Selbstgeißelung eines vierfachen Vaters: Tillmann Prüfers Kolumnen-Buch „Jetzt mach doch endlich mal das Ding aus!“

Das Phänomen ist schon einige Jährchen alt. Etliche Journalistinnen und Journalisten sehen sich bemüßigt, das Aufwachsen ihrer Kinder publizistisch mit Kolumnen zu begleiten oder es (böswillig ausgedrückt) „auszuschlachten“.

Die schwer zu übertreffenden Musterbeispiele für dieses Genre hat Axel Hacke („Der kleine Erziehungsberater“ u. a.) von der Süddeutschen Zeitung verfasst. Er dürfte einige Leute zumindest indirekt inspiriert haben, es ihm gleichzutun; so wohl auch Tillmann Prüfer (Leitender Redakteur beim „Zeit-Magazin“, wo die meisten Kolumnen zuerst erschienen sind), der schon mal darauf verweisen kann, Vater von vier Töchtern zu sein: Juli ging zum Zeitpunkt der Niederschrift noch zur Grundschule (2. Klasse), Greta war 13, Lotta 15 und Luna 20 Jahre alt. Ein gehöriges Spektrum, fürwahr. Da macht man(n) was mit. Und da drängt sich die Verfertigung einer Kolumne geradezu auf, oder?

Ein hervorstechendes Merkmal der Töchter (nicht nur bei den Prüfers) ist der allgegenwärtige Medienkonsum via Smartphone. Und so trägt das Buch denn auch einen genervten Ausruf als Titel: „Jetzt mach doch endlich mal das Ding aus!“ Dumm nur, dass auch der Vater ziemlich oft auf dem Handy daddelt. Das schmälert schon mal seine Autorität in derlei Fragen. Doch als leuchtendes Vorbild sieht er sich eh nicht. Dazu gleich noch mehr.

Tillmann Prüfer spielt das Lied von der Smartphone-Manie sozusagen auf der Klaviatur rauf und runter, in immer neuen Variationen. Da geht es beispielsweise um die (herzlich nutzlose) Festlegung der Bildschirmzeit, um Selfies, um Netzwerke wie WhatsApp, TikTok und Insta (nur Erwachsene sagen Instagram), um die übliche Kürzelsprache, um Streaming-Dienste wie Spotify und klaftertiefe Differenzen beim Musikgeschmack oder um Ballerspiele. Et cetera pp.

Fährnisse rund ums Internet bilden zwar den Schwerpunkt, doch kommen weitere Alltagsdinge hinzu, so etwa der Auftritt eines Roboter-Staubsaugers, Turnübungen im Wohnzimmer, Fernsehkonsum und schließlich auch schon Freud und Leid beim coronabedingten Homeschooling im Frühjahr 2020. Gar vieles läuft auf augenzwinkernde Verständigung hinaus, die auf die Generationsgenossenschaft des Autors zielt. Tillmann Prüfer ist übrigens vom Jahrgang 1974. Und er hätte es so gern, wenn seine Töchter öfter mal ein Buch zur Hand nähmen…

Zwar habe ich nicht vier Töchter, sondern eine Elfjährige, die auf Nachfrage inhaltliche Details des Buchs vollauf bestätigen kann. Sie und ihre Freundinnen leben quasi im selben Kosmos wie Tillmann Prüfers Kinder. Und der bleibt einem eben teilweise verschlossen. Dessen ungeachtet kommt mir manches sehr bekannt vor, so etwa Schleich- und Playmo-Spielzeug, die speziellen Tänze, die zu TikTok-Sounds wie „Baby Shark…“ vollführt werden, oder der Kult um BFF-Verhältnisse (Best Friend Forever). Und vieles mehr.

Väter oder Mütter können sich da schon mal ziemlich altmodisch oder „zurückgeblieben“ vorkommen. Aber muss man sich selbst so unablässig geißeln, wie es Tillmann Prüfer für angebracht hält? Feinsinnige Selbstironie in allen Ehren, sie ist angenehm und lässt auf eine gewisse Souveränität schließen. Hier aber wird sie als ständige Selbstverkleinerung geradewegs zur Masche und schlägt zuweilen ins Gegenteil um.

Fast in jeder Kolumne lässt uns der Autor wissen, dass er sich – ganz gleich, auf welchem Gebiet – wieder mal als total uncooler und unfähiger Depp erwiesen habe, der nach Meinung der Mädels weder locker noch „fresh“ ist. Er setzt noch manch einen drauf und stellt sich allemal als vorgestrig, ungelenk und begriffsstutzig dar. Diese permanente (Pseudo)-Unterwürfigkeit verwässert die Lektüre. Die einzelnen Beiträge bekommen dadurch einen recht ähnlichen Drall und münden häufig in Sinnschleifen, die gut und gern mit Loriots unnachahmlichem „Ach was!“ quittiert werden könnten. Man muss zugute halten: Als gelegentliche Einzelstücke im Zeit-Magazin haben die Texte eine andere Wirkung als im Buch, wo sie halt hintereinander weggelesen werden.

Indes lässt Prüfer immer mal wieder ahnen, was es heißt, gleichsam im Bannkreis von vier Töchtern in verschiedenen Stadien zwischen Kindheit und Vollmündigkeit ein Vaterdasein zu fristen. Da braucht man einfach seine kleinen Fluchten.

Tillmann Prüfer: „Jetzt mach doch endlich mal das Ding aus!“ Kindler Verlag, 160 Seiten, 12 Euro.




Kulturministerin rüffelt Kulturschaffende

So richtig habe ich meinen Augen zunächst nicht getraut, als ich dieses Zitat gelesen habe: „Die Kultur muss aufpassen, dass sie nicht immer eine Extrawurst brät.“ Denn wer hat’s gesagt? Ausgerechnet die NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, die nicht nur parteilos ist, sondern sozusagen auch „keine Verwandten“ zu kennen scheint.

Kulturveranstaltung mit Bestuhlungs-Abstand und Hygienekonzept. (Foto vom 1.11.2020: Bernd Berke)

Es stimmt ja: Kulturschaffende treten mitunter sehr fordernd auf und sind auch nicht allzeit bereit, sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens einzulassen. Es muss wohl etwas oder sogar einiges vorgefallen sein, was der Kulturministerin nicht behagt. Also hat sie an die Kulturbranche appelliert, die harten Maßnahmen im Corona-Lockdown mitzutragen. So weit richtig und nachvollziehbar, gerade angesichts der ständig steigenden Infektionszahlen. Nur: Auf wen zielt ihre Suada?

Da steht dieser eine, irritierende und erratische Satz:„Die Kultur muss aufpassen, dass sie nicht immer eine Extrawurst brät.“ Was heißt denn überhaupt „D i e Kultur“? Und was heißt hier eigentlich „immer“? Und wäre unter „Extrawurst“ die bloße Existenzsicherung zu verstehen? In dieser Zuspitzung stimmt der ministeriale Satz einfach nicht. Hat man je aus einem zuständigen Ministerium gehört, das Hotel- und Gaststättenwesen bekomme „Extrawürste“ gebraten oder brate sie selbst? Dabei dürfte diese ebenso gebeutelte Branche weitaus entschiedenere Lobbyarbeit betreiben und mit Forderungen auch nicht hinter dem Berg halten.

Dass gerade Kulturschaffende und Kulturveranstalter zu jenen gehören, die am meisten unter der Corona-Krise leiden, dürfte sich herumgesprochen haben. Dass sie just von einer Kulturministerin recht pauschal angegangen werden, klingt – speziell in diesem Zusammenhang – überhaupt nicht angemessen. Es wird gar mit einer unterschwelligen Drohung verknüpft. Die Szene, so die wohlbestallte Ministerin Pfeiffer-Poensgen weiter, solle sich „nicht zu sehr aus dem gesellschaftlichen Konsens herausbewegen“, sonst könne es der Kultur dauerhaft schaden. Wird da auf diffuse Weise Wohlverhalten eingefordert; werden da etwa insgeheim Mittelkürzungen oder „Liebesentzug“ in Aussicht gestellt? Doch wohl hoffentlich nicht.

Gewiss: Bund und Länder schnüren etliche Hilfspakete und haben einen millionenschweren „Kulturstärkungsfonds“ auf die Beine gestellt. Dass hierbei immer noch nachjustiert werden muss, dürfte unstrittig sein. Die Fördermechanismen waren nämlich bislang nicht immer zielgerichtet und hilfreich. Betroffene könnten da viel erzählen. Aber will’s die Ministerin auch hören?

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P. S.: Die WAZ kündigt zu Pfeiffer-Poensgens Äußerungen heute auf ihrer Titelseite einen Bericht und Kommentar für die Kulturseite an. Der Bericht ist keine Eigenleistung, sondern erweist sich als Übernahme von der Deutschen Presseagentur (dpa), den Kommentar habe ich in der mir vorliegenden Ausgabe vergebens gesucht. Oder habe ich nur nicht genau genug hingeschaut?

Nachtrag am 10. November

Der Wahrheit die Ehre: Heute hat die WAZ mit einem Interview nachgelegt. Darin bedauert Frau Pfeiffer-Poensgen zumindest ihre „Extrawurst“-Wortwahl. Zitat: „Meine Wortwahl war sicherlich unglücklich, der Begriff hat manche offenbar sehr getroffen. Ich wollte niemanden verletzen (…) Ich würde den Begriff nicht noch einmal verwenden.“

 




Ovationen vor dem Verstummen: Das Konzerthaus Dortmund ging mit einem Beethoven-Marathon in den erneuten Lockdown

Die Musiker des Belcea Quartetts: Krzysztof Chorzelski (Viola), Axel Schacher (Violine), Antoine Lederlin (Cello) und Corina Belcea (v.l. Foto: Marco Borggreve)

Beethoven hat das letzte Wort. Am Tag vor dem erneuten Lockdown, der auch die Kultur- und Veranstaltungsbranche zum Erliegen bringt, zeigen zwei führende Streichquartette unserer Zeit im Konzerthaus Dortmund, welchen Gipfel- und Endpunkt die Gattung durch den Jahresjubilar erreichte.

Das Belcea Quartet und das französische Quatuor Ébène wechseln sich bei einem musikalischen Marathon ab, der durch acht der insgesamt 16 Werke führt, die Beethoven zu dieser Königsdisziplin der Komponisten beitrug.

Gleichwohl mag Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech die Schließung des Betriebs nicht unkommentiert lassen. Er greift vor Beginn zum Mikrophon, um sich gegen das „undifferenzierte Vorgehen“ der Politik zu wehren: „Wir werden die Pandemie nicht durch die Schließung der Kultur in den Griff bekommen. Die Theater und Philharmonien sind keine Infektionsorte!“ Dass er Eigeninteressen vertritt, verhehlt er keineswegs („Ich bin vom Intendanten zum Lobbyisten geworden“). Stimmungsmache kann man ihm indessen nicht vorwerfen. Er erinnert an die Not der Solo-Selbständigen und verkündet, den Musikern Ausfall-Zahlungen leisten zu wollen.

Damit sind wir entlassen in den Kosmos der Beethoven-Streichquartette, der die Widrigkeiten dieser Welt auf Zwergenmaß schrumpfen lässt. Das Programm umfasst drei Beispiele aus der frühen Werkgruppe Opus 18, drei Stücke aus der mittleren Schaffensperiode und zwei Spätwerke. So lässt sich nachverfolgen, wie Beethoven sich mit zunehmend kühner Experimentierlust über alles hinaus schrieb, was seinen Zeitgenossen verständlich war.

Wie souverän er sich schon früh vom Vorbild Haydns und Mozarts absetzt, zeigt das Belcea Quartet zu Beginn mit Opus 18 Nr. 3 (aus dem Jahr 1799). Die helle, freundliche Grazie des Tonfalls findet eine wunderbare Entsprechung in den silbrig schimmernden Höhen von Corina Belceas Violinklang. Aber in den Ecksätzen künden Akzente bereits von einer typischen, robusten Energie. Auch das zunächst friedvolle Andante con moto hat es in sich: Es erreicht mit seinen Einzeltönen und Pausen einen erstaunlich modern wirkenden Minimalismus.

Im 1808 komponierten Opus 59 Nr. 1 hat diese Handschrift deutlich an Ausdruckskraft gewonnen. Mit einer Mischung aus Disziplin und Spielfreude fächert das Belcea Quartet eine Palette auf, die vom nahezu rhapsodischen Anfangsthema im Cello zu Tonwiederholungen führt, die mal ruppig klopfen, mal elfengleich trippeln wie in Mendelssohns Sommernachtstraum. Die langen Bögen des Adagio geraten seidig fein ins Schweben, wie von milder Melancholie durchleuchtet.

Das Quatuor Ébène: von links Raphaël Merlin (Cello), Pierre Colombet (Violine), Gabriel Le Magadure (Violine), Marie Chilemme (Bratsche. Foto: Julien Mignot)

Es erscheint nahezu unwirklich, wie locker das Quatuor Ébène diese hohe Interpretationskunst noch übertrifft. Die Franzosen musizieren mit entwaffnender Natürlichkeit und einem bezwingenden Willen zum Wesentlichen. Wie sehr sie sich auf Beethovens Rhetorik verstehen, zeigen nicht allein die raffinierten Gegenakzente im Trio von Opus 18 Nr. 5. Bestechend synchron artikulierend, rücken sie das Andante in die Nähe der „Szene am Bach“ aus der 6. Sinfonie („Pastorale“), erreichen gar einen rustikalen Vorgriff auf Schubert’sche Forellen-Munterkeit. Sie beherrschen ein Pianissimo mit Fernklang-Effekt, leuchten Abgründiges mit dunklem Feuer aus, bevor sie weiche, schneehelle Gefilde vor uns entfalten.

Das späte Streichquartett op. 131 aus Beethovens vorletztem Lebensjahr spielen die Franzosen vollends aus Zeit und Raum heraus. Was hier zusammentrifft, gleicht einer Quadratur des Kreises: abgeklärt und überhastet, grüblerisch und übermütig, bizarr und wild und witzig in einem. Wenn das Cello das letzte Adagio mit einer grimmigen Floskel beiseite fegt, ist der Gipfel der Kompromisslosigkeit erreicht. Das Quatuor Ébène feuert uns Pizzicati um die Ohren und spielt mit dem Bogen so nahe am Steg, dass sich ein eisiger Schauer in die Raserei mischt. Das Publikum spendet Ovationen, bevor es sich in den November des Verstummens zerstreut. Das letzte Wort aber hat Beethoven.




Streckenbilanz, Realformation, Torwahrscheinlichkeit – ein paar Mitteilungen über den Fernseh-Fußball der Jetztzeit

Irgendwo da draußen im Lande: ein Fußballtor im Grünen. (Foto: Bernd Berke)

Wie oft hat man sich schon über Fußballkommentatoren aufregen müssen. Man ist ja schließlich kundig und objektiv – die professionellen Schwätzer*innen hingegen…

Wünschte man sich nicht manchmal, es säßen oder stünden Roboter am Mikro, desgleichen vor den Kameras? Doch nein. So unterkühlt hätte man’s auch nicht gern. Aber nochmals halt! Wahrscheinlich ist es längst kein Problem mehr, etwaigen Kommentar-Robotern gezielt und dosiert Emotionen beizubringen, in Mischungen nach Wunsch.

Die Künstliche Intelligenz, das hat sich schon vielfach gezeigt, beherrscht die nicht allzu ausufernde Fachsprache des Fußballsports recht schnell und perfekt. Vom korrekten Registrieren der Ergebnisse ganz zu schweigen. Ja, inzwischen ist die Entwicklung so weit, dass auch schon beachtliche Feuilleton-Texte generiert werden können. Wahrscheinlich muss man vorher nur oft genug Worte wie opak, verstörend oder Narrativ hochladen, dann wird das schon.

Doch zurück zum Fußball. Schon seit Jahren werden Fernsehübertragungen immer mehr mit Statistiken vollgepfropft, bis hinab zur Ebene des einzelnen Spielers, der z. B. am 5. November vor genau vier Jahren sein letztes Fallrückzieher-Tor erzielt oder ein elfmeterreifes, aber ungeahndetes Foul begangen habe, woraufhin… Regelrechte Absurditäten werden in den Datenbanken festgehalten – und nimmermehr gelöscht. Jetzt schleppen sie das ganze Zeug mit sich rum. Allerlei Transfergerüchte werden gelegentlich hechelnd mitgeliefert.

Ungewissheit sorgt für Gesprächsstoff

Vor allem aber ist die TV-Berichterstattung über Fußball immer mehr mit scheinbar fehlerlosen Kontroll-Techniken unterfüttert worden. Ausgeklügelte Torlinienberechnungen wären zu nennen, mit deren Hilfe es anno 1966 nie zum legendären „Tor von Wembley“ gekommen wäre. Nicht auszudenken. Generationen von Männern hätten des Gesprächsstoffs ermangelt und betrübt in ihr Bier geblickt, wenn nicht still ins Glas geweint. Dieses flaue Gefühl sorgt auch dafür, dass Videoassistenten (VAR) die wohl ungeliebtesten Protagonisten im Umfeld des Sports sind. Sie haben einem schon so manches Tor verhagelt, das man bereits bejubelt hatte. Zuweilen haben sie’s erst nach Minuten des Hoffens und Bangens versaubeutelt.

Die Messung der Schussgeschwindigkeit (wie schnell ist der Ball geflogen?) ist ein vergleichsweise alter Hut. Etwas neueren Datum sind Streckenberechnungen: Wie viele Kilometer hat ein bestimmter Spieler oder ein ganzes Team auf dem Rasen zurückgelegt? Waren es bei einem Kicker nur 8 und nicht 10 Kilometer in rund 90 Minuten, so ist der heimische Sesselhocker geneigt, ihn als „Stehgeiger“ zu bezeichnen. Etwas Respekt nötigt ihm zwischen zwei Pils höchstens die gleichfalls verzeichnete Sprint-Höchstgeschwindigkeit beim Match ab, die auch schon mal mehr als 34 km/h beträgt. Da ist man doch zum Kühlschrank eher etwas langsamer unterwegs. Ansonsten gleicht man als Zuschauer jenen Spielern, die sich in letzter Zeit bei gegnerischen Freistößen öfter mal hinter die eigene „Mauer“ auf den Rasen legen, damit bodennah „nichts durchkommt“.

Relativ neu ist die Visualisierung der sogenannten Realformation, die nichts mit Real Madrid zu tun hat. Nein, hierbei geht’s darum, wo die einzelnen (schematisch durch ihre Rückennummern repräsentierten) Spieler sich „im Durchschnitt“ der bisherigen Spielzeit aufgehalten bzw. bewegt haben, nämlich fast niemals lupenrein in taktischen Aufstellungsrastern wie 4 – 2 – 4, 3 – 4 – 2 – 1 oder dergleichen. Und siehe da: Eine Elf, die das Spiel überlegen gestaltet, steht insgesamt weiter vorn, die gegnerische hingegen näher am eigenen Tor. Wer hätte das früher gedacht, als es diese stupide, Verzeihung: stupende Zahlenverschiebung noch nicht gegeben hat? Wie haben wir Fußball überhaupt verstehen und genießen können – ohne solche Informationen? Damals hat man einfach darüber geredet, heute heißt das „Analyse“.

Nun hört man ihre Zurufe beim Spiel

Manche TV-Sprecher scheinen in einem Punkt geradezu dankbar für „Geisterspiele“ in Corona-Zeiten zu sein. Seither hören sie nämlich, was Trainer und Spieler während der Partien rufen. Daraus hat sich quasi schon ein eigenes Genre der zusätzlichen Spieldeutung ergeben. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hat vor einigen Wochen gar mehrere Seiten freigeräumt, um die zahllosen Zurufe während eines ganzen Spiels (Bayern München – Borussia Dortmund) wortwörtlich wiederzugeben. Das machen sie sonst allenfalls für Essays vom Kaliber Jürgen Habermas.

Und noch eine Novität: Neuerdings wird nach Toren eingeblendet, mit wieviel Prozent Wahrscheinlichkeit dieser Treffer gefallen sei. Damit wir uns richtig verstehen: Er ist hundertprozentig gefallen, aber ist es in genau dieser oder datenbankmäßig vergleichbarer Situation wahrscheinlich gewesen – und falls ja, w i e wahrscheinlich? Zu 13 oder zu 43 Prozent? Auf so einen Humbug muss man erst einmal kommen. Nun warten wir noch auf die einsteinsche Rechenformel zu den „Unhaltbaren“, die ein richtig guter Torhüter dann und wann denn doch hält.

Aber im Grunde sehnt  man sich nach echt abgeklärten Typen wie dem BVB-Altvorderen Adi Preißler zurück, der die ewige Weisheit geprägt hat: „Grau ist alle Theorie – entscheidend ist auf’m Platz.“




Technik der Gesichtserkennung – trotz Masken ziemlich treffsicher

Aufsetzen? Zum Schutz vor Corona sicherlich! Aber gegen avancierte Gesichtserkennung hilft die Maske wenig. (Foto: BB)

Von Zeit zu Zeit lade ich Fotos in eine Cloud hoch. Die Betreiber dieser Cloud setzen – je nachdem, ob man diese Einstellung wählt – eine Gesichtserkennung ins Werk. Daran knüpfen sich Fragen und Bedenken, zumindest nach hiesigem Datenschutz-Verständnis.

Es werden im Fall des Falles also Hunderte, Tausende oder Zigtausende von Fotos nach abgebildeten Personen vorsortiert, die man sodann mit Namen versehen kann. Schon dabei beschleicht einen ein mulmiges Gefühl, denn wer weiß, wo solche (und sei’s nur mit Vornamen) zugeordneten Dateien dann anlanden und wozu sie verwendet werden können. Fehlt nur noch der Fingerabdruck. Aber den liefern viele Leute bei Anmeldevorgängen auf ihren Smartphones, wenn sie sich nicht auch dort per Gesichtserkennung einloggen. Wenn dies alles nun zusammengeführt würde? Gespenstisch.

Das Programm kennt deine Freundschaften am besten

Zuweilen „vertut“ sich die Gesichtserkennung der Cloud noch und registriert ein und dieselbe Person als verschiedene Menschen. In solchen Fällen könnte man dem Programm auf die Sprünge helfen und diverse „Bilderstapel“ miteinander kombinieren – damit quasi zusammenwächst, was zusammen gehört. Auch das ist nicht unproblematisch, hilft man auf diese Weise doch, das Programm immer mehr zu verbessern und zu präzisieren, bis es „deine“ Leute fast so gut erkennt wie du selbst.

Eines Tages wirst du überflüssig sein und sie werden dir sagen, wer deine guten Freundschaften und wer die weniger guten sind. Zuerst vielleicht noch wohlmeinend, später zunehmend harsch und herrisch? Wer weiß. Bereits jetzt werden die Personen in einer Art Hitliste nach Bilderhäufigkeit geordnet. Sind diejenigen, die da ganz obenan stehen, also wirklich die wichtigsten Menschen? Oder haben sie sich nur besonders oft und penetrant vor die Kamera gedrängt?

Vollends stupend finde ich eine Fähigkeit der Cloud, die jetzt erst so recht zum Tragen kommt: Die Gesichtserkennung, einmal auf bestimmte Menschen „geeicht“, lässt sich auch durch Masken kaum in die Irre führen. Offenbar reichen mitunter schon Frisur bzw. Haaransatz, die Form der Stirn, vor allem die Augen und möglicherweise auch der Kleidungsstil oder wiederkehrende Kleidungsstücke aus, um jemanden recht eindeutig zu kennzeichnen. Hierin ist das Programm vielleicht sogar schon genauer als man selbst, der man jetzt bei Begegnungen gelegentlich ein paar Sekunden lang rätselt, welches bekannte Gesicht sich hinter einer Schutzmaske verbirgt.

Speziell in Asien vorangetrieben

Höchstwahrscheinlich ist dieses Feature in Asien vorangetrieben worden, wo viele Menschen seit jeher Alltagsmasken tragen. Ob die Sache in den USA in weitaus besseren Händen ist, steht dahin. In China freilich wird soziales Verhalten ungleich mehr unter Kontrolle gebracht und in erwünschte Richtungen gelenkt. Ungezählte Kameras, versehen mit avancierten Möglichkeiten der Gesichts- und Bewegungserkennung, erfassen weite Teile des (halb)öffentlichen Lebens, mit anderen digitalen Techniken regieren Autokraten jeder Couleur bis ins Private hinein. Virale Ausbreitungen mag sie verhindern oder mindern, doch gegen derlei Kontrollmechanismen hilft auch keine Maske mehr.

Und noch eins: Neuerdings sparen sich viele Medien die früher übliche Verpixelung, sofern die Abgebildeten Masken tragen. Sie haben ihre rechtliche Rechnung anscheinend ohne Rücksicht auf die fortgeschrittenen Fähigkeiten der Gesichtserkennung gemacht.




Vor dem Lockdown: Noch einmal Max Goldt gelauscht…

Lesung vor arg reduziertem Publikum: Max Goldt auf der Bühne der Schwerter Rohrmeisterei. (Foto: Bernd Berke)

Ich geb’s freimütig zu: Heute Abend habe ich zu jenen gehört, die die vorerst allerletzte Chance auf live dargebotenen kulturellen Genuss genutzt haben – anlässlich einer Lesung des grandiosen Max Goldt in der „Rohrmeisterei“ zu Schwerte.

Wer diesen Veranstaltungsort kennt, mitsamt dem früher so kommunikativen Vorab- und Pausen-Gewimmel im Foyer, und wer nun diese Stätte unter Corona-Bedingungen erleben musste, konnte in Trübsinn verfallen. Ich habe nicht nachgezählt, aber es mochten ungefähr 60 Publikumsplätze gewesen sein, die hätten besetzt werden können. Wirklich erschienen waren vielleicht 30 Zuschauerinnen und Zuschauer. Und jetzt ist erst einmal ganz Schluss – mindestens bis Ende November. All diese Umstände haben Max Goldt gewiss nicht beflügelt, er hat sich aber auch nicht verdrießen lassen.

Seine Texte mussten sich also gleichsam gegen eine triste Grundierung behaupten. Sie sind auch dazu allemal geeignet, ja streckenweise scheinen sie noch einmal anders aufzuleuchten als ohnehin schon. Herrlich seine ebenso leichthändigen wie (tief)sinnigen Überlegungen zu Grundfragen wie Glück und Humor (der ihm zufolge gar nicht mit Lachen einhergehen muss – und erst recht nicht mit dem Erzählen vorgestanzter Witze). Die Schilderung eines geradezu ekelhaft „glücklich“ sich nennenden Menschen und seiner rundum ach so idealen Lebensverhältnisse erweist sich als komischer Stoff ersten Ranges; ganz zu schweigen von irrwitzigen Auszügen aus Hotel-Beurteilungen in einschlägigen Internet-Portalen oder der imaginierten Museumsführung für drei verwöhnte und ziemlich abgebrühte Mittelschichts-Kinder, denen das Gemälde „Die Büchse der Pandora“ erklärt werden soll.

Genug der stichwortartigen Aufzählung. Goldt ist und bleibt jedenfalls ein Mann von Stil und Weisheit, einer, der stets haargenau den passenden Ton trifft – ob nun im Allzumenschlichen oder im Absurden. In der deutschen Literatur (und dahin gehört er vor allem, nicht etwa in eine separate Comedy-Abteilung) ist seine Stimme einzigartig. Oder wie es sein Schriftsteller-Kollege Daniel Kehlmann ausgedrückt hat: Goldts Texte gehörten „zum am feinsten Gearbeiteten (…), was unsere Literatur zu bieten hat.“




Karte oben, Karte unten: Corona und das Wetter

Daran werden wir uns einst erinnern – sofern wir uns dann erinnern können: beispielsweise an Kartendarstellungen der Pandemie, die schon durch ihre schiere Größe und Platzierung signalisiert haben, wie überaus wichtig man das Virus nehmen musste.

Gewichtung in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Oktober 2020: Das Wetter spielt die Nebenrolle.

Früher hat man sich dann und wann die Wetterkarte angesehen, sie war einigermaßen alltagswichtig. Irgendwann im Laufe dieses höchst seltsamen Jahres 2020 haben dann die Corona-Karten optisch und semantisch die Oberhand gewonnen. Schließlich haben die Größenverhältnisse so ausgesehen wie auf der beigegebenen Ablichtung der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe vom 28. Oktober 2020.

Das Wetter steht am Fuß der Seite, die oben mit Corona aufgemacht wird. Wenn eines Tages das Wetter wieder sichtbarer dargestellt werden sollte, dann werden wir hoffentlich in dieser Hinsicht das Schlimmste überstanden haben – und es werden, z. B. mit Klimakatastrophen und Terrorismus, mehr als genug Probleme übrig bleiben.

Womit wir beinahe zwangsläufig zu einem meiner Lieblingszitate aus den Gefilden der Popmusik kommen, zu Bob Dylans unsterblicher Zeile „You don’t need a weatherman to know which way the wind blows“ aus dem Song „Subterranian Homesick Blues“.

In diesem Sinne uns allen einen glimpflichen Herbst und Winter. Möge uns danach ein neuer Frühling leuchten.

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P. S.: Ganz traurig ist es, dass jetzt auch Sean Connery nicht mehr unter den Lebenden weilt.




WDR 4: Radio für Senioren – aber ganz anders als früher

Webcam-Blick ins Studio: vorn rechts Moderator Jürgen Mayer, hinten in der Mitte Moderatorin Cathrin Brackmann, links Nachrichtenfrau Katja Latsch, alle coronagerecht durch Plexiglasscheiben voneinander getrennt. (Screenshot: WDR)

Wir erinnern uns, nicht allzu gern: Die Hörfunkkette WDR 4 stand mal für vieles, was einem musikalisch und vom zugehörigen Lebensstil her zuwider war. Da gab’s bestenfalls elmargunschige Beruhigungs-Stimmen (wobei der alte Knabe wirklich gut und anheimelnd geklungen hat), ansonsten dudelten – horribile dictu – schier endlos deutsche Schlager oder Operetten-Auszüge. Radio für Senioren also. Echt ätzend.

Im Westen weiß man längst, dass es bei WDR 4 seit einiger Zeit ganz anders zugeht. Es wird ungleich lockerer geplaudert. Vor allem aber hauen sie dort Stones, Cream, Kinks, Who, Deep Purple und Konsorten raus, die ganze Pop- und Rock-Chose seit den glorreichen Sechzigern bis in die Achtziger. Wir sind uns doch sicherlich einig, dass es auf diesem Sektor nie bessere Musik gegeben hat, oder etwa nicht? Ruhe da hinten! Unverschämtheit!

Aber Moment mal: Sollte das etwa immer noch bzw. wieder Radio für Senioren sein – nur eben für eine andere Generation in Ehren ergrauter Menschen? Jaja, meinethalben. Is‘ ja auch egal. *räusper* *hüstel* *grumpf*

Wieso ich ausgerechnet jetzt auf all das komme? Nun, heute, morgen und übermorgen (Donnerstag bis Samstag, 29. bis 31. Oktober) absolvieren sie bei WDR 4 einen speziellen Pop-Marathon. Wie bei populären oder Popularität anstrebenden Medien üblich, haben die Hörer(innen) abgestimmt, rund 130.000 an der Zahl. Resultat: die 444 beliebtesten Musiktitel („Top 444″), die nun – einer hübsch nach dem anderen – allesamt abgespielt werden, im munteren Wechsel flott anmoderiert von Cathrin Brackmann und Jürgen Mayer oder Stefan Vogt und Carina Vogt. Per Webcam dürfen die sicherlich ergriffen Zuhörenden währenddessen Live-Blicke ins Studio werfen – aus zwei verschiedenen Perspektiven, aber nur mit den Ton-Anteilen, die auch über den Sender gehen. Man soll und möchte ja zwischendurch auch nicht das womöglich halbprivate Geplänkel der WDR-Leute im Ohr haben.

Übrigens hat das Ganze mit dem Revier zu tun. Normalerweise entstehen die Sendungen für WDR 4 nämlich im Landesstudio Dortmund. Die Aktion mit den 444 Pop-Titeln ist freilich eigens in die Kölner Zentrale gezogen.

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P. S.: Soeben (Donnerstag, 13.30 Uhr) war Platz 358 an der Reihe, beim Aufstieg bis zum Spitzenreiter ist es also noch lange hin. Wenn alle 444 Titel verklungen sind, kann man die komplette Playlist herunterladen und mit dem eigenen Geschmack vergleichen.

 

 




Nobelpreisträger und St.-Pauli-Fan: Im Leben des Schriftstellers Günter Grass spielte der Fußball eine nicht eben geringe Rolle

Günter Grass im historischen Zeitungsartikel, Fußballmuseumsdirektor Manuel Neukirchner (rechts), Jörg-Philipp Thomsa vom Lübecker Grass-Haus (links). (Foto: Deutsches Fußballmuseum)

Von Günter Grass weiß Jörg-Philipp Thomsa zu berichten, dass er leidenschaftlich gerne Sportschau guckte. „Da durfte man ihn nicht stören.“ 2006 lernte der Leiter des Lübecker Günter-Grass-Hauses den Nobelpreisträger persönlich kennen und erinnert sich, dass dieser ihn damals zügig in ein Gespräch über Fußball verwickelte.

Bestimmt, glaubt Thomsa, hätte Grass sich sehr über das Gemeinschaftsprojekt von Grass-Haus und Dortmunder Fußballmuseum gefreut, das nun unter dem Titel „Günter Grass: Mein Fußball-Jahrhundert“ Gestalt angenommen hat. Grass, der Fußball-Fan: nicht eben das erste, was einem zum Schöpfer der „Blechtrommel“ einfällt.

„Mein Jahrhundert“

Nun – auch wenn der Titel anderes suggeriert: Ein Buch mit dem Titel „Mein Fußball-Jahrhundert“ hat Grass (1927-2015) nie geschrieben. Doch in dem mächtigen Bild-Text-Band „Mein Jahrhundert“, der 1999 bei Steidl herauskam und jedem Jahr des 20. Jahrhunderts mit einem Text und einer Illustration eine subjektiv-persönliche Würdigung zukommen lässt, finden sich auch etliche Fußballgeschichten, auf die die Dortmunder Ausstellung ausführlich hinweist. 1903 zum Beispiel fand die erste deutsche Meisterschaft in Altona statt, bei der die Leipziger gegen Prag (!) obsiegten. Grass erzählt das recht realistisch aus der Perspektive eines Mitspielers, lässt damals schon ausgesprochen schicke Anglizismen wie „Goal“, „Halftime“ „Score“ einfließen und wagt einen rückblickenden Ausblick auf die starken polnischen Einflüsse im deutschen Fußball, auf die Szepans und Kuzorras der Folgejahre.

Sonderschau, achteckig (Foto: Deutsches Fußballmuseum)

Fritz Walter blieb bescheiden

Ein Fußballjahr ist für Günter Grass natürlich 1954. Mit einem gewissen Augenzwinkern, wie wir vermuten wollen, lässt er es vom „Chef einer Consulting-Firma, die in Luxemburg ihren Sitz hat“, nacherzählen. Neben dem getreulich widergegebenen Geschehen auf dem Rasen widmet sich der (erfundene) Autor der schmerzvollen Erinnerung an seine fruchtlosen Versuche, den Erfolg in klingende Münze zu verwandeln. Ungarns Spielführer Ferenc Puskás setzte sich zwar in den Westen ab und wurde mit der Produktion ungarischer Salamis reich, Fritz Walter aber verschmähte – behauptet jedenfalls die Geschichte – den Halbkoffer mit der Viertelmillion, die ihm Atlético Madrid damals schon, in den Fünfzigern, bot – und eröffnete lieber ein Kino mit Lotto-Toto-Annahmestelle. Schade, schade – aber die Kommerzialisierung des Fußballs hat er nicht verhindern können.

Günter Guillaume jubelt in der Zelle

Noch ’ne Fußballgeschichte? Die spielt 1974 und ist relativ kompliziert. Ihr ungenannt bleibender Held ist der Ostagent Günter Guillaume, der zu dieser Zeit schon einsitzt, dem die Gedanken über seine bizarre Ost-West-Existenz nicht aus dem Kopf gehen und der nun zu allem Überfluss auch noch ein WM-Endspiel zu sehen bekommt, bei dem Deutschland gegen Deutschland spielt. Das ist ein echtes Orientierungsproblem, weil er immer wieder mit Deutschland jubelt, das zu dieser Zeit aber noch aus zweien besteht.

Frauenfußball fand Grass gut

Wandbeschriftungen, Tagebuchauszüge, Bücher, Vitrinenmaterial – Zitate und Literaturhinweise unterschiedlicher Art machen einen nicht geringen Teil der Ausstellung aus, was bei einem Schriftsteller naheliegt. An Videostationen erinnern sich Fußballgrößen an ihre Begegnungen mit Günter Grass. Die relativ wenigen Originalexponate – eine Originaleintrittskarte der ersten Deutschen Meisterschaft, ein Trikot, die Nobelpreisurkunde und so fort – mögen beeindrucken, begeistern aber nicht zwingend. Doch die Gliederung ist gelungen, ermöglicht eine sinnvolle Annäherung an den Künstler und Fußballfreund.

Vier Bereiche befassen sich schwerpunktmäßig mit Frauenfußball, mit Grass als aktivem Spieler, mit der Wiedervereinigung sowie mit der literarischen Produktion. Kopfschüttelnd erfährt man etwa, dass Frauenfußball, den Grass sehr befürwortete, bis 1970 beim DFB rundweg verboten war; die Episode von Wewelsfleths linkem (Gast-) Stürmer Grass, die der stark vergrößerte Artikel einer Lokalzeitung samt Mannschaftsfoto stimmungsvoll aufleben lässt, erzählt auch von jenem eher unsportlichen jungen Mann, der als Kind nicht Fahrrad fahren konnte und der das Fußballspielen als körperliche Befreiung erlebte. Die Wiedervereinigung, gegen die Grass sich 1989/1990 stemmte, bedeutete auch das vorläufige Ende des Spitzenfußballs im Osten, weil die guten Leute vom Westen weggekauft wurden. Man kann darin durchaus jene Kolonialisierung des Ostens erkennen, vor der Grass früh gewarnt hatte.

Das Fußballmuseum in Dortmund (Foto: Deutsches Fußballmuseum, Hannappel)

„Sommermärchen“

Doch über das „Sommermärchen“ 2006 hat er sich gefreut, über einen neuen, anscheinend unbelastet daherkommenden Nationalstolz. Ganz besonders gut übrigens, weiß Thomsa zu berichten, habe ihm ein türkischer Jubelautokonvoi zum Sieg gefallen. Das mag auch daran gelegen haben, dass Grass (auch) kaschubische Vorfahren hatte und deshalb einen Sensus für die Mühen der Integration. Die identitätsstiftende Kraft des Fußballs hebt Dortmunds Fußballmuseumsdirektor Manuel Neukirchner noch einmal ausdrücklich hervor. Mit der fußballerischen Deutschlandbegeisterung habe man den Rechten das (nationalistische) Wasser abgegraben, 2006 und später. Es scheint, dass Grass es ähnlich sah.

Ein Herz für die Kleinen

Die literarische Ecke schließlich versammelt kurze und lange Zitate, Tagebuchauszüge, Pointiertes: „Ungehemmt, als stünde ich in der Nord- oder Südkurve und säße nicht daheim vor der Glotze, ergießt sich nur Hohn, wenn selbst den Bayern ihr Geld nicht hilft und zwar nach Flanke von links, die mit Glück jenen Habenichtsen gelingt, denen schon wieder der Abstieg droht“, hat er notiert. Ja, das Herz des Dichters schlug für die Kleinen, Benachteiligten, wie St. Pauli Hamburg zum Beispiel, für die Grass sich auch in einer Rede einsetzte.

Die Ausstellung – in den Worten von Museumschef Neukirchner ein „gelungener Doppelpass“ der beiden beteiligten Häuser – passt fraglos gut in ein Fußballmuseum. Daneben ist sie auch ein willkommener Anlass, über den Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger zu reden, um den es in letzter Zeit bedauerlich still geworden ist.

  • Bis 19. Januar 2021
  • Deutsches Fußballmuseum, Dortmund, Platz der deutschen Einheit 1 (dem Hauptbahnhof gegenüber)
  • Di-Fr 11-17 Uhr, Sa u. So 10-17 Uhr
  • Eintritt für das ganze Haus 15 EUR
  • www.fussballmuseum.de



10 Jahre Festival NOW! für neue Musik: Aufbruch in andere Klangwelten – jäh durch Corona gebremst

Ab Montag, 2. November 2020, fallen – wegen der aktuellen Corona-Lage –sämtliche Veranstaltungen des Festivals NOW! aus. Der folgende Vorbericht kann leider nur noch den vorherigen Stand der Planungen wiedergeben.

Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem die Corona-Pandemie das Reisen so gut wie unmöglich macht, hatte sich das Festival NOW! in Essen vorgenommen, musikalisch „von fremden Ländern und Menschen“ zu erzählen.

Wird beim Festival NOW! in einigen Konzerten gewürdigt: Komponistin Unsuk Chin. Foto: Eric Richmond/ArenaPAL

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie mit seiner rechten Hand Marie Babette Nierenz und Folkwang-Professor Günter Steinke planten um, luden Künstler ein, die nicht in ihren fernen Heimatländern festsitzen, aber dennoch Klänge ihrer Herkunfts- oder ihrer Sehnsuchtsländer mitbringen. Das Ergebnis laut Planung: 16 Veranstaltungen zwischen 29. Oktober und 8. November, 22 Uraufführungen und ein Programm, so bunt wie die Farbschnipsel auf dem Cover des Begleithefts. Alles unter der Voraussetzung, dass der Kulturbereich nicht wieder einem Lockdown unterworfen werden würde. Dies ist aber jetzt der Fall.

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders zeigte sich zuvor „überglücklich“, das Fest neuer Klänge in einem so verflixten Jahr feiern zu können, auch wenn im Saal der Philharmonie – Stand vor ein paar Tagen – nur 250 Zuhörer zugelassen sind. Nur durch viele Partner ist es möglich, ein derart vielgestaltiges Ereignis auf die Beine zu stellen: Die Folkwang Universität der Künste und der Landesmusikrat NRW waren schon bei den ab 2007 laufenden Reihe „Entdeckungen“ dabei; seit der Überführung ins Festival NOW! vor nunmehr zehn Jahren sind einige andere dazugekommen, etwa von Anfang an die Kunststiftung NRW, die Stiftung Zollverein, PACT Zollverein und seit 2019 die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.

Das NOW!-Programm lässt ahnen, wie unbeschwert die „neue“ Musik in den letzten Jahrzehnten stilistische Limits und geografische Grenzen übersprungen hat. Längst sind es nicht mehr die Europäer, die sich an „exotischen“ Importen erfreuen, die sie wie weiland Gluck oder Mozart als fröhlich lärmende Janitscharenmusik in den europäischen Kontext zwängten. Längst sind es auch nicht mehr die bildungsbeflissenen Musiker aus dem fernen Osten, die ihre Begeisterung für europäische Kunstmusik in ihre Heimatländer brachten und dort im schlechten Fall imitierten, im besten Fall zu einer Symbiose mit eigenen Traditionen verschmolzen.

Passé sind auch die Zeiten, in denen es genügte, ein Sinfonieorchester mit etwas tempelhaftem Bling-Bling zu garnieren, um „Fremdes“ zu integrieren. Der Wandel, von dem NOW! auch zeugt, reicht tiefer: Menschen bewegen sich in vielfältigen kulturellen Kontexten, in denen sie nicht aufgewachsen sind. Andere sind in zwei Kulturen tief verwurzelt, wieder andere verlassen – manchmal auch unfreiwillig – ihre Heimat und suchen in der Fremde eine neue. Die Lebenssituationen sind so unterschiedlich wie die Herkünfte, Traditionen und Interessen. Und daraus erwächst zur Zeit unglaublich viel Spannendes, ereignen sich Aufbrüche, die das befürchtete „Ende der Musik“ doch ein gutes Stück hinausschieben.

Beispiele aus dem NOW!-Programm: Unsuk Chin, in Korea geboren, dort und bei György Ligeti in Hamburg ausgebildet, lehnt es strikt ab, ihre Musik einem bestimmten Kulturkreis zuzuordnen. Sie beschäftigt sich mit europäischer Moderne und mit Gamelanmusik aus Bali, mit koreanischen Instrumenten und mit mittelalterlichen Kompositionstechniken. „Cosmigimmicks“, ein Stück für Ensemble, 2013 bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt, spielt im Titel mit diesem universalen Interesse, ironisiert den eigenen Anspruch zu „gimmicks“ und erinnert in seinen fragilen Klängen nach Aussage der Komponistin an Schattentheater, Pantomime oder Puppenspiel. Das Ensemble Musikfabrik bringt das Stück am 30. Oktober um 20 Uhr in der Philharmonie Essen, zusammen mit der Uraufführung von „fragments inside“ der persischen Komponistin Elnaz Seyedi, die ab 2020/21 Composer in Residence für die Bürger:innenOper der Oper Dortmund ist. Maliko Kishinos „Ochres II“ nimmt japanische Traditionen auf; die in Kyoto geborene Komponistin wuchs in einem Tempel auf.

Önder Baloglu. (Foto: Ulrike von Loeper)

Ganz aktuell auf die Corona-Pandemie gehen 24 Miniaturen ein, die am 31. Oktober, 17 Uhr in einem Konzert in der Neuen Aula der Folkwang Universität in Essen-Werden uraufgeführt werden: „Unvoiced Diaries“ des im türkischen Adana geborenen Konzertmeisters der Duisburger Philharmoniker, Önder Baloğlu, sind kaum eine Minute dauernde Stücke für Violine solo von 24 Komponisten, entstanden während der erzwungenen Untätigkeit ab März dieses Jahres. Uraufgeführt werden auch „Khronos“ des Brasilianers Celso Machado, ein Stück für das afrikanisch-brasilianische Berimbau, Gitarre und Elektronik; außerdem Werke von Levin Zimmermann und Po Chien Liu.

Der Komponist Mithatcan Öcal. (Foto: privat)

Für sein Konzert am 31. Oktober, 20 Uhr, in der Philharmonie Essen bringt das WDR Sinfonieorchester Köln eine „Klassikerin“ der Neuen Musik mit: Younghi Pagh-Paan und ihr Stück „Lebensbaum III“ von 2015. Die Koreanerin steht für die kreative Verbindung koreanischer Volksmusik mit europäischen kompositorischen Parametern. Außerdem erklingen „Yet“ des 1981 geborenen und 2010 tragisch verstorbenen Franzosen Christophe Bertrand, „Zipangu“ des 1983 in Paris ermordeten Kanadiers und Stockhausen-Schülers Claude Vivier, der asiatische und iranische Musik studiert hatte, und die Mini-Oper „Belt of Sympathies“ des 2019 von der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichneten türkischen Komponisten Mithatcan Öcal.

Klang und Bewegung auf PACT Zollverein

Aus Syrien stammt die Komponistin Dima Orsho. (Foto: Martina Novak)

PACT Zollverein beteiligt sich am NOW!-Festival am 1. November mit dem Tanzprojekt „The Waves“ des Choreografen Noé Soulier. Sechs Tänzerinnen und Tänzer und die beiden Perkussionisten des Ictus Ensembles, Tom de Cock und Gerrit Nulens, untersuchen das Beziehungsgeflecht von Geste, Bewegung und Klang. In der Philharmonie Essen geht es am 1. November in den Nahen Osten: Hasti Molavian (Gesang) aus dem Iran und das E-MEX-Ensemble präsentieren unter anderem Werke der syrischen Komponisten Zaid Jabri und Dima Orsho. „Khorovod“, das Stück, das dem Konzert den Titel gibt, stammt von dem in London geborenen Julian Anderson und bezeichnet einen russischen Rundtanz.

Die Musik Afrikas vorzustellen, ist einer der diesmal nicht erfüllbaren Wünsche der Festival-Macher. Nicht nur, weil die Reisemöglichkeiten fehlen, sondern auch weil sich die Musik dieses Kontinents vornehmlich in Pop und Folk äußert. Das Ensemble Modern hätte am 7. November in der Philharmonie Essen seinen 40. Geburtstag mit einem Programm feiern sollen, zu dem ausschließlich Komponistinnen und Komponisten mit afrikanischem Background zu Klang gekommen wären: Daniel Kidane und Hannah Kendall (Großbritannien), Tania León (Kuba), Jessie Cox und Alvin Singleton (USA) sowie Andile Kumalo aus Südafrika.

Weitere Informationen: www.theater-essen.de

 




Mit Marionetten aus der Finsternis heraus: „Herzfaden“ – Thomas Hettches Roman über die Augsburger Puppenkiste

Auf diese Idee musste mal einer kommen: einen Roman rund um die legendäre „Augsburger Puppenkiste“ zu schreiben, innig verwoben mit den Zeitläuften in Weltkriegs- und Nachkriegszeit – und mit Ausläufern ins Heutige. Thomas Hettche ist derjenige, welcher. „Herzfaden“ heißt sein Buch. Der (auf Seite 64 erläuterte) Titel bezieht sich auf jenen unsichtbaren Faden, mit dem die Marionetten „am Herzen der Zuschauer festgemacht“ seien. Eben dies und ihre (im Gegensatz zu Schauspielern aus Fleisch und Blut) völlige Uneitelkeit machten ihre besondere Grazie aus.

So jedenfalls stellt es sich – im fernen Gefolge eines Heinrich von Kleist („Über das Marionettentheater“) – der Puppenkisten-Begründer Walter Oehmichen vor, mit dessen Fernseh-Aufführungen Generationen von bundesrepublikanischen Kindern aufgewachsen sind. Die äußerlich windungsreiche, aber letztlich auch gradlinige Handlung, die etwa mit Beginn des Zweiten Weltkriegs einsetzt und bis weit in die 1950er Jahre reicht, wird jedoch nicht aus seiner Perspektive erzählt, sondern aus der seiner 1931 geborenen Tochter Hannelore, genannt Hatü. Damit kommt im Wesentlichen eine Erzählhaltung aus kindlicher und sodann jugendlicher Unschuld, kommt auch unverdorbene Empathie ins Spiel, die mit Verwunderung und Irritation die Geschehnisse registriert – vom NS-Biolehrer mit seinen rassistischen Auslassungen bis zum „Verschwinden“ der jüdischen Einwohner, darunter auch eine Mitschülerin und deren Eltern.

Niemand entgeht der Verstrickung

Ganz ohne Verstrickung kann freilich auch Hatü nicht bleiben. Hettche verdichtet diesen Befund anhand eines Kasperle-Kopfes, den zunächst die immer leidenschaftlicher zu Werke gehende Hatü geschnitzt hat – freilich unbewusst nach dem Muster jener grauenhaften „Stürmer“-Zerrbilder von „nichtarischen“ Menschen. Vater Walter „korrigiert“ die Kasper-Fratze, weil Hatü vor ihrem eigenen Marionettengeschöpf Angst hat. Auf diese Weise wird ein ach so lustiger Heil- und Trostbringer im Ungeist der Truppenunterhaltung daraus. Auch noch nicht das Wahre. Doch es wird klar: Niemand kann sich aus seiner Zeit gänzlich heraushalten. Selbst der Kasper ist politisch. Harmlosigkeit geht nicht mehr.

Das changierende Bild des Kaspers, das auch in einer teilweise geisterhaften Gegenwarts-Handlung aufgegriffen wird, erweist sich als sinnhafte Verkörperung des allgemeinen Zwiespalts, ja der Verderbnis. Gegenwarts-Handlung? Jawohl. Ein Mädchen von heute, Scheidungskind mit allfälligem iPhone, verirrt sich auf einem labyrinthischen Dachboden mit den Augsburger Marionetten und trägt – wie einst Hatü, die ihr nun aus dem Jenseits hilft – Konflikte des Erwachsenwerdens aus, allerdings eher auf symbolischer Ebene und nicht auf lebensgefährlichem Terrain. Die entsprechenden Passagen sind rot gedruckt, während die (weit überwiegenden) Vergangenheits-Texte bläulich schimmern. Hat man den Lesenden nicht zugetraut, die Trennlinien selbst zu ziehen? Egal. Auch im „roten Bereich“ entwickeln die Marionetten (allen voran das Urmeli, Kalle Wirsch und Jim Knopf, aber z. B. auch der klapprige Tod, Kater Mikesch und der Kalifen-Storch) jedenfalls ein Eigenleben, von dem allzu erwachsene Menschen nichts ahnen.

Verfilmung ist bestens vorstellbar

Thomas Hettche hat zahlreiche Alltagsdetails aus den Jahrzehnten der Puppenkisten-Geschichte recherchiert. Teilweise trägt er das jeweilige Zeitkolorit ziemlich pastos auf. Damit wir nur ja glauben, dass wir jetzt in den Fünfzigern angelangt sind, müssen Stichworte wie Caprihosen, Pepitamuster und Jeans wie Trümpfe gezogen werden. Zuweilen wirken die Zeitenwechsel somit etwas konstruiert, stellenweise beinahe schon (um im Metier des Marionettentheaters zu bleiben) nach Art einer Kulissenschieberei. Bloße Signale stehen dann für die eigentliche Signatur jener Zeiten. Zum Glück erschöpft sich der Roman darin beileibe nicht.

Aufs Ganze gesehen, gelingt es dem Autor ja, die fragilen (und doch haltbaren) Träume vom Theater in entbehrungsreichen Zeiten so fasslich und anschaulich zu erzählen, dass man sich auch eine baldige Verfilmung bestens vorstellen kann. Vielleicht ist eine solche schon geplant. Bei entsprechender Begleitung dürften das Buch und ein etwaiger Film auch für Kinder ab etwa 11 oder 12 Jahren geeignet sein. Phasenweise erinnern manche Szenerien an die beachtliche Kinoversion von Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Kerr war jedoch zutiefst und schmerzlich in der erzählten Zeit verwurzelt, während Hettche (Jahrgang 1964) sich eben einiges zusammenreimen muss. Gewiss kein Vorwurf, sondern Feststellung. Jemand ohne Hettches schriftstellerische Erfahrung wäre an einem solchen Unterfangen wohl gescheitert.

In den frühen Fernsehtagen

So entfaltet sich die facettenreiche Geschichte denn doch zum vielfach aufschlussreichen Zeitbild. Nur ein paar Stichpunkte: Da ist der Vater Walter Oehmichen, von Hatü und ihrer Schwester Ulla arg vermisst, als er zum Kriegsdienst eingezogen worden ist und hernach (welch‘ eine Form der „Bewältigung“) für die Idee einer künftige Märchenbühne entbrennt. Nach und nach, in wechselnden Besetzungen, wird der mit heißen Herzen verfolgte Traum – mit allerlei Rückschlägen – Wirklichkeit, bis im Januar 1953 gar die erste NWDR-Fernsehübertragung der Puppenkiste („Peter und der Wolf“) ansteht, anfangs noch pausenlos live durchgespielt, später dann stückweise aufgezeichnet.

Just in jenen wirren Nachkriegsjahren übernimmt die nebenher in erste Liebesdinge eingesponnene Hatü zusehends die Geschicke der Puppenkiste und es beginnt das Ringen um neue, zeitgemäße Stoffe jenseits der Märchen. Dafür steht St. Exupérys „Kleiner Prinz“, dafür steht schließlich – gegen Ende des Romans – die Begegnung mit Michael Ende, der sich die wunderbare Geschichte von Jim Knopf ausgedacht hat, deren Umsetzung zum wohl allergrößten Erfolg der Augsburger Puppenkiste wurde.

Im Sinne eines stets wachen Bewusstseins, welchen finsteren Zeiten man entronnen ist und was der Finsternis allzeit entgegenzustellen wäre, gehen die blaue und die rote Geschichte glimpflich oder gar „gut“ aus. Und so darf auch das Mädchen von heute (das mit dem iPhone) am Schluss erleichtert aus der Dunkelheit ins Freie treten und ihr Leben recht eigentlich beginnen. Im Dachboden-Land der Marionetten, das wundersam Vergangenheit und Gegenwart umschließt, hat sich für sie so manches geklärt.

Thomas Hettche: „Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste“. Kiepenheuer & Witsch. 288 Seiten, 24 Euro.

 

 




Wuchtiges Werk auf schmalem Grat: Max Beckmann in der Hamburger Kunsthalle

Max Beckmann: „Messingstadt“ (1944), Öl auf Leinwand, 115 x 150 cm. (© Saarlandmuseum – Moderne Galerie, Saarbrücken, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz / © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 – Foto: Tom Gundelwein)

Versteckt hinter einem Vorhang lauert der Künstler und greift mit riesigen Händen nach seinem nackten Modell, das sich wollüstig ergibt und den erotischen „Traum des Bildhauers“ befriedigt.

Nachts stürzt er sich, verkleidet als dunkler „Vampir“, auf eine schlafende Schöne und saugt, während er sie vergewaltigt, das Blut der wehrlosen Frau aus. In der Hülle des mythologischen Stiers wird er zum Tier, erinnert sich an den „Raub der Europa“ und wirft sich das bewusstlose Objekt seiner Begierde über die Schulter: Der Mann als enthemmtes Wesen. Die Frau als wehrloses Opfer. Der Künstler als lüstern lechzender Voyeur und sexueller Triebtäter.

Wenn man nur diese drei mit farblichem Furor und wilder Gebärde auf die Leinwand geworfenen Werke von Max Beckmann betrachtet, kann einem ganz schummrig werden. Niemals käme man auf die Idee, dass sich die 140 Werke umfassende Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle eigentlich um das genaue Gegenteil drehen soll.

Max Beckmann: „Bildnis Käthe von Porada“, 1924, Öl auf Leinwand, 120 x 43 cm, Leihgabe der SEB Bank, Standort: Städel Museum, Frankfurt am Main (© VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / © Städel Museum – Artothek – Foto: U. Edelmann)

Konzept mit Kultur-Quark

Kurioserweise behauptet Kuratorin Karin Schick unter dem Titel „weiblich – männlich“, dass Beckmann nicht nur Geschlechterrollen festschrieb, sondern sie zugleich öffnete: „Er fand Zartheit in Frauen- und in Männerfiguren, Schlagkraft in der Heldin wie im Helden. Fasziniert von den Mythen verschiedener Kulturen, kannte er die uralte Vorstellung, dass Frau und Mann aus einem einzigen, androgynen Geschlecht hervorgingen, nach dessen Einheit man sich auf ewig zurückseht.“ Abgesehen davon, dass das ziemlicher Kultur-Quark ist, sieht man davon in der Ausstellung so gut wie nichts.

Max Beckmann: „Odysseus und Kalypso“, 1943, Öl auf Leinwand, 150 x 115,5 cm (© Hamburger Kunsthalle / bpk / © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: Elke Walford)

„Kriechende Frau“

Ja, es gibt ein paar zart besaitete Frauen-Porträts, kunstfertige Auftragsarbeiten für den Salon der „Käthe von Porada“, „Frau Dr. Heidel“ wird zur zeitlosen Schönheit, seine hoch verehrte Schwiegermutter „Frau Tube“ ins rechte Bild rückt. Aber überwiegend inszeniert sich Beckmann auf unzähligen Bildern und Zeichnungen als selbstverliebter Gockel, geheimnisvoll lächelnd, eine Zigarette in den feingliedrigen Fingern. Die Frauen schmachten ihn an, halten sich fest an ihm, senken brav den Blick, bezirzen ihn mit Laszivität, spielen „Die Erschrockene“, werfen sich ihm als „Kriechende Frau“ vor die Füße. Um zu zeigen, dass Männer auch sensibel sein können, legt Beckmann ihnen manchmal ein Buch in die klobigen Hände oder malt ein paar weiße Blumen an die Wand.

Gewaltbereite Männlichkeit

Die Werke, meint die Kuratorin, „zeigen Selbstbewusstsein, Hingabe und Widerstreit, Macht und Ohnmacht, Freiheitsdrang und Verschmelzung“. Mag sein, vor allem aber zeigen sie den Mann als gewaltbereiten Täter, der hinauszieht in die feindliche Welt und sich nach gewonnener Schlacht gern von einer willigen Schönheit besänftigen lässt. Das schmälert nicht das wuchtige und wirkungsmächtige Werk Beckmanns, das hier in einer großen Fülle zu besichtigen ist. Aber es zeigt doch auch, auf welchem schmalen Grat eine Ausstellung wandelt, die sich ein Thema herbeifantasiert und es dann nicht einlöst.

„Max Beckmann: weiblich – männlich.“ Hamburger Kunsthalle. Bis 24. Januar 2021. Di, Mi, So: 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr, Fr, Sa: 10-20 Uhr. Katalog: Prestel Verlag, in der Ausstellung: 29 Euro, im Handel 45 Euro. www.hamburger-kunsthalle.de

 




Unsterbliche Sissi – im Westfälischen Landestheater erinnert ein neues Stück an das tragische Leben von Romy Schneider

Zweimal Romy, ausgelassen: Franziska Ferrari (links) und Vesna Buljevic (Bild: Volker Beushausen/WLT)

Auf der Bühne kommt Romy Schneiders Nachlass unter den Hammer. Möbel, Tücher, Gläser, Kleidungsstücke werden aufgerufen, Aschenbecher, Kerzenleuchter, Pumps, ein Schaukelpferd – alles in chronologischer Reihenfolge.

Offenbar sind die Dinge gefragt, Zuschläge erfolgen auf hohe Gebote. Dies mag man – auch – als Anspielung auf die ungebrochene Attraktivität verstehen, die die tragische Biografie der Romy Schneider für das heutige Publikum immer noch hat und die das Westfälische Landestheater (WLT) veranlasste, ein Stück über sie ins Programm zu heben.

Eine zwielichtige Gestalt: Burghard Braun als Hans-Herbert „Daddy“ Blatzheim (Bild: Volker Beushausen/WLT)

Corona hat den Start verhagelt

Vor zwei Jahren widmete sich der Film „Drei Tage in Quiberon“ der Schauspielerin, derzeit bereiten sich (nicht nur) die bunten Blätter auf den 65. Geburtstag des grandiosen Filmklassikers vor. Und das WLT zeigt seine Produktion „Ich bin eine Schauspielerin, mehr nicht“ von Karin Eppler (auch Regie) – jedenfalls ab und zu. Die verspätete Premiere fand im September im Theater Marl statt, weil Corona sie im Frühjahr in Castrop-Rauxel verhindert hatte. Mitte November wird sie nun in Boppard (15.11.) und Mettmann zu sehen sein (17.11.), Castrop-Rauxel muss sich bis März 2021 gedulden.  Und das alles noch unter Pandemie-Vorbehalt.  Falls jedoch gespielt wird, gibt es die Romy gleich zweifach.

Rollen reichlich: Die Sonnenbrille macht Mario Thomanek zu Alain Delon. (Bild: Volker Beushausen/WLT)

Zweifache Romy

Die eine Romy Schneider ist jung, emotional, glücklich, traurig, ehrgeizig, ängstlich, lebenshungrig und vieles mehr, die andere abgeklärt und verständnisvoll. Beide verfolgen die Versteigerung, erinnern sich und führen einen Dialog, in dem die ältere Romy oft versucht, die jüngere zu besänftigen, ihren Gefühlsexplosionen rationalen Halt zu geben. Doch das gelingt nur bedingt.

Markige Männer

Drittes Element des Stücks schließlich sind Spielhandlungen, kleine Szenen, in denen die Menschen vorkommen, die für Romy in bestimmten Zeitabschnitten lebenswichtig waren. Mit Ausnahme der übermächtigen Mutter Magda Schneider sind es eigentlich nur Männer, beginnend mit Vater Wolf Albach-Retty und Stiefvater Hans-Herbert „Daddy“ Blatzheim, denen Alain Delon, Harry Meyen, der Verbrecher Burkhard Driest und viele andere folgen. Auch der Fotograf Robert Lebeck, der Romy kurz vor ihrem Tod noch für den „Stern“ fotografierte, findet Erwähnung. Und in dieser überaus soliden Stückkonstruktion, linear erzählt, spult sich nun die tragische Biografie der früh Verstorbenen vor uns ab.

Perfekter Gegenentwurf

Zumal ein älteres Publikum wird hier kaum Neues erfahren. Doch hat es durchaus seinen Reiz, sich diese Künstlerbiografie wieder einmal zu vergegenwärtigen. In Deutschland, im deutschen Kino zumal, war Romy Schneider geradezu der perfekte Gegenentwurf zu so beunruhigenden Jugendmoden wie Rock’n’Roll oder renitenten Filmhelden wie Marlon Brando. Perfekt bediente der Sissy-Mythos die Heile-Welt-Sehnsüchte einer kriegsgeschundenen Generation. Auch heute noch, wenn das Fernsehen wieder mal einen alten Sissy-Film zeigt, kommt man nicht umhin, zuzugeben, dass diese unter professionellen Gesichtspunkten extrem gut gemacht sind. Und dass die blutjunge Romy Schneider ein auratischer Star war.

Romy Schneider, verletzlich (Franziska Ferrari). (Bild: Volker Beushausen/WLT)

Seelische Qualen

Gelebt hat sie eben so, wie Prominente im Showgeschäft häufig leben, immer auf der Überholspur. Das wäre für sich genommen ja noch nicht tragisch gewesen; aber Romy Schneiders zornige Abkehr vom deutschen Sissy-Zuckerguss, ihre Karriere in Frankreich, ihre unbotmäßigen Männerbeziehungen, ihre seelischen Qualen und der Unfalltod ihres Sohnes David ergeben in der Summe eine respekteinflößende Lebensgeschichte. Auch heute noch.

Das missbrauchte Kind

Leider beschränkt sich Karin Epplers Stück auf ein biederes Nacherzählen, das sich psychologischer Ausdeutungen weitestgehend enthält. Auch ist kein Ehrgeiz spürbar, etwas Anderes als quasi Aktenkundiges anzubieten. Dabei wäre es sicherlich kein Fehler gewesen, zum Beispiel nach Gemeinsamkeiten in Biographien von Künstlerinnen wie Marilyn Monroe, Judy Garland oder eben Romy Schneider zu suchen, die von skrupellosen Eltern und Erziehern zu Showstars gemacht wurden, ohne dem seelisch gewachsen zu sein. So aber bleibt dies ein erstaunlich blutleeres Theater, mit viel Erregung und wenig Dramatisierung.

Spuckschutz und Handschuhe

Doch bereitet es Freude, dem Personal bei der Arbeit zuzuschauen, die häufig übrigens, kein Zuckerschlecken, mit Spuckschutzmaske und Handschuhen erledigt werden muss. Franziska Ferrari gibt die Romy mit großem, fast schon athletisch zu nennenden und dabei stets leichtfüßig-elegantem Körpereinsatz, Vesna Buljevic bildet als ältere Romy – „Frau Schneider“ laut Besetzungszettel – einen gelassenen Gegenpol, und zusammen sind sie eine durchaus gelungene Spielpaarung. Lediglich zum Ende hin hat die Ältere keinen rechten Platz mehr in der Inszenierung, wenn Romy die Dinge mehr und mehr entgleiten, Suchtprobleme beherrschend werden und man schließlich nicht genau weiß, woran sie eigentlich gestorben ist.

Klänge von damals

Svenja Marija Topler gibt – im zeittypischen Weiße-Punkte-Kleid – die dominante Magda Schneider, und ebenso wie Burghard Braun, Mario Thomanek und Tobias Schwieger tritt sie in etlichen weiteren Rollen auf. Sechs Darstellerinnen und Darsteller haben über 30 Rollen zu bewältigen, das klingt schwierig und gelingt mit bildstarken Requisiten doch recht gut. Die Sonnenbrille markiert den Alain Delon, die Lederjacke den Burkhard Driest, und so fort. Einen guten Eindruck hinterlässt schließlich auch eine sorgfältig eingepasste Tonspur, die immer wieder einmal mit kurzen, prägnanten Musikeinspielern Zeitkolorit entstehen lässt (Ton: Benjamin Hasenclever).

In Marl spendete das Publikum  reichen Applaus. Wenn es trotzdem verhalten klang, ist das der luftigen Corona-Sitzordnung anzulasten.

Aufführungstermine der Produktion „Ich bin eine Schauspielerin, mehr nicht. Romy Schneider – Das Leben einer Ikone“:

  • 15.11.2020 19.00 Boppard Stadthalle
  • 17.11.2020 19.00 Mettmann Neandertalhalle
  • 4.3.2021 20.00 Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 10.3.2021 20.00 Rheda-Wiedenbrück Stadthalle
  • 20.3.2021 20.00 Castrop-Rauxel Studio
  • 9.5.2021 19.30 Witten Saalbau
  • 19.5.2021 19.30 Hameln-Theater
  • 19.6.2021 20.00 Bocholt Innenhof

 

 




Reichlich „Punk“ im Jammertal: Ralf Rothmanns Erzählband „Hotel der Schlaflosen“

„Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet…“ Solche Klappentext-Auszüge aus der Vita lassen lesende Revierbürger seit langer Zeit aufhorchen, denn allzu viele literarische Eigengewächse von Rang und Namen haben wir hier ja leider nicht. Und so kommt man von Zeit zu Zeit gern auf den Autor von „Milch und Kohle“ (sowie etlicher anderer Romane) zurück, der doch schon seit 1976 in Berlin lebt.

Jetzt hat Rothmann einen Band mit Erzählungen vorgelegt. In „Hotel der Schlaflosen“ zeigt er, welche staunenswerte Bandbreite sein Schaffen schon in der kleineren Form umfasst. Allein die Vielfalt der Schauplätze und des Personals verlangt wendige gestalterische Potenz von höheren Graden.

Jede Erzählung führt uns in eine andere und schließlich doch immer wieder in dieselbe Welt, denn da muss es doch wohl tiefere innere Zusammenhänge geben. Die aber haben die Lesenden zu erkunden, der Schreibende wird sie klugerweise nicht vorgeben. Eins aber wird vielfach klar: Um eine Formulierung Rothmanns aufzugreifen, mutet das Leben den Menschen oft reichlich viel „Punk“ zu. Früher hätte man wahrscheinlich vom „Jammertal“ auf Erden gesprochen.

Monolog eines stalinistischen Exekutors

Da folgen wir also einer Geigerin auf ihren letzten Wegen nach einer niederschmetternden ärztlichen Diagnose. Da ertragen wir – in der titelgebenden Geschichte „Hotel der Schlaflosen“ – den furchtbar abgründigen Monolog eines Mannes, der in einem stalinistischen Tötungs-Kommando massenhaft Exekutionen ausführt. Da erfahren wir von der grausam verpfuschten Jugend einer Frau, die ihres Lebens nimmer froh werden wird. Resignierender Titel dieser Erzählung: „Auch das geht vorbei“. Die spätere Story „Alle Julias!“ kontrastiert das seitherige Leben zweier ehemaliger WG-Genossinnen und oszilliert zwischen Geplapper, dürrer Hoffnung und stummer Verzweiflung.

Zwischendurch hat „Der dicke Schmidt“ seine zunächst rabiaten, dann aber anrührenden Auftritte. Für seine behinderte Tochter kämpft sich dieser Mann als Oberpolier beim Bau ruppig durchs Leben. Folgt eine ganz anders geartete Episode, eine bizarre Persiflage auf Berlin zur Zeit der Mauer – leichthändig durchgespielt anhand eines Filmprojekts und seiner Komparsen. Welch eine Farce, die die zeitgeschichtlichen Umstände verzerrspiegelt!

…und noch so ein gescheitertes Frauenleben 

Tragisch endet hingegen die auch pferdefachsprachlich ausgefeilte Erzählung über „Admiral Frost“, einen Deckhengst, der – per „Natursprung“ (und nicht via Samenspritze) – eine Stute begatten soll, was als durchaus animalischer, gewaltsamer Akt geschildert wird. Auch hier schimmert letztlich wieder ein kläglich gescheitertes Frauenleben hindurch – und es stellt sich mit ziemlicher Härte die Klassenfrage; wie denn überhaupt in diesem Band gar deutlich wird, wie durchlässig die gesellschaftlichen Schichten (geworden) sind – zumeist nach unten hin und zuweilen ins Bodenlose.

Weit, weit hinaus führt „Die Nacht in der Wüste“. Ein ergrauter deutscher Biochemie-Dozent, tätig in La Paz (Bolivien), nimmt eine junge deutsche Tramperin auf abenteuerlichen Wegen durch Mexiko mit. Das Land, so zeigt sich in drastischen Szenen, ist noch ungleich gewaltsamer als zu jener Zeit, als der Tochter des Biochemikers etwas widerfahren ist, was nicht konkret benannt wird. Aber man kann es sich denken. Die Tramperin freilich scheint trotzig entschlossen, ihren Weg allein fortzusetzen. Wenn das denn eine Hoffnung sein soll, so wagt sie sich nur scheu hervor und hat sich geschickt camoufliert.

Ein versoffener Bestatter in Ruhrgebiet

Schließlich, in der vorletzten Geschichte, eine „Rückkehr“ ins Ruhrgebiet. Hier geht es um den versoffenen Bestatter Egon, der seinen Vater sehr früh durch ein Zechenunglück verloren hat und nun – mit über 70 Jahren – aufbricht, um bei einer erneuten Grubenkatastrophe in Bottrop seine Dienste anzubieten… Auch dies eine herzzerreißende Handlung, durch keinerlei Moral oder gar segensreichen Trost gemildert.

Warum wir fast alle Geschichten kurz erwähnt haben? Weil man beim Lesen jede neue gleichsam als Bereicherung und Erweiterung der vorherigen begrüßt – und sei sie noch so schmerzlich. Weil man am Ende eigentlich keine einzige missen möchte. Weil Ralf Rothmann allerlei erzählerische und sprachliche Klippen gekonnt umschifft, wobei er aus wechselnden Lebenslagen keine „Lehren“, wohl aber Essenzen gewinnt.

Am Ende haben ja vielleicht sogar die Pelikane, die Rothmann in mehreren Geschichten erwähnt, etwas Besonderes zu bedeuten. Oder kommen sie etwa nur zufällig vor? Da haben wir es, das Pelikan-Problem.

Ralf Rothmann: „Hotel der Schlaflosen“. Erzählungen. Suhrkamp-Verlag. 206 Seiten, 22 Euro.




„Es ist, wie es ist“ – die frühen Jahre des Gerhard Richter

Gerhard Richter: „Sitzende“ (Oktober 1961), Öl auf Hartfaserplatte, 70×50 cm, Privatsammlung, Norddeutschland. (© Gerhard Richter 2020 (10042020) / Foto: Estel/Klut SKD)

Eigentlich geht es Gerhard Richter in der DDR gar nicht schlecht. Vom Erlös seiner Bilder kann er ganz gut leben. In Dresden, wo er studiert hat und an der Kunst-Hochschule weiterhin wirkt, gilt er manchen jungen Kollegen sogar schon als Bonze und Sprachrohr der Einheitspartei.

Doch Gerd (wie er sich damals nennt) sieht sich in einer künstlerischen und politischen Sackgasse. Auf der documenta in Kassel hat er den Surrealismus und die abstrakte und informelle Moderne kennengelernt. Jetzt hat er keine Lust mehr, sein Talent mit dem von der SED propagierten sozialistischem Realismus zu vertrödeln. Auch wenn es für den 29-jährigen Künstler ein enormes Risiko und Wagnis ist: Gerd will in den Westen und noch einmal ganz neu anfangen.

Im Westen erwartet ihn nichts und niemand

Im Februar 1961 verkauft er seinen Trabant, steckt ein paar Zeichnungen ein und fährt mit seiner Ehefrau Marianne von Dresden nach Berlin. Schon vorher hatte er, auf der Rückreise von einem Studienaufenthalt in Leningrad und Moskau, auf dem Berliner Bahnhof Zoo ein paar Koffer mit privaten Sachen deponiert. Die wird er jetzt brauchen: Denn außer einem kleinen Begrüßungsgeld und einigen warmen Worten erwartet ihn im Westen nichts und niemand.

Gerhard Richter: „Wunde 16″ (Nr. II/16/62), Februar 1962, Öl auf Hartfaserplatte, 70×100 cm, Sammlung Susanne Walther (©Gerhard Richter 2020 (10042020))

Trotzdem hofft er, an der Kunstakademie in Düsseldorf, wo sich in diesen Jahren um Joseph Beuys und der Künstlergruppe ZERO eine progressive Kunstszene entwickelt, Fuß fassen zu können. Doch bis er in die Klasse von Professor Ferdinand Macketanz aufgenommen wird und ein eigenes Zimmer in der Kirchfeldstraße 104 beziehen kann, ist es noch ein weiter Weg, muss er noch ein paar Wochen ins Aufnahmelager nach Gießen, um dort die Formalitäten seiner Übersiedelung zu beschleunigen.

„…beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“

An Helmut und Erika Heinze, seine in Radebeul (bei Dresden) gebliebenen Freunde, schreibt er in der Zeit des Wartens und Übergangs in eine ungewisse Zukunft immer wieder Briefe: „Es ist triste hier und beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“, notiert er. Ein anderes Mal: „Nicht dass ich irgendetwas bereue. Für mich war das Abbrechen logisch und notwendig, wie immer es auch ausgehen mag.“ Und immer wieder zieht er, zwischen vagen Hoffnungen und existenziellen Nöten schwankend, das lakonische Fazit: „Es ist, wie es ist.“

„Gerd Richter 1961/62: Es ist, wie es ist“: So heißt jetzt eine Ausstellung im Dresdner Albertinum, die sich ganz dieser weithin unbekannten Phase im Leben des inzwischen bekanntesten zeitgenössischen deutschen Künstlers widmet und Briefe und Dokumente, Zeichnungen und Bilder präsentiert, die bisher kaum jemand zu Gesicht bekommen hat. Die Schau ist klein und präsentiert nur wenige Werke, aber sie ist – will man wissen und verstehen, wie Richter zu dem wurde, was er heute ist – ungemein wichtig.

Zubrot mit Bemalung von Karnevalswagen

Die in Vitrinen präsentierten Briefe zeigen einen von Angst und Sorgen gepeinigten Künstler, der sich in einer Zeichnung als Gefangener im Gießener Lager stilisiert; der sich ein Zubrot mit dem Bemalen von Karnevalswagen und dem Verkauf von Mal-Utensilien verdient; der alles daran setzt, in Düsseldorf zu reüssieren, seine in Dresden erprobten figurativen Bildelemente mit den informellen und abstrakten Möglichkeiten der westlichen Moderne zu kombinieren.

Gerhard Richter: Ohne Titel („Emas Bluse“), 1962, Bluse mit Gips und Lack, 71,7 ×38,1 cm (gerahmt), Igal Ahouvi Art Collection (© Gerhard Richter 2020 (10042020))

Während seine „Sitzende“ noch sehr an Picassos kubistische Zeichenhaftigkeit erinnert, sind die verschmierte graue „Wunde“ und der bunt verkleckerte „Fleck“ schon abstrakte Farbfantasien, die er sich bei Karl Otto Götz abgeschaut haben mag, dem von Richter hoch verehrten Mal-Professor, in dessen Düsseldorfer Klasse er bald schon, im April 1962, wechseln wird.

Aufgeregte Debatten um Debüt in Fulda

Immer wieder schickt er Briefe zu seine Freunde nach Radebeul, reflektiert sein Werk, entwirft Skizzen für seine Bilder, legt Fotos bei, die er von seiner Wohnung macht. Natürlich berichtet er ihnen auch von seiner ersten Ausstellung: Gemeinsam mit Manfred Kuttner kann er im September 1962 in der „Galerie junge Kunst“ in Fulda einige seiner neuesten Werke zeigen. Sie erregen in der örtlichen Presse einiges Aufsehen, die an die Wand gehängten präparierten Kleidungsstücke – zum Beispiel ein lackiertes Hemd – lösen Debatten aus: Von „einfach toll“ über „großer Blödsinn“ bis „Kulturschande“ reichen die von der „Fuldaer Volkszeitung“ wiedergegebene Kommentare der Besucher. Verkaufen wird Richter kein einziges der in Fulda gezeigten Werke. Aber das macht nichts. Er weiß jetzt, dass alles ganz anders werden muss.

Bilderverbrennung und radikaler Neubeginn

Um sich von allem Ballast zu befreien, verbrennt er die Bilder in einem Baucontainer im Hof der Düsseldorfer Akademie: ein Befreiungsschlag und radikaler Neubeginn. „Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich mit den Bildern Erfolg gehabt hätte“, wird er viele Jahre später sagen. Nach dem Autodafé wird er Ende 1962 beginnen (Gemälde Nummer 1: „Tisch“), seine Werke zu nummerieren und zu katalogisieren. Doch das ist ein anderes Kapitel. Wer einige dieser Werke – zum Beispiel das nach einem Foto gemalte unscharfe Bild Nummer 14: „Sekretärin“ oder die mit dem Rakel gezogene Farbexplosion Nummer 722-3: „Abstraktion“ – bewundern will, braucht nur eine Treppe höher zu steigen: In der Dauerausstellung des Albertinums sind zwei Säle dem großen Meister gewidmet.

„Gerd Richter 1961/62: Es ist, wie es ist“, Albertinum, Dresden. Bis 29. November. Aktuelle Informationen zu Öffnungszeiten, Programm und Besuchsmodalitäten in Zeiten von Corona auf der Webseite www.skd.museum. Katalog (Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln), 125 Seiten, 29,80 Euro.




Flutendes Licht – Hasso Plattners Impressionisten-Sammlung als neue Dauerschau im Potsdamer Museum Barberini

Paul Signac: „Der Hafen bei Sonnenuntergang“, 1892, Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm, Sammlung Hasso Plattner

Paul Signac sieht einen „Hafen bei Sonnenuntergang“: Das Licht flirrt in orangefarbenen Punkten übers seichte Wasser und geleitet das letzte Segelboot in sichere Gefilde. Pierre-August Renoir schaut auf den „Birnbaum“ in seinem Garten und lässt die trockenen Blätter des Herbstes in rötlichen Farben knistern.

Alfred Sisley stapft durch den frisch gefallen „Schnee in Louveciennes“ und scheint eine ganze Schippe glitzernder weißer Flocken auf die Leinwand verstreut zu haben. Und die im Abendlicht auf der gerade gemähten Wiese sich träge erhebenden „Getreideschober“ von Claude Monet glühen Lila und Rot, scheinen Feuer gefangen zu haben, vor Hitze zu dampfen und fast zu brennen. Es sind die wohl teuersten Getreidehaufen der Kunstgeschichte: Hasso Plattner hat sie kürzlich für 110 Millionen Dollar auf einer Auktion erstanden. Jetzt bringt der Stifter, Kunstmäzen, Sammler und Mitbegründer der Internet-Schmiede SAP seinen Monet in die neue Dauerausstellung „Impressionismus“ ein, mit der das Potsdamer Museum Barberini die Besucher über Jahre erfreuen möchte.

Allein 34 Werke von Claude Monet

Dass Hasso Plattner die Impressionisten besonders wertschätzt, konnte man ahnen. Schon die Eröffnung des von ihm mit einer beträchtlichen Geldsumme gesponserten Museums vor drei Jahren startete mit einem opulenten Überblick über die französischen Impressionisten. Und kurz bevor Corona die Kunst allerorten zum Stillstand brachte, legte das Barberini mit einer viel beachteten Monet-Ausstellung nach. Viele der dabei gezeigten Werke waren einem anonymen Privatsammler zugeordnet. Jetzt ist klar, dass sie Plattner gehören. Vor allem natürlich die 34 (!) Monets, die den Grundstock der 103 Bilder umfassenden Impressionisten-Schau ausmachen.

Alfred Sisley: „Schnee in Louveciennes“, 1874, Öl auf Leinwand, 54 x 65 cm, Sammlung Hasso Plattner

Lauter Genies der Kommunikation

Neben Monet sind fast alle Größen da: Renoir und Sisley, Pissarro und Signac, Caillebotte und Cézanne. Sogar ein Picasso hat sich in die Sammlung verirrt: als junger Künstler hat er (1901) den „Boulevard de Clichy“ als Meer aus Licht und Farbe eingefangen. Nur einer der ganz großen Künstler fehlt: Édouard Manet. Auch wenn auf Plattners Konto genug Geld ist: Es gibt derzeit keinen Manet zu kaufen, jedenfalls keinen, der den gehobenen Ansprüchen des Sammlers genügen würde.

Dabei hat Plattners Leidenschaft eigentlich einen ganz naiven Grund: „Die Gemälde beziehen uns als Betrachter unmittelbar mit ein. Wir spüren den Wind auf der Haut und die Temperatur des Wassers, wenn wir Monets Segelbooten auf der Seine zusehen. Das schafft keine andere Kunst. Die Impressionisten sind Kommunikationsgenies.“ Dass große Kunst immer auch große Kommunikation ist, der man sich nicht entziehen kann, weil sie einen emotional und intellektuell entzündet: geschenkt.

Erfreuen wir uns also an lichtdurchfluteten Landschaften und sinnlich erfahrbaren Farbräuschen, die uns die oft unerträgliche Realität als zauberhafte Fantasie zeigen (und verschönern) und uns die wahnhafte, von ausufernden Stadtlandschaften und ungezügelter Industrie verunzierte Welt in ein anderes, besseres Licht rückt.

Museum Barberini, Potsdam: „Impressionismus“. Neue Dauerausstellung. Katalog (Prestel Verlag): im Museum 30 Euro, im Buchhandel 39 Euro. Infos unter www.museum-barberini.de




Festival Alte Musik im rheinischen Knechtsteden: Beethoven im Licht seiner Lehrer und Zeitgenossen

Die Rheinische Kantorei und Das kleine Konzert. (Foto: Thomas Kost)

Offenbar kommt selbst ein Festival für Alte Musik in diesem Jahr nicht an Beethoven vorbei. Im rheinischen Knechtsteden organisiert Festivalleiter Hermann Max einen Beethoven-Abend, dessen Programmheft den pathossatten Titel „Nacht und Stürme werden Licht“ trägt.

Wer jedoch in der ehrwürdigen romanischen Basilika der ehemaligen Prämonstratenserabtei Knechtsteden auf dem Gebiet der Gemeinde Dormagen einen der üblichen Beethoven-Meisterwerk-Hommage-Abende erwartet, würde Hermann Max ziemlich unterschätzen: Der Leiter der Rheinischen Kantorei und des Barockorchesters „Das kleine Konzert“ erkundet „Beethovens Musikwelt“ in einem – mit zwei Pausen – mehr als dreistündigen Programm. Es leistet damit, was man sich andernorts öfter wünschen würde: Der „Ausnahme“-Komponist wird mit der „Regel“ des Komponierens seiner Zeit, mit Musik seiner Vorgänger, Zeitgenossen und Lehrer konfrontiert. Er verliert damit den Nimbus des Solitärs, wird aber in seinem einzigartigen Rang bestätigt, ohne dass alle anderen notwendigerweise ins Vergängliche oder gar in belanglose „Kleinmeisterei“ abgedrängt werden. Beethoven als einer unter anderen und doch nicht als einer wie alle anderen – das ist eine der Erhellungen des Programms.

Die romanische Basilika von Knechtsteden ist ein bedeutendes Zeugnis der Baukunst des 12. Jahrhunderts. Die ehemalige Prämonstratenserabtei ist heute Sitz des Provinzialats und des Missionshauses der Spiritaner. (Foto: Werner Häußner)

Die andere: Der in Wien zu monumentaler Größe herangewachsene Bonner ist nicht das einsame Genie, zu dem ihn eine nicht zuletzt nationalistisch beseligte Musikgeschichte stilisiert hat. Sondern er wurzelt in vielfältigen Traditionen; er saugt Einflüsse seiner Umwelt auf. Mehr noch: Bei ihm ist die Musik eine Kunst der Form und Ordnung, strebt aber nach Ausdruck, nach Aussage, sogar nach Überwältigung. In dieser Spannung spielt das Nachdenken über die Welt eine entscheidende Rolle – daher gilt Beethoven als „Philosoph“ unter den Komponisten, als der er sich wohl auch selbst verstanden hat.

Der „große Tonmeister oben“

Was im säkularisierten Kontext oft vergessen, verdrängt oder als marginales biographisches Beiwerk kaum beachtet wird: In diesem Nachdenken ist Gott, der „große Tonmeister oben“, ein unverzichtbarer Begriff, der Ausgangspunkt und das Ziel jeglichen Denkens. Dass Beethoven – wie sein sonst nicht immer zuverlässiger Biograph Anton Schindler wohl zutreffend sagt – nie über „Religionsgegenstände“ gesprochen habe, sein kirchliches Bekenntnis im nachjosephinischen Wien „gewissermaßen eingeschlummert“ sei, bedeutet für den Denker Beethoven nicht viel. Ob er weniger gläubig war als etwa der eifrig praktizierende Anton Bruckner, lässt sich am Mangel an frommer Verrichtung jedenfalls nicht entscheiden.

Ist Beethovens geistliche Musik also weniger „geistlich“ als etwa die Messen Bruckners oder Haydns? Martin Geck kommt in seinem brillanten Beethoven-Buch zu einem anderen Ergebnis. Er betont den Wert religiöser Autoren wie Christoph Christian Sturm („Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres“) und Johann Michael Sailer, dessen „Goldkörner der Weisheit und Tugend. Zur Unterhaltung für edle Seelen“, vor allem aber die Übersetzung der „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen prominente Lektüre Beethovens waren. Der immer wieder angefeindete Sailer, ab 1829 Bischof von Regensburg, ist nach Geck eine „zentrale Figur in der inneren Welt Beethovens“.

Lächerlich und geschmacklos?

Hermann Max gründete das Festival im Jahr 1992. (Foto: Werner Häußner)

Der Komponist versucht vor allem in seiner „Missa solemnis“ op. 123, aber auch bereits in seiner C-Dur-Messe op. 86, sich der liturgischen Form unterzuordnen, aber gleichzeitig persönliche Betroffenheit und religiöse Erfahrung auszudrücken. Hermann Max demonstriert diesen innovativen Ansatz Beethovens mit seiner Rheinischen Kantorei am letzten Abschnitt der C-Dur-Messe, dem „Agnus Dei“: Fast zum Verzweiflungsschrei wird das Forte auf „Dei“ in der eröffnenden Anrufung, düster drückt der Bass die Welt in die Tiefe („peccata mundi“). Der Kontrast des flehentlich gesteigerten „miserere nobis“ zum milden piano des „dona nobis pacem“ ist geschärft, die Bitte um Frieden mit der nötigen Emphase ausgedrückt. Max macht mit seinen Sängern deutlich, wie Beethoven jedes Wort des Textes mit Ausdruck belegt. Dem Auftraggeber, dem Fürsten Nikolaus II. Esterházy, hat die mit großem Ehrgeiz komponierte Messe – Beethoven musste sich ja dem achtunggebietenden Vorbild Haydn stellen – nicht gefallen; er fand sie lächerlich und geschmacklos.

Warum das harte Urteil? Beethoven hatte ganz im Sinne damals modernen liturgischen Denkens das Wort sorgsam behandelt, ohne die musikalische Form aus dem Blick zu verlieren – er selbst sagt, er habe den Text behandelt, „wie er noch wenig behandelt worden“. Die Tradition, derer sich Beethoven bedient, erklang in dem Konzert mit dem „Kyrie“ aus der Messe A-Dur Johann Sebastian Bachs – in der Weite der Knechtstedener Basilika gesungen in wundervoll reiner Intonation – und im „Crucifixus“ der h-Moll-Messe, deren expressiven ostinaten Bass Hermann Max‘ Orchester kraftvoll, aber nicht ruppig intoniert – und damit zeigt, wo die Wurzeln von Beethovens Ausdrucks-Musik liegen.

Ein anderes Beispiel liefert Johann Philipp Kirnbergers „Erbarm dich, unser Gott“, in dem das Wort „Gott“ ähnlich wie im „Agnus Dei“ der Beethoven-Messe ein beschwörender Aufschrei ist. Antonio Salieris „Salve Regina“ mit seinem harmonisch-sanglichem Satz spiegelt die flehentliche Süße des „dona nobis pacem“ wieder. Als Kontrast darf die „Missa Sancti Huberti“ von Johann Ries gelten: Deren „Sanctus“ ist aufklärerisch in seinen leicht fasslichen Harmonien und dem Verzicht auf kontrapunktischen Ehrgeiz, gibt dem Sopran Kerstin Dietl dankbares Material, um die Stimme leuchten zu lassen, und erfüllt wie das Klavierquintett op. 74 seines Sohnes und Gefährten Beethovens Ferdinand Ries sehr gekonnt die Form, ohne ihre Grenzen zu sprengen.

Pathos und Dramatik

Spannend auch die Begegnung mit Christian Gottlob Neefe. Nach Einschätzung der Beethoven-Spezialistin Julia Ronge wird er als Lehrer des jungen Louis zwar überbewertet, wie sie in einem der Gesprächseinschübe zwischen den drei Musikblöcken des Konzerts kundtat. Doch zeigt sich Neefe in der Szene „Der Regen strömt, der Sturm ist erwacht“ als treffsicherer Dramatiker, dessen erregte Klavierfiguren Tobias Koch auf einem Hammerflügel der Beethovenzeit aus der Werkstatt des Wieners Conrad Graf mit passender Bravour aufschäumen lässt.

Auch ein Ausschnitt aus Johann Nepomuk Hummels Oratorium „Der Durchzug durchs Rote Meer“ aus dem Jahr 1806 gibt ein Zeugnis davon, wie Pathos und Expression in die Musik der Zeit Einzug gehalten haben: Der Donner rollt, die Blitze zucken und die Musiker von „Das kleine Konzert“ haben hörbar Freude daran, diese auf Carl Maria von Weber vorausweisenden Klänge zu befeuern. Andreas Post singt den „Würg’engel“ in unheimlich engen chromatischen Schritten mit einer unfehlbar sitzenden, schneidenden Stimme. Und wenn am Ende die Pauke aufrollt, meint man, die musikalische „Mahlerey“ eines Abbé Georg Joseph Vogler zu vernehmen, jenes avancierten Musiktheoretikers, dessen Verhältnis zu Beethoven bisher kaum beleuchtet wurde.

Die über drei Stunden dieser langen Konzertnacht verflogen im Nu und bereicherten mit einer Fülle musikalischer Eindrücke, die das Phänomen Beethoven mit treffsicher ausgewählten Schlaglichtern überraschend und aufschlussreich beleuchteten.




Auf ein Neues: Museum in Hamm würdigt den Künstler Otmar Alt (80)

Tierwelt in kraftvollen Farben: Blick in eine besonders kindgerechte Abteilung der Ausstellung über Otmar Alt. Bilder und Objekte werden hier extra bodennah präsentiert. (Foto: Bernd Berke)

Nein, es herrscht in Westfalen kein Mangel an Ausstellungen des Künstlers Otmar Alt: Von Ende 2013 bis zum März 2014 gab’s einen „Rückblick und Ausblick“ auf Schloss Cappenberg. Von April bis September 2018 lud das Haus Opherdicke (Holzwickede) in die „Fabelhaften Zauberwelten“ des vorwiegend farbenfrohen und weithin populären Malers, der auch dekorative Elemente nicht scheut, aber keineswegs darauf reduziert werden kann.

Auch etliche Glasobjekte gehören zum Umfang der Schau. (Foto: Bernd Berke)

Jetzt, nachträglich zu seinem 80. Geburtstag (*17. Juli 1940), kommt seine Wahlheimat Hamm selbstverständlich nicht um eine Würdigung herum. „Das Leben ist ein Versuch“ heißt (einem Ausspruch Otmar Alts folgend) die von Diana Lenz-Weber kuratierte Retrospektive im Gustav-Lübcke-Museum, die mit rund 150 Exponaten von den Anfängen in den frühen 1960er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart reicht – am Ende des Rundgangs sieht man drei „Corona-Bilder“, das letzte davon unvollendet.

Demnächst mehr dazu – hier und an anderer Stelle.

Otmar Alt – „Das Leben ist ein Versuch“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Vom 11. Oktober 2020 bis zum 7. März 2021. Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. www.museum-hamm.de

 




Facetten der Einsamkeit – von Haydn bis Marilyn Monroe: Gelungener Opern-Doppelabend am Theater Hagen

Auch am Theater Hagen erzwang die Corona-Pandemie eine umfassende Revision der Pläne zunächst für die erste Hälfte der Saison 2020/21.

Eine Ikone des 20. Jahrhunderts greift ein Opern-Doppelabend am Theater Hagen auf: Marilyn Monroe. (Foto: Klaus Lefebvre)

Die Spielzeit-Vorschau, ein hübsches rotes Kästchen, enthält für jedes Projekt aus den Sparten ein loses Blatt, das ausgetauscht werden kann, wenn Intendant Francis Hüsers und sein Team infolge der Corona-Schutzmaßnahmen umplanen müssen. Für die Zeit bis Dezember war das bereits der Fall: Die Schlachtschiffe des Repertoires stehen im Trockendock bereit, zu einem späteren Zeitpunkt gefahrlos auszulaufen. Der Ersatz, klein, kurz und flexibel, macht aber ebenfalls Freude. Krisen fördern zuweilen Kreativität: Wie wäre es sonst zu einem Doppelabend mit Joseph Haydns „L’Isola disabitata“ und Gavin Bryars 2013 uraufgeführter Kammeroper „Marilyn forever“ gekommen?

In beiden etwas mehr als einstündigen Werken geht es um Einsamkeit, um einen Prozess der Selbstfindung und um die Frage, wie authentisch ein Mensch sein Leben eigentlich führen kann. In Haydns „unbewohnter Insel“ sind es zwei Frauen, die sich einen Weg über ihre inneren Limits hinaus bahnen müssen; „Marilyn forever“ wirft die Zuschauer mitten hinein in die Spannung zwischen den inneren Empfindungen und der äußeren Selbstkonstruktion eines Menschen.

Was steckt hinter den Bildern, mit denen die Monroe berühmt wurde? Angela Davis versucht sich, in die Figur „Marilyn“ hineinzufühlen. (Foto: Klaus Lefebvre)

An der Kultfigur Marilyn Monroe, die sie sich als Waisenkind Norma Jeane Mortenson geschaffen hat, versucht Gavin Bryars Einakter zu ergründen, wo der Mensch, wo der Mythos „Marilyn Monroe“ zu entdecken ist, wie sich das Innen und Außen dieser Ikone des 20. Jahrhunderts zueinander verhalten: Die Frau, als warmherzig und selbstbewusst beschrieben, mit ihrer sorgfältig nach außen abgeschirmten Seele, verletzlich, liebesbedürftig, an sich zweifelnd. Die Fassade, glamourös, sexy, mit kalkulierter Ausstrahlung. Und die Wirkung, in Zeiten patriarchaler Herren, rebellierender Söhne, marginalisierter und missbrauchter Frauen, reduziert auf das Objekt: begehrt, vermarktet, konsumiert, vergöttert und gleichzeitig abgewertet.

Kantenlose Musik

Regisseur Holger Potocki versucht sich in etwa 80 Minuten durch dieses verschlungene Dickicht vorzukämpfen zur „echten“ Marilyn Monroe – etwas, was sie selbst wohl nicht geschafft hat. Das Libretto Marilyn Bowerings ist ihm dabei keine Hilfe: Zu ungefähr sind die Gefühlszustände, Gedanken, Träume von „Marilyn“, zu vage die Bezüge zu historisch feststellbaren Ereignissen, etwa die Ehe mit Arthur Miller, zu spekulativ die Andeutungen, etwa über das Verhältnis zu John F. Kennedy.

Kaum Unterstützung auch aus der Musik: Denn der inzwischen 77jährige englische Komponist Gavin Bryars schrieb 2013 eine nachromantisch kantenlose Musik mit Elementen aus minimal music und Jazz, mit verfliegenden Scheinzitaten populärer Musik der Fünfziger, weich, schmeichelnd, mit der dunklen Registerpalette der Instrumente und moderater Dynamik spielend. Alles „well made“, angenehm zu hören, aber nicht charakteristisch, schon gar nicht irgendetwas provozierend. Und neu im Übrigen auch nicht – aber das muss ja nicht unbedingt sein. Joseph Trafton und die elf Musiker des Philharmonischen Orchesters Hagen lassen den schmiegsamen Wohllaut fein abgestimmt verströmen.

Angela Davis als Marilyn. Foto: Klaus Lefebvre

Potocki bleibt also in den Rätseln hängen, und er weiß das: Um dem Wohlfühlfluss der Szenen zu entkommen, teilt er gemeinsam mit Bernhard Niechotz die Bühne in zwei Räume und spaltet die Figur der Marilyn auf: Angela Davis gibt nicht die Ikone Monroe, sondern versucht als – zeitweise sehr intensive – Darstellerin sich in einem Studio für einen Film auf die Rolle „Marilyn Monroe“ vorzubereiten und dafür die Facetten der Figur zu verinnerlichen. In der anderen Hälfte der Bühne, einem Kinosaal, setzt sich Kenneth Mattice als Filmregisseur mit Bildern und Vorstellungen der Monroe auseinander. Er fällt in die Rollen der „Men“ aus dem Leben Monroes, grübelt zwischen Kinostühlen, experimentiert mit Bildern auf der Leinwand. Potocki nutzt die distanzierende Wirkung von Film, Projektion und Spiegeln, um die Entfremdung der Personen von sich selbst auf die Spitze zu treiben, sich dem Geheimnis der authentischen Existenz der Titelfigur anzunähern und es gleichzeitig zu wahren.

Das reicht bis zu den unklaren Umständen ihres frühen Todes: Kenneth Mattice, der sich selbst spielerisch vorbehaltlos verausgabt, dringt in den „Raum“ Marilyns ein und ist – kurz bevor das Licht erlischt – der Funke des Todes für die zitternde Frau. Dass danach das berühmte blaue Kleid und eine weißblonde Perücke auf dem Bühnenboden liegen wie aufgebahrt, ist konsequent: Den äußeren Schein können wir begraben, den Mythos entschlüsseln wir nur bruchstückhaft, die Wahrheit bleibt verborgen. Welchen Anspruch Bryars allzu unverbindliche Oper verwirklicht, darüber mag die Nachwelt entscheiden. Kritiker lagen allzu oft daneben – dennoch sei es gewagt, sich nicht wie die Oper ins Ungefähre zurückzuziehen: Die Nachwelt wird eher den Mythos Monroe als dieses Werk am Leben halten.

Eine Burg aus Polstern

Nicht am Leben blieb auch Joseph Haydns „L’Isola disabitata“, einer seiner gar nicht so wenigen, aber leider kaum bekannten Opern. Uraufgeführt 1779 auf Schloss Eszterháza (heute Fertöd in Ungarn), konnte sie sich trotz mehrerer CD-Aufnahmen nicht im Repertoire durchsetzen. Das Libretto Pietro Metastasios – er schätzt es selbst sehr hoch ein – wirkt in der Inszenierung Magdalena Fuchsbergers geradezu modern: Die „unbewohnte Insel“ wird zu einem Ort von Introversion und Aufbruch, von Selbstverkapselung und Selbstentfaltung.

Maria Markina als Costanza in Joseph Haydns „L’Isola disabitata“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Fuchsberger transferiert das Thema der verlassenen Frau auf dem menschenleeren Eiland in die siebziger Jahre, als die Frauen um Gleichberechtigung kämpfen und der Sex sich aus den Fesseln der überkommenen Moral befreit. Wieder ist die Bühne zweigeteilt: In Monika Bieglers Wohnlandschaft steht links ein graues Sofa, Zuflucht der Frau mit dem bezeichnenden Namen Costanza: Unermüdlich die Männer hassend wartet sie auf den ihren, der seit 13 Jahren verschollen ist. Die einsame Standhafte baut dort eine Burg aus Polstern aus, in deren Gruft sie sich verkriecht.

Auf der anderen Seite Esstisch und Vitrine, Ort der tastenden, misslingenden Versuche, so etwas wie Gemeinschaft oder gar Zuneigung herzustellen. Maria Markinas Gesten und Bewegungen sprechen von ihrem Leid, ihren inneren Zwängen, ihrer Selbstisolierung, ihrem Lebensüberdruss; musikalisch gelingen ihr die Momente der Innerlichkeit besser als die schmerzvolle Empörung in Rezitativen, die mit hartem Ton und druckvoller Emission aus ihr herausbrechen. Ob dieser Frau am Ende gelingt, frei zu werden, als der Mann nach Jahren endlich aus der Sklaverei fliehen und zu ihr zurückkehren kann, bleibt offen: Die Regie dreht die Rollen um, als Gernando, der Mann, auftaucht, als sei nichts geschehen, und die Frau, Costanza, die Chiffren der Entfremdung übernimmt. Der Wein zu viert am Tisch lässt immerhin eine Hoffnung offen.

Ein Kind wird erwachsen

Erstaunlich modern und spannend wirkt, wie sie die jüngere Schwester Costanzas im Lauf des Stücks entwickelt. Haydn hat – zumindest in der Lesart Fuchsbergers – eine überraschend tiefgründige Coming-of-Age-Geschichte in faszinierend sensible Musik gefasst. Silvia, der Name des Mädchens, deutet auf die ungebrochene Natürlichkeit ihres Wesens hin. „Welch‘ glückliche Unschuld“, findet auch Costanza, und Metastasio beschreibt Silvias Liebe zu einem kleinen Reh – eine bezaubernde Chiffre für das kindlich-ungebrochene Einssein mit der Natur, während die Musik Haydns bereits die Trauer über den Verlust dieses „paradiesischen“ Zustands erklingen lässt.

„Glückliche Unschuld“: Silvia (Penny Sofroniadou) mit ihrem geliebten Reh. (Foto: Klaus Lefebvre)

Mit der Ankunft von Gernando und dessen Freund Enrico beginnt der Prozess: Silvia nimmt den Mozart’schen Cherubino vorweg, wenn sie nach der ersten Begegnung mit dem freundlich-virilen Enrico (Insu Hwang mit markantem Bariton) von einem unbekannten „affetto“ in der Brust singt, einer Hoffnung, von der sie nicht weiß, was sie bedeutet. Ihre Schwärmerei hat auch komische Züge, verdichtet sich aber immer mehr zur Erkenntnis der „tyrannischen“ Liebe, die ihr keine Ruhe mehr lässt. Und während Anton Kuzenok die melancholische Suche Gernandos nach seiner geliebten Costanza in einen fein geführten, die Töne frei bildenden Tenor kleidet, erzählt die Musik, wie Silvia das „heftige Feuer“ der Liebe und damit ihr sexuelles Begehren entdeckt, und Penny Sofroniadou schildert ihre Not zum sprechenden Orchester Haydns mit einem leuchtenden, leichten und lockeren Sopran. Aus der engagierten kleinen Truppe im Graben lockt Joseph Trafton alle Herrlichkeiten von Haydns Erfindungskunst hervor und bestätigt ein weiteres Mal, dass man den Esterházy’schen Kapellmeister nicht unterschätzen sollte.

Bisher geplante weitere Aufführungen am 13. und 14. November 2020. Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/die-einsame-insel-lisola-disabitata-marilyn-forever-1339/0/show/Play/




Die deutsche Sprache ist ein „Vielfraß“ – amüsantes Buch über eingewanderte Wörter

Die deutsche Sprache, so stellt Matthias Heine gleich eingangs fest, sei ein „linguistischer Vielfraß“. Will heißen: Sie hat sich nach und nach Wörter aus rund 120 Idiomen einverleibt und anverwandelt. Wohl bekomm’s.

Heines Buch „Eingewanderte Wörter“ verfolgt die manchmal abenteuerlichen (Um)-Wege dieser Migration. Für deutschtümelnde Sprachpuristen ist es wahrscheinlich ein Graus (oder ein irritierendes Aha-Erlebnis), für alle anderen Leute dürfte sich der Gang durchs Alphabet als amüsanter Streifzug erweisen.

Es handelt sich keineswegs nur um eine nur flott zusammengestellte und flockig-flapsig kommentierte Kollektion, wie es sie auf dem Buchmarkt zuweilen gibt. Nein, Matthias Heine (hauptberuflich Kulturredakteur der „Welt“) hat sich schon einige Mühe gegeben, um zahlreiche historische und neuere Fundstellen aufzuspüren und sie mit Erzählstoff anzureichern. Das Spektrum reicht vom Alltagsschnack bis zur hohen Literatur und überdies bis in die Kino- und Popkultur hinein. So wird beim Stichwort „Bungalow“ (Hindustani/Nordindien) der Beatles-Titel „Bungalow Bill“ aufgerufen und beim „Honk“ (US-amerikanischer Ursprung) an die Rolling Stones und ihren Song „Honky Tonk Women“ erinnert, wobei im Buch fälschlicherweise die Einzahl „Woman“ steht. Aber das nur nebenbei. Wir wollen nicht kleinlich sein.

„Urdeutsches“ aus Assyrien und Polen 

Heine hat jedenfalls genau die richtige Mischung aus sprachwissenschaftlicher Seriosität und unterhaltsamer Präsentation gefunden. Und er fördert etliche Überraschungen zutage. Demnach stammen viele „urdeutsch“ klingende Worte aus fernen Weltgegenden oder aus Ländern, die man nicht als Ursprung vermutet hätte. Beispiele: Sack leitet sich aus dem Assyrischen her, Grenze aus dem Polnischen, Schmetterling aus dem Tschechischen (verwandt mit smetana = Sahne), Gummi aus dem Altägyptischen. Pinguin war ursprünglich walisisch, Schlawiner slowenisch und Erz etruskisch. Es hätten vielleicht Millionenfragen für Jauch sein können, jetzt sind sie’s nicht mehr.

Natürlich bleibt es nicht bei bloßen Behauptungen und verblüffenden Feststellungen, sondern der Autor legt auch die verschlungene Fährten und Wandlungen der einzelnen Wörter dar. Viel Sprachgut gelangte auf Handelswegen und/oder im Gefolge der Entdecker und Eroberer nach Europa. So stammen „tattoo“ und „tätowieren“ vom Tahitianischen Wort „tatau“ ab, das vom Weltumsegler Cook aufgeschnappt wurde. Von England nach Deutschland war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Werke von Wortschöpfern wie Luther (Bibelübersetzung) oder Goethe haben ebenfalls eine wichtige Rolle beim sprachlichen Transfer gespielt. Doch wie das in der Wissenschaft so zu gehen pflegt, finden sich oft auch widerstreitende Theorien zur Herkunft. Auch die Sprachwissenschaft hat ihre Drostens und Streecks…

…und woher kommt die „Plauze“?

Man möchte am liebsten gar nicht aufhören mit dem Aufzählen: Wer hätte gewusst, dass „Plauze“ aus dem Sorbischen kommt, Putsch aus dem Schweizerdeutschen, bizarr aus dem Baskischen, Dolmetscher aus dem Türkischen? Doch auch Wörter, die man geographisch wohl einigermaßen hätte zuordnen können, tauchen hier auf: Poncho (Mapuche/Andengebirge), Mafia (Sizilianisch), Bonze (Japanisch), Kotau (Chinesisch), Kajak (ostgrönländisch), Anorak (westgrönländisch), Datsche (Russisch), Curry (Tamil/Indien), Amok (Malaiisch) oder Guru (Hindi).

Genug des flüchtigen Antippens. Man gönne sich das Vergnügen, dieses lehrreiche Buch von A bis Z zu lesen – von Abenteuer (Altfranzösisch) bis Zucker (Arabisch).

Matthias Heine: „Eingewanderte Wörter“. Mit Illustrationen von Helen Hermens. DuMont Buchverlag, Köln. 144 Seiten, 18 Euro.




Hotzenplotz und all die anderen – Oberhausen zeigt den kongenial illustrierten Figurenkosmos des Otfried Preußler

Illustration von F. J. Tripp, Mathias Weber (Kolorierung) aus Otfried Preußler „Der Räuber Hotzenplotz“ (© by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart)

F. J. Tripp, Winnie Gebhardt, Herbert Holzing, Daniel Napp, Thorsten Saleina, Annette Swoboda. Schon mal gehört? Wahrscheinlich nicht, oder?

Dabei hätten vor allem die ersten beiden eine gewisse Prominenz verdient. Es sind samt und sonders Illustrator(inn)en von Büchern des unvergessenen Otfried Preußler (1923-2013). Der hat sich bekanntlich Figuren wie den „Räuber Hotzenplotz“, „Die kleine Hexe“, „Das kleine Gespenst“ oder „Krabat“ ausgedacht. Und etliche andere.

So markant Preußlers Personal schon rein literarisch sein mag, so erlangt es doch durch die kongenialen zeichnerischen Vergegenwärtigungen erst recht nachhaltige Unverwechselbarkeit. Das war dem Autor sicherlich auch bewusst. Die fruchtbringende Wechselwirkung der Künste greift jetzt eine umfangreiche Bilderschau in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen auf, wo man sich seit vielen Jahren der beachtlichen Qualität im Populären verschrieben hat. Über 300 originale Zeichnungen sind zu sehen, hinzu kommen einschlägige Filmrequisiten, Bücher und Fotos. Dabei gerät der ganze, durchaus vielfältige Kosmos der Preußler-Geschichten in den Blick, da tummeln sich auch Gestalten wie die dumme Augustine, der starke Wanja, Tella oder die Schildbürger („Bei uns in Schilda“).

Illustration von Winnie Gebhardt aus Otfried Preußler „Die kleine Hexe“, 1957 (© by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart)

Preußler zählt längst zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur, seine 35 Bücher wurden in über 50 Sprachen übertragen und haben eine Gesamtauflage von mehr als 50 Millionen Exemplaren erreicht. Weit über solche dürren Zahlen hinaus, haben seine besten Geschichten einen festen Platz im kollektiven oder zumindest weit verbreiteten Bewusstsein – wie sonst nicht allzu viele Werke und Protagonisten; allen voran gewiss der erstmals 1962 in Buchform erschienene „Räuber Hotzenplotz“, der 2006 von Gernot Roll mit hochkarätiger Besetzung verfilmt wurde (Armin Rohde in der Titelrolle, dazu u. a. Piet Klocke, Rufus Beck und Katharina Thalbach).

Illustration von Herbert Holzing aus Otfried Preußler „Die Abenteuer des starken Wanja“, 1968 (© by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart)

Die Zeichnungen des eingangs erwähnten, 1915 in Essen geborenen F. J. Tripp zum „Hotzenplotz“-Buch haben auch die Verfilmung – und zahllose Theater-Inszenierungen – inspiriert, insofern kann der Einfluss kaum überschätzt werden. Dieser Wirkung steht Winnie Gebhardt kaum nach, die das Erscheinungsbild der (gleichfalls ambitioniert verfilmten) „Kleinen Hexe“ und des kleinen Wassermanns ein für allemal vorgeprägt hat. Über 50 ihrer Tuschzeichnungen zeugen in Oberhausen davon. Und ich muss sagen: Ihre filigrane und herzerwärmende Kunst hat es mir noch mehr angetan als die von Tripp, die zuweilen etwas klobig wirkt, aber damit just einen klotzigen Charakter wie Hotzenplotz ideal verkörpert. Es war wohl  genau richtig, dass sie die Hexe und er den Räuber übernommen hat.

Apropos: Unsere Tochter (11), langjährige Preußler-Kennerin seit Vorlese-Zeiten, hält vehement dafür, dass F. J. Tripp partout keine Füße malen konnte. Wenn man es recht bedenkt und besieht: stimmt! Als bewusst eingesetztes Stilmittel oder als Stilisierung lässt sich das Defizit jedenfalls schwerlich kaschieren. Aufs Ganze gesehen, sind Tripps Schöpfungen freilich mancher Ehren wert.

Beim abwechslungsreichen Rundgang, den ich hier lediglich anhand des Katalogs nachvollziehe, stößt man u. a. auch auf Zeichnungen, die Otfried Preußler selbst geschaffen hat (zu „Hörbe mit dem großen Hut“). Interessant zudem die Möglichkeit, verschiedene zeichnerische Auffassungen derselben Gestalten zu vergleichen. Von Zeit zu Zeit, so scheint es, muss eben auch das prägnanteste Figuren-Inventar behutsam neu interpretiert werden. Nichts hat ewigen Bestand.

Otfried Preußler – Figurenschöpfer und Geschichtenerzähler. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Bis zum 10. Januar 2021. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro, Familie 12 Euro. Katalog 29,80 Euro. www.ludwiggalerie.de

 




Das Ruhrgebiet und Dortmund entdecken – drei neue Bücher über Besonderheiten der Region

Mal eben kurz „reingeschmeckt“

Seien wir ehrlich: Regional- und Stadtführer, ob nun im Ruhrgebiet oder anderswo, sind meist rasch verderbliche Ware. Vorwiegend als Häppchen-Lektüre liegen sie im Eingangsbereich der Buchhandlungen, für den schnellen Zugriff gedacht. Doch sie haben auch ihren Nutzen.

Birgit Ebbert müht sich in ihrem Band „Das gibt’s nur im Ruhrgebiet“ redlich, im quadratischen Format satte 120 Hinweise auf Attraktionen zu sammeln, die der Rest der Welt so nicht zu bieten habe. Hie und da merkt man den Zwang, lauter Superlative und einmalige Spezialitäten hervorzaubern zu müssen. Nicht immer gelingt es.

Da findet sich auch weit Hergeholtes. Beispiel: Könne man nicht zu den blauen Städten Marokkos reisen, so gebe es eben Gelsenkirchen, wo nahezu alles in Blau gehalten sei. Ach ja. Andere Mitteilungen klingen recht kühn, so jene, dass Essen d e n bedeutendsten Kirchenschatz Europas aufweise. Da wird man im Vatikan und an einigen anderen Orten aufhorchen. Oder auch nicht. Na, egal. Wir wollen kein Wasser in den Messwein gießen.

Mit manchmal gar zu knappen Texten, vielfach leider ohne näheren Adressen- und sonstigen Besucherservice, werden die wesentlichen Lokalitäten und Besonderheiten des gesamten Reviers vorgestellt – tauglich für den allerersten Überblick. Es ist nicht nur von den üblichen Stätten und Phänomenen wie der Essener Welterbe-Zeche Zollverein, dem gigantischen Oberhausener Einkaufszentrum CentrO oder dem Dortmunder Riesen-Weihnachtsbaum die Rede, sondern z. B. auch von regionalem Brauchtum. Wer mal kurz ins Revier „reinschmecken“ möchte, könnte hier richtig liegen.

Birgit Ebbert: „Das gibt’s nur im Ruhrgebiet“. Emons Verlag, 144 Seiten, 12 Euro.

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„Klugscheißer“-Wissen von Beckett bis Phoenixsee

Wenden wir uns der einwohnerstärksten und z. B. fußballerisch führenden Stadt des Ruhrgebiets zu. Das kann nur Dortmund sein. Hierzu sind gleich zwei neue Bücher erschienen, beide von Katrin Pinetzki. Die Kollegin, als Kultur-Pressesprecherin der Stadt Dortmund tätig, hat gelegentlich auch für die Revierpassagen geschrieben. So viel Transparenz muss vorangeschickt werden.

„Dortmund für Klugscheißer“ heißt der Band, der schon seit dem Frühjahr auf dem Markt ist und eine Städte-Serie des Verlags erweitert. Verglichen mit dem oben erwähnten Ruhrgebiets-Guide, ist das Buch deutlich flotter aufgemacht und bebildert. Auch hier müssen kurze Texte genügen, doch angesichts des strafferen Konzepts, das eben nicht alles und jedes einsammeln will, ist das kein Schaden.

Der schnelle, hie und da statistisch angereicherte Streifzug durch viele Bereiche der Stadt ist unterhaltsam geschrieben. Gewiss: Als altgedienter Bewohner Dortmunds wird man nur wenige Überraschungen vorfinden. Zwar soll auch mit einigen „populären Irrtümern“ aufgeräumt werden (ein gar beliebtes Unterfangen), doch dürften aufgeweckte Einheimische auch hierbei in aller Regel Bescheid wissen. Aber es gibt ja auch noch Ahnungslose und Zugereiste. Und überhaupt.

Etlichen Details merkt man an, dass die (übrigens in Gelsenkirchen geborene) Autorin längst bestens mit Dortmunder Gegebenheiten vertraut ist. Zum Exempel wissen nicht alle, dass Dortmund in den Anfangstagen des Internets eine prägende Rolle gespielt hat. Auch ist das Gedicht „Dortmunder“ des großen irischen Weltdramatikers Samuel Beckett bestimmt nicht allgemein bekannt. Es soll angeblich auf Erlebnissen Becketts im lokalen Bordellviertel beruhen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Apropos: Man hätte hier gerne wenigstens ein Gedichtzitat gelesen. Und noch eine Anmerkung: Dass der inzwischen allseits baulich eingehegte Phoenixsee im Wortsinne Dortmunds Naherholungsziel Nummer eins sei, darf man denn doch bezweifeln.

Am Ende dürften Ortsfremde oder Neulinge jedenfalls das Gefühl haben, nun schon ein paar Dinge über die Stadt zu wissen. Dies und ein wenig Kurzweil – mehr will das Buch ja auch gar nicht bewirken. Hat geklappt.

Katrin Pinetzki: „Dortmund für Klugscheißer“. Klartext Verlag, 104 Seiten, 14,95 Euro.

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Glück aus der Westfalenmetropole

Die emsige Katrin Pinetzki hat in Sachen Westfalenmetropole bereits nachgelegt. Ganz frisch erschienen: „Unsere Glücksmomente. Geschichten aus Dortmund“.

Nachdem sie 2017 „Dunkle Geschichten (Schön und schaurig)“ aus dieser Stadt erzählt hat, hat sie jetzt helle und hoffnungsvolle Stoffe aufgespürt, und zwar buchstäblich von der Geburt bis zum Tod. Der Reigen der 19 Themen wird mit einem Geburtshaus im Ortsteil Brünninghausen eröffnet und schließt mit einem Hospiz am Ostpark. Glücksmomente kann man überall erfahren.

Dazwischen geht es beispielsweise um Lachyoga, Pralinen aus Hörde, den vielleicht allerbesten BVB-Kenner Gerd Kolbe, das Turbo Prop Theater und seine beliebten „Schmuddels“, den lyrischen Lokalmatador – vulgo Reimschmied – Fritz Eckenga (halten allerdings zu Gnaden: Mich muss man noch überzeugen, dass Eckenga so überaus gut wie der selige Robert Gernhardt sei), die wundersame Rettung der einstigen Fluss-Kloake Emscher oder die örtliche „Willkommenskultur“ anno 2015.

Dies ist also kein Reiseführer, sondern ein Band mit kurzen und prägnanten Stories bzw. Reportagen. Nach und nach entsteht so ein kleines Panorama des Stadtlebens, das sich eben aus lauter erzählenswerten Geschichten zusammensetzt. Wobei sich auch und gerade im gewöhnlichen Alltag ungeahnte – Achtung, inflationäres Modewort! – Narrative verbergen. Jawoll. Das musste mal gesagt sein.

Wie sie im Vorwort verrät, musste Katrin Pinetzki manche Recherche und manches Gespräch für dieses Buch unter Corona-Bedingungen bewältigen, also teilweise aus der Distanz. Das merkt man den munteren Texten freilich nicht an.

Katrin Pinetzki: „Unsere Glücksmomente. Geschichten aus Dortmund“. Wartberg Verlag, 80 Seiten, 12 Euro.




Vom Glück des Vergessens: Die Sächsische Staatskapelle Dresden gastiert mit ihrem Geburtstagsprogramm in Köln

Myung-Whun Chung ist Erster Gastdirigent der traditionsreichen Sächsischen Staatskapelle Dresden. (Foto: Jean-François Leclercq)

Vor Konzertbeginn gibt es einen kleinen Werbeblock. Louwrens Langevoort, seit nunmehr 20 Jahren Intendant der Kölner Philharmonie und Geschäftsführer der KölnMusik GmbH, geht angesichts der Kritik am Hygienekonzept des Hauses in die Offensive.

Der Mund-Nasenschutz, der in Köln während der gesamten Veranstaltung getragen werden muss, schmälere das Musikerleben nicht: „Ich habe das an mir selbst festgestellt. Sie werden sich daran gewöhnen, die Musik wird Sie die Maske vergessen lassen“, beteuert der Intendant dem halb vermummten Publikum. Wärmstens, ja beinahe flehentlich empfiehlt er dann den Erwerb von Abonnements. Das ist kein Zufall, denn der Besucherrückgang ist offenbar dramatisch. Selbst Pressesprecher Sebastian Loelgen hat die Auslastung der ortsansässigen Zeitung gegenüber „katastrophal“ genannt.

Der Vertrag von Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner Philharmonie, wurde bereits im Dezember 2018 bis 2025 verlängert. (Foto: Matthias Baus)

Geduldig warten die Gäste während Langevoorts Ansprache auf den eigentlichen Beginn. Die Sächsische Staatskapelle Dresden, 1548 durch Kurfürst Moritz von Sachsen ins Leben gerufen, ist mit dem gleichen Programm nach Köln gereist, mit dem sie einen Tag zuvor in der Heimatstadt ihren 472. Gründungstag gefeiert hat. Nicht Chefdirigent Christian Thielemann, sondern der dem Orchester seit langem verbundene Koreaner Myung-Whun Chung übernimmt dabei die Leitung. Ihm voran betritt der Pianist András Schiff die Bühne: Der Ungar eröffnet den Abend mit dem 1. Klavierkonzert von Johannes Brahms.

Ein Feingeist wie András Schiff und ein pianistisches Schlachtross wie dieses Erstlingswerk, das der noch junge Brahms sich über Jahre hinweg mühevoll abrang? Das ist eine Kombination, über die Kenner sich wundern mögen. Indessen bezwingt András Schiff den etwa 50-minütigen, sinfonisch geprägten Koloss auch ohne Kraftmeierei. Innig und lyrisch setzt er mit dem Nebenthema ein, mit einem sanglichen Klang voller Wärme und Tiefe. Statt die Oktaven mit Virtuosenpranke heraus zu donnern, bleibt sein Spiel stets sorgfältig artikuliert, beinahe analytisch. Schiffs Zugriff wirkt zuweilen eher akademisch als heroisch. So bleibt er sich selbst treu, ohne dass es dieser wuchtigen Musik zum Nachteil gereichte.

Sir András Schiff ist der Säsischen Staatskapelle Dresden in der Saison 2020/21 als „Capell-Virtuos“ verbunden. (Foto: Nicolas Brodard)

Im Adagio erreicht András Schiff die ganze Höhe seiner Kunst. Er gestaltet es zu einem inwendig leuchtenden Lied ohne Worte, grüblerisch und weltverloren. Das Orchester begleitet ihn mit so samtig-feinem Pianissimo, dass man den Atem anhalten möchte. Der Pianist nimmt abschließende Rondo eher spielerisch als dramatisch, muss ob der zu bewältigenden Notenmasse aber doch einmal durchschnaufen. Das Intermezzo op. 118/2 von Johannes Brahms, mit dem er sich für den begeisterten Applaus bedankt, fließt in schönster Poesie und mit einem Hauch von Wehmut dahin.

Ohne Pause folgt die 7. Sinfonie von Antonín Dvořák, in der die Sächsische Staatskapelle höchste Erwartungen an künstlerische Exzellenz erfüllt. Naturlaute tönen uns aus dem ersten Satz entgegen, feines Waldweben der Streicher und silbern sprudelnde Klänge der Holzbläser. Bruchlos wandern die Motive von einer Instrumentengruppe zur anderen: Die Verblendung des Gesamtklangs ist umwerfend edel. Wer jetzt ganz Ohr ist, vergisst die Gesichtsmaske darüber gründlich.

Im Pianissimo, das zarte Transparenz mit romantischem Schimmer verbindet, kommt pure Magie auf. Dieses Orchester lässt keine Wünsche offen: Es hat Feuer und Eleganz, größte Geschmeidigkeit in den Übergängen von einer Lautstärke zur anderen und Holzbläser, die das Wort Intonationsproblem nicht einmal vom Hörensagen zu kennen scheinen.

Im Scherzo entzückt der Wechsel von tänzerischer Beschwingtheit und explosiver Energie. Myung-Whun Chung, der den gesamten Abend auswendig dirigiert, zögert die Rückkehr des Hauptthemas um eine nonchalante Prise heraus. Die Staatskapelle folgt ihm voller Flexibilität und Grazie. Ob die Wiener Philharmoniker das wohl noch charmanter hinbekämen? Das Finale erinnert mit seinem Jubelklang an die Arie der Elisabeth aus Richard Wagners Tannhäuser. „Dich, teure Halle, grüß‘ ich wieder“: nach der langen Corona-Zwangspause dürfte dieser Anklang in vielen Konzertbesuchern ein Echo finden.

(Informationen zum Programm der Philharmonie Köln: https://www.koelner-philharmonie.de/de/ )




Wolfgang Clement – er da oben, wir da unten

Mit dem heute verstorbenen Ex-Ministerpräsidenten von NRW und Bundes-„Superminister“ Wolfgang Clement habe ich anno 1981 (noch als blutiger Redaktions-Anfänger) bei der Westfälischen Rundschau (WR) gelegentlich am Konferenztisch gesessen. Ich sage nicht: sitzen dürfen. Er nahm ja schon damals ganz oben vor Kopf Platz, ich am anderen Ende – bei den „Einsteigern“…

Schon bald entschwand er unseren staunenden Blicken, immer höher und höher hinauf. Wie hatte er, sozusagen mit hochfahrender Bescheidenheit, zum Abschied von der WR gesagt: „Ich will noch etwas aus mir machen.“ Hat er ja dann auch vermocht.

Allen tatsächlichen und etwaigen Verdiensten Wolfgang Clements ums Staatswesen zum Trotze: Nein, ich bin nicht stolz auf das kurzzeitige Zusammentreffen; einesteils, weil es ohnehin albern wäre. Überdies schon gar nicht darauf, dass der studierte Jurist später Hartz-IV-Empfänger oft und gern als potenzielle Schmarotzer verdächtigte und so mancherlei weiteres unsoziales Gerede vom Stapel ließ. Er trieb es schließlich so weit, dass die SPD ihn rauswerfen wollte. Dann ging er selbst und warb für die FDP.

Er möge gleichwohl in Frieden ruhen.




Soziale Miniaturen (24): Bizarres Büro

Klar, das Bild hat kaum etwas mit dem Text zu tun. Aber es gab schon schlechtere Illustrationen, oder? (Missgelungenes Foto: Bernd Berke)

Jahrzehnte brachte er mit dürftigen Witzzeichnungen in Stil der 1950er hin. Standardfiguren waren blöde Blondinen mit üppigen Brüsten. Aaaargh!

In manchen Medien liefen derlei knochige Gestalten noch eine zeitlang als berufsständische Folklore mit. Von der ganzen Computerei mussten sie nichts verstehen, ja, sie belustigten sich über jene, die da zunehmend heran mussten. Gestriges Gelächter. Noch einmal davongekommen. Rente quasi schon durch und sicher.

Schon vorbei waren die Zeiten, als man aus der Kantine noch kästenweise Bier in die Redaktionen wuchten durfte. Doch halt! Auf demselben Büroflur ließen sie ja noch einen strammen Alkoholiker wie eine kuriose Zirkusnummer loslegen. Der brachte seinen Schnaps selbst mit. Sie feuerten ihn an und riefen lauthals „Ho-ho-hoooo!“, als er eine Pulle Wodka „auf Ex“ soff und dann wegtorkelte. Irgendwohin. Danach hätte die Dame ohne Unterleib auftreten können. Oder der dickste Mann der Welt.

Nichts weiter davon. Es war gar zu beschämend. Für die Zuschauenden.

Der eingangs erwähnte alte Knabe hatte ein Faible für obszöne Anklänge. Schier weglachen konnte er sich über den Namen eines vor Zeiten ausgemusterten Lokalpolitikers, welcher an Kauwerkzeuge erinnerte, wobei man wiederum an orale Sexpraktiken denken sollte. Heilige Einfalt! Immer und immer wieder rief er den Namen aus, der ihm so herrlich schweinös erschien. Ein jüngerer Kollege war unvorsichtig genug, ihm ein Foto seiner neuen Freundin zu zeigen. Fortan erkundigte sich das alte Ferkel immer quer über den Büroflur: „Herr ***, was macht die Fickerei?“ Auch eine Art des Grüßens. Besonders wirksam, wenn gerade eine Kollegin die Szene betritt.




Liebe, stirb und werde: Die große Chansonette Juliette Gréco (93) lebt nicht mehr / Erinnerung an einen Auftritt in Essen

Allein schon ihre Hände…: Juliette Gréco bei einem Auftritt im Oktober 2006. (Foto: Wikimedia Commons / Victor Diaz Lamich) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.en)

Ein einziges Mal im Leben habe ich sie auf der Bühne sehen dürfen. Es war, wie kaum anders zu erwarten, unvergesslich. Heute ist die legendäre französische Chansonsängerin Juliette Gréco mit 93 Jahren gestorben. Eine kurze Erinnerung an ihren Auftritt in der Essener „Lichtburg“, anno 2001: 

Essen. Manchmal sind ihre Hände wie kleine weiße Vögel. Sie flattern freudig auf oder sinken verzagt nieder; ganz wie die Gefühle zwischen Glück und Elend der Liebe, Glanz und Last der Freiheit. Juliette Gréco, die große Dame des Chansons, steht auf der Bühne der ausverkauften Essener „Lichtburg“. Ganz in Schwarz gekleidet, natürlich.

Seit über zwei Jahrzehnten ist die jetzt 74-Jährige nicht mehr im Ruhrgebiet aufgetreten. Man kann gar nicht umhin, sich die ganze Geschichte vorzustellen, wenn man sie nun hört und erlebt. Existenzialistische Nachkriegs-Nächte in Pariser Kellern wie dem „Tabou“, wo sie 1949 debütierte. Ihre berühmten Freunde wie Sartre, Camus, Cocteau. Diese speziell stilisierte Essenz französischer Lebensart.

Die Gréco sieht noch so aus wie „damals“. Ihre schlanke, von der Zeit nur ganz leicht gebeugte Silhouette, bleiches Gesicht; vom dunklen Haar umrahmt. Und sie wirkt noch wie ehedem. Freiheitsdurst, Hoffnungs-Glut, flüchtige Lüste und Abstürze der Liebe, der vitale Kosmos von Paris – all das ist präsent, wenn sie die klugen Texte von Jacques Brel, Jean-Claude Carrière oder Serge Gainsbourg vorträgt.

„La chanson des vieux amants“ (Das Lied der alten Liebenden) besingt Höhen und Tiefen eines gemeinsamen Lebens – und schließlich das große „Trotzdem“ der dauerhaften Liebe. „Deshabillez-moi“ (Zieh‘ mich aus) ist eine Miniatur zur erotischen Kultur. „Ne me quitte pas“ beschwört die Bestürzung einer Verlassenen. „Un jour d’été“ (ein Sommertag), dieser verwehende Liebestraum. Wenn Juliette Gréco da „Les yeux bleus“ (die blauen Augen) haucht, enthalten die Silben so viele fragile Sehnsüchte.

Bei aller melancholischen Tönung gerät der Auftritt zur Feier aller Schattierungen des wechselvollen Lebens, zur schmerzlichen Bejahung des Auf und Ab. Um André Heller abzuwandeln: Sie will, dass es das alles gibt, was es gibt. Einige Gesten sehen aus, als wolle die Gréco diese Fülle für die Ewigkeit festhalten. In innigen Momenten verkörpert sie jenes „Stirb und Werde“, das Goethe zu rühmen wusste.




Die Schöpfung und ihr Scheitern: Neue Rettungsreime von Fritz Eckenga

„Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen“, heißt eines der wenigen Gedichte, die es bislang über Gelsenkirchen gab. Die 2015 verstorbene Schriftstellerin Ilse Kigbis beschreibt darin in vielen Strophen nicht die Schönheit der Stadt, sondern ihr Fehlen: „Die Berge meiner Stadt / sind Rolltreppen / die zu käuflichen Paradiesen führen“.

Nun gibt es 12 weitere denkwürdige Gedichtzeilen über Gelsenkirchen. Kein Sonett also – aber dieses neue Gedicht trägt immerhin den Titel „Aufschwung“. Inhaltlich schlägt es allerdings in exakt die gleiche Kerbe wie Kigbis‘ Werk: „Neben Spieltreff eins und zwei / eröffnet bald der dritte. /  Leute,  zieht so schnell es geht / nach Gelsenkirchen-Mitte.“

Der da so despektierlich über die Nachbarstadt reimt, ist natürlich Fritz Eckenga. In seinem jüngsten Band schenkt der Dortmunder seiner Leserschaft neue „Rettungsreime“ – fein-(selbst)ironische bis übelst zynische, mitunter aber auch einfach nur lustig-wortverspielte Gedichte, die er häufig aus Notwehr gegen die Zumutungen des Alltags und der Mitmenschen schrieb und mit denen er sich schreibend schadlos hält, aber auch Gedichte, die seine Leserinnen und Leser retten können, zum Beispiel vor schlechter Laune, Langeweile oder allzu großer Selbstzufriedenheit. Der Titel: „Eva, Adam, Frau und Mann – da muss Gott wohl  noch mal ran“.

Fritz Eckenga

Fritz Eckenga (Foto: © Philipp Wente)

Von Bönen bis Ostwestfalen

Fritz Eckenga ist bekannt für die unkonventionelle Wahl seiner Sujets – die Entwicklung der Gelsenkirchener Innenstadt ist ein durchaus typisches Beispiel. Eckenga bedichtet durchaus auch die Liebe, die Natur und die Jahreszeiten – doch am allerliebsten kränkelnde politische Parteien, die Verletzungen von Spitzensportlern oder eben strukturschwache Städte. Neben Gelsenkirchen werden weitere bislang unbedichtete Orte lyrisch geadelt: Bönen, Iserlohn, Oberhausen, Krefeld, Soest und Ostwestfalen. Die Stationen der nächsten Lesereise stehen also fest…

„Reim gar nichts“

Vor allem das Scheitern treibt Eckenga so richtig zur Höchstform, und da nimmt er das eigene nicht aus. „Reim gar nichts. Eine Selbstkritik“, ist der Titel des allerersten Gedichts im neuen Band, das als eine Art Vorwort oder Motto dient. „Woran es dem Werk dieses Autors gebricht, / ist ganz ohne Frage das Großgedicht“, beginnt es, geißelt im Verlauf die Seichtheit und das Fehlen großer Themen im vorliegenden Werk und schließt dann Eckenga-typisch: „Fasse zusammen: Viel Wasser, kein Wein /  und immer mal wieder ein unreimer Rein.“

Gescheitert ist Fritz Eckenga mit seinem neuen Gedichtband nun wahrlich nicht. Beflügelt von Robert Gernhardt, begeistert von F.W. Bernstein, befreundet mit Wiglaf Droste: Fritz Eckenga dichtet längst in der gleichen Liga wie seine Vorbilder. Die genannten drei sind tot, Eckenga lebt – und rettet sich und uns hoffentlich noch recht lange mit seinen gereimten Gedanken. Die Trauer über den Tod seines Freundes Droste hat er ebenfalls in 16 Zeilen gepackt, „Und sowieso das bessere Gedicht“, heißt es. Ein Glück, wenn man, um Worte ringend, seine Traurigkeit wenn auch nicht verarbeiten, dann doch mit ihr arbeiten kann.

Auch schon ein Kapitel zur Corona-Pandemie

Vor allem aber arbeitet er als Satiriker fast tagesaktuell, und so erhalten auch die einsamen, teils freud- und gar teils klopapierlosen Tage der Corona-Pandemie ein eigenes Kapitel im Gedichtband; thematisiert wird u.a. das Sangesverbot im Gottesdienst: „Nimm es bitte nicht so krumm, / die Gemeinde bleibt heut stumm. / Großer Gott, sie loben Dich, / aber mehr so innerlich.“

Die kongenialen Illustrationen im Band stammen von dem Kölner Illustratoren Nikolaus Heidelbach, dem Eckenga am Ende ebenfalls ein Gedicht widmet. Auf dem Cover hat sich Heidelbach vom Titel zu einem Paar menschlicher Unvollkommenheiten inspirieren lassen, das sich wie ertappt zum Betrachter umblickt: Eva mit verschmiertem Lidschatten, platt auf dem Hinterkopf anliegender Frisur und Sonnenbrand neben ihrem Adam, dessen Haare auf dem Kopf großflächig fehlen, sich dafür aber an unerwünschten anderen Körperstellen ausbreiten. Die Krone der Schöpfung – eine Geschichte von der wohl größten Fallhöhe der Geschichte. Ein gefundenes Fressen für Fritz Eckenga.

Fritz Eckenga: „Adam, Eva, Frau und Mann – da muss Gott wohl nochmal ran. Neue Rettungsreime“. Kunstmann, 136 Seiten, 18 Euro.




Minizyklus ohne Mundschutz: Krystian Zimerman spielt in Dortmund die Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven

Krystian Zimerman gibt nicht mehr als 50 Konzerte im Jahr. Er reist fast immer mit seinem eigenen Instrument an und führt auf Tourneen mehrere Klaviaturen mit. (Foto: Bartek-Barczyk)

Als ungebetener Gast hat das Corona-Virus die Feierlichkeiten zu Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag arg durcheinandergebracht. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2020 musste das Bonner Beethovenfest auf das nächste Jahr verschoben werden: Es soll nun vom 20. August bis 10.September 2021 über die Bühne gehen.

Weil ein Großteil der geplanten Veranstaltungen vorerst nicht stattfinden kann, verlängert die eigens gegründete Beethoven Jubiläums GmbH (BTHVN2020) ihr Programm ebenfalls bis September 2021. An Aufführungen des größten Chorwerks des Komponisten, der wuchtigen „Missa solemnis“, ist wegen der nicht ausreichend geklärten Gefahr durch Aerosole kaum zu denken.

Vor der Sommerpause nahezu komplett ins Internet gezwungen, nimmt das öffentliche Konzertleben nun allmählich wieder Fahrt auf: Wenn auch mit angezogener Handbremse. Viele Veranstalter haben ihre Programme gekürzt, bieten 70-minütige Konzerte ohne Pause und ohne gastronomisches Angebot an. Die Säle sind lückenhaft gefüllt, weil die Besucher, die bis zum Konzertbeginn Masken tragen und Hygieneregeln beachten müssen, nur mit entsprechenden Abständen Platz nehmen dürfen. An den Anblick von Dirigenten und Solisten, die das Podium mit Maske betreten und sich per Ellenbogen begrüßen, wird man sich womöglich gewöhnen müssen.

Der Pianist Krystian Zimerman indessen trägt bei seinem jüngsten Auftritt im Konzerthaus Dortmund keinen Mund-Nasen-Schutz. Gemeinsam mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg und dem Dirigenten Gustavo Gimeno zollt er dem Beethovenjahr mit einer Gesamtaufführung der Klavierkonzerte Tribut, verteilt auf drei Termine und verknüpft mit Schlüsselwerken der Zweiten Wiener Schule. Für diese sind jeweils die Streicher des Orchesters zuständig.

Beim Auftakt spielen sie die Fünf Sätze op. 5 von Anton Webern: flüchtige Miniaturen von insgesamt kaum mehr als zwölf Minuten Länge, im Jahr 1909 ursprünglich für Streichquartett komponiert. Die Musiker aus Luxemburg entfalten die fragilen Tonschöpfungen mit viel Fingerspitzengefühl, sind in den schnellen Sätzen aber durchaus fähig zu ruppigen Fortissimo-Ausbrüchen. Trotz der Kürze der Sätze beweisen sie einen ausgeprägten Sinn für deren jeweilige Atmosphäre. Grüblerisch grundiert klingt der zweite Satz, wolkig und diffus der vierte, beide mit der Tempobezeichnung „Sehr langsam“. Der lebhafte dritte Satz endet mit einer nachgerade hektisch auffahrenden Unisono-Floskel. Diffus und dünn, sogar morbide dann der Schluss, in dem die Töne wie kraftlos niedersinken, bevor sie sich ins Nichts verlieren.

Krystian Zimerman tritt zuweilen auch als Dirigent auf. Zu Chopins 150. Todestag gründete er 1999 das Polish Festival Orchestra (Foto: Bartek-Barczyk)

Der weitaus größere Teil des Abends aber gehört Beethovens Klavierkonzerten Nr. 2 (B-Dur) und Nr. 1 (C-Dur), in denen Krystian Zimerman sich als der Grandseigneur am Flügel erweist, als den ihn die Musikwelt kennt und schätzt. Einen Hauch von Exzentrik erlaubt er sich, wenn er im B-Dur-Konzert nachgerade säuselnd einsetzt, wenn er dessen Mozart’schen Figurationen und Verspieltheiten zuweilen mehr Nebel als Prägnanz verleiht. Dabei wirkt die Klangbalance mit dem Orchester nicht immer glücklich. Mancher Lauf im Klavier geht beinahe unter, und manches Tutti trumpft arg mit Lautstärke auf.

Indessen ist Zimerman keiner, der unbedingt brillieren muss. Er kann sich mit der Gelassenheit des Meisters zurücknehmen, mit dem Orchester dialogisieren, im Adagio ein paar hingetupften Tönen edle Ausdruckstiefe und marmorgleiche Schönheit verleihen. Robuster greift er im abschließenden Rondo zu, das dann auch gleich mehr nach Beethoven als nach Mozart klingt. Obschon Zimerman die Moll-Wendungen weit weniger vehement spielt als andere, spricht aus den Vorschlägen sprühende Spielfreude, ebenso wie aus den leuchtenden Trillern im Diskant.

Diese Eindrücke bestätigen sich nach der Pause im C-Dur-Konzert. Vieles klingt kernig, manches aber auch unerklärlich verwaschen. Ein Hauch von Exzentrik fehlt ebenfalls nicht: den Abwärtslauf vor der Reprise spielt Zimerman als Glissando. Hernach blickt er nachdenklich auf seine strapazierten Fingerkuppen. Aber wie er im Adagio kaum mehr Klavier spielt, sondern tönende Gedanken schweifen lässt, wie er auf der friedvollen Klangfläche inwendig singende Schnörkel zieht, ist einfach und groß. Mitreißend im Rondo seine Freude am rhythmischen Drive, am brillanten Furor dieses Finales. Mehrfach lockt ihn das Publikum nach den Schlusstakten durch begeisterten Applaus hervor. Beim letzten Mal hat Zimerman schließlich doch eine Maske in der Hand.

Die Künstler setzen die Gesamtaufführung der Klavierkonzerte am 3. Oktober (Nr. 3) und am 25. Oktober (Nr. 4 und 5) fort. Tickets und Informationen:

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/287/?saison=202021




Flimmern, Vibrieren, erhabene Ruhe: Die malerischen Farbforschungen des Kuno Gonschior in Recklinghausen

Kuno Gonschior: „Gelbtrans“ (2003), Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 190 (Privatsammlung)

Vor manchen dieser Bilder bekommt man rasch Augenflimmern, so sehr scheinen die vielen kleinen farbigen Bildpunkte auf den Untergründen zu tanzen, zu pulsieren, zu vibrieren; all dies noch gesteigert, wenn der Künstler grelle Leuchtfarbe verwendet hat.

Doch dann wiederum, besonders im späteren Werk, verströmen einige Bilder eine geradezu erhabene Ruhe in Blau, Grün oder Gelb, die an gewisse Naturerlebnisse erinnert. Er hat sie dann auch gelegentlich „Landscapes“ genannt. Kuno Gonschior hat wahrlich weite Felder der Farbigkeit durchmessen. Anfangs im Banne von mancherlei Farbtheorien und nach eigenem Bekunden eher wie ein Chemiker oder Physiker zugange, ist er mit den Jahren zusehends den eigenen Emotionen gefolgt, bis hin zu kreativen Rauschzuständen. Auf seinen künstlerischen Spürsinn konnte er sich da längst verlassen.

Kuno Gonschior wurde 1935 in Wanne-Eickel geboren, sein Atelier hatte der Schüler von Karl Otto Götz in Hattingen, gestorben ist er 2010 in Bochum. Die regionalen Ortsmarken lassen schon ahnen, dass er dem Ruhrgebiet biographisch recht treu geblieben ist. Gleichwohl hat er auch international reüssiert, vor allem in den USA. Der Tod riss ihn dann mitten aus den Vorbereitungen zu einer Ausstellung in Japan.

Kuno Gonschior: V. Rot-Grün (1965), Leuchtfarbe auf Leinwand, 32 x 30 (Privatsammlung)

Es ist die erste Gonschior-Ausstellung im Revier seit dem Tod des Künstlers. 2002 hat ihn das Kunstmuseum Bochum gewürdigt, 2008 das Duisburger Museum Küppersmühle. Zu Lebzeiten hat Gonschior gern ganze Museumswände bemalt. Das ist in der Kunsthalle Recklinghausen naturgemäß nicht mehr möglich. Auch hat man – wie Museumsdirektor Hans-Jürgen Schwalm leise bedauert – extreme Großformate nicht ins Haus bringen können. Es ist zwar grundlegend für Kunstzwecke umgebaut, war aber nun mal früher ein Weltkriegsbunker. An großflächige Farbfeldmalerei hat damals gewiss niemand gedacht. Zumeist hat Gonschior jedoch mit „menschlichem Maß“ gearbeitet, sozusagen nach allseitiger Armspannweite. Deshalb dürften die gezeigten Werke wohl einigermaßen repräsentativ fürs gesamte Oeuvre sein.

Es ist eine konzentrierte Retrospektive mit 68 kleineren und durchaus imposanten mittelgroßen Bildern aus allen Schaffensphasen und mit allen wesentlichen Werkfacetten – von den 1950er Jahren bis ins Todesjahr 2010. Das mutmaßlich allerletzte Bild, das Gonschior schuf, ein unscheinbares Kleinformat, beschließt den Rundgang. Die chronologische geordnete Zusammenstellung, darunter viele Leihgaben aus Privatbesitz, enthält im zweiten Obergeschoss auch einige Bilder aus Gonschiors Nachlass. Kein ganz leichtes Unterfangen, denn alle Kinder des Künstlers mussten zustimmen.

Kuno Gonschior: „Landscape Orange-Blue-White“ (2006), Acryl und Gel auf Leinen, 100 x 95 (Privatsammlung / Courtesy Galerie Frank Schlag & Cie.)

Die ersten starken Signale setzt die Schau schon im Erdgeschoss, wo hauptsächlich Werke aus den 1960er Jahren präsentiert werden. So manche Flimmerbilder des „Farbforschers“ (auf diese griffige Bezeichnung haben sich viele Kunstbetrachter festgelegt) könnte man, was die Wirkung anbelangt, getrost „psychedelisch“ nennen. Der damalige Zeitgeist (im Vorfeld und ums Jahr 1968 herum) scheint darin zu wirken, zu walten und zu wabern, doch sind es letztlich ganz eigenwillige Schöpfungen, die weit über derlei Moden hinaus Bestand haben. Trotzdem hat die Zeit ihnen physisch etwas anhaben können: Makellos sind nicht mehr alle Bilder, hie und da beginnt die immer pastoser aufgetragene Farbe zu bröckeln und feine Risse zu zeigen.

In seinen Anfängen hat sich Gonschior entschieden vom Informel fortbewegt, hin zu Farb-Expeditionen und Experimenten, vielleicht auch in einer späten Nachfolge des Pointillismus, die man im bewundernden Sinne „besessen“ nennen kann. Faszinierend allein schon die offenbar nicht nachlassende Geduld, mit der Gonschior zu Werke gegangen sein muss. Hunderte, ja vielleicht manchmal gar Tausende von punkt-, strich-, keil-, tropfen- oder häufchenförmigen Farbaufträgen, zuweilen mit großem Regelmaß gesetzt, dann wieder grandios von allen Zwängen befreit, lassen auf den Bildflächen je ganz eigene Welten entstehen. Nur selten hilft uns Gonschior mit Titeln auf assoziative Sprünge, hier eigentlich nur bei den „Piccadilly“-Bildern, die metropolitanes Lichter-Gewimmel nachzuempfinden scheinen. Ansonsten tragen viele Werke entweder keine Titel oder führen lediglich die verwendeten Farben im Schilde.

Kuno Gonschior: Ohne Titel (Grau) (1987), Öl auf Leinwand, 190 x 140 (MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher)

Vielfältig die Farberfahrungen, die man hier machen kann: Wie geheimnisvolle Urgründe von unten her durchschimmern; wie die Farben immer wieder neue Dialoge miteinander aufnehmen und unverhofft aufeinander reagieren; wie solche Impulse gelegentlich auch in die dritte Dimension drängen und skulpturale Form annehmen, sei es als sanfte Wölbung oder Kugel!

Der Titel der Ausstellung – er lautet schlichtweg „Farben sehen“ – kann fraglos lückenlose Gültigkeit beanspruchen. Es scheint, als hätte Gonschior keinen einzigen Farbton ausgelassen, von Zeit zu Zeit waren sie ihm alle lieb und wert, ob nun Schiefergrau, schillerndes Blau, flammendes Rot, leuchtendes Gelb, schier grenzenloses Grün oder allerlei Mischformen und Verläufe, Experimente mit Gel, Wachs und Öl oder wechselnden Bildträgern inbegriffen.

Oh seltsamer Kontrast, wenn man danach das Museum verlässt und in die schmucklose Wirklichkeit eines Bahnhofsvorplatzes gerät.

Kuno Gonschior – Farben sehen. Kunsthalle Recklinghausen. 20. September bis 15. November 2020. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Eintritt 5, ermäßigt 2,50 €, samstags „pay what you want“ (Eintrittspreis nach Gutdünken). Telefon: 02361 / 50-1935.

Am 20.9. keine gewöhnlich terminierte Eröffnung, sondern ein ganzer Eröffnungstag von 11 bis 18 Uhr.




Olympische Spielstraße, München, 1972 – Erinnerungen an ein fröhliches Projekt, dem der Terror ein jähes Ende setzte

Abschnitt der Spielstraße mit erkennbar entspannten Besuchern. Weiße Luftballons markierten Hotspots des Parcours. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Der Mann im Hamsterrad hatte eine beeindruckende Ausdauer. Jeden Tag lief er seinen Marathon, und er schonte sich nicht. Die Fußverletzungen, die er sich im Rad zuzog, mussten schließlich sportärztlich behandelt werden.

Gleichwohl war er nicht Sportler, sondern Künstler: Timm Ulrichs, der vor wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feierte, prangerte vor bald 50 Jahren in seinem Hamsterrad – auch die Bezeichnung Tretmühle wäre wohl zulässig – die scheinbare Sinnlosigkeit körperlicher Leistungserbringung zu Sportzwecken an. Und seine Aktion wurde lebhaft wahrgenommen, stand das überdimensionale Hamsterrad doch auf der „Spielstraße“ der Olympischen Spiele in München. 1972 war das, verdammt lang her.

Wohl eine Performance, über die wir nichts Näheres wissen. Doch die Ballons kennen wir. (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Von Werner Ruhnau geplant

Die Spielstraße hatte der Essener Architekt Werner Ruhnau konzipiert, den man im Ruhrgebiet vor allem wohl wegen des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier kennt, das 1959 eröffnet wurde. Verbindendes zwischen einem Spaßparcours für die breiten Massen und einem opulent verglasten Musentempel springt möglicherweise nicht sofort ins Auge, doch wohnt beiden das Bestreben inne, Abgrenzungen in der Gesellschaft abzubauen, kulturelle Aktivitäten als partizipative Projekte zu gestalten und allen zu öffnen. Ruhnau war also durchaus der Richtige für die Münchener Spielstraße.

Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 

Dann kam der schreckliche Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, bei dem alle elf Geiseln starben. Zwar gingen die Spiele anschließend weiter, doch die Spielstraße wurde abgebaut, weggepackt und fast vergessen. Jetzt erinnert eine Ausstellung im Marler Kunstmuseum „Glaskasten“ an das Projekt.

Blick in die liebevoll zusammengestellte Ausstellung im Glaskasten Marl. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Wertvolle Eindrücke

Zusammen mit der Künstlerin Jana Kerima Stolzer und Britta Peters von Urbane Künste Ruhr hat Glaskastendirektor Georg Elben die Ausstellung konzipiert. Die Exponate stammen ausnahmslos aus dem Archiv Ruhnau, von irgendeiner Vollständigkeit kann natürlich nicht die Rede sein. Doch Timm Ulrichs’ Hamsterrad blieb als wohl größtes Exponat erhalten, außerdem einige skulpurale Arbeiten, Zeitungsartikel, Plakate, Siebdrucke und eine Widmung Andy Warhols, der sich die Sache damals auch einmal anguckte. Weiße Luftballons schweben über den Glasvitrinen gerade so, wie vor 48 Jahren solche Ballons die Stationen der Spielstraße markierten.

Viele Schmalfilme erzählen von der Spielstraße. Leider gibt es keinen Originalton dazu, nur kongenialen Sound. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Anita Ruhnau holte Künstler

Ruhnaus Frau Anita hatte etliche Künstlerinnen und Künstler zur Teilnahme bewegen können, was die Spielstraße, wenn man einmal so sagen darf, zu einem multifunktionalen Spektakel machte: Kunstpräsentation, Theater und Performances einerseits, Mitmachparcours andererseits.

Da liegt eine federnde Hüpfmatratze auf dem Weg und lädt sogar Anzugträger zum Selbstversuch ein, da gibt es Bühnenprogramme mit Publikumsbeteiligung, in der öffentlichen Siebdruckwerkstatt kann sich das Volk mit Rakel und Farbe versuchen. Super-8-Filme berichten von alledem. Glücklicherweise entstanden sie in reicher Zahl und wurden rechtzeitig digitalisiert, so dass sich Qualitätsverluste durch Alterung in Grenzen halten. In zwei relativ großen Räumen laufen diese Filme auf je drei Wänden, und wenn es in dieser ansonsten uneingeschränkt zu preisenden Ausstellung doch etwas zu kritisieren gibt, so ist es das weitgehende Fehlen von Sitzgelegenheiten in zentraler Position, von denen aus die alten Streifen mit möglicherweise noch mehr Genuss betrachtet werden könnten.

Ist es Sport oder ist es seine Verhöhnung? Mitunter spricht das alte Material keine klare Sprache (mehr). (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Langhaarige und Gamsbartträger

Erheiternd sind die Filme auch so, jedenfalls meistens. Langhaarige und Gamsbartträger dicht an dicht und trotzdem stressfrei, wie es scheint. Doch dann taucht in dem Gewusel eine merkwürdige Prozession auf, obskure Gestalten, ein rollendes Podest, ein Müllwagen… Das Straßentheaterstück „Olympiade 2000“, das auf der Spielstraße aufgeführt wurde und das Jana Kerima Stolzer für die Marler Ausstellung recherchierte und kunsthistorisch aufarbeitete, gefällt sich in der Dystopie eines pervertierenden, nurmehr wirtschaftlichen Interessen unterworfenen olympischen Sports. Das Stück schrieb seinerzeit der „Theatermacher“ Frank Burckner in Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk, und trefflich mag man sich darüber streiten, ob die düsteren Erwartungen der Autoren sich erfüllten oder mittlerweile längst schon überholt sind. Leider gibt es für die Filme keinen Ton, was besonders bei den abgefilmten (mehr oder minder spontanen) Bühnenereignissen schade ist.

Frühform der urbanen Künste

Die Spielstraße bot Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen, einst und jetzt und zukünftig. Warum aber beteiligt sich „Urbane Künste Ruhr“ an der Marler Schau, jene Organisation, die in der Nachfolge des Kulturhauptstadtjahres ganz überwiegend öffentliche Orte im Hier und Jetzt mit aktuellen Kunstprojekten bespielt? Nun, die Verwandtschaft der Themen ist nicht zu leugnen, und ursprünglich, so Britta Peters, sollte die „Spielstraße“ nur ein Teil des Urbane-Künste-Projekts „Ruhr Ding: Klima“ sein, das nun aber, Corona ist schuld, auf die Mitte nächsten Jahres verschoben wird.

  • „Die Spielstraße München 1972“
  • Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Creiler Platz, Rathaus
  • Bis 1. November 2020
  • Geöffnet Di – Fr 11 – 17 Uhr, Sa und So 11 – 18 Uhr
  • Kein Katalog



Warum lag der Sportkatalog für den früheren Bochumer Intendanten in meinem Briefkasten?

Also, das wird mir jetzt wohl niemand erklären können. Ich selbst bin auch ziemlich ratlos.

Ein durchaus rätselhafter Adressaufkleber (Foto: Bernd Berke)

Der Reihe nach: Jetzt traf der höchst umfangreiche Verkaufskatalog einer Hagener Sportartikel-Firma bei mir ein. Bleischwer lag er im Briefkasten. Mit zahllosen Angeboten für Vereine und Schulen. Utensilien für alle denkbaren Sportarten. Medizinbälle, Sprossenwände, Trampoline, Rugby-Ausrüstungen, Schwimmhilfen, Billardtische, Tischtennisplatten, Laufhürden, Torgestänge. All das und noch tausendfach mehr. Krasse Sachen dabei.

So weit, so halbwegs normal. Nur: Diese Firma hat mir vorher noch nie etwas geschickt. Auch hatte ich dort noch gar nichts bestellt und habe das auch nicht vor. Wahrscheinlich hat einer dieser ruchlosen Adressenhändler meine Daten weiterverkauft. Möge ihn die Pestilenz…

Doch nein. Offenbar war ich persönlich gar nicht gemeint. Der namentlich Angeschriebene zählt vielmehr zur Theater-Prominenz. Der Katalog war – unter meiner Anschrift – an Elmar Goerden adressiert, den ehemaligen Bochumer Schauspiel-Intendanten (im Amt 2005-2010). Nun gut, ich habe ihn, zusammen mit einem Kollegen, im Jahr 2005 einmal interviewt und später ein paar seiner Inszenierungen besprochen. Seine damalige Theaterarbeit habe ich in recht guter Erinnerung behalten. Auf welche wundersame Weise er aber mit meiner Adresse verknüpft und unter dem Label Revierpassagen angeschrieben worden ist, erscheint mir völlig schleierhaft. Als Goerden in Bochum tätig war, hat es die Revierpassagen noch gar nicht gegeben.

Mal kurz die Suchmaschine angeworfen: Was hat Elmar Goerden in den letzten Jahren so gemacht? Nun, hauptsächlich hat er offenbar als Gastregisseur an verschiedenen Bühnen in Wien inszeniert – weitab vom Ruhrgebiet. Auch kein Ansatzpunkt.

Wenn ich mich recht entsinne, hat Goerden einmal kurz vor einer Laufbahn als Profi-Fußballer gestanden und ist dann doch ans Theater gegangen. Immerhin eine vage Verbindung zum Sport. Oder sollte er etwa Trainingsgeräte für „seine“ Schauspieler*innen benötigen? Zählte nicht mal Fechten zur Schauspielausbildung? Fragen über Fragen. Absurde Vermutungen, die in semantischen Sackgassen enden. Ein postalischer Irrläufer, fürwahr.

Und jetzt? Bin ich mal gespannt, wessen Post mich demnächst ereilt. Die für Leander Haußmann? Für Frank-Patrick Steckel? Für Matthias Hartmann? Wetten werden noch angenommen.




Das Ruhrgebiet – von allen Seiten betrachtet: 100 Jahre Regionalgeschichte, wichtige Kulturbauten und zigtausend Luftbilder

Auch ein Aspekt bei „100 Jahre Ruhrgebiet“: selbstironische Imagekampagne „Der Pott kocht“ (1999) mit einem hässlichen Entlein aus dem Revier. (© Leihgeber Regionalverband Ruhr RVR)

Zur Zeit geht’s aber so richtig rund mit der allseitigen Selbstvergewisserung im Ruhrgebiet: Neben der hier bereits ausführlich vorgestellten Schau „Kindheit im Ruhrgebiet“ des Essener Ruhr Museums gibt es jetzt mehrere bemerkenswerte Projekte, welche die ganze Region in den Blick nehmen.

Zuvörderst wäre eine weitere, noch aufwendigere Ausstellung des Ruhr Museums zu nennen, die parallel zu den Kindheits-Betrachtungen läuft: „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“ umgreift mit über 1000 Exponaten alle wesentlichen Bereiche des öffentlichen Lebens im Revier, und zwar seit Gründung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, die am 4. Mai 1920 von der preußischen Landesversammlung beschlossen wurde, um den „Wilden Westen“ zu zähmen und zu ordnen. Erst damals entstand im Ruhrgebiet das Bewusstsein der Gemeinsamkeiten. Der Rundgang durch die Ausstellung erweist sich als vielfach aufschlussreicher Streifzug durch Politik, Verwaltung, Industrie, Infrastruktur, Kultur, Wissenschaft und Sport in der Region. Welch eine überbordende Themenfülle! Mehr Einzelheiten dazu folgen demnächst an dieser und an anderer Stelle, nämlich im „Westfalenspiegel“.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“. 13. September 2020 bis 9. Mai 2021 im Ruhr Museum, Zeche Zollverein, Essen, Gelsenkirchener Str. 181 (Navi: Fritz-Schupp-Allee). Gebäude Kohlenwäsche, 12-Meter-Ebene. Geöffnet Mo-So (täglich) 10-18 Uhr, Eintritt 7, ermäßigt 4 Euro. Kinder/Jugendliche unter 18 frei. Katalog im Verlag Klartext (304 Seiten, über 300 Abb.), 29,95 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de

Stätten der Revierkultur

Glamouröser Auftritt: Hollywood-Star Joan Crawford mit einem Modell des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier – bei Eröffnung der Ausstellung „The New Theatre in Germany“, New York, 5. Februar 1961. (Silbergelatine-Abzug / © Baukunstarchiv NRW)

Eine zweite regionale Selbstbetrachtung mit deutlich mehr eingrenzender Fokussierung ist jetzt im Essener Museum Folkwang zu sehen, und zwar die Ausstellung mit dem (ironisch) staunenden Titel-Ausruf „Und so etwas steht in Gelsenkirchen…“ Hier dreht sich alles um bedeutsame „Kulturbauten im Ruhrgebiet nach 1950″ (Untertitel). Die in Kooperation mit dem Dortmunder Baukunstarchiv NRW und der TU Dortmund entstandene Zusammenstellung umfasst vor allem Skizzen, Pläne und Modelle, beispielsweise zu Bauten wie dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier, der Essener Aalto-Oper und dem Bottroper Museum Quadrat.

„Und so etwas steht in Gelsenkirchen…“. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. Bis 10. Januar 2021. Öffnungszeiten Di, Mi, Sa, So 10 – 18 Uhr, Do, Fr 10 – 20 Uhr, Mo geschlossen. Der Katalog (ca. 200 Seiten, 34 Euro) erscheint im November 2020 im Dortmunder Verlag Kettler.

Aus der Vogelperspektive

Nur mal so als Beispiel von der Seite 3d.ruhr: Schrägluftbild des Dortmunder Westfalenstadions (aka Signal-Iduna-Park), des Stadions Rote Erde, der Körnighalle, der Westfalenhalle und des Messegeländes. (© Geonetzwerk Metropole Ruhr / Regionalverband Ruhr (RVR) / virtualcity SYSTEMS GmbH)

Die Resultate des dritten Projekts kann man besichtigen, ohne das Haus zu verlassen. Auf der Internetseite https://www.3d.ruhr lassen sich – Stück für Stück, Straße für Straße, Haus für Haus – die Städte und Kreise des Ruhrgebiets aus der Vogelperspektive betrachten. Ein kurzes Video auf der Startseite erklärt diverse Zugriffs-Möglichkeiten. Insgesamt 150.000 Luftbilder sind die Grundlage für diesen bundesweit beispiellosen Auftritt, für den die Vermessungs- und Katasterämter der gesamten Region sich untereinander abgestimmt haben. Federführend beteiligt ist der Regionalverband Ruhr (RVR).

https://www.3d.ruhr

 

 




Es war ein Sommer ohne Festivals – aber Innsbruck trotzt dem Virus mit einer römischen Prachtoper

Die Menschen baumeln an den Schicksalsfäden. Szene aus „L’Empio punito“ bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik. Foto: Birgit Gufler

Ein öder Sommer verblasst über der Landschaft der Festivals. Von Schleswig-Holstein bis Macerata, vom Rheingau bis nach Griechenland – alles abgesagt. Leer lag das Nest in Bayreuths prangendem Saal, allzu früh schwand die Triennale an der Ruhr und still lag das Wildbader Tal im Schwarzwald, wo sonst Rossinis liebliche Melodiegirlanden in den Himmel der Musik flattern.

Seit den hungerschlotternden Nachkriegsjahren nach 1945 hat es keinen solchen tonlosen Sommer mehr gegeben. Die Folgen für die Künstler und die Veranstaltungsbranche sind fatal, von den Millionenverlusten für Reise- und Gastro-Gewerbe ganz zu schweigen.

Wie hoch der künstlerische Verlust ausfällt, lässt sich wohl nur schwer einschätzen. Sicher fehlt kaum etwas, wenn das „Traumpaar“ Netrebko – Eyvazov nicht ein weiteres Mal vor beseligten 400-Euro-Karten-Besitzenden altbekannte Opernschlager schmettert. Doch dass Salzburg sein 100jähriges Bestehen geschrumpft und glamourarm begehen musste, war ein herber Schlag, den das Festival mit Mut und Zähigkeit – und einem künstlerisch beachtlichen Ergebnis – abzufedern wusste.

Zu bewundern ist, wie sich im gebeutelten Italien Festivals dagegen gewehrt haben, einfach von der Landkarte zu verschwinden: Pesaro mit einem ehrgeizigen Rossini-Rumpfprogramm. Torre del Lago, wo der Dirigent Enrico Calesso eine hochgelobte „Madama Butterfly“ musikalisch erblühen ließ. Oder Verona, wo sich Intendantin Cecilia Gasdia und ihr Team nicht kleinkriegen lassen wollten und das steinerne Riesenrund wenigstens mit Puccinis hintersinniger Komödie „Gianni Schicchi“ mit Leben füllten. Doch was schmerzlich fehlt, sind die vielen sommerlichen Aktivitäten, die Kultur in die Fläche bringen, die sich originellen Programmen und Entdeckungen widmen wie das Festival „Raritäten der Klaviermusik“ in Husum, die jungen Künstlern die Chance eines Auftritts oder die Gunst gemeinsamen Arbeitens und Lernens gewähren.

Neustart an Ruhr und Inn

Der Mut eines verzweifelten „Dennoch“ nützt leider nichts gegen ein Virus, das unbeeindruckt an Körperzellen andockt, sein Erbgut einschleust und sein Zerstörungswerk weiterträgt. Aber dieses „Dennoch“ gibt es, abgesichert durch peinlich genau erarbeitete Hygienekonzepte, viel logistischen Aufwand und strikte Disziplin im Publikum. Das Ruhrgebiet spielte dabei eine international beachtete Vorreiterrolle, als das Klavier-Festival Ruhr bereits im Juni wieder mit Konzerten begann.

Aber auch Musiktheater sollte möglich sein und die Menschen wieder erreichen: Davon waren die Festwochen Alter Musik in Innsbruck überzeugt. „Euphorisch“ kündigte Intendant und Dirigent Alessandro de Marchi die 44. Festwochen an: Beide geplanten Opern konnten – wenn auch in adaptierter Form – aufgeführt werden, darunter nach einer neuen kritischen Ausgabe Ferdinando Paërs „Leonora“ von 1804 mit dem Libretto von Jean Nicolas Bouilly, das Beethoven ein Jahr später für seinen „Fidelio“ heranzog. Das Werk sollte neben den Opern von Johann Simon Mayr und Pierre Gaveaux auf den gleichen Stoff beim Beethoven-Fest in Bonn gezeigt werden – im vorläufigen Programm 2021 sind sie leider nicht mehr enthalten.

Das neue Innsbrucker Haus der Musik. Foto: Werner Häußner

Der zweite Opernabend, aus dem Innenhof der Theologischen Fakultät verlegt ins neue „Haus der Musik“, kleidete Alessandro Melanis „L’Empio punito“ („Der bestrafte Frevler“) in eine vollgültige szenische Aufführung mit zehn Darstellern auf der Bühne und einem Elf-Musiker-Orchester vor dem Podium. Die Oper, auf der Basis eines Autographs aus der Vatikanischen Bibliothek von Musikwissenschaftler Luca della Libera kritisch ediert, gilt als früheste musikalische Adaption des 1630 im Druck erschienenen Don-Juan-Dramas von Tirso de Molina.

Von Spanien nach Makedonien

Melanis Werk ist ein Dokument für die kulturellen Verflechtungen im Europa der Mitte des 17. Jahrhunderts. Der Komponist stammt aus einer musikalischen Sippe in Pistoia, zu der sein komponierender Bruder Jacopo und der Kastratensänger (und Spion) Atto Melani gehörten. Aus Pistoia stammt auch Papst Clemens IX., der Melani kurz nach seiner Wahl 1667 zum Kapellmeister der römischen Basilika S. Maria Maggiore berief. Auch als Opernkomponist glänzte Melani; Aufführungen seiner Werke sind aus Bologna, Siena, Florenz und Reggio Emilia dokumentiert. Zwei Jahre später eröffnete eine der einflussreichen römischen Familien, die Colonna, ihr neues Theater mit Melanis „L’Empio punito“. Das aufwändige Werk, in Innsbruck von mehr als vier auf zweidreiviertel Stunden gekürzt, bot ein rauschendes Fest: 67 Statisten und 16 Bühnenbilder sorgten für Pracht und Prunk.

Auch wenn die Nähe zu Tirso de Molinas Don Juan in vielen Details deutlich wird: Melani und sein Librettist Filippo Accaiuoli passten den Stoff geschickt an die Bedürfnisse ihres Publikums an. Bei der Verlegung des Schauplatzes aus Sevilla in ein sagenhaftes Makedonien war wohl weniger die Zensur bestimmend. Eher die Erwartung der für griechische Mythologie aufgeschlossenen „Arkadier“, die zudem spanischer Literatur schlechten Geschmack attestierten. Accaiuoli war später einer der ersten Mitglieder der „Accademia dell’Arcadia“ die auf Literatur und Dichtung in Europa einen erheblichen Einfluss ausüben sollte – nicht zuletzt durch den Patriarchen aller Librettisten, Metastasio, auch auf die Oper.

Arkadische Gelehrsamkeit und derbes Volkstheater

Fingierte Vergiftung: Atamira (Theodora Rafti) mit ihrem untreuen Ehemann Acrimante (Anna Hybiner). Foto: Birgit Gufler)

So wird also aus Don Juan ein „Acrimante“ und aus dessen Diener Catalinon (bei Mozart: Leporello) ein „Bibi“, eine herrlich pralle Komödienfigur. Der „Wüstling“ bei Melani verführt keine Frauen am laufenden Band, sondern verguckt sich nach einem Schiffbruch sofort in Ipomene, die Schwester des Königs Atrace von Makedonien, die dummerweise aber bereits mit seinem besten Freund Cloridoro verbandelt ist. Seiner Ehegattin Atamira dagegen gibt Acrimante einen brutalen Korb nach dem andern, aber dieser Schatten der späteren Mozart’schen Donna Elvira bleibt ihm verbunden bis hin zu einem fingierten Giftmord. Sie wird so zum spannendsten Charakter der Stücks, das auf der anderen Seite mit Bibi und der Amme Delfa ins derbe Volkstheater greift, dem auch obszöne Anspielungen nicht fremd sind – von wegen Zensur also.

Das Ende kennt den steinernen Gast und den Höllensturz Acrimantes, nicht aber Tirso de Molinas moralische Schlussfolgerung: Der spanische Dramatiker aus dem Orden der Mercedarier macht seinen Zuschauern unmissverständlich klar, dass sie wie der Spötter Don Juan „des Staubes Kleid“ tragen, ihre Lebensfrist unkalkulierbar und das Gericht Gottes jederzeit zu erwarten ist. Dort bleibt dann „keine Schuld unbezahlt“. In Melanis Oper fährt Acrimante in die Unterwelt, weil er seine Seele dem Gott der Toten, Pluto, versprochen hat, der ihm vorher in einer Traumszene den Orkus als einen Ort neuer Liebesfreuden vorgegaukelt hat – wer denkt nicht an Wagners Venus, wenn er die Göttin Proserpina rufen hört: „Zum Vergnügen, zu den Freuden“? Unser Proto-Don-Giovanni darf dann noch mit Charons Nachen die Wellen des Styx zum Hafen des Acheron kreuzen, bis er endlich in den Tartarus gelangt. Ein Finale, in dem die dramaturgische Folgerichtigkeit immer brüchiger wird.

Heitere Oberfläche ohne Kratzer

Anna Hybiner singt die Rolle des bestraften Frevlers Acrimante. Foto: Franziska Schrödinger

Daher ist es auch schwierig, aus Melanis „Empio punito“ einen roten Faden herauszulösen. Eher drängt sich der Eindruck auf, es gehe um eine geistvolle, gelehrte Unterhaltung, die gleichermaßen die Lust am schlüpfrigen Witz, das Interesse an antiker Mythologie und einen Hauch katholischer Bestrafungstheologie miteinander verbindet. Die Innsbrucker Inszenierung von Silvia Paoli hält diese inhaltlichen Elemente leichtfüßig in der Schwebe: Drei graue Wände genügen in Andrea Bellis Bühne, um die verspielten Kostüme von Valeria Donata Bettella wirken zu lassen: eine fröhliche Mixtur aus spanischen und barocken Schnitten, Trachten à la tyrolienne und Commedia dell’arte-Anklängen; Acrimante und Atamira in noblem Schwarz, das Personal schon mal in Lederhose.

Die vier Stallknechte, die frappierend ähnlich zu Lorenzo da Pontes Eröffnungsszene für Mozarts „Don Giovanni“ über die Plage des Arbeitens murren, sind beflügelte Amoretten in kurzen Höschen. Sie ziehen die Fäden des Geschicks, lassen die Figuren an roten Schnüren baumeln, werfen sich manchmal von den handelnden Personen unbemerkt ins Geschehen, steuern sie als Puppenspieler von oben. Was ist Schicksal, was Verhängnis, was eigene Entscheidung? Die Frage bleibt offen, wird im lebendigen Spiel auch nicht weiter thematisiert. Die heitere Oberfläche bekommt keine Kratzer. Nur die bezaubernden Lamenti, die Melani seinen Sängern schrieb, bringen den Hauch von Wehmut mit, der die Marionetten zu Menschen wandelt.

In solchen Momenten, etwa der bewegenden Arie der Atamira „Piangete occhi“, zeigt Melani, dass er den Kontakt zur „alten“ Musik eines Claudio Monteverdi nicht verloren hat und sich mit seinen berühmten Zeitgenossen wie dem Innsbrucker Hofkapellmeister Antonio Cesti oder dem jüngeren Alessandro Scarlatti messen kann. Im turbulenten Spiel korrespondiert seine Musik mit der raschen Folge der Szenen, passt sich in Kurzarien, freien Ariosi und treffsicheren Rezitativen dem dramatischen Fluss an. Sein vielgestaltiger, pointierter Umgang mit dem Rhythmus hebt ihn aus seinen Zeitgenossen heraus.

Spielfreude bei den jungen Sängern

Die jungen Sänger, allesamt Teilnehmer des Innsbrucker Cesti-Gesangswettbewerbs, erfüllen mit ihrer modisch harten, gelegentlich zu flachem Ansatz neigenden Tonbildung Melanis vokale Anforderungen in Rhythmus und Phrasierung recht geschickt. In der flexiblen Färbung des Klangs kommen sie an Grenzen – so etwa Theodora Raftis in den Arien der Atamira, aber auch Dioklea Hoxha als Ipomene. Die Titelfigur Acrimante wirkt weder gierig noch zynisch (wie später Molières Don Juan), sondern bleibt ein lüsterner Galan, wie ihn manch andere Opern dieser Zeit kennt. In der Uraufführung von einem Kastraten gesungen, wird er in Innsbruck dem Mezzo Anna Hybiner anvertraut. Die Sängerin, derzeit am Nationaltheater Mannheim in der Uraufführung von Hans Thomallas „Dark Spring“ zu erleben, setzt das Unbekümmerte ins stimmliche Licht, aber auch die bittere Erkenntnis, im Vergnügen wie im Leiden stets allein gewesen zu sein.

Der Berater des Königs, Tidemo (Juho Punkeri, links) wird ermordet und kommt als steinerne Statue wieder. Andrew Munn ist der König Atrace, der am Ende die von ihrem untreuen Gatten befreite Atamira heiratet. Foto; Birgit Gufler

Allein schon wegen ihrer unbändig spielfreudigen Partien werden Lorenzo Barbieri als Bibi mit allzu losem Mundwerk und der Tenor Joel Williams als mit allen Wassern gewaschene Amme Delfa in Erinnerung bleiben. Nataliia Kukhar zeigt mit ihrem in der Emission nicht ganz kontrolliertem Mezzo bewegende Gestaltungskunst in der Klage des Cloridoro „Uccidetemi, sospiri“. Der Bass Andrew Munn verfügt nicht über den Kern in der Stimme, um die königliche Autorität seiner Partie des Atrace zu vermitteln.

Als Dirigentin des Barockorchester:Jung fördert Mariangiola Martello einen geschmeidig weichen, manchmal allzu kantenlosen Klang, hebt aber den variationsreichen Rhythmus Melanis hervor und verzahnt vor allem die breiten melodischen Arienteile sensibel mit den Sängern. Dass die Wut der Sturmmusik ebenso wie die komisch überzogenen Tremoli zu Bibis Höllenangst wirkungsvoll platziert sind, dafür sorgen Florian Brandstetter und Tabea Seibert mit den Blockflöten sowie Bálint Kovács mit dem Fagott. Melani hat über dem Basso continuo zwei Melodiestimmen ausgeschrieben, die gewagt gesetzte Harmonien zulassen, und notiert Hinweise auf eine Instrumentierung. Die Harfen im Continuo hatte man sich in Innsbruck gespart; alles andere aber klang sehr stilsicher und ausgefeilt – auch wenn sich Melanis Musik dramatischer, flammender denken lässt. Eine Bühnenproduktion in Deutschland wäre nach der Erstaufführung 2003 beim Bachfest Leipzig mal wieder fällig; vielleicht gibt Innsbruck einen Anstoß dazu.




Im Zeichen des Mammuts – Dortmunds Naturmuseum nach sechs Jahren endlich wieder geöffnet

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann und Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau halten dem Wahrzeichen des Naturmuseums (aus vielen Originalteilchen zusammengesetztes Skelett einer Mammut-Kuh) ihre Schutzmasken vor. Sierau ließ es sich nicht nehmen, den hindernisreichen Umbau des Hauses als „Mammut-Aufgabe“ zu bezeichnen. (Foto: Bernd Berke)

Eine Stadt, die etwas auf sich hält, sollte beispielsweise mehrere Kunstmuseen haben, außerdem diverse Häuser zur (Kultur)-Geschichte – und möglichst ein naturkundliches Ausstellungs-Institut. In diesem Sinne rückt Dortmund jetzt beim Image-Wettbewerb der Kommunen endlich wieder in eine der vorderen Reihen auf: Nach schier unglaublichen sechs Jahren Umbauzeit (nur zwei hätten es sein sollen) eröffnet das Naturmuseum wieder, in gründlich veränderter Gestalt und deutlich attraktiver als ehedem.

Eigentlich ist – neben dem althergebrachten Stadtwappen-Adler – das Nashorn (Maskottchen des Konzerthauses) zum Dortmunder Werbetier avanciert, doch nun bekommt der Dickhäuter ebenso schwergewichtige Konkurrenz von einer Mammut-Dame. In mühseliger Kleinstarbeit hat man ihr Skelett fürs Museum zusammengesetzt, aus zahllosen originalen Einzelteilen, die (gleichsam als „Beifang“) auf dem Gebiet der heutigen Nordsee gefunden wurden. Vor rund 30.000 Jahren war dort noch trockenes Land. Schon angesichts eines solchen Zeitmaßes erscheint die sechsjährige Umbauzeit seit 2014 denn doch als (allerdings kostspielige) Petitesse. Und es geht ja museal noch viel weiter zurück: von den Eiszeiten (Quartär – hierhin gehört das Mammut) über das Zeitalter der Saurier (Kreidezeit) bis in die Frühzeit der Kohle-Entstehung (Karbon).

Kindgerechtes Marketing: Das Mammut gibt’s auch schon als Stofftier. (Foto: Bernd Berke)

Ach ja, übrigens: Nähere Einzelheiten zur Genese des bundesweit beispiellosen Dortmunder Mammuts finden sich hier. Und noch viel, viel mehr steht im „Mammutbuch“, das von den Freunden und Förderern des Naturmuseums neu herausgebracht wurde.

„(Bitte nicht) am Dino packen!“

Das zweite spektakuläre Hauptstück des Hauses ist nicht original, sondern ein nachempfundenes Dinosaurier-Modell. Die Dortmunder kennen das mächtige Wesen noch aus dem alten Naturkundemuseum, wie es vormals geheißen hat. Dortmund Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) sagte heute zur Eröffnung, er sei in den letzten Jahren vielfach darauf angesprochen worden, wann denn der Dino (und all die anderen Exponate) wieder zu sehen sein würden. Er musste die Menschen wieder und wieder vertrösten. Heute aber rief er launig und spontan in Ruhri-Diktion aus: „Jetzt kann man wieder am Dino packen!“ Da freilich musste er sich von den Museumsleuten höflich korrigieren lassen. Nicht nur, aber derzeit vor allem „wegen Corona“ dürfen etliche Objekte und Mitmach-Stationen noch nicht so berührt werden, wie man es sich gewünscht hätte.

Viele Kalamitäten beim Umbau – nur kein Vulkanausbruch

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann skizzierte kurz die schier endlose Abfolge von Pech und Pannen in der Umbauzeit. Mal ging eine Baufirma pleite, mal gab’s keinen Strom, kein Internet, keine Heizung oder kein Wasser, dann wieder hatte man eine Überschwemmung. „Nur einen Vulkanausbruch – den hatten wir nicht…“

So präsentiert sich jetzt der Eingangsbereich des Naturmuseums. (Foto: Bernd Berke)

Die Museumschefin erläuterte das veränderte Konzept: Während das Museum früher die wissenschaftliche Systematik in Biologie und Geologie nüchtern abgearbeitet habe, sei der Rundgang heute im Wesentlichen regionalspezifisch und möglichst sinnlich arrangiert. Man setzt also konsequent in der Lebenswelt Dortmunds und des Umlandes an, ganz konkret zum Beispiel bei den Dortmunder Großgrünflächen Westfalenpark, Rombergpark, Hauptfriedhof und Fredenbaum. Diese Parklandschaften und andere Lebensräume sind (unter dem Obertitel „Stadt – Land – Fluss“) Ausgangspunkte naturgeschichtlicher Erkundungen und Erzählungen, die sich immer mehr verzweigen.

Die Vielfalt reicht bis in Alltagsfragen hinein, beispielsweise: Was muss ich bei der Haltung eines Meerschweinchens beachten? Andererseits rührt man natürlich auch an die großen Fragen der Entstehung des Lebens und der Ökologie. Wollte man hier all die vielen Schubladen mit pointiertem Zusatzwissen aufziehen und die Tafeln lesen, so hätte man sehr reichlich zu tun. Besser wär’s, man käme mehrmals wieder.

Vermittlung durch Vitrinen bleibt eher die Ausnahme

Ja, es gibt auch einige Vitrinen (etwa mit präparierten Vögeln oder Eichhörnchen und dergleichen Getier), doch derlei traditionelle Vermittlung ist eher die Ausnahme, auch wirkt das Inventar „lebendiger“, denn alles ist ungleich besser ausgeleuchtet als früher in den notorisch schummrigen Museen. Wo immer es ging, hat man versucht, Informationen zeitgemäß mit anschaulichen Dioramen, Touchscreens, Videos oder Hörstationen aufzubereiten. In der Pflanzenabteilung darf man ausgewählte Düfte riechen, in einem großen Aquarium schwimmen heimische Fische. Auf der geologischen Etage, die einem vielleicht nicht gar so nah liegt wie die Tierwelt, werden Fossilien durch farbliche Gestaltungen und überraschende Zusammenhänge „zum Sprechen gebracht“. So liegen etwa die uralten Ammoniten nicht einfach nichtssagend herum, sondern sie werden buchstäblich ansprechend präsentiert. Zudem ergeben sich auf den verschiedenen Stockwerken immer wieder reizvolle Perspektiven, die auch dem ästhetischen Empfinden Genüge tun.

Auch eine Katze leistete ihren naturgemäßen Beitrag

Nicht nur die Museumsdirektorin und ihr Team haben seit 2014 einiges geleistet, selbst die Katze von Frau Dr. Dr. Möllmann war indirekt beteiligt. Sie hat Mäuse gefangen, deren filigrane Skelette sodann präpariert wurden und nun in einem speziellen Schaukasten zu sehen sind; selbstverständlich im wissenschaftlichen Kontext.

Gut denkbar, dass das Naturmuseum, wie zuvor das Naturkundemuseum, wieder zum besucherstärksten Haus in Dortmund wird (wenn man vom Deutschen Fußballmuseum einmal absieht). Nicht nur nebenher bedeutet es auch eine kulturelle Aufwertung der gelegentlich als problematisch verschrienen Dortmunder Nordstadt.

Naturmuseum Dortmund. Münsterstraße 271. Ab Dienstag, 8. September 2020, jeweils dienstags bis sonntags 10-17 Uhr (zu diesen Zeiten ist auch das neue Museumscafé „Ammonit“ geöffnet). Eintritt in die Dauerausstellung frei. Neu seit 22. September: tägliche Öffnungszeit um eine Stunde erweitert, also Di bis So 10-18 Uhr

Reservierung erforderlich: Tickets über www.naturmuseum-dortmund.de

Tel.: 0231 / 50-24 856. Mail: naturmuseum@stadtdo.de

Internet: www.naturmuseum.dortmund.de

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Einlass-Regelung/Reservierung

Es muss vorab online für jede Person (unabhängig vom Alter) eine Reservierung vorgenommen werden, und zwar auf dieser Seite:

www.naturmuseum-dortmund.de

Die Reservierungen sind jeweils auf ein bestimmtes Einlass-Zeitfenster begrenzt. Dies bedeutet, dass der Zugang zum Museum nur zu dieser Zeit gestattet wird. Durch die Limitierung der Reservierungen soll gewährleistet werden, dass die aktuell maximal zulässige Personenanzahl im Naturmuseum zu keinem Zeitpunkt überschritten wird.

Vorerst werden nur Reservierungs-Möglichkeiten für jeweils zwei Wochen online gestellt.

 

 




Kindheit im Ruhrgebiet – Erinnerung an versunkene Zeiten

Diese Fotografie aus dem Jahr 1958 ist zugleich ein Plakatmotiv der Schau: „Zwei Milchholer in Buer“ (Gelsenkirchen). (© Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Herbert Konopka)

Oh ja, so war es. Wirklich und wahrhaftig: Genau solche kurzen Lederhosen haben wir Jungs („My Generation“) damals Tag für Tag getragen. Robuster ging’s nimmer. Und ja: Das Tischfußballspiel aus Blech kennt man so auch noch. Ebenso grüßen die viele Jahrzehnte alte Spielesammlung und die Märklin-Eisenbahn aus versunkenen Zeiten herüber. Oder jene zerbeulten Kannen, mit denen man ins Milchgeschäft ging. Und, und, und.

Diese Ausstellung weckt Erinnerungen noch und noch, für und für. Überdies macht die Schau „Kindheit im Ruhrgebiet“ im Essener Ruhr Museum deutlich, wie sich auch hier die frühen Lebensjahre verändert haben. Nach dem Krieg herrschte vielfach noch Not. Die breite Mehrheit lebte in sehr schlichten Verhältnissen. Trotzdem erinnern sich die Menschen heute vor allem an Glücksmomente ihrer Kindheit.

Nach und nach drang dann die zuweilen grelle Konsumwelt – wie überall im Lande – mit wachsender Macht in die Kinderzimmer vor. Da gab’s dann in den späten 70er und frühen 80er Jahren die ersten, anfangs freilich noch sehr bescheidenen Spielkonsolen (mit dem Plop-Plop-Klassiker „Pong“ für den TV-Bildschirm) oder gar schon das erste eigene Fernsehgerät im farbstarken Stil der Zeit. Derweil verschwand allmählich die ehedem typische Ruhrgebiets-Kindheit vor rußigen Zechen- und Halden-Kulissen. Auch an Ruhr und Emscher zogen sich die meisten Kinder von draußen in die Häuser und Wohnungen zurück. Traurig genug: Je sauberer die Luft im Revier wurde, umso öfter blieben die Kinder drinnen.

Sichtlich oft und gern benutztes Spielzeug: drei Teddybären – mit dem Buch „Drei Bären“ von Leo Tolstoi, 1950er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Ausstellung, binnen zwei Jahren nicht zuletzt auf Anregung des Kinderschutzbundes (Ortsverband Essen e. V.) entstanden, reicht mit 66 Vitrinen-Exponaten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1989. Spätere Signaturen der Kindheit gelten (noch) nicht als aufbewahrenswert. Es fehlt noch die zeitliche Distanz. Wahrscheinlich tauchen diese Dinge ja eines Tages auf Dachböden oder in Kellern auf und werden wieder wertgeschätzt. Abwarten.

All die jetzt präsentierten Erinnerungsstücke kamen aufgrund zweier öffentlicher Aufrufe zusammen. 2018 meldeten sich zwar etliche Bürger, aber noch kaum mit nostalgischen Kleinoden aus den 80ern. So wurde im Sommer 2019 noch einmal nachgelegt. Michaela Krause-Patuto und ihr Kuratoren(innen)-Team hatten nunmehr eine reichere Auswahl. Sie führten zu jedem ausgesuchten Stück Gespräche mit den privaten Leihgebern, um jeweils einen Erzähl-Zusammenhang herzustellen. Aus diesen Geschichten wiederum ergab sich erlebte Geschichte. Wer das ausgiebig nachschmecken möchte, sollte sich den Katalog besorgen. Das wird jedes Exponat im persönlichen und zeitgeschichtlichen Kontext vorgestellt.

Zunächst galt es, für die Ausstellung den Zeitrahmen der Kindheit zu setzen: Er reicht vom 4. bis zum 14. Lebensjahr – von den ersten bewussten Erinnerungen bis zur Pubertät. So schieden beispielsweise niedliche Babymützen aus dem Angebot aus. Überhaupt wollte man das Ganze eben nicht putzig aufziehen, sondern durchaus ernsthaft und mit historischen Hintergründen angereichert. Darauf legt auch der Museumschef Prof. Heinrich Theodor Grütter großen Wert.

Zeittypische Sammlung: Glanzbilder in Zigarrenkiste, 1960er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Leihgaben verweisen vor allem auf die üblichen Phänomene und Stationen des Aufwachsens: Kindergarten, Schule, Spiele, Familie, Geburtstage, Weihnachten und sonstige Feste.

Die chronologisch angeordnete Galerieausstellung auf der 21-Meter-Ebene des Ruhr Museums wirkt sehr konzentriert. Jedes Exponat wird in einer eigenen Vitrine gezeigt. Das verleiht noch den unscheinbarsten Ausstellungsstücken eine ungeahnte Dignität. Selbst die Knicker-Kügelchen oder die Glanzbilder fürs Poesiealbum haben hier ihren veritablen Auftritt, sie wirken nicht wie Bestandteile eines Sammelsuriums, sondern wie Besonderheiten, die allerdings auch für ein Allgemeines stehen. Bekannter Effekt: Sieht man etwa Klassenfotos bestimmter Jahrgänge, so scheinen sie jeweils innig miteinander „verwandt“ zu sein. Doch natürlich ist jede Kindheit auch individuell verschieden.

Geradezu die Ikone einer ehemaligen Kindheit im Revier: „Henkelmann-Brücke“, Oberhausen, um 1960. (@ Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Rudolf Holtappel)

Und so lässt sich hier eine kleine Zeitreise in diverse Kindheiten der Region antreten. Sie führt vom Schulranzen, den der Bergmanns-Opa für seine Enkelin selbst angefertigt hat, und dem vom Vater gleichfalls selbst gebauten Puppenhaus (das der Elektriker mit winzigen Lichtleitungen versehen hat), übers liebevoll zusammengestellte Fußball-Autogrammalbum bis hin zur rasanten Carrera-Bahn, mit der man in der Ausstellung spielen darf. Überhaupt schließt der inspirierende Rundgang mit einigen „Spielinseln“, auf denen auch Erwachsene mal wieder ein wenig Kind sein dürfen.

Eines der größten Exponate ist eine „Seifenkiste“, die in keine Vitrine passte. Das vielleicht erstaunlichste Stück ist indessen das Holzfenster, das aus einem reviertypischen alten Kiosk (Büdchen) stammt. Als es bei einem Einbruch zerstört wurde, sicherte sich die Enkelin der Inhaberin das Fenster – zur bleibenden Erinnerung.

Nicht nur dreidimensionale Objekte sind zu sehen, sondern auch rund 120 Fotos zum Thema, die aus der ungeheuren Bild-Kollektion des Ruhr Museums stammen, welche rund 4 Millionen (!) Lichtbilder umfasst. Auch die Fotografien bringen, wie die Gegenstände, so manches wortlos auf den Begriff.

Einige Fotos zeigen beispielsweise auch die Kinder türkischer Familien oder anderer Migranten im Ruhrgebiet. Dazu muss man wissen, dass dieser Teil der Bevölkerung sich von den erwähnten Aufrufen überhaupt nicht angesprochen fühlte. Lediglich ganz vereinzelte haben Leute mit spanischen oder italienischen Wurzeln reagiert. Das gibt zu denken, weit über diese Ausstellung hinaus.

Zaghafte Anfänge einer neueren Zeit: Spielekonsole „tele-ball“, 1970er Jahre (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

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P.S.: Anno 2001 gab es mit „Maikäfer, flieg…“ eine entfernt vergleichbare Kindheits-Ausstellung im damaligen Essener Ruhrlandmuseum (Vorläufer des Ruhr Museums), die ich damals ebenfalls besucht habe. Die Besprechung findet sich hier.

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„Kindheit im Ruhrgebiet“. Ruhr Museum, Essen (Gelände der Zeche Zollverein, in der Kohlenwäsche, Galerie auf der 21-Meter-Ebene. Gelsenkirchener Straße 181 / Navi: Fritz-Schupp-Allee). Vom 7. September 2020 bis zum 25. Mai 2021, geöffnet täglich (auch Mo) 10 bis 18 Uhr. 24., 25. und 31. Dezember geschlossen.

Eintritt 3 €, ermäßigt 2 €, Kinder und Jugendliche unter 18 frei (Führungen gibt es schon für Kinder ab 5). Besucherdienst: Mo-Fr 9-16 Uhr, Tel. 0201 / 24681 444. Katalog 24,95 Euro.

Online Tickets buchen: https://ruhrmuseum.ticketfritz.de

Beim Besuch gilt die Corona-Schutzverordnung des Landes NRW. Aktuelle Details: www.ruhrmuseum.de/de/informationen-zum-besuch/ hygiene-und-vorsorgemassnahmen/

 




Es wimmelt die Revier-Kultur – und alles ist so wunderbar

Für den ersten Überblick: Einleitende Doppelseite des Bandes, auf der es noch nicht so wimmelt, wie auf den nachfolgenden. (Bild: © Klartext-Verlag / Junior Klartext / Zeichnung Jesse Krauß)

Ah, Wimmelbücher! Die enthalten doch jene klein- bis kleinstteilig gezeichneten Tableaus, auf denen man immer und immer wieder noch etwas Neues, bisher Unbeachtetes entdecken kann. So auch im Band „Unterwegs im Ruhrgebiet“, der sich im Untertitel „Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“ nennt und vor allem (aber nicht nur) Kinder ansprechen soll.

Blättert man ein wenig auf den 22 großen Pappseiten hin und her, wird einem schon bald klar, dass etwaige Mängel der Region konsequent ausgespart sind: Hier wird geschwelgt – in Fülle und Vielfalt der Kulturstätten sowie in touristischen Attraktionen des Reviers. Dazwischen tummeln sich zuhauf die wunderbaren, stets vergnügten und allzeit kreativen Menschlein, die hier gut und gerne leben. Da könnten die Leute aus Stuttgart und München ganz schön neidisch werden. Von Berlin ganz zu schweigen.

Die Attraktionen liegen hier ganz nah beieinander

Natürlich rücken, um derlei Wow-Effekte zu erzielen, die lohnenden Locations ganz eng zueinander, da befindet sich die riesige Essener Weltkulturerbe-Zeche Zollverein beispielsweise direkt neben dem gleichfalls gigantischen Oberhausener Ausstellungsort Gasometer und dem LWL-Archäologiemuseum in Herne. Das ist nicht so ganz realistisch. Zwar gibt es in dieser Region wirklich etliche kulturelle Anziehungspunkte. Doch in Wahrheit muss man sich, um diese Orte hintereinander zu erreichen, mit oft unzureichenden Nahverkehrsplänen und mangelhaften Verbindungen herumschlagen; es sei denn, man zöge den Stau auf der A 40 oder der A 42 vor. Okay, das war jetzt nicht falsch, aber gemein – und für Kinder wohl erst mal zweitrangig (abgesehen vom notorischen Rücksitz-Gequengel „Wann sind wir endlich da-haa?!“).

Ein Ansatzpunkt der genregemäß detailfreudig gezeichneten und kolorierten Szenarien (fleißiger Urheber: Jesse Krauß) ist die kunterbunt illuminierte „Extraschicht“ als alljährliche Leistungsschau zur Revierkultur. Da waren natürlich bis tief in die Nacht Sonderbusse unterwegs und alles war ganz prima in der problemfreien Zone Ruhrgebiet.

Im Geiste des Regionalverbands Ruhr

Die kurzen Begleittexte dürften dem städteübergreifenden Regionalverband Ruhr (RVR) ausnehmend gut gefallen. Das Verbandsgebäude nimmt denn auch in den Zeichnungen einen prominenten Platz als planerisches Hauptquartier ein. Auch hierzu könnte man etwas anmerken, aber lassen wir das an dieser Stelle. Statt dessen zitieren wir diese Lobhudelei: „Der Regionalverband Ruhr ist das, was die elf Städte und vier Kreise der Metropole seit 1920 zusammenhält. Herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag!“

Nur zur Klarstellung: 1920 hieß das Gebilde noch nicht Regionalverband Ruhr, sondern anfangs noch Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk und von 1979 bis 2004 Kommunalverband Ruhrgebiet. Egal. Das interessiert draußen im Lande die Wenigsten, vor allem nicht die Kinder; auch dürften die es nicht gar so aufregend finden, dass RVR-Verbandsdirektorin Karola Geiß-Netthöfel auf einem Bild dem Bundespräsidenten Steinmeier (sicherlich vor Corona!) die Hand reicht. Oder ist das nur eine Halluzination? Auch nicht so wichtig.

Titelseite des besprochenen Buches (Bild: © Klartext-Verlag)

Das Ruhrgebiet erscheint hier generell als das, was es immer noch nicht ist: als vereinigte „Ruhrstadt“, von der man beim RVR seit vielen Jahren träumt. Freilich: Der Regionalverband und die Funke-Mediengruppe (zu der wiederum der Klartext-Verlag gehört) residieren in Essen – und so erscheint diese Stadt auch hier als Kraftzentrum des gesamten Reviers. Folglich hat etwa das Kreativ- und Museumszentrum „Dortmunder U“ im Osten des Ruhrgebiets einen vergleichsweise kleinen Auftritt. Aus der Essener Perspektive ist halt auch das Schalke-Hemd mal wieder näher als der BVB-Rock. Apropos Religion: Dem Essener Ruhrbistum ist eine eigene Doppelseite gewidmet. Halleluja!

Riskante Fahrt durch Gelsenkirchen-Ückendorf

Vom spezifischen Reiz eines Wimmelbuchs haben wir unterdessen noch gar nicht gesprochen. Hier kann man sich auf Bildersuche begeben. Welche Orte und Gebäude erkennt man? Welche Figuren oder Konstellationen tauchen auf verschiedenen Seiten wiederholt auf? Gibt es etwa „running gags“ oder sonstige Kreuz- und Querbezüge? Wo haben sich lustige Tiere versteckt? Und so fort. Na, dann sucht mal schön!

Nicht alles ist unbedingt nachahmenswert. Was soll man zum Beispiel vom tollkühnen Skater halten, der auf äußerst schmaler Spur zwischen Bus und Straßenbahn dahersaust? Und was ist mit dem Mädchen, das am Metallgeländer turnt und dabei fast vor den Linienbus tritt? Geht’s denn in der Bochumer Straße von Gelsenkirchen-Ückendorf „in echt“ so riskant zu?

Am Ende ist das Ganze ein utopisches Projekt

Das generelle Erscheinungsbild ist jedenfalls bis in die Einzelheiten durchweg positiv: Das Revier ist demnach durchzogen von veritablen Radfahrer*innen-Autobahnen, herrlich durchgrünt und reich an sauberen Gewässern aller Art, vom Baldeneysee bis zum lieblich renaturierten Emscher-Fluss. Bewohnt wird die kulturgesättigte Gegend von lauter genuss- und lesefreudigen Menschen, zudem ist sie ein Hort von Bildung und Wissenschaft, doch auch der musealen Besinnung – nicht zuletzt aufs eigene Erbe der allerdings gründlich überwundenen Zechen- und Stahl-Ära. Dazu urige Stadtviertel, quicklebendig urbane Quartiere – was will man mehr?

Ach, wer in dieser menschenfreundlichen, ökologischen, gewiss klimaneutralen Stadtlandschaft wohnen könnte! Wenn doch das Revier tatsächlich durchweg ein solch bunter Abenteuerspielplatz der Lebensfreude wäre! Insofern erweist sich das Buch im Grunde als utopisches Projekt. So könnte es vielleicht sein, wenn… Ja, wenn.

Jesse Krauß  (Illustrator) / Melanie Kemner (Herausgeberin): „Unterwegs im Ruhrgebiet. Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“. Klartext-Verlag, Essen. 22 großformatige Seiten, jeweils ganz- oder doppelseitige Illustrationen mit kurzen Texten. Pappband, 16,95 Euro.




Aus ödem Alltag in den Ausnahmezustand: Hilmar Klutes Paris-Roman „Oberkampf“ zwischen Bistros, Kultur, Liebe und Terror

Jonas Becker heißt der Mittvierziger, der sich endlich aus seinem immergleichen Berliner Alltagsleben („Langstreckenglück“) befreien möchte. Er trennt sich von seiner allzeit effizienten Gefährtin Corinna. Auch gibt er die gemeinsame Agentur kluge-koepfe.de auf, die Koryphäen mancher Sorte an Veranstalter vermittelt. Beziehung und Firma liefen eben nicht mehr so gut. Um es bilingual zu sagen: Midlife-Crisis comme il faut.

Wohin kann man gehen, wenn es einem in Berlin zu fad werden sollte? Beispielsweise nach Paris. Immer und immer wieder erfahren wir durch Jonas in Hilmar Klutes Roman „Oberkampf“ (verhärtet klingender Name einer Pariser Métro-Station, benannt nach einem deutschstämmigen Tuchfabrikanten), was wir nicht zu fragen wagten: wie viel eleganter, entspannter, urbaner, kultivierter und sinnlicher die französische Metropole doch sei; wie schon die Sprache jenseits des Rheins sanfter klinge, einem weichen Plumeau vergleichbar. Mehr noch: Zahllose französische Chansons seien wahrhaft dichterisch, ganz anders als die „miefige Sehnsucht der Udo-Jürgens-Lieder“. Auch Schriftsteller haben dort Stil, während sie in Deutschland bestenfalls mal im Hilfiger-Pullover die Lesebühne betreten. Vom wundervollen Essen und von der Liebe ganz zu schweigen. Derlei hat man gelegentlich schon gehört, oder? Oh, là, là!

Ein Bewegungsgesetz dieses ebenso lukullischen wie promillereichen Romans ähnelt dem einiger französischer Kinofilme: Da geht’s unentwegt von Bistro zu Bistro, die Dreh- und Angelpunkte der meisten Tage kreisen ums faire la terrasse und um l’amour. Gleich bei seiner Ankunft gerät jener Jonas an ein munteres, aufgekratztes Trüppchen, das im Dezember einen luftigen Rotwein-Abend zelebriert und über Vorzüge wie Nachteile der Provinz (jemand will nach Montpellier ziehen) frotzelt. Mittendrin: die attraktive Christine, die schon mal in Freiburg studiert hat und leidlich Deutsch spricht. Jonas und sie tauschen keine Adressen, begegnen einander aber später auf wundersame Weise wieder. Wenn das kein Zeichen ist! Daraus erwächst recht rasch ein tägliches Mittagspausen-Ritual: halbe Stunde Liebe machen, halbe Stunde köstlich speisen. Hach ja, c’est Paris, n’est-ce pas?!

Schier endlose Interviews mit einem gealterten Schriftsteller

Weiterer Hauptstrang ist Jonas‘ Job daselbst. Er soll ein ausführliches Buch über den ergrauten Schriftsteller Richard Stein (86) verfassen, der sich in seinem von Fachkreisen hoch geachteten, aber kaum über solche Zirkel hinaus bekannten Werk eigentlich schon genugsam selbst bespiegelt hat. Die schier endlosen Interview-Sitzungen sind denn auch zermürbend. Der nur noch rückwärts blickende Stein verkörpert eine Art von geistiger Dominanz, die seine Mitmenschen zu verschlingen droht. Bloß gut, dass es die lebensdurstig vorwärts drängende Christine als Gegenpol gibt…

Eine Rahmenhandlung, die alles verändert, fasst das gesamte Konstrukt ein, sie hat bestürzend reale Vorbilder. Schon bald nach Beginn des Romans geschieht, sozusagen in Jonas‘ Quartiers-Nachbarschaft, das mörderische Attentat auf die Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo. Es wirkt wie eine Betäubung auf die Hauptstadt. Ganz am Schluss besiegelt ein weiterer Terroranschlag des Jahres 2015 (den wir hier nicht näher bezeichnen wollen, weil er ein frappierendes Ende markiert) die Handlung. Wie war das mit dem Alltag? Nun herrscht Ausnahmezustand in Permanenz.

Übrigens: Jonas ist natürlich eine literarische Figur, dennoch könnte die ihm nachdrücklich zugeschriebene Auffassung irritieren, dass die Leute von Charlie Hebdo ihre Scherze über den Islam eben einfach zu weit getrieben hätten und am Massaker gleichsam selbst schuld oder wenigstens mitschuldig seien. Ein kurzer Trip in die hoffnungslosen Banlieues, den Jonas und Christine hernach unternehmen, deutet jedenfalls auf die Unvereinbarkeit der soziokulturellen Welten in Paris hin.

Klutes Verlag weist derweil auf den zufälligen Umstand hin, dass der Prozess um die Charlie-Attentäter just im September beginnen solle, nahezu zeitgleich mit dem Erscheinen des Romans. Nun ja. Wenn es sich so verhält…

Prägnante Skizzen und weniger produktive Exkurse

Von gewissen Schematismen und dem einen oder anderen Klischee-Ansatz abgesehen, gelingen Hilmar Klute im Verlauf seines Roman etliche prägnante Skizzen von Personen und Situationen. Ein staunenswert mit sich im Reinen scheinender Exil-Wiener namens Altenberg zählt beispielsweise dazu, an einem anderen Ende der Skala auch Frankie, Concierge und Faktotum des Hauses, in dem sich Jonas‘ bescheidene Kleinstwohnung befindet. Und auch Fabian, jener eigentlich eher farblose Ex-Kompagnon aus der Berliner Köpfe-Firma, gewinnt ohne viel Aufhebens literarische Kontur. Die erloschene Liebe zwischen Corinna und Jonas wird in all ihrer Ödnis haarfein dargestellt. Das sind keineswegs nur Fingerübungen, das ist Könnerschaft; nicht so sehr in den ganz großen Bögen, sondern am deutlichsten im Nebenbei. Manche Abfolgen wirken denn auch nicht organisch entwickelt, sondern wie einzeln ersonnen und im Nachhinein montiert.

Hin und wieder verfängt sich Klute in weniger produktiven Exkursen. So müssen etwa, anlässlich eines Friedhofs-Spaziergangs (Montparnasse) mit Christine, an den Gräbern der Berühmtheiten vielerlei Meinungen und Urteile über Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, über Samuel Beckett und Serge Gainsbourg abgearbeitet werden. In einer weiteren Passage passiert Ähnliches mit Böll, Beuys und dem einstigen Literaturpapst Hans Mayer. Auch Max Frisch und Allen Ginsberg werden vergleichend abgehandelt. Zudem erfahren wir einiges über Jonas‘ Buchbestände, die er freilich weitgehend aufgibt. Nach den Aufzählungen kennen wir aber seinen literarischen Kanon. Überhaupt werden viele kulturelle Wertungen vorgenommen, was nicht unbedingt Aufgabe eines Romans ist. Langweilig wird es trotzdem nicht. Wie denn auch – in solchem Ausnahmezustand? Klute beschwört die Dämonen jener Tage auf persönlicher Ebene so herauf, dass es schwerlich ein Entkommen gibt, allenfalls die Illusion des Entrinnens.

Autor und Hauptfigur ließen das Ruhrgebiet weit hinter sich

Halt, das müssen wir jetzt noch nachholen: Hilmar Klute, heute federführender Redakteur der vielgepriesenen „Streiflicht“-Kolumne auf Seite eins der „Süddeutschen Zeitung“, ist gebürtiger Bochumer vom Jahrgang 1967. Doch das Ruhrgebiet hat er – ebenso wie seine Hauptfigur – entschieden hinter sich gelassen. Der Wahl-Berliner hat tatsächlich zwei Jahre in Paris gelebt. Seine Figur Jonas lässt er in Duisburg aufgewachsen sein, beruflich geht’s zuerst nach Köln. Und dann halt auch nach Berlin und Paris. Ein heillos abstruser Abstecher des Romans führt – selbstredend in einem kultigen Cadillac – nach San Francisco und Umgebung. Lauter bedeutsame, inspirierende Zentren also. Jedenfalls theoretisch. Aber egal, wo er ist, der mürrische Held Jonas scheint allerorten einigen Lebensüberdruss mit sich herumzutragen. Kann ihm auf Erden geholfen werden? Gegen Ende hin fühlt er sich auf einmal so seltsam erleichtert und befreit. Dann aber betritt er einen Saal, in dem er schon erwartet wird…

Hilmar Klute: „Oberkampf“. Roman. Galiani Berlin. 320 Seiten. 22 €.

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Eine Besprechung von Klutes vorherigem Roman „Was dann nachher so schön fliegt…“ findet sich hier.




Herrlich von Sinn befreit: Helge Schneiders Telefon-Dialoge mit Alexander Kluge – im Vorfeld seines 65. Geburtstags

Video-Telefonat zu Corona-Zeiten: Helge Schneider (links) und Alexander Kluge. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=w6DRyUUZZR0 – © dctp / Alexander Kluge)

Nur äußerst selten kommt es zu solch produktiven Begegnungen der unverhofften Art: Da wäre einerseits Alexander Kluge (88), hochmögender Intellektueller, auf zahllosen Gebieten bewandert, Vor- und Nachdenker von außerordentlichem Rang. Und da wäre andererseits Helge Schneider, hochbegabter Musikus und begnadigter, ähm Verzeihung, begnadeter Narr, der mit seinen Scherzen immerzu die Erwartungen umkurvt.

So sagt denn auch Kluge über Schneider, das Besondere an seiner Kunst sei, „dass sie nichts Künstliches hat“ und „immer überraschend“ sei. Und weiter: „Er hat einen bestimmten Ernst und er hat einen Witz, der in den Medien selten ist und in der Tradition von Till Eulenspiegel steht.“ Nun, wie auch immer. Es ließen sich gewiss noch andere Traditionslinien ziehen, wenn man denn Bedarf hätte. Am Ende landet man ja doch immer wieder bei der glorreichen Erkenntnis: Helge ist eben Helge. Tja. Ich höre keinen Widerspruch.

Wenn die Deutsche Presseagentur (dpa) derlei Statements wie die oben zitierten verbreitet, muss wohl etwas Spezielles anstehen. Tatsächlich wird Helge Schneider, der immer aufs Neue frappierende Spaßbereiter aus Mülheim/Ruhr, am 30. August 65 Jahre alt. Interviews mit ihm erscheinen derzeit eigentlich überall, in jedem Blatt, in jeder Gazette oder Postille.

117 Videos – oder auch schon etwas mehr

So sehr schätzt der vielfach dekorierte Autor und Filmemacher Alexander Kluge den Mülheimer, dass er ihn immer und immer wieder in Beiträgen für seine Produktionsfirma dctp präsentiert hat – in allen möglichen und unmöglichen Maskeraden. Mal trat Schneider als „arbeitsloser Marx-Kenner“ auf, mal als gipfelkundiger Sherpa, als Brückengeher, Notarzt, Abrissunternehmer oder als Mozart. Und so weiter, ad infinitum.

All die Figuren des (paradox genug) gleichbleibend wandelbaren Helge Schneider lassen sich, auf Kluges stets sanft insistierende, universell interessierte Art, mehr oder weniger bereitwillig befragen. Schaut man sich einige der kurzen dctp-Videos auf YouTube an, so werden einem per Einblendung 117 (!) Folgen ans Herz gelegt. Inzwischen mögen es schon wieder mehr sein, wer weiß. Es zeugt beiderseits von einer gewissen Besessenheit.

Hier mal ohne Maske, aber mit Abstand zwischen Mülheim und München: Links Helge Schneider und sein livrierter „Tee-Diener“, rechts Alexander Kluge. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=w6DRyUUZZR0 – © dctp / Alexander Kluge)

In den letzten Monaten haben die zwei Protagonisten ihre oft herrlich ins Absurde ragenden Video-Telefonate noch einmal intensiviert, als nämlich die uns allen (un)bekannte Pandemie aufgekommen war. Öffentlich vor Publikum auftreten konnten ja beide nicht. Helge Schneider hatte gar schon überlegt, ob er sein Gewerbe aufgeben solle. Wie ernst es ihm damit gewesen ist, wird sich noch zeigen. Jedenfalls haben beide – zumal im Umkreis des Lockdown – offenbar einen gewissen Trost gefunden, indem sie das Virus gleichsam für ein Weilchen wegjuxten, wobei Kluge noch im hirnrissigsten Dialog nicht vollends vom analytischen Zugriff abweicht. Helge Schneider ist im parodistischen Nonsens spürbar mehr zu Hause. Wen wundert’s?

Filosofie zwischen Ferd und Fosten

Beispiel: eine rund 24 Minuten lange Zusammenstellung mehrerer „Corona-Gespräche“. Sie beginnt mit fürchterlichem Französisch, denn Kluge (oder Schneider???) ruft als Emmanuel Macron an, mais oui. Ein wahrhaft chaotisches Hin und Her. Folgt bruchlos „Der philosophische Kettenbrief“ mit der anfänglichen Erwägung, ob man Philosophie nicht lieber mit F schreiben solle (Schneider: „Das F reicht doch.“). Hernach wird die neu gewonnene Freiheit an Worten wie Pferd/Ferd oder Pfosten/Fosten erprobt. Damit das klar ist: Reinster Unsinn dieses Zuschnitts ergibt zuweilen tieferen oder höheren Sinn.

Unter dem Zwischentitel „Ich hab‘ den Virus“ fuchtelt Helge Schneider sodann mit einem roten Figürchen herum, das er sich – zwecks besserer Anschauung – umständlich unter die Schutzmaske zu stopfen versucht. Kluge schlägt demgemäß vor, „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“ zu singen. Helge lässt sich nicht lumpen. Danach gibt’s noch mehr  „Lieder zum Händewaschen“: „Alle meine Entchen“ und „Katzeklo“.  Außerdem überlegen sie, ob man den/das Virus erschrecken oder mit Geld bestechen könne. Vielleicht lassen sich die Biester ja mit einem Bleistift-Anspitzer unschädlich machen…

Ein Diener bringt Kamillentee

Da sitzen sie also beide in ihren Zimmern und reden allerlei Zeug. Helge ergreift nebenher die Gelegenheit, schräge Brillen und sonstigen Nippes vorzuführen. „Running Gag“ im Hintergrund (freilich nicht rennend, sondern mit Kratzfüßen sich unterwürfig nähernd): ein rot livrierter Diener, der Helge Schneider auf offener Szene Kamillentee zu servieren hat – aus gebührendem Corona-Abstand, versteht sich. Helge zupft sich die Tasse mit einem Greifer vom Tablett. Gekonnt, auch das!

 




Befremdende Bilder aus dem Märchenwald – „Mühl“ von Bernhard Fuchs im Bottroper „Quadrat“

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© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Was hat er gesucht? Und was hat er gefunden? Es ist nicht eben so, daß diese Bilder des österreichischen Fotografen Bernhard Fuchs dem Betrachter ihre Botschaften aufdrängen wollten. Eher verschlossen wirkt diese Fotografie, und die formale Präsentation – quadratische Abzüge in einem insgesamt sehr quadratisch wirkenden Museum namens Quadrat – trägt das ihre dazu bei, das Publikum auf Abstand zu halten.

Fast nur Natur

Jenseits des Formalen wohnt den Arbeiten indes nur wenig Serielles inne. Zu sehen gibt es Bilder aus dem Wald im wilden oberösterreichischen Mühlviertel. Bäume, Zweige und Äste – blattlos, winterlich – kommen häufig vor, Steine, Wasser, Moos und Gräser sind mit dabei, Himmel und Erde schließlich auch. Die Kompositionen sind stets sparsam, mal zeigen sie zerklüftete, bemooste Felsen, mal Flächenkompositionen aus nackten Zweigen vor fahlem Himmel. Skurrile Ast- und Stammformen laden zu Assoziationen ein, einmal gar steht nur ein mäßig strahlender Mond über der schemenhaft erkennbaren nächtlichen Landschaft. Zivilisation fehlt weitgehend, wird in einigen Bildern lediglich angedeutet durch das Resultat menschlichen Handelns, durch auf dem Boden ausgebreitete, abgeschnittene Zweige beispielsweise.

© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Zurückhaltung

Ob man die Auseinandersetzung des Fotografen mit alledem als komponierendes Handeln wertet oder als das Resultat feinnervigen Erspürens besonderer Orte, ist letztlich fast egal. In beiden Fällen sind die Dinge sehr gut gesehen. Einige Male, bei den Steinbildern zumal, ist die Zentralperspektive zu erkennen, doch kompositorische Zurückhaltung herrscht vor. Die meisten Arbeiten übrigens könnte man glatt für Schwarzweißbilder halten, so farblos schwarz-weiß-grau sind sie in der unsommerlichen Zeit ihres Entstehens geraten. Und bei alledem erkennt man in Bernhard Fuchs den Becher-Schüler, der seine fotografischen Objekte gut behandelt und darauf vertraut, daß sie so bei Betrachterin und Betrachter wirksam werden.

© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Eine ewige Dunkelheit

„Oft schenkt während meiner Wanderungen das Betrachten und Erklettern eines Steinblocks dem Denken einen heilsamen Widerstand, weil in seiner Stärke und seiner Ruhe eine Art ,ewige’ Dunkelheit verborgen bleibt.“ So zitiert das Bottroper Museum den oberösterreichischen Künstler. Nicht alle Waldbesucher werden so intensive Empfindungen haben, da müssen Stichworte wie Heimat, Kindheit, Geborgenheit sicherlich hinzugedacht werden. Unzweifelhaft jedoch erschaffen Fuchs’ Bilder in ihrer Gesamtheit eine große, fast schon archaische Intensität, laden ein zu einer intuitiven Auseinandersetzung mit vertrauter Nähe und unerwarteter Fremdheit. Konsequenterweise gilt „Mühl“, ein winziges Schildchen auf der Wand erklärt es, als ein einziges „o.T.“, mithin als ein einziges, vielteiliges Werk „ohne Titel“, was etwas widersprüchlich ist. Aber gemeint ist wohl, daß kein einzelnes Bild sinnvollerweise einen Titel tragen kann, die Bilder in ihrer Gesamtheit indes schon.

Bei aller Radikalität, die der Fotografie Bernhard Fuchs’ im besten Sinne eigen ist, ist sie doch keineswegs unzugänglich – eine Position weit jenseits schneller Dramatisierungen mithin, die kennenzulernen allemal lohnt.

  • Bernhard Fuchs: „Mühl“
  • Josef Albers Museum, Quadrat, Bottrop
  • Bis 8. November 2020. Geöffnet Di bis Sa 11-17 Uhr, So 10-17 Uhr, Eintritt 6 EUR.
  • Das Buch zur Ausstellung erschien im Verlag Koenig Books, London, hat 96 Seiten und kostet 45,00 EUR.



Vor 60 Jahren spielten die Beatles erstmals in Hamburg – für betrunkene Seeleute und „leichte Mädchen“

Rund vier Jahre nach Jahre den Hamburger Anfängen: die Beatles (von links: George Harrison, Paul McCartney, John Lennon, Ringo Starr) am 3. Juni 1964 in Australien. Sie tragen Mützen mit dem Logo einer Security-Firma. (Wikimedia Commons / © WilleeM / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Gastautor Thomas Häußner, Jahrgang 1959, Leiter des Echter Verlags in Würzburg und seit seiner Kindheit großer Beatles-Fans, über die ersten Karriereschritte der „Fab Four“ vor genau 60 Jahren in Hamburg:

  1. August 1960 – Fünf junge Männer steigen aus einem alten, grünen Van, der sie von Liverpool nach Hamburg auf die Reeperbahn gebracht hat. Der älteste ist gerade einmal 20 Jahre alt, der jüngste ist erst 17 und dürfte noch gar nicht in Deutschland arbeiten. Am Abend geben sie ihr erstes Konzert unter dem Namen „The Beatles“.

Noch konnte niemand ahnen, dass gut zwei Jahre später drei von ihnen in der „greatest little Rock´n Roll Band“, wie John Lennon „The Beatles“ einmal selbstironisch nannte, die Musikwelt für fast ein Jahrzehnt dominieren würden. Ihr Weg dorthin war hart und die Auftritte in Hamburg waren die Schule, die sie geformt hat. Rund 800 Stunden stehen sie dort zwischen 1960 und 1962 auf verschiedenen Bühnen, zuletzt im legendären Star Club, Große Freiheit Nr. 39. Doch ihr erster Weg führt sie in einen Club namens Indra, wo sie vor gelangweilten, angetrunkenen Seeleuten und „leichten Mädchen“ 48 Nächte hintereinander spielen. Ihr Vertrag sieht eine Gage von 30 DM pro Kopf und Auftritt vor. Das Geld ist schnell ausgegeben für Essen, Trinken oder neues Musikequipment.

Erster Hamburger Auftrittsort der Beatles: Club Indra, Große Freiheit – hier eine Aufnahme vom August 2007. (Wikimedia Commons / © Raymond Arritt – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ein Kabuff hinter der Kinoleinwand

Ihre Unterkunft passt sich ihrem wenig ermutigenden ersten Auftrittsort an. Es ist noch nicht das Hotel Pacific, in dem sie bei ihrem letzten Gastspiel im Dezember 1962 untergebracht sind. Gleich beim Indra um die Ecke lag das Bambi, ein Kino. Dort hausen sie hinter der Kinoleinwand in einem kleinen Raum ohne Fenster, in dem es nach getragener Wäsche, kaltem Rauch und Essensresten stinkt. Ihre Wäsche wird ihnen von der Mutter Horst Faschers, des Mitbegründers des Star Club, gewaschen. „Tante Rosa“, die Toilettenfrau des Bambi Kinos, von den Beatles „Mutti“ genannt, umsorgt und versorgt sie, wohl auch mit dem Aufputschmittel Preludin. Zum Essen geht es in die umliegenden Kneipen, in denen die Musiker anschreiben lassen konnten, wenn das Geld knapp war. Manche dieser Rechnungen wurden nie bezahlt. Als Paul McCartney 1989 wieder einmal in Hamburg war, hat er endlich in der Bierkneipe „Gretel und Alfons“ die 180 DM Schulden beglichen, die die Band aus ihrer Frühzeit dort noch hatte.

Image-Werbung mit Unterhose und Klobrille

Wer aus Liverpool kommt, findet sich auch auf dem Hamburger Kiez zurecht. Besonders John Lennon scheut nicht davor zurück, sich mit außergewöhnlichen Aktionen in Szene zu setzen. So wirbt er nur mit langer Unterhose und Sonnenbrille bekleidet auf der Straße für den abendlichen Auftritt der Beatles, kommt auch schon einmal mit einer Klobrille um den Hals auf die Bühne gestolpert. Die fünf Liverpooler behaupten sich. Sie üben neue Songs ein, versuchen sich an eigenen Kompositionen oder treffen sich mit Mitgliedern anderer Bands.

So entwickeln sich die Beatles schnell weiter und wechseln im Oktober 1960 vom Indra in den Kaiserkeller, wo sie 58 Auftritte hatten. Dort wird die – am 12. Mai 2020 verstorbene – Fotografin Astrid Kirchherr auf sie aufmerksam und verliebt sich in den damaligen Bassisten der Band, Stuart Sutcliff. Sie überredet ihn, sich die Haare nach vorn in die Stirn und über die Ohren zu kämmen: Die Pilzköpfe, ein späteres Markenzeichen und Anlass für Spott und Entrüstung, waren geschaffen.

Vom Star Club zur Queen

Im November 1960 wird George Harrison aus Deutschland ausgewiesen, weil er noch nicht volljährig ist, Paul McCartney und Pete Best müssen ihm im Dezember folgen, weil sie in ihrer Unterkunft ein Feuerchen entzündet haben. Damit ist das Gastspiel der Liverpooler Band in Hamburg erst  einmal beendet. Doch am 27. März 1961 kommen sie zurück. Jetzt spielen sie im Top Ten Club und später dann im Star Club, der am 13. April 1962 eröffnet wurde. Bis zu seiner Schließung im Dezember 1969 traten dort andere namhafte Künstler wie Fats Domino, Chuck Berry, Jimi Hendrix oder Ray Charles auf. Am Montag, 31. Dezember 1962, geben die Beatles dort ihr letztes Konzert.

In den kommenden Jahren werden Clubs zu klein für ihre Auftritte sein. Schon ein Jahr später spielen die Beatles im Rahmen der alljährlichen Royal Variety Performance vor Königin Elizabeth, Lord Snowden und Prinzessin Margaret im Londoner Prince of Wales Theatre.

60 Jahre nach dem ersten Auftritt der Beatles in Hamburg gibt es das Indra wieder und noch immer wird dort Musik aufgelegt oder live gespielt. Der Kaiserkeller heißt heute „Große Freiheit 36“ und ist der älteste und größte Club Hamburgs. Der Star Club wurde 1986 abgerissen.