiedet sich mit „PLAY / Abriss einer Reise“ von Dortmund, einer Produktion, in der Rückschau gehalten wird auf fast 10 Jahre Theaterarbeit in dieser Stadt. Uraufführung soll am 11. Oktober sein, und ganz unsentimental wird es dabei wohl nicht abgehen, denn das Ende einer Intendanz bedeutet fast immer auch das Ende für das Ensemble. Mit Spannung sehen wir den Plänen von Julia Wissert entgegen, die Voges’ Nachfolge antreten wird, besonders in Hinblick auf das Bühnenpersonal.

Neuer Schimmelpfennig

Dostojewskis „Dämonen“ kommen auf den Spielplan, ebenso „Hexenjagd“ von Arthur Miller und ein neues Stück von Roland Schimmelpfennig. „Das Reich der Tiere“ erzählt von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern, die in einer mäßig erfolgreichen Tier-Show auftreten und sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Eine „Komödie mit Live-Musik“, die hervorragend in die Dortmunder Wechselsituation paßt.

Beethoven zum 250. Geburtstag

Die zehn Konzerte der Philharmoniker sind in dieser Spielzeit Weltstädten gewidmet, beginnend mit New York und endend mit (na?) Dortmund und Belgrad. Gegeben wird am 28. Juni 2020 der „Beethoven-Marathon 2020“, alle neun Sinfonien an einem einzigen Tag, weil Ludwig van Beethoven 2020 vor 250 Jahren geboren wurde. Um 10 Uhr fangen die Dortmunder Philharmoniker an, um 20 Uhr schließlich wird die neunte Sinfonie angestimmt. Dann arbeiten die Dortmunder mit den Belgrader Philharmonikern, dem Slowakischen Philharmonischen Chor Bratislava und vier Solisten zusammen. Die Ost-Beziehungen haben ihren Grund darin, daß Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz auch Chefdirigent der Belgrader Philharmoniker ist.

Die Optik hat sich stark verändert

Was in den unterschiedlichen Sparten gespielt wird, suche man im Internet (www.theaterdo.de). Es steht aber auch in den gedruckten Programmheften, die es jetzt gibt und die beinahe die größte Überraschung der Präsentation sind. Das Theater Dortmund hat seinen medialen Auftritt grundlegend überarbeitet, was dazu führt, daß es jetzt fünf Programmhefte gibt statt eines einzigen dicken Programmbuchs wie bisher, und daß die Sparten Philharmoniker, Ballett, Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater sich nun in ihrem optischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.

Geschwundene Liebe zum Orange

Mit unterschiedlichen feinen Serifenschriften auf dem Cover und in den Überschriften präsentieren sich Oper, Philharmoniker und Ballett, während die Theaterabteilungen eine fette serifenlose Typographie bevorzugen. Das knallige Orange, lange Jahre „Logo-Farbe“ des Theaters Dortmund, dominiert nur noch das auf orangefarbenes Papier gedruckte Service-Heft. Übrigens ist es eine gute Idee, so all die Service-Angaben (Kartenvorverkauf, Preise, Aboreihen etc.) zu bündeln und in den Programmheften uneingeschränkten Raum für die Kunst zu lassen. Sinnvoll war überdies, die summa sechs Hefte in einen wertig wirkenden weißen Standschuber zu stecken. Vielleicht etwas teuer, sieht aber wirklich gut aus.




Die Jahre, in denen man fieberte: Der „Rockpalast“-Erfinder Peter Rüchel ist gestorben

Peter Rüchel, Mit-Erfinder der legendären WDR-Musiksendung Rockpalast. (Bild: WDR/Max Kohr)

Peter Rüchel, Mit-Erfinder der legendären WDR-Musiksendung „Rockpalast“, ist mit 81 Jahren gestorben. (Bild: WDR/Max Kohr)

Gevatter Tod hält in diesem Februar wieder schrecklich reiche Ernte. Zuerst starb der wunderbare Schauspieler Bruno Ganz, dann der Modeschöpfer Karl Lagerfeld – und nun auch noch Peter Rüchel

Peter wer? Ach, ihr ahnungslosen Nachgeborenen, die ihr nicht die „Rockpalast“-Nächte der späten 70er und frühen 80er Jahre erlebt habt! Rüchel darf als hauptsächlicher „Erfinder“ dieser immer noch nachwirkenden Ereignisse gelten.

Jeder, der damals rockmusikalisch gefiebert hat, erinnert sich wohl an seine persönliche Lieblings-Ausgabe. Wenn ich’s nur gestehen darf: Für mich waren es vor allem die Auftritte von Patti Smith (1979, Grugahalle Essen), Van Morrison (1982, gleichfalls Grugahalle Essen) und den Kinks (abermals ’82, Gruga). Ihr merkt es schon: Die Musik spielte also buchstäblich mitten im Revier. Dem Westdeutschen Rundfunk sei dafür dauerhaft Dank! Wenn man sich in Köln doch nur heute noch auf solche Zeiten besinnen wollte!

Die Zeit der Cassetten

Es war die Zeit, als man sein Cassettenrecorder-Mikro noch notdürftig aufs Radio oder aufs TV-Gerät ausgerichtet hat, um nur ja nichts zu verpassen. Schwieriges Unterfangen. Die CD kam gerade erst auf, von jederzeit greifbarem Streaming mit -zig Millionen Titeln durfte man noch nicht einmal träumen. Dass man der jeweiligen Liebsten sich seelisch (harr, harr!) zu nähern suchte, indem man spezielle Cassetten für sie aufnahm, verstand sich damals von selbst. Um mit Rühmkorf zu reden: Die Jahre, die ihr kennt…

Ohne Peter Rüchel hätte es das damals so nicht gegeben. Nicht die legendäre Ansage „German Television proudly presents“ von Albrecht Metzger; nicht die einfühlsamen und doch punktuell zwangsläufig verunglückten Interviews des großartigen Alan Bangs, dessen Radio-Sendungen („Night Flight“ etc.) man über Jahre hinweg ergriffen lauschte. Man zehrt bis heute von seinen Entdeckungen. Echt jetzt.

In der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1977 hatten die „Rockpalast“-Nächte ihre Premiere, zum Auftakt war u. a. Rory Gallagher dabei. Auch er unvergesslich. Und überhaupt. Ach. Ach!




Bilanz mit Mut zur Lücke: Viel Eigenlob für „Pink Floyd“-Ausstellung – doch die Besucherzahl bleibt ein Geheimnis…

Das „Dortmunder U" am 14. September 2018, dem Eröffnungstag der „Pink Floyd"-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Das „Dortmunder U“ am 14. September 2018, dem Eröffnungstag der jetzt beendeten „Pink Floyd“-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Mit der „Pink Floyd“-Ausstellung (Untertitel „Their Mortal Remains“) wollte man im „Dortmunder U“ das ganz große Rad drehen. Am letzten Sonntag, 10. Februar, ist die mächtig beredete und beworbene Schau nach fünf Monaten zu Ende gegangen. Also war man gespannt, welche Besucherzahl am Schluss vermeldet werden würde. War die (sicherlich mindestens angepeilte) magische Marke von 100.000 erreicht oder übertroffen worden? Hatte man gar die insgeheim erträumten 130.000 bis 150.000 geschafft?

Und tatsächlich: Gleich montags wurde für heute zur bilanzierenden Nachbereitungs-Pressekonferenz eingeladen – mit dieser ausdrücklichen Zusicherung: „Wir möchten Ihnen die Besucherzahlen (…) gerne vorstellen…“ Prima. Als wenn ich etwas geahnt hätte: Den Termin habe ich nicht selbst wahrgenommen, sondern mich auf die städtische Pressemitteilung verlassen.

Und? Sag schon! Wie viele Besucher waren es denn nun? Keine Ahnung. Zwar hat die besagte Pressekonferenz heute stattgefunden, doch eine konkrete Besucherzahl wurde eben nicht verraten. Die Schau habe „Zehntausende Menschen“ angelockt. Das könnten 20.000 oder 60.000 sein. Beispielsweise. Wirklich seltsam, diese auffällige Zurückhaltung. Ist die Wahrheit etwa unangenehm? Ansonsten hieß es, es sei nach verhaltenem Beginn immer besser gelaufen. Gegen Schluss habe es lange Warteschlangen gegeben.

Aber wer braucht denn auch schnöde Besucherzahlen? Höchstens so ein paar neugierige Journalisten. Die Ausstellung und ihre Effekte konnten ja auch so über den grünen Klee gelobt werden. Stadtdirektor Jörg Stüdemann (in Personalunion Kulturdezernent und Stadtkämmerer) und Edwin Jacobs, Direktor des „Dortmunder U“, führten einige Punkte auf, die wohl nicht von der Hand zu weisen sind. Stichwortartig zusammengefasst:

  • Das „Dortmunder U“ sei landes- und bundesweit als Ausstellungsort ins Bewusstsein gerückt, und zwar sozusagen „mit einem Knall“ (Jacobs).
  • Erhoffte, vielleicht auch wahrscheinliche Folgewirkung: Man werde bei Verhandlungen im Vorfeld künftiger Ausstellungen in einer deutlich besseren Position sein.
  • Laut Besucherbefragung waren satte 97 Prozent mit der Schau zufrieden oder sehr zufrieden. Das wäre als Wahl- oder Abstimmungsergebnis schon beinahe unheimlich. Je etwa ein Drittel der Leute kam a) aus Dortmund/dem Ruhrgebiet, b) dem Rest des Landes NRW und c) aus anderen Bundesländern.
  • Organisation und Logistik hätten den Härtetest bestanden, es seien dabei viele neue Erkenntnisse gewonnen worden.

Alles gut und schön. Aber eine klitzekleine Frage hätten wir dann doch noch – auch, wenn es nervt: Wie viele Besucherinnen und Besucher hat die Ausstellung eigentlich gehabt?

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Nachtrag am 15. Februar 2019:

Selbstverständlich geht es nicht nur um die bloße Besucher(innen)zahl, sondern im Gefolge um handfeste Finanzfragen. Das ohnehin – Achtung, Modewort – „eingepreiste“ und dem Rat genannte städtische Finanzrisiko von 1 Million Euro dürfte spürbar überschritten werden. Das berichten u. a. dpa und die Ruhrnachrichten.

Vielleicht haben ja doch die recht hohen Eintrittspreise manche Leute vom Besuch der Ausstellung abgehalten? Der „krumme“ Normalpreis via Eventim betrug immerhin 29,76 Euro. Eine darauf abzielende Frage hatte „U“-Chef Edwin Jacobs bei der Eröffnungs-Pressekonferenz u. a. mit dem Hinweis auf die ungleich höheren Preise für Konzert-Eintrittskarten gekontert.

Ohne es den jetzigen Akteuren anlasten oder einen direkten Bezug herstellen zu wollen: Die Besucherzählung der Dortmunder Kulturbetriebe fürs „Dortmunder U“ war jedenfalls schon vor Jahren durch eine gewisse Eigenwilligkeit aufgefallen – dazu hier ein Bericht von 2016.




Eine Stimme, die vom intensiv gelebten Leben zeugt: Marianne Faithfulls großartiges Album „Negative Capability“

Also Leute, ich kann natürlich nur für mich sprechen, doch sage ich es frei heraus: Soeben habe ich die wohl beste Popmusik seit längerer Zeit gehört. Zumindest rangiert sie auf der allseits offenen Skala sehr, sehr weit oben. Wobei ich mich scheue, dafür das reichlich abgenutzte und gewöhnliche Wort „Pop“ zu verwenden. Ich meine Marianne Faithfulls neues Album „Negative Capability“. Der Titel verweist übrigens auf eine literaturtheoretische Formel von John Keats. Wer will, möge weiter nachforschen.

„Negative Capability": Cover des neuen Albums von Marianne Faithfull (© BMG Rights)

„Negative Capability“: Cover des neuen Albums von Marianne Faithfull (© BMG Rights)

Welch eine Weisheit und Erfahrung ist in dieser Stimme aufgehoben, welche Würde, welches Scheitern und welch ein Neubeginn trotz allem; welch ein ahnungsvolles Wissen um Liebe, Leben und Tod. Dies alles sollte man bevorzugt zu nächtlicher Stunde hören. Nachfühlend und nachdenkend.

„As Tears Go By“ revisited

Die inzwischen 71 Jahre alte Frau verbirgt beileibe nicht, dass sie derzeit einen Gehstock braucht, sie steht sehr offensiv zu ihrer Schwächung und zeigt sich auch auf dem Plattencover mit der stilvollen Stütze. Sie singt mit zunehmend brüchiger, ungemein rauchiger und belegter Stimme. Doch wage es niemand, ihr und ihrem Gesang Schönheit abzusprechen. Sie verleiht noch jedem klassischen Titel eine ganz andere, ungeahnte Färbung und Tönung. Man höre ihre jetzige Version des Stones-Songs „As Tears Go By“ (den sie 1964 erstmals aufgenommen hat) oder von Bob Dylans „It’s all over now, Baby Blue“. Das ist einfach groß und zeugt von gelebtem Leben.

Über die Abgründe des Terrors

Auch die neuen Songs sind überwiegend von besonderer Güte. Sie handeln nicht nur immerzu von Liebe, Einsamkeit und Tod, sondern etwa auch von den Abgründen des Terrorismus – am Beispiel des furchtbaren Anschlags auf das Pariser Musikzentrum „Bataclan“. Der entsprechende Titel heißt „They Come at Night“. Und es wäre bei weitem zu wenig gesagt, wollte man aufs Klischee zurückgreifen, dass er „unter die Haut“ ginge.

Mir fallen nur wenige ein, die in den letzten Jahren ebenbürtig gewesen sind. Der späte Leonard Cohen wäre zu nennen, gewiss. Der späte Johnny Cash der „American Recordings“ desgleichen. Das also ist die erhabene, ja Schwindel erregende Höhe, auf der sich auch Marianne Faithfull mittlerweile bewegt. Mit mancher Silbe bangt man um sie, mit jeder Silbe triumphiert sie – auf ganz und gar uneitle, stille, nah am Schweigen liegende, doch umso eindringlichere Weise.

Die Stones-Zeit weit hinter sich gelassen

Und dabei haben wir die steigernde Dimension der melancholischen Texte noch nicht einmal eigens berücksichtigt, nicht die Instrumentierung (vielfach Cello und Klavier) gewürdigt und auch nicht die wundervoll stimmige Phrasierung näher erwähnt.

Kein Wunder, dass Marianne Faithfull nicht mehr nach ihren wild bewegten Zeiten mit Mick Jagger und den anderen Rolling Stones befragt werden mag. Wie weit hat sie das hinter sich gelassen! Wie eigen ist der Weg, den sie seither beschritten hat.

Dieses Album ist Anfang November erschienen, also noch ganz neu – und doch schon ein Klassiker.

Zwischen CD, LP, Streaming und Tournee

Und nein: Ich habe kein womöglich korrumpierendes Rezensions-Exemplar erhalten, sondern habe alles per Streaming gehört. Natürlich jeden Titel von Anfang bis Ende, wie es sich für ein solches Album gehört. Mithin so, dass diese großartige Künstlerin finanziell nicht ganz leer ausgeht. Denn der Dienst honoriert die Urheber ja erst dann halbwegs reell, wenn jemand 45 Sekunden eines Titels gehört hat. Ein leidiges Thema für sich…

Bleibt innig zu hoffen, dass Marianne Faithfull demnächst auf Tournee geht und auch in deutschen Städten auftritt.

Marianne Faithfull: „Negative Capability“. BMG Rights. Als CD ca. 14,99, als LP 23,99 €.

Eine Kostprobe: https://www.youtube.com/watch?v=ndseNmYb4s0




Wo die legendären Alben lebendig werden: Dortmund lockt mit „The Pink Floyd Exhibition“

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd"-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer bricht durch die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall" nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd“-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer durchbricht die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall“ von 1981 nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Ein berühmter Song von Pink Floyd trifft hier und jetzt besonders zu: „Wish You Were Here“, eh schon eine der eingängigsten Schöpfungen der 1965 gegründeten britischen Kultband. Ja, man wünscht sie sich zurück, am liebsten gleich und genau hierher: die alten Zeiten, die eigene Jugend, all die verheißungsvollen Aufbrüche der damaligen Pop- und Rockmusik.

Tatsächlich wird einem jetzt in Dortmund dabei aufgeholfen: „The Pink Floyd Exhibition“ mit dem britisch-sarkastischen Untertitel „Their Mortal Remains“ (Ihre sterblichen Überreste) erweist sich als durchaus anregendes Unterfangen, das so manche Phase und manchen Moment der über 50-jährigen Band-Historie überraschend lebendig werden lässt. Auch jüngeren Besuchern dürfte sich bei der Zeitreise hoch droben auf der sechsten Ebene des „Dortmunder U“ der eine oder andere Zugang zum Werk der Supergruppe eröffnen.

Dritte Station nach London und Rom

Die Abfolge der Ausstellungsstationen klingt geradezu märchenhaft: erst London (Victoria and Albert Museum), dann Rom, jetzt Dortmund. Schon einmal hat Dortmund ziemlich zentral im „Pink Floyd“-Universum gelegen: 1981 gab es in der Westfalenhalle gleich sieben Aufführungen der gigantischen Show „The Wall“. Ansonsten stemmten damals nur Los Angeles, New York und London die ungemein aufwendige Konzertserie.

Schier endlos gespiegelt: das ohnehin schon vielschichtige Cover des „Pink Floyd"-Albums „Ummagumma". (Foto: Bernd Berke)

Schier endlos und überlebensgroß gespiegelt: das irritierende Cover des „Pink Floyd“-Albums „Ummagumma“. (Foto: Bernd Berke)

Auch an diesen Mythos, an den sich etwas ältere Dortmunder noch heute mit leuchtenden Augen erinnern, konnte „U“-Direktor Edwin Jacobs anknüpfen, als er Aubrey Powell (Gestalter vieler legendärer „Pink Floyd“-Plattencover) von einem lohnenden Gastspiel der Schau in Dortmund überzeugte. Powell fungiert denn auch auch Ko-Kurator der Ausstellung. Und wer, wenn nicht er, könnte den Geist der Cover (und somit auch der Musik) gleichsam wieder einfangen und staunenswert neu aufleben lassen?

Auf einmal erhebt sich die Mauer

Hier und da steht man beim Rundgang ganz plötzlich inmitten altbekannter Szenarien; da wird etwa das ohnehin schon rätselhaft vielschichtige Cover von „Ummagumma“ beiderseits endlos gespiegelt. Am spektakulärsten ist jedoch der Effekt, wenn sich auf einmal ein nachempfundenes Stück der Mauer aus den „Wall“-Konzerten vor einem erhebt – mitsamt dem grässlichen Lehrer und dem erbärmlich leidenden Schüler.

Ganz klar: Da erinnern sich Kenner natürlich sogleich an die – zugegeben – auch etwas wohlfeile Zeile „We don’t need no education“ (Wir brauchen keine Erziehung) und den Schlachtruf „Hey! Teachers! Leave them kids alone“ (Ey, Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe). Überhaupt ist die Verschränkung von Sound und Bildern in dieser Ausstellung streckenweise besonders stimmig gelungen. Eins hebt das andere hervor, hebt es auf eine neue Stufe.

Die Musiker als Ingenieure und Tüftler

Wer sich entsprechend Zeit nimmt, kann gut und gerne zwei bis drei Stunden durch diese Ausstellung streifen, die eine labyrinthische, abgedunkelt höhlenartige Anmutung hat – fast wie so ein Underground-Club seligen oder auch erschröcklichen Angedenkens.

Reichlich Exponate: Eine von vielen Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd"-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Reichlich Exponate: Eine von vielen gut gefüllten Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd“-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Ziemlich getreulich chronologisch, sozusagen Album für Album (siehe Anhang), kann man hier voranschreiten – von den psychedelischen Anfängen durch alle (über)ambitionierten Klangexperimente und bombastischen Aufgipfelungen von quasi wagnerianischen Gesamtkunstwerk-Ausmaßen, die freilich bei dieser Band mit den Jahren nicht immer mit überbordendem Erfindungsreichtum einher gingen. Dass und wie „Pink Floyd“ auch Anschluss an die Avantgarde der E-Musik suchte, hat längst nicht alle Kritiker gleichermaßen überzeugen können.

Nicht ohne fliegendes Schwein

Die Mannen von Pink Floyd, so zeigt sich hier abermals, waren nicht zuletzt kreative Ingenieure und ehrgeizige Soundtüftler, die stets das jeweils neueste elektronische Equipment bis an die Grenzen austesteten. Zahlreiche Gerätschaften sieht man hier, die heute liebenswert altmodisch und reichlich verwittert aussehen, die zu ihrer Zeit aber der letzte Schrei und State of the Art waren – vom heute vorsintflutlich wirkenden „Azimuth Co-ordinator“ bis zum frühen Synthesizer.

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U“. (Foto: Bernd Berke)

Ansonsten sieht man einen vielfältigen medialen Mix aus Fotografien, Filmausschnitten, Plakaten, Bühnenskizzen, Briefen und weiteren Objekten. Hie und da sind es eher bloße Devotionalien, doch manch ein Stück gibt auch näheren Aufschluss. Und ja: Das fliegende Schwein hat selbstverständlich auch seine gebührenden Auftritte, und zwar erstmals schon ganz unten überm Foyer.

Der Gentleman Nick Mason gab sich die Ehre 

Offenbar hat man sehr zeitig und vorausschauend begriffen, dass es zur sich immer mehr entfaltenden Band-Geschichte jede Menge aufhebenswerte Gegenstände gibt. So gehören denn auch zahlreiche Gitarren zu den Exponaten, aber auch ein im Stile des japanischen Malers Hokusai verziertes Schlagzeug oder gar hübsch aufgefächerte gebrauchte Drumsticks von Nick Mason und ein halb zerfetztes Schlagfell, das er offenbar etwas wuchtiger traktiert hat.

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Dabei hat sich dieser Nick Mason, der mitten aus der aktuellen Tournee heraus als einziges Band-Mitglied zur Ausstellung nach Dortmund kam, in der Gruppe musikalisch zumeist vornehm im Hintergrund gehalten, jedoch dem großen Ganzen ein höchst solides rhythmisches Gerüst und Fundament verliehen. Er macht übrigens den sehr angenehmen Eindruck eines feinsinnigen, mit Ironie gesegneten britischen Gentleman. Indeed!

Wechselvolle Bandgeschichte

Die Alphatiere der Gruppe, Roger Waters und David Gilmour, sind – nach allem, was man so hören und lesen kann – hingegen ganz andere, mächtig auftrumpfende Kaliber. Roger Waters, der seit etlichen Jahren im Sinne der dubiosen Organisation BDS für einen rigiden Boykott gegen Israel eintritt, wehrt sich übrigens in einem just heute veröffentlichten Interview der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ-Magazin) nochmals gegen den oft erhobenen Vorwurf des Antisemitismus‘. An dieser Stelle genug davon.

Die wechselvolle, oft sehr turbulente Bandgeschichte, die anfangs Syd Barrett früh in den Drogenwahn trieb und später in mancherlei persönliche und juristische Grabenkämpfe mündete, wollen wir hier auch nicht im Detail nachbeten. Teile kann man sich in der Ausstellung erschließen, anderes wird man füglich nachlesen können. Vom optischen und akustischen Genuss des finalen Konzertfilms sollte man sich jedenfalls nicht abhalten lassen.

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd" und Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd"-Drummer Nick Mason,, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U") und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd“ und Ko-Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd“-Drummer Nick Mason, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U“) und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Ob die Schau doch noch eine oder mehrere weitere Stationen ansteuern wird, steht dahin. Gespräche laufen offenbar. Man könnte den Verdacht haben, dass die USA noch an die Reihe kommen werden.

Dortmund aber hat die Exklusivität in ganz West- und Mitteleuropa für sich. Die Besucherzahl könnte und sollte deshalb weit oberhalb der 100.000er-Marke liegen. Viele Gäste werden wohl vor allem aus den Niederlanden, aus Belgien, der Schweiz und Österreich anreisen – und wer weiß, woher sonst noch. Wie schön, wenn die Stadt mal außerhalb der Fußball-Zusammenhänge dermaßen viele Leute anlockt.

„The PINK FLOYD Exhibition. Their Mortal Remains“. Ausstellung im „Dortmunder U“, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse. Tel. 0231 / 50-247 23. www.dortmunder-u.de

15. September 2018 bis 10. Februar 2019. Geänderte Öffnungszeiten: Mo-Mi 10-18, Do/Fr 10-20 Uhr, Sa/So 10-22 Uhr. Letzter Einlass jeweils eine Stunde vor Schließung.

Tickets gibt es im Vorverkauf über die Firma Eventim, die sonst vor allem Konzertkarten anbietet. Die ungewöhnlichen Preise: Normal 29,76 Euro, ermäßigt 23,16 Euro. www.eventim.de Bestell-Hotline 01806 / 57 00 70.

Durch den Rundgang geleitet wird man übrigens von hochmodernen Audioguides, die jeweils die passenden Sounds zu den gerade besehenen Ausstellungsstücken liefern – ganz gleich, wie und in welcher Richtung man sich bewegt.

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Die wichtigsten Alben von Pink Floyd“

The Piper at the Gates of Dawn (1967)
A Saucerful of Secrets (1968)
Ummagumma (1969)
Atom Heart Mother (1970)
Meddle (1971)
The Dark Side of the Moon (1973)
Wish You Were Here (1975)
Animals (1977)
The Wall (1979)
The Final Cut (1983)
A Momentary Lapse of Reason (1987)
The Division Bell (1994)




Erst der „Echo“-Skandal, dann die Hakenkreuz-Binde im Theater: Provokation bis zur völligen Verblödung

Hitlers gespenstisch wiederkehrender Geburtstag wird in diesem Jahr besonders ausgiebig begangen. Nein, nicht nur von (Neo)-Nazis, sondern auch von mehr oder weniger kulturell angehauchten Institutionen. Zunächst hatten wir (und haben wir immer noch) die sich seit Tagen hinziehende „Debatte“ um den überflüssigsten aller Musikpreise, den „Echo“, der sich eh nur nach Verkaufszahlen richtet und Qualität quasi nur als nebensächlichen Zusatzeffekt duldet.

Manche Themen kann man eigentlich nur noch abstrakt bebildern. Wenn überhaupt... (Foto: BB)

Manche Themen kann man nur noch abstrakt bebildern. Wenn überhaupt… (Foto: BB)

Die idiotische, unsäglich antisemitische Zeile der Echo-dekorierten Rapper Kollegah & Farid Bang muss zwangsläufig dazu führen, den nunmehr vollends korrumpierten und verseuchten Preis künftig gar nicht mehr zu verleihen. Respekt allen aufrechten Künstlern, die ihre Echo-Auszeichnungen jetzt zurückgegeben haben – mit welcher kurzen Verzögerung auch immer. So. Jetzt haben wir das hier ebenfalls gesagt. Fürs Protokoll.

Ist ja auch wahr. Der Überbietungs-Wettbewerb in Sachen Provokationen geht einem doch schon seit vielen Jahren auf die Nerven. Ständige Grenzüberschreitung scheint irgendwann zwangsläufig mitten in die Verblödung zu führen. Und ich fürchte, dass sich darin, nämlich im unentwegten Lobpreis der Provokation, ein Erbteil der Achtundsechziger verbergen könnte. Wobei die Sache natürlich viel komplizierter liegt.

Von Kollegah bis Konstanz: Bodenlos am Bodensee

Während die Echo-Verleihung wohl eher zufällig in die zeitliche Nähe des besagten Hitler-Geburtstages geraten ist, bezieht sich das Theater in Konstanz ganz bewusst darauf – und legt seinerseits eine angeblich unerhört „kritisch“ gemeinte Provokation just zu diesem Tage auf, gleichsam nach dem Motto „bodenlos am Bodensee“: Zur Premiere – und eventuell zu weiteren Aufführungen – von George Taboris „Mein Kampf“ (Regie: der Kabarettist Serdar Somuncu) gibt’s Freikarten, falls die Besucher sich bereit erklären, im Theater eine Hakenkreuz-Binde zu tragen.

Einige Dutzend Leute haben sich anscheinend schon für die infame Aktion gemeldet – Hauptsache „Schnäppchen“, Hauptsache Betrieb, Hauptsache schrill und krass. Man soll ja keine billigen Scherze mit Namen machen, aber der Konstanzer Intendant, der die Idee gehabt haben soll, heißt nun mal Nix. Vorname Christoph. Er hat wahrscheinlich erkannt, dass Provozieren mit Ficken und dergleichen schon längst nix mehr bringt. Da muss schon härtere Nazi-Action her. Von Kollegah bis Konstanz.

Leider funktioniert der üble Marketing-Gag

Doch halt! Natürlich will das Theater nach eigener Darstellung mit all dem nur zeigen, wie leicht sich Menschen korrumpieren lassen. Was habt ihr denn gedacht? Aber damit nicht genug der Geschmacklosigkeit: Wer eine Karte zum Normaltarif kauft, „darf“ zur Aufführung einen Davidstern tragen – als Zeichen der Solidarität mit den Opfern, wie das Theater eilfertig versichert. O schreckliche Einfalt!

Was wird das für ein Hallo im Zuschauerraum geben! Wahrscheinlich rücken da einige TV-Teams an, die sonst mit „Kultur“ so gar nichts am Hut haben. Eine gewisse Polizeipräsenz ist unterdessen sicherlich ratsam. Es geht ja auch nicht um Kultur, sondern (letztlich ganz ähnlich wie beim „Echo“) um das selbstgefällig provokante Gehabe einiger Ar***. In diesem Falle wird es auch noch öffentlich subventioniert.

Der aberwitzige Marketing-Gag funktioniert selbstverständlich zuverlässig, denn nun reden sie von Flensburg bis Garmisch und von Aachen bis Cottbus über das ansonsten herzlich unbedeutende Konstanzer Theater. Es ist zum Speien!




Die Ausbrüche des Gisbert zu Knyphausen – ein enttäuschendes Konzert im Dortmunder FZW

Kann ich mich denn so vertan haben, oder hat sich (nach meinem Empfinden) sein Schaffen so nachteilig verändert? Vom Auftritt des Gisbert zu Knyphausen im Dortmunder FZW hatte ich mir einiges versprochen. Wie hatte ich aufgehorcht, als 2008 und 2010 seine ersten Platten herauskamen! Da schien er mir durchaus originell zu sein – sowohl textlich als auch musikalisch.

Gisbert zu Knyphausen (voller Name: Gisbert Wilhelm Enno Freiherr zu Innhausen und Knyphausen) 2015 beim "Oper Flair" in Eschwege am Bass für Olli Schulz. (Foto: Franz Deelmann / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Gisbert zu Knyphausen, hier 2015 beim „Open Flair“ in Eschwege – am Bass für Olli Schulz. (Foto: Franz Deelmann / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Jetzt sieht es so aus, als müsste ich vorerst abschwören. Sieben Jahre lang ist kein neues Knyphausen-Album mehr erschienen, seit Herbst 2017 lässt er – um im Bild zu bleiben – „Das Licht dieser Welt“ aufleuchten. Doch ganz ehrlich: In jener Welt wabert es mir entschieden zu viel.

Ich weiß, es klingt gemein: Im Geiste eines spätpubertären Existenzialismus, wie man es hilfsweise nennen könnte, steigert sich Gisbert zu Knyphausen mit immergleich erscheinenden Formeln in unbestimmte Sehnsüchte hinein, in denen stets eine konturlose Freiheit sowie die Sterne und der Mond beschworen werden, unter denen wir umher irren. Schon nach drei, vier Songs kann man genug davon haben. Immer diese gewollten Ausbrüche und Entgrenzungen!

Als empfindsamen Liedermacher hatte ich ihn in Erinnerung, leider ist er jetzt als Beinahe-Allerwelts-Rocker zurückgekehrt, der mit seiner Band auch schon mal mehr oder weniger gepflegten Krach macht und manche Satzfetzen nur noch herausbrüllt. Warum nur dieser Richtungswechsel? Will er gezielt ein jüngeres Publikum ansprechen? Will er sich nach so langer Pause überhaupt Gehör verschaffen oder einfach aus dem alten Gehege ausbrechen?

Vor allem seine Texte scheinen gelitten zu haben, in einem Song nennt er sich selbst einen „Freund von Klischees“ – und hat damit recht. Mit derlei Selbstironie lässt sich ja nicht alles glattbügeln. Tatsächlich gelangt er vielfach über wohlfeile Sinnsprüche (und Sinnlosigkeitssprüche) kaum wesentlich hinaus. Der Mann, der einst „Ton Steine Scherben“ und „Element of Crime“ als seine Vorbilder genannt hat, erreicht deren Qualitäten bei weitem nicht mehr.

Im Mittelteil des Konzerts erklingen ein paar ältere, leisere Lieder. Und wahrhaftig: Er ist ungleich stärker in diesen Passagen. Es geht einem viel näher, wenn er konkrete Einzelheiten beschreibt und besingt, als wenn er drangvoll ins Allgemeine und Universelle ausgreift. Auch scheint es, als stünde ihm sanftere Melancholie viel besser zu Gesicht als brachiale Verzweiflung, die nicht eben sonderlich authentisch wirkt.

Wie es dann am Ende zuging? Ich weiß es nicht. Wir haben die Stätte früher verlassen – wie einige andere Leute auch. Und bevor sich jemand aufregt: Nein, ich war nicht auf Pressekarte dort, sondern habe die Tickets gekauft. Da kann man gottlob gehen, wann man will.

P.S.: Fahndet doch mal mit der Suchmaschine nach Mark Berube. Der Kanadier aus Montreal ist mit seiner Band vor Gisbert zu Knyphausen aufgetreten – leider nur recht kurz und somit unter Wert präsentiert.




Auf Fehmarn und Kreta, zwischen Hendrix und Dylan: Plötzlich drängen sich Erinnerungen an die 60er und 70er Jahre auf

Es war nicht geplant, es hat sich einfach so ergeben. Auf meinen/unseren letzten beiden Reisen hat sich eine gewisse Andacht auf Popmusik-Größen vergangener Zeiten gerichtet bzw. auf diese vergangenen Zeiten selbst. Der Geist der Orte war freilich nicht mehr ohne weiteres spürbar, er waberte nicht von selbst, man musste ihn schon willentlich beschwören.

Mit bescheidenen Mitteln "Love and Peace" beschwören: Jimi-Hendrix-Gedenkstein auf Fehmarn. (Foto: Bernd Berke)

Gemeißelte Gitarre mit eingelassener Blumenvase und knapper Inschrift – mit solch bescheidenen Mitteln wird „Love and Peace“ beschworen: Jimi-Hendrix-Gedenkstein auf Fehmarn. (Foto: Bernd Berke)

Kommen wir zur Sache.

Im Sommer ging es hinauf nach Fehmarn. Was nicht jeder Rockfan weiß: Dort hat einst der geniale Gitarrist Jimi Hendrix das allerletzte Live-Konzert seines Lebens gegeben – exakt datiert: am Sonntag, dem 6. September 1970. Nur zwölf Tage später ist er in London gestorben.

„Woodstock an der Ostsee“?

Laut Reiseführer und anderen Quellen hatten seinerzeit drei – in derlei Dingen völlig unerfahrene – Kieler Jungspunde ein dreitägiges Festival aus dem insularen Boden gestampft und dafür nicht „nur“ Hendrix, sondern mal eben auch Ten Years After, Canned Heat, Taste und andere Spitzenbands jener Jahre engagiert. Sie wollten quasi ein „Woodstock an der Ostsee“ stemmen.

Das Ganze scheiterte freilich nicht nur am stürmischen Regenwetter, sondern vor allem am organisatorischen Chaos mit Hamburger Rockern als „Ordnungs“-Kräften, die am Schluss das Festivalzentrum abfackelten, weil es nicht sofort Geld für ihre zweifelhaften Dienste gab.

Regen damals, Regen jetzt

Trotz alledem überwog bei vielen Besuchern die Sehnsucht nach „Love & Peace“, die sich später zusehends in Nostalgie verwandelte. So nimmt es nicht Wunder, dass heute ein recht unscheinbarer Gedenkstein (unsere Tochter, generationsbedingt von keinerlei Hippietum angekränkelt: „Der ist aber ipsig“) auf dem früheren Festival-Gelände am Flügger Strand wehmütige Erinnerungen weckt. Gar manche(r) pilgert hin, so auch wir. Übrigens bei heftigem Regen, der just einsetzte, als wir uns dem Steine näherten. Ein Zeichen, ein Zeichen! Aber wofür bloß?

Auch hier ist "Love and Peace" angesagt: Wandbild in der Nähe der Höhlen von Matala/Kreta. (Foto: Bernd Berke)

Auch hier ist „Love and Peace“ angesagt: Wandbild in der Nähe der Höhlen von Matala/Kreta. (Foto: Bernd Berke)

In den Herbstferien lag jetzt noch eine kurze letzte Sonnenwoche auf Kreta an. Licht schöpfen für den langen Winter. Und siehe da, ob nun Zufall oder nicht: Wiederum manifestierten sich die 60er und 70er Jahre an einer bestimmten Stätte auf unseren Wegen, nämlich in Matala. Kreta-Kenner haben sicherlich zumindest von den dortigen Felshöhlen gehört oder sie aufgesucht, die in frühchristlicher Zeit als Gräber genutzt wurden.

Hippies in den Höhlen

In den späten 60er und frühen 1970er Jahren kamen dann Hippies aus aller Welt hierher, darunter im Gefolge auch Bob Dylan und Cat Stevens, der damals eine Größe war, sich aber leider längst aus dem Olymp des Rock verabschiedet hat. Ja, das musste mal wieder gesagt werden.

In den Höhlen von Matala gab es, wie man sich denken kann, keinerlei sanitäre Einrichtungen, so dass… Nun ja, auch das kann man sich sozusagen olfaktorisch vorstellen. Doch man mag es nicht tun. Lieber blumig erinnert als erstunken.

Im milden Licht des Spätnachmittags: Blick auf die Felshöhlen von Matala. (Foto: Bernd Berke)

Im milden Licht eines Spätnachmittags: Blick auf die Felshöhlen von Matala. (Foto: Bernd Berke)

Heute jedenfalls sind die meisten Geschäfte rings um die Höhlen auf Touristennepp ausgerichtet. Man sollte ihnen nicht auf den Leim gehen. Ein paar Kilometer weiter normalisieren sich Freundlichkeit und Preise.

Und wo bleibt der ästhetische Mehrwert?

Auch in Matala sucht man, noch deutlich unbeholfener und naiver als auf Fehmarn, ausdrücklich „Love & Peace“ zu beschwören. Doch angesichts der beiden Gedenkorte im Norden und Süden wage ich melancholisch zu behaupten: So sehr diese Musik einmal befreiend und belebend gewirkt hat; bei Licht und nüchtern aus der Distanz betrachtet, zeitigt die bloße Erinnerung an große Zeiten von Rock und Pop ästhetisch nicht unbedingt fruchtbareren Mehrwert als die heimelige Tümelei vorheriger Generationen. Beweist mir doch bitte das Gegenteil!