Nostalgischer Charme: Friedrich von Flotow zum 200. Geburtstag

Ach so fromm, ach so traut – aber wer hat sie in letzter Zeit geschaut? Friedrich von Flotows „Martha“ ist wohl vor allem älteren Operngängern ein Begriff. Auch zum 200. Geburtstag ihres Schöpfers, eines Sprosses aus mecklenburgischem Uradel, bleibt die heiter-harmlos wirkende Spieloper den Bühnen fern. Und das, obwohl mit der zitierten Arie viele Tenöre Schmelz und Schwärmen demonstriert haben – vom Duisburger Rudolf Schock bis zum Modeneser Luciano Pavarotti. Aber „Martha, Martha“ ist entschwunden, und mit ihr – nein, nicht das Portemonnaie, wie eine Parodie beklagt, sondern die knapp vierzig anderen Opern, Operetten, Singspiele und Ballette, die Kammermusik- und Salonstücke des Herrn von Flotow.

Ja, Groß Flotow gibt es wirklich, in Mecklenburg, mit 184 Einwohnern und einem schlicht gehaltenen Gutshaus, wie die offizielle Website des Amtes Penzliner Land mitteilt. Der Komponist jedoch erblickte am 27. April 1812 in Teutendorf, heute Ortsteil von Sanitz, einen möglicherweise grauen mecklenburgischen Himmel. Sein Leben dagegen verlief heiterer als manch andere Komponistenlaufbahn. Friedrich hatte einen offenbar verständnisvollen Vater, denn der reiste mit dem fünfzehnjährigen Knaben nach Paris, damit er dort in den Händen von Anton Reicha zum Musiker heranreife. Für einen preußischen Offizier dieser Zeit zweifellos ein Akt der Selbstüberwindung, seinen Sohn den brotlosen Tonkünsten statt der angesehenen Diplomatie zu überlassen.

Mit zwanzig Jahren wirft sich Flotow in den „Betrieb“ der musikalischen Hauptstadt Europas. Er vertont heitere Petitessen, schreibt ein Couplet hier, ein Salonstück da, versucht sich an kleinen Öperchen à la Daniel François Esprit Auber, dem damaligen Abgott der Opéra-comique. Das erste wird in der Heimat aufgeführt, in Ludwigslust: „Pierre et Catherine“. Offenbar gefiel sein Stil, der den amüsierwilligen Zuhörer nicht mit teutonisch grübelnder Schwere niederdrücken wollte. Auch die Eleganz und der Erfindungsreichtum seiner Melodien werden stets gelobt. Wie es auch immer um das nach historisch-kritischen Kriterien noch nicht erforschte Wirken Flotows stand: 1839 gelingt ihm mit „Le Naufrage de la Meduse“ ein beachteter Erfolg. Das Stück wird immerhin 54 Mal in einem Jahr gezeigt. Es ebnet ihm offenbar den Weg auf die Bühne der Opéra-comique: 1843 kommt dort „L’esclave de Carmoëns“ heraus, später auf Deutsch am Wiener Kärntnertortheater als „Indra, das Schlangenmädchen“ aufgeführt.

Flotow lernt in Paris einen anderen jungen Deutschen kennen: Jakob Offenbach, genannt Jacques, abgebrochener Cello-Studiosus. Der spätere Maître der unterhaltungsverrückten Pariser Gesellschaft lässt damals noch nicht die Grisetten tanzen, sondern lebt von „Muggen“, also gelegentlichen, schlecht bezahlten und dem Renommée kaum einträglichen Auftritten. Mit Flotow durchzieht er hinfort die Salons und assistiert dem betuchten Adligen beim Erstellen von Arrangements. Sie mögen sich, der Kölner und der Mecklenburger. Dreißig Jahre später experimentieren beide mit der Operette. Offenbach mit Riesenerfolg, Flotow so na ja: Seine „Veuve Grapin“ (1859) war offenbar nicht das, was man heute einen „Brüller“ nennen würde. Wie dieses Stückchen wirklich klingt, kann man demnächst erfahren, denn es gibt nicht nur seit einem Jahr beim Label Line Music eine Rundfunkaufnahme von 1951 auf CD, sondern in der „Hauptstadtoper“ in Berlin ab 4. Mai eine Serie von Aufführungen. Bei anderen Werken sucht man jedoch vergeblich nach Noten, Aufnahmen oder gar Aufführungen, nicht einmal „ad experimentum“.

Friedrich von Flotow

Friedrich von Flotow

In den 1840er Jahren weist die Kurve von Flotows Karriere steil nach oben. Jetzt arbeitet er für die großen musikalischen Institutionen in Paris, die „Opéra“ und die „Opéra-comique“. Er lernt den Dichter Friedrich Wilhelm Riese kennen, ein Landsmann aus Berlin, der Flotows wichtigster Librettist werden sollte. Gemeinsam landen sie 1844 in Hamburg mit „Alessandro Stradella“ einen Coup. Fortan gehört Flotows Name in die Spielpläne der Theater; er zählt in dieser Zeit neben Heinrich Marschner und Albert Lortzing zu den wichtigen Komponisten deutscher Herkunft. Und dann „Martha“: 1847 in Wien uraufgeführt, schlägt das heiter-sentimentale Gesellschaftsmärchen mit ironischer Unterströmung alle Rekorde.

Jetzt ist Friedrich von Flotow am Gipfel des Ruhmes angelangt. Die Hymne auf das Porterbier, die schmachtende Tenorarie „Ach so fromm“, das rührende irische Volkslied von der „Letzten Rose“: Flotow verwebt treffsichere „Hits“ in ein Werk, das dem Adel kein gutes Zeugnis ausstellt und Lady Harriett als ein ziemlich abgefeimtes Stück auftreten lässt, das sich herzlich wenig um die Befindlichkeit seiner Spielfiguren kümmert. Flotow musste diese Schicht wohl gekannt haben; wer weiß, welche Eindrücke von den Schlössern des mecklenburgischen Landadels in seine „Martha“ eingeflossen sind.

Vicco von Bülow hat in Flotow offenbar einen Geistesverwandten erkannt: Mit unnachahmlich feinem Humor, preußisch verkühlter Koketterie und sicherem, aber liebevollem Blick für die Schwächen und Bosheiten der Bühnenfiguren hat er „Martha“ nicht nur mit Hunden – will heißen: Möpsen –, sondern auch mit Charme und jener naiv anmutenden Heiterkeit auf die Bühne gebracht, die nur der wissende Geist so unbeschwert gegenwärtig zu setzen weiß. Seit der Premiere 1986 in Stuttgart ist diese Inszenierung über diverse Bühnen gewandert und war zuletzt am Münchner Gärtnerplatztheater zu sehen: Zu hoffen ist, dass sie nach der Renovierung des Hauses nicht dem historisch uninformierten Entrümpelungswahn eines Intendanten – wer auch immer es dann auch sein sollte – zum Opfer fällt.

Wie gesagt: Flotows einstiger Erfolg ist selten geworden. Der Zeitgeist ist solchen Werken nicht günstig gesinnt. Das hat gute Gründe: Die Probleme der Ständegesellschaft sind uns heute ebenso fremd wie die Beziehungsfragen eines patriarchalistischen Zeitalters; der zensurgeeignete, bis zum Schmerz verharmloste Humor ebenso wie die jede Provokation meidende Kompositionsweise. Nach Wagner und Verdi ist eben vieles vorherhörbar geworden, und was das Ohr des Pariser oder Wiener Komödienbesuchers damals als angenehm empfunden hat, ruft heute nicht einmal mehr homöopathische Abgaben von Endorphinen oder gar Adrenalin hervor.

Doch deswegen ist Flotow weder zu verachten noch zu verdrängen. Denn was damals als „pikant“ galt – die Sittenwächter waren durchaus argwöhnisch! –, kann heute im Sinne einer „zweiten Ebene“ durchaus theaterwirksam und im besten Sinne unterhaltend wirken. Zu denken ist an Nostalgie und Ironie: Ich erinnere mich an eine Coburger „Martha“ von 2006, die vom goldenen Licht einer wehmütigen Erinnerung überglänzt war, ein Märchen aus einer vergangenen Zeit, inszeniert als Bild einer Kindheitsfantasie, der man sich erinnerungsselig hingeben kann.

Wie man aus den zum Genre gehörenden Klischees Funken schlägt, indem man sie mit den Stereotypen von heute konfrontiert, hat der Regisseur Roman Hovenbitzer in einer derzeit laufenden Inszenierung von „Alessandro Stradella“ in Gießen vorgeführt. Dieser erste Erfolg Flotows ist seit Jahren nicht mehr in Deutschland gegeben worden. Die letzte Inszenierung der Werks um den skandalträchtigen Lebenswandel des Barockkomponisten Alessandro Stradella gab es 2001 beim irischen Wexford Opera Festival. Dort spann sich eine mäßig einfallsreiche Regie um die zentrale Melodie der Oper, die Hymne „Jungfrau Maria“, einst ebenfalls ein Zugstück für Tenöre.

In Gießen hat Regisseur Roman Hovenbitzer nun die Bezeichnung „Romantisch“ hinterfragt und sich lieber auf die musikalische Machart verlassen, die unverkennbar die Mittel der französischen „Opéra comique“ anwendet. Schon immer im Wege stand dem Werk die undramatische Handlung. In drei Akten wird eine Variante des Komödientopos bedient, der da lautet: Alter Vormund will junges Mündel heiraten; die schwärmt in diesem Fall den bewunderten Sänger Stradella. Zwei Auftragskiller sollen den Barden aus dem Wege räumen. Doch sind sie zwei Akte lang am finalen Schuss gehindert, weil die wunderschöne Stimme selbst die finsteren Seelen der Mordgesellen rührt. Ende gut, alles gut: Stradella bekommt das Mädel und die Musik hat wieder einmal ihre Macht bewiesen.

Hätten sich Hovenbitzer und sein Bühnenbildner Hermann Feuchter auf eine flott gespielte, knackig bebilderte Komödie beschränkt, wäre das langatmig und nett gewesen, mehr aber auch nicht. Doch jenseits der Lachimpulse, wie ein Karton mit der Aufschrift „Vorsicht Kunst“ mit der kessen Leonore als Inhalt, vertiefen sie die knallbunte Szene immer intensiver mit emblematischen Zeichen. Dann wird aus der Geschichte zum Beispiel die eines pubertierenden Mädchens, das seinen Star anhimmelt.

Doch Hovenbitzer/Feuchter graben tiefer. Sie führen mit leichter Hand zentrale Motive der Künstler-Mythologie ein, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden sind und wie sie – zum Starkult degeneriert – noch heute wirken: mediale Vermittlung, zweckgerichtete Ansprache von Emotionen und Klischees, den Künstler als „Heiland“ im Kreis seiner Jünger. Die Madonna steht für die Fixierung auf das Ideal der „Reinheit“ der Frau im 19. Jahrhundert, aber auch für die ideologische Überhöhung des unerreichbaren Weiblichen im Gegensatz zum realen Objekt sexueller Begierde.

Die beiden komischen Killer schießen den Star dann doch über den Haufen, weil die gebotene Kohle mehr lockt als der Reiz des Gesangs. Damit bricht Hovenbitzer das Happy End, führt die Oper dann aber doch zum glücklichen Ende – allerdings als ironische Reminiszenz an die trivialromantische Vorstellung von der Macht der Musik und der Liebe. „Alessandro Stradella“ in Gießen wird so zu einer klug konzipierten Revue über Mentalitäten und geistige Konzepte, auf denen Flotows Oper basiert, ohne sie ausdrücklich anzusprechen. Aus biederem Unterhaltungstheater für den mundtot gemachten Bürgerstand nach 1848 wird ein witziges Lehrstück über Oper, Kunst und Geist im 19.Jahrhundert – nicht im Sinne eines musealen Vorzeigens, sondern als Befragung auf relevante Inhalte.

Friedrich von Flotows Leben verlief nach seinen beiden „Treffern“ unstet: Er schrieb für Berlin und Wien, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg, nahm 1855 die Stelle des Hofmusikintendanten in Schwerin an, ging zurück nach Paris und zog sich 1873 auf sein Mecklenburger Stammgut Teutendorf zurück. Ob er sich 1870 mit „L’Ombre“ an der Opéra-comique nicht durchsetzen konnte, weil seine Musik nicht goutiert wurde oder der Deutsch-Französische Krieg ausbrach – wer will es wissen? Seine letzte Oper erschien 1876 in Turin auf der Bühne; zwei Werke blieben unvollendet, als Flotow 1883 in Darmstadt einem Schlaganfall erlag.

In den letzten Jahren gab es hin und wieder „Martha“ – sogar an Theatern wie der Wiener Volksoper. In Schwerin, wo Flotow acht Jahre wirkte, inszenierte Robert Lehmeier 2009 den Klassiker. Die Produktion wird aus Anlass von Flotows Geburtstag wieder aufgenommen, aber nur zwei Mal gespielt – zum letzten Mal am 17. Mai. Die Oper Halle bringt „Martha“ am 12. Mai im Goethe-Theater in Bad Lauchstädt heraus.

In Schwerin, Hauptstadt Mecklenburgs und Sitz eines Staatstheaters, hat der 200. Geburtstag Friedrich von Flotows immerhin zu einem Kammerkonzert und zu einer Ausstellung im Parkettfoyer des wunderschönen Theaterbaus geführt: „„Mein siebenjähriger Krieg – Flotow in Schwerin“ heißt ihr Titel. Zu mehr konnte man sich nicht verständigen: Kein Werk Flotows in den Sinfoniekonzerten, keine Neuinszenierung einer Oper; offenbar auch nirgends wenigstens eine wissenschaftliche Konferenz. Man darf spekulieren, dass die Ketten des Etats das Theater an jedem Flugversuch in diese Richtung abhalten. So kann selbst ein Staatstheater eine seiner genuinen Aufgaben nicht mehr erfüllen. Das sei den Kulturpolitikern hierzulande gesagt: Ein materiell verarmtes Theater holt auch bald die geistige Armut ein.




Als Hörde noch groß und wichtig war

Ein Reprint einer Landkarte aus dem Jahre 1791 kam mir vorgestern in die Hände. Da sieht man, welche Maßstäbe damals der Wiener Kartograph Freiherr von Reilly setzte.

Eine noch ältere Karte der Grafschaft Mark.

Der Ort Hörde ist neben Bochum und Wattenscheid als gleichwertige Stadt dargestellt, daneben gibt es noch den Weiler „Lutken Dortmund“, und Blankenstein an der Ruhr sieht genauso groß aus wie „Herdicke“ und „Westhoven“. Radevormwald hieß noch „Radt vor dem Walde“, das heute recht beschauliche Breckerfeld wird als Zentrum dargestellt, ebenso wie Limburg und „Elverfeld“. Natürlich gab es den Namen Wuppertal noch nicht.

Wien war ja weit weg, und so schlichen sich auch wohl einige Hörfehler ein: Stiepel findet sic h in der Karte als „Stieget“, Albringhausen im heutigen Wetter ist als „Alvinghausen“ aufgeführt, und statt des uralten „Gut Rochholz“ in Gevelsberg an der Ennepe heißt es bei Reilly „Rothholz“.

Straßen oder Chausseen, wie man früher sagte, findet man übrigens nicht eingezeichnet, und – na klar – Autobahnen schon gar nicht. Interessant ist aber der Titel der Karte, denn der sagt etwas über die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Sauerland“ („Süderland“) aus. Er lautet in voller Länge: „Der Grafschaft Mark Sauerland oder der Südliche Theil mit der Grafschaft Limburg und der Abtey Werden“.




Der „Alte Fritz“ in ungeahnter Vielfalt

Friedrich in Öl und mit dem Dreispitz in der Hand. Friedrich als Schlachtenlenker und als volksnaher Staatsdiener im Gespräch mit den Bauern. Friedrich in Porzellan und in stolzer Herrscherpose. Friedrich in Holz und als Tabaklade. Friedrich auf Papier und als politisches Plakat. Friedrich als reitender Bote für Berliner Bier. Friedrich als Erinnerungsplakette an den „Tag von Potsdam“, flankiert von Bismarck und Hitler. Friedrich im Heimatfilm und Friedrich als Teddybär. Friedrich als Kinderspielzeug und als Karikatur. Soviel Friedrich in so vielen Varianten und Ausformungen, Deutungen und Zurichtungen wie jetzt im Deutschen Historischen Museum war nie.

Filmzeitschrift zum Ufa-Spielfilm "Das Flötenkonzert in Sanssouci" (August Scherl GmbH/Film-Kurier GmbH, Berlin 1930). Berlin, DHM, Foto Angelika Anweiler-Sommer

Filmzeitschrift zum Ufa-Spielfilm "Das Flötenkonzert in Sanssouci" (August Scherl GmbH/Film-Kurier GmbH, Berlin 1930). Berlin, DHM, Foto Angelika Anweiler-Sommer

Und das will etwas heißen. Denn zum 300. Geburtstag vom „Alten Fritz“ werden Leben und Wirken des Preußenkönigs landauf, landab, in vielen Büchern, auf manchen Bühnen und in allen Medien auf seine Bedeutung für Deutschlands Geschichte untersucht und bewertet. Doch noch immer ist man sich nicht einig, warum sich Friedrich II. so sehr ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben hat und worin die eigentliche Leistung des widersprüchlichen Mannes mit den vielen Facetten bestehen könnte: Mal gilt er als Militarist und Hasardeur, mal als erster Diener des Staates und Anhänger von politischer Vernunft und philosophischer Aufklärung. Manche sehen ihn als musikalischen Intellektuellen, andere als knorrigen Misanthropen und verklemmten Schwulen. Weil sich die Historiker und Psychologen nicht auf ein eindeutiges Bild einigen können, will man im schicken Pei-Bau des Berliner Museums nicht die ausgetretenen Ausstellungs-Pfade gehen und zum x-ten Male Leben und Werk Friedrichs bebildern. Vielmehr geht es diesmal unter dem Titel „Friedrich der Große – verehrt, verklärt, verdammt“ um das Nachleben und Nachwirken des ebenso schwierigen wie heiß geliebten Preußenkönigs.

Teddybär "Friedrich der Große" (Sonderedition für Sammler, Nr. 112 von 1000, Margarete Steiff GmbH, 2011). Berlin, DHM, Foto Sebastian Ahlers

Teddybär "Friedrich der Große" (Sonderedition für Sammler, Nr. 112 von 1000, Margarete Steiff GmbH, 2011). Berlin, DHM, Foto Sebastian Ahlers

Es ist ein manchmal bizarrer und kurioser Ausflug in die deutsche Erinnerungskultur, die vor heldenhafter Mythologisierung genauso wenig zurück schreckt wie vor kitschiger Banalisierung. Auf einer Fläche von 1100 Quadratmetern veranschaulichen rund 450 Exponate die wechselvolle Rezeptionsgeschichte. Verehrung, Verklärung und Verdammnis beginnen bereits mit dem Tod. Die Ausstellung startet folgerrichtig als Totenmesse in einer Gruft. Kerzen flackern, wir sehen voller Ehrfurcht auf die knochig-karge Totenmaske und das einfache Sterbehemd Friedrichs. Danach wird es bunt und laut. Vom riesigen Öl-Schinken mit Friedrich in Uniform bis zu der von Andy Warhol mit flinkem Pinsel gemalten Pop-Ikone, von der Replik eines von Johann Gottfried Schadow geschaffenen Friedrich-Standbildes bis zum Ufa-Spielfilm „Das Flötenkonzert von Sanssouci“, vom Foto sanften Plüschtier bis zum veralberten Konterfei gibt es Friedrich in allen Farben und Formen, in allen politischen Vereinnahmungen und alltäglichen Verhunzungen.

Die Zahl der Ausstellungstücke und medialen Möglichkeiten ist beeindruckend, aber auch schier erdrückend. Außerdem hat die opulente Schau vieles, nur eines nicht: eine These. Statt einer eindeutigen Meinung versteckt sie sich hinter enzyklopädischer Vielfalt. Aber vielleicht ist es genau das, was den Mann, der im Museum mal als Wachsfigur und mal als Holzspielzeug, mal als Parteigänger der nationalistischen Rechten und mal als Argumentationshilfe der Linken herhalten muss, bis heute so spannend macht: dass wir ihn nicht wirklich verstehen und fassen können.

Berlin, Deutsches Historisches Museum, bis 29. Juli 2012, tägl. 10-18 Uhr, Katalog 24 Euro.




Meilensteine der Popmusik (10): Pink Floyd

„Underground“ war  d e r  Nährboden für die Popmusik der „swingin´ sixties“. Etliche Interpreten und Gruppen wurden dort erst einmal Kult, bevor sie dann in den Hitparaden auftauchten. Für Plattenmillionäre gab es natürlich keinen Platz mehr im Underground. Dafür tauchten sie jetzt vermehrt im Kulturteil seriöser Wochenmagazine auf.

Pink Floyd on YouTube

Diese berichteten auch von dem Millionenaufwand und der coolen Strategie, mit der im März 1973 die dunkle Seite des Mondes beleuchtet wird. Als „Dark side of the moon“ der ehemaligen Undergroundband Pink Floyd erscheint, wird gleichzeitig auch schon der Riesenaufwand für das ganze Projekt bilanziert. Allein das bestechende und doch schlichte Cover ist von der Gruppe aus acht verschiedenen Vorschlägen ausgesucht worden. Ein lichtbrechendes Prisma gewann, und es sollte in naturalistischer Form auch auf der Innenseite abgebildet werden. Zu diesem Zweck flogen ein Designer und ein Fotograf extra in das nächtliche Ägypten, um eine Pyramide bei Mondschein einzufangen. Derweil hockte die Gruppe bei den Aufnahme-Sessions in den damals schon legendären Abbey-Road-Studios. An den Reglern saß übrigens ein Ton-Ingenieur namens Alan Parsons, der nebenbei sicherlich schon ein eigenes Projekt im Kopf hatte.

Die Mitglieder von Pink Floyd zeigten sich noch als Gruppe. Sie schrieben und musizierten zusammen, der schwelende Konflikt zwischen den Köpfen David Gilmour und Roger Waters wurde noch nicht öffentlich ausgetragen. Der eine Name stand für Musik, der andere mehr für Show. Beides hatte zur immerwährenden, kollektiven Bewusstseinserweiterung bei Fans auf der ganzen Welt geführt. Hardcore-Fans der ersten Stunde erinnerten sich noch an die Namensgeber: Die beiden Blues-Männer Pink Anderson und Floyd Council aus Georgia. Blues war auch die Masche von Pink Floyd Mitte der 60er. Sie schrubbten ihn im Londoner Ufo-Club, ziemlich laut und leider auch ziemlich schlecht. Zugleich aber auch so schlecht und abgedreht, dass sie zu kleinen Helden der damaligen Subkultur wurden. Der eigentliche Kopf der Band, Syd Barrett, drehte wenig später ganz ab. Nach ersten kleinen Singleerfolgen in den Pop-Charts verschwand er erst einmal in der Psychiatrie. Der Rest machte weiter, setzte auf das große „Joint-Adventure“, und nahm die Hippies mit auf die Reise. Die Live-Happenings von Pink Floyd wurden zu technischen Großereignissen, zu ganz neuen Hör- und Seherlebnissen.

Der Bassist Roger Waters begann zwischenzeitlich das Schicksal des einstigen Mitspielers Syd Barrett aufzuarbeiten. Bei dem Vergleich der „dunklen Seite des Mondes“ mit der dunklen Seite des Menschen, beschäftigte er sich auch mit der Frage, was einen sensiblen Menschen so alles in den Wahnsinn treiben kann.

In der weltweiten Fan-Kommune von Pink Floyd fehlte indes eine Gruppe, die mit langhaarigen, bärtigen und Pfeifchen rauchenden Hippies der Sixties nichts mehr am Hut hatte: Es fehlten die neuen Teenies der 70er. Auch diese sollten von „Dark side of the moon“ eingefangen werden. Das versuchte man mit altbekannten, psychedelischen und antikapitalistischen Botschaften zu ganz neuen, populären und damit eingängigen Synthesizerklängen. Mutig griff man den Emporkömmling und neuen Superstar Elton John an, der sein „Money“ gerade in einen Fußballclub investiert hatte. Pink Floyd gab dem Kollegen eine eigene Lebensweisheit mit auf den Weg: „Geld ist nur ein Furz.“ Andererseits wollten sie den Kindern in dem Song „Time“ etwas von Vergänglichkeit erzählen: „Jugend verschwendet Zeit, sie wartet auf einen, der die Richtung vorgibt. Das Leben liegt vor dir, doch eines Tages stellst du fest, dass zehn Jahre vergangen sind, und du den Startschuss verpasst hast.“ Die Teenies streckten dazu die Wunderkerzen in die Höhe, und bemerkten nicht, dass sie am Ende des Songs ebenfalls älter geworden waren. Denn die „Zeit“ verging und machte „Dark side of the moon“ zum Rockdenkmal. Weit über 50 Millionen Menschen auf der ganzen Welt wollten die Platte bis heute kaufen. Und es werden täglich mehr. In den US-LP-Charts war sie 773 Wochen am Stück vertreten. Das sind weit über 14 Jahre – Weltrekord!




Schwarzgelb getränkt

Vor Jahresfrist war hier schon die Rede davon, dass – als Grundzug im Leben – gleich hinter der Erfüllung ein kaum merklicher Anflug der Enttäuschung lauern mag. Damals war die siebte deutsche Fußballmeisterschaft von Borussia Dortmund der Anlass, diesmal ist es die achte, die ein paar Worte hervorruft. Wer hätte das vor drei oder vier Jahren für möglich gehalten?

Wenn man seine ersten Dortmunder Stadionbesuche noch als Kind in der „Roten Erde“ absolviert hat, freut man sich natürlich zutiefst. Doch manchmal hätte man es jetzt gern eine Spur verhaltener. Die Regionalzeitungen im Dortmunder Dunstkreis haben es übertrieben. Sie sind heute von vorne bis hinten schwarzgelb getränkt und komplett durchjubelt. Ein Overkill. Bereits jetzt laufen ziemlich viele Leute (und längst nicht nur Kinder) alltags in BVB-Farben durch die Stadt, als wär’s die normalste Kleidung. Von der Klitsche bis zum Konzern will jede Firma bekunden, dass auch sie mit den Borussen schwerstens sympathisiere. Eine Stadt dreht durch. Vorerst bis zum Pokalfinale am 12. Mai.

Nun warnen – von außerhalb – nicht wenige Journalisten vor den Gefahren der Übersättigung. Da wird geunkt, die Dortmunder Mannschaft sei künftig womöglich nicht mehr „hungrig“ und gierig genug, um einen weiteren Titel anzusteuern. Eine Formel, auf die man sich vielfach geeinigt hat, einer plappert sie dem anderen nach. Wir werden sehen. Wenigstens international muss der BVB ja noch einiges zurechtrücken.

Die Süddeutsche Zeitung aus München hält es (etwa aus schierer Missgunst?) allerdings nicht einmal für nötig, die Entscheidung um die Meisterschaft auf ihrer heutigen Titelseite auch nur zu erwähnen. Souverän ist das nicht. Das Thema bleibt allein dem Sportteil vorbehalten. Diese absurde Abstinenz hat das Blatt, das jüngst abermals die ganze graue Ruhrgebiets-Tristesse auf seiner Seite 3 lang und breit geschildert hat, sozusagen exklusiv. Vielleicht folgt ja noch der übliche Bericht, in dem bescheinigt wird, wie überaus nötig die geschundene Revierseele solche Erfolg im Fußball brauche.




Mit der Mark kam die Mode

Ab und zu sollte man seinen Blick vom Alltag lösen und versuchen, von ferne auf unsere Probleme zu blicken. Das gilt nicht nur räumlich sondern auch zeitlich. Zum Beispiel aus dem Jahre 1950.

Damals war der Krieg gerade fünf Jahre vorbei, die neue Währung gab es seit zwei Jahren, und doch ging es aufwärts. In Gevelsberg fand sogar 1951 schon eine Modenschau statt: “Entzückende modische Neuheiten auf dem Laufsteg“, schrieb die Westfälische Rundschau am nächsten Tag über das Ereignis im hinteren Saal einer Gaststätte. Große und schlanke Frauen zu kleiden, das sei ja kein Kunststück, schreibt der Reporter, aber „wie steht es mit jenen, denen ein Sahneteilchen und eine Tasse Bohnenkaffee wichtiger ist als die tägliche Sorge um die schlanke Linie?“ Das war die eine Seite der Sorgenliste, aber es gab auch größere Probleme. Wer im selben Jahr die Berichte über die Kreistagssitzungen las, der bekam andere Nöte vermittelt. Allein die öffentlichen Fürsorgeaufgaben verschlangen große Teile des Kreisetats. Dazu gehörten die „Krüppelfürsorge“ und die „Hausratshilfe“, Mittel für die auswärtige Unterbringung von Männern in Lehrlingsheimen, die Ausgaben für ein neues „Alten- und Siechenheim“ oder die Fürsorgemaßnahmen für Geschlechtskranke. Auch Erholungsmaßnahmen für Jugendliche finanzierte der Kreis für die zahlreichen Familien, in denen der Vater als Soldat gefallen oder vermisst war.

Es ging aber auch in der Politik teilweise schon optimistisch zu – allein eine halbe Million D-Mark brachte der Ennepe-Ruhr-Kreis 1951 für den Siedlungsbau auf.

Schöner wohnen, schicke Mode, gut essen – das waren in den Anfangsjahren der Bundesrepublik auch an der Ennepe die erstrebenswerten Ziele der Menschen. Da ging es noch nicht um das schnellste Smart-Phone oder den größten Flachbildschirm. Das sind erst heute unsere Probleme.




Hemden ohne Taschen – eine Verlustmeldung

Wo sind bloß die Brusttaschen geblieben? Welche textile Verschwörung ist da im Gange?

Gestern in drei Geschäften gewesen, um 1 bis 2 Oberhemden zu erwerben. Gestaunt. Geärgert. Nichts gekauft. Alle Hersteller scheinen sich – gleichsam über Nacht – darauf geeinigt zu haben, keine Brusttaschen mehr aufzunähen. Eine Verkäuferin begründet das mit dem schlanken Schnitt, der jetzt en vogue sei. Unsinnige Mode. Doch auch die Marke, die seit jeher für den umfänglicheren Herrn schneidert, lässt die Taschen weg. Also ist das mit dem engen Schnitt wohl nur eine Ausrede.

Es ist wie damals in den blöden 80er Jahren, als allüberall Bundhosen aufkamen – mit wahrhaft elefantigen Silhouetten. Wenn man engere Röhrenform haben wollte, schaute man in die (nicht mehr vorhandene) … Genau!

Altmodische Verwendung? Sei's drum! (Foto: Bernd Berke)

Altmodische Verwendung? Sei's drum! (Foto: Bernd Berke)

Wozu ich Brusttaschen brauche? Welch eine Frage. Ich will da gelegentlich Notizzettel hineinstecken. Oder einen Stift. Eine Brille. Drei oder mehr Gummibärchen. Früher hatte die Zigarettenschachtel dort ihren angestammten Platz – nebst Feuerzeug. Egal. Das geht die Hersteller oder sonstwen einen Kehricht an. Ich brauche solch eine Tasche als beruhigende Verstau-Reserve, weil ja nicht alles in die Hosentaschen passt. So aber fingere ich ins Leere.

Man hat plötzlich keine Wahl mehr. Ganz so, als wäre realsozialistischer Mangel ausgebrochen. Oder bräsige Service-Verweigerung. „Haben wir nicht, kriegen wir auch nicht mehr rein.“

Hätte ich in der Branche was zu sagen, würde ich jetzt diese Nische bedienen. Sinngemäß: „Nur bei uns: extragroße Brusttaschen!“ Gut, am Slogan kann man noch feilen.




„Hütchen sind immens wichtig“ – Frank Goosen auf Lesereise

„Schnell rein, schnell raus. Keine Gefangenen.“ Dieser Plan ist schon bei Stefan, der Hauptfigur in Frank Goosens neuem Roman „Sommerfest“ nicht aufgegangen. Natürlich kommt auch der Erfinder des „Woanders-iss-auch-Scheiße-Koffergurts“ bei seiner Lesereise (z. B. jetzt im Ebertbad Oberhausen) nicht nur einfach schnell rein und schon gar nicht schnell wieder raus.

Will er wohl auch gar nicht. Goosen ist ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch gelernter Kabarrettist. Die Erfahrungen aus den Lehrjahren mit den „Tresenlesern“ kommen ihm heute zugute.

Einen klug ausgewählten Querschnitt aus dem neuen Buch trägt er vor. Das Publikum bekommt einen guten Einblick, bleibt aber dennoch neugierig auf das große Ganze. Seine Romanfiguren, „die bedrohte, schützenswerte Sprache des Ruhrgebiets“ und „die Storys, die nur so auf der Straße liegen„, er erweckt sie gekonnt zum Leben. „Vorgelesen gewinnt das Buch enorm. Von mir aus kann er mir das jetzt auch ruhig ganz von Anfang bis Ende vorlesen, auch wenn ich es schon kenne“ – so eine begeisterte Dame im Publikum. Wie sich überhaupt das ganze Publikum dankbar mitnehmen lässt auf den teils nostalgischen, teils witzigen Road Trip durch ein Wochenende im  Ruhrgebiet. „Kennwa doch allet, ham wa genauso schon imma gesacht und gehört. Gut, datt datt ma einer aufschreiben tut.“ Da ist Frank Goosen ganz der Toto Starek aus dem Roman. Am besten ist Goosen aber immer dann, wenn er das starre Korsett des reinen Vorlesens verlässt und hintergründige Dönekes zur Entstehungsgeschichte des Buches erzählt.

Dennoch – das Ganze war „ja schließlich eine literarische Veranstaltung„. Wie es sich gehört bei so einer literarischen Veranstaltung, durften im Anschluss gerne Fragen zum Werk und zum Schaffen des Autors gestellt werden. Aber Goosen wäre nicht Goosen, das Ruhrgebiet nicht das Ruhrgebiet, wenn dieser gute Vorsatz auch nur die erste Frage überdauert hätte. Gibt ja schließlich auch noch andere Nebensachen, die das Leben des Frank Goosen und vieler Ruhrgebietler schön machen. Fußball zum Beispiel. Da sind sie alle sofort in ihrem Element. Auch wenn Goosen nicht unbedingt von unten in Richtung Champions League sticheln und sich nicht lange bei dem königsblauen Verein aufhalten will, der mehr Schulden hat als die Stadt Oberhausen… Da verläßt man auch mal kurz die kabarettistische Ebene und bekundet Solidarität mit Rot-Weiß-Oberhausen, die man auch jenseits des Gasometers gerne nicht viertklassig sehen möchte.

Ziemlich witzig wird es dann aber wieder, wenn Goosen von seinen ersten Erfahrungen als Trainer einer ambitionierten E-Jugend bei Arminia Bochum erzählt. Da erkennt sich mehr als eine Mutter oder Vater im Saal einwandfrei wieder. Der fußballverrückte Goosen erzählt, wie sehr geehrt er sich bei der Übergabe des Schlüssels zum Fußballplatz gefühlt hat und welch Aphrodisiakum dieser Schlüssel für ihn ist. Und dass er nun endlich seine Hütchen-Philosophie ungehindert ausleben kann. Hütchen sind nämlich immens wichtig beim Training, völlig zu Unrecht unterschätzt. Schön, dass dies nun auch geklärt wäre.

Man muss Frank Goosen das wirklich lassen. Erzählen kann er, frei von der Leber weg, schlagfertig und spontan. Da hält er es mit seiner Omma, „von der er datt Erzählen gelernt hat„. Wenn er dieser mit der Frage kam, ob das alles wirklich genauso passiert ist, hat sie wiederum ihn immer gefragt: „Und? Hasse Dich gelangeweilt?“ Nee, ma echt. Gelangweilt ham wa uns nicht. Goosen wächst immer mehr in die Rolle des Chronisten, des Geschichtenbewahrers des Ruhrgebiets hinein. Einige Termine stehen noch an. Karten sind allerdings schwer zu kriegen. Aber es lohnt sich.

Die nächsten Termine auf der Homepage des Autors.
Rezension des Buches in den Revierpassagen.
Foto mit freundlicher Genehmigung von Goosens Management, der connACT Gmbh, Köln.




Hermann Ungars Roman „Die Klasse“: Ein Lehrer leidet wie ein Hund

Einer gegen alle: Der Lehrer Josef Blau fühlt sich immerzu von aufsässigen Schülern umzingelt und im Wesenskern bedroht. Falls er kein strenges Regiment führt und dabei jede Maßnahme strategisch plant, droht die allzeit schlummernde Rebellionsbereitschaft aufzulodern und ihn zu vernichten. So denkt Blau jedenfalls. Kein Augenblick, der nicht mit Angst getränkt wäre. Einer gegen alle, auch gegen sich selbst.

Hermann Ungar hat 1927 in seinem Roman „Die Klasse“ eine Innenansicht des Verfolgungswahns gezeichnet. Gemeint ist nicht nur die Schulklasse, sondern auch die Klasse als soziale Schichtung. Man kann hier schaudernd in die Gefühlswelt eines durch und durch verkorksten Pädagogen jener Zeit eintauchen. Vor allem in der ersten Hälfte liest sich das Buch über weite Strecken als aufregend dicht gewobenes Psychogramm, als beklemmende Studie einer Gemütskrankheit, die nicht nur zeitbedingte Seiten hat.

Das Elend dieses Lehrerdaseins wuchert weit über schulische Fragen hinaus. Auch privat fühlt sich dieser Josef Blau zuinnerst mickrig – neben seiner drallen Partnerin Selma, die ein Kind von ihm erwartet, was der Erzeuger freilich bloß als tragische Verstrickung erlebt, die er am liebsten aller Welt verschweigen würde. Mit dem feschen Leopold taucht just jetzt ein neuer Lehrertypus als Gegenfigur an der Schule auf; ein Mann der neuen Zeit, beliebt bei allen Schülern, Naturbursche und Turner, gewiss auch Frauenheld, wie Blau argwöhnt. Deshalb zwingt er Selma, der er pauschal Gelüste auf andere Männer unterstellt, bodenlange Röcke zu tragen und das Haar abzuschneiden, damit sie nur ja keine Begehrlichkeiten wecke. Das ganze puritanische Arsenal.

Zu allem Überfluss lässt sich Blau vom barock-gargantuesken „Onkel Bobek“, einer mit Inbrunst gezeichneten, vor Fress- und Sauflust schier berstenden Gestalt, eine namhafte Bürgschaft abschwatzen. Und das, obwohl der Lehrer (gerade im Vergleich zu seinen großbürgerlichen Schülern) in bescheidenen Verhältnissen lebt. Wehe also, wenn Bobek das Geld vertrinken sollte!

Auch damit noch nicht genug, es sammelt sich weiteres Unheil über diesem Hiob: Einziger Ratgeber Blaus ist eine Jugendbekanntschaft, ein mephistophelischer Mensch namens Modlizki, der alle Bürger mitsamt den Aufsteigern (auch Lehrer) hasst, jedoch mit den übelsten Schülern im zwiespältigen Bunde zu stehen scheint. Er geleitet die – wie man damals vielleicht gesagt hätte – „mannbaren“ unter ihnen auch schon mal ins „Frauenhaus“, vulgo Bordell, um sie zu verderben. Aus Lust an Skandal und Untergang flüstert er Blau einen Hinweis zu, wann es wieder so weit sein wird. Fürchterliche Folge: Der Schüler Laub (Obacht: die gleichen Buchstaben wie im Namen Blau) erhängt sich, weil er sich vom Lehrer am Ort der Fleischeslust ertappt sieht. Nun, das ist eben doch schon ein paar Jahrzehnte her.

Leider steigert sich die Geschichte von jetzt an geradezu haltlos in ein existenzielles, quasi-religiöses Läuterungsdrama hinein. Blau sieht nun überall Gotteszeichen, spricht gleichsam in Zungen, stammelt wie ein seltsamer Heiliger. Alles, was jemals von ihm ausgegangen ist, möge getilgt werden. Alle Menschen sind Schüler einer einzigen großen Klasse. Und überhaupt…

Trotz solcher Einwände lohnt es sich, Hermann Ungars Roman zu lesen. 1929 mit nur 36 Jahren gestorben, hat er ein schmales Werk geschaffen, das anfangs die Aufmerksamkeit, ja den Enthusiasmus Thomas Manns weckte, der allerdings bald vor Ungars Radikalität der Menschenschilderung zurückschreckte. Man hat ihn in einer Traditionslinie zwischen Kafka und Freud sehen wollen. Solche Vergleiche sind meistens misslich. Ungar ist Ungar. Und das ist in vielen Belangen mehr als genug.

Hermann Ungar: „Die Klasse“. Roman. Nachwort von Ulrich Weinzierl. Manesse Verlag. 320 Seiten, 19,95 Euro.




Zuerst die Musik, dann die Worte – das neue Programm der Ruhrtriennale

Heiner Goebbels, neuer Intendant der Ruhrtriennale. Foto: Triennale

Wenn der Intendant eines internationalen Festivals von Haus aus Komponist ist, kann es kaum verwundern, dass die Musik eine Hauptrolle im Programm spielt. Wie bei der Ruhrtriennale, deren Leitung Heiner Goebbels für die nächsten drei Jahre übernommen hat. Die Vorstellung seiner ersten Spielzeit hat nun beredtes Zeugnis davon gegeben. Oper, Konzert und Tanz stehen im Mittelpunkt. Und selbst die Theaterproduktionen entbehren kaum des Tönenden.

Goebbels ist im Ruhrgebiet kein Unbekannter, vielmehr – indirekt zumindest – ein Pionier all dessen, was sich die Triennale auf die Fahnen geschrieben hat. Denn seine Musik wurde von den Bochumer Symphonikern schon in der Jahrhunderthalle, also einer einst industriell genutzten Spielstätte, aufgeführt, als noch niemand an ein Festival mit ungewöhnlichen Aufführungsorten und Programmen jenseits des Mainstreams dachte.

Inzwischen hat sich die Triennale etabliert, wechselt alle drei Jahre der Intendant, und mit ihm ändern sich die Schwerpunkte. Goebbels sagt: „Uns geht es um die radikale Erneuerung des Musiktheaters. Dem Publikum wird Unerhörtes geboten, nicht das Repertoire der regionalen Bühnen. Wir wollen eine Kultur von allen für alle. Deshalb werden viele Mitwirkende aus dem Ruhrgebiet kommen.“

Begonnen wird mit einem Revolutionär unter den Komponisten, John Cage. Dessen „Europeras I/II“ sind in Goebbels Regie zu sehen. Ein musikalisches Konglomerat aus 64 Arien der europäischen Operngeschichte, geordnet nach dem Zufallsprinzip. Die Inszenierung in Bochums Jahrhunderthalle arbeitet mit 32 verschiedenen Bühnenbildern.

Carl Orffs „Prometheus“ folgt, in der Duisburger Kraftzentrale; ebenfalls ein Werk, das man auf gängigen Spielplänen vergeblich sucht. Ein „Sprach-Musik-Drama“ nennt Goebbels die Oper, deren Archaik sich schon durch die Besetzung mit einem 20köpfigen Schlagwerkensemble erschließt. Ähnlich perkussiv dürfte es auf der Halde Haniel in Bottrop zugehen – einer neuen Spielstätte –, wenn dort die japanische Gruppe Boredoms, verstärkt um Drummer aus der Region, Klangekstasen in die Nachtluft senden.

Der Blick auf den Tanz führt etwa zur Produktion „enfant“ für drei Maschinen, neun Tänzer und eine Gruppe Kinder in der Jahrhunderthalle oder zur Uraufführung der Performance „Le Sacre du Printemps“ des Choreographen Laurent Chétouane (Spielort PACT Zollverein).

Die Veranstaltungen, die unter der Rubrik Theater subsumiert sind, lassen nur selten die Musik außen vor. So ist „Life and Times – Episode 2“ eigentlich eine Musicalperformance des „Nature Theater of Oklahoma“ (PACT Zollverein). Romeo Castelluccis „Folk“ wiederum, zwischenmenschliche Formen wie Gemeinschaft, Trennung und Isolation diskutierend, arbeitet mit Bewegungsritualen und will die Grenzen zwischen Akteuren und Publikum aushebeln. Doch auch hier geht es nicht ohne Musik (von Scott Gibbons; zu sehen in der Gebläsehalle Duisburg).

Hinzu kommen klassische (Kammer)-Konzerte, Publikumsgespräche und Symposien. Das Thema „No education“ bezieht Kinder auf witzig-verspielte Art ins Programm ein. Sie werden sich alle Produktionen ansehen und am Schluss Preise vergeben – in selbst gewählten Kategorien. Tatkräftige Hilfe erhalten sie von der kanadischen Forschungsgruppe „Mammalian Diving Reflex“.

Dem Urteil der Jury dürfen wir ebenso gespannt entgegensehen wie dem Gesamtprogramm. Intendant Heiner Goebbels hat zwar auf ein übergeordnetes Thema verzichtet, doch trifft der Titel eines Opernlibrettos des 18. Jahrhunderts wohl den Kern: „Prima la Musica, poi le parole“. Zuerst die Musik also. Goebbels, darauf angesprochen, denkt nach und verweist auf den russischen Regisseurs Wsewolod Meyerhold.  Dessen Credo war: „Das Wichtigste … wofür ich kämpfe, ist die Untermauerung des Schauspiels mit einem musikalischen Fundament“.

 

Alle Einzelheiten zum Programm finden sich unter http://www.ruhrtriennale.de




Schuld und Sühne im Tessin – Dea Lohers Romandebüt „Bugatti taucht auf“

Es ist ein eher unbekannter Bugatti, der zu Beginn auf den Seiten dieses erstaunlichen Romans auftaucht: Rembrandt Bugatti, jüngerer Bruder des legendären Erfinders und Konstrukteurs Ettore. Dieser Rembrandt lebt zurückgezogen und unglücklich als Bildhauer. Aus seinen Tagebüchern aus den Jahren 1914/15 erfährt der Leser einiges über die stilprägende italienische Dynastie, aber auch aus dem tragischen, unglücklichen Leben des Rembrandt Bugatti, eines Menschen, für den die „Routine des Wiederkehrenden“ nicht tröstlich ist, sondern „der Beweis, dass es kein Entkommen gibt.“

Szenenwechsel: Gegenwart. Februar 2008. Im schweizerischen Locarno wird die Stranociada, der Tessiner Karneval gefeiert. Ein junger Mann, Luca, gerät unbeabsichtigt in eine alkoholisierte Auseinandersetzung, wird kaltblütig zu Tode geprügelt und getreten. Aus nüchternen Protokoll-Aufzeichnungen ergibt sich die Chronik eines beiläufigen und völlig sinnlosen Todes, das unfassbare, weil „triste Bild von jungen Leuten zwischen Langeweile und Überforderung, die nicht wissen, was sie tun und deren Lebensgefühl man vermutlich so zusammenfassen könnte: Was soll der ganze Scheiß?“

Szenenwechsel: Wir lernen Jordi kennen, einen Freund der Familie des getöteten Jungen aus dem Nachbarort Ascona, der dort eine Unterwasserfirma besitzt und „sich ungeheuerlich schämte, ohne zu wissen, wofür. Einfach für das, was passiert war.“ Jordi ist ein durch und durch integrer, moralischer Mensch. Er will es nicht hinnehmen, dass diese Tat ungesühnt bleibt, er will der im Tessin schwelenden, zuweilen hysterischen Aufregung etwas entgegenhalten, den Tätern keine größere Bühne bieten als unbedingt nötig. Er will der Sinnlosigkeit, dem Unfassbaren „eine andere Handlung entgegensetzen, die den Ausschlag dieser Waage veränderte, etwas gutartig Schönes [….] etwas, was dem Schrecken [….] trotzen konnte [….] eine Geschichte, die von irgendwo her kam und von der man nicht sagen konnte, wo sie enden würde. Ein Riesending, ein Zartes.“

Jordi erinnert sich an einen alten Asconeser Mythos. Es geht die Legende, dass auf dem tiefsten Grund des Lago Maggiore ein alter Bugatti ruht. Bewiesen wurde diese Legende nie, mehr denn ein vage als Radnabe zu interpretierendes Etwas hat kein Taucher je gesichtet. Jordi versucht mit Hilfe von Freunden und Familie, das Unmögliche möglich zu machen und nach einigen Rück- und Schicksalsschlägen gelingt es ihnen in der Tat. Sie bergen den erstaunlich gut erhaltenen Bugatti, lassen Piazza und Promenade sperren und den Bugatti aus dem See öffentlichkeitswirksam auftauchen. „Sie machten es für Luca, der am 1. Februar ermordet wurde. Und dann organisierten sie ein großes Fest. An einem Sonntagmorgen. Und es kamen viele Leute, viel mehr Leute, als sie erwartet hatten.“

Die Geschichten, die die Dramatikerin Dea Loher in ihrem Romandebüt erzählt, fußen allesamt auf realen Ereignissen. Im Roman wird er Luca genannt, in der ebenso unfassbaren Realität war es der junge Student Damiano, der in einer Februarnacht beim Locarneser Karneval jenen grundlosen und brutalen Tod starb. Seine Familie und seine Freunde gründeten zur Trauerbewältigung die Fondazione Damiano Tamagni und kamen auf die Idee, dem Mythos des Bugatti-Wracks im Wortsinne auf den Grund zu gehen. Beide Ereignisse haben im Tessin hohe Wellen geschlagen. Als der Bugatti auftauchte, war es ein Riesen-Ereignis im kleinen Ascona und auch ein kollektives Aufatmen. Der Bugatti wurde für 230.000 Euro versteigert, dieses Kapital bildete den Grundstock für die bis heute bestehende Stiftung.

Auf nur etwas mehr als 200 Seiten hat die Autorin ein Werk von beeindruckender Komplexität geschaffen. Für jeden Erzählstrang der miteinander verwobenen Geschichten findet sie eine eigene, authentische Sprache. Die schreckliche Tat beschreibt sie dokumentarisch. Nicht die ihrer Schuld ausweichenden Täter macht sie zu Romanfiguren, sondern Jordi, seine Freunde und seine weisen Ratgeber. Nicht die Gewalttat ist das Thema des Romans, sondern der Versuch, dem Verlust von Lebensträumen eine Aktion gegen Sinn- und Hilflosigkeit entgegenzusetzen. So wie Asconas berühmter Berg, der Monte Verità, nie sein Versprechen auf Wahrheit einlöst, so kommen auch die Freunde des Ermordeten der Wahrheit oder dem Sinn hinter der schrecklichen Tat nicht näher.

Der Bugatti im See war lange nicht mehr als eine Legende der Moderne, die Fondazione ist eine Sühne, ein Versuch der Wiedergutmachung. Beidem setzt Lea Doher nun ein bewegendes literarisches Denkmal. Die vorgeschaltete Geschichte der Familie Bugatti sowie die später von einem Ratgeber Jordis enthüllten Geschehnisse rund um den Bugatti und dessen unvergessenen Fahrer René Dreyfus dienen der Gegenwartsgeschichte dabei als Reflektor. Der radikal kühlen Sprache in den Protokollen zur Tatnacht setzt die Autorin bei der Erzählung von Jordis Geschichte eine vorsichtige, rücksichtsvolle, poetische Sprache entgegen, die das filigrane Gewebe von Schuld und Sühne, Trauer, Verlust und Aufarbeitung schützt. Manche Sätze entfalten eine ungeheure Leuchtkraft, leuchtend wie das berühmte Tessiner Licht in seinen besten Momenten.

„Bugatti taucht auf“ wurde von der Kritik bisher einhellig gelobt und gefeiert. Ich möchte aus persönlichen Gründen noch einen Aspekt zufügen, der bisher wenig bis kaum Erwähnung fand: Auch für meine Familie spielt Ascona seit Jahrzehnten eine große Rolle. Erstaunlich viele Familien aus dem Ruhrgebiet treffen sich dort seit Generationen, pflegen Freundschaften untereinander und mit Alteingessenen. Genau wie Jordi stehe auch ich manchmal auf der Piazza und gerate ins Fantasieren, wie es in Ascona früher gewesen sein mochte, seit ich – wie Jordi – bei den Großeltern ein Foto von früher fand.
Ascona, schätzungsweise frühe 50er Jahre, gefunden im Album meiner Großeltern
Wie Jordi sind viele, die Ascona kennen, dem Ort in einer Art ambivalenter Hassliebe verbunden. Ascona war ungeachtet seiner pittoresken Fassade noch nie eine leichte Adresse. Es war sicher nicht Dea Lohers Hauptanliegen, Ascona und seine Bewohner zu charakterisieren, aber dennoch ist ihr dies ausgezeichnet und bei aller spürbaren und berechtigten Kritik doch liebevoll und wahrhaftig gelungen. Es ist auch der Ort und das über ihm schwebende Flair eines bedauernden „Tempi passati“, die eine Geschichte wie die des Bugatti erst möglich machten. Die unterschwelligen Schwingungen und Befindlichkeiten des Ortes, der seit Jahren zwischen Magie und Spießbürgertum verharrt, erfasst sie ebenso genau wie das Entsetzen über die unfassbare Tat, welches das gesamte Locarnese lange gefangen hielt. Sätze wie die über den sich esoterisch spreizenden, schlussendlich aber traurigen Monte Verità formulieren eine Wahrheit, wie ich sie besser formuliert noch nicht gelesen habe. Sätze, die ich am liebsten auswendig lernen würde, um sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzubringen.

Fazit: Gut möglich, dass ich mein Buch des Jahres bereits gefunden habe, „Bugatti taucht auf“ ist eins der beeindruckendsten Romandebüts, die ich bisher gelesen habe. Prädikat: Sehr empfehlenswert.

Die Autorin ist eine der bekanntesten Theater-Dramatikerinnen unserer Zeit. Sie studierte u,.a. bei Heiner Müller und erhielt für ihre Werke zahlreiche Auszeichnungen. Ihre Werke beschäftigen sich oft mit den Themen Schuld, Trauer und Vergebung.

Dea Loher: „Bugatti taucht auf“. Wallstein Verlag, Göttingen. 208 Seiten, € 19,90

Links zu den Hintergründen der realen Geschehnisse:
Die Bergung des Bugatti und
Die Geschichte der Fondazione Damiano Tamagni




Titanic: Der Mythos lebt weiter

Das neue "Titanic"-Building in Belfast/Nordirland. Foto: Häußner

An einen Schiffsbug erinnern die vier Spitzen des Ende März eröffneten "Titanic" Buildings in Belfast/Nordirland. Foto: Häußner

Um 2.12 Uhr nachts kündigt sich das Ende an: Ein Ruck, ein Zittern, dann beginnt sich das Schiff zu drehen, hebt sein Heck aus dem eiskalten Wasser. Sechs Minuten lang steigt das Ruder aus dem Meer, ragen die riesigen Schrauben in die klare Luft.

Um 2.18 Uhr donnert es im Rumpf des Giganten. Die gewaltigen Maschinen, die 50 000 PS auf die drei Schiffsschrauben brachten, rauschen durch den Schiffskörper, losgerissen aus ihren Verankerungen. Es ist das Todesbrüllen des Meeresriesen: Die Lichter erlöschen; zwei Minuten später gleitet die „Titanic“, in zwei Teile zerbrochen, fast geräuschlos in die Tiefe. 1 500 Menschen reißt sie in den Tod. Nur gut 700 werden gerettet. Das Ende des als unsinkbar gepriesenen Dampfers auf seiner Jungfernfahrt wird zum Mythos.

Mit der Zahl der Opfer ist der Mythos „Titanic“ nicht zu erklären: Die Geschichte der Seefahrt kennt weit höhere Verluste. So sterben alleine 1945 auf den drei Schiffen „Wilhelm Gustloff“, „Goya“ und „Cap Arcona“ jeweils zwischen 5 000 und 9 000 Menschen, als die Flüchtlingstransporte von alliierten Kräften versenkt werden. Doch die Tragödie der „Titanic“ ist mehr als eine Schiffskatastrophe: Sie steht für den gebrochenen Stolz einer technikgläubigen Zeit, für das Ende der „Belle Epoque“ mit ihrem Kontrast von Luxusglanz und Elend. Sie wird als Menetekel der nahenden Katastrophe gesehen, die wenige Jahre später das alte Europa ins Verderben reißen sollte. Und sie wirkt – wie der Turmbau zu Babel – als ein Symbol überheblicher Selbstüberschätzung des Menschen. Für sich gesehen unbedeutende Versäumnisse führen in ihrer Summe zu einem Unglück, das die Menschen an Bord des Schiffes nicht einmal wahr haben wollen, als es schon zu spät ist: Während in den unteren Kabinen der Dritten Klasse schon das Wasser steht, plaudert man in den Salons noch unbeschwert bei Brandy und Zigarren.

Die trügerische Zuversicht, die viele Passagiere blind auf die Allmacht der Technik vertrauen ließ, soll ein Steward in einem Satz zusammengefasst haben, den der Überlebende Albert Caldwell überliefert hat: „Nicht einmal Gott könnte dieses Schiff versenken“. Der Würzburger Fundamentaltheologe Elmar Klinger bezeichnet die Symbolik des „Titanic“-Untergangs als religiös: „Man hielt die ‚Titanic‘ für eine Großtat des Menschen, einen Triumph über die Natur. Und dann führt eine Verkettung banaler Umstände zum Untergang. Genau hier finden wir eine religiöse Faszination. Jeder kennt solche Situationen.“ Klinger weiter: „Ich sehe in der Katastrophe ein ‚Zeichen der Zeit‘. Es ist der Gegensatz von menschlicher Höchstleistung und menschlichem Versagen. Man entdeckt die Hinfälligkeit all dessen, was von Menschen gemacht ist. Das ist charakteristisch für das menschliche Leben überhaupt.“

In einem vor wenigen Wochen erschienenen Buch geht auch die Kultur- und Musikwissenschaftlerin Linda Maria Koldau auf die „Legenden“ um die „Titanic“ ein. Ihr geht es nicht nur darum, die Überlieferung von falschen Tatsachenbehauptungen zu reinigen, die sich nicht zuletzt durch die finanziellen Interessen der Reederei in die offiziellen Protokolle und Berichte eingeschlichen haben. Denn der White Star Line, aber auch der für den Funkverkehr verantwortlichen Marconi-Gesellschaft ging es laut Koldau darum, „Fakten zu verzerren und zu verschleiern und Unschuldige zu Schuldigen zu stempeln“.

Hätten die Konzerne haften müssen, wären immense Kosten auf sie zugekommen. Dies galt es, unter allen Umständen zu verhindern. Koldau kommt zu dem Schluss, dass Raffgier eine entscheidende Ursache für das Unglück war: Die Funker an Bord haben nicht nur Eiswarnungen nicht weitergegeben, sondern auch zu lange gezögert, das damals noch relativ neue Notsignal SOS zu morsen. Geholfen hätte es freilich nichts: Der „Titanic“ am nächsten stand die „Carpathia“, die sofort mit voller Kraft dem havarierten Schiff zu Hilfe eilte. Sie benötigte dennoch vier Stunden – viel zu lang, um die Menschen des rasch sinkenden Stolzes der „White Star Line“ noch zu retten. Dass der Funker des einzigen Schiffs in der Nähe, der „Californian“, gerade einmal zehn Minuten vor der Kollision der „Titanic“ mit dem Eisberg zu Bett ging, gehört zu den absurden und schicksalhaft scheinenden Momenten der Tragödie.

Koldau, derzeit noch in Aarhus in Dänemark lehrend, nimmt sich auch die Mythenbildung vor. Sie entdeckt in der „Titanic“-Katastrophe ein „perfektes Drehbuch“, gebildet nach dem Muster der griechischen Tragödie: Der Mythos vereine zentrale Motive des Erzählens in Reinkultur. Auch sie bescheinigt dem Mythos, nach und nach religiöse Züge angenommen zu haben.

Ein Mythos, der im Sinne des Philosophen Paul Ricœur neue Bereiche von Welterfahrung erschließt. In der „Mythisierung“ der „Titanic“-Geschichte geschieht eine Sinn-Schöpfung. Vielleicht ist das auch ein Weg für die Nachwelt, das zutiefst Sinnlose einer solchen Tragödie zu bewältigen. Bei einer Analyse im Sinne der „Metaphern des Bösen“ von Ricœur dürfte sich zudem bestätigen, dass der „Titanic“-Mythos auch dazu taugt, die zerstörerische Macht des Bösen zu erweisen: Er konstituiert einen Zusammenhang des Verderbens, der über Schuld oder Verantwortung des Einzelnen hinausgeht.

Die Geschichte vom Untergang der „Titanic“ ist jedoch auch eine Erzählung ergreifender Einzelschicksale: Von unglaublichen Zufällen, die zur Rettung führen. Von Feigheit und Verzweiflung. Von Edelmut und Größe. Von der Souveränität, mit der Menschen ihr Schicksal zu tragen wissen. Von Gentlemen, die im Angesicht des sicheren Todes Frauen und Kinder in die Boote geleiten und selbst zurückbleiben. Von dem alten Ehepaar Isidor und Ida Strauss, das so lange zusammen gelebt hat und nun auch zusammen sterben will. Von Priestern wie Pater Joseph Peruschitz aus Scheyern oder Thomas Byles, Pfarrer aus Ongar in Essex, die bis zum Schluss die Menschen beruhigen, tröstende Worte sprechen. Statt den angebotenen Platz im Rettungsboot einzunehmen, beten sie mit den Menschen noch, als sich das Heck schon aufrichtet, um Minuten später in die Tiefe zu fahren.

Oder von den Musikern um Kapellmeister Wallace Hartley, von denen keiner überlebt. Ob es der Gassenhauer „Autumn“ war oder der Choral „Näher mein Gott zu Dir“: Tapfer spielen sie, bis sie von Deck stürzen. Beiden, den Priestern und den Musikern, hat James Cameron in seinem soeben wieder in die Kinos gekommenen „Titanic“-Film wenigstens in kurzen Sequenzen ein Denkmal gesetzt.

100 Jahre später ist die Erinnerung an die „Titanic“ und ihre Opfer ungebrochen. Die letzte Überlebende, Millvina Dean, starb zwar 2009 – doch die Geschichte des Untergangs wird weitererzählt: Der Mythos sei unsinkbar, sagt Autorin Koldau. In Belfast in Irland, wo der Ozeanriese auf der Werft Harland & Wolff gebaut wurde, in Southampton, wo die Jungfernfahrt begann, im irischen Cobh (Queenstown), wo die „Titanic“ zu ihrer letzten Station anlegte, erinnern in diesen Tagen Ausstellungen, Veranstaltungen und Gottesdienste an das Unglücksschiff und seine Menschen.

In Belfast entwickelt sich ein ganzer neuer Stadtteil im Zeichen der „Titanic“. Ende März wurde ein 97 Millionen Pfund teures neues „Titanic Building“ eingeweiht. Vier Spitzen, die an einen Schiffsburg erinnern, sollen an die vier Epochen des Schiffsbaus in Belfast erinnern; der Glaskern des Baus an den Verderben bringenden Eisberg. Jeder Bug ist genauso hoch, wie die „Titanic“ von Kiel zu Deck war. Es steht in der Nachbarschaft zu den Resten des Docks, in dem die Schwesterschiffe „Titanic“ und „Olympic“ gebaut wurden. In einer aufwändigen multimedialen Inszenierung will es die Zeit vor 100 Jahren erlebbar machen, als die irische Stadt das Zentrum des Schiffbaus weltweit gewesen ist.

Das erwähnte Buch: Linda Maria Koldau „Das Schiff, der Untergang, die Legenden“. C. H. Beck Verlag, 303 Seiten, 19,95 Euro.




Wie sich Pflegedienste nennen

Wer zählt noch die putzmunteren Glossen über Friseurläden und deren abgrundtief pfiffige Namen? Nein, damit hat man längst aufgehört. So wohlfeil ließ es sich stets über haarige (!!!) Wortspielchen witzeln, dass einem die – na? na? – Haare (!!!) zu Berge standen. Harr, harr, harr.

Immer mit Herz... (Foto: Bernd Berke)

Immer mit Herz… (Foto: Bernd Berke)

An dieser Stelle also nichts mehr über Coiffeure als Wortjongleure. Im Rahmen unseres Forschungsbereichs „Sondersprachen“ (bisherige Projekte: Maklerdeutsch und Weinverkostungsjargon) wenden wir uns hingegen umso lieber den Pflegediensten zu, die in der Seniorenrepublik vielfach florieren, jedoch füglich auf sich aufmerksam machen sollten, denn die Konkurrenz schläft nicht.

Stockseriös, wie wir sind, verlassen wir uns auf eine einzige Quelle, nämlich auf das bundesweite Verzeichnis http://www.pflegedienst.de
Dort lassen sich die Namen wohl aller relevanten Einrichtungen des Gewerbes aufrufen. Das wollen wir jedenfalls stark hoffen. Falls nicht, so haben wir eben Pech gehabt.

Gewiss. Das Gros der Pflegedienste benennt sich ausgesprochen nüchtern und sachlich. Wir wollen annehmen, dass dort just so und trotzdem nicht herzlos gearbeitet wird, wie wir überhaupt nur das Allerbeste vermuten möchten. Dass sich hinter Pfleko GmbH ein dezenter Hinweis auf Pflege-Kosten verbirgt, das halten wir unter allen Umständen für ausgeschlossen.

Manche Marktteilnehmer treiben sprachliche Blüten, dass einem Tränen der Rührung kommen. Idiom der Wahl ist vor allem das Lateinische, gelegentlich auch das Griechische, es klingt so gediegen, gebildet, vertrauenswürdig, so wissenschaftlich und human(istisch). Beispiele fürs antikisch gewandete Allzumenschliche:

Humanitas, Humanika, HU-MA, Harmonica, Angelus, Domus, Visita, Sanitas, Prosano, pro sana, Procura, Curatio, Manus, Sensorium, Philantrop (sic! Es fehlt das zweite „H“, als sei man in traurigen Tropen gelandet).

Ach, wer da mitmenscheln könnte! Mitunter wird auch auf Deutsch gesäuselt und geraspelt, das hört sich dann so herzerwärmend an:

Die Hausgeister GmbH, Hausengel, Engel, Sonnenblume, Die Sonne, Regenbogen, Sorgsam GmbH, Pflege mit Herz.

Englisch gilt hingegen als zu jugendlich und genießt daher in diesen Kreisen keine Dignität, es waren nur drei Beispiele zu finden:

Home Care, Home Instead, CarePlus.

Auf medizinische Fertigkeiten pocht man hingegen gern, etwa so:

MedKontor, medicur, medi top, Medi Vario, Medilux, Medicura, MOBImed, Vita Med, Aeskulap.

Mehr noch. Gerade hier, wo es sich bisweilen dem Ende zuneigt, wird das Leben inbrünstig beschworen:

pro vita, Mediavita, Samavita, Vital, Vivus, Coravita, movita.

Und wo manche Klienten vielleicht nur noch dahindämmern, wird das aktive Dasein im Versicherungs-Sound (Standardausführung) gepriesen:

Aktiv, Aktiva, Futura, Inova.

Schließlich jene Fügungen, die etwas origineller wirken sollen:

Hallo Schwester, OMA, doppel.herz, LichtBlick, Polonia, Camelot, Theseus, Pflegemanufaktur 24, Quo Vadis…

Ja, wohin nur, wohin? In einem Fall könnte übrigens eine Marken-Kollision vorliegen. Wir verraten aber nicht, in welchem.

Zur wissenschaftlichen Abrundung folgt nun noch ein

statistischer Nachspann:

Die Anzahl der verzeichneten Pflegedienste korreliert, von den ersten beiden Plätzen abgesehen, keineswegs mit den Einwohnerzahlen. Hannover und Düsseldorf fallen weit ab, Stuttgart und Essen hingegen erweisen sich geradezu als Pflege-Metropolen. Woran liegt’s? Mit der schonungslosen Recherche werden wir unser Forschungsteam „Städte mit und ohne Herz“ betrauen. Hier schon einmal die schockierende Liste:

Berlin 203
Hamburg 98
Stuttgart 65
Essen 49
München 46
Köln 42
Wuppertal 29
Bremen 26
Dresden 20
Frankfurt 20
Duisburg 18
Rostock 17
Nürnberg 16
Leipzig 16
Dortmund 16
Kiel 15
Wiesbaden 15
Düsseldorf 11
Hannover 11

P. S.: Ironiemodus aus. Bitte von sauertöpfischen, sozialpolitisch korrekten Kommentaren Abstand nehmen, so schwer es auch fällt. Dem Verfasser ist bewusst, dass viele Pflegekräfte aufopfernd tätig sind – und das zumeist für sehr bescheidenes Salär.




Fachwerk neben moderner Architektur im Hagener Freilichtmuseum

Nach längerer Zeit waren wir mal wieder im Hagener Freilichtmuseum. Offiziell heißt es ja „LWL-Freilichtmuseum Hagen – Westfälisches Landesmuseum für Handwerk und Technik“ und liegt zwischen Wald und Landwirtschaft im idyllischen Mäckingerbach-Tal am Südrand der Stadt.

Ein altes Antriebsrad im Museum Hagen. (Foto: Ruhrtourismus)

Von früheren Besuchen mit den Kindern in deren Anfangsjahren kannten wir vieles, aber noch nicht den neuen Eingangsbereich und die NE-Metallwerkstätten und –gießereien, den schnuckeligen Friseurladen und das gerade eröffnete Restaurant.

Dieser glatte Neubau mit der großen Terrasse spaltet offensichtlich die Geister. Sowohl aus den Gesprächen anderer Besucher als auch aus den Kommentaren in der Familie kann man überwiegend Ablehnendes hören. Ähnlich der Glaspyramide am Louvre beißt sich die moderne Glas-Holzkonstruktion natürlich mit dem großen Fachwerkhaus, in dem das Schmiedemuseum untergebracht ist und an das die Gastwirtschaft direkt angeschlossen wurde, aber gerade dieser Kontrast ist sicher gewollt.

Im großen Paris haben sich die Touristen und Einheimischen längst an den spannenden Gegensatz gewöhnt, vielleicht kommt das im Kleinen ja auch im Sauerland so. Ich persönlich finde das Projekt jedenfalls gelungen – „Handwerk und Technik“ zeigen sich schließlich auch im zeitgenössischen Bauwesen.




Meilensteine der Popmusik (9): Rod Stewart

Den Hüftschwung von Elvis, die Grazie eines John Travolta, eine Ausstrahlung fast schon wie Michael Jackson, die blonde Mähne trug er schon Jahrzehnte vor John Bon Jovi, nur die Stimme war und ist unverwechselbar.

Every picture tells a story

Rod Stewart hatte für all das Zeit genug, um es intensiv zu üben. Vom Skiffle zur Folkmusik, vom Blues dann endlich zum Rock. Der Anfang einer Karriere im Schnelldurchgang: Von Long John Baldry auf einem Bahnsteig Mundharmonika blasend entdeckt, spielte er mit Brian Auger, Julie Driscoll und Jeff Beck, bis ihn schließlich Ron Wood zu den Faces holte. Zwei Plattenverträge hatte der 23-jährige plötzlich in der Tasche. Einen für die Gruppe, den anderen als Solist. So ausgestattet, galt es weiter am Image zu basteln. Zuerst musste man dem Publikum beim Vortrag etwas zeigen, und zwar mehr als nur den Rücken. Diese Haltung bevorzugte Rod, der Schüchterne, bei seinen ersten Auftritten, er traute sich nicht, dem Publikum in die Augen zu schauen.  Als er sich zum ersten Mal umdrehte und sich dem Publikum zeigte, ging auch gleich der Schweinehund mit ihm durch.

Wer einen seiner Auftritte in den 70ern miterleben konnte, hatte es ganz schnell begriffen: Die ersten Reihen waren preislich reserviert; für die Freier mit ihren Miezen, eingelullt in einen Hauch von teurem Schlangenleder und süßlichem Parfüm. Hie und da noch ein erfolgreicher Gebrauchtwagenhändler, dahinter dann der kreischende Mob. Den kleinen Mädchen zeigte Rody in hautengen Satinhosen, was ein echter Kerl ist. Das Motto des Gesamtkunstwerks: Trinkfestigkeit, Weibergeschichten und Fußball. Draußen vor der Halle standen die verschreckten Eltern und sammelten ihre verstörten Kleinen wieder auf. Mindestens 15 Jahre Erziehung waren so im Eimer, nur die Mutter fragte leise: „Hat er auch ‚Sailing‘ gesungen?“ So hatte Rod Stewart die Generationen wieder im Griff.

Als er 1971 seine LP „Every picture tells a story“ veröffentlichte, war das alles noch nicht so vorherzusehen. Rod Stewart nahm eine Handvoll guter Musiker (unter anderem seine Gruppe Faces) mit ins Studio und schrie sich die Seele aus dem Leib. Und auch seine Kumpels prügelten ihre Instrumente, als ob es ihre letzte Chance wäre. „Every picture tells a story“ brachte Rod Stewart überraschend die erste Nummer 1. Zudem auch noch mit der Single „Maggie May“, die eigentlich nur als B-Seite vorgesehen war, und als Notlösung für diese LP galt. Das Ganze passierte sogar im Schlaraffenland Amerika. Dort hatte man gerade den Rock entdeckt.

Wenn er auch heute, in die Jahre gekommen, die speckigen Hüften im Maß-Sakko versteckt, möchte man ihm ab und zu immer mal wieder kräftig und aufmunternd auf die Schultern schlagen: „Hey, alter Knabe, lass´die Fisimatenten…die 60er sind noch nicht ganz tot, sie leben … noch eine Runde!“

ROD STEWART on dailymotion




Zum Tod des „Revierflaneurs“

Sein Blog www.revierflaneur.de war eines der anspruchsvollsten im Lande. Seine stupend kenntnisreichen Streifzüge auch durch entlegene und buchstäblich erlesene Gefilde der Literatur haben oft genug Neuland erschlossen, Hochinteressantes, meist von den Rändern her betrachtet. Beobachtungen des Flaneurs in seinen Essener Revieren konnten noch das Unscheinbarste erhellen, ja leuchten lassen; ganz ohne alle Ruhrgebiets-Klischees.

Jetzt ist der „Revierflaneur“ Manuel Hessling verstorben. Viel zu früh. Bestürzend früh. Man will es nicht wahrhaben. Sein Tod lässt einen nicht in Ruhe. Ganz so, wie er in kontroversen Diskussionen ungern Ruhe gegeben hat.

Manches hat er harsch verweigert, mit großer, geradezu erhabener Konsequenz. Er war ein entschiedener Gegner und Verächter des Autowahns, der Fernsehverblödung. Unausweichlich schien ihm die Apokalypse, der Niedergang der Menschheit, doch ohne jeden Trost der Religion. Glühend hat er für den Atheismus gestritten, darin fast schon wieder gläubig.

Wir haben einige Jahre nebeneinander her geschrieben, er war stets der Fleißigere, in gewisser Hinsicht auch der Unerbittlichere, der sich am Schreibtisch geradezu aufreiben konnte, unbestechlich, doch manchmal hochfahrend im Urteil. Ungenaue Formulierungen waren ihm ein Gräuel. Seine Texte hat er geschliffen wie Diamanten. Doch gerade einen solchen Vergleich hätte er wohl nicht gemocht.

Im Kulturblog „Westropolis“ (WAZ-Gruppe, 2007-2010) haben wir parallel gebloggt – und uns gelegentlich auf langen Kommentarstrecken bis ins Grundsätzliche hinein gestritten. Zwischenzeitlich sind wir gar vom „Du“ zum „Sie“ zurückgekehrt. Auf dem weiten Felde des Streits, der Auseinandersetzung schien er sich besonders wohl zu fühlen, allerdings nicht ohne Hang zur Versöhnlichkeit. Doch er wollte, dass man das Streiten ernst nahm, dass man nicht ins Unverbindliche auswich. Jede Art von Larifari war ihm zuwider.

Wunderbare Literaturrätsel hat er seinerzeit ersonnen, die das Feuilleton jeder überregionalen Zeitung geschmückt hätten. Wie ein gütiger Herbergsvater hat er mehrmals die „Westropolis“-Autor(inn)en versammelt. Es waren beinahe schon familiäre Treffen. Da zeigten sich seine anderen, nicht minder gewichtigen Seiten: das Gesellige, Humorvolle, die wache Bereitschaft zum höheren Nonsens.

Von Haus aus war er Buchhändler – und gewiss einer, der lesekundige Menschen noch richtig beraten konnte, darin vielleicht auch einem erzieherischen Impuls folgend. In letzter Zeit hat er nach und nach Teile seiner riesigen Büchersammlung verkauft – und darüber geschrieben, bibliophile Preziosen wie Freunde verabschiedend. Es tat schon weh, davon zu hören. Ich habe mir vorgestellt, dass mit jedem abgegebenen Buch der Besitzer gelitten hat. Er hat diese Befürchtung abgetan, als ginge es just um irdische Güter, von denen man sich ohnehin irgendwann trennen muss.

In den letzten Jahren hat er sich aufs Schreiben für sein eigenes Blog konzentriert, das reiche Früchte trug. Jeglichen Tag unterzog er sich der Arbeit am Text. Ich habe versucht, ihn als Autor für die „Revierpassagen“ zu gewinnen, er hat sich Bedenkzeit erbeten und sich dann doch fürs eigene Gelände entschieden. Aus seiner Sicht war das wohl richtig, denn er war letzten Endes ein Einzelkämpfer.

An der Frequenz, nicht aber an der Qualität seiner Beiträge hat man schließlich merken können, dass ihn offenbar die Kräfte verließen. Ein großer Optimist ist Manuel Hessling nicht gewesen, doch in seinem letzten Blog-Artikel vom 5. März weht mehr als ein Hauch von Melancholie. Und wenn man einen Wunsch äußern dürfte, so wäre es dieser: dass sein Blog zum Lesen, Denken und Andenken bestehen bleibe. Wer weiß, was da noch nachwirkt.

Manuel Hessling hinterlässt seine Frau Ursula und fünf Kinder. Ihnen gilt alles Mitgefühl.




Ein Nachtwächter mit Rübenkraut in der Mütze

Manche Traditionen sehen wir heute nur noch als romantische Folklore, obwohl sie ursprünglich einen sehr praktischen und wichtigen Grund hatten. Dazu gehören auch die Nachtwächter – ein Begriff, der heute gelegentlich nur noch als Schimpfwort benutzt wird.

„Die Aufgabe des Nachtwächters war es, nachts durch die Straßen und Gassen der Stadt zu gehen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er warnte die schlafenden Bürger vor Feuern, Feinden und Dieben. Er überwachte das ordnungsgemäße Verschließen der Haustüren und Stadttore, und häufig gehörte es auch zu den Aufgaben des Nachtwächters, die Stunden anzusagen.“ So beschreibt Wikipedia die historische Aufgabe.

Tourismusexperten haben seit Jahren den Werbeeffekt eines Nachtwächters entdeckt. Führungen mit entsprechend verkleideten Personen sollen Besucher der jeweiligen Stadt amüsieren. In Bad Bentheim zum Beispiel übernimmt eine Frau diese Rolle, und es gibt kaum eine Stadt zwischen Rothenburg und Rheine, die nicht eine Nachtwächter-Führung aufzubieten hätte.

Eine ganz andere Geschichte und Funktion hat der Nachtwächter in Ennepetal. Jeweils zur Kirmes im Juni wird ein in Fragen der Heimat verdienter Bürger als „Ehrennachtwächter“ ausgewählt, der dann mit Hellebarde, Laterne und Horn ausgestattet und im Blaukittel der Ambossschmiede gekleidet an der Spitze des Kirmeszuges durch die Stadt gefahren wird.

Diese Tradition geht auf einen ganz bestimmten Nachtwächter zurück, der von 1886 bis 1906 im heutigen Stadtteil Voerde seinen Dienst versah und der als besonders lustiges Original in Erinnerung blieb. Willi Koch, so hieß der trinkfreudige Mann, bekam später sogar ein bronzenes Denkmal gesetzt. Weil er einmal eine mit Rübenkraut gefüllte Mütze auf den Kopf gesetzt bekam, gibt es heute noch zur „Voerder Kirmes“ und bei den Treffen der ehemaligen Ehrennachtwächter jeweils den Schlachtruf „Kruut Voerde“ zu hören.




Gestern, heute, morgen am liebsten keine Grass-Debatte

Schon von Anfang an haben mich ein Unbehagen und eine ausgeprägte Unlust beschlichen, mich in die allfällige Grass-Debatte zu mengen. Schnellfertige Schuldzuweisungen, harsche Positionierungen und Denkverbots-Umständlichkeiten waren zu erwarten. Tatsächlich hat sich das mediale Gestrüpp inzwischen derart verheddert, wie man es aus manchen früheren Grass-Debatten kennt. Grass selbst möchte jetzt nicht mehr so recht zu seinem „Gedicht“ (literarisch drittklassig, weil platte Meinungsprosa, vom Inhalt mal abgesehen) stehen und sagt, er hätte es anders formulieren sollen. Mit anderen Worten: Die sprachlichen Mittel stehen ihm offenbar nicht mehr zu Gebote, er schreibt tatsächlich mit „letzter Tinte“.

Doch nun kein Wort mehr davon. Möge das Gerede über den eitlen Großdichter bald wieder abschwellen. Es gibt so vieles, was nicht gesagt werden mus…




Meilensteine der Popmusik (8): Dire Straits

An einem lauen Sommerabend entspannt auf der Veranda im Schaukelstuhl kauernd, auf den Knien sanft die Gitarre streichelnd, dazu einen zumeist banalen Text zu einer sanften Melodie vor sich hin nuschelnd. Ganz zurückgenommen, geradezu „laid back“ (wenn man es englisch ausdrückt) hatte J.J. Cale aus Oklahoma Anfang der 70er seine kleine Karriere begonnen. Viele berühmte Zupfkollegen beneideten ihn um diese lässige Spielweise. Genauso lässig war die Person von Cale. Er hasste das Drumherum des Showbiz, mied Plattenstudios und Promotion-Auftritte. Seine Lieblingsbühne waren die heimische Veranda, oder die Kneipe nebenan. Diese Art des „Laid Back“ weltweit in die Charts zu bringen, blieb einem ebenso unscheinbaren Gitarristen aus Großbritannien vorbehalten.

Der ehemalige Lokaljournalist und Teilzeit-Englischlehrer Mark Knopfler war Mitglied einer kleinen Musiker-Kommune im Süden von London. Die Vorzeichen für einen auch nur kleinen kommerziellen Erfolg waren in einer Punk- und New-Wave-Welt nicht unbedingt gut. Folglich nannte man sich Dire Straits (etwa: unwahrscheinlich knapp bei Kasse, absolute Pleite). 120 Pfund für Demo-Bänder waren trotzdem noch übrig. Gut angelegt die Kohle, denn ein DJ der BBC spielte die Newcomer wöchentlich in seiner Radio-Show. Schließlich wurde ein Talent-Scout auf die Straits aufmerksam. Zunächst konnten sie sich als Liveband beweisen, zum Beispiel im Vorprogramm von den „Talking Heads“, „Climax Blues Band“ oder auch „Styx“.

Ihre erste Single erschien im Mai 1978, vier Wochen später die Debüt-LP. Beide bekamen beachtliche Kritiken, doch die Verkäufe blieben erst einmal im Keller. Zum Glück blieben die Dire Straits nicht ewig ein Geheimtipp. Viel Promotion und vor allem Mundpropaganda bewirkten nach einem halben Jahr den Aufstieg in die Spitzenregionen der europäischen Hitparaden. Nun mussten auch die US-Plattenbosse ran. Diese hatten sich lange genug gegen diese konventionelle, so gar nicht modische Musik, wehren können. Sie täuschten sich, das Verkaufsergebnis ergab: Platin.

Mark Knopfler und seine Dire Straits bekamen von all dem recht wenig mit, sie arbeiteten auf den Bahamas schon am neuen Album. Dieses musste jetzt natürlich noch etwas zurückgehalten werden, wurde aber – wie alle nachfolgenden – ebenfalls zum Millionenseller.

Der kleine schmächtige Endzwanziger mit dem leicht blassen, und doch warmen Organ wurde zum neuen Gitarren-Gott. Viele berühmte Kollegen, die schon zwei Jahrzehnte Rockzirkus auf dem Buckel hatten, zollten ihm Anerkennung. Der sensible Künstler war kein Motiv für Abziehbilder oder für die Hochglanz-Presse, mit seinen wunderschönen Melodien und seinem perfekten Handwerk führte er viele Verirrte wieder heim.

 Dire Straits auf YouTube




Künstlerisches Muskelspiel zum Abschied

Die Sopranistin Anna Prohaska gastiert in Essen. Foto: Patrick Walter/DG

„Nirgends … wird Welt sein, als innen“: Das Zitat aus Rainer Maria Rilkes siebenter Duineser Elegie könnte gemünzt sein auf den Dirigenten und Pianisten Christoph Eschenbach, der sich zur kommenden Spielzeit als Residenz-Künstler der Essener Philharmonie präsentiert. Doch wir wagen es nun, diese Sentenz dem analytisch präzise, in steter Zurückhaltung arbeitenden Intendanten Johannes Bultmann zuzueignen. Weil er wahrscheinlich, nach jener für ihn letzten Saison (2012/13), seine Wirkungsstätte ohne große Geste verlassen wird. Weil er sich vorstellen kann, soviel gab er preis, während eines Sabbatjahres jenseits aller künstlerischen Betriebsamkeit zu leben. 

Noch aber, gewissermaßen zur finalen Essener Saison, lässt Bultmann die Muskeln spielen. In Form jener hochkarätigen Dirigenten, Sängerinnen oder Orchester, die für Qualität und grenzübergreifenden Ruhm stehen. Da spielen zum Auftakt im September 2012 die Münchner Philharmoniker unter Altmeister Lorin Maazel, da will die junge Sopranistin Anna Prohaska mit barocken Arien bezaubern, der hochgelobte israelische Dirigentenfeuerkopf Omer Meir Wellber romantische Glut entfachen, oder eben Christoph Eschenbach in fünf Konzerten und bei einem Lyrik-Talk seine künstlerische Visitenkarte abgeben.

Dirigent Omer Meir Wellber. Foto: Philharmonie Essen

Die Reihen Lied, Alte Musik bei Kerzenschein, Stimmen, Jazz und Jugendstil werden fortgeführt wie eben auch die für Bultmann ungemein wichtige Konzertfolge namens „Now!“. Essens Philharmonie-Intendant, seit jeher engagierter Anwalt der Neuen Musik, fragt in elf Veranstaltungen nach dem Fortschritt im avantgardistischen Komponieren. Dem voraus geht der Programmschwerpunkt „Tristan-Akkord“, jenes tönende Gebilde, das als Schlüssel gilt zur Überwindung der Tonalitätsgrenzen.

Damit verbunden ist natürlich die Würdigung Richard Wagners zum 200. Geburtstag. Höhepunkt soll die konzertante Aufführung des „Parsifal“ werden, mit Balthasar-Neumann-Chor und Ensemble unter Thomas Hengelbrock. Spannend dabei ist die Verwendung historischen Instrumentariums. Wiederum neu daran ist die Kooperation mit dem Dortmunder Konzerthaus.

Insgesamt bietet die nächste Philharmonie-Saison um die 100 Eigenveranstaltungen. Eine Zahl, auf die sich das konzertante Geschehen inzwischen eingependelt hat. Bultmann ist indes wichtiger, dass man hinsichtlich der Qualität in der oberen Liga mitspielen kann. Und dass stets neue Ideen ihr Recht auf Verwirklichung bekommen, all dies verbunden mit finanzieller Planungssicherheit.

Zum Herbst 2013 aber wird Hein Mulders seine Doppelintendanz für Philharmonie und Oper antreten. Es dürfte spannend werden, wie neu die Karten dann gemischt werden.

 

 




Die Gespenster, die Lessing rief

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Lessings Nathan der Weise ist ein Klassiker, gefeiert als Versöhnungsdrama der Toleranz zwischen den Weltreligionen. Die Künstlergruppe „kainkollektiv“ sperrt sich allerdings gegen diese Lesart – und sucht in „Lessings Gespenster – Eine Heimsuchung nach Nathan der Weise“ die anarchistische Seite des Aufklärers. Die Stückentwicklung feierte jetzt ihre Uraufführung im Dortmunder Schauspiel als On Stage Produktion.

Die Zuschauer stehen in langer Schlange am Hintereingang des Schauspiels, laufen durch die Katakomben des Theaters, lesen ein Schild mit den Worten „Lessings Gespenster. Rumlaufen erforderlich“, um dann mitten auf der Bühne zu landen, ohne Stühle, nur mit Raum, der erobert werden will. Alles anders als gewohnt. Ein sinnstiftender Einstieg, wenn es darum geht, einen Klassiker deutscher Literatur gegen den Strich zu bürsten oder ihm zumindest Geheimnisse zu entlocken.

Die Bühne ist zweigeteilt durch eine riesige Holzwand. Auf der einen Seite sitzt eine junge Frau (Merle Wasmuth) im barocken Kostüm in einem Glaskasten, auf der anderen liegt schlafend der fast 60köpfige Dortmunder Sprechchor in Tüllröcken (Ausstattung Oliver Helf). Ein Bär mit Deutschlandbinde umarmt die Zuschauer, drei Musiker spielen Haydn. Ein Hauch von Spannung, auch von Melancholie liegt in der Luft. Das Tor zu einem Traum, einem Zauberschloss, einer seltsam schönen Reise.

Es gibt keine Handlung, keine Geschichte, sondern nur den Sturz in Gedanken und Emotionen. Das „kainkollektiv“, bestehend aus Mirjam Schmuck, Alexander Kerlin und Fabian Lettow, verweigert sich der Eindeutigkeit. Den Weg, den der Zuschauer an diesem Abend einschlägt, muss er selbst wählen. Der Flyer immerhin verrät: Lessings Frauenfiguren stehen im Zentrum, die jung, schön und am Ende doch immer Opfer sind. So wird Merle Wasmuth mal zu Emilia Galotti, mal zu Sara Sampson und immer wieder zu Recha, der Tochter von Nathan, die am Ende, wenn alle sich in den Armen liegen, alles verloren haben wird: ihren Liebhaber, ihren Vater, ihren Glauben. Die junge Frau, egal in welcher Gestalt, ist gefangen in der Rolle, die die Gesellschaft ihr auferlegt hat, erdrückt von Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann – das gilt für die Figuren, aber auch für die Schauspielerin, für den heutigen Menschen. Verzweiflung und die Sehnsucht nach Freiheit und Ausbruch sprechen aus ihren Worten. „Das ist nicht zu verkraften, dass da immer schon Etwas im Raum ist, wenn wir erscheinen.“

Diesen Konflikt von Bild und Ich setzt das kainkollektiv beeindruckend um: Immer wieder treffen die Schauspielerin und ihre riesige Videoprojektion aufeinander, ist sie plötzlich umringt von dem auf sie einredenden Sprechchor oder erschlagen von dem riesenhaften Bild ihres Erziehers Nathan. Die Künstlergruppe greift aber auch das Paradoxon von Lessing selbst auf: Gefeiert als Vater der Toleranz und Versöhnung, hat er gelebt als saufender, spielsüchtiger Sozialfall.

Das Publikum kann sich mit diebischer Freude auf das Gebräu von Zitaten (von Joseph Beuys über Walter Benjamin bis zu Richard Wagner) stürzen. Oder aber es lässt sich fallen in den Sog dieses Abends, in die rauschhaften Bilder, Klänge und Emotionen – der vor allem getragen wird durch die großartige, charismatisch und zwingend spielende Merle Wasmuth, die in jeder Minute Zentrum der Inszenierung ist. Ein Stück, das mal heiter, mal verzweifelt und traurig, die Zuschauer mit vielen Fragen entlässt.

Die nächsten Termine: 22. April (18 Uhr), 6. Mai (18 Uhr)

P.S.: Kurzer Nachtrag zu dieser Besprechung (die so auch in der Westfälischen Rundschau erschienen ist): Während ich die Offenheit des Stücks durchaus mochte, habe ich im Nachhinhein gehört, dass es bei der Premiere auch Zuschauer gab, die von der Bühne geflüchtet sind.




Aprilscherz ohne Gnade

Die Milchstraße wird in Schmidtstraße umbenannt, um den Altbundeskanzler zu ehren. Heinrich und nicht Thomas Mann hat den Löwenanteil der „Buddenbrooks“ verfasst. Galileis Erben fordern  Entschädigungszahlungen vom Vatikan. Maschmeyer kandidiert für die FPD. Bundesligatrainer müssen künftig über 65 Jahre alt sein, wobei vielleicht für Jürgen Klopp eine Aussnahme gemacht wird.

Haha. Hahaha. Aber Achtung, Achtung: Das stimmt ja alles gar nicht. Haha. Reingefallen.

Worum geht’s? Nun, die FAZ-Sonntagszeitung gibt sich heute ganz puppenlustig. Die Redaktion hat die gesamte Seite 1 (abgesehen von Anreißern fürs Blattinnere, Wetter und Lottozahlen) mit allerlei Aprilscherzen dicht gemacht, vulgo abgefüllt, noch mehr vulgo: zugeschissen, wie man zuweilen unter hemdsärmeligen Journalisten zu sagen pflegt. Hoho.

Offenbar ist sonst in der Welt nichts los. Da kann man ja mal…

Dass ich es nur gestehe: Aprilscherze in Zeitungen fand ich schon immer reichlich fad und öd. Meistens knirscht es vernehmlich im logischen und humoristischen Gebälk, wenn die schmalen Einfälle länglich ausgeführt werden. Die Lektüre erweist sich oft genug als Zeitverschwendung. Noch erbarmungswürdiger sind anderntags die „Auflösungen“ der Scherze. Dann werden die Witze auch noch gnadenlos erklärt.




Der Preis für Eis ist heiß

Neulich in Dortmund-Hörde: Nach der Anfahrt mit der Bahn und einem Gang um den neuen Phoenixsee folgte ein Besuch in der Fußgängerzone, und da lockte ein leckeres Eis. Zwei Bällchen im Hörnchen für zwei Euro vierzig.

Teurer Eisladen am Hafen in St. Tropez. (Foto: Pöpsel)

Für eine solche Gegend eine ganz schön happige Summe, dachten wir uns, aber marktwirtschaftlich verständlich. Immerhin muss man doch auf so ein Touristenziel wie den Phoenixsee entsprechend reagieren und den Eventcharakter einpreisen, und lecker war das Eis auch noch.

Dabei war das noch gar nicht das teuerste Eis in unserer Ausflugswelt: In der Düsseldorfer Altstadt kosten zwei Kugeln drei Euro vierzig, und das kostbarste „Glace“ erstanden wir bei „Barbarac“ im alten Hafen von St. Tropez: Für eine einsame Kugel wurden uns zwei Euro achtzig abgenommen. Da waren eben auch die Umgebung und der Blick auf die Schönen und Reichen und ihre Yachten eingepreist, aber auch dort galt: Es war sehr lecker.