Wege zu sich selbst: Frühwerke Puccinis zum 100. Todestag in der Philharmonie Essen

Giacomo Puccini ist vor 100 Jahren, am 29. November 1924, gestorben. Seine Heimatstadt Lucca hat ihm dieses Denkmal gesetzt. (Foto: Werner Häußner)

Die Suche nach dem Funken der Genialität berühmter Komponisten gehört zu den Standards einer glorifizierenden Geschichtsschreibung, die selbst im weit abgelegenen Jugendwerk noch die Ahnung des späteren Meisters erspüren will. Das funktioniert bei Wagner schon nicht und geht bei Giacomo Puccini vollends ins Leere.

Nichts deutet darauf hin, dass aus dem Kirchenmusikschüler aus Lucca und dem bequemen Mailänder Studenten Amilcare Ponchiellis einmal der Schöpfer einer „Tosca“, einer „Madama Butterfly“ oder einer „Turandot“ werden sollte.

Trotzdem ist es eine gute Idee, den 100. Todestag Puccinis (geboren am 22.12.1858 in Lucca, gestorben am 29.11.1924 in Brüssel) zum Anlass zu nehmen, einmal in seiner Jugend zu kramen. Zum einen, weil eine Größe wie Puccini kein Jubiläum braucht, um mit seinem reifen Œuvre im Musikleben der Gegenwart ausreichend präsent und gewürdigt zu sein. Zum anderen, weil gerade der Kontrast zwischen den eifrigen Jugendwerken und den so souverän wirkenden, tatsächlich aber unter unendlichen Mühen entstandenen Opern Aufschluss geben kann, wie der Komponist Puccini zu sich selbst gekommen ist. Es sind nicht die sicherlich unersetzlichen Bemühungen um Kontrapunkt, Harmonielehre oder historische Musik, die den Durchbruch anfeuern. Es ist der Funke, der aus dem Musikdrama springt, der die Fantasie des Autors entfacht und in höchste Höhen treibt.

Dieses zündende Moment ist vielleicht am ehesten in Puccinis „Messa di Gloria“ zu spüren – ein Werk, in dem eben schon Text zur Musik tritt und sich beide unzertrennlich verbinden. Puccini-Biograph Dieter Schickling nennt sie „zeitgenössische Konfektionsware“ und hat damit wohl recht. Hätte die am 12. Juli 1880 in Lucca mit einigem Erfolg uraufgeführte Messe irgendeiner der tüchtigen Zeitgenossen des jungen Puccini geschrieben, läge sie wohl immer noch unbeachtet in irgendeinem Archiv. Puccini selbst hatte kein Interesse mehr an dem Jugendwerk. Doch der Name des Autors bringt die Erlösung: 1952 wurde die Messe wieder ausgegraben.

Zweifelhafte Hymne für die Stadt Rom

Der Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

GMD Andrea Sanguineti ist zu danken, dass die Essener Gedenkfeier zum Tod Puccinis vor 100 Jahren nicht in irgendeinem geistlosen Highlight-Potpourri besteht. Er hat die „Messa a quattro voci con orchestra“ – so der korrekte Titel – ins Zentrum seines Vierten Sinfoniekonzerts mit den Essener Philharmonikern gestellt und das Programm mit Orchester-Frühwerken Puccinis aus seinen Studienzeiten in Lucca und Mailand ergänzt.

Sanguineti war aber auch mutig genug, den „Inno a Roma“ von 1919 ins Programm aufzunehmen, ein Stück Propagandamusik, wie sie auch Beethoven, Rossini, Verdi, Wagner und manch andere geschaffen haben. Und wie Wagners Musik in Deutschland, so wurde Puccinis martialische Hymne von den Faschisten vereinnahmt, deren Aufstieg der Maestro unpolitisch unbekümmert verfolgte, ohne seine eher konservativ patriotische Einstellung in Nationalismus oder gar Sympathie umschlagen zu lassen. Sanguineti ließ den „Inno“ richtig krachen und von Pathos triefen – und hat so mehr als in seiner wortreich entschuldigenden Erklärung dazu beigetragen, das Doppelgesicht dieser Musik und ihrer Missbraucher zu entlarven.

Entrückte Stimmung, melodischer Geschmack

Was zeigen die Orchesterwerke des jungen Puccini? Das „Preludio a Orchestra“, das er mit Achtzehn schrieb, steht in den vibrierenden Violin-Piani wohl unter dem Eindruck einer „Aida“-Aufführung, die er 1876 im Teatro Nuovo in Pisa miterlebt hat. Auf den tiefen Saiten intonieren die Geigen ein schmeichelndes Thema, in dem man das Material für eine Opernarie entdecken könnte. Aber von den späteren eleganten Übergängen ist noch nichts zu hören. Auch „Scherzo e Trio“, wohl um 1883 in Mailand entstanden, offenbart Puccinis melodischen Geschmack. Das „Preludio sinfonico“ atmet die entrückte Stimmung eines „Lohengrin“ und zeigt in den Holzbläserharmonien, wie sich Puccini für die Koloristik in der Musik interessiert.

Das bekannteste Werk aus dieser Zeit, das „Capriccio sinfonico“, genießt eine gewisse Bekanntheit, weil Puccini das Vivace daraus in „La Bohème“ wieder verarbeitet hat. „Sinfonisch“ im Sinne einer deutschen Tradition ist da wenig, die Struktur dieser frühen Heldentaten erinnern eher an die Themenreihungen von Opernouvertüren oder an locker gefügte sinfonische Dichtungen. Die Essener Philharmoniker haben diesen anregenden Einblick in die frühe Werkstatt des späteren Operngenies mit Lust und Spiellaune eröffnet.

Dramatisch und unkonventionell

Gedenktafel für Giacomo Puccini in seinem langjährigen Wohnort Torre del Lago. (Foto: Werner Häußner)

In der Messe findet sich keine Spur der späteren Opernmusik zu religiösen Momenten, etwa des falschen Pathos‘ des „Te Deum“ in „Tosca“. Dafür lassen sich zwei Beobachtungen machen: Puccini zeigt seine Stärken als Dramatiker, denn die schildernden Teile etwa des Credo wirken inspirierter als die reflektierend theologischen Passagen. Und er lässt sich nicht nur von Ausdruckskonventionen bestimmen. Das zeigt sich bereits im kontemplativen „Kyrie eleison“: Der Opernchor des Aalto-Theaters gibt ihm gemeinsam mit dem Philharmonischen Chor Essen pastorale Leichtigkeit, hebt aber auch den Kontrast zum „Christe eleison“ mit seinen Marcato-Männerstimmen heraus.

Man darf sich durchaus fragen, welche Gedanken Puccini hegt, etwa wenn er im Gloria das „in terra pax hominibus“ – also der weihnachtliche Wunsch nach Frieden auf Erden – zurücknimmt, als melde er seine leisen Zweifel an. Oder wenn er den Solo-Tenor – Alejandro del Angel singt die Stelle mit markig strahlender Stimme – den Dank an den König des Himmels („gratias agimus tibi“) vielfach wiederholen lässt. Das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt, wird wieder in leuchtender „Aida“-Stimmung besungen.

Das Bekenntnis zum alleine Heiligen („Quoniam tu solus sanctus …“) erklingt dann ganz konventionell in hymnischem Ton, blechgewappnet und fanfarenbegleitet. Sanguineti dirigiert diese Stellen mit Verve und Energie, und die Essener Philharmoniker folgen ihm mit eindringlicher, aber nicht überzogener Wucht. Wobei einzelne Stellen, die wie Schönberg’sche Abweichungen klingen, darauf hindeuten, dass das mühsam überarbeitete Material keineswegs fehlerfrei ist. Und obwohl seine Lehrer den Arbeitseifer des Studenten Puccini bemängelten, zeigt die klassische „Cum sancto spiritu“-Fuge, dass er sich auch dieses Metier vertraut gemacht hat.

Der zweite Solist der Messe, Massimo Cavaletti, bestätigt im „Benedictus“ und im Duett mit dem Tenor im „Agnus Dei“ den Eindruck aus der neuen Aalto-Produktion von Verdis „La forza del destino“: Sein Bariton ist klangvoll, sicher positioniert und bei aller Wucht in der Lage, eine melodische Linie flexibel zu gestalten.

Mit den Chören haben Patrick Jaskolka und Wolfram-Maria Märtig ganze Arbeit geleistet: Ein paar schwummrige Stellen zu Beginn, ein paar Unebenheiten bei den Frauenstimmen in heikel zurückzunehmenden Momenten sind schnell vergessen, wenn der Chor im Credo konzentriert und klangstark agiert, beim Hinweis auf die Auferstehung der Toten die Apokalypse von Verdis „Requiem“ anklingen lässt, die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ in lichterfülltem Dolce besingt und das „Sanctus“ ohne triumphale Geste wie in verhaltenem Staunen ausdrückt. Es sind diese fast zärtlichen Augenblicke, in denen der Chor seine Stärke ausspielt.

Als die Messe ohne knallige Schlussakkorde zu Ende geht, zeigt das Publikum viel Sympathie in herzlichem Beifall, den Sanguineti, der Chor und Wolfgang Kläsener an der Orgel mit einer geistlichen Miniatur Puccinis, dem „Requiem alla memoria di Giuseppe Verdi“ von 1905 belohnen.




Raum des blauen Wassers: Piero Vinciguerra schafft für Puccinis „Trittico“ in Essen eine magische Bühne

Die Bühne von Piero Vinciguerra für Giacomo Puccinis Dreiteiler „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. Ein magischer Raum von Distanzierung, Verklärung und Selbstentäußerung. (Foto: Matthias Jung)

Was wäre bei Giacomo Puccini denn ein anderes Thema, das drei so unterschiedliche Opern wie in seinem „Trittico“ miteinander verbinden könnte, wenn nicht die Liebe?

So trivial die Feststellung klingt – denn fast alle Opern haben irgendetwas mit Liebe zu tun –, so grundlegend ist sie für Puccinis Experiment, drei Werke zu einem „Triptychon“ zu verbinden, die wie drei Flügel eines Kunstwerks einzeln stehen und doch zusammengehören. Aber Regisseur Roland Schwab hat in seiner dritten Inszenierung am Aalto-Theater Essen (nach Verdis „Otello“ und Leoncavallos „Pagliacci“) eine andere Antwort: der Tod.

Schwab entdeckt also, was Puccini in seiner letzten Oper „Turandot“ im schmerzlichen Scheitern letztlich bekräftigt hat. Doch schon das „Trittico“ beantwortet die Frage Friedrich Nietzsches, ob Liebe und Tod nicht Geschwister seien, in drei Versionen: dem gewaltsamen Mord, dem verklärenden Übergang und einem Satyrspiel mit dem Tod, dem Schwab durch den Suizid des Buoso zum Beginn von „Gianni Schicchi“ ein verstörendes Gewicht gibt. Aus dem Überdruss am Luxus – Buoso erschießt sich am Rand eines mondänen Pools – keimt die zerstörerische Gier nach Reichtum als Quelle materieller Völlerei. Von daher, und verbunden mit dem Blick auf die außerordentliche Qualität der Musik Puccinis, kann das „Trittico“ auf gleicher Höhe wie Verdis „Aida“ oder Wagners „Tristan und Isolde“ auf das unerschöpfliche Thema von Liebe und Tod blicken.

Die Scharniere zwischen den Werken interessieren Schwab bei seiner Neuinszenierung des „Trittico“ am Essener Aalto-Theater besonders. Am liebsten hätte er, so bekennt er im Programmheft-Interview, die drei Stücke ohne Pause aneinandergehängt, und begründet das tiefsinnig mit der Dreiteilung von Dantes „Göttlicher Komödie“: Der Beginn, „Il Tabarro“, als Abgrund der Welt, „Suor Angelica“, das ungeliebte Mittelstück, als das „Purgatorio“, den Reinigungsort. Und schließlich „Gianni Schicchi“, die rabenschwarze Komödie, als Verweis auf das Paradies. Abwegig? Sicher nicht, denn die einzige Liebe, die eine Chance auf Gelingen hat, ist die zarte, sich selbst sichere Beziehung zwischen den jungen Menschen Lauretta und Rinuccio.

Zerstiebt Hoffnung wie Seifenblasen?

Heiko Trinsinger (Gianni Schicchi), Lilian Farahani (Lauretta) in „Gianni Schicchi“. Foto: Matthias Jung.

Aber wer stärker ist, die Liebe oder der alles verbindende Tod, wird in „Gianni Schicchi“ Bild und Szene virtuos in der Schwebe gehalten. Zwar bekommt das kleine Luder Lauretta genau das, was sie will, aber hinter dem fröhlich posierenden Paar schäumen Seifenblasen auf. Und der Schelm Gianni Schicchi hält eine rote Kugel in der Hand, die während des gesamten „Trittico“ als Chiffre in der Szene präsent war. Ist es der Apfel der Eva, mit dem das Paradies unzugänglich und das Böse in der Welt wirksam wurde? Die verbotene Frucht, die den Menschen „wie Gott“ um sich selbst wissend, frei, aber auch der Mühsal unterworfen der Welt auslieferte? Und verheißt die Leuchtschrift „Addio Speranza“ nicht auch auf die vergebliche Liebesmüh‘? Die Hoffnung – addio, also „zu Gott“?

Schwab arbeitet gerne (und manchmal zu viel) mit solchen symbolischen Fingerzeigen, mit chiffrierten Hinweisen. In „Il Tabarro“ spielt ein Drehorgler einen verstimmten Walzer. Er sollte in den beiden anderen Teilen wiederkommen – stummer Repräsentant des Todes im Komödiantenkostüm und so ein Echo des „Leierkastenmannes“ Schuberts. Das Kleid in sanft abgestuften Rosa-Tönen – die Kostüme sind Gabriele Rupprechts sensible Schöpfungen – verbindet die Protagonistinnen der drei Opern, betont das Gemeinsame der Frauenfiguren, die bei Puccini von Manon bis Liu stets zu Opfern verurteilt sind.

Wesentlich getragen wird Schwabs jeden Realismus transzendierende Sicht von einem großen Wurf Piero Vinciguerras: Für diese erste komplette Realisierung des Puccini-Dreiteilers in Essen hat der international erfolgreiche italienische Bildmagier die Bühne mit einem riesigen Wasserbecken ausgefüllt. Doch was anderswo lediglich zum szenischen Aufreger taugte, erhält in Essen sinnliche fassbare Bedeutung: Das Wasser wird selbst zum symbolhaften Element von Zeit, Vergänglichkeit, Elendsstrom und Tränensee. Selbst in „Il Tabarro“, in dem der Verismo und das Sozialdrama Émile Zolas grüßen, illustriert es nicht das Ufer der Seine. Und in Verbindung mit dem meisterlich eingesetzten Licht wandelt es den Raum zur Sphäre. Hier geht es nicht mehr um Schauplätze, sondern um Seelenräume.

Das Licht schafft Verbindungen zwischen den Opern: Wenn Luigi im „Tabarro“ bitter feststellt, das Leben habe keinen Wert mehr, schimmert die Bühne in dem blauen Licht, das später Schwester Angelica umfließt, wenn sie sich vergiftet. Dieser Moment ist große Bühnenkunst: Der riesige Spiegel über der Wasserfläche senkt sich in der Hinterbühne und lässt die Zuschauer wie von oben auf die im Blau hingestreckte Angelica blicken. Der Moment des Sterbens als Selbstentäußerung, Transzendierung und Verklärung wird wie selten sinnlich fassbar. So legt Schwab Spuren aus, die sich im Lauf des Abends zu festen Banden zwischen den drei Teilen entwickeln. Puccini hätte seine helle Freude gehabt.

Sänger garantieren musikalische Qualität

Das Aalto-Theater kann mit einer Riege von Sängern aufwarten, die auch die musikalische Qualität des Abends garantieren. Bettina Ranch etwa spielt als Frugola den Frust einer derangierten Schönheit aus und streift die Spur des Naturalismus, ohne die Dichte der Szene zu durchbrechen. Als Fürstin in „Suor Angelica“ repräsentiert sie – bezeichnend mit der Chiffre des Lichts durch ihre Sonnenbrille spielend – die eiskalte Unerbittlichkeit, die empathielos auf das Erbe konzentriert schon die Gier der Nachfahren in „Gianni Schicchi“ präfiguriert. Jessica Muirhead ist ein Schatz im Ensemble des Aalto-Theaters: Die ganze Sensibilität, Verletzlichkeit und innere Qual der ins Kloster verbannten unehelichen Mutter legt sie für Schwester Angelica in ihre freie, blühende, im Piano reich schattierende Stimme.

Der Tod zerreißt das begrenzende Gespinst und öffnet den Raum: Jessica Muirhead in „Suor Angelica“. Foto: Matthias Jung.

Marie-Helen Joël hat als Äbtissin und vor allem als Zita in „Gianni Schicchi“ stimmlich sicher unterfütterte, szenisch dichte Auftritte. Auch die kleineren Rollen sind niveauvoll besetzt, etwa mit Liliana de Souza (Schwester Eiferin, La Ciesca), Giulia Montanari (Genovieffa) oder Christina Clark (Nella). Annemarie Kremer setzt als Giorgetta einen imposant-kraftvollen Sopran ein, aber den scharfen, vibratoreichen Tönen fehlt der sinnliche Schmelz einer Puccini-Stimme. Auch Lilian Farahani ist als Lauretta nicht optimal besetzt: „O mio babbino caro“, der Schlager des gesamten „Trittico“, erklingt zu leicht, zu soubrettig, und ohne fließende melodische Bögen.

Mit Heiko Trinsinger als Michele („Il Tabarro“) und als Gianni Schicchi kann sich das Aalto-Theater auf eine sichere Nummer verlassen. Er erfasst trotz eines nicht so sehr italienisch gefärbten Baritons die resignierte Trauer und den impulsiven mörderischen Ausbruch eines Mannes, der ratlos zusehen muss, wie ihm die immer noch geliebte Frau im Fließen des Schicksals entgleitet. Dem Gianni Schicchi gibt er weniger die Eleganz des gewitzten Betrügers mit, sondern eher virile Kraft, unbändige Komödiantenlust, aber auch einen Flash von Zynismus.

Sergey Polyakov (Luigi) und Annemarie Kremer (Giorgetta) im ersten Teil des Abends, „Il Tabarro“ („Der Mantel“). (Foto: Matthias Jung)

Sergey Polyakov ist ein standfester, zu kraftvollem Nachdruck fähiger Luigi, der dennoch die drückende Trostlosigkeit seiner Existenz und die leise Trauer in seiner Leidenschaft in flexiblen Tönen auszudrücken weiß. Baurzhan Anderzhanov (Il Talpa/Betto di Signa) fällt wie stets durch seine makellos geführte Stimme und den Wohllaut seines kühlen, aber schön abgerundeten Timbres auf. Zu hoffen ist, dass Christopher Hochstuhl aus dem Opernstudio NRW als Liedverkäufer künftig nicht auf ein paar Sätzchen und stumme Auftritte beschränkt bleibt. Zumal in „Gianni Schicchi“ machen die Sänger – mit Carlos Cardoso als erfrischendem Rinuccio und Uwe Eikötter als erfahrenem Gherardo – dem Begriff des „Ensembles“ alle Ehre. Opern- und Kinderchor des Aalto-Theaters unter Patrick Jaskolka bewältigen die schwierige Aufgabe, aus der Ferne und in ungünstiger Aufstellung zu singen, mit solider Sicherheit.

Im Orchester erklingt ein „moderner“ Puccini

Am Pult der Essener Philharmoniker waltet diesmal Roberto Rizzi Brignoli, Generalmusikdirektor in Santiago de Chile und häufiger Gast an Häusern wie der Mailänder Scala, Berlin, Hamburg oder Stuttgart. Er präsentiert einen „modernen“ Puccini, bedacht auf Transparenz und genaues Nachzeichnen der Komplexität von Puccinis Komposition. Das ist gerade für „Il Trittico“ ein passender Zugang. In „Il Tabarro“ betont er nach einem luftig-lockeren Beginn nicht die Qualitäten des Verismo-Reißers, sondern die diskret schattierten Töne, die lyrischen Momente, in denen sich die verletzten Seelen musikalisch äußern.

In „Suor Angelica“, die der Operntradition des 19. Jahrhunderts am nächsten liegt, hätte man sich stellenweise einen süffigeren Klang vorstellen können. Aber die Essener Philharmoniker bringen das mystische Kolorit zum Leuchten, funkeln in der differenzierten Instrumentierung in aparten Farben, spielen Lyrisches gelöst und ohne Druck. Beste Voraussetzungen für die agile Musik des „Gianni Schicchi“, in der die Moll-Klage ebenso geheuchelt klingt wie das heroische Preislied auf Florenz, und in der sich die Philharmoniker vergnügt auf punktierte Details und schräge Sprünge kaprizieren. Eine Burleske mit schaurigem Hintergrund – der Kreis ist geschlossen.

Vorstellungen am 13. Februar (mit Nachgespräch), 2., 20., 31. März, 24. April, 15. Juni 2022. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/2022-02/iltrittico/6384/




Keine Erlösung: Webers „Freischütz“ als ausweglose Endlosschleife der Gewalt

Blutiges Kugelgießen: Maximilian Schmitt (Max) und Heiko Trinsinger (Kaspar) in Webers „Freischütz“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Martin Kaufhold

Jetzt würde er gern wieder durch die Wälder und Auen streifen, Max der Jägerbursche. Allein: Auf der Bühne des Essener Aalto-Theaters ist der Wald zu einem einsamen dürren Ast verdorrt. Und die Auen liegen hinter einem düsteren Dorfanger, umstellt von schwarzen Haussilhouetten.

Ein „Exit“, wie mit Kreide an die Wand geschrieben, öffnet sich da nicht. GOTT steht in Spiegelschrift an der Wand, neben einem Kreuz. Den haben die Menschen also auch hinter sich gelassen, die sich „in Güte und Liebe“ lustvoll gezwungener Gewalt und kollektivem Sex hingeben. Allerlei magischer Krimskrams hilft nicht aus der Not: Das Pentagramma macht dem Teufel keine Pein, an die Wand genagelte Tierkörperteile setzen keine rettende Kräfte frei. Und das Böse spricht erst im Kollektiv und dann aus einem Wesen, das man im weißen Kleid als die reinste Unschuld betrachten würde. „Hier bin ich.“

Heiko Trinsinger als Kaspar. Foto; Martin Kaufhold

Tatjana Gürbaca hat in Essen aus Webers „Freischütz“ eine hoffnungslose Dystopie gemacht, aus der niemand entkommt. Das Kreuz an der Wand, an dem erst Max am Pranger steht, später Agathe gebannt wirkt, ist ein Passions-, aber kein Erlösungszeichen. Die Menschen wiederholen ihre Traumata, ihre uneingestandene Schuld, ihre verborgenen Qualen. Die Wolfsschlucht ist kein ferner Ort, sondern Zentrum der Gesellschaft, die ihre verdrängten Erinnerungen ritualisiert hat und von ihnen geschüttelt wird. Bis ins vierte Glied, so sagt die Bibel, würden die Sünden der Väter gerächt – und was damit gemeint ist, lässt Gürbaca auf der Bühne sehen: Die Untaten ereignen sich wie in einer traumatisierten Seele immer wieder. Gewalt und Erniedrigung in Endlosschleife.

Deutscher Wald oder Gefängnisdraht?

Am Ende kommt doch so etwas wie der „deutsche Wald“ zurück, oder ist es die Projektion von Stacheldraht? Klaus Grünbergs Bühne versinkt in einem schwarz-weißen Rauschen, aus dem sich wie Erinnerungs-Blitzlichter Bilder und Szenen manifestieren und wieder verschwinden. Gürbaca zertrümmert so die Erzählung des glücklichen Endes. Wer da auf wen oder was seine Hoffnung setzt, ist nicht mehr entscheidend. Der Weg hinaus ist ein Gleis, das in graue Ferne führt.

Oder endet es, wie eine Äußerung Gürbacas im Programmheft nahelegt, in Auschwitz? Die Romantik als Vorbereitung des deutschen Chauvinismus und letztendlich der Weltkriege und des Völkermords ist die These, mit der die Regisseurin ihre Inszenierung belädt und die sie mit der Projektion andeutet. Doch es gibt noch ein szenisches Signal: Die weißen Rosen sind erst zum Schluss zum Kranz gebunden: Es ist eine Totenkrone, ein Grabkranz oder was auch immer, das einsam vor der schwarzen Bühne leuchtet. Rettung ist in dieser Welt nicht möglich, vielleicht – das könnte man aus dem Rosenkranzmotiv als vage Hoffnung herauslesen – in der jenseitigen?

Kugeln aus blutiger Brust

Die unauffälligste Gestalt in dieser unheilvollen Welt ist Max: Sieht er den Probeschuss als Ausweg? Maximilian Schmitt beschwört die Erinnerung an eine unbeschwerte Existenz und seine Verzweiflung hingebungsvoll sorgfältig gestaltet und in der Tongebung frei. Ihm wühlt Kaspar in der Wolfsschlucht mit blutigen Händen die Freikugeln aus dem Körper, ein brutales Bild der inneren Not, die den dunklen Jägerburschen treibt. Heiko Trinsinger hat in seinem üppigen Bariton die abgründige Farbe der Drohung, den grinsenden Glanz der tückischen Trinksprüche und den verächtlichen Sarkasmus eines Menschen, der im Kampf ums Überleben alle Illusionen verloren hat – bis auf die, Samiel könne einen Ausweg öffnen und ihm doch noch die Frist verlängern.

Gürbaca betont die im Libretto nur angedeutete Dreiecksbeziehung zwischen den beiden Männern und Agathe: Kaspar tanzt am Ende des ersten Bildes mit ihr hinaus; in „Leise, leise“ lösen sich Max und Kaspar aus dem Schatten der Häuserzeile zu einem surrealen Trio mit Agathe. Hoffnung, Rettung verspricht sie sich wohl von Max, denn wenn all ihre „Pulse schlagen“, packt sie einen Koffer – eine jener Chiffren, die Gürbaca in überbordender Detailfülle einsetzt und die später in den „lebenden Bildern“ des Finales den Zuschauer nur noch überfluten. Rebecca Davis singt eine leichtgewichtige Agathe mit schlankem Ton, in den großen Bögen mit angefochtener Substanz und einem soubrettigen Anklang, in dem sich andeutet, was in forcierter Höhe bestätigt wird: Mit der Fundierung der Stimme im Körper ist es nicht weit her.

Befeuerte Musik

Kilian im Soldatenrock (zeitlich nicht festgelegte Kostüme: Silke Willrett), also alles andere als ein des Schießens ungeübter Bauer, ist von Rainer Maria Röhr mit schneidend greller Stimme passend gezeichnet; dem Fürsten, der sich vornehmlich um seinen Braten kümmert, gibt Tobias Greenhalgh nachdrückliche Sätze. Kuno (Karel Martin Ludvik) und die Schlüsselrolle des Finales, der von Christoph Seidl ansprechend gesungene Eremit, sind in diesem Konzept zu szenischer Blässe verurteilt. Die Brautjungfern sind ein Haufen graumausiger, streng gekleideter, aggressiver Frauen, aus denen Uta Schwarzkopf und Helga Wachter solistisch heraustreten. Auch Wendy Krikkens Ännchen kann szenisch kaum Profil gewinnen; gesanglich passt ihre frische, leichtgewichtige Stimme eher zu ihrem Auftritt im ersten Aufzug als zur ironisch-dramatischen Schilderung von „Nero, dem Kettenhund“.

Lustvolle Gewalt, aber „alles in Liebe und Güte“: Der Chor des Aalto-Theaters hat im „Freischütz“ eine Hauptrolle. Foto: Martin Kaufhold

Mit Chor und Statisterie hat der Leiter der Wiederaufnahme, Sascha Krohn, ganze Arbeit geleistet: Die exaltierte Bewegungsregie der Wolfsschluchtszene und die rasch wechselnden Positionen in den Bildern des Finales funktionieren. Auch musikalisch wirkt der Chor, einstudiert von Jens Bingert, auf der Höhe. Die Premiere im Dezember 2018 hatte Essens GMD Tomáš Netopil geleitet. Bei der Wiederaufnahme – passend zum 200. Jahrestag der Uraufführung des „Freischütz“ – steht sein Bremer Kollege Yoel Gamzou am Pult der glänzend aufgelegten Essener Philharmoniker.

Der Beginn der Ouvertüre wirkt zäh, trotz heftigen Körpereinsatzes bleibt die innere Spannung zunächst mäßig. Das ändert sich im Lauf des Abends, den Gamzou mit befeuernder Leidenschaft und energischer Kraft bestreitet, ohne Details zu übergehen oder sich an starren Tempi festzuhalten. Der Jägerchor wird bei ihm mit betonter, stampfender Regelmäßigkeit beinahe zur Parodie eines gemütvollen Männergesangsvereins. Mit diesem „Freischütz“ reiht sich Essen ein in die Bühnen, die in den letzten Jahren ambitionierte Regieansätze und komplexe Deutungen eingesetzt haben, um den Rang von Webers Oper als aktuelles Kunstwerk zu behaupten und zu bestätigen.

Weitere Vorstellungen am 24. Oktober und 14. November.
Info: www.theater-essen.de




Der Traum von Bayreuth: Festspiel-Inspirationen für Aalto-Chorsänger Wolfgang Kleffmann

Keine Ruhepause für Wolfgang Kleffmann nach der Rückkehr von den Bayreuther Festspielen: Einen Tag nach der letzten Vorstellung von Wagners „Meistersingern“ war er bereits morgens auf dem Weg zur Probe im Aalto-Theater.

Wolfgang Kleffmann singt seit 2003 im Essener Aalto-Chor und seit 2005 im Bayreuther Festspielchor. (Foto: Werner Häußner)

Nach Wagner steht nun Verdi an: Der Chor des Essener Opernhauses bereitet sich auf die Wiederaufnahme von „Rigoletto“ am 12. September vor, in einer „semikonzertanten“, von Sascha Krohn eingerichteten Form. Tianyi Lu, aus Shanghai stammend und in Neuseeland groß geworden, steht als Gastdirigentin am Pult. Sie ist die Gewinnerin des internationalen Sir Georg Solti Dirigentenwettbewerbs 2020. Die Titelrolle singt der isländische Bariton Ólafur Sigurdarson, als Rigolettos Tochter Gilda ist Tamara Banješević in ihrem Rollendebüt zu erleben. Im Chor der Höflinge, die willig jede Bosheit ihres Herrn, des Herzogs von Mantua (Carlos Cardoso), mitmachen, singt Wolfgang Kleffmann im Tenor.

Szene aus Verdis „Rigoletto“ am Aalto-Theater Essen, mit Tamara Banješević und Carlos Cardoso. (Foto: Saad Hamza)

Für die Festspiele hat der Sänger gerne auf Urlaub verzichtet: Bayreuth hat ihn gepackt, seit 2005 singt er dort im Chor. „Wagner erschüttert, wenn man dafür empfänglich ist“, bekennt er. Auch wenn es pathetisch klingt: Wagner hat das Leben von Wolfgang Kleffmann verändert. Ein Besuch der „Walküre“ entfachte die Wagner-Begeisterung. Nach zehn Jahren Praxis als Zahnarzt in Eschweiler begann er mit 33 Jahren noch ein Gesangsstudium, das er in Maastricht abschloss. Sein Ziel von vornherein: Singen im Chor. Der Wunsch erfüllte sich 2003, als er seine erste Stelle im Chor des Aalto bekam. Da blieb es nicht bei der Liebe nur zu Wagner. Die Opern Giacomo Puccinis oder ein Werk wie Giuseppe Verdis „Don Carlos“ sprechen den Sänger ebenso an.

Singen in Gemeinschaft

Das Singen in Gemeinschaft hat ihn schon als Jugendlicher interessiert. Kleffmann erinnert sich an ein prägendes Erlebnis, das wieder mit Wagner zu tun hat: „Ich hörte eine alte Platte meines Vaters, so eine Sammlung berühmter Chöre. Beim Pilgerchor aus dem ‚Tannhäuser‘ musste ich weinen.“ Was lag also näher als der Versuch, als professioneller Sänger beim Bayreuther Festspielchor zu landen? „Beim Vorsingen habe ich gedacht, ich hätte alles in den Sand gesetzt“, erinnert er sich. „Ich bin mit Tränen in den Augen nach Hause gefahren“. Aber zu seiner Überraschung kam die Zusage: 2005 durfte er anfangen. Der Traum hat sich erfüllt.

Seither ist er mit nur einer Unterbrechung jedes Jahr dabei. Schmerzlich war der Ausfall im letzten Jahr, durch Corona bedingt. Kleffmann ärgert sich: „Weder Chor noch Orchester haben eine Ausgleichszahlung erhalten, weil unsere Verträge, die seit März fertig ausgehandelt waren, noch nicht unterzeichnet waren.“ Er findet das für die Ensembles als „Rückgrat der Festspiele“ schlichtweg beleidigend. „Viele Kollegen sind durch den Ausfall ihrer Einkünfte unglaublich unter Druck geraten“.

Als der Chor geteilt werden musste

Bei den Festspielen 2021 stand der Chor vor einer nie dagewesenen Situation: Die knapp 140 Sängerinnen und Sänger wurden geteilt: Die Hälfte sang im Chorsaal, die andere Hälfte spielte stumm auf der Bühne. „Wir sitzen in einer Art Telefonzelle aus durchsichtigem Material und singen. Der Ton wird direkt ins Festspielhaus übertragen. Das funktioniert hervorragend, und ich bin gar nicht unglücklich. Denn es tut gut, sich einmal ausschließlich auf die musikalische Arbeit zu konzentrieren.“

Im Rückblick auf 16 Jahre Bayreuth erinnert sich Kleffmann an manche unvergessliche Zeit, so die Arbeit mit Christoph Schlingensief, ein „unheimlich sympathischer Typ“. An den „Parsifal“ Stefan Herheims, einen Höhepunkt seines Sängerlebens. Oder an den „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer: „Ein Regisseur, bei dem alles durchdacht ist.“ Musikalisch ist für ihn die Zusammenarbeit mit Christian Thielemann ein Erlebnis, aber er schätzt auch Semyon Bychkov: „Er führt mit den Händen, hochmusikalisch.“

Inspirierend ist für Kleffmann auch, an der Seite berühmter Sängerkollegen wie Georg Zeppenfeld zu stehen: „Ein so bescheidener Mensch und ein Sänger, bei dem alles stimmt.“ Oder Tenöre wie Piotr Beczała und Klaus Florian Vogt als „Lohengrin“ zu erleben. So nimmt Wolfgang Kleffmann, der bald wieder seine Fußball-Jugendmannschaft in Bredeney trainiert, aus Bayreuth willkommene Impulse für die tägliche Arbeit am Aalto-Theater mit. Und hofft, im nächsten Jahr wieder dabei zu sein, wenn sich der Vorhang für die neue „Ring“-Inszenierung von Valentin Schwarz hebt.




Eine Frau leitet künftig das Aalto-Theater: Merle Fahrholz wechselt aus Dortmund als Intendantin nach Essen

Stellte sich bei einer Pressekonferenz vor: Dr. Merle Fahrholz, ab der Spielzeit 2022/23 Intendantin des Aalto-Theaters und der Essener Philharmoniker. (Foto: Werner Häußner)

Zum ersten Mal werden das Essener Aalto-Theater und die Essener Philharmoniker von einer Frau geleitet: Merle Fahrholz, bisher stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin an der Oper Dortmund, folgt zu Beginn der Spielzeit 2022/23 Intendant Hein Mulders nach, der die Leitung der Oper Köln übernimmt.

Ein Arbeitsausschuss des Aufsichtsrats der TuP (Theater und Philharmonie Essen GmbH) hatte die 38jährige promovierte Musikwissenschaftlerin in einem „straffen und intensiven Prozess“ – so der Essener Kulturdezernent Muchtar al Ghusain – aus über vierzig Persönlichkeiten aus der nationalen und internationalen Opernszene ausgewählt. Die einstimmige Entscheidung bedeutet auch, dass die Philharmonie Essen künftig eigenständig geleitet wird.

Fahrholz, in Bad Homburg geboren, war nach dem Studium als Dramaturgin an den Theatern in Biel-Solothurn (Schweiz), Heidelberg und Mannheim tätig. Erfahrungen auch im Bereich der Kulturvermittlung sammelte sie bei den Berliner Philharmonikern, der Semperoper Dresden, der Metropolitan Opera New York und bei einem interkulturellen Händel-Projekt in Serbien. Ferner arbeitete sie mehrfach an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis, so etwa mit den Universitäten Heidelberg, Zürich und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Uni Bayreuth. 2015 promovierte sie in Zürich über den Komponisten Heinrich August Marschner. Mit Merle Fahrholz tritt in Essen eine „neue Generation von Führungskräften“ an, die „wissenschaftliche Sorgfalt mit hohen Anforderungen an künstlerische Projekte verbindet“, so die Vorsitzende des TuP-Aufsichtsrats, Barbara Rörig.

In Dortmund war Fahrholz ab 2018 an der Konzeption eines ehrgeizigen Spielplans beteiligt, der u.a. Raritäten wie Daniel François Esprit Aubers „Die Stumme von Portici“ vorgesehen hatte, aber durch die Corona-Pandemie weitgehend nicht realisiert werden konnte. In der laufenden Saison betreut sie u.a. die moderne Erstaufführung von Gaspare Spontinis „Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko“ (Premiere 7. April 2022) und die Ausgrabung von Ernest Guirauds unvollendeter, von Camille Saint-Saëns fertiggestellter Oper „Frédégonde“ (Premiere 20. November 2021).

Das Aalto-Theater in Essen wird künftig zum ersten Mal in seiner Geschichte von einer Frau geleitet. (Foto: Werner Häußner)

Da die Essener Spielzeit 2022/23 bereits vorgeplant ist, werde sie ihren Spielplan ab 2023 in „ausgewogener Programmatik“ gestalten, gab sie bei einer Pressekonferenz im Aalto-Theater bekannt. Neben die Klassiker des Repertoires sollen unbekannte, für die heutige Gesellschaft mit ihren Ausprägungen und Bedürfnissen relevante Werke verschiedener Epochen treten, die „einen neuen Blick verdienen“.

Schwerpunkt auf Komponistinnen

Fahrholz plant einen Komponistinnen-Schwerpunkt auf der Opernbühne und im Konzert. Dabei werde es um zeitgenössische Komponistinnen gehen, sagte Fahrholz. Aber auch aus vergangenen Jahrhunderten gebe es viele Werke von Frauen zu entdecken. Nicht zu kurz kommen solle die sogenannte leichte Muse. „Die Oper spricht Emotionen an. Ihr geht es um das Mitfühlen und im besten Fall das Ausleben von Emotionen“, so Fahrholz. „Ich lege Wert auf das Erzählen von Geschichten“. Für eine „Vielfalt der Ästhetik“ plant sie mit verschiedenen Regiehandschriften von in Essen bekannten Persönlichkeiten, aber auch mit neuen Gesichtern aus der Regieszene.

Unter dem Schlagwort „Open up“ möchte Merle Fahrholz mit künstlerischen Projekten Essen entdecken und sich gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern intensiv mit ihrer Stadt auseinandersetzen. Ein zentrales Anliegen sei dabei der Ausbau der Arbeit mit und für Kinder und Jugendliche. Die Zukunft des Theaters, über die jetzt gesprochen werden müsse, sieht Fahrholz auch in partizipativen Projekten, die es zu einem „Brennglas von Sehnsüchten, Wünschen und Utopien“ machen. Das Aalto-Theater solle sich zu einem Ort des Begegnung und des sozialen Miteinanders entwickeln, an dem sich alle willkommen fühlen.




Trauma-Theater statt Thespiskarren: Roland Schwab radikalisiert in Essen Leoncavallos „Pagliacci“ („Der Bajazzo“)

Theater der Grausamkeit: Sergey Polyakov (Canio) und Seth Carico (Tonio). Foto: Matthias Jung

Ruggero Leoncavallos Oper „Pagliacci“ gilt gemeinhin als Musterbeispiel des Verismo: Kleine Leute in einem zurückgebliebenen Landstrich, eine aus dem Alltag wachsende Tragödie  und ein reales Ereignis als Vorbild: Ein Doppelmord, den der Komponist als Kind in Montalto in Kalabrien angeblich selbst mit ansehen musste. Ein Trauma.

Nichts vom vertrauten „Verismo“ mit bunt beleuchtetem Thespiskarren und Commedia dell’arte-Kostümierung findet sich im Essener Aalto-Theater: Roland Schwab hat jeden Naturalismus dezidiert hinter sich gelassen, aber er legt die Emotionen der Menschen bis zur Schmerzgrenze frei. Auf der jedem konkreten Schauplatz abholden Bühne von Piero Vinciguerra ballt sich ein Trauma zusammen, dessen Explosion den Zuschauer berührt und überwältigt zurücklässt. Wenn Theater sein muss, dann genau so: unmittelbar, packend, bildgewaltig und dabei in jedem Moment des verdichteten Ablaufs gedanklich konzentriert und schlüssig. Roland Schwab ist damit nach seinem grandiosen „Othello“ wieder ein Meisterstück eines tief in die Seele dringenden Musiktheaters gelungen. Nichts für einen netten Abend, nichts zum nebenbei Erleben, sondern zutiefst erschütternd und wahrhaftig: „Verismo“ auf einer ganz anderen Ebene als der fragwürdige italienische Stilbegriff meint.

Zwangsläufiges Geschehen jenseits der Logik

Im Prolog löst sich aus dem Hintergrund ein schwarzer, entstellter Mann, der einen anderen an der Kette heranzerrt: Es ist derjenige, der zuvor in einer rasanten Filmsequenz durch die Keller und Gänge des Opernhauses hetzt und an der Glastür zur Billettkasse schmerzlich scheitert. Es gibt kein Entkommen aus dem Raum des Theaters. Für ihn – es ist Canio – „muss Theater sein“. Das lesen wir auch auf dem Schild, das ihm der schwarze Prolog wie die Schandtafel eines Delinquenten umhängt. Canio, der „Bajazzo“, ein Opfer seiner Kunst, ein Gefangener schönen Scheins, gar einer bitteren Illusion? Die Kette der Assoziationen ist eröffnet, und sie lässt sich auch am Ende, als die „Commedia“ ihr blutiges Finale erreicht, nicht ganz schlüssig knüpfen. Das ist keine Schwäche, sondern einer der Vorzüge der Inszenierung. Denn ein Trauma, wie der Protagonist es hier auf schwarzglänzendem Boden in einem Raum voller Bruchstücke durchleidet, erfüllt sich nicht in Logik, sondern in der Zwanghaftigkeit eines Geschehens, das nicht aufzuhalten ist.

Diesen Raum füllt Schwab mit beziehungsreichen Chiffren. Tote, deren rotbeschuhte Beine aus den Leichensäcken ragen: Opfer des mannhaften Wahns von „echten“ Gefühlen, von zu Wahnsinn gesteigerter „Liebe“ und tödlich explodierender Eifersucht? Der Mann mit einer Blutwunde auf dem Unterhemd, zum Tode verletzt wie Amfortas und doch zum Leben, zum Spielen gezwungen? Der schwarze Mitspieler Tonio, nicht der drollig-gefährliche Krüppel wie sonst, sondern ein Gezeichneter und ein teuflischer Strippenzieher. Eine transzendierte Figur, die zum Höhepunkt der Tragödie mit einer Stange auf- und abgeht, während der weiß geschminkte Tod auf einem Hochrad über die Bühne huscht: ein Klingsor im bösen Reich entfesselter Lüste.

Komplexes Spiel enthüllt die Sehnsüchte der Personen

Auch das Theater auf dem Theater bleibt beziehungsreich unbestimmt. Keine putzige Wanderbühne, sondern ein Geflecht von Lichtern, aufgespannt wie eine Zirkuskuppel, dann herunterfahrend wie eine gierige Spinne an ihrem Faden, schließlich eine Arena, an deren Brüstung die gemordete Nedda über ihren Rücken hängt, wie auf einem surrealen Gemälde. Vorher hatten die junge Frau und ihr Geliebter Silvio mit der Lichterkette eine Verbindung zwischeneinander gezogen, im Liebesduett, im dem sie sich ihrer Sehnsüchte versicherten.

Szene auf der Bühne von Piero Vinciguerra für „Der Bajazzo“ am Aalto-Theater in Essen. Rechts Seth Carico als Tonio. Foto: Matthias Jung.

Und um Sehnsucht geht es in diesem Stück. Bei Canio, der von seinem jungen Findelkind geliebt sein will und bei dem er am Ende nicht einmal Mitleid und Gnade findet. Ein Schmerzensmann, der die Illusion der Liebe verinnerlicht hat und am Ende im Jähzorn abschlachtet. Bei Silvio, dem jungen Bauern, der sich schwärmerisch eine Zukunft ausmalt. Bei Beppe, dessen scheinbar leichtfüßige Harlekin-Arie erfüllt ist mit elegischem Begehren, das sich auf der Bühne im makabren Spiel mit einem der Frauenbeine als konkret fleischlich manifestiert.

Vor allem aber bei Nedda: Ihre langen blonden Haare machen sie aus der Perspektive der Männer zum Gegenstand der Begierde; sie selbst setzt sie auch als erotisches Signal ein. „Voller Leben und erfüllt von unnennbaren Sehnsüchten“, schnallt sie sich bei ihrer Vision von den frei fliegenden Vögeln die Flügel eines Engelchens um. Ihre roten Schuhe hat sie dazu abgelegt, sich befreit von diesem Zeichen sexueller Objektivation. Das komplexe Spiel mit visuellen Signalen und Chiffren überzeugt auch bei Tonio, bei dem die Seite der seelischen Bezauberung durch den Gesang Neddas, jäh zerstört durch den beißenden Spott der jungen Frau, in der Inszenierung allerdings kaum herausgearbeitet wird. Die maliziöse Gier gewinnt schnell die Dominanz.

Schwab stellt uns Menschen vor Augen, deren Sehnsucht im traumatischen Geschehen offenbar wird; das Spiel entlarvt die Innenseiten der gequälten Seelen. Was Leoncavallo in der Handlung der „Pagliacci“ aus dem Zusammenprall von Spiel (im Spiel) und (dargestellter) Wirklichkeit entwickelt, wird in Schwabs Inszenierung kongenial erfasst und auf eine neue Ebene geholt. Da kommt es auch nicht darauf an, dass die von Leoncavallo erzählte Story des Kriminalfalls als Vorbild der Oper längst als Fälschung entlarvt ist: Die Fiktion des Realen hat eine neue Wahrheit hervorgebracht, das Theater ist der magische Ort dafür – Hermann Hesses „Steppenwolf“ wird direkt zitiert.

Die Höhe des musikalischen Stils wird geschleift

Wäre das musikalische Glück ebenso vollkommen gewesen, man hätte von einem einzigartigen Opernabend zu berichten gehabt. Doch lassen die Sänger allesamt spüren, was ein kundiger Kritiker einmal „die Schleifung der Stilhöhengesetze“ genannt hat. Leoncavallo – und seine Kollegen wie Mascagni, Giordano oder auch Zandonai – stehen für eine damals neue Art des Singens: Addio zum stilisierten, kunstvollen „canto fiorito“ hin zum naturalistischen „Schrei“, in dem sich die Stimme exzessiv verausgabt und Schauer des Entsetzens oder der Wollust über die Rücken der Zuhörer treiben will.

Heute gilt im Singen von Verdi bis Puccini nicht einmal mehr das. Ein Beispiel ist der Bariton Seth Carico als Tonio: Ein robustes Material wird, kaum berührt von Differenzierungen in Farbe oder Tonbildung, robust eingesetzt und schindet mächtig Eindruck. Die subtilen Nuancen des Prologs, die emotionalen Zwischentöne dieses so geschundenen wie boshaften Charakters werden mit der immergleichen Präsenz herausgeschleudert. Schmerz, Zynismus, Verschlagenheit, oder auch einfach nur Kantabilität, dynamische Flexibilität, Schmelz oder Strahlkraft sind zu einem stählern gefassten, im Zurücknehmen schnell rissigen Klang zusammengepresst.

Sergey Polyakov als Canio. Foto: Matthias Jung

Der Canio von Sergey Polyakov versucht sich darin, seinen wuchtigen Tenor zu zähmen, ihm die Farben der Schmerzes, der unendlichen Enttäuschung, aber auch der ungebändigten Wut abzuringen. Die Höhe drängt anfangs sehr an den Gaumen, kann sich erst im zweiten Akt befreien. In „Vesti la giubba“ ersetzt Nachdruck den Ton der Resignation und der inneren Qual. Doch in den sich steigernden Ausbrüchen der Wut hat Polyakov seinen Weg gefunden. Carlos Cardoso bleibt dem elegischen vokalen Maskenspiel des Arlecchino einiges schuldig; Tobias Greenhalgh vermittelt mit schwacher Tiefe und einer in unbefreiter Lautstärke übertönten Lyrik nicht den Eindruck, seine Rolle über das Verismo-Klischee – laut und ungeschliffen – hinausheben zu wollen.

Abgeschlachtet in der Arena der Emotionen: Gabrielle Mouhlen (Nedda). Rechts Sergey Polyakov (Canio). Foto: Matthias Jung

Bleibt Gabrielle Mouhlen als Nedda: Ihr Timbre von der Härte eines Brillanten taucht ihre große Solo-Szene in ein kühles, klares Licht. Der Traum von den freien Himmelsvögeln schimmert wie Glas, die Farben der Sehnsucht bleiben hell und ungebrochen. Zu flexibler Phrasierung hat sie kaum Gelegenheit, denn Robert Jindra am Pult gibt ihr kaum den Raum zum Atmen, drängt auf Tempo und vor allem auf stabile, ungeschmeidige Metren. Bei einem so erfahrenen Kapellmeister wundert dieser Rigorismus – dass Leoncavallo gut mit dem Hohenzollernkaiser konnte, ist kein Argument für preußische Exaktheit.

Vom ausschwingenden Cantabile abgesehen lässt Jindra den Essener Philharmonikern viel Raum für fein ausgestaltete Soli und duftige Tutti, denen man die reduzierte Orchesterfassung von Francis Griffin nicht negativ anzukreiden braucht. Die filigrane Brillanz der Begleitung in der Nedda-Arie lässt keine Wünsche offen; die elfenhaften Staccati und Pizzicati zur Arietta Beppes haben den passenden Hauch des Künstlichen. Auch der Opernchor von Jens Bingert erfüllt seinen Part von den Rängen des Hauses, nur kurz von breitem Tempo irritiert, mit Glanz und einer in diesem Stück sonst kaum herstellbaren Transparenz. Noch einmal: Ja, so soll Theater sein. Und wir alle sollten froh sein, dass wir es wieder haben!

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit nur noch am 13., 18., 20. Juni 2021. Info: www.theater-essen.de




„After Midnight“: Clapton, Cash und Cohen treffen sich im Diner und tragen ihre Songs vor

Laura Kiehne in der Inszenierung "After Midnight" von Florian Heller; Regie: Christian Tombeil

Laura Kiehne in „After Midnight“. (Foto: Diana Küster / Theater Essen)

Wo, wenn nicht in einem Diner, trifft man nach Mitternacht auf die einsamen Seelen, die Desillusionierten, die Experten im Scheitern aller Art? Nighthawks werden sie in Amerika genannt, Nachtfalken, gerade so wie Edward Hoppers berühmtes Bild, das ihnen ein Denkmal setzt.

Im „After Midnight“, dem Diner von Pattie (Laura Kiehne) gibt es nicht einmal mehr sie. Keiner mehr da. Der Laden steht irgendwo im Nirgendwo, im „Rustbelt“, dem Rostgürtel, der früher einmal das industrielle Herz Amerikas war, inzwischen aber weitgehend entvölkert ist. Monessen heißt der nächste Ort, den es wirklich gibt, und dessen Name sich im zweiten Teil tatsächlich auf Essen bezieht. (Das Mon- verweist auf den Monongahela-River).

Wer hier noch lebt, zählt sich nicht zu den Gewinnern. Auch Pattie wäre ja schon längst weg, wenn sie eine Alternative hätte. Hat sie aber nicht, Mutter hat ihr lediglich einen Haufen Schulden vererbt, der sie, warum auch immer, zum Weitermachen im verfluchten Diner zwingt. Doch dann, in einer stürmischen Winternacht, in der Internet und Telefon schon zusammengebrochen sind, betreten merkwürdige Personen das Lokal, und danach ist die Welt eine andere.

Szene mit Jan Pröhl, Philipp Alfons Heitmann, Laura Kiehne, Jens Winterstein. (Foto: Diana Küster / Theater Essen)

Alles auf der Bühne

Florian Heller, Jahrgang 1984 und Mitglied der Essener Intendanz, hat sich diese Rahmenhandlung für seinen musikalischen Abend „After Midnight“ ausgedacht, Ivonne Theodora Storm (Bühne und Kostüme) hat sie mit einem fast schon naturalistisch zu nennenden Bühnen-Diner plastisch werden lassen. Zu Beginn sehen wir das hässliche Teil von außen, Neonwerbung, runde Kanten, doch mit einem knappen Turn der Drehbühne wird es flugs zum Interieur. Hinten stehen nun ein paar Stühle und ein Tisch, links prunkt die Bar mit dem Spruch „Crying Is Okay Here“ in Leuchtbuchstaben. Auch die vierköpfige Band „The Hawks“ hat ihren Platz auf der Bühne.

Drei, die Musikgeschichte schrieben

Pattie streitet mit Rick, der heute abend mit dieser Band ein Konzert geben will und auf volle Hütte hofft. Doch statt des zahlenden Publikums laufen nacheinander Cassius (Jan Pröhl) und Norman (Jens Winterstein) ein, die, jetzt lüften wir das Geheimnis, niemand anders sind als Johnny Cash und Leonhard Cohen. Und Rick (Philipp Alfons Heitmann) ist eigentlich Eric Clapton, womit das Trio komplett wäre, das, unausweichliche Phrase an dieser Stelle, in der großen Fachabteilung Folk wirklich Musikgeschichte geschrieben hat. Nach den Gründen für dieses irrwitzige Zusammentreffen wollen, sollen wir nicht fragen. Manchmal fügt Unglaubliches sich auf Erden eben, sagt die Inszenierung. Zumindest darf man sich das vorstellen.

Clapton, Cash und Cohen: Philipp Alfons Heitmann, Jan Pröhl, Jens Winterstein in „After Midnight“. (Foto: Diana Küster / Theater Essen)

Der Tod ist allgegenwärtig

Rick/Clapton eröffnet die Gesangsdarbietungen mit „Wonderful Tonight“, später gelangen unter anderem Cohens „Suzanne“ oder Cashs „The Man Comes Around“ zur Aufführung, letzteres ein düsteres Spätwerk im Angesicht des nahenden Todes. Ja, der Tod ist oft mit im Raum, wenn sich die drei (mit Pattie vier) Protagonisten unterhalten, und von Norman/Cohen wie auch von Cassius/Cash erfahren wir explizit, dass sie krank sind und nicht mehr lange zu leben haben.

Hellers Stückvorlage räumt den Gesprächen der Protagonisten breiten Raum ein, sie sind weit mehr als unausweichliche Zwischenmoderation; eher entsteht streckenweise der Eindruck, dass die Songs in diesem Stück neben der biographisch grundierten Spielhandlung etwas fremdkörperhaft stehen. Auf jeden Fall jedoch ist den drei Sängern zu bescheinigen, dass sie mit ihren Stimmen die Vorbilder sehr gut treffen.

Ohne Gänsehaut-Gefühl

Zwangsläufig fehlt jedoch jenes „Gänsehaut-Gefühl“, das Interpretationen von Clapton, Cash und Cohen augenblicklich beim Zuhörer auszulösen vermögen, es fehlen die unverwechselbaren Artikulationen und auch die eine oder andere stilvoll in die Unverständlichkeit vernuschelte Zeile. Das Essener Bühnenpersonal artikuliert sorgfältig, was sicherlich der richtige Weg ist; ein bisschen klingt das jetzt allerdings so, als sängen Clapton, Cash und Cohen mit deutschem Akzent.

Mit seinem Johnny Cash-Programm war Thomas Anzenhofer im Bochumer Schauspielhaus über Jahre hin sehr erfolgreich, was sicherlich zum Nachmachen reizt. Wenn Regisseur Christian Tombeil in Essen nun aber gleich drei Vorbilder auf die Bühne bringt, stellt sich natürlich schon die Frage nach dem Warum. Warum diese drei?

Einen Bezug zum „Rustbelt“ und seinen zornigen alten (meist weißen) Männern hatte eigentlich nur Johnny Cash. Die anderen beiden sind bzw. waren thematisch etwas anders unterwegs. Bruce Springsteen hätte gut gepasst, Arbeiterdichter wie Pete Seeger oder Woody Guthrie, vielleicht auch Bob Dylan. Andererseits ist das American Songbook so voll von guter Musik und ihren Schöpfern, dass Vorschläge schnell beliebig erscheinen. So bleibt festzuhalten, dass Clapton, Cash und Cohen auf jeden Fall keine schlechte Auswahl darstellen.

Das Publikum war von Florian Hellers „After Midnight“ begeistert, tappte den Rhythmus mit und geizte, auch zwischendurch, nicht mit Applaus.

  • Termine: 28.12.2019 – 10., 18., 19., 21., 21.2.2020
  • Schauspiel Essen, Grillo-Theater, www.theater-essen.de



Der Kindsmord als klingende Tragödie: Aribert Reimanns Oper „Medea“ im Aalto-Theater

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea. Die Frau, die ihre Söhne ermordet. Die schöne, stolze, mythenumwobene Priesterin und Zauberin aus Kolchis (heute Georgien), Hüterin des goldenen Vlieses, die zu Göttern und Naturgewalten Kontakt hat. Wer erfasst ihre Tragödie, das schlimme Schicksal der liebenden Königstochter, die vom Argonautenführer Jason erst ausgenutzt, dann in die Fremde verschleppt, allein gelassen, betrogen und schließlich sogar verstoßen wird? Wer vermag die entsetzliche Tat zu begreifen, mit der sie sich am treulosen Gatten rächt?

Viele haben es über Jahrtausende hinweg versucht. Beginnend bei Euripides, der den Stoff 431 vor Christus in seinem Trauerspiel „Medea“ aufgriff, befassten sich zahlreiche Schriftsteller, Dichter, Maler, Komponisten, bildende Künstler, Filmregisseure und Tänzer mit diesem Mythos. Untrennbar mit ihm verbunden ist der Name der Sängerin Maria Callas, die Luigi Cherubinis Oper durch ihre grandiose Gestaltung der Titelpartie dem Vergessen entriss.

Einer der namhaftesten Komponisten unserer Zeit fühlte sich von Franz Grillparzers Drama „Medea“ inspiriert: Aribert Reimann, geboren 1936 in Berlin, einst Schüler von Boris Blacher, Träger des Ernst von Siemens Musikpreises sowie des „Faust“-Theaterpreises für sein Lebenswerk. Für seine gleichnamige Oper in vier Bildern, uraufgeführt am 28. Februar 2010 an der Wiener Staatsoper, extrahierte er selbst das Libretto.

Kampf um die Liebe, Kampf um die Kinder: Medea (Claudia Barainsky) und Jason (Sebastian Noack). (Foto: Karl Forster)

Im Essener Aalto-Theater, das Reimanns Werk jetzt neu in Szene setzt, erzählt der Komponist vor Beginn der Premiere höchstselbst von der Faszination am antiken Stoff. Er schwärmt von der Sprache Grillparzers, die ihn unmittelbar zu Musik inspiriert habe, und schildert seine langjährige Zusammenarbeit mit der Sängerin Claudia Barainsky, die am 28. Februar 2010 mit großem Erfolg die Uraufführung an der Wiener Staatsoper sang. Nach Produktionen in Frankfurt, Tokio und Berlin hat Essen nun erneut Claudia Barainsky für die Titelpartie engagiert.

Weiß Gott keine schlechte Entscheidung, wie sich am Premierenabend rasch zeigt. Barainsky, die bei der Ruhrtriennale 2006 als Marie in Bernd Alois Zimmermann „Die Soldaten“ glänzte, kennt keine Furcht vor dem aberwitzigen Koloraturgewitter, in das sie als Medea immer wieder ausbrechen muss. Sie schafft es, die für Reimann charakteristischen zackigen Gesangslinien mit Emotion anzufüllen, die Koloratur wie eine Waffe einzusetzen, wann immer die Figur der Medea sich in die Enge getrieben sieht.

Obgleich selbst von eher geringer Körpergröße, verleiht die Barainsky der Titelheldin ein staunenswertes Format. Sie wirft sich mit voller Wucht ins Spiel: nicht etwa als augenrollende Furie, sondern als leidenschaftliche Frau, die wieder und wieder gedemütigt wird. In der Regie von Kay Link, der in Essen bereits „Into the little Hill“ von George Benjamin in Szene setzte, erscheint sie schließlich wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

Medeas Söhne werden rasch von den Korinthern vereinnahmt. (Foto: Karl Forster)

Dazu tragen auch die Kostüme bei. Ganz in Rot gewandet, ist Medea die Fremde, die Außenseiterin gegenüber den Korinthern, die ihr in kühlem Aalto-Blau entgegentreten. Oft lauert sie wie ein Tier unter dem Königspalast des Kreon, ein asymmetrischer, einsehbarer Kubus, der auf hohen Stelzen steht und nur über Treppen zu erreichen ist (Bühne, Kostüme und Video: Frank Albert). Kay Link bewegt die Figuren so, dass Rangordnungen sofort augenfällig werden.

Bis Medea im ersten Teil des Abends das goldene Vlies vergraben und Bekanntschaft mit den Korinthern geschlossen hat, bleibt das Geschehen auf der Bühne oft statisch. Aber der zweite Teil nimmt Fahrt auf: Beim Versuch einer Aussprache mit Jason und beim Kampf um die Kinder spitzt sich das Drama zu. Das Ensemble rund um die Barainsky muss stimmlich kaum weniger Virtuosität beweisen. Es hält sich höchst ehrbar: Als Kreons Tochter Kreusa brilliert Liliana de Sousa mit Melismen in klarer, absichtsvoll kalter Höhe. Empathie findet Medea bei ihrer Amme Gora, der Marie-Helen Joël Großherzigkeit und Wärme verleiht. Hagen Matzeit führt seinen Countertenor in nachgerade artistischer Manier, um die vertrackten Intervallsprünge zu meistern.

Ein kurzer Moment der Annäherung: Medea (Claudia Barainsky, l.) versucht sich zu adaptieren (Liliana de Sousa als Kreusa, r. ) (Foto: Karl Forster)

Auch Sebastian Noack (Jason) und Rainer Maria Röhr (Kreon) engagieren sich auf Äußerste, zumal der Komponist unter den Premierengästen ist. Aber gegen die starken Frauenfiguren wirken die beiden Sänger beinahe etwas blass. Der Tscheche Robert Jindra dirigiert die Essener Philharmoniker mit großer Kompetenz durch Aribert Reimanns dicht gewobene, dem Ohr oft sperrige Partitur. Eine Dauer-Nervosität, eine beinahe nervenzerrüttende Spannung tönt da aus dem Orchestergraben. Schockierend wirken die blockhaften Einsätze der Instrumentengruppen, insbesondere die brutalen Blech-Cluster, die das Bühnengeschehen häufig kommentieren. Die Essener Philharmoniker übernehmen eine sehr aktive Rolle in dem Drama, sind quasi der siebte Hauptdarsteller, der ständig mit den Sängern interagiert.

Am Ende erhebt sich das Publikum zu Ehren von Aribert Reimann von den Sitzen. An seinen „Lear“, den das Aalto-Theater vor 18 Jahren in der Inszenierung von Michael Schulz zeigte, mag mancher sich an diesem Abend auch erinnern.

(Termine und Informationen:https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/medea/)




Es geht noch viel: TuP-Festtage in Essen mit Aribert Reimanns „Medea“ und einer spartenübergreifenden Uraufführung

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019: Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant und Ballettmanager Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019 (v. li.): Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Rien ne va plus – das ist ein aus dem Casino geläufiger Satz, wenn im laufenden Spiel nichts mehr geht. Ein etwas gekünstelter Titel für die TuP-Festtage Kunst in Essen. Denn zum Glück geht in der Zeit vom 22. bis 31. März eine Menge: Premiere der Reimann-Oper „Medea“ am Aalto, drei beliebte Ballettproduktionen, die deutsche Erstaufführung von Robert Menasses Europa-Stück „Die Hauptstadt“ im Grillo-Theater. Und erstmals ein spartenübergreifendes Projekt.

Musiktheater, Ballett und Schauspiel realisieren in der Casa im Grillo eine gemeinsam erarbeitete Inszenierung: „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ heißt das Stück, in dem Tänzer, Sänger und Schauspieler gemeinsam agieren und ihre Spartengrenzen ein wenig überschreiten. Für die Uraufführung am Mittwoch, 27. März, 19 Uhr, dürfte es ratsam sein, sich rasch Karten zu sichern: Die Casa hat ein begrenztes Platzangebot. Weitere Vorstellungen: 30. März und 5. Mai.

Fünf Sparten sind am Programm beteiligt

Verdis "Luisa Miller" wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Verdis „Luisa Miller“ wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Für alle anderen Vorstellungen sind noch ausreichend Tickets zu bekommen. Bei manchen heißt es nach den TuP-Festtagen tatsächlich „rien ne va plus“: Dietrich Hilsdorfs Inszenierung der Verdi-Oper „Luisa Miller“ (Wiederaufnahme am 30. März) verabschiedet sich nach dieser letzten Vorstellungsserie aus dem Repertoire des Aalto-Theaters; dafür kündigt Intendant Hein Mulders die Rückkehr des einstigen Essener Stamm-Regisseurs in der Spielzeit 2019/20 an. Abschied nehmen müssen die Ballett-Fans auch von Stijn Celis‘ Choreografie von „Cinderella“. Sie steht am 31.März letztmals auf dem Spielplan des Aalto-Theaters.

Mit Spannung erwarten dürften Opern-Liebhaber die Neuinszenierung von Aribert Reimanns „Medea“, uraufgeführt 2010 an der Wiener Staatsoper und dort – wie bei der Übernahme in Frankfurt und bei einer zweiten Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, geleitet vom Bochumer GMD Steven Sloane – vom Publikum gefeiert.

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Peter Andersen

Der 83jährige Komponist hat sein Kommen angekündigt. Premiere ist am Samstag, 23. März, 19 Uhr. Am Tag zuvor, 22. März, eröffnen um 16.30 Uhr die Intendanten der fünf TuP-Sparten die Festtage; anschließend gibt es eine „Teatime“ im Aalto-Foyer mit einer Einführung in die auf Franz Grillparzers „Das goldene Vlies“ fußende Oper Reimanns.

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld als Themenkomplexe

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld, aber auch glückliche Fügungen: Um diese Themenkomplexe kreisen die Vorstellungen der TuP-Festtage. In der Uraufführung „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ nehmen die Regisseure Marijke Malitius und Sascha Krohn gemeinsam mit dem ehemaligen Aalto-Tänzer und Choreografen Igor Volkovskyy die Frage auf, wie es wohl wäre, ewig Kind zu bleiben, die Träume der Kindheit zu leben und die von Macht strukturierte Welt der Erwachsenen zu meiden. Die Sicht der Kinder Medeas, die Weigerung, erwachsen zu werden in „Peter Pan“ und die geheimnisvolle Marionettenwelt in Maurice Maeterlincks „Der Tod des Tintagiles“ sind die stofflichen Kreise, um die sich die von Gesa Gröning ausgestattete Produktion drehen soll.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Musikalisch bietet die Philharmonie Essen ein Jugendkonzert mit Filmmusik am 22. März mit der Neuen Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann, am 23. März eine „Hommage á Bach“ mit dem Organisten Christian Schmitt und am 24. März, 11 Uhr, das Debüt der Geigerin und Stipendiatin von Anne-Sophie Mutter, Noa Wildschut. Die 18jährige Niederländerin bringt als Klavierpartnerin Elisabeth Brauß mit, ein Klaviertalent der jungen Generation. Am Abend ist eine Geigerin mit internationaler Karriere zu erleben: Isabelle Faust spielt das Brahms-Violinkonzert, am Pult agiert Philippe Herreweghe.

Geballte Musik-Highlights gibt es auch am Sonntag, 31. März: Um 11 Uhr spielt der Trompeter Gábor Boldoczki mit der Philharmonia Prag reizvolle Konzerte aus dem böhmischen Raum, u. a. von Johann Baptist Georg Neruda, Johann Nepomuk Hummel und Johann Baptist Vanhal. Und am Abend ab 19 Uhr verzaubern Star-Sopran Maria Agresta und die Essener Philharmoniker mit Ouvertüren und Arien von Giuseppe Verdi, darunter nicht nur die üblichen Schlager, sondern etwa die Ballettmusik aus „Macbeth“ und einer Szene aus Verdis erster Oper „Oberto, Conte di San Bonifacio“.

Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de

 




Rasendes Protokoll des Verfalls: Roland Schwab inszeniert Giuseppe Verdis „Otello“ am Aalto-Theater Essen

Das Prinzip des Bösen: Nikoloz Lagvilava als Jago in der Essener Neuinszenierung von Giuseppe Verdis "Otello" in Essen. Foto: Thilo Beu

Das Prinzip des Bösen: Nikoloz Lagvilava als Jago in der Essener Neuinszenierung von Giuseppe Verdis „Otello“ in Essen. Foto: Thilo Beu

Der Jubel über den Sieg ist falsch und schal. Mag sein, dass der hochmütige Muselmane zerschmettert am Grund des Meeres liegt. Aber der Mann, den die tarngrünen Truppen da hereinschleifen, ist alles andere als der kraftstrotzende Sieger. Er ist ein Gezeichneter: Otello, halbnackt, kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten, schreit ein dünnes „Esultate“ heraus und wankt hinkend von der Bühne. Ein strahlender General sieht anders aus.

Und der andere, der Fähnrich, der so gerne Hauptmann geworden wäre, dem Otello aber einen anderen vorgezogen hat? Der vernebelt in Roland Schwabs neuer Inszenierung von Verdis vorletzter Oper am Aalto-Theater in Essen erst einmal den Raum. Dann zerbricht er eine schwarze, löchrige Fahne – das Banner des Aufruhrs, des Verderbens? Jago schnippt mit dem Finger und das Inferno bricht aus. Er ist, das macht Schwab von Anfang an klar, der Regisseur des Bösen. Sein Prinzip: „Ich bin nichts anderes als ein Kritiker.“ Der Geist, der stets verneint.

Die „Feuer der Freude“ tauchen die Szene in gespenstisches Orange. Später fährt auf der karg-schwarzen Bühne von Piero Vinciguerra im Hintergrund ein Dschungel hoch. Cassio wankt in die Röte hinter den Palmen; Napalmbrand oder Höllenfeuer, von Jago entzündet. Francis Ford Coppolas Apocalypse Now oder Stanley Kubricks Full Metal Jacket lassen grüßen.

Doppeltes Opfer Otello

Roland Schwab interessiert sich nicht so sehr für die feinen psychologischen Verästelungen einer Eifersucht, die ihre fahlen Fäden in die Seele von Otello bohren, auch nicht für den schrecklichen Mechanismus, mit dem der Nihilist Jago sein tödliches Garn spinnt. Er zeigt keinen Krieger auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, der dann durch einen Gespinst, fein wie das Taschentuch seiner Desdemona, zu Fall gebracht wird. Bei ihm ist Otello ein doppeltes Opfer – das seines furchtbaren Traumas, befeuert durch einen ebenso furchtbaren Widersacher. Die Oper ist ein rasendes Protokoll des Verfalls, der sich von Akt zu Akt steigert, um am Ende in unheilvoller Lethargie auf einem Designer-Sessel zum Erliegen zu kommen.

Gitterwerk einer traumatisierten Kriegerseele: Gaston Rivero auf der Bühne von Piero Vinciguerra zu Verdis "Otello". Foto: Thilo Beu

Gitterwerk einer traumatisierten Kriegerseele: Gaston Rivero auf der Bühne von Piero Vinciguerra zu Verdis „Otello“. Foto: Thilo Beu

Liebe, Eifersucht, der Außenseiter, der in seiner Frau einen Anker in der Welt gefunden hat: Diese Motive werden am Aalto-Theater sekundär. Im Vordergrund stehen die psychischen Folgen des Grauens, das den Krieger einholt. Es fängt die Seele in kaltglänzenden Lamellenrollos – eine Assoziation zur französischen „jalousie“, der Eifersucht –, es bannt Otello zwischen die Stäbe eines inneren Gefängnisses.

Dahinter wird die Gesellschaft in kitschigen, im Halbdunkel verschwimmenden Bildern sichtbar. Sie weicht ängstlich zurück, wenn Otello wie ein neurotisches Zootier an den Drähten entlangtigert. Dann gibt das Gitterwerk den Blick frei auf blutglänzende Körper, die in den verzweifelten Wiederholungszwängen kranker Seelen zucken und sich winden: Otello, vervielfältigt. Ikonen psychischer Verderbnis, in Blitze des Wahnsinns getaucht. Dämonisch klares Licht – Manfred Kirst und sein Team leisten Großartiges – und giftige Nebel lösen einander ab.

Projektion des Objekts einer Macho-Begierde

Und Desdemona? Das neue Ensemblemitglied Gabrielle Mouhlen, blond, lange Beine, steckt in einem ungeheuer schnulzigen Hochzeitskostüm, als sie wie von ungefähr im Hintergrund der Bühne auftaucht, wenn das Orchester die wundervolle Cello-Einleitung zum Duett „Già nella notte densa“ anstimmt. Gabriele Rupprecht (Kostüme) will die Figur mit diesem Aufzug nicht denunzieren, sondern kennzeichnet sie als Projektion: eine nur vordergründig reale Gestalt, in der sich alles zusammenfasst, was der Macho vom Objekt seiner Begierde, von der Projektionsfläche seiner Fantasien erwartet. Wenn „Venus leuchtet“, hockt Desdemona wie ein Incubus auf dem liegenden Otello – ein geschmackloses Bild, das genau in diesem Moment unheimlich sinnhaft wird: Der Mann der Siege erliegt der Macht seiner unbewussten Vorstellungen.

Gabrielle Mouhlen (Desdemona) und Gaston Rivero (Otello). Foto: Thilo Beu

Gabrielle Mouhlen (Desdemona) und Gaston Rivero (Otello). Foto: Thilo Beu

Gabrielle Mouhlens stets mit kühlem Metall versetzte Stimme, im Piano nicht schmeichelnd oder schmelzend, passt zu dieser unwirklich unerotischen Desdemona. Die Taschenlampen, mit denen die Venezianer im dritten Akt auftreten, sind einmal kein abgelebtes Versatzstück des Regietheaters, sondern lassen die Katastrophe vorscheinen, in die Otello, wild um sich schlagend, hineintaumelt. Desdemona, sein letztes, klischeehaftes Ideal, einziger Halt im verletzlichen Winkel seiner verhärteten Seele, ist im vierten Akt gefangen zwischen den kaltsilbernen Lamellen der klackend sich schließenden Jalousien. Der Mord ist kein Vorgang äußerer Realität: Er ereignet sich unsichtbar im grellen, gegen die Zuschauer gerichteten Scheinwerferlicht. Danach kauert ein gebrochener Mann in der entsetzlichen Leere seiner Existenz: „Otello fu.“ Es gibt ihn nicht mehr. Und Jago hinterlässt zynisch eine teuflische Spur von Schwefeldampf.

Weitergeführte Kriegs-Metaphorik

Roland Schwab führt in seiner Otello-Version mit schlüssiger Konsequenz die Kriegs-Metaphorik fort, die er bereits in seiner Augsburger Inszenierung von Bedřich Smetanas selten gespieltem „Dalibor“ (demnächst ist die Oper auch in Frankfurt zu sehen) – dort noch ein Stück zu gegenständlich – eingesetzt hat. Das Essener Aalto-Theater hat damit eine beachtliche Alternative zu Michael Thalheimers nachtschwarzem Psychodrama an der Deutschen Oper am Rhein geschaffen, das im April wieder in Düsseldorf zu sehen ist – dort als ausweglose Geschichte zweier Außenseiter im Raum einer Paranoia, die selbst ein harmlos-naives Requisit wie das Taschentuch zum Existenz zerstörenden Fanal vergrößert. In Essen spielt das „fazzoletto“ auch eine Rolle – als zynisches Signal, das Otellos fiebrige Wahnwelt anheizt, bis die finale Zersetzung beginnt.

Enttäuschende Performance des Dirigenten

Essen hätte also eine fulminante Premiere erleben können, wäre da nicht die enttäuschende Performance des italienischen Dirigenten Matteo Beltrami gewesen. Er glättet Verdis Dramatik zu einem lyrisch grundierten Moderato, das wie ein fauler Kompromiss zwischen einem faden Gounod und einem zahnlosen Massenet wirkt: Der brachiale Orchesterschlag zu Beginn ohne Schärfe, die Piani ohne Drohung, das Fortissimo ohne Aufruhr und Katastrophenahnung. Die Artikulation des Orchesters ohne Bestimmtheit, ohne zupackende Erregung. Der Wechsel zwischen angespanntem Drive und gefährlich dräuender Entspannung ohne Biss. Die schwärmerischen, sehnsuchtsvollen, aufbrausenden, leuchtenden Momente des Duetts Otello – Desdemona im ersten Akt glattgebügelt zu einem gefällig-unverbindlichen Moderato.

Blässliche Akkuratesse also im Graben zu starken Bildern auf der Bühne. Dazu kein fokussierter Ton des Chores: Jens Bingert mag sein Bestes gegeben haben, aber die federnden Tänzchen am Dirigentenpult bleiben ohne Resonanz, und über die Präzision zieht sich so mancher Schleier. Beltramis leidenschaftsloses Verdi-Exerzieren hat bereits nicht in „Il trovatore“ und noch weniger in „Rigoletto“ überzeugen können. Ein Rätsel, warum man sich für diese wichtige Premiere wieder auf einen derartigen Mangel an Profil eingelassen hat.

Jago triumphiert auch als Sänger

Von den männlichen Protagonisten sichert sich der Jago von Nikoloz Lagvilava auch vokal den Triumph: Sein durchsetzungsfähiger Bariton basiert auf einer sicheren Stütze ohne doppelten Boden atemtechnischer Tricks, behält in der Höhe Rundung und Fülle und schillert in der Tiefe in einer satt-gefährlichen Farbe. Die Duette mit Otello strotzen vor Kraft, ohne dass dem Ton Gewalt angetan würde. Der Mann kennt keinen durch sfumature abgetönten Zweifel; auch sein „Credo“ ist ein Bekenntnis ohne Zwischentöne. Dieser Jago ist keine philosophische Gestalt, sondern ein abgebrühter Verbrecher.

Gaston Rivero hält in den Ausbrüchen, in denen sich seine Realität immer unverrückbarer verschiebt, in Kraft und Nachdruck mühelos mit. Aber seine Rolle braucht die gebrochenen Momente, die Palette emotionaler Farben von der Erinnerung an einstigen Seelenfrieden über die unkontrollierbare Glut bis hin zur tonlosen Erschöpfung des Endes. Da fehlen der soliden Mittellage dann die Farben des Sarkasmus; da flackert der Lyrismus des Duetts mit Desdemona; da fehlen in „Dio! Mi potevi scagliar …“ die Schmerzenstöne über den verlorenen inneren Halt.

Carlos Cardoso macht mit strahlendem Timbre und einer präsenten Emission auf sich aufmerksam; sein Cassio ist auch als Figur gelungen. Dass Bettina Ranch im Finale nur aus einem blechernen Off erklingt, ist schade, aber konsequent; ihre Präsenz auf der Bühne ist eher die einer Aufseherin als die der mitfühlend-ahnungslosen Gefährtin. Dmitry Ivanchey als Rodrigo, Tijl Faveyts als Lodovico, Baurzhan Anderzhanov als Luxusbesetzung für Montano und Karel Martin Ludvik als Herold ergänzen das Ensemble.

Weitere Vorstellungen: 8., 20., 27. Februar; 9. März; 7., 18. April; 12. Mai; 28. Juni 2019.
Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/otello/




Die Abgründe der Durchschnittstypen: Tatjana Gürbaca inszeniert Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“

"Lebt denn kein Gott?" Max (Maximilian Schmitt) wird von der abergläubischen Dorfgemeinschaft mit Kreuzsymbolen behängt (Foto: Martin Kaufhold)

„Lebt denn kein Gott?“ Max (Maximilian Schmitt) wird von der abergläubischen Dorfgemeinschaft mit Kreuzsymbolen behängt. (Foto: Martin Kaufhold)

„Das Böse ist immer und überall“, sang einst eine Band österreichischer Blödelbarden mit dem schönen Namen Erste Allgemeine Verunsicherung. Das war zwar reichlich unernst gemeint, könnte unter Aussparung der Ironie aber das Motto gewesen sein, dem die Berliner Regisseurin Tatjana Gürbaca in ihrer Neufassung der Oper „Der Freischütz“ folgte. Das Schauerstück von Carl Maria von Weber, das jetzt im Essener Aalto-Theater Premiere hatte, spaltete das Publikum in Buh- und Bravo-Rufer.

Max (Maximilian Schmitt) wird von Ängsten geplagt. (Foto: Martin Kaufhold)

Gottesfern ist die von Ängsten und Aberglauben dominierte Welt nach dem Dreißigjährigen Krieg, in der Gürbaca und ihr Team die Handlung ansiedeln. Damit folgen sie den Vorstellungen des Komponisten und seines Librettisten Johann Friedrich Kind. Umstellt von schwarzen Häuschen mit spitzem Giebel (Bühne: Klaus Grünberg), kämpft der glücklose Jägersbursche Max um die Hand seiner geliebten Agathe, mit dem sinistren Freund Kaspar als zwielichtigem Helfer.

Aber die detailgenau gestalteten Kostüme von Silke Willrett lassen das Geschehen durch die Zeiten wandern. Zunächst klar die Mitte des 17. Jahrhunderts zitierend, rücken sie im Laufe des Abends immer näher an die Gegenwart heran. Am Ende stolpern Durchschnittstypen in Jogginghosen durch das, was vom deutschen Wald noch übrig ist: ein am Boden liegendes Gestrüpp, das allen Darstellern zur Fußangel wird.

Pardon wird nicht gegeben

Die inzwischen mehrfach ausgezeichnete 45-jährige Regisseurin, die ihr Handwerk unter anderem bei Ruth Berghaus und Peter Konwitschny lernte, spürt in der heimlichen deutschen Nationaloper Abgründen nach, die lange vor der berühmten Szene in der Wolfsschlucht wirkmächtig sind. Die Bewohner ihres archetypischen Dorfes sind der eigentliche Albtraum: Sie setzen Max unentwegt zu. Unerbittlicher Erfolgsdruck wird in dieser Gemeinschaft sekundiert von allzu rascher Bereitschaft zu Spott und Hohn. Da können kichernde Frauen in Kittelschürzen noch so hell von veilchenblauer Seide trällern: Der dörfliche Mikrokosmos ist ein finsteres Nest. Pardon wird in dieser Welt nicht gegeben.

Die komplett schwarze Bühne von Klaus Grünberg könnte auch als Kulisse für Otfried Preußlers „Krabat“ dienen. Mit Kreide sind magische Zeichen wie das Satorquadrat und ein Heptagramm an die Fassaden gekritzelt. Den okkulten Symbolen steht ein unvollendetes Kreuz mit der Aufschrift GOTT in Spiegelschrift gegenüber. Mitten auf dem Dorfplatz klafft ein Loch im Boden, aus dem in der Wolfsschluchtszene Düsteres an die Oberfläche steigt.

Blutiges Ritual: Kaspar (Heiko Trinsinger) beim „Gießen“ der Freikugeln. (Foto: Martin Kaufhold)

Dass dies psychologisch gemeint ist, Gürbaca mithin den Menschen selbst als Hort der Dämonen sieht, wird überdeutlich, wenn Kaspar die Freikugeln mit blutigen Händen aus Maxens Körper wühlt. Folgerichtig antwortet Samiel im Aalto-Theater nicht als unsichtbare Stimme aus dem Off. Es ist die Dorfgemeinschaft selbst, die mit dem Rücken zum Publikum die Zahl der Freikugeln mitzählt: seufzend zunächst, schauerlich flüsternd, dann zunehmend wüster und lauter.

Sinnlos gewordene Bräuche

Bis zum fatalen Probeschuss auf die weiße Taube erzählt die Regie stringent von alten Bräuchen und Machtstrukturen, die in einer vom Krieg komplett veränderten Welt schräg und sinnlos wirken. Den Rest der Oper gestaltet sie als Epilog, als eine Folge von Standbildern, die das Happy End durch den Eremiten verneint. Bewundernswert rasch und punktgenau wechseln die Choristen des Aalto-Theaters die Positionen, um diese symbolträchtigen Genrebilder entstehen zu lassen.

Gürbaca und ihr Team bieten so viel Futter für Auge und Hirn, dass es mancherorts gleich für drei Inszenierungen reichen würde. Ohne Schonung sezieren sie dabei Provinzialismus und Neid, kollektive Traumatisierungen, übersteigerte Traditionspflege und eine nachgerade gemütliche Spielart der Grausamkeit. Was „deutsch und echt“, interessiert sie weniger als gesellschaftliche Strukturen, die bis in unsere Zeit hineinwirken.

Kaspar (Heiko Trinsinger,l.) überredet Max (Maximilian Schmitt) zum nächtlichen Ausflug in die Wolfsschlucht. (Foto: Martin Kaufhold)

Das musikalische Niveau steht dem der Inszenierung kaum nach. Der aufstrebende Tenor Maximilian Schmitt ist ein Max, wie man ihn sich nur wünschen kann: mit lyrisch-leuchtendem Timbre, gleichwohl grundiert vom Unterton nagender Ängste. Ihm gelingt das vielseitige, spannende Porträt eines Gequälten, dem der Weg zur Liebe versperrt scheint. Ensemblemitglied Jessica Muirhead findet als Agathe aus dem Ton dunkler Vorahnungen zu den innig leuchtenden E-Dur-Klängen ihrer zentralen Arie („Und ob die Sonne“). Stark auch Heiko Trinsinger, der seinen Kaspar von rau-jovialen Tönen zu dämonischer Kraft steigert. Viel Applaus erntet Tamara Banjesevic für ihre Darstellung des Ännchens, dessen Fröhlichkeit bei ihr weniger naiv als beherzt wirkt.

Schauerromantik trotz Schönklang

Aus dem Orchestergraben steuern die Essener Philharmoniker unter ihrem Chef Tomas Netopil Glanzvolles und Gruseliges hinzu. Hörner und Holzbläser zaubern Waldesidylle herbei, die Streicher spielen mit wendigem Esprit. Gewiss wäre auch eine Lesart mit schärferen Kanten denkbar, aber die Schauerromantik kommt trotz Schönklang nicht zu kurz. Leise Tremoli ziehen auf wie gespenstischer Nebel. Dazu tönt dumpfer Paukenschlag, als stockte das Herz. Die Chöre, ebenfalls in erfreulicher Verfassung, zeigen viele Facetten. Als hohnlachende Dörfler, heitere Brautjungfern und gut gelaunte Jäger sind sie stimmlich präsent, aber auch als flüsternde und stöhnende Untote in der Wolfsschlucht.

Mit einer feierlich-stummen Kranzniederlegung beenden Gürbaca und ihr Team, was sie als „Requiem auf ein Dorf“ bezeichnen. Dazu zeigt eine Videoprojektion Bahngleise, die weiß Gott wohin führen mögen.

(Informationen und Termine: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/der-freischuetz/)




Zwischen Kinderspiel und Abstraktion: Die Regisseurin Lotte de Beer wagt sich in Essen an „Carmen“ von Georges Bizet

Zwei Kinder-Toreros beobachten, wie sich das Drama von Don José (Luc Robert) und Carmen (Bettina Ranch) entfaltet (Foto: Matthias Jung).

Zwei Kinder-Toreros beobachten, wie sich das Drama von Don José (Luc Robert) und Carmen (Bettina Ranch) entfaltet (Foto: Matthias Jung).

Wenn die Beleuchtung auf Violett wechselt, haben zwei Kinder das Wort. Über die Tonanlage des Essener Aalto-Theaters legen sie Carmen, Don José und Escamillo die französische Sprache in den Mund, während die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne stumm dazu agieren. Mit dieser selbst erstellten Dialogfassung lösen Lotte de Beer und ihr Regieteam das Kuddelmuddel um die Oper „Carmen“, die in so vielen Versionen überliefert wurde, dass ihr späterer Welterfolg schier verwundern muss.

Wer hält hier wen gefangen? Carmen (Bettina Ranch) umgarnt Don José (Luc Robert. Foto: Matthias Jung)

Die womöglich populärste Oper aller Zeiten in Szene setzen zu müssen, dürfte eine Art Regie-Albtraum sein. Wie den Zigeunerklischees entkommen, dem Stierkampfbrimborium und den Geschlechterstereotypen? Das ist fürwahr kein Kinderspiel – oder vielleicht doch?

Die Niederländerin Lotte de Beer dreht den Spieß mutig um. Direkt nach der Ouvertüre springen zwei Mini-Toreros über die Bühne, prachtvoll ausstaffiert, aber vermutlich nicht älter als acht Jahre. Ihnen sehen wir in den folgenden vier Akten zu, wie sie „Carmen“ spielen. Georges Bizets vermeintlich totinszeniertes Meisterwerk erhält durch diesen Kniff eine Meta-Ebene, die das sattsam bekannte Stück wieder erträglich macht, ihm sogar eine neue Leichtigkeit verleiht.

Die Bühne ist dabei so leer, als habe Wieland Wagner diese „Carmen“ posthum entrümpelt. Keine Zigarettenfabrik, keine Schenke, keine Bergschlucht und keine Stierkampfarena, sondern lediglich eine kreisrunde Spielfläche, die zugleich öffentlicher Platz und Arena ist. Außer einem kleinen Zelt, das die Kinder während eines Zwischenakts aufbauen, gibt es keinerlei Requisiten.

Männlein wie Weiblein streifen sich in der Essener Neuproduktion den Rock über (Foto: Matthias Jung)

Als sei dieser hohe Abstraktionsgrad noch nicht genug, treten Choristen und Gesangssolisten nahezu einheitlich gekleidet auf. Rote Hosen, weiße Hemden und braune Westen bestimmen die Kostüme, die angenehm zurückhaltend und edel wirken (Clement & Sanôu). Mag Carmen ihren Rock auch ein wenig höher über das Knie lüften als ihre Kameradinnen, von bunten Tüchern, Goldschmuck und Flitter ist nichts an ihr zu sehen. Sie nimmt auch nicht an dem munteren Klamottentausch zwischen den Choristen und Choristinnen teil, mit dem die Regie die Geschlechterrollen in Frage stellt.

Die Personenführung ist stark aus der Musik heraus entwickelt. Chöre und Ensembles bewegen sich wie nach einer Choreographie: Sie greifen Schwung und Rhythmus von Bizets Partitur auf und treiben das Rad der Handlung unentwegt nach vorne. Zuweilen frieren die bewegten Tableaus aber auch zu Standbildern ein, die mit weißem Licht wie aus dem Dunkel der Aalto-Bühne heraus geschnitten scheinen. Überhaupt kommt der Ausleuchtung des Raums hier große atmosphärische Bedeutung zu (Licht: Alex Brok).

Wenn Carmen und José sich unterhalten, wechselt das Licht auf violett (Foto: Matthias Jung)

Schwächer gelingt die Charakterisierung der Figuren. Soll diese Carmen nun eine Femme fatale sein oder eine Femme fragile – oder weder noch? In Essen wirkt sie trotz roter Haarpracht beinahe wie eine unter vielen, was den Kontrast zu ihrer Gegenspielerin Micaëla schmälert, der frommen Bürgerstochter, die ebenfalls um Don Josés Liebe kämpft. Escamillo trägt den rotweißen Einheitsdress. Die Kinder-Toreros folgen ihm wie Schatten, zuweilen hebt er sie auf seine Schultern. Selbstgewissheit oder gar Machismo nimmt man diesem Mann nicht wirklich ab. Alles bleibt Behauptung.

Carmen (Bettina Ranch, r.) und die Schmuggler nehmen Leutnant Zuniga gefangen (Foto: Matthias Jung)

Die Stimmen klingen am Premierenabend oft ein wenig verloren auf der riesigen Bühnenfläche. Die Berlinerin Bettina Ranch, seit 2016/17 Ensemblemitglied der Essener Oper, bedient als Carmen gekonnt die Palette der schmeichlerischen bis schneidenden Töne.

Aber abseits von Habanera und Seguidilla besitzt ihr Mezzo gerade eben noch genug Volumen, um José einzuheizen. Da erntet Jessica Muirhead für die Felsenarie der Micaëla beinahe mehr Szenenapplaus. Dem steifen Bassbariton von Almas Svilpa (Escamillo) merkt man die vielen Auftritte als Wotan, Holländer und Jochanaan deutlich an. Der Kanadier Luc Robert gönnt uns als Don José einen feinen Spinto-Tenor und eine sensibel gestaltete Blumenarie.

Am Dirigentenpult setzt Saarbrückens GMD Sébastien Rouland die Partitur mit dem rechten Esprit unter Zug und Spannung. Unter seiner Leitung steigen die wunderbaren Girlanden des Zigarettenrauchs der Fabrikarbeiterinnen zart, aber ohne süßliches Parfüm in die Luft. Was Schmiss und Schwung braucht in den großen Chören und den Torero-Musiken, laden die Essener Philharmoniker zudem mit federnder Eleganz auf. Schade, dass der Absprung in das rasante Schmugglerquintett bei der Premiere komplett daneben geht. Erst nach vielen Takten finden Sänger und Orchester endlich wieder zueinander.

Die exzellent singenden und agierenden Chöre, der Kinderchor und die Statisterie des Aalto-Theaters verschmelzen zu einer eindrucksvoll wogenden Masse, aus der heraus sich das Drama entwickelt. Sie bilden die Kulisse, vor der die Natur des Don José kenntlich wird: ein Korken auf stürmischer See, wie planlos umhergetrieben. Dass dieser Mann am Ende mordet, was er liebt, scheint unausweichlich. José fällt wie in Hyperions Schicksalslied: wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, blindlings von einer Stunde zur anderen.

(Termine und Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/carmen/)




Neue Rollen und ein Zuhause in Essen: Die kanadische Sängerin Jessica Muirhead erhält den Aalto-Bühnenpreis

Ihre Augen schauen groß und neugierig in die Welt, ihr Lachen füllt mühelos den Raum: Jessica Muirhead, Sopran am Aalto-Theater Essen, vermittelt den Eindruck eines Menschen, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Fast drei Jahre lebt die britisch-kanadische Sängerin nun schon in Essen – und sie bekennt, sich pudelwohl zu fühlen. Am Freitag, 22. Juni, erhält Jessica Muirhead nach der letzten Vorstellung von Heinrich Marschners „Hans Heiling“ den Aalto-Bühnenpreis 2018.

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Die kreative Neugier trägt Jessica Muirhead in sich: Sie freut sich auf neue Rollen, wie zurzeit in Marschners selten gespielter Oper, in der sie Anna, die Braut des düsteren Erdgeistes Hans Heiling singt. Eine Partie, die sie völlig überrascht hat: „Ich kannte diese Oper überhaupt nicht“, gesteht sie, „und war von Anfang an begeistert, wie schön diese Rolle ist. Warum ist solche Musik nie zu hören, nicht einmal im Konzert?“

Für Jessica Muirhead steht fest: Diese Arie der Anna („Weh mir, wohin ist es mit mir gekommen“) wird sie weiterhin singen, wenn möglich, schon in einem kommenden Konzert in London. Lachend stellt sie fest: „Ich habe ja auch die Elsa in ‚Lohengrin‘ gesungen. Und jetzt gemerkt, wie Wagner von Marschner geklaut hat!“

Als das ständige Reisen keine Freude mehr machte

Neue Rollen sind für die Sängerin ein wesentlicher Grund gewesen, 2015 den Vertrag mit Essen zu unterschreiben. Für ihre Karriere kam das Angebot des Aalto-Theaters zur rechten Zeit. Gut zehn Jahre war Jessica Muirhead frei tätig, hat in Lissabon und Toronto, im slowenischen Maribor und beim irischen Wexford Opera Festival gastiert. „Als ich London verlassen habe, hatte ich für drei oder vier Jahre nicht einmal mehr eine eigene Wohnung.“ Eine schöne, spannende Zeit, aber nichts auf Dauer: „Anfangs hat es Spaß gemacht, immer unterwegs zu sein. Nach einiger Zeit nicht mehr.“

Neue, spannende Rollen wünscht sich Jessica Muirhead, so wie die Katerina in Bohuslav Martinus "Griechische Passion", eine ihrer ersten Partien am Aalto-Theater. Foto: Matthias Jung

Neue, spannende Rollen wünscht sich Jessica Muirhead, so wie die Katerina in Bohuslav Martinus „Griechische Passion“, eine ihrer ersten Partien am Aalto-Theater. Foto: Matthias Jung

So kam der Schritt in ein festes Ensemble gerade zum rechten Augenblick: Anfangs hatte sie Angst, auf zwei Jahre zu unterschreiben. Jetzt sei sie froh darüber. Schon beim Vorsingen, so bekennt sie, habe ihr die Atmosphäre am Haus zugesagt: „Ich habe gleich gemerkt, wie unterstützend hier alle sind. Die Leute am Aalto sind wunderbar, hinter, neben, unter und auf der Bühne. Ich habe viel anderswo gearbeitet – da war immer Stress. Hier ist das nicht so, hier passt das Ensemble.“ Bis 2019 läuft ihr Vertrag, aber Jessica Muirhead lässt durchblicken, dass sie gegen eine Verlängerung nichts einzuwenden hätte.

Debüt an der Wiener Volksoper

Mehr oder weniger auf Wanderschaft war Jessica Muirhead immer, seit sie nach ihrem Master of Music an der McGill University Montreal und einem Sieg in einem Wettbewerb ihren ersten Auftritt in Europa hatte: Am 13. Januar 2006 debütiert sie in der „Zauberflöte“ an der Wiener Volksoper in der Inszenierung Helmut Lohners, von der sie heute noch schwärmt. Es folgten ein Residenzvertrag und weitere Rollen: Micaëla in Bizets „Carmen“, Antonia in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ und Agathe in Webers „Freischütz“ – eine Rolle, die sie im Juli an der Seite von Torsten Kerl als Max im Hyogo Performing Arts Center in Japan und auch 2018/19 am Aalto-Theater gestalten wird.

Jessica Muirhead als Elsa in Richard Wagners "Lohengrin" am Aalto-Theater Essen. Foto: Forster

Jessica Muirhead als Elsa in Richard Wagners „Lohengrin“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Forster

Auf Dauer war Wien – obwohl inzwischen zu ihrer Lieblingsstadt avanciert – jedoch keine Perspektive für die junge Frau aus Kanada: An der Volksoper wurde alles auf Deutsch gesungen und das Repertoire, das ihr angeboten wurde, war zu schmal. Jessica Muirhead bekam einen Residenzvertrag in München und sang an der Staatsoper Musetta in Puccinis „La Bohème“, ein Blumenmädchen im „Parsifal“ und eine Magd in Richard Strauss‘ „Elektra“. Und sie gastierte: als Alice in Verdis „Falstaff“ in Glyndebourne, als Vreli in Frederick Delius‘ von ihr sehr bewunderten Rarität „A Village Romeo and Juliet“ („Romeo und Julia auf dem Dorfe“) beim Wexford Opera Festival, an der Semperoper Dresden als Mimí in „La Bohème“ und Marguerite in Charles Gounods „Faust“.

Attraktive Rollen in Essen

Essen konnte der auf Neues erpichten Sängerin nicht nur ein Zuhause und ein funktionierendes Ensemble mit einem freundlichen Arbeitsklima bieten, sondern auch ergiebige neue Rollen, von Katerina in Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ über Rosalinde in der „Fledermaus“ bis zu ihren Rollendebüts als Elsa in „Lohengrin“ und Marie in Bedřich Smetanas „Die verkaufte Braut“.

In der nächsten Spielzeit freut sie sich auf ihre erste „Rusalka“ – die Wiederaufnahme von Antonín Dvořáks symbolistischer Märchenoper ist am 15. Juni 2019 –, auf „Luisa Miller“ als ihre dritte Verdi-Partie nach Alice („Falstaff“) und Violetta („La Traviata“), auf Wagners „Sieglinde“ im „Ring an einem Abend“ und auf ihre Repertoire-Partien wie Micaëla in der Neuinszenierung des Bizet-Klassikers „Carmen“ von Lotte de Beer mit Sébastien Rouland am Pult ab 13. Oktober, Donna Anna in Mozarts „Don Giovanni“ und Puccinis Mimí in „La Bohème“.

Bisher kaum Belcanto gesungen

Was auffällt: Jessica Muirhead ist von Monteverdi bis Britten in vielen musikalische Stilrichtungen eingetaucht und hat sich mit sechs großen Partien als Mozart-Sängerin qualifiziert. Aber sie hat kaum Belcanto gesungen: keinen Bellini, keinen Donizetti, nur wenig Verdi. Eine Lücke, die Jessica Muirhead gerne schließen würde, aber: „Das liegt an den Angeboten. Zuerst habe ich viel Mozart gesungen, dann kam die französische Oper. Ich hatte anfangs auch Schwierigkeiten mit Koloraturen. Meine Stärke sind lange Linien mit hohen Pianissimi. Aber jetzt fühle ich mich fit, etwa für eine Gilda in Verdis ‚Rigoletto‘, die ich immer schon einmal singen wollte. Oder für Gaetano Donizettis ‚Maria Stuarda‘.“

Auch für diese Wünsche setzt Jessica Muirhead auf das Ensemble: „Freiberuflich ist es schwierig, neue Rollen zu bekommen oder in eine andere Richtung fortzuschreiten. An einem Ensemble-Haus wie Essen kann ich neue Partien für mich entdecken. Und mit Hein Mulders und Tomáš Netopil überlegen, was ich im nächsten Schritt singen könnte. Hier habe ich die Möglichkeit, meine Stimme in Ruhe zu entwickeln.“

In dieser Spielzeit singt Jessica Muirhead am Freitag, 22. Juni noch die Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“. In der neuen Spielzeit geht’s für sie los mit Micaëla in Georges Bizets „Carmen“ am 13. Oktober, gefolgt von Mimí in der Wiederaufnahme von Puccinis „La Bohème“ am 2. November 2018. Info: www.theater-essen.de




Das Eis der Adria: Winterliche „Nacht in Venedig“ als konsequente Erneuerung der Operette am Aalto-Theater Essen

Wie nähert man sich, nach einer Generation langsamen Erstickens der Operetten-Tradition, diesem Genre des Musiktheaters heute? Noch dazu einer „Nacht in Venedig“ von Johann Strauß, die mit ihren harmlos-heiteren Verwechslungsmaskeraden nicht zu den besten Libretti von Friedrich Zell und Richard Genée gehört?

Auf dünnem Eis: Elbenita Kajtazi (Annina) und Caramello (Albrecht Kludszuweit) im winterlichen Venedig im Aalto-Theater. Foto: Jörg Landsberg

Auf dünnem Eis: Elbenita Kajtazi (Annina) und Caramello (Albrecht Kludszuweit) im winterlichen Venedig im Aalto-Theater. Foto: Jörg Landsberg

Das Aalto-Theater hat sich nach verflixten sieben Jahren der Enthaltsamkeit entschlossen, für die erste Operetten-Neuproduktion der Intendanz Hein Mulders auf einen local hero zu setzen. Man verpflichtete Bruno Klimek, Professor für szenische Ausbildung im Studiengang Gesang/Musiktheater an der Folkwang Universität der Künste.

Das Ergebnis war zu erwarten: Klimek macht mit seinem Bühnenbildner Jens Kilian und der kreativen Kostümfrau Tanja Liebermann die gute alte Operette nackt. Er streift ihr den bunten Karnevalsdress ab, reißt ihr die mondänen Ballroben vom Leibe und schält sie aus den folkloristischen Fischermädchenkleidchen. Aber mehr noch: Er entblößt sie von den veralteten Sentenzen Zells und Genées, schreibt die Dialoge quasi alle neu, greift vereinzelt auch in die Gesangstexte ein. Manchmal verfehlt er den Stil: Dass Herrn Delaqua, seines Zeichens Senator der Serenissima, etwas „glatt am Arsch vorbei“ geht, ist ein gutes Stück zu pöbelhaft als Ersatz für Wiener Wortwitz.

Niente Carnevale!

Die Entscheidung greift tief ein, ist aber gut begründbar: Klimeks gereimte Pointen sind – wie die alten Albernheiten auch – Geschmackssache, aber sie sitzen und sie kommen auch an. Das Publikum bricht selten in offene Heiterkeit aus, schmunzelt aber doch über manche Pointe. Vor allem kann Klimek so die Konstellation der Figuren schärfen: Die Mädels Annina und Ciboletta sind nicht mehr die koketten Dummchen, sondern profilieren sich über die überlebenswichtige Fischhandels- und Zofen-Schläue hinaus als selbstbewusste weibliche Wesen. Sie lassen sich von den Herren der Schöpfung nichts sagen. Sie spielen ihr eigenes Spiel und schauen auf ihr eigenes Vergnügen.

"Frutti di Mare!" bietet Elbenita Kajtazi alias Annina feil. Foto: Jörg Landsberg

„Frutti di Mare!“ bietet Elbenita Kajtazi alias Annina feil. Foto: Jörg Landsberg

Niente Commedia dell’arte, niente Carnevale: Tanja Liebermann verordnet der Schaulust Askese, wo sie das Historisch-Dekorative suchen will. Schon als Christina Clark, alias Ciboletta, aufgeregt vor dem geschlossenen Vorhang herumstöckelt, wissen wir: Ihr gelbes Ölzeug eignet sich vor allem zum Schutz, wenn sich ostfriesische Himmelsfluten nach südlich der Alpen verlagern und „aqua alta“ droht. Öffnet sich der Vorhang, erleben wir, dass auch in Venedig zur Karnevalszeit Winter herrscht: Es schneit, die Menschen haben Mäntel an, zittern, frieren, rutschen auf Glatteis aus.

Dass es dabei schmerzhafte Stürze geben kann, macht Martijn Cornet als Pappacoda bewusst. Der Arme ist Neapolitaner und mit venezianischen Klimafallen nicht vertraut. Und je mehr billigen Korbflaschenwein er in sich hineinschüttet, desto heftiger kommt er zu Fall. Liebermann hat ihn mit fischgrätengemusterter Hose, Sakko, Schal, Scheiter und Brille ausstaffiert wie einen Dramaturgen der siebziger Jahre – wäre da nicht der Riesentopf mit, nun ja, Spaghetti drin. Klimek lässt die Figur immer weiter in Slapstick abgleiten. Das funktioniert nicht; auch das Publikum nimmt die traurige Show regungslos hin.

Lustvoll ausgestellte Klischees

Dekor spielt in Klimeks Inszenierung eine Rolle, wenn er nämlich ganz Venedig dazu erklärt: Jens Kilian hat in den Hintergrund der weiträumigen Aalto-Bühne ein Spielzeug-Venedig gebaut, an dem sich in regelmäßigen Abständen riesige Kreuzfahrtschiffe vorbeischieben. Dass die Miniatur-Palazzi wackeln und von einem Bühnenarbeiter (Hans-Günter Papirnik) immer wieder zurechtgerückt werden müssen, dass sie schließlich komplett zusammenstürzen, ist mehr als eine Anspielung auf die aktuelle Debatte um die Schäden, die diese Riesenpötte an der historischen Bausubstanz verursachen. Klimek entlarvt, dass es gar nicht um Venedig geht – die Stadt ist für die geschätzt 30 Millionen jährlicher Touristen eben vor allem eine Dekoration für schöne Tage.

So stellt die Regie Klischees in Frage – oder stellt sie lustvoll aus, bis sie überdreht in sich zusammenbrechen. In der fast schon mathematisch choreografierten Exposition des ersten Akts rast regelmäßig eine kreischende Weiberhorde über die Bühne: „Er“ wird erwartet, der Herzog, der Macho, dem alle weiblichen Wesen gern und willig zu Füßen liegen. Teenie-Starkult mit reifen Damen, das ist erst witzig, dann nervig. Aber so ist es kalkuliert.

Natürlich werden die Erwartungen enttäuscht: Eine riesige Gangway herab schreitet nicht der Herzog, sondern stolpern die ganz „normalen“ Männer, etwa Caramello, der Leibbarbier des Herzogs. Albrecht Kludszuweit gestaltet diese Rolle mit dem Hintergrund eines operettenerfahrenen Sängers und Darstellers, der noch dazu die Höhenbrillanz und den Sinn für Phrasierung hat, um Schlager wie „Komm in die Gondel“ zu blitzenden musikalischen Sternen zu veredeln.

Die Herrlichkeit des Gockels ist in wenigen Sekunden vorbei

Als dann der tolle Mann endlich eintrifft, ist der Auftritt eine unspektakuläre Enttäuschung für die Ladies. Dennoch reißen sie Dmitry Ivanchey erst mal die Kleider vom Leib, so dass aus der schillernden Adriano-Celentano-Figur ein Normalo in biedern Boxershorts wird, raffen ihre Beute und eilen von hinnen. Die Dekonstruktion der „Gockelherrlichkeit“, wie es Klimek im Programmheft nennt, vollzieht sich in wenigen Sekunden. Ivanchey singt sein „Der Mond hat schwere Klag‘ erhoben“ zwar dynamisch differenziert, aber ohne Charme und Schmelz – da fehlt die Erfahrung mit dem Idiom der Operette.

Auf der weiten, klar strukturierten und mit stimmungsvollen Symbolbildern gestalteten Bühne treibt die muntere Handlung immer weiter ins Absurde. Am Ende des zweiten Aktes schiebt sich der Chor des Aalto-Theaters – dem es spürbar schwer fällt, die Leichtigkeit der Darstellung, wie sie die Operette braucht, zu realisieren – in verblichenen Ballkleidern und aufgetürmten Frisuren aus der Zeit des Endes der Serenissima aus dem Hintergrund. „Karneval ruft zum Ball, der ist Souverän“ wird zum Totentanz, die Gesellschaft bricht auf dünnem Eis ein und versinkt.

Gespenster-Karneval der Vergangenheit: Der Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Jörg Landsberg

Gespenster-Karneval der Vergangenheit: Der Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Jörg Landsberg

Der dritte Akt verschärft die Groteske, wenn im Nebel nur noch Namen gerufen werden und Karel Martin Ludvik, der während der zweidreiviertel Stunden ständig seine Frau sucht, vollends zum wiedergängerischen Gespenst wird. Der zügel- und regellose Karneval wird zum verwirrten Endspiel, in dem einsame Menschen im Dunkel jede Orientierung verlieren. Und die Lösung? Die ist so angeklebt wie (fast) jedes Operetten-Happy-End: Man verabredet sich zum nächsten Karneval!

Luxus-Besetzung in der Fassung von Erich Wolfgang Korngold

Liebestraum im Winter: Liliana de Sousa (Barbara) und Carl Bruchhäuser (Enrico Piselli). Foto: Jörg Landsberg

Liebestraum im Winter: Liliana de Sousa (Barbara) und Carl Bruchhäuser (Enrico Piselli). Foto: Jörg Landsberg

Das Aalto-Theater Essen spielt die Fassung von Erich Wolfgang Korngold. Kapellmeister Johannes Witt lässt mit den Essener Philharmonikern die farbige, klangsinnliche Instrumentierung leuchten und zeigt sich – als versierter Dirigent im Ballett – vor allem mit Gespür für rhythmische Finessen. Wo Strauß auf Marschmusik setzt, ist Witt in seinem Element, wo er die flexible Agogik des Walzers freilassen sollte, reagiert er zu akkurat. Die Streicher sind in der Balance des Klangbilds leicht unterbelichtet, das Schlagzeug trumpft zu sehr auf. Aber Strauß‘ Operette ist ja auch in Berlin uraufgeführt worden – so ist ein preußisch-zackig aufgeputztes Venedig, das ein wenig nach Paul Lincke klingt, vielleicht gar nicht so unangebracht.

Die Besetzung am Aalto ist luxuriös – es zahlt sich eben aus, wenn ein Theater sorgfältige Ensemblepflege betreibt. Elbenita Kajtazi (Annina) turnt mit Luftballons in Fisch- und Krustentierform durch den Zuschauerraum auf die Bühne und preist ihre „frutti di mare“ mit einem Sopran an, der so frisch ist, wie der Meeresfang sein sollte. Die hoffnungsvolle Sängerin wechselt im Sommer an die Hamburgische Staatsoper, wo sie in Robert Schumanns Faust-Szenen debütiert. Kürzlich hat die gebürtige Kosovarin den Publikums- und den Dritten Preis im ersten Glyndebourne Opera Cup gewonnen

Christina Clarks Silberstimme ist seit Jahren eine Stütze des Musiktheaters, auch als Ciboletta setzt sie kratzbürstigen Charme und gewitzte Schläue als Lockmittel und Waffe ein. Liliana de Sousa hat eine wunderschöne Einlage zu singen und wertet mit ihrer cremigen Stimme die Rolle der Barbara auf, die sonst nur mit ihrem „Neffen“ Enrico, dem jungenhaften Carl Bruchhäuser, auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen für eine Liebesnacht ist. Peter Holthausen und Karl-Ludwig Wissmann bilden mit Karel Martin Ludvik das Trio der soignierten Senatoren, die vergeblich versuchen, ihre Frauen im Zaum zu halten – keine Chance: Marie-Helen Joël und Susanne Stotmeister wissen ihnen zu entkommen.

Die Frage, wie man heute Operette macht, hat das Aalto-Theater jedenfalls mit einer mutigen Inszenierung für sich entschieden: Keine billige Aktualisierung, sondern konsequente Erneuerung.

Die nächsten Vorstellungen: 7./10./16./21./29. Juni, 11./13. Juli, Wiederaufnahme am 14. September. Info: www.theater-essen.de




Glücksmomente: „Lohengrin“ zurück im Aalto-Theater

Für drei Vorstellungen kehrt Richard Wagners „Lohengrin“ ins Aalto-Theater zurück. Und auch aus dem Abstand von über einem Jahr und vor dem kritischen Blick auf die Wiederaufnahme kann diese Produktion als eine der besten im Essener Repertoire bestehen.

Szene aus dem Essener "Lohengrin": Heiko Trinsinger (Telramund, Mitte oben), Jessica Muirhead (Elsa, Mitte unten), Chor und Statisterie. Foto: Forster.

Szene aus dem Essener „Lohengrin“: Heiko Trinsinger (Telramund, Mitte oben), Jessica Muirhead (Elsa, Mitte unten), Chor und Statisterie. (Foto: Forster)

Das liegt nicht allein an der komplexen Regie von Tatjana Gürbaca, die dem Wunder Raum gibt, ohne es zu banalisieren oder vorschnell zu erklären. Das liegt auch am Einsatz der Essener Philharmoniker und ihrem GMD Tomáš Netopil. Und an einem Ensemble, das nicht mit Luxusglamour aufwarten muss, um musikalisch voll und ganz zu überzeugen.

Im Vergleich zur Premiere (4. Dezember 2016) hat Netopil seine Lesart noch verfeinert: Die Mischungen des Klanges sind noch detaillierter modelliert, die Spannung zwischen schwebender ortloser Piano-Kultur und auftrumpfender, blechglänzender Pracht ist noch kühner ausgereizt.

Was auf der anderen Seite auffällt, ist ein Hang zum Ästhetisieren: Netopil setzt auf leuchtende, erfüllte Klang-Ereignisse, poliert die Konturen und ummantelt das Bedrohliche, Verstörende in der Musik mit schwarzem Samt. Lässt er wie in satten, markant ausmusizierten Momenten der tiefen Holzbläser einen expressiven Ton zu, wird er zum Ereignis. In der Dynamik greift er beherzt zu – aber es darf ruhig einmal sein, dass die Stimme eines Sängers ins Orchester gebettet ist, statt sich darüber zu erheben.

Bei aller Vorsicht gegenüber der eigenen Erinnerung und derartigen Vergleichen: Die Elsa Jessica Muirheads hat, gemessen an der Premiere, Sicherheit und Reife gewonnen. Sie strahlt auch im tiefsten Unglück einen Wesenskern selbstbewusster Würde aus und lässt damit den existenziellen Zusammenbruch am Ende umso tragischer erscheinen. Stimmlich hat sie ihren strahlenden Ton gerundet und in dramatischen Momenten und exponierten Höhen sicher im Körper verankert.

Sergey Skorokhodov, der Lohengrin auch am Mariinskij-Theater in Sankt Petersburg singt, bringt Leichtigkeit und italienischen Schmelz mit in die Partie und wird damit der fragilen Sanftheit lyrischer Bögen ebenso gerecht wie der dramatischen Attacke. In der Gralserzählung trifft er den glanzvollen Quartsprung, der das heilige Gefäß charakterisiert, ebenso wie die schwebende Verzückung für den Schimmer des Wunders.

Auf der Höhe seines Könnens agiert Heiko Trinsinger. Parallel zu einer anderen großen Bariton-Partie, Heinrich Marschners „Hans Heiling“, singt er am Aalto den Telramund und gestaltet Trotz, Schmerz und Wurt dieses mehrfach genarrten, an der Konsistenz seiner Weltsicht verzweifelnden Mannes auf sicherem Fundament, mit präsentem Glanz und modellhafter Artikulation, frei und strömend im Klang. Seiner Partnerin Rebecca Teem als Ortrud fällt es nicht leicht, auf diesem Niveau mitzuhalten: Dazu ist der Ton zu wenig frei gebildet, zu erzwungen emittiert, zu unfreiwillig grell im Timbre. Packende Momente hat sie dennoch immer dann, wenn sie sich vokal nicht exponieren muss, sondern charakterisierend gestalten kann.

Frank van Hove singt einen milden König Heinrich, der sich redlich, aber vergeblich bemüht, zu verstehen, mit welchem Kraftfeld er es in Brabant zu tun bekommt; Karel Martin Ludvik ist ein Heerrufer, der seine Stärke im Zentrum ausspielt. Der Chor von Jens Bingert knüpft an seine überzeugende Leistung in der Premiere an; Carolin Steffen-Maaß hat die auf präzises Timing und deutliche Zeichensprache angewiesene Inszenierung Tatjana Gürbacas für die Wiederaufnahme so einstudiert, dass von entscheidenden Details der Personenregie bis zur Wirkung der Massenszenen nichts als verloren bemerkt werden könnte.

Essen hat einen „Lohengrin“, der sich getrost in die Konkurrenz mit anderen Bühnen werfen kann.

Weitere Vorstellungen am 22. April und 6. Mai.




Wenn der Hass triumphiert: Giuseppe Verdis „Troubadour“ als Bürgerkriegsstück im Essener Aalto-Theater

Manrico (Gaston Rivera, r.) zielt auf den Grafen Luna (Nikoloz Lagvilava. Foto: Matthias Jung)

Optimistische Sichtweisen sind Mangelware, wenn es um die Zukunft der Menschheit geht. So viele Endzeit-Szenarien haben Bücher und Kinofilme bereits durchgespielt, dass etwas anderes als der Untergang kaum noch denkbar scheint. Im Essener Aalto-Theater schnuppert jetzt Giuseppe Verdis „Troubadour“ an der Apokalypse.

Das französisch-niederländische Regieteam Patrice Caurier und Moshe Leiser deutet den von Verdi vertonten Bruderzwist als Bürgerkrieg und zitiert, dazu passend, aus dem Song „The Future“ von Leonard Cohen: „Ich habe die Zukunft gesehen, Bruder: Sie ist Mord.“

Vom Krieg traumatisierte: Azucena (Carmen Topciu) und ihr Sohn Manrico (Gaston Rivera. Foto: Matthias Jung)

Über den gesichtslosen Wartesaal oder Transit-Raum, in den die flüchtlingsgleich gewandeten Zigeuner stolpern, kommt das Geschehen lange nicht hinaus. Dort warten schon die fiesen Anzugträger rund um den Grafen Luna, um die Neuankömmlinge zu peinigen und zu erschießen. Azucena, eine vom Krieg traumatisierte Frau, wird im Bett liegend in die Szene geschoben. Statt auf den Amboss hämmert der sie umgebende Zigeunerchor auf das eiserne Bettgestell. Auf diese Weise umgeht die Regie die Folklore, aber der öde Amtsgeruch haftet der Inszenierung lange an.

Dann der Knalleffekt: Hubschrauber-Lärm, Suchscheinwerfer, das Heulen von Geschossen. Der Krieg bricht im Wortsinne herein, sprengt die Wände des Wartesaals auf. Die Bühne (Christian Fenouillat) verwandelt sich in ein Schlachtfeld voller Gerümpel und Stacheldraht. Die Mannen von Graf Luna sind nun verrohte Soldaten, die Bier saufen und sich mit der Vergewaltigung einer Gummipuppe vergnügen.

Leonora (Aurelia Florian) sucht in der vom Krieg verwüsteten Gegend nach ihrem Manrico (Foto: Matthias Jung)

Zwischen Leichen und Trümmern irrt Leonora herum, auf der Suche nach ihrem Manrico, dessen Tod bereits besiegelt ist. Die menschliche Seite der Tragödie droht vom drastischen Kriegsszenario freilich erdrückt zu werden. Immerhin sind es nicht einfach verfeindete Warlords, die gegeneinander kämpfen, sondern zwei Männer, die bis zum bitteren Ende nicht ahnen, dass sie Brüder sind.

Gottlob triumphiert an diesem Abend nicht nur der Hass, sondern auch Verdis Musik. Das Aalto-Theater bietet ein starkes Gesangsquartett auf, das in den zahlreichen Duetten und Terzetten bemerkenswert ausgewogen klingt.

Leonora (Aurelia Florian) fleht den Grafen Luna (Nikoloz Lagvilava) um Gnade für Manrico an (Foto: Matthias Jung)

Der Rumänin Aurelia Florian gelingt als Leonora ein eindrucksvolles Rollendebüt. Ihr klarer Sopran besitzt Geläufigkeit und Wärme, greift zunehmend schwärmerisch aus, findet Schmerzensklänge der Verzweiflung und schließlich auch himmelwärts gewandte, wie von weißem Licht erhellte Töne der Weltabkehr.

Ihr zur Seite steht der als Manrico allseits herum gereichte Gaston Rivera, dessen Tenor hell und kraftvoll strahlt, ohne zu protzen. Es ist eine Wohltat, wie Rivera die Eleganz wahrt: auch in der von Rachegelüsten durchbebten Bravourarie „Di quella pira“, die ihm kaum Probleme bereitet.

Azucena (Carmen Topciu), hier bedrängt vom Grafen Luna (Nikoloz Lagvilava, rechts) und dessen Hauptmann Ferrando (Baurzhan Anderzhanov. Foto: Matthias Jung)

Eine weitere Rumänin triumphiert in der Rolle der Azucena. Carmen Topciu leiht der von traumatischen Erinnerungen gequälten Frau die vibrierende Energie ihres Mezzosoprans, der mal in düstere Tiefen hinab steigt, mal beschwörend in die Höhe steigt, mit vehementer Attacke, zuweilen nicht ohne Schärfe.

Als neues Ensemblemitglied muss Nikoloz Lagvilava aus Georgien sich mühen, den Grafen Luna nicht monochrom zu zeichnen. Gleichwohl kennt sein Bariton neben galligen, hassverzerrten Töne auch balsamisches Strömen, wo er die Liebe zu Leonora besingt.

Tod im Stacheldraht: Für Leonora (Aurelia Florian) und Manrico (Gaston Rivera) gibt es keine Zukunft mehr (Foto: Matthias Jung)

Wann immer im Libretto Flammen erwähnt werden, lassen die Essener Philharmoniker diese musikalisch aus dem Graben lodern, dass es eine Pracht ist. Unter der Leitung des Italieners Giacomo Sagripanti, der mit dem „Troubadour“ 2018 an der Deutschen Oper Berlin debütieren wird, präsentieren sich die Musiker in großartiger Spiellaune. Sie unterstützen die Sänger mit größter Flexibilität und entwickeln in vielen Szenen mitreißenden rhythmischen Drive. Opern- und Extrachor des Aalto-Theaters stehen dem nicht nach: statt Brüllorgien anzustimmen, wahren die Chöre bei allem Schmiss die Leichtigkeit, oft auch nachgerade tänzerischen Schwung.

Buhs und Bravos am Ende für das Regieteam, das die eigentlich ins Mittelalter weisende Handlung in eine nahe Zukunft versetzt. Vom neuen „Troubadour“ am Aalto zeigt das Premierenpublikum sich hörbar polarisiert.

Informationen und Termine unter http://www.aalto-musiktheater.de/vorschau/premieren/der-troubadour-il-trovatore.htm).

(Dieser Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Kreativer Kopf auf hohlen Füßen: Bedřich Smetanas Oper „Die verkaufte Braut“ in einer fragwürdigen Inszenierung in Essen

Zwischen Realität und Traum: Jessica Muihead (Marie) und der Prinzipal (Rainer Maria Röhr). Foto: Matthias Jung

Zwischen Realität und Traum: Jessica Muihead (Marie) und der Prinzipal
(Rainer Maria Röhr). Foto: Matthias Jung

Na endlich, möchte man erleichtert aufatmen, endlich einmal eine „Verkaufte Braut“ ohne böhmische Gemütlichkeit, ohne Wirtshaus und Bauernkate, ohne Kopfputz und rote Stiefelchen (oder gehören die zur „Gräfin Mariza“?). In Essen ist der wohl bekanntesten tschechischen Oper jeder verlogene Folklorismus ausgetrieben. Und zwar von einem tschechischen Team namens SKUTR, das sich von den wirkmächtigen Konventionen, die Bedřich Smetanas Oper bisher gern eingekastelt haben, ungeahnt konsequent verabschiedet hat.

Das tut dem beliebten Stück zunächst einmal gut. Es zeigt nämlich, dass „Prodaná nevĕsta“ jenseits aller Nationalopern-Ideologie (die tschechische Nationaloper ist eher Smetanas „Libuše“) funktionieren kann. Sie ist nicht an Bildklischees gebunden, die das Stück verorten und zur Kenntlichkeit verdammen.

Martin Chocholoušek baut auf die Bühne des Aalto-Theaters eine Turnhalle, wie sie – so entnimmt man dem Programmheft – in Tschechien in vielen Orten stehen und auch für Dorffeste, Hochzeiten und Kulturveranstaltungen verwendet werden. Und Simona Rybáková steckt Chor und Solisten in Kostüme und Frisuren, die ein wenig sechziger Jahre, ein wenig real existierender Sozialismus und eine Spur Zirkus mit behutsam überzogenen und damit surrealen Formen vereinen. Über allem schwebt, mit magisch leuchtender Brautkrone, ein weißes Hochzeitsgewand.

Im Licht fantastisch-surrealer Literatur

Wer ein bisschen tschechische Literatur oder ein verkanntes Meisterwerk wie Leoš Janáčeks „Die Ausflüge des Herrn Brouček“ kennt, entdeckt in der Inszenierung der beiden SKUTR-Leute Martin Kukučka und Lukaš Trpišovský unschwer die leichthändige Mischung aus verzerrt Realem, hintersinnig blauäugiger Fantastik, wunderlichem Naturalismus und einer als völlig normal akzeptierten Skurrilität. Das lässt die Geschichte der „Braut“ auf einmal in einem anderen Licht erscheinen – und wir verstehen, dass auch Franz Kafka literarische Vorgänger hatte.

Nicht dass Karel Sabinas Libretto, das er mit Smetana zusammen erarbeitet hat, plötzlich höhere dramaturgische Weihen zu beanspruchen hätte – die Handlung bleibt im Bereich einer Komödie, ist mit dem Effekt des „verlorenen Sohnes“ kein bisschen überraschend mehr, streift die Sphären des Tragischen nur sanft, ganz wie es die Konvention vor 150 Jahren zugelassen hat. Aber Kukučka und Trpišovský lesen die heute harmlose Handlung in eine progressive Richtung, und die führt in der Oper in letzter Konsequenz zum surrealen Meisterstück von Bohuslav Martinůs „Julietta“ (ab 3. März 2018 in Wuppertal zu sehen).

Aus fernem Land: Hans (Richard Samek) mit seiner Marie (Jessica Muirhead). Foto; Matthias Jung

Aus fernem Land: Hans (Richard Samek) mit seiner Marie (Jessica Muirhead). Foto; Matthias Jung

Was bringt’s also, auf Bänder und Stiefelchen zu verzichten? Zumindest eine Lektüre des Stücks, die andere Sichtweisen als die des naiv Komödiantischen eröffnet.

Der Auftritt von Hans ist der einer romantischen Erscheinung: Der Frauenchor zieht einen Kasten aus der Wand, darin ein stilisierter Wald und ein Mann, der beinahe wie Lohengrin aus einer unnahbaren Sphäre kommt: der geheimnisvolle Unbekannte. Am Ende – um es vorwegzunehmen – wird Marie in ihrer Hochzeitsgarderobe dorthin fliehen und sich in ein leuchtendes Wolkenmeer betten.

Diese geordnete Welt ist nicht ganz geheuer

Dass die geordnete kleine Welt nicht ganz geheuer ist, wird im dritten Akt überdeutlich: Ein schief gestelltes Häuschen fährt herein, ein riesiges Pauschenpferd im Hintergrund der Bühne wird wie eine Kiste genutzt, aus der Hans wie ein Automat auf- und niederklappt. Das Element des Marionettenhaften durchzieht die Personenführung von Anfang an, etwa wenn die Eltern Maries (Peter Paul und Bettina Ranch) mit mechanischen Bewegungen dem Heiratsvermittler Kezal folgen.

Der Essener Opernchor, einstudiert von Jens Bingert, bewältigte anspruchsvolle Aufgaben, auch szenisch. Foto: Matthias Jung

Der Essener Opernchor, einstudiert von Jens Bingert, bewältigte anspruchsvolle Aufgaben, auch szenisch. Foto: Matthias Jung

Das hat etwas mit Zirkus zu tun – und das Regieteam zitiert die Welt fahrender Artisten, die in Tschechien eine besondere Bedeutung hatte, in Bildern und Auftritten des Chors, eine wunderliche Giraffe eingeschlossen, die wohl für die Zirkustiere stehen mag. Es ist eine Welt der Freiheit, aber auch eine schräg überdrehte Sphäre, wenn etwa der Chor in der Diagonale über die Bühne zieht und Konfettis wirft, als solle ein Can-Can beginnen. Und wenn ein „Indianer“ aus der Truppe im letzten Akt einen Gartenzaun schließt und Friedhofslichter anzündet, wirkt es, als werde die wohlgesetzte dörfliche Bürgerlichkeit endlich zu Grabe getragen.

Verstehens-Horizonte öffnen und schließen sich

Allein: Die Flut der mal sehr klar aufeinander bezogenen, mal im Ungefähr bleibenden Szenen- und Bildsymbolik wird zu wenig konsequent erschlossen, öffnet damit zwar Verstehens-Horizonte, schließt sie aber auch wieder. So reizvoll es ist, aus Hans einen Lohengrin auf dem Dorfe zu machen – wenn der Darsteller, der hartstimmige Tenor Richard Samek, seine Rolle nicht weiter erschließt, ermattet der Ansatz rasch. Oder Marie: Jessica Muirhead hat nicht nur erhebliche Mühe, die Partie kontrolliert und geschmeidig zu singen. Ihr ist auch verwehrt, das Changieren zwischen Traum, Vorstellung und bitterer Realität konsequent auszugestalten.

Befreiung als Bär: Dimitry Ivanchey (Wenzel) mit seiner Esmeralda (Christina Clark). Im Vordergrund Richard Samek (Hans). Foto: Matthias Jung.

Befreiung als Bär: Dimitry Ivanchey (Wenzel) mit seiner Esmeralda (Christina Clark). Im Vordergrund Richard Samek (Hans). Foto: Matthias Jung.

Die Behauptung des Regieteams im Programmheft-Interview, wir Zuschauer nähmen Marie und ihre Gefühle „quasi in ihrem Kopf“ wahr, bleibt eine solche. Sie wird szenisch immer wieder durch eine ratlos wirkende Unmittelbarkeit gebrochen. Dazu reichen die Konfetti und das Potenzial des Bühnenbilds dann doch nicht aus. Und Kezal (Tijl Faveyts) singt seine große Arie mit aufgerauter Stimme auf Tschechisch, bleibt aber der gute alte Komödiant aus der guten alten komischen Oper.

Die Identität als Bär behaupten

Nur Dmitry Ivanchey als Wenzel genießt die Gunst, sich zum anrührend gestalteten Charakter zu entwickeln. Wenn er, am Rand hockend, in sich gekauert, mit seinem Stottern kämpft, wenn er sich bei den Zirkusleuten endlich aus sich selbst befreien kann, seine Identität als Bär gegen den Spott der Gesellschaft fröhlich behauptet und mit seiner Esmeralda – der wie stets quirlig-lockeren Christina Clark – durchbrennt, dann erleben wir, dass es im Theater allemal lohnend ist, die Persönlichkeiten kraftvoll und konsequent durchzuzeichnen.

Tomás Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomás Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Eine Aalto-Premiere mit vielen bedenkenswerten Ansätzen also, die auf sicheren Füßen zu stehen scheint. Klopft man allerdings dagegen, klingt’s hohl. Ganz und gar erfüllt dagegen setzen Tomáš Netopil und die Essener Philharmoniker Smetanas Musik präsent.

In der beinahe zu rasch genommenen Ouvertüre streben die „vivacissimo“ und non legato notierten Achtelketten spitz und präzis dem ersten Fortissimo-Haltepunkt entgegen. Da klingt wenig böhmisch-triefender Geigensirup, sondern federleichte, spritzige Beweglichkeit. Da dürfen die Bläser herrlich frei leuchten. Da springt der Rhythmus fröhlich diesseitig in die Höhe und winden und schlingen sich die Melodien frisch und frech akzentuiert.

Und selbst wenn Smetana hie und da zu Wagner schielt, bleibt in Netopils hellwacher Lektüre die Musik immer schlank und lauter. Musikalisch hat sich die „tschechische“ Linie, die der GMD am Aalto-Theater durchzieht, glänzend bewährt und macht Lust auf Fortsetzung, ob mit einem der weniger bekannten Werke Smetanas oder mit Kostbarkeiten von Leoš Janáček, Bohuslav Foerster oder Zdenĕk Fibich. Zu entdecken gäb’s noch viel!

Weitere Vorstellungen am 16. und 22. Dezember sowie am 14. und 18. Januar 2018. Info: www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-verkaufte-braut.htm

 




Warum ich Premieren so liebe…

Große Gefühle auf der Bühne: Rigoletto (Luca Gratis), Maddalena (Bettina Ranch), der Herzog von Mantua (Carlos Cardoso) und Gilda (Cristina Pasaroiu). (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“ – deswegen gehören Premieren in Oper oder Schauspiel zu den aufregendsten Vorstellungen. Im Gegensatz zum Repertoire-Abend ist die Atmosphäre einfach unvergleichlich: Es liegt so eine Spannung in der Luft, ein „Wie wird es heute bloß werden?“ oder, von Künstlerseite, ein „Werde ich auch gut (genug) sein? Lampenfieber hinter der Bühne, Neugierde im Zuschauerraum. Es soll Regisseure geben, die es nicht ertragen, die Premiere zu verfolgen und sich in die Garderobe verkriechen und erst beim Applaus wieder heraus trauen…

Für Kritiker sind Premieren dagegen der übliche Termin: Man muss ja meist über die Produktion schreiben, wenn sie brandneu ist. Manche sind jede Woche in einem anderen Haus. Und doch: Fast drei Monate hatte ich Weihnachts- und Erkältungspause und inzwischen richtiggehend Entzugserscheinungen.

Deswegen war Rigoletto im Aalto-Theater in Essen meine erste Premiere im neuen Jahr. Was auf der Bühne geschah, hat meine Kollegin Anke Demirsoy geschrieben: https://www.revierpassagen.de/39768/die-rache-show-des-rigoletto-frank-hilbrich-inszeniert-giuseppe-verdis-oper-am-aalto-theater/20170123_1727 – Warum die Premiere aber auch als gute Party taugt, lesen Sie hier.

Neuer Trend: Fliege statt Krawatte

Wen man nicht alles trifft: Ehemalige Kollegen, Künstler von anderen Häusern, Nachbarn, Freunde! Und alle sind top angezogen! Kleine Fliegen statt Krawatten kommen wieder, Frauen tragen diesen Winter gerne silberne High Heels. Nun schnell noch einen kleinen Sekt oder Champagner auf Ex, da gongt es auch schon. Rasch hinein!

Die Reihen füllen sich, das Aalto-Theater ist bis auf den letzten Platz besetzt, die Zuschauer wispern und flüstern, das Licht geht aus. Verdis Ouvertüre braust los, danach betritt ein Horror-Clown vor einem lila-Glitzervorhang die Bühne: Rigoletto, der Narr. Ob das jetzt stimmig ist oder nicht, ist mir heute wurscht, ich beschließe, einfach alles toll zu finden…

Dieser herrliche Pausentratsch

Nicht so schwierig bei Verdi, dessen Melodien man tausendfach gehört hat, im Zweifel in der Pizza-Werbung, die aber live auf der Opernbühne gesungen alle Konserven mühelos überbieten. Gilda in Jeans sieht aus wie ein Mädchen von heute, doch wenn sie singt, bekomme ich Gänsehaut. Und Cristina Pasaroiu Szenenapplaus. Das Essener Publikum ist an diesem Abend überhaupt klatschfreudig und begeisterungsfähig.

Klatschfreudig sind auch die Menschen in der Pause: „Weißt du schon, dass M. geheiratet hat?“ – „Nein, wirklich? Wen denn?“ Ohne Opernpremiere hätte ich diese brandheiße Nachricht längst nicht so schnell erfahren…

Noch bevor wir alle Einzelheiten zur neuesten Hochzeit im Bekanntenkreis austauschen können, gongt es schon wieder. Dann müssen wir wohl zur Premierenfeier bleiben, hilft ja nix.

Auf der Bühne schwört Rigoletto Rache, der Herzog entpuppt sich endgültig als treulose Tomate, die er von Anfang an war und Gilda opfert sich aus Liebe. Große Gefühle, die wir uns im Alltag kaum noch erlauben. Deswegen ist es ja so schön, sie auf der Opernbühne mitzuerleben – seufz…

…und dann auch noch Freibier vom Fass

Nach dem tragischen Finale gibt es nochmal großen Applaus – auch Klatschen macht bei Premieren mehr Spaß, ebenso wie Buhrufe (habe ich aber diesmal keine gehört), denn es steht etwas auf dem Spiel: Wie wird die Inszenierung angenommen? Mag das Publikum das Stück? Oder münden wochenlange Probenarbeiten in einem Reinfall? Außerdem hat man die einmalige Gelegenheit, das Regieteam zu sehen, das sich nur am Premierenabend verbeugt.

Das Beste folgt allerdings nach dem Schlussapplaus: Schöne Tradition im Aalto ist das Freibier vom Fass bei der Premierenfeier. Nichts macht ja durstiger als ein zwanzigminütiger Bühnentod. Wer Hunger hat, findet ebenfalls einen kleinen Happen zu essen und der Intendant stellt die Künstler des Abends vor. Einmalige Gelegenheit, sie nicht im Kostüm, sondern ganz privat zu erleben, wie sie sich unter die Gäste mischen…

Wer dabei sein möchte, muss sich nur eine Premierenkarte kaufen. Im Ruhrgebiet kommt mindestens jede Woche ein neues Schauspiel oder eine neue Oper heraus, wenn nicht öfter.

Die nächste Opern-Premiere im Aalto: „Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer am 9. April 2017. Vorher gibt es noch einen Ballettabend: „3 BY EKMAN“ am 4. März. Sehen wir uns da?

Weitere Infos:
www.aalto-musiktheater.de




Die Rache-Show des Rigoletto: Frank Hilbrich inszeniert Giuseppe Verdis Oper am Aalto-Theater

Ein Mann starrt in die Finsternis: Rigoletto (Luca Grassi), unglücklicher Hofnarr des Herzogs von Mantua (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Dieser Hofnarr trägt einen Buckel aus zerplatzten Luftballons. Er hält sich gebeugt, geht stets gekrümmt wie einer, dessen Rückgrat verbogen ist. Angstvoll blickt er um sich, eine gehetzte Kreatur im mausgrauen Anzug, verfolgt von einer unsichtbaren Meute. Dann steigt er in seine quietschbunte Arbeitskluft und verwandelt sich: nicht etwa in einen bösen Harlekin, sondern in einen Horror-Clown, verwandt dem aus der Verfilmung von Stephen Kings Roman „Es“.

Zirkus? Nein, Verdi! Der Bariton Luca Grassi gab in Essen sein Rollendebüt als Rigoletto.

Mit dieser Darstellung von „Rigoletto“, dem tragischen Antihelden der gleichnamigen Oper von Giuseppe Verdi, legt Regisseur Frank Hilbrich sich am Essener Aalto-Theater früh fest. Der böse Clown soll uns das Gruseln lehren mit seinem Wahn, mit seiner Verbitterung und mit seinem Hass auf vermeintlich privilegiertere Existenzen. Hilbert will uns Fratzen und Verzerrungen zeigen, hervorgebracht durch das Spiel von Macht und Erniedrigung. Ein nachvollziehbarer Ansatz, der auf der Bühne leider zunehmend in Mummenschanz mündet.

„Das Schöne hat nur eine Erscheinungsform, das Hässliche hat tausend“, zitiert das Programmheft Victor Hugo, den Dichter der Romanvorlage „Le Roi s’amuse“. In der Essener Premiere erinnert uns die bald einsetzende Vermehrung der Horrorclowns aber vielmehr daran, dass der Februar nicht mehr fern ist – und mit ihm die Karnevalssaison.

Die Höflinge als eine Schar von Horrorclowns (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Konfetti und Kamelle fliegen zwar nicht, dafür aber viele bunte Luftballons, von denen viele geräuschvoll platzen. Sind sie Symbol für die Illusionen der Hauptakteure? Sie verbreiten jedenfalls eine konträr zum Stück stehende Kindergeburtstags-Atmosphäre.

Überzeugend gelingt dagegen die Zeichnung der Gilda, die endlich einmal nicht in einem käfigartigen Verhau auf ihren Vater warten darf, sondern als selbstbewusster Teenager in modischer Jeans auf dem heimischen Sofa lümmelt.

Gilda (Christina Pasroiu), Tochter des Rigoletto (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Auch die Bühne von Volker Thiele hat es in sich: Sie ist nachtschwarz und unterkühlt und besitzt zudem drehbare Seitenportale, die das seitwärts einfallende Licht so spiegeln, dass der Zuschauer immer wieder geblendet wird. Das ist ähnlich unangenehm wie die Perversionen, die am Hofe des Herzogs gepflegt werden. Verblendung, Gefühlskälte und (eitle) Selbstbespiegelung werden hier zum Raum.

Die beiden entscheidenden Nachtszenen der Oper verschenkt die Regie indes komplett. Die Begegnung mit dem Auftragskiller Sparafucile findet vor einem violetten Glitzervorhang statt, als seien wir Zeuge einer Zirkusnummer. Den Mord inszeniert Hilbert auf einer Doppelbühne, gerahmt vom violetten Vorhang. Gemeinsam mit Gilda sind wir gezwungen, die Rache-Show des Rigoletto mit anzusehen. Diese Revue ist jedoch weit entfernt von der düsteren „tinta“, der von Verdi bewusst eingesetzten Einfärbung der Szene durch die Musik. Statt einer Nacht des Schreckens also nur das Theater des inneren Wahns. Statt Wetterleuchten diskoähnliches Flackerlicht.

Quartett vor dem tödlichen Finale: Rigoletto (Luca Grassi), Maddalena (Bettina Ranch), der Herzog von Mantua (Carlos Cardoso) und Gilda (Cristina Pasaroiu). (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Sängerisch will diese Produktion ebenfalls nicht recht erwärmen. In seinem Rollendebüt gibt Luca Grassi dem Rigoletto Gentleman-Farben, schafft es aber (noch) nicht, die Emotionen dieser Figur zum Glühen zu bringen. Zärtliche Vater-Gefühle klingen an, aber darüber hinaus bleibt sein Bariton oft blass, reicht nicht in die Tiefen von Hass, Verzweiflung und Rachedurst hinab.

Carlos Cardoso, als Herzog von Mantua für den erkrankten Abdellah Lasri am Start, übersetzt den Machismo etwas steif in Spitzentöne und Phonstärken. Der Träller-Stil der berühmten Arien erzählt bei ihm nicht viel von Leichtfertigkeit und Charme. In den Duetten mit Gilda bemüht er sich aber um feurigen Schmelz, um die Schöne für sich zu gewinnen.

Der Herzog (Carlos Cardoso, r.) gibt sich Gilda gegenüber als Student aus (Cristina Pasaroiu,. Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Damit wären wir bei der überragenden Spitze des Dreigestirns, bei Cristina Pasaroiu als Gilda, die uns mitten hinein führt in den leuchtenden glasmusikalischen Käfig, den Verdi rund um Rigolettos Tochter komponiert hat. Aber die Sängerin belässt es nicht dabei: Sie ergänzt ihr Rollenporträt durch selbstbewusste Akzente, wie sie einem Menschen eigen sind, der an der Schwelle zum Erwachsenalter steht. Zart und traumschön, wie ihre Gesangsbögen zunehmend ätherischer werden und in der Sterbeszene gänzlich gen Himmel entschweben. Die Nebenrollen des Grafen Monterone, des Mörders Sparafucile und seiner Schwester Maddalena sind mit Baurzhan Anderzhanov, Tijl Faveyts und Bettina Ranch sorgsam besetzt.

Unter dem Dirigat des Italieners Matteo Beltrami stützen die Essener Philharmoniker die Sänger psychologisch genau. Deutlich tritt die jeweils eigene Klangwelt vor, die Giuseppe Verdi den Hauptakteuren zugeordnet hat. Helle Flötentöne und ätherische Geigenklänge für Gilda und gockelhaft-triviale Canzonetten für den Herzog heben sich ab von düsterem Grund: Monterones Fluch wirft seinen schicksalhaften Schatten über die gesamte Partitur. Ein ums andere Mal fliegt Matteo Beltrami die Künstlermähne in den Nacken, wenn er die Musiker im Orchestergraben anspornt. Essens Philharmoniker antworten mit sprühender Vitalität und dramatischem Feuer.

Folgetermine bis 28. Mai 2017. Kartenbestellung: 0201/ 8122-200. Infos: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/rigoletto.htm/




Marionetten der Geldgier: Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ im Essener Aalto-Theater

Wenn der Friseur ein Tänzchen wagt: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou) machen gemeinsame Sache (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Wenn der Friseur ein Tänzchen wagt: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou) machen gemeinsame Sache (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Die berühmten Crescendo-Walzen, die mit der Dynamik einer Dampflok über das Publikum hinweg rollten, trugen zum Erfolg des Komponisten Gioacchino Rossini ebenso bei wie die irrwitzig-automatenhafte Qualität seiner Koloraturen und das Baukastenprinzip seiner musikalischen Floskeln. Jan Philipp Gloger nimmt das Nahen eines mechanisch getriebenen, technikbegeisterten Zeitalters jetzt als Folie, um Rossinis komische Oper „Der Barbier von Sevilla“ neu in Szene zu setzen.

Im Essener Aalto-Theater entwickelt der 1981 geborene Regisseur, der von Hagen aus zu einer internationalen Karriere startete, das Intrigenspiel um den eitlen Doktor Bartolo und die hübsche Rosina ganz aus der Musik heraus. Sie wird zum Motor, zu einer übermächtigen Maschine, die alle Figuren vorwärts peitscht. Die können gar nicht anders, als ihren Trieben hinterher zu hetzen. Geldgier, Geltungssucht und Eitelkeit feiern fröhliche Urständ.

Im Geldregen: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Im Geldregen: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Beängstigend leer ist die Bühne zu Beginn. Holzkisten verschiedener Größe, die Figaro nach und nach heran karrt, fügen sich zu einem schlichten, aber wirkungsvollen Bühnenbild (Ben Baur). Quasi im Schachtelsystem erschließt sich der Charme der italienischen Stegreifkomödie, betont durch die Kostüme von Marie Roth, die viel über den Charakter der Personen verraten. Diese bleiben Marionetten, trotz allzu menschlicher Züge. Figaro, der wohl berühmteste aller Barbiere, ist Dirigent, Strippenzieher und vor allem tüchtiger Geschäftsmann, der den liebestollen Grafen Almaviva ausnimmt wie eine Weihnachtsgans.

Glogers Einstand in Essen wird zum Erfolg, weil er sich eng an die Turbulenz und die Überzeichnungen der Commedia dell’arte hält, ohne auf schenkelklopfendes Lachen zu zielen. Vielmehr lässt er uns lächeln über die menschlichen Schwächen, die Rossini treffgenau vorführt.

Kluge Bezüge machen das Spiel vielschichtig: So wird Rosina in ihrer Koloraturarie „Una voce poco fa“ als Vorläuferin von Hoffmanns „Olympia“ kenntlich. Die Chöre schickt er in der Gewitterszene in einen Taumel, der uns die Rossini-Raserei im Wien des Jahres 1822 nahe bringt. Die Beleuchtung (Christian Sierau) zaubert immer wieder Stimmungswechsel, Schattenrisse und absichtsvoll falsche Spots.

Dienstmagd Berta (An De Ridder), Rosina (Karin Strobos) und Diener Fiorello (Kai Preußker) wissen auch nicht immer, wo es lang geht (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Dienstmagd Berta (An De Ridder), Rosina (Karin Strobos) und Diener Fiorello (Kai Preußker, v.l.) wissen auch nicht immer, wo es lang geht (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Warum Giacomo Sagripanti jüngst in London als bester Nachwuchsdirigent ausgezeichnet wurde, wird am Premierenabend deutlich. Unter seiner espritgeladenen und punktgenauen Leitung lassen die Essener Philharmoniker die Musik herrlich moussieren, folgen den Sängern biegsam und lassen die Crescendo-Walzen vom eisigen, am Steg der Streicher erzeugten Schauer zum klangschönen Fortissimo anschwellen. Detailversessenheit kommt hier nicht verbissen daher, sondern mit lebensfroher Lust am Raffinement.

Der eitle Arzt Don Bartolo (Baurzhan Anderzhanov, r.) lauscht den Plänen von Musiklehrer Don Basilio (Tijl Faveyts. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Der eitle Arzt Don Bartolo (Baurzhan Anderzhanov, r.) lauscht den Plänen von Musiklehrer Don Basilio (Tijl Faveyts. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Auch sängerisch gibt es viel Gutes zu berichten. Als neues Ensemblemitglied stellt sich der Grieche Georgios Iatrou mit einem eleganten Bariton vor, in der berühmten Arie „Largo al factotum“ noch mäßig blutvoll, aber stets zunehmend an samtiger Kraft – und dabei herrlich selbstgefällig. Der als Rossini-Experte geltende Tenor Juan José de Léon zeigt als Almaviva große Spielfreude und enorme Strahlkraft, wobei sich vermutlich durch Nervosität bedingte Schärfen in den Höhen aufs angenehmste mildern. Wunderbar sonor klingt Baurzhan Anderzhanov, der manche Sympathie für den eitlen Doktor Bartolo weckt. Tijl Faveyts, der als Musiklehrer Don Basilio einem alternden Rockstar ähnelt, zieht mit seiner Verleumdungsarie nahezu gleich. Karin Strobos ist als Rosina erfrischend stimmgewandt und koloratursicher.

Frustrierte Musiker, missglückte Polizei-Einsätze, durchtriebene Weiblichkeit und potente Geldgeber ohne Grips und Geschmack geben dem Abend die amüsant-bösen Untertöne, die alle Rossini-Fans lieben. Ein Trauerspiel, was manche Menschen sich so leisten… Wenn sie nicht so lachhaft wären.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ (Hamm) erschienen. Termine und Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/il-barbiere-di-siviglia.htm)




Essen spielt wieder Hilsdorfs „Maskenball“ – Inszenierung von 1999 hat immer noch Bestand

Christina Clark (Oscar) und Michael Wade Lee (Riccardo) in der Wiederaufnahme von Verdis "Maskenball" am Aalto-Theater in Essen. Foto: Saad Hamza

Christina Clark (Oscar) und Michael Wade Lee (Riccardo) in der Wiederaufnahme von Verdis „Maskenball“ am Aalto-Theater in Essen. Foto: Saad Hamza

Dietrich Hilsdorfs Inszenierungen haben auch Jahre nach der Premiere nichts von ihrer Relevanz verloren. Entsprechend gut gefüllt war der Zuschauerraum des Essener Aalto-Theaters bei der Wiederaufnahme von Verdis „Un ballo in maschera“, einer Inszenierung von 1999.

Es lag auch an der szenischen Einstudierung von Carolin Steffen-Maaß, dass Hilsdorfs kunstvolles Spiel um Schein und Sein, um Theater und Wirklichkeit, um das Leben als fiktionales Kunstwerk und als reales Ereignis so plausibel funktioniert. Entgegen so mancher zeitgeistiger Regie-Äußerung hat sich dieser „Maskenball“ nicht überlebt; er hat das Zeug zum „Klassiker“.

Natürlich muss man nach 16 Jahren in der Charakterisierung der Personen mit Unschärfen rechnen. Von der ursprünglichen Besetzung mit Mihkail Dawidoff (Riccardo), Károly Szilágyi (Renato), Iano Tamar (Amelia) und Ildiko Szönyi (Ulrica) ist niemand mehr beteiligt. Aber die Darstellercrew der Wiederaufnahme fügt sich in das Spiel ein, verinnerlicht die Partien und gestaltet sie nicht nur sängerisch überzeugend. Da ist Michael Wade Lee der intelligente, zügellose Hedonist, der über seine höfische Umgebung Regie führt und Macht demonstriert. Der Tenor gibt diesem Riccardo – in Hilsdorfs sinnreicher Umdeutung der König von Neapel, der Stadt, in der Verdis Oper unter der Zensur litt – die Züge des renaissancehaften Individuums, das ein Leben in Fülle genießen will und es unerwartet verliert.

Wade Lees Riccardo wirkt wie ein verzogenes Kind, aber auch nachdenklich und seiner Lage bewusst in den intimen Momenten der Rolle. Sein kerniger Tenor bewältigt die lyrische Noblesse wie den dramatischen Nachdruck; nur in der Höhe wirkt der lockere Schmelz gefährdet. Das Duett mit Amelia („M’ami! … O qual soave brivido“) wird, ausgehend von einem sinnlichen Piano, zum hinreißenden Moment passionierten Singens.

Würdevolle Resignation: Katrin Kapplusch als Amelia am Aalto-Theater. Foto: Saad Hamza

Würdevolle Resignation: Katrin Kapplusch als Amelia am Aalto-Theater. Foto: Saad Hamza

Dazu braucht der Tenor die passende Partnerin, die er am Aalto in Katrin Kapplusch gefunden hat. Die Sopranistin hat die anspruchsvolle Partie der Amelia bereits in ihrem früheren Engagement in Plauen-Zwickau gesungen. Vor allem kommt ihr entgegen, dass ihre Stimme im Zentrum unanfechtbar sitzt. Ein störendes Tremolieren stellt sich nur ein, wenn Kapplusch den Aufstieg in die Höhe nicht im Griff hat; dann muss sie sich auch forciert über die Bögen retten und lässt unfreiwillig ahnen, wie schwer es Verdi in dieser Partie den Sängerinnen macht. „Morrò – ma prima in grazia“, ihre Arie im dritten Akt, gestaltet Kapplusch aber mit großartigem Gespür für die Farben der Töne, mit denen sie die würdevolle Resignation einer Frau ausdrückt, die weiß, dass sie gegen den Lauf des Unheils keine Chance mehr hat.

Ihr Partner ist Luca Grassi als Renato, der im dritten Akt eine Reihe von Bewährungsproben zu bestehen hat. Der Sänger mit einer langen Karriere in Italien hat sich in Essen bereits als Valdeburgo in Bellinis „La Straniera“ ausgezeichnet und wird demnächst als Scarpia in „Tosca“ zu hören sein. Er führt sich im ersten Akt mit gut gestützten, präsenten Tönen ein, die aber Farbe und Emotion vermissen lassen. Mit dem Ambitus von „Eri tu“ dürfte Grassi eigentlich keine Probleme haben, aber an diesem Abend entglitt ihm einmal die Höhe, deswegen wohl setzte er auf Kraft und erklomm die hoch liegenden Teile der Arie („O dolcezze perdute ….“) mit Druck statt mit Delikatesse. Sängerpech.

In der würdelosen Maskerade, in die Ulrica gezwungen wird, offenbart sich Ieva Prudnikovaite als überzeugende Darstellerin; entsprechend neutral lässt sie die eigentlich gespenstische Beschwörung „Re d’abisso“ klingen – es ist ja alles „Mache“, das Drohend-Unheilvolle der Szene ist Belustigung für die Damen und Herren bei Hofe, inszeniert vom König. So wirkt der Verzicht auf vokale Farben konsequent im Sinne der Konzeption des Stücks.

Als Oscar räumt – reizend und quicklebendig wie stets – Christina Clark ab; René Aguilar (Erster Richter) und Georgios Iatrou (Silvano) bleiben ebenso wie Sang Yun Lee (Diener Amelias) ihren kleinen Partien nichts schuldig. Die Verschwörer Tom und Sam sind bei Baurzhan Anderzhanov und Bart Driessen besten Kehlen anvertraut. Matteo Beltrami führt die Essener Philharmoniker für Farbe, Agogik und Spannung in weiträumiger Phrasierung; der Chor, den Patrick Jaskolka einstudiert hat, trägt mich wacher Aktion und vokaler Präsenz nicht wenig zum Gelingen des Abends bei.

Weitere Vorstellungen am 26. Dezember und 24. Januar 2016. Info: www.aalto-musiktheater.de




Die Not der anderen: Das Aalto-Theater Essen zeigt Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“

Priester Fotis (Baurzhan Anderzhanov) versucht einer Frau zu helfen, die am Ende ihrer Kräfte ist (Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Priester Fotis (Baurzhan Anderzhanov) versucht einer Frau zu helfen, die am Ende ihrer Kräfte ist (Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Kaum hat der Priester des griechischen Dorfs Lycovrissi die Rollen für das geplante Passionsspiel verteilt, geht in den ausgewählten Darstellern eine seltsame Verwandlung vor. Der Hirte Manolios beginnt, wie Christus zu reden und zu handeln. Die Dorfhure Katerina identifiziert sich mit Maria Magdalena. Und obwohl Panait sich zunächst dagegen wehrt, färbt die Rolle des Judas immer stärker auf ihn ab.

Es ist ein Spiel mit doppeltem Boden, das Bohuslav Martinů in seiner letzten Oper „Die griechische Passion“ treibt. Das Aalto-Theater zeigt die Zürcher Fassung des 1961 ebendort uraufgeführten Vierakters jetzt in einer Produktion des tschechischen Regisseurs Jiří Heřman, der mit dieser Arbeit seinen Einstand in Essen gibt. Es ist keine leichte Aufgabe, der Heřman sich stellt: Martinůs Oper trägt oratorienhafte Züge und ist über weite Strecken kontemplativ-statisch. Abseits der Hauptrolle des Manolios gewinnen nur wenige Figuren Gesicht und Gewicht.

Gleichwohl gelingt der Regie ein starkes Plädoyer für das Werk, das nach Nikos Kazantzakis’ Roman „Der erneut gekreuzigte Christus“ entstand. Heřman konzentriert sich auf die Frage, wie weit es mit den christlichen Werten her ist, wenn Notleidende auf Wohlhabende treffen: in diesem Fall die gewaltsam Vertriebenen eines griechischen Dorfs auf die Einwohner von Lycovrissi. Der Regisseur widersteht der Versuchung, zu stark auf den Zug aktueller Flüchtlingsberichterstattung aufzuspringen. Vielmehr rückt er Angst und Selbstsucht in den Fokus, den Unwillen, mit anderen zu teilen.

Manolios (Jeffrey Dowd) fürchtet sich vor der Versuchung durch Katerina (Jessica Muirhead. Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Manolios (Jeffrey Dowd) fürchtet sich vor der Versuchung durch Katerina (Jessica Muirhead. Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Im Verbund mit Dragan Stojčevski hat Jiří Heřman dafür ein Bühnenbild entworfen, das von christlichen Symbolen dominiert wird. An der Rampe brennen Kerzen, eine übermannshohe Kirchenglocke hängt an einem Haken, eine antik wirkende Mauer steht für Ausgrenzung und Öffnung. Wasser und Erde, die zentralen Elemente für menschliche Siedlungstätigkeit, werden in flachen Becken seitwärts auf den Bühnenboden geschoben. Die Lichtreflexionen des Wassers auf dem Mauerwerk verleihen der Szene viel Atmosphäre.

Heřman verschont uns nicht mit dem, was existenzielle Not bedeutet. Wir sehen sterbende Frauen und Kinder. Erschöpfte Männer, die sich kaum mehr auf den Beinen halten können. Manolios, der Mitgefühl predigt und zur Hilfe aufruft, zieht dadurch den Zorn der Dorfelite auf sich. Er, der Christusdarsteller, wird schließlich vom Popen exkommuniziert und von einer Gruppe von Dorfbewohnern zu Tode geprügelt. Aber wir sehen auch jene, die Manolios folgen und Gutes tun wollen, soweit es in ihren Kräften steht.

Katerina Jessica Muirhead) trägt einen toten Jungen auf den Armen (Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Katerina (Jessica Muirhead) trägt einen toten Jungen auf den Armen (Foto: Matthias Jung, Aalto-Theater)

Von ihnen gewinnt vor allem Katerina (Maria Magdalena) Format. Das liegt wesentlich an der Leistung der britisch-kanadischen Sopranistin Jessica Muirhead, die stimmlich zunehmend Wärme entwickelt, bis sie zu leuchtenden Tönen der Empathie und beseelter Festigkeit in Handeln und Glauben findet.

Jeffrey Dowd gibt den Manolios als Zweifler, der sich als Christusdarsteller zunächst unwürdig findet, dann aber immer stärker dem folgt, was ihm christlicher Auftrag scheint.

Der Chor des Aalto-Theaters, der in diesem Passionsspiel die zweite Hauptrolle übernimmt, verhindert durch sein engagiertes Spiel, dass die „Griechische Passion“ zu einem Gottesdienst auf der Opernbühne wird. Musikalisch steuert er biblisch-archaische Wucht, folkloristische Farben und expressionistische Ausbrüche bei, wobei die Sopranstimmen zuweilen etwas übersteuert klingen.

Am Pult der Essener Philharmoniker zeigt Tomáš Netopil einmal mehr sein Feingefühl für die Partituren seines Heimatlandes. Bei ihm darf der Zuhörer im Wohlklang byzantinischer Kirchenmusik schwelgen, ja beinahe im Puccini-Melos baden, ohne dass feine Strukturen oder harmonische Verschärfungen verschwiegen würden. Die Essener Philharmoniker bringen psalmodierende Passagen in prachtvollstem Dur, aber auch gleißende Zuspitzungen und Ausbrüche.

Mag man in Martinůs Oper nun unbedingt „das Stück der Stunde“ sehen, so greift es doch zu kurz, sie als „Flüchtlingsoper“ zu beschreiben. Griechen treffen in diesem Stück auf Griechen; die rivalisierenden Gruppen haben Nation, Religion und Kultur gemeinsam. Der Kampf zwischen Altruismus und Egoismus hingegen, er ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst.

Termine und Informationen unter http://www.aalto-musiktheater.de/vorschau/premieren/the-greek-passion.htm




„Ein Stück von sich schenken“: Zum 75. Geburtstag der Sängerin Helen Donath

Sie war nie die strahlende Diva, aber auch nie ein schüchternes Mauerblümchen; sondern stets eine Sängerin, die mit Stimme und Karriere verantwortungsvoll und vorsichtig umgegangen ist. Und so kommt es, dass Helen Donath am heutigen 10. Juli ihren 75. Geburtstag feiern kann und nach wie vor singt. Bis gestern stand sie als Mrs. Grose in Robert Carsens Inszenierung von Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ auf der Bühne des Wiesbadener Staatstheaters.

Eine Rolle, die sie im Frühjahr auch in Köln gesungen hat, wo ihre Laufbahn vor 53 Jahren begonnen hatte. Die Texanerin Helen Janette Erwin, geboren in Corpus Christi, bekam 1962 ihr erstes europäisches Engagement am Kölner Opernstudio. Damals hatte die 22jährige jedoch schon eine lange Ausbildung hinter sich.

Helen Donath (Foto: Wikipedia Commons/DEDB - Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Helen Donath (Foto: Wikipedia Commons/DEDB – Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Begonnen hat alles, so erzählte sie einst August Everding in einer seiner berühmten „da capo“-Sendungen, mit dem Film „The great Caruso“ von 1951. Helen wollte singen wie Mario Lanza im Film und eignete sich die Tenor-Arien an. Als sie 14 war, gastierte George London in ihrer Heimatstadt – und sie nahm sich ein Herz und sang ihm „Vesti la giubba“ vor – das ergreifende Solo des Canio aus Ruggiero Leoncavallo „Pagliacci“. London muss ziemlich irritiert gewesen sein: Er fragte das Mädchen, was für ein Stimmfach sie denn sei, und Helen antwortete, ziemlich hilflos, mit einem Begriff, den sie vom Programmheft von Londons Konzert abgeschaut hatte: „I am a lady baritone“.

Eine derart exotische Stimme wurde Helen Donath zwar nicht – aber sie entwickelte sich zu einer der führenden lyrischen Sopransängerinnen, vornehmlich im deutschen Fach. Eine Position, der ihr 40 Jahre lang nur wenige streitig machten. George London übrigens traf sie in Köln wieder – auf der Bühne: Er sang in Wieland Wagners „Ring“-Inszenierung den Wotan, sie die zweite Rheintochter. Lange blieb sie nicht in Köln; Rollen wie Liú in Puccinis „Turandot“ oder Micaëla in Bizets „Carmen“ waren nicht das Richtige für die junge Stimme, die unter der Obhut von Londons Lehrerin Paola Novikova behutsam reifen sollte.

In Hannover debütierte sie 1963 in Mozarts „Zauberflöte“ als Pamina – eine Rolle, die für ihre Laufbahn prägend werden sollte. Schon ein Jahr später stellte sie sich mit dem sensiblen Porträt einer gefühlvoll-selbstbewussten jungen Frau bei den Salzburger Festspielen vor.

Mozart sollte ein ständiger Begleiter ihrer Sängerlaufbahn werden: Pamina, Susanna und Zerlina, auch Donna Anna, aber erst im Jahr 2000 Despina („Cosí fan tutte“). Dazu die Sopranpartien in den großen Messen. Donaths Zerlina am Aalto-Theater Essen, die sie in der „Don Giovanni“-Inszenierung von Stefan Herheim zuletzt 2011 gesungen hat, ist in lebendiger Erinnerung: Zerlina als ältere Dame mit Rollator, stimmlich aber jung geblieben und immer noch mit dem hellen, optimistischen Ton, der Helen Donaths anmutigen, feintönigen, stets leuchtend präsent geführten Sopran in ihren Glanzzeiten ausgezeichnet hat.

Hannover wurde auch in anderer Hinsicht bedeutend für die junge Sängerin: Hier lernte sie den Kapellmeister Klaus Donath kennen. Es war „eine Liebe auf den ersten Blick“, sagte sie später. Vor 50 Jahren heirateten die beiden – zum Geburtstag kann also auch Goldene Hochzeit gefeiert werden. Donath half seiner jungen Frau, die Karriere umsichtig aufzubauen. Vor allem aber lernte sie – die in Köln gerade einmal ein paar deutsche Wörter wie „Sauerkraut“ kannte – den Umgang mit der Sprache. Die Texanerin spricht völlig akzentfrei und mit einer Grammatik, um die sie mancher deutschstämmige Gymnasiast beneiden dürfte.

Bei Mozart, aber auch im Liedgesang und in moderner Musik kommt Helen Donath ihr Sprachgefühl zupass: Das Wort steht für sie im Vordergrund. Beim Lernen einer Rolle sei es „das Allererste, dem Text nachzugehen und zu fragen: Was möchte ich ausdrücken?“. Für sie ist es „absolut notwendig, dass das Publikum begreift, was ich ihm im gesungenen Wort vermitteln möchte“. Wer ihre Aufnahmen hört – sie hat wohl mehr als 100 Schallplatten und CDs gemacht –, kann diese Position nachvollziehen: Donath bleibt bei der Artikulation der Texte kompromisslos.

Das zeichnet nicht nur ihre Mozart- und Strauss-Aufnahmen aus. Helen Donath hat sich nicht um neue Musik und nicht um seltene Partien gedrückt. In Köln sang sie in Boris Blachers verschwundener Version des „Romeo und Julia“-Stoffs. In Hannover in Werner Egks ebenso vergessener „Verlobung in San Domingo“. Sie war Luise in Hans Werner Henzes damals brandneuer Oper „Der junge Lord“, sang später auch in Ernst Kreneks „Karl V.“ und in Hans Pfitzners „Palestrina“. Vor neuer Musik hat sie keine Angst: Wer mit Mozart umgehen kann, kann alles singen, ist ihr Bekenntnis. Und mit fortschreitendem technischem Verstehen habe sie auch aktuelle Musik für sich entdeckt – von Aribert Reimann bis John Corigliano.

Helen Donath (rechts) als Mrs. Grose in der Wiesbadener Aufführungsserie von Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" in einer für Wien entstandenen Inszenierung von Robert Carsen. Foto: Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Helen Donath (rechts) als Mrs. Grose in der Wiesbadener Aufführungsserie von Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ in einer für Wien entstandenen Inszenierung von Robert Carsen. Foto: Karl-Bernd Karwasz / Hessisches Staatstheater Wiesbaden

1967 wechselte sie an die Bayerische Staatsoper München, wo sie in den Folgejahren eine glanzvolle Karriere entfaltete. Sie sang unter George Solti die Sophie im „Rosenkavalier“; Herbert von Karajan holte sie 1970 für seine „Meistersinger“-Aufnahme als Eva. Karajan, so erzählt Donath, wollte keine erwachsene Stimme, sondern ein „Evchen“, naiv, jung und frisch. Erst 16 Jahre nach der Aufnahme hat sie die Partie auf der Bühne gesungen – später unter anderem in Wien und unter Colin Davis in Leipzig.

Als Helen Donath 1970 ihren ersten Münchner Liederabend gab, schwärmte der Kritiker Karl Schumann von „Geschmack und Intelligenz“ und von ihren edelsten vokalen Qualitäten. Ein Urteil, das sich in zahlreichen Lied- und Oratorienaufnahmen nachprüfen lässt. Mit Farbe und Attacke hält sich Helen Donath zurück; vokale Glut oder gar veristische Exaltation sind ihre Sache nicht. Dafür entwickelt sie dramatische Miniaturen aus der Welt des Liedes ganz aus dem Wort und aus der Leuchtkraft eines unbeschädigten Timbres. Auch ihren Strauss-Partien kommt die Sorgfalt in der Formung des Wortes entgegen. In Essen war das zu erleben, als Helen Donath erstmals die Aithra in der „Ägyptischen Helena“ sang, einer Partie, mit der sie 2003 auch in Salzburg großen Erfolg hatte.

Ihre internationalen Engagements führten sie an alle großen Opernhäuser, von London über Mailand und Zürich bis Paris. An der Metropolitan Opera debütierte sie erst 1991 als Marcelline in Beethovens „Fidelio“. In Detroit sang sie die Marschallin im „Rosenkavalier“ mit ihrem Mann Klaus am Pult und in der Regie ihres Sohnes Alexander Donath. An der Wiener Staatsoper debütierte sie 1973 als Pamina und Zerlina, später sang sie auch Sophie, Meistersinger-Eva und zuletzt 2006 Despina in Mozarts „Cosí fan tutte“. Nicht vergessen werden sollten die Operetten, in denen Helen Donath stets geschmackvolle Rollenporträts gestaltet hat.

Helen Donath singt nach wie vor, gibt aber auch Meisterkurse, um ihren reichen Erfahrungsschatz an die junge Generation weiterzugeben. Beim Singen komme es darauf an, die Stimme reifen zu lassen, sagt sie. Mit Sorge sieht sie, wie junge Menschen heute um des schnellen Erfolges willen unfertig auf den Bühnen verschlissen werden. „Das Wichtigste beim Singen ist, ein Stück von sich zu schenken“ – diese Botschaft liegt ihr am Herzen.

Am 23. Oktober 2015 gibt Helen Donath gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Donath einen Liederabend in der Düsseldorfer Oper, wo sie wieder einen Meisterkurs mit dem Opernstudio hält. Der Titel des Abends: „Ein glückliches Sängerleben“.




Nixen im Badezuber – Dvoráks Oper „Rusalka“ findet in Essen den Weg in die Psychiatrie

Rusalka (besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Szene aus der Anstalt. Rusalka (Sandra Janusaite) besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Da bringt die junge Braut ihren Zukünftigen um. Weil sie den schlimmen Finger im erotischen Techtelmechtel mit einer anderen erwischt hat. Für ihn war das eine Art Flucht: weg von einem Wesen, das ebenso faszinierend wie rätselhaft ist, spröde und stumm wie ein Fisch, hin zu einer richtigen Frau. 

Derartiges kommt in den besten Familien vor. Selbst in jenen der vorletzten Jahrhundertwende, im großbürgerlichen Gefüge des Fin de Siècle. Zu jener Zeit also, als Sigmund Freud die „Traumdeutung“ herausbrachte und Antonin Dvorák seine Märchenoper „Rusalka“ komponierte. Und so hat die niederländische Regisseurin Lotte de Beer eins und eins zusammengezählt: Im Essener Aalto-Theater zeigt sie uns eine Nixe unter freudscher Beobachtung – im klinisch kühlen Ambiente, mit Anstaltsbadewannen und Gewölbezellen, nicht zu vergessen die berühmte Couch des Analytikers.

Klapse statt irrlichterndes Dasein ist das Los dieser Rusalka. Die Geschichte wird dabei gewissermaßen von hinten aufgerollt, vom Tod des Prinzen und ihrer Internierung aus – die einleitende Szenerie zu Dvoráks Vorspiel macht es deutlich. Dieser dramaturgische Kniff ist wohl auch erforderlich, um die Doppelung von Märchenzeit und Therapiezeit zu verstehen. Hilfreich wäre im übrigen ein Hinweis im Programmbüchlein gewesen, auf eine Schrift Freuds aus dem Jahr 1913, „Märchenstoffe in Träumen“. Oft nämlich verknüpften seine Patientinnen Erinnerungen und Träume mit dem Durchleben von Märchen.

Nun also: Die Nixen necken den Wassermann im Badezuber, Rusalka beklagt in der Wanne nebenan ihr seelenloses Dasein. Die Hexe Jezibaba rauscht nicht als schmuddeliges Hutzelweibchen heran, sondern gibt sich rauchend mondän im dicken Pelz. Die Menschwerdung Rusalkas gleicht einem Beschneidungsritus. Im übrigen gilt: Wer schön sein will, muss leiden – und stumm bleiben wie ein Fisch. Entsprechend herzig die Begegnung mit dem Prinzen, ein Tändeln zweier Backfische, ein Fremdeln zweier Zagender. Zuletzt aber doch: Küsse der Leidenschaft.

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Was so intim klingt, ist auf der Riesenbühne des Aalto gleichwohl angenehm proportioniert in Szene gesetzt. Das eingespielte Duo Clement&Sanou schafft Atmosphäre durch Farbe, stellt die feine Festgesellschaft im 2. Akt aufs Podest, während unten Rusalka angstvoll deren patriarchalische Riten beobachtet, wuchtet Badewannen in den Raum oder kerkert die Nixe im mächtigen Gummizellengewölbe ein. Manches wirkt gelungen, anderes aber gehörig plakativ. Wie denn auch die Regie immerhin in sich schlüssig ist. Die Frage, die bleibt, ist eher grundsätzlicher Art: Ob nicht manche Frauenfigur der Opernliteratur sich neuerdings beständig der Psychoanalyse aussetzen muss.

Eines aber ist gewiss: Mit Sandra Janusaite hören und sehen wir eine Rusalka, die sich die Seele aus dem Leib spielt und singt. Fast körperlos, fahl und verhangen klingt zunächst ihr Mondlied, dann aber trägt ein dramatisch-emphatischer Sehnsuchtston ihre Empfindung. Die Stimme mag in der Mittellage etwas spröde wirken, gleichwohl verfügt die Sopranistin über Farbreichtum sowie flammende Verzweiflungsgröße. Und wenn sie sich, im Angesicht des untreuen Prinzen auf die Beine schlägt, als Symbol ihres fluchbeladenen Daseins, wenn sie im Zellengewölbe in ihrer Zwangsjacke dahinleidet, dann ist das gleichermaßen mitreißend wie anrührend. Bis ihr Dr. Freud eine Spritze geben lässt – sie sinkt hernieder, ob schlafend oder sterbend oder im Wagnerschen Sinne erlöst, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Dagegen wirken alle anderen Akteure beinahe blass. Ladislav Elgr verleiht dem Prinzen zwar ein kultiviertes tenorales Timbre, wirkt in hoher Lage aber leicht nervös und lässt mitunter Eleganz vermissen. Markant Almas Svilpa als ewig mahnender und klagender Wassermann, nur bedingt verschlagen die Hexe der Lindsay Ammann.

Das eigentliche Wunder des Abends spielt sich ohnehin im Orchestergraben ab. Mit Tomás Netopil am Pult zaubern die Essener Philharmoniker die Idiomatik von Dvoráks Musik aufs Schönste herbei. Sie spinnen silberhelle Melodiefäden, geben der Dramatik, die schon auf Janáceks Realismus verweist, kantiges Gewicht, ohne zu überzeichnen. Und alles Böhmisch-Musikantische hält sich im Rahmen. Nichts von Verharmlosung eines bis dato immer noch unterschätzten Komponisten.

Noch einige Termine im Juni. www.aalto-musiktheater.de

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen.)

 




Die Kunst als Insel: Das Aalto-Theater zeigt „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss

Auf Brautschau: Sir Morosus (Franz Hawlata) macht die Bekanntschaft von Carlotta (Liliana de Sousa)

Auf Brautschau: Sir Morosus (Franz Hawlata) macht die Bekanntschaft von Carlotta (Liliana de Sousa)

Recht überschaubar ist die Zahl der Opernfans, die von sich behaupten können, „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss je auf der Bühne erlebt zu haben. Selbst im Essener Aalto-Theater, das Stefan Soltesz in seiner Zeit als Opernintendant und Generalmusikdirektor der Essener Philharmoniker zu einer wahren Strauss-Hochburg formte, stand die einzige komische Oper des Komponisten noch nie auf dem Spielplan.

Neben so wuchtigen, schillernden und opulenten Meisterwerken wie „Elektra“, „Salome“ und „Der Rosenkavalier“ wirkt „Die schweigsame Frau“ wie ein Fliegengewicht, das angenehm und unterhaltsam, aber ohne größeren Tiefgang vor sich hin plappert. Wenig schmeichelhafte Worte findet der Kritiker Ulrich Schreiber in seinem „Opernführer für Fortgeschrittene“: Das Werk sei ein „tönendes Flachrelief“, musikalisch oft nicht weit entfernt vom Kunstgewerbe.

Gleichwohl hat Soltesz’ Nachfolger Hein Mulders beschlossen, der „Schweigsamen Frau“ eine Chance zu geben. Mit der Regie beauftragte er den Flamen Guy Joosten, der am Aalto-Theater kein Unbekannter ist und an der Rheinoper Düsseldorf „Die Frau ohne Schatten“ in Szene setzte. Mit der „Schweigsamen Frau“ begibt er sich nun auf das tückische Terrain des scheinbar Leichten. Er hat sich auf eine Oper eingelassen, die zwischen allen Stühlen sitzt: für eine Operette ist sie zu wenig bissig, für eine „Buffa“ entwickelt sich die Handlung zu schleppend. Das Libretto von Stefan Zweig neigt zur Geschwätzigkeit, und nur allzu leicht klingen die zahlreichen musikalischen Zitate nach einer eher uninspirierten Collage.

R.Strauss | Die schweigsame Frau Premiere am 14.03.2015 | Aalto Opernhaus Essen

Wie den Schatz heben? Darüber grübelt die Operntruppe von Neffe Henry (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Indes berührt Joosten die spröde Schöne mit leichter, liebevoller Hand. Und oh Wunder: Das Stück beginnt zu atmen, ja sogar leisen Witz zu entwickeln. Maßgeblichen Anteil daran hat die Ausstattung von Johannes Leiacker, der das Heim des ebenso verschrobenen wie wohlhabenden Engländers Sir Morosus als einsame Insel samt Kakteen und Schatztruhe zeichnet. Durch Kriegserlebnisse stark lärmempfindlich geworden, will der alte Mann vor allem Ruhe um sich her. Am liebsten zöge er sich ganz zurück vom lauten Getriebe der Welt. Sinnfällig verweist das Bühnenbild so auch auf die Lebensgeschichte von Richard Strauss, der sich am liebsten ganz auf seine Kunst zurückgezogen hätte und sich doch tief mit führenden Nazi-Größen einließ.

Manch vermeintliche Schwäche der Komödie münzen Joosten und Leiacker flugs in eine Stärke um. In der Ouvertüre greifen sie das Mittel der Collage auf, indem sie Szenen aus bekannten Seefahrer- und Piratenfilmen amüsant auf die Musik zuschneiden. Das eher blass gezeichnete Personal der Oper wird bei Joosten und Leiacker zu einer Gruppe leichtlebiger Paradiesvögel. Die Haushälterin tritt auf wie eine Samba-Tänzerin. In der Operntruppe von Neffe Henry, der – welche Schande! – ein Tenor geworden ist, tummeln sich Stars und Sternchen aus unserer Zeit, Amy Winehouse inklusive.

Aminta (Julia Bauer) spielt die vermeintlich schüchterne Timidia (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Aminta (Julia Bauer) spielt die vermeintlich schüchterne Timidia (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Das könnte platt wirken, wären die Kostüme nicht zu ironisch-elegant dafür. Der quirlige Barbier Schneidebart zieht die Strippen, als sei er eine Mischung aus Gaetano Donizettis „Malatesta“ und dem berühmten Faktotum aus Rossinis Oper. Er fädelt es ein, dass der alte Hagestolz Morosus sich auf die falsche Frau einlässt: nämlich auf Henrys Frau Aminta, die ihm als vermeintlich schüchterne Timidia den Kopf verdreht, nach der Hochzeit aber zum keifenden Hausdrachen mutiert. Wie das bunte Völkchen den verknöcherten Alten zur Räson bringt, ist durch das komödiantische Talent des Ensembles und durch gute sängerische Leistungen vergnüglich anzusehen und anzuhören.

Mit keinem Geringeren als Franz Hawlata (Sir Morosus, Bass) und mit der grandios höhensicheren Julia Bauer (Aminta, Sopran) verfügt die Produktion über zwei Hauptdarsteller, die der Produktion über den zuweilen pauschalen Plauderton des Librettos hinweg helfen. Martijn Cornet ist auch vokal ein schillernder Barbier, der bei guter Textverständlichkeit viel Esprit anklingen lässt. Michael Smallwood meistert die Tenorpartie des Henry nicht immer ohne Probleme, lässt aber keine grundsätzlichen Zweifel an seiner Leistung aufkommen.

Unter der nicht weiter auffälligen Leitung des Briten Martyn Brabbins zeigen die Essener Philharmoniker, dass sie sich noch immer gut auf die Partituren von Richard Strauss verstehen. Bei so viel Farbenreichtum und Differenzierungsvermögen fallen Patzer nicht weiter ins Gewicht, auch wenn ihnen ein Hornsolo in der Premiere zum Opfer fiel. Wer eine Repertoirelücke schließen möchte und „Die schweigsame Frau“ endlich einmal kennenlernen möchte, ist in Essen am rechten Platz.

Termine und Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-schweigsame-frau.htm




Kolossale Freiheits-Göttin: Stefan Herheim inszeniert Puccinis „Manon Lescaut“ in Essen

Des Grieux (Gaston Rivero) und seine Manon (Katrin Kapplusch. Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Des Grieux (Gaston Rivero) und seine Manon (Katrin Kapplusch. Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Als „Musiker der kleinen Dinge“ sah Giacomo Puccini sich selbst. Mit „Manon Lescaut“, seinem ersten großen Opern-Erfolg, war die erste seiner faszinierenden Frauengestalten geboren: ein junges Mädchen, bildschön und noch sehr unerfahren, erfüllt von übergroßer Lebensgier, die ihr schließlich zum Verhängnis wird. Im Essener Aalto-Theater bläst Regisseur Stefan Herheim die Titelfigur jetzt zur monumentalen Ikone auf. Das Glücksversprechen, das von diesem schillernden Geschöpf ausgeht, setzt er demjenigen der amerikanischen Freiheitsstatue gleich, die zur Entstehungszeit des Stücks gebaut wurde.

Aus Manon Lescaut wird also Madame Liberty, eine kolossale Göttin. Die gewaltsame Vergrößerung bekommt dem kleinen Ding denkbar schlecht. Allein das Ausmaß der Requisiten wirkt erschlagend: Die Fackel, der Kopf mit dem signifikanten Strahlenkranz, die Tafel mit dem Datum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sind durch ihr gigantisches Format furchterregend überpräsent (Bühne: Heike Scheele).

Stefan Herheim zeigt uns diese Teile in der Werkstatt, umgeben von Gerüsten, in denen der Chor als Arbeiterschar herum klettert. Über dem Versuch, die komplizierte und langwierige Entstehungsgeschichte der Oper in Szene zu setzen, gerät die eigentliche Handlung freilich ins Hintertreffen. Das Drama von Manon und Des Grieux, die von ihren ungezügelten Leidenschaften zerstört werden, bleibt uns seltsam fern. Die „passione disperata“, die großen Gefühle, die Puccini in Töne goss, kommen in Essen nicht beim Publikum an.

Giacomo Puccini (Mathias Kopetzki) hält Manon (Katrin Kapplusch) die Seiten seiner Partitur vor (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Giacomo Puccini (Mathias Kopetzki) hält Manon (Katrin Kapplusch) die Seiten seiner Partitur vor (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Die Regie lässt Puccini als stumme Rolle durch die Szene geistern. Wir sehen den Komponisten (Mathias Kopetzki), wie er aus dem Roman von Abbé Prévost Inspiration gewinnt, wie er die Sänger mit stummen Gebärden befeuert, wie er mit dem Werk ringt und mit seinen Protagonisten leidet. Das wirkt sich auf die Dauer als fatales Störelement aus. Immer wieder blättern die Sänger in einem Buch, womöglich der Romanvorlage, und singen zornig den Komponisten an, als begehrten sie zu wissen, wie es denn nun mit ihnen weitergehen solle.

Einem Flickenteppich gleicht die Produktion auch deshalb, weil herzlich unentschieden scheint, was denn nun eigentlich in Szene gesetzt werden soll: die Oper von Puccini, die Romanvorlage von Prévost oder doch lieber gleich der gesamte Manon-Komplex, der bis ins 20. Jahrhundert hinein zahlreiche Künstler inspirierte. Die prachtvollen Kostüme von Gesine Völlm schwanken zwischen dem französischen Rokoko und der Zeit um 1893. Des Grieux, der französische Chevalier, verwandelt sich immer wieder in den Bildhauer Frédéric-Auguste Barholdi. Als solcher fällt er aus der Szene heraus, um an seiner noch unfertigen Freiheitsstatue zu basteln.

Kaum wieder zu erkennen: Des Grieux (Gaston Rivero) verwandelt sich immer wieder in Frédéric-Auguste Bartholdi, den Erbauer der Freiheitsstatue. (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Kaum wieder zu erkennen: Des Grieux (Gaston Rivero) verwandelt sich immer wieder in Frédéric-Auguste Bartholdi, den Erbauer der Freiheitsstatue. (Foto: Karl Forster/Aalto-Theater)

Die Sänger sind nicht um eine Personenführung zu beneiden, die aus Manon eine prätentiöse Pute und aus Des Grieux einen aufgeregt flatternden Gockel macht. Indes können sie die enttäuschende Produktion nicht heraus reißen. Katrin Kapplusch beweist als Manon zwar Sicherheit und Durchschlagskraft, bleibt aber kalt und monochrom, mithin ohne Herzensglut oder mädchenhafte Farben. Als Gast gibt Gaston Rivero dem Chevalier Des Grieux einen zunächst eher dünnen Tenor, dessen Fragilität erst im Laufe des Abends kraftvolleren Tönen mit mehr Schmelz weicht. Ansprechend besetzt sind die kleinen Partien, von denen vor allen Heiko Trinsinger als Bruder Manons und Abdellah Lasri als Tanzmeister, Lampenanzünder und Edmondo zu nennen sind.

Wenig ist von den Essener Philharmonikern zu vermelden: Sie klingen unter der Leitung des Italieners Giacomo Sagripanti eher blass, begleiten unauffällig das Geschehen. Etliche Wackler gibt es zwischen dem Orchestergraben und den im Prinzip gut disponierten Chören des Aalto-Theaters, womöglich befördert durch manch aktionistisch anmutende Rennerei.

Gemessen an den hohen Erwartungen, geweckt durch den glänzenden Ruf des Regisseurs, muss diese Eröffnungspremiere als Enttäuschung bezeichnet werden. Sie mag als Fundgrube für Dramaturgen taugen, nicht aber für ein Publikum, das sich von Emotionen ergreifen lassen möchte. Das Aalto-Theater, für das die Zeichen in der zweiten Spielzeit unter Generalintendant Hein Mulders noch immer ein wenig auf Neuanfang stehen, hat sich mit dieser Koproduktion der Oper Graz und der Dresdner Semperoper einen ersten Flop eingefangen.

Termine und Informationen zum Stück: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/manon-lescaut.htm)

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen.) 




Das Theater, das Trauma und der Tod: Das Aalto-Theater entdeckt Bellinis „La Straniera“

Fremd und unnahbar: Marlis Petersen ist "die Fremde" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Fremd und unnahbar: Marlis Petersen ist „die Fremde“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Richard Wagner ist als Zwanzigjähriger „La Straniera“ begegnet. Das war 1833 am Stadttheater Würzburg, Bellinis Oper war knapp vier Jahre vorher uraufgeführt worden, also eine aufregende Novität. Wagner erinnerte sich viel später noch an diese Oper, 1878, als sie längst aus den Spielplänen verschwunden war: „Wirkliche Passion und Gefühl“ bescheinigt er Bellinis Werk, und bemerkt süffisant, dass die „Herren Brahms & Cie.“ nicht gelernt hätten, was er, Wagner, davon in seine Melodie aufgenommen habe.

Leider hat Wagners Wohlwollen für die wohl komplexeste romantische Oper Bellinis das Werk nicht retten können: „La Straniera“ bleibt bis heute, was ihr Titel bedeutet: „Die Fremde“. Hier und da in Italien oder beim Wexford Opera Festival in Irland hat man sich ihrer erbarmt. Doch Folgen für das Repertoire blieben aus. Und die Neuinszenierung im Juni 2013 in Zürich, angeregt und gesungen von Edita Gruberova, die jetzt ins Aalto-Theater in Essen übernommen wurde und 2015 ans Theater an der Wien weiterzieht, stand von Anfang an unter dem Generalverdacht, hier werde einer alternden Primadonna ein weiteres Belcanto-Vehikel zugestanden.

In Essen stand nicht die Preßburger Diva im Fokus. Das tut der Wahrnehmung des Werks gut: „La Straniera“ ist nämlich nicht anders auf seine Protagonistin zugeschnitten als etwa „Norma“ oder ein beliebiges anderes Werk der Epoche. Bellinis Oper ist sparsam, zuweilen asketisch orchestriert; aber was zu hören ist, atmet Finesse, bezaubert durch subtile Farben, schafft nervöse Spannung und verströmt das Fluidum poetischer Resignation, aber auch kämpferischen Aufbegehrens. Bellinis Raffinesse im Einsatz der schweifenden Tonarten, gepaart mit einer höchst bewusst eingesetzten Dramaturgie, verbindet sich mit seiner unkonventionellen Melodik. Sie hat schon die zeitgenössische Kritik begeistert oder verstört – und Nachfolger wie Hector Berlioz und Richard Wagner zu höchstem Lob animiert.

Bellinis Aufbrechen der geschlossenen Formen entspricht musikalisch der radikalen Romantik des Librettos. Felice Romani schafft im Einverständnis mit dem Komponisten die gewünschten „neuen und großartigen“ Szenen, geeignet zum „Weinen, Schaudern und Sterben“. Doch diese Romantik hat – und das interessiert uns heute – eine moderne Seite: „La Straniera“ spricht davon, wie unmöglich es sei, ein Leben linear und folgerichtig zu erzählen. Und vermittelt das Gefühl der Fremdheit in einer Welt, in der die eigene Passion, der eigene Lebensentwurf an unbezwingbaren Barrieren zerschellt. Eine Welt zum Tode: Bellini und Wagner sind sich so fremd nicht. Wovon anders spricht denn der „Tristan“?

Sehnsucht über den Tod hinaus: Alaide, die "Staniera" (Marlis Petersen), und Arturo (Alexey Sayapin) kommen nicht voneinander los. Foto: Thilo Beu

Sehnsucht über den Tod hinaus: Alaide, die „Staniera“ (Marlis Petersen), und Arturo (Alexey Sayapin) kommen nicht voneinander los. Foto: Thilo Beu

Christof Loy, gebürtiger Essener, der zum ersten Mal in seiner Heimatstadt eine Regie übernommen hat, entdeckt noch andere Aspekte: Zum Beispiel, dass die Handlung Elemente einer Krimi-Story in sich trägt. Die Fremde, Alaide, muss ihre Identität unter allen Umständen geheim halten: Sie ist die französische Königin, die wegen Bigamie aus der Öffentlichkeit verschwinden musste. Romani hat überraschende „coups“ geschickt platziert: ein vermeintlicher heimlicher Liebhaber entpuppt sich als der Bruder Alaides. Zwei vermeintlich Tote kehren zurück.

Am Ende wird die Identität der „Straniera“ effektvoll enthüllt. Das löst das die Verwicklung nicht, sondern spitzt sie unentrinnbar zu: Für Arturo, der auf die geheimnisvolle Frau aus dem Wald eine existenziell unbedingte, alternativlose Liebe projiziert, ist die Geliebte künftig unerreichbar: Damit ist sein Tod durch eigene Hand erschütternd konsequent.

Einen so tragisch in seiner überhitzten Gefühlswelt verbrennenden Helden kennt die italienische Oper selten. Dieser Arturo ist im Rahmen des Geschehens ein glaubwürdiger Charakter: ein Werther des romantischen Melodramma zwischen egozentrierter Radikalität und Realitätsverlust. Alexey Sayapin gibt der Figur unter der kundig-einfühlsamen Hand Christof Loys darstellerische Kontur. Selbst seine monochrome, selten ganz frei schwingende Stimme passt zu diesem von einem einzigen inneren Gefühlsbrand verzehrten Menschen.

Ein Geschehen zwischen Realität und theatraler Imagination: So nähert sich Loy der Handlung, deren Kolportage-Bruchstücke und verweigerte Logik meist mit Begriffen wie „krude“ abgetan wird. Doch ein Alptraum, der sich monströs ins reale Leben wälzt, folgt keiner sauber ausgezirkelten Klassiker-Szenenfolge.

Das Bühnenbild von Annette Kurz macht Elemente des Theaters sichtbar: hölzerne Aufbauten, Hänger, Seilzüge. Die „romantischen“ Landschaften des Librettos sind als Bild-Zitate präsent; die Waldhöhle der „Fremden“ auf transparenten Schleiern ist zitierter romantischer Topos und Mittel der Verschleierung zugleich. Die Kostüme von Ursula Renzenbrink verharren in der Entstehungszeit der Oper, zitieren Figuren wie Braut und Brigant, machen nicht den Versuch, aus ihnen Menschen einer anderen Epoche zu machen: der Abstand des „Melodramma“ von unserer Gegenwart bleibt unangetastet.

Das Volk als bedrohliches kollektives Wesen: Wer fremd ist, wird ausgegrenzt und verfolgt. Foto: Thilo Beu

Das Volk als bedrohliches kollektives Wesen: Wer fremd ist, wird ausgegrenzt und verfolgt. Foto: Thilo Beu

Loy zeigt aber noch einen anderen, bedrohlichen Aspekt jenseits der romantisch exaltierten Personen des Stücks: Der Chor – von Alexander Eberle wieder vorzüglich einstudiert – agiert als bedrohliches kollektives Wesen: die Fremde im Wald wird beargwöhnt, ausgegrenzt, verdächtigt, verfolgt. Da wird die „Hexe“ auch schon mal als Puppe aufgeknüpft. Die Meute des Dorfes hat auch ihren Führer, den – mit leuchtender Klarheit singenden – Osburgo (Benjamin Bernheim), ein Aufhetzer, von dem eine direkte Linie zu Brittens „Peter Grimes“ zu ziehen wäre. Die „Fremde“ ist in der Konzeption Loys auch die „Andere“, die sich dem Anpassungs- und Erwartungsdruck der Gesellschaft nicht beugen will – und kann.

Während Christof Loy also – wieder einmal – eine durchdachte szenische Auseinandersetzung mit der romantischen italienischen Oper bietet, bleibt die musikalische Seite im Graben hinter diesem Niveau zurück. Josep Caballé Domenech, neuer GMD der Oper Halle, bringt die Essener Philharmoniker ungeachtet vieler solistischer Glanzpunkte nicht auf das Niveau, das Stefan Soltesz mit seiner sensationellen Deutung von Bellinis „I Puritani“ vor zehn Jahren erreicht hat. Das ist keine Frage des versierten Handwerks, sondern zum Beispiel eine der zu schematischen Agogik. Aber auch eine der Mischung von Farben, die bei der aquarellnahen Transparenz der Musik im Detail stimmen muss.

Ein großer Abend für Marlis Petersen als "La Straniera". Foto: Thilo Beu

Ein großer Abend für Marlis Petersen als „La Straniera“. Foto: Thilo Beu

Die „Straniera“-Premiere war ein großer Abend für Marlis Petersen. Ihr Sopran hat die fein melancholische Färbung, die der jugendlichen Frische einen resignativen Schleier überwirft: Im Gesang äußern sich Trauer und Qual einer gefangenen Seele. Aber die Sängerin kann auch voll Glanz und Energie den Abstand etwa zum zerbrechlichen Wahnsinn von Donizettis Frauen wie „Linda di Chamounix“ oder „Lucia di Lammermoor“ markieren. Petersen stehen erfüllte Phrasierungskunst und eine seelenvolle Geläufigkeit zu Gebot; nur die Höhe bildet sie mit Druck am Gaumen und verfärbt damit den Ton. Dennoch demonstriert die Sängerin, die unter anderem in Wien als Traviata und Medea und in New York als Ophélie in Thomas‘ „Hamlet“ brillierte, dass die Krise des Belcanto nicht durchgängig ist und es keiner „Diva“ bedarf, um eine Oper wie „La Straniera“ überzeugend zu besetzen.

Mehr Glück als Gram bereiten auch die anderen Sänger. Sie sind weit mehr als Stichworte gebende Comprimari: Luca Grassi als Valdeburgo versucht, seine Schwester zu schützen – auch vor der wahnwitzigen Leidenschaft seines Freundes Arturo – und wird so zu dessen Feind. Der Bariton singt mit kraftvollem, klar fokussiertem Ton, die geschmeidige Linie gehört nicht zu seinen Stärken. Ieva Prudnikovaite ist Isoletta – die Frau, mit der Arturo ein geregeltes Leben im gesellschaftlich anerkannten Rahmen führen soll, und die er mit seiner in sich selbst verkrümmten Liebesraserei brüskiert und tief verletzt. Ihr fest gefügter Mezzo kontrastiert stimmlich treffend mit der ätherischen Kantilenen-Deklamation ihrer unbezwingbaren Rivalin. Mit „La Straniera“ ist dem Aalto-Theater eine der wichtigsten Premieren dieser Spielzeit nicht nur in der Rhein/Ruhr-Region gelungen; es wäre dringen zu wünschen, dass dieses komplexe, überraschende und für eine ganze Epoche exemplarische Werk nicht wieder achtlos beiseite gelegt wird.

www.aalto-musiktheater.de




Charlotte im Puppenheim: „Werther“ von Jules Massenet im Aalto-Theater Essen

Spaziergang auf Kunstrasen: Werther (Abdellah Lasri) und Charlotte (Michaela Selinger) wandeln im Mondschein (Foto: Matthias Jung)

Spaziergang auf Kunstrasen: Werther (Abdellah Lasri) und Charlotte (Michaela Selinger) wandeln im Mondschein (Foto: Matthias Jung)

Ein Baumstamm durchschlägt das Dach des Hauses. Herbstlaub fliegt durchs Fenster herein, Schneeflocken wirbeln durch die Türen. Manchmal schneit auch Werther vorbei, ein Schwärmer und Träumer, der eng mit der Natur im Bunde steht. Seine manische Leidenschaft für die verheiratete Charlotte verwandelt deren trautes Heim nach und nach in ein Trümmerfeld.

Nach diesem simplen Prinzip funktioniert die neue Inszenierung der Oper „Werther“ von Jules Massenet, mit der Carlos Wagner jetzt seinen Einstand im Essener Aalto-Theater gab. Der im venezolanischen Caracas geborene Regisseur setzt seine Gedanken zu dem 1892 uraufgeführten lyrischen Drama mit einer kindlich anmutenden Begeisterung um, die sich nur wenig fragt, ob und wie von der „Amour fou“ des Werther heute noch glaubwürdig erzählt werden kann.

Wagner versetzt Charlotte in ein zweistöckiges Puppenheim, dessen Bullerbü-Romantik sogar die angedeuteten pädophilen Neigungen des Familienvaters zukleistert (Bühne: Frank Philipp Schlößmann). Die berühmte Mondnachtszene lässt er unbefangen mit einem Fuß durch den Edelkitsch spazieren. So bedient die Regie just die Süßlichkeit, die Massenets üppiger, zugleich aber höchst subtiler Musik ebenso oft wie ungerecht vorgeworfen wurde.

Die Personenführung bereitet peinvolle Momente. Werther muss entweder rennen und mit den Händen fuchteln oder mit starren Fischaugen ins Leere glotzen. Wenn er im Takt der Musik mit der Stirn gegen die Wand schlägt, ist eine Schmerzgrenze erreicht. Gekrönt wird das vom oberlehrerhaft erhobenen Zeigefinger im Schlussgesang. Horcht noch mal her, denn gleich bin ich tot!

Charlotte (Michaela Selinger) findet Werther (Abdellah Lasri) im Schnee gerade noch lebend an (Foto: Matthias Jung)

Charlotte (Michaela Selinger) findet Werther (Abdellah Lasri) im Schnee (Foto: Matthias Jung)

Der Marokkaner Abdellah Lasri, der dies in der Titelpartie umsetzen muss, ist nicht darum zu beneiden. Ihm und der Sopranistin Michaela Selinger ist es zu verdanken, wenn von dieser Neuproduktion doch noch Glanz ausgeht. Lasris Tenor besitzt beachtliche Strahlkraft und eine gelungene Mischung aus Brust- und Falsettstimme. Vehemenz und Fragilität des Werther sind bei ihm gut aufgehoben: Auf sentimentale Schluchzer kann er locker verzichten. Seine Mittellage ist warm und verfügt über schwärmerische, auch grüblerisch getönte Farben.

Dem Tenor zur Seite trumpft Michaela Selinger mit den lyrischen Qualitäten ihrer Stimme auf, aus der mit Charlottes zunehmender Seelenqual auch dramatische Spitzen lodern. Sie formt die Partie überzeugend durch; leichte Ermüdungserscheinungen machen sich erst in der Schlussszene bemerkbar. Christina Clark als vogelleicht zwitschernde Sophie und Heiko Trinsinger als sonorer Albert rahmen die Protagonisten sehr wirkungsvoll ein.

Der französische Dirigent Sébastien Rouland leitet die Premiere mit großen Bewegungen, aber durchaus umsichtig. Nach einem eher grob gezeichneten Beginn finden die Essener Philharmoniker unter seinem Dirigat zu schwärmerischen Klängen, die nicht in die Falle des Sentiments tappen. Die Mondmusik klingt zart und wiegend, die dramatischen Ausschläge sind dunkel, zuweilen aufgeraut expressiv. Emphase und Verzweiflung, Depression und Enthusiasmus fließen auf das Schönste ineinander. Gut einstudiert präsentiert sich der Kinderchor (Patrick Jaskolka), der das Drama mit einem starken Kontrapunkt beendet.

Das öde Schlussbild ertrinkt förmlich in Massen von Kunstschnee, die vom Bühnenhimmel rauschen. Nun ja. Die Natur kann zuweilen auch gnädig sein.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/werther.htm)




„Tristan und Isolde“ in Essen: Peter Schneiders meisterliches Dirigat

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für "Tristan und Isolde" fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für „Tristan und Isolde“ fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Hätte dieser Liebestod doch alleine im Orchestergraben stattgefunden! Musikalisch geformt von Peter Schneiders kundiger Hand, aufblühend aus einem delikaten Piano zu fiebrigem Glanz, transparent, geschmeidig und klangvoll, in leuchtender Ekstase auf dem Höhepunkt der dynamischen Entfaltung.

Aber zum Schlussgesang von „Tristan und Isolde“ gehört die Stimme – in Essen diejenige von Evelyn Herlitzius. Und die allseits gefeierte Sängerin brach am Aalto-Theater in der letzten der drei „Tristan“-Vorstellungen dieser Wagner-Jubiläums-Spielzeit den magischen Moment des Verströmens herunter auf höchst irdisches Buchstabieren.

Herlitzius hatte schon die Premiere von Barrie Koskys Inszenierung unter Stefan Soltesz 2006 gesungen. Es war ihre zweite Isolde nach Chemnitz – und die erste vor international relevanten Bühnen wie Dresden, Wien, Berlin. Bei ihrem Essen-Debüt lobte die Kritik ihre vokale Risikobereitschaft, ihren bedingungslosen Einsatz. Das stimmt auch für 2013, nur: Evelyn Herlitzius hat darüber vergessen, dass Isolde nicht nur ein Parforceritt im Zeichen von Forte- und Fortissimo-Anspannung ist. Der erste Akt geriet mit überbordender vokaler Gewalt zu einem Schrei-Duell mit der schönstimmigen, nur manchmal in der Höhe spitzen Martina Dike. Und der „Liebestod“ begann nicht „mild und leise“ – und setzte sich fort im Versinken und Ertrinken in riesigen Tönen, weit abgekehrt von sauberer Artikulation, flexiblem Legato oder sinnlichem Strömen.

Im zweiten Akt zeigte sich, dass allen prachtvollen Volumens zum Trotz der Kern der Stimme im Mezzoforte nicht erfüllt fließend, sondern flackernd gespannt klingt. Der Gegensatz zu Jeffrey Dowd, der sich bemüht, den Tristan lyrisch grundiert und entspannt zu singen, kann nicht größer sein: Zwei Stimmen, die im Duett nicht harmonieren, zumal Dowd die leuchtend-expansive Höhe nicht aufbringen kann. Mit kluger Ökonomie bewältigt das bewährte Essener Ensemblemitglied den dritten Akt, lässt sich nicht zum Forcieren hinreißen und kleidet so die Sehnsuchtsverzweiflung Tristans eher in resigniert gedämpfte als in aufbrausend gewaltige Klänge.

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von "Tristan und Isolde" in Essen. Foto: Matthias Jung

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von „Tristan und Isolde“ in Essen. Foto: Matthias Jung

Mit Liang Li präsentierte sich ein neuer König Marke, der die Partie aus einem kantablen Ansatz heraus gestaltet, aber hin und wieder den Ton nicht ausreichend fokussiert. Vielleicht kommt die Partie für den Bass, der einen mustergültigen Banco im Essener „Macbeth“ gesungen hat, noch zu früh. Tadellos Heiko Trinsinger, der die Rolle des Kurwenal szenisch wie musikalisch weiter verinnerlicht hat: Überzeugender als früher lässt er den Klang strömen, bildet kraftvolle Höhe statt mit gestautem mit freier gehaltenem Atemfundament. Die sorgende Zuwendung zu dem tödlich getroffenen Freund Tristan und das bedingungslose Einstehen für sein Leben haben in Trinsingers Gestaltung berührende Größe.

In den von Wagner weniger ausgiebig bedachten Partien kann das Aalto-Theater auf bewährte Sänger zurückgreifen: Albrecht Kludszuweit als kultiviert singender Hirte, Mateusz Kabala als klischeeferner Melot, Rainer Maria Röhr als Seemann und Thomas Sehrbrock als Steuermann. In der szenischen Wiederaufnahme gab sich Frédéric Buhr alle Mühe, die Intentionen Koskys zu reanimieren. Dennoch: Klaus Grünbergs Bühne mit dem in riesenhafter Schwärze schwebenden Licht- und Erzähl-Raum ist das Plus dieser Produktion, die Kosky nach einigen modisch-überflüssigen Sexual-Errationen im ersten und einer sorgfältigen, aber wenig pointierten Personenregie im zweiten und dritten Akt unschlüssig enden lässt.

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

So bleibt als prägender Eindruck das meisterliche Dirigat Peter Schneiders. Lange Erfahrung, eine intime Kenntnis der Partitur, Achtsamkeit für die Sänger prägen seine Auffassung. Schneider knüpft an der intensiven Arbeit von Stefan Soltesz an, der die drei „Tristan“-Vorstellungen ursprünglich als Gast an seinem langjährigen Stammhaus dirigieren sollte, aber alle Aalto-Auftritte abgesagt hat. Auf die Essener Philharmoniker ist Verlass: von der genau ausgehörten Streicher-Balance über die konturscharf zugeschnittenen prominenten Bläser-Momente, den solistischen Glanz bei Hörnern oder Holzbläsern bis hin zu Andreas Goslings elegisch-intensivem Englisch Horn.

Schneider nutzt dieses „Kapital“ für einen schlanken, fließenden Duktus der Musik, für bewegte Tempi – die nur im zweiten Aufzug die Holzbläser für einige Momente hastig wirken lassen – und für einen aufgelichteten Mischklang, der Details nicht zudeckt, aber auch nicht über Gebühr heraushebt und damit die Rundung des Klangs beeinträchtigt. Der dritte Aufzug beginnt mit der schmerzlich intensiven Tönung durch die tiefen Streicher und begeistert durch exquisit kultivierte Piano-Schattierungen und die Kunst des Übergangs – wie sie bei Schneiders letztem „Tristan“-Dirigat 2012 in Bayreuth schon zu bewundern waren. Wie hätte Wagner reimen können? In diesem „Tristan“ webt Wunder ein wissender Weiser.




Verdis „Macbeth“ in Essen: Das Drama der lebenden Toten verläuft sich in Bildern

Gun-Brit Barkmin als Lady Macbeth in Essen. Foto: Matthias Jung

Gun-Brit Barkmin als Lady Macbeth in Essen. Foto: Matthias Jung

Ein kleiner Erdhügel zu den gläsernen punktierten Zweiunddreißigsteln des Vorspiels von Verdis „Macbeth“. Ein Grab. Zwei Menschen nähern sich ihm, Lilien in den Händen. Der Fortissimo-Sturm der scharf akzentuierten Bläser bricht los. Unter der Bühne kracht und knallt es; ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel, als starte ein monströses Raumschiff. Die Wurzeln triefen zu Boden – dorthin, wo sich ein kreisrunder Schlund geöffnet hat.

Mit einem spektakulären Bild werden die Zuschauer im Essener Aalto-Theater von Bühnenbildner Christof Hetzer in Verdis abgründige Tragödie hineingestoßen. Baum und Grab – Symbole für Leben und Tod – bilden die zentralen Motive der Bühne; Abgrund und Brücke treten dazu: Hetzer baut über den manchmal schwarz starrenden, manchmal trüb beleuchteten Krater einen Steg wie aus einem jener schwarzweißen, gruseligen Gothic-Krimis, in denen sich das Abgründig-Menschliche und das Unheimlich-Übernatürliche auf geheimnisvolle Weise verbinden.

Herbstblätter bedecken die weite Fläche der Bühne. Ein riesiger Raum, in dem die Figuren oft verloren wirken – wie hinausgeworfen in eine Welt in Dunkelheit oder Zwielicht, in der sie keine Orientierung finden. Nur die Gräber sind Bezugspunkte: ein erdiges Kindergrab und ein alter Sarkophag aus rissig-moosigem Stein. Dorthin werden die Toten gekippt. Dort stirbt Macbeth, noch lebend schon im Grabe, mit seinen letzten Worten die Krone von sich werfend.

Kinderlosigkeit löst den blutigen Machttrieb aus: Tommi Hakala am Grab. Ein gestorbenes oder nie geborenes Kind? Foto: Matthias Jung

Kinderlosigkeit löst den blutigen Machttrieb aus: Tommi Hakala am Grab. Ein gestorbenes oder nie geborenes Kind? Foto: Matthias Jung

Das Motiv der lebenden Toten ist auch für David Hermann in seiner Inszenierung ein entscheidendes: Wenn der König die Schotten für jenes fatale Fest versammelt, auf dem ihn der Geist des ermordeten Banco in Angst und Wut entrückt, scheint er längst selbst zum Totenreich zu gehören: Er spricht mit den Ermordeten, die wie lebensgroße Marionetten auf dem Sarkophag hocken, lässt sie wie Handpuppen sprechen und nicken, echauffiert sich, als eine der Gestalten zusammenklappt. Ein grotesk-makabres Theater, von dem die Menschen um ihn herum keine Notiz nehmen. Wie bei einem Picknick in Glyndebourne sitzen sie im Herbstlaub, speisen aus geflochtenen Körben, lassen sich von Macbeth ohne Reaktion die Weinflasche wegnehmen. Mit der realen Welt hat das mörderische Königspaar nichts mehr zu tun – es ist längst in seine eigene Horrorwelt hineingestorben.

Das ist alles sehr klug, sehr konsequent und sehr detailreich erfunden – und lässt dennoch auf seltsame Weise unberührt. Vielleicht, weil uns diese Wiedergänger-Geschichte nicht interessiert. Weil die Spannung zwischen der Welt der Lebenden und der Toten im allumfassend leblosen Raum aufgelöst wird. Weil der humane und der politische Aspekt des Stücks wegsymbolisiert, wegpsychologisiert wird. Oder auch, formal argumentiert, dem spektakulären Baumstart zu Beginn szenisch nicht mehr viel folgt.

Ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel. Foto Matthias Jung

Ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel. Foto Matthias Jung

Die Hexenchöre schallen aus der unbestimmten Dunkelheit; die Erscheinungen im dritten Akt sind ein beziehungsreicher, aber szenisch läppisch gelöster Aufmarsch schwangerer Frauen. Das Bild des leidenden Volkes zu Beginn des vierten Aktes – der Chor schiebt sich durch den Zuschauerraum nach vorne – bleibt stumpf; die blutigen Kinderleichen um den Sarkophag auf der Bühne wirken dazu wie ein zu billig geratener Schockeffekt. Auch die zwei Zeit-Ebenen, durch Hetzers Kostüme gekennzeichnet, helfen nicht wirklich weiter.

So spitzt sich das Drama nicht zu, sondern verläuft sich eher in den Bildern. Ein Grund mag sein, dass Hermann mehr auf die sorgfältig gesetzten symbolischen Gesten setzt als auf eine sprechende Personenführung. Der glänzende Handschuh, den Macbeth vom Arm des toten Duncan streift – ist es „la man rapace“, die „räuberische Hand“, die er gegen seine erklärte Absicht dann doch erhebt? Wenn Macbeth den toten Banco mit einer Lilie peitscht – ist es eine Chiffre für den verzweifelten Hass auf den Mann, der Kinder hat? Kleine Jungs in Anzügen plagen den König – sind es die drohenden Nachkommen Bancos?

Die Videos von Martin Eidenberger, projiziert auf den massiven Mauerwürfel, der sich einige Male über die Szene senkt, schaffen in der Hexenszene des dritten Akts eine deutende Bild-Ebene, sind aber an anderer Stelle aber banal: eine rote Hand etwa, oder kaleidoskopartige Muster. Wir sehen eine Inszenierung, die das Stück nicht verschenkt, die viel Reflexion und Dramaturgen-Subtext integriert, aber als Theater die Spannung nicht hält, die Aufmerksamkeit nicht durchgehend fesseln kann. Kein missglückter, aber auch kein rundum überzeugender Auftakt der neuen Ära am Aalto-Theater.

Einstand mit "Macbeth": Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Einstand mit „Macbeth“: Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Mit Spannung erwartet wurde den Einstand des neuen GMD Tomáš Netopil in der Oper: Kurz gesagt, war es ein glückliches Debut. Netopil bewies, was sich bereits in Verdis „Missa da Requiem“ im Sinfoniekonzert angekündigt hatte: Er hat die Sensibilität für Verdis musikalisch-dramatische Orchestersprache, für den klugen Aufbau dynamischer Großstrukturen, für das behutsam ausgeformte Detail, für die rhythmische Prägnanz und den erfüllten Duktus der Melodie. Dem Finale des Ersten Akts etwa gibt er den agogisch gestalteten, inneren rhythmischen Drang, der sich in der sicher angesteuerten Entladung befreit.

Die Philharmoniker lassen kaum etwas zu wünschen übrig, sind auf dem Punkt, wenn es um die Einfärbung des Klangs durch gekonnte Balance der Instrumente geht, um die Schärfe punktierter Rhythmen oder den wuchtigen Tutti-Zugriff, gestützt von prachtvollen Blechbläsern. Was sich noch entwickeln muss, sind die Finessen des Ausdrucks: Die „tinta“, die Verdi haben will, jene im Falle des „Macbeth“ dunkel verschattete Orchesterfarbe, die fahlen Klänge, die erstickten, halb unterdrückten Laute, die unwirklichen, atmosphärisch entrückten Momente, bleiben bei Netopil noch zu neutral. Und im Vorspiel schlittert er aus einer zu stark angezogenen Bewegung in ein nicht unheimlich-majestätisches, sondern schleppend langsames Tempo. Auch die kruden Striche waren überflüssig und ärgerlich: So etwas sollte sich Netopil gleich gar nicht angewöhnen.

Eine reife Leistung darf man Alexander Eberles Chor attestieren: Tönten die Hexenchöre anfangs zu lyrisch-brav aus dem Off, entwickelte sich der Klang ab dem Sextett mit Chor zu prachtvoller Größe. Die Solisten geben dagegen nicht nur Anlass zum Glücklichsein. Gun-Brit Barkmin als Lady wird mit den Anforderungen ihrer Riesenpartie in punkto Beweglichkeit und psychologischer Differenzierung anstandslos fertig. Aber die Stimmfarbe ist sehr hell und schwer zu verschatten. Ihre Piano-Skala lässt sich weit auffächern, aber das hohe b, mit dem sie im Sextett über den Chor kommt, klingt gellend und scharf. Außerdem neigt Barkmin dazu, in die Sprechstimme zu wechseln, nähert sich veristischen Ausdrucksmitteln, die sie auch in ihrer Wahnsinnsszene einsetzt, statt mit der Stimmfarbe zu spielen.

Auch der Macbeth des finnischen Baritons Tommi Hakala flattert unzureichend gestützt, wird immer wieder in der Höhe eng, verliert den Kern des Klanges. Doch in der finalen Szene, als Macbeth allen Sinns verlustig mit seiner Krone auch sein Leben wegwirft, läuft Hakala zu großer Form auf: Diesem unterdrückten, stammelnden Absterben des Tones, das Verdi in seinem höchst expressiven Schluss des „Macbeth“-Ursprungsfassung von 1847 fordert, entspricht der Sänger voll und ganz. Hätte er nur für die kantablen Szenen dieselbe Solidität. Aber dort, wo sichere Technik gefragt ist, kommt Hakala ins Schwimmen.

Für Alexey Sayapin, neues Ensemblemitglied, als Macduff gilt das nicht. Er demonstriert in seiner Arie eine versierte Beherrschung seines Tenors – die ihm in den dünn gequäkten Tönen des Finales wieder fehlt. Was Sayapin nicht hat, ist der flutende, freie Klang, der den traditionell geschulten, heute selten gewordenen italienischen Tenor auszeichnet. Die Stimme sitzt zu fest, der Klang wird nicht entspannt gebildet.

Ein Gewinn für Essen ist der Bass Liang Li: Eine voluminöse, aber beherrschte Stimme, reich an Farben und fähig, sie auch flexibel einzusetzen; ein meist kontrolliertes Vibrato und eine schmelzende Legato-Linie. Ein mustergültiger Banco. Marie-Helen Joël bewährt sich erneut erfreulich als Kammerfrau der Lady, die von Macbeth ebenso gemeuchelt wird, ebenso wie der in seinen wenigen Sätzen schönstimmige Arzt (Baurzhan Anderzhanov). Abdellah Lasri kann als Malcolm problemlos Tenor-Paroli bieten. Die erste Premiere unter Intendant Hein Mulders ist mehr als ein Versprechen, noch nicht ganz eine Erfüllung, signalisiert aber den Elan, mit dem sich das neue Team am Aalto die Zukunft erobern will. Nur zu!




Gala zu 25 Jahren Aalto-Theater: Norbert Lammerts Plädoyer für die Oper

Wird 25 Jahre: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Wird 25 Jahre alt: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

„Wacht auf“! Der Chor aus Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ hätte durchaus an den Schluss der Rede von Norbert Lammert gepasst. Nicht, weil dieser Appell an die Zuhörer bei der Gala zum 25-jährigen Bestehen des Essener Aalto-Theaters nötig gewesen wäre: Der Bundestagspräsident hielt sein Publikum gekonnt bei der Stange. Sondern weil sein leidenschaftliches, argumentativ brillantes Plädoyer für die Oper endlich einmal zum Aufwachen führen sollte.

Zum Aufwachen bei seinen Kolleginnen und Kollegen in der Kulturpolitik, die dem Musiktheater seit Jahren eine Krise nach der anderen einbrocken. Davon war bei der festlichen Gala im Aalto-Theater nichts zu hören. Verständlich: Man feiert zu Recht das Bestehende, freut sich am Gegebenen. Es muss nicht Krisen-Geraune über jedem Anlass zur Freude liegen.

Essen: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Einer der schönsten Theaterbauten Europas: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Und ein Grund zum Feiern ist das Jubiläum in der Tat: Essen besitzt mit dem Bau des finnischen Architekten einen der schönsten Theaterbauten Europas, wenn nicht sogar weltweit. Das betonte Oberbürgermeister Reinhard Paß zu Recht. Wohl kaum ein Essener Bürger wird vergessen, neben der Zeche Zollverein „das Aalto“ als kulturellen Leuchtpunkt der Stadt zu nennen. Die Festschrift zum Jubiläum, nach der Veranstaltung kostenlos verteilt, lässt zwischen blau-silbernen Buchdeckeln 25 Jahre Erfolgsgeschichte Revue passieren: Von der Eröffnungspremiere – natürlich „Die Meistersinger von Nürnberg“ – über die damals provokante erste von 18 Regiearbeiten Dietrich Hilsdorfs („Don Carlos“) bis hin zum Abschied von Stefan Soltesz mit Joachim Schlömers verstiegenem „Parsifal“.

Das Aalto hatte in diesen 25 Jahren drei Intendanten, drei Generalmusikdirektoren, drei Chordirektoren, drei Ballettchefs und drei Geschäftsführer: ein Zeichen von Solidität und kontinuierlicher Arbeit. Das Niveau in diesen Jahren ist unbestritten; die Auszeichnung „Opernhaus des Jahres“ 2008 ist nur ein Zeichen dafür, wie sehr das Aalto-Theater als eine der führenden deutschen Bühnen geschätzt wird.

Auch Nordrhein-Westfalen ist Theater-Krisenland

Aber: Man muss nicht nach Sachsen-Anhalt blicken, wo gerade eine von allen guten Geistern verlassene Landesregierung die Theaterlandschaft irreparabel zu schädigen plant und die Zukunftsinvestitionen Bildung und Kultur zusammenstreichen will. Auch Nordrhein-Westfalen ist ein Theater-Krisenland; da mögen sich die Kulturhauptstadt-Nachklänge noch so sirenenhaft entfalten: Die Kölner Opernkrise ist nach dem peinlichen Spiel um die Intendanz Uwe-Eric Laufenbergs mühevoll auf einem Niveau abgewendet, auf dem künstlerische Wagnisse kaum mehr finanzierbar sind. Die Oper Bonn muss unter ihrem neuen Intendanten Bernhard Helmich mit drei Millionen Euro weniger auskommen.

An der Deutschen Oper am Rhein herrscht Ruhe, so lange, bis die nächste Krisenrunde in Duisburg ansteht. In Gelsenkirchen wird in dem wunderbaren Bau von Werner Ruhnau dank des ungebrochenen Willens zur Kultur noch produktives Musiktheater gespielt – allerdings im Vergleich zu früher mit einem Rumpfprogramm, das zu unterschreiten seriös nicht mehr möglich ist. Hagen kämpft verzweifelt ums Überleben – und das schon seit Jahren.

Und in Wuppertal ist die – von politischer Seite sogar als mutig bezeichnete – Schließung des Schauspielhauses bittere Realität: Die Schauspieltruppe ist auf einen Zehn-Personen-Rest geschrumpft und auch die Oper wird unter ihrem neuen Intendanten Toshiyuki Kamioka, dem bisherigen Chefdirigent der Wuppertaler Sinfoniker, auf ein Niveau gekürzt, auf dem vielleicht noch ein Betrieb, aber kaum mehr künstlerische Herausforderungen bewältigt werden können.

Wuppertal steht exemplarisch für ein weithin beobachtbares Phänomen, das innere Aushöhlen kultureller Einrichtungen. Das liegt ja auch in Essen nicht fern: Auch das Aalto-Theater litt unter Kürzungsrunden. Ein Haus dieser Größe müsste sich eigentlich mehr als fünf Opernpremieren pro Spielzeit leisten können, von der fast verschwundenen Operette ganz zu schweigen. Aber das wagt kaum jemand mehr zu sagen – es könnte ja als undankbar gelten: Seien wir froh, dass wir noch so gut dastehen. Und wer weiß, wann die Theater und Philharmonie Essen (TuP) angesichts des Wetterleuchtens für den Essener Haushalt 2014 erneut mit dem falschen, aber dennoch wirksamen Totschlagargument konfrontiert wird, dass in Krisenzeiten „alle“ sparen müssten.

Harte Argumente für die Oper

Aufwachen also! Aber wie? Für die von Nothaushalten gebeutelten Städte, denen vor allem der Bund viele Kosten aufgebürdet, aber keine Entlastungen gewährt hat, ist diese Frage kaum zu lösen. Norbert Lammert ist als Bundestagspräsident weit weg von der kommunalen Kleinarbeit, aber nahe dran an denen, die große Linien vorgeben. Die Situation drängt nach der Frage: Wann kommt der Rettungsschirm für die Kultur? Die Kommunen alleine sind längst überfordert.

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Norbert Lammert hat sein Eintreten für die Oper mit harten Argumenten untermauert: Die Kunst- und Kulturlandschaft gehört zu den Pfunden, mit denen das Ruhrgebiet wuchern kann. „Die Ausgaben für Kunst und Kultur fließen mit bemerkenswerter Präzision in die heimische Wirtschaft zurück“, fasste er das Ergebnis vieler Studien der letzten Jahrzehnte zusammen. Es sind also nicht allein schöngeistige Argumente, die für die Oper sprechen. Die werden zwar höchstens von Kämpfern gegen die „elitäre“ Kultur angezweifelt – wie jüngst in Bonn u.a. von den „Piraten“ –, aber angesichts von Haushaltszwängen und Verteilungskämpfen dennoch gerne in die zweite Reihe abgeschoben.

Lammert wusste auch solchen Einwänden überzeugend zu kontern: Wer die angeblich elitäre Hochkultur nicht ausreichend öffentlich fördert, „verschärft den sozialen Ausschluss hochinteressierter, in der Regel aber nicht hochverdienender Kunstfreunde“. Und weiter: „Wer Kulturausgaben kürzt, gefährdet nicht Salzburg, sondern Hagen und Gelsenkirchen.“ Dafür war ihm der Beifall des Auditoriums sicher.

Kein Haushalt wird durch Kultur-Kürzungen solider

Auch was Lammert zu den finanziellen Belastungen durch Kulturausgaben erwähnte, ist längst bekannt, wird aber in den Debatten regelmäßig verdrängt: Zehn Milliarden jährlich geben Bund, Länder und Gemeinden jährlich für Kunst und Kulturförderung aus. Eine Menge Geld, aber gänzlich ungeeignet, um Haushalte zu konsolidieren. Der Anteil an den Gesamtausgaben liegt nämlich bei lediglich 1,7 Prozent – zu gering, um selbst bei drastischem Kürzen messbare Ergebnisse für öffentliche Haushalte zu erbringen. Für die Kultur dagegen ist die Bedeutung dieser Ausgaben immens – und man muss dazu ergänzen: lebensnotwendig. Lammert räumte auch mit der Sage auf, die staatliche Finanzierung könnte durch privates Sponsoring ersetzt werden: Gerade einmal ein Prozent der Theaterfinanzierung kommt aus privaten Mitteln – und die fließen meist in prestigeträchtige Projekte.

Für die Theater und Orchester in Deutschland mit ihrer beeindruckenden Bilanz – 35 Millionen Besucher jährlich, 105.000 Theateraufführungen, 84 Musiktheater mit mehr als 9.300 künstlerische Beschäftigten und 6.000 Opernaufführungen jährlich – werden gerade einmal 0,2 Prozent der öffentlichen Ausgaben aufgewendet. „Das müssen wir uns leisten, wenigstens dann, wenn wir eine Kulturnation bleiben wollen.“ Es wäre zu wünschen, dass – um bei Wagners „Meistersingern“ zu bleiben – Lammerts „Stimm‘ durchdringet Berg und Tal“, auf dass in der Welt der Kultur „die rotbrünstige Morgenröt‘ her durch die trüben Wolken geht“. Schade, würden diese Worte bei den Tausenden wohlmeinender, aber folgenloser Sonntagsreden zur Kultur abgeheftet.

Großbürgerlich erhaben: Jubel mit Wagner

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Dass der Rückblick auch mit Aufbruch verbunden ist, machte die Begrüßung durch den neuen Intendanten Hein Mulders deutlich: Spannendes Musiktheater und mitreißende Ballettabende versprach er für die Zukunft. Im künstlerischen Programm der Gala war davon noch nichts zu spüren. Früher hätte man für einen solchen Anlass unter Umständen eine neue Komposition in Auftrag gegeben; heute greift man auf Wagner zurück: Erhaben muss es sein, wenn großbürgerliche Weihe- und Jubelveranstaltungen zu untermalen sind. Dass der „Einzug der Gäste“ aus dem „Tannhäuser“ eine ziemlich verkniffene Gesellschaft schildert, wen kümmert’s? Es schmettert und marschiert so schön! Tomáš Netopil, der „Neue“ am Pult der Essener Philharmoniker, hat den Überblick und das Händchen fürs Rhythmische, kam mit Schwung und Präzision auf den Punkt, auch dank der kernigen Stimmen in Alexander Eberles Chor.

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

In „Wachet auf“ aus den „Meistersingern“ überzeugte der Aufbau der Dynamik. Doch an die „Walküre“ wird sich Netopil noch gewöhnen müssen: Fließend-transparenter Orchesterklang, aber ohne dramatische Gestaltung. Jeffrey Dowd, bewährtes „Urgestein“ im Aalto-Ensemble, sang einen lyrischen Siegmund; Anja Kampe holte sich als fein artikulierende Sieglinde herzlichen Beifall. Zum bunten Abschluss gab das Orchester Ben van Cauwenberghs „Bolèro“-Choreographie das strikte Gerüst. Auch das ein Zeichen: Im Ballett regiert die Kulinarik des Anstoßfreien, die smarte Verführung durch das Gängige. In diesem Sinne bewegten sich auch die Tänzer im fantastischen Bühnenbild Dmitrij Simkins. So wird es wohl bleiben, so lange Cauwenbergh alle die bedient, die nach der Aufführung vor allem „schön“ zu stöhnen belieben.

 

Die Festschrift. Foto: TuP

Die Festschrift. Foto: TuP

Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums hat das Aalto-Theater eine Festschrift und einen Dokumentarfilm veröffentlicht. Buch und DVD sind ab sofort im TicketCenter der TUP sowie an den Kassen des Aalto-Theaters und der Philharmonie Essen erhältlich. Der Preis beträgt jeweils fünf Euro.

Die 224-seitige Festschrift lädt ein zu einer Reise in die Vergangenheit des Opernhauses. Sie bietet eine umfangreiche Rückschau auf alle im Aalto-Theater gezeigten Inszenierungen, dazu enthält das Buch unter anderem viele Szenenfotos, Kurzporträts der Intendanten und Geschäftsführer, die am Haus gewirkt haben. Die 35-minütige Dokumentation des amerikanischen Filmemachers Sam Shirakawa auf der DVD widmet sich – unter anderem anhand von Archivmaterial und Interviews – der Geschichte und der Architektur des Hauses, aber auch dem Alltag im Theater.




Akzent zum Verdi-Jahr: „Die Räuber“ („I Masnadieri“) am Aalto-Theater Essen

Was bringt eigentlich so ein Jubiläum? Im Zweifelsfalle nichts: Auf Richard Wagners 200. Geburtsjahr trifft das zu. Und für Giuseppe Verdi, dessen 200. Geburtstag im Oktober gerade medial präpariert wird, steht Ähnliches zu befürchten.

Schreibtischtäter: Szene aus Verdis "Masnadieri" am Aalto-Theater Essen: Marcel Rosca (Maximilian), Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia), Rainer Maria Röhr (Herrmann). Foto: Thilo Beu

Schreibtischtäter: Szene aus Verdis „Masnadieri“ am Aalto-Theater Essen: Marcel Rosca (Maximilian), Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia), Rainer Maria Röhr (Herrmann). Foto: Thilo Beu

Verdi hat nicht einmal die hässliche Seite aufzuweisen, die bei Wagner von einer aufgescheuchten Kultursociety nach jahrzehntelanger seriöser Forschung nun in hippeligem Moralismus breit getreten wurde. Verdi war kein Antisemit, sein Lebenswandel sperrt sich der Mythenbildung und kein Faschist hat ihn zum Inspirator erkoren.

Hätten sich wenigstens die Operntheater von seinem Œuvre inspirieren lassen, hätte das Jubeljahr den Blick weiten können. Denn Verdi hat gut doppelt so viel komponiert als das Dutzend Werke von „Nabucco“ bis „Falstaff“, die des Geburtstagsklamauks nicht bedürfen, um andauernd überall inszeniert zu werden. Doch bisher ist – auch mit Blick auf die Spielzeit 2013/14 – von einem Aufbruch hin zu unvertrauten Verdi-Ufern wenig zu spüren. Ein paar hochherzige Projekte gibt es: Krefeld-Mönchengladbach eröffnet die Spielzeit mit „Stiffelio“ – einer der am sträflichsten missachteten Opern Verdis. In Bielefeld wird es „Giovanna d’Arco“ in einer der Urfassung angenäherten Rekonstruktion geben. Und Frankfurt lenkt schon zum Ende dieser Spielzeit den Blick endlich einmal wieder auf Verdis großes französisches Experiment „Les Vêpres Siciliennes“ – in einer Inszenierung des Dortmunder Intendanten Jens-Daniel Herzog.

Als einziges der großen deutschen Opernhäuser plant Hamburg ein Projekt, das der Bedeutung Verdis angemessen ist. Wie als Gegenpol zur „Trilogia popolare“ (Rigoletto, La Traviata, Il Trovatore) stellt die Staatsoper im Oktober/November drei verschollene Verdi-Opern auf die Bühne: „I Lombardi alla prima crociata“, „I due Foscari“ und „La Battaglia di Legnano“ – letzteres ein Werk, das bei seiner Uraufführung 1849 wegen seiner politischen Stoßrichtung für Furore sorgte, aber kaum mehr gegeben wird, in Deutschland wohl seit Kriegsende nicht mehr.

Bei den selten gespielten Verdi-Opern mischt Essen mit

Aber das Aalto-Theater mischt diesmal vorne mit: Stefan Soltesz hat seinem Hang, im Zweifelsfall zu Populärem zu greifen, nicht nachgegeben und die Essener Erstaufführung von Verdis „I Masnadieri“ – nach Friedrich Schillers „Die Räuber“ – ermöglicht. 1847 uraufgeführt, gehören die italianisierten „Räuber“ zu den problematischen Werken Verdis: Der Komponist war seit „Macbeth“ dabei, neu aufgestoßene Wege in seinem Musiktheater zu erforschen, die er im „Rigoletto“ endgültig stabilisiert hat.

In der Regie setzte der Intendant auf Bewährtes und beauftragte Dietrich Hilsdorf mit der Erarbeitung seiner inzwischen neunzehnten Aalto-Inszenierung. Und wieder einmal schwankt Hilsdorf zwischen einer bravourös aus dem Stück entwickelten Interpretation und seiner Lust an überdrehten szenischen Nadelstichen. Für ihn sind die „Masnadieri“ zunächst eine Familiengeschichte: „Familienbande“ steht zweideutig auf dem Gazevorhang, auf dem vor Beginn der Oper schon ein dunkler teutscher Tann den Zuschauer ironisch in die Irre führt.

Den konservativen Spruch von der Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ nimmt er beim Wort: In der prunkvoll-kalten Eleganz eines gigantischen Büros, gestaltet vom bewährten Johannes Leiacker, exponiert er die Konstellation mit genau beobachteten Gängen und Gesten. Carlo Moor ist der Träumer, der Außenseiter, der nach Alternativen sucht; Francesco Moor, hinkend und missgestaltet, der eilfertige, machtlüsterne Anpasser; Amalia das begehrte Objekt zwischen den Männern, zu der noch Arminio gehört, Kammerherr der Familie, in Essen umgedeutet zum geduldeten Bastard des alten Moor. Dieser Graf Massimiliano ist eher hilfloses Opfer der Intrige als ein entschiedener Täter; Hilsdorf wird die Figur des alten Vaters im Lauf des Stück bis zum Zerrbild eines patriarchalistischen Richter-Vaters und Gottes-Ersatzes demontieren.

So weit ist die Exposition bestechend erdacht. Aber mit den Räubern kommt Hilsdorf nicht ins Reine, weil er im Räuber-Bild des zweiten Akts die „Kampfzone ausweitet“ und das Stück zur Kritik des liberalen Kapitalismus umbiegt. Da klemmen Broker und Börsianer vor Flatscreens, flimmern Zahlen und Grafiken, tummeln sich offenbar russische Oligarchen, gegen die ein paar bunte Pussy-Riot-Vermummte blank ziehen. Hilsdorf hat versucht, die Szenen mit den Räubern auf zwei Ebenen anzusiedeln – der von Alexander Eberle vorzüglich präparierte Chor singt teilweise von oben oder aus den Zuschauerraum –, aber es wird szenisch nicht klar, was die idealen Kopfgeburten des Carlo Moor und die Bande enthemmter Kapitalistenknechte auf der Bühne miteinander zu tun haben sollten.

Ende im Welt-Ekel: Verdis "Masnadieri", von Dietrich Hilsdorf gedeutet. Foto: Thilo Beu

Ende im Welt-Ekel: Verdis „Masnadieri“, von Dietrich Hilsdorf gedeutet. Foto: Thilo Beu

Ab hier verliert die Inszenierung ihre Schlüssigkeit, auch wenn sich am Ende abzeichnet, dass Hilsdorf auch die Geschichte von Menschen erzählen will, die am Lebens-Ekel zugrunde gehen. Der von Verdi dramaturgisch genial und musikalisch zukunftsweisend vertonte Wahnsinn der „Kanaille“ Francesco Moor wirkt aus sich heraus; der Schluss, als Carlo Moor einer völlig im existenziellen Nichts gestrandeten Amalia den Rest gibt, zeigt ihn als einen an der Welt verzweifelten Gescheiterten, ähnlich wie Corrado in Verdis wenig später entstandener Byron-Oper „Il Corsaro“. Für diesen Aspekt öffnet Hilsdorf die Augen: In der Schaffensphase um 1847/48 kreiert Verdi Anti-Helden, gekennzeichnet von einer schwarzen Negation jeglichen Sinns und einer dämonischen Hybris: Macbeth gehört hierher, die Gebrüder Moor, der Korsar. Ein Nachfolger tritt uns erst wieder mit dem Jago in „Otello“ entgegen.

Verdis „Galeerenjahre“ gehen zu Ende

Ähnlich ausgefeilt wie die Regie mit der Szene geht der Dirigent Srboljub Dinić mit Verdis Partitur um. Dinić will uns hörbar machen, dass Verdis „Galeerenjahre“ zu Ende gehen, dass er über die schlagkräftigen Cabaletten hinauswächst, dass seine Instrumentation reicher und dramaturgisch überlegter wird. Dass Dinić den zündenden Schwung und die federnd abspringende Attacke punktierter Rhythmen dämpft, muss nicht sein: Es ist gerade der Kontrast von innovativer Sprache und überkommenen „Floskeln“, die den Reiz der „Masnadieri“ ausmachen.

Das Orchester lässt spüren, wie es die „hohe Schule“ seines Chefs verinnerlicht hat: delikate Phrasierungen, sorgsame Balance, kultivierte Soli sorgen für einen veredelten Verdi-Klang. Das Sänger-Ensemble erreicht ein solides, gemessen an Verdis Anforderungen aber nicht immer konsistentes Niveau – was aber auch schon bei einer gefeierten „Masnadieri“-Produktion im Scala-Jubiläumsjahr 1978 in Mailand festzustellen war. Vokal am überzeugendsten nähert sich Aris Argiris seiner Partie des Francesco Moor: ein solide gestützter, klangschön timbrierter Bariton mit sicherer Höhe und psychologisch charakterisierend eingesetzten Nuancen im Klang.

I Masnadieri in Essen: Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia). Foto: Thilo Beu

Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia). Foto: Thilo Beu

Anders Zurab Zurabishvili als Carlo Moor: Der Tenor hat zwar entspannte Töne im Zentrum, zwingt seiner Stimme aber die Höhe förmlich auf und kommt so zu larmoyanter Schärfe und oft nur ungefähr treffender Intonation. Das Fach des Verdi-Tenors, das einst Sänger wie Carlo Bergonzi ideal verkörperten, scheint ausgestorben. Liana Aleksanyan bringt für die Rolle der Amalia – für die „Nachtigall“ Jenny Lind geschaffen – die nötige Leichtigkeit und einen gut anspringenden, lyrisch-hellen Ton mit. Auch ihre Mezzavoce kann sich hören lassen. Nur in der Attacke gelangen ihr einzelne Töne nicht ausreichend fokussiert – womöglich eine Frage der Tagesform.

Rainer Maria Röhr und René Aguilar als Arminio (Hermann) und Roller können auf Augenhöhe mithalten; sie überzeugen auch als Sing-Schauspieler in knappen, prägnanten Auftritten. Marcel Rosca ist als alter Graf Massimiliano ein die Facetten souverän beherrschender Gestalter. – Das Aalto-Theater hat mit dieser ehrgeizigen Produktion einen markanten Akzent in der deutschen Opern-Landschaft gesetzt und gezeigt, dass es sich lohnt, Kräfte für den wenig bekannten Verdi zu mobilisieren. Wenn der neue Intendant Hein Mulders im Herbst mit „Macbeth“ die Spielzeit eröffnen lässt, wird sich zeigen, wie beide Werke in ihrem Ringen um dramatische Wahrheit und Innovation miteinander verwandt sind.

Weitere Aufführungen am Aalto-Theater Essen: 20., 23. und 29. Juni; 3., 5., 7., 10. und 20. Juli. Kartentelefon: (0201) 81 22 200. Infos im Internet: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-raeuber.htm




Das Spektrum der Romantik: Michaela Selinger singt Lieder im Aalto-Foyer

Michaela Selinger. Foto: Ruth Ehrmann

Michaela Selinger. Foto: Ruth Ehrmann

Wien, Paris, Glyndebourne, Hamburg: Die Sängerin Michaela Selinger hat sich in den letzten Jahren einen internationalen Ruf erarbeitet. Und kehrt dennoch immer wieder gerne nach Essen zurück, so zuletzt mit einer Liedmatinee ins Foyer des Aalto-Theaters.

Sie beginnt mit einem raffinierten Bogenschlag: Sie nimmt mit Hanns Eislers „Erinnerung an Eichendorff und Schumann“ direkt Bezug zum zweiten Teil ihres Konzerts, dem „Liederkreis“ op. 39 Robert Schumanns auf Texte von Joseph von Eichendorff. Dazwischen fächert sie Aspekte der Liedkunst des 20. Jahrhunderts auf: Romantik in der Sprache Claude Debussys, Franz Schrekers, Gustav Mahlers. Und Neu-Romantik eines Wieners, der unter dem Namen Albin Fries feine Miniaturen komponiert, die in ihrer melodischen und harmonischen Sprache sich gerade noch im Kontext der Moderne von Schreker und Mahler behaupten.

Dem klug komponierten Programm entspricht eine klug geführte Stimme. In Essen am Aalto, seit 2010 ihr Stammhaus, hat sich Michaela Selinger große Rollen ihres Fachs als lyrischer Mezzosopran erarbeitet. In der nächsten Spielzeit kommen zwei dazu: die Charlotte in Jules Massenets „Werther“ und eine neue Händel-Partie in „Ariodante“. Seit sie Fotos vom Aalto-Theater gesehen hatte, war es ihr Wunsch, an diesem Haus zu arbeiten, bekennt die Österreicherin im Gespräch. Erstklassiges Orchester, gute Arbeitsbedingungen, schöne Rollen: diese Vorzüge schätzt Michaela Selinger am Aalto. Vor allem auf die Partie der Charlotte freut sie sich, nachdem sie sich bereits als Mélisande in Claude Debussys Oper im französischen Fach „ausprobiert“ hatte.

Das Aalto-Theater, Stammhaus von Michaela Selinger, an das sie immer gerne zurückkehrt. Foto: Werner Häußner

Das Aalto-Theater, Stammhaus von Michaela Selinger, an das sie immer gerne zurückkehrt. Foto: Werner Häußner

Das Lied steht für die Sängerin ganz oben in der Wunschliste: „Ich habe im Studium das Lied für mich entdeckt. Das war lange vor der Oper, denn ich komme vom Oratorium her. Für mich ist es ein Mittel des persönlichen Ausdrucks. Eine intime Form, in der ich Freiheit des Gestaltens bis ins Kleinste habe.“ Auf der Bühne sei das nicht möglich; der Zuschauer würde solche Nuancen gar nicht wahrnehmen. „Beim Singen eines Liedes kommt es darauf an, ob ich schnell oder langsam atme, geräuschlos oder laut. Alles kann dem Ausdruck dienen.“ Diese Möglichkeit, genau zu modellieren, fordert Michaela Selinger heraus. Und sie sieht den Liedgesang als „Stimmhygiene“: „Wenn ich viel Oper gesungen habe, merke ich, wie gut das Lied meiner Stimme tut.“

Die beiden Eisler-Lieder – Selinger sang noch „Die Heimat“ auf einen Hölderlin-Text – könnte man psychologisch als regressiv bezeichnen: Trauer über das Verlorene herrscht vor, das „Ich“ träumt sich weg, will sich im Kinderland ausruhen, sehnt sich danach, zum zweiten Mal ein Kind zu sein: Die deutsche Romantik als Sehnsuchtsort in einer Zeit, in der die Blaue Blume im Exil und auf hartem, blutgetränktem Boden vergeblich zu blühen versuchte.

Exemplarisch zeigte sich schon in dieser Exposition, was die Matinee kennzeichnen sollte: Der Wiener Pianist Clemens Zeilinger erwies sich als überlegt-überlegen gestaltender Poet, die Sängerin als ein aufmerksamer, für die Nuancen sich aufhellender oder eintrübender Emotionen hellwacher Kopf. Aber deutlich wurde auch, dass Michaela Selinger technische Grenzen hat, die das Spiel mit den Ausdruckswerten des Singens limitieren.

"Pelléas et Mélisande" in Essen: Michaela Selinger als Mélisande und Jacques Imbrailo als Pelléas. Foto: Hermann und Clärchen Baus

„Pelléas et Mélisande“ in Essen: Michaela Selinger als Mélisande und Jacques Imbrailo als Pelléas. Foto: Hermann und Clärchen Baus

Im Einzelnen: Schon bei Eisler fallen Perioden auf, die verschwommen artikuliert sind, in denen die Konsonanten nicht ausreichend gebildet werden. Geht es um erfüllte Bögen, fehlt dem Mezzosopran der sicher fundierte Kern und ein weiträumiger Klang. Wenn Selinger uns einen öden Strand vors innere Auge führt, wenn sie Tränen und fahle Resignation besingt, ist ihr ganz leicht rauchiges, feingliedriges Timbre genau richtig. Auch für Claude Debussys „Trois Chansons de Bilitis“ bringt sie lyrische Clarté im Zentrum mit. „Le Tombeau de Naїades“ kleidet sie zu den charakteristischen, hell-unwirklichen Klängen des Klaviers in einen zurückhaltend bleichen, tonarmen Schimmer. Aber Schrekers und Mahlers groß angelegte, blühende Entwicklungen – mit herrlichen Pointen Zeilingers auf dem Flügel – kann sie klanglich nicht entfalten; da bleibt Selingers Mezzo begrenzt. Manchmal klingt auch die Höhe erzwungen, der Ton mit einer Spur zu viel gaumigem Klang.

So kann Michaela Selinger in Schumanns Zyklus vor allem in den verhaltenen, traurigen, ironischen, auch spukhaften Momenten überzeugen, während Visionäres oder sehnsuchtsvoll Kantables unerfüllt bleibt. Nochmals sei Clemens Zeilinger hervorgehoben: Er durchlebt Schumanns Gefühlskosmos mit einer Vielfalt von Farben und Nuancen, mit einer gestalterischen Souveränität, die den Zuhörer staunend und ergriffen zurücklässt. Freudiger Beifall im Foyer, in dem noch Stühle zugestellt werden mussten: So schlecht scheint es um das Liedpublikum nicht bestellt zu sein. Und man zeigte, dass man die Gattung und ihre jugendlich-sympathische Interpretin ins Herz geschlossen hat.




Zwittergestalt: „Ariadne auf Naxos“ im Aalto-Theater

"Musik ist eine heilige Kunst": Michaela Selinger als Komponist in der Essener Neuinszenierung der "Ariadne auf Naxos" (Foto: Matthias Jung)

Glühend bekundet der Regisseur Michael Sturminger im Programmheft seine Liebe zur Oper „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss. Viel von dieser Zuneigung ist im Essener Aalto-Theater zu spüren. Dort nahm sich Sturminger nach einer Produktion für das Petersburger Mariinski-Theater erneut des Zwitter-Werks an, das zwischen Tragödie und Harlekinade irrlichtert und mit ironischem Biss von seiner eigenen Entstehungsgeschichte erzählt.

Mit Hilfe der Drehbühne lässt Sturminger uns die Perspektive wechseln: Der Zuschauerraum des Aalto-Theaters leuchtet als Filmprojektion im Bühnen-Hintergrund auf, während wir Zeugen der komisch-dramatischen Ereignisse bei den Proben werden. Das mythologische Personal der „Ariadne“ trifft dabei auf Vertreter einer sehr gegenwärtigen Event-Kultur, die keinen gesteigerten Wert auf Geistreiches legt. Wie mit einem Lächeln legt die Regie Übertreibungen auf beiden Seiten bloß: Wo die einen sich im Namen der heiligen Kunst übermäßig empören, meinen die anderen, alles auf flache Show-Effekte reduzieren zu können.

Behutsam und mit feinem Gespür für die Psychologie der Figuren führt Sturminger die unvereinbar scheinenden Parteien zusammen. Je mehr ihm dies gelingt, desto mehr geht dem zu Beginn so quirligen Spiel aber auch der Schwung verloren: Ein Problem, das sich durch den wiederholten Einsatz der Drehbühne nicht überdecken lässt. Wenn der Gott Bacchus erscheint, kommt es im Duett mit Ariadne zum Rampensingen mit veraltetem Bewegungsvokabular. Das Ambiente ist historisierend edel, doch die zündenden Ideen sind zu diesem Zeitpunkt aus. Dafür gibt es zum guten Schluss ein wenig echtes Feuerwerk.

Abermals ist es das innige Strauss-Verständnis von Dirigent Stefan Soltesz, das den Abend weit über den Durchschnitt hebt. Unter seiner Leitung breiten die Essener Philharmoniker den verschwenderischen Reichtum der Partitur aus. Diese gleicht einem kostbaren Instrumental-Teppich, mal kammermusikalisch durchsichtig, mal himmelstürmend feurig, stets sprühend elegant und zuweilen voll jener beseligenden Süße, die nur ein Meister wie Richard Strauss über den Kitsch erheben kann.

Ein starkes Rollendebüt gelingt Silvana Dussmann, die als Primadonna/Ariadne bis in die Piano-Spitzen hinein glutvoll klingt. Wehmut und Feuer der Titelheldin erhalten bei ihr den Adelsschlag der „Grande Dame“. Den wirkungsvollen Kontrast dazu bildet Julia Bauer, die mit silberhellem Sopran feinste Stimm-Akrobatik serviert. Es ist keine große Stimme, die sie der leichtlebigen Zerbinetta leiht, aber sie schießt vogelleicht und souverän in schwindelerregende Höhen, wo sie köstlich kokette Kapriolen schlägt. Mehr Schwierigkeiten haben Michaela Selinger, deren kraftvolle Bögen als Komponist zuweilen spröde bleiben, und der Tenor Jeffrey Dowd, der mit den unbequem heldischen Höhen der Bacchus-Partie sicht- und hörbar ringt. Mit Heiko Trinsinger (Musiklehrer) und Albrecht Kludszuweit (Tanzmeister) sind die prägnantesten Nebenrollen gut besetzt. Mark Weigel ist als Haushofmeister die servile und zugleich arrogante Stimme seines Herrn.

Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal wollten mit der „Ariadne“ einen Gegenentwurf zu Richard Wagners Ideal der Durchkomposition erproben. Wer dieses dissoziative Gesamtkunstwerk gerne kennen lernen möchte, ist in der Essener Produktion trotz einiger Schatten gut aufgehoben.

Informationen und Termine: www.aalto-musiktheater.de

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Bürgerliches Trauerspiel und symbolistisches Drama: Debussys „Pélleas et Mélisande“ in Essen und Frankfurt

Mit „Pelléas et Mélisande“ bewegen wir uns im Spannungsfeld zwischen einem bürgerlichen Familiendrama, das an Ibsen erinnert, und einem symbolistischen Mysterium, das sich in bildmächtige poetische Seelenlandschaften vertieft. Die beiden profilierten Neuinszenierungen der vergangenen Wochen in Essen und in Frankfurt nähern sich Claude Debussys rätselvoller musikalischer Fassung des Dramas von Maurice Maeterlinck mit unterschiedlicher Perspektive.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

Nikolaus Lehnhoff in Essen rückt die traumverwobene Atmosphäre in den Vordergrund. Die Figuren scheinen kaum aus sich heraus zu agieren, wirken oft statisch und wie gebremst vom lähmenden Gespinst bedeutungsvoller Zeichen und Zusammenhänge. Claus Guth in Frankfurt dagegen schaut auf die Psychologie der Personen, gibt ihren Aktionen und Reaktionen etwas Welthaftes, Eindeutiges mit. Er negiert den symbolistischen Hintergrund der Oper nicht, aber er zieht sich nicht auf den Topos des Unerklärbaren zurück, sondern bindet dessen Chiffren ein in die Entwicklung des Geschehens, das zu Tod und innerem Zusammenbruch führt.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Für Guth ist Mélisande kein geheimnisvolles Undinen-Wesen aus dem Irgendwo, sondern eine offenbar traumatisierte junge Frau, die zitternd versucht, sich eine Zigarette anzustecken, als sie in den Lichtkegel der Bühne tritt. Ihre Vorgeschichte bleibt im Dunkel, ihre psychische Verfassung ist es nicht. In Zuge des Dramas verdichten sich die psychologischen Motive, für die Guth die symbolistischen Züge des Dramas einsichtig verengt: Er will nicht das wabernde Ungefähr des Ahnungsvollen bebildern, sondern die Menschen in den elegant eingerichteten Räumen des zweistöckigen Hauses auf der Bühne Christian Schmidts stringent entwickeln – allerdings ohne die komplexen und rätselvollen Seiten ihrer Psyche eilfertig wegzuerklären. Warum sich die Lichtkreise Golauds und Mélisandes schon bei ihrer ersten Begegnung nicht berühren, warum sich Pelléas und die junge Frau finden und in der undurchdringlichen Schwärze des Raums in ihren Lichtauren verbinden, bleibt letztlich ein Geheimnis.

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Auf der anderen Seite entwickelt Guth im Spiel präzise und faszinierend die Brennpunkte, in denen die Personen des Dramas interagieren: Der Dialog zwischen dem resignativen Pelléas, der im Selbstgespräch nur punktuell zum „Du“ durchdringt, und dem nahezu perfekt verdrängenden Patriarchen Arkel ist großes, reflektiert durchdrungenes Schauspiel. Ebenso die genau beobachtete Szene, in der Golaud versucht, mit Hilfe des Kindes Yniold die Beziehung zwischen Pelléas und Mélisande zu ergründen.

Guth achtet scharfsichtig auf versteckte Motive, deutet zum Beispiel die Szene, in der Pelléas vom Haar Mélisandes in Ekstase versetzt wird, als inneren Vorgang des in sich verschlossenen Mannes, dem die Frau tiefere Schichten seines Begehrens erschließen hilft. In Christian Gerhaher hat Guth den idealen Darsteller depressiv-verschlossener Innenwelten, dessen hoher Bariton zu unendlichen Schattierungen des Ausdrucks fähig ist. Die Mélisande Christiane Kargs erschöpft sich nicht im zerbrechlich-passiven Opfer, sondern ist eine Frau, die sehr wohl versucht, im Beziehungsgeflecht von Haus Allemonde ihre Position zu finden.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Die mühsam unterdrückte Aggressivität, mit der Paul Gay den Golaud zeichnet, bricht sich in einem ungeschönt inszenierten Ausbruch von Gewalt freie Bahn – einer Brutalität, die Mélisande wie Golaud selbst zu Opfern macht. Arkel schaut weg: Alfred Reiter gelingt trotz eines wabernd-gedeckten Basses eine beklemmende Studie von Verdrängung und uneingestandener Einsicht. Zutiefst verunsichert durch Mélisandes geschichtslose Reinheit, erinnert Golaud an den Major in Strindbergs „Vater“, gefangen im Wahntrauma der Patriarchen von der „verbotenen“ Liebe, dem uneinnehmbaren Rest weiblicher Souveränität.

Friedemann Layer und das Frankfurter Opernorchester bestätigen den auch musikalisch führenden Rang der Rhein-Main-Oper unter den deutschen Musiktheatern. Layer ist ein Sachwalter von Debussys Modernität, entdeckt nicht nur die Raffinesse der Klänge, sondern auch ihre Reibungen, ihre herbe Würze. Doch er zwingt ihnen keine Spaltklang-Sprödigkeit auf, wie sie Propagandisten eines neuen Debussy-Bildes vertreten.

Layer stützt in den wundervoll modellierten Akkordsäulen und den filigranen Rückungen im Klangverlauf die Statik von Debussys musikalischer Architektur und entdeckt ihre dramatische Funktion, die geschichtslosen Zustände der Bilder auf der Bühne abzusichern. Dass Guth dazu immer wieder eine Uhr ticken lässt und damit die verfließende Zeit als spannungsreiches, drängendes Element einführt, gehört zu den aussagestarken Details dieser – aus der Perspektive des bürgerlichen Dramas – modellhaft gelungenen Deutung, an der Layer mit seinen scharfsinnig beleuchteten Korrespondenzen zwischen Musik und Bühne erheblich Anteil nimmt.

In Essen sind die Perspektiven anders, aber nicht minder überzeugend. Denn Stefan Soltesz im Graben macht mit den Essener Philharmonikern schon in den einleitenden Akkorden, in den mysteriös eingefärbten Pianissimi der tiefen Streicher und den ersten, fahlen Holzbläserklängen seine ästhetische Position klar: Das soll ein Debussy der äußersten Verfeinerung, des raffinierten Details, der subtilen Klangmischungen werden. Die Verheißung wird glänzend erfüllt; der orchestrale Zauber entfaltet sich dank der vorzüglich auf ihren Dirigenten reagierenden Musiker mit aller Nuancierung in Farbe und Dynamik.

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Ähnlich sensibel für atmosphärische Rückungen agiert Lehnhoff in seiner Inszenierung. Der hohe, kühl-dunkle Raum von Raimund Bauer, immer wieder neu ausgedeutet vom Licht Olaf Freeses, lässt naturalistische Anmutung bald hinter sich: Aus der hohen, dunklen Vertäfelung eines Saals mit der erdrückenden Noblesse der Villa Hügel wird ein Seelenraum, ein innerliches Gefängnis, aus dem Mélisande tastend, aber vergeblich einen Ausweg sucht, den sich nur das visionäre Licht, nicht aber die schwere Materialität der Körper öffnen kann. Das achte Bild mit seinen riesigen, nach unten führenden Treppen gemahnt an die Gefängnisse des Piranesi, tiefenpsychologisch radikalisiert und in eine schaurige Raumvision eines existenziellen Abgrunds verwandelt.

Auch Lehnhoff wirft einen Blick auf das bürgerliche Drama, inszeniert es aber weniger fest umrissen als sein Kollege Claus Guth in Frankfurt. Seine Annäherung an die symbolistischen Verdichtungen Maeterlincks bleibt allerdings oft unbestimmt – oder verliert sich, wie im siebten Bild die langen Haare Mélisandes, in zu konkret realisierten Bildern. So bleibt Michaela Selinger in der Hauptrolle ein verlorenes Wesen zwischen möglichen Konzepten, passiv und konturlos den Ereignissen ausgeliefert. Mit Vincent le Texier hat Essen einen kraftvollen, manchmal leider arg vordergründig bellenden Golaud, der seine Figur am Ende immer mehr in die Richtung des Gesellschaftsdramas entwickelt.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Auch der schönstimmige Jacques Imbrailo bleibt als Pelléas eher ein passives Wesen, unheilvoll verstrickt in die lastende Atmosphäre des Hauses. Wolfgang Schöne als Arkel und die mit grandios gereifter Stimme singende Doris Soffel als Geneviève sind die erstarrten, untoten Bewohner dieses unheilvollen Raumes; ihre Rolle wird sinnfällig unterstützt durch die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer, die sich im historisierenden und in einem zeitlos eleganten Arsenal von Ausdruckswerten bedienen. Getragen von wunderbar geatmeten Linien, von den bis zum Verlöschen gedämpften Piano-Schattierungen der Musik und der gestalterischen Raffinesse des Dirigenten können sich die Sänger drucklos frei entfalten. Und staunend ob dieses ästhetischen Wunders gewinnt der Satz Arkels noch eine Bedeutung über das Drama hinaus: „Man bedarf der Schönheit, wenn der Tod neben einem steht.“




Gebremste Leidenschaft: Verdis „Macht des Schicksals“ im Aalto-Theater Essen

Dietrich Hilsdorfs Inszenierung hat nichts von ihrer Stringenz, Johannes Leiackers Bühne nichts von ihrem lichtvollen Realitätsentzug eingebüßt. Verdis „La Forza del Destino“ ist es wert, immer wieder ins Repertoire des Aalto-Theaters zurückzukehren. Auch wenn man gegen die rüden Kürzungen der Mailänder Fassung der Oper (1869) einwenden muss, dass Verdi in dieser Zeit kompositorisch sehr genau wusste, was er will. Doch es siegt der Wille des Regisseurs, eine psychologisch schlüssige Geschichte zu erzählen.

Dass er den Padre Guardiano mit dem alten Marchese di Calatrava verschmilzt und diesen aus dem Sarg zurückkehren lässt wie einen Zombie oder eine Erscheinung ist ein Sinn stiftender Theatercoup. Und auch Verdis Mittelalter-Camouflage, damals meist der Zensur geschuldet, ist heute entbehrlich: In Essen spielt das Stück zur Zeit seiner Entstehung.

Szene aus Verdis "La Forza del Destino" am Essener Aalto-Theater; Bühne Johannes Leiacker. Foto: Thilo Beu

Szene aus Verdis "La Forza del Destino" am Essener Aalto-Theater; Bühne Johannes Leiacker. Foto: Thilo Beu

Die Wiederaufnahme von „La Forza del Destino“ eröffnete die neue Spielzeit in Essen. Stefan Soltesz hat in seiner letzten Spielzeit einen bescheidenen Schwerpunkt auf Verdi, einen der „Jubilare“ des Jahres 2013, gelegt. Wieder aufgenommen werden noch „La Traviata“ und „Aida“, neu inszeniert „I Masnadieri“ („Die Räuber“ nach Schiller). Damit bringt Essen eine der vielen selten gespielten Opern Verdis. Andere Opernhäuser nudeln zum 200. Geburtstag dieses Giganten der Oper das übliche Repertoire ab: kein „Stiffelio“, kaum eine „Luisa Miller“, keine „Lombarden“, von den hitzköpfigen frühen Opern wie „Attila“, „I due Foscari“, „Ernani“ oder „Il Corsaro“ ganz zu schweigen. Dafür haucht „La Traviata“ hunderte Mal ihr Leben aus, lugt „Rigoletto“ hinter jedem Eck hervor. Zwischen 2001 (100. Todestag Verdis) und 2012 hat sich an der Einfallslosigkeit deutscher Spielpläne – in Sachen Verdi zumindest – nicht viel geändert.

Der Dirigent der Essener Aufführung, Giacomo Sagripanti, ist ein Debütant am Aalto-Theater und hoffentlich kein Vorzeichen für die Zeit nach Stefan Soltesz. Der Italiener kommt offenbar aus dem Mainstream, wie er heute von den zugrunde gewirtschafteten Konservatorien seines Heimatlandes herangebildet wird: Fern der – nicht mit alten Schlampereien zu verwechselnden – Traditionen schlägt er einen sorgfältig erarbeiteten, aber dramatisch geglätteten Verdi, mit schematischer Agogik, wenig vertraut mit dem Atmen der Sänger, ohne Sensus für die fiebernden Tremoli, das innere Drängen der Musik. Metrisch einförmig ist das, ohne rhythmischen Biss, in den Lyrismen klassizistisch poliert, in der Dramatik züchtig domestiziert. Gebremste Energie, gekappte Leidenschaft: das funktioniert zum Beispiel im unendlich zärtlichen Pianissimo am Ende der Oper, nicht aber zum Beispiel in der verzweifelten Szene des Alvaro, für den das Leben zur Hölle wird.

Sagripanti versucht auch, veristische Züge aus dem Stück herauszuhalten, was ihm zumindest mit Carlos Almaguer als Carlos nicht gelingt. Der Bariton hat eine phänomenal gut sitzende Stimme mit üppigen Resonanzen und kann mühelos jeden Raum füllen. Leider praktiziert er das mit ausuferndem Fortissimo bei jeder Gelegenheit: Gebrüll statt subtiles Gestalten, grobes Aussingen statt bewusste Stilisierung.

Als Alvaro wurde kurzfristig der rumänische Tenor Daniel Magdal gewonnen, der 2005 etwa in Münster in Stanislaw Moniuszkos „Halka“ gesungen hat. Er bringt die Stimme erst allmählich in Position und kann den Ton nicht füllen. Seine große Szene nach der Pause („La vita é inferno all‘infelice“) wirkt sorgsam vorgetragen, mehr nicht.

Mit dem Bemühen um den großen Bogen und das tragende Piano zeichnet sich Galina Shesterneva aus, die auch demonstriert, dass „russische Schule“ nicht unbedingt großhubiges Vibrato bedeuten muss. Ihre Arien baut sie gekonnt auf, ihr Timbre ist stabil und erinnert in „Pace, pace“ an Diven des Verismo wie Zinka Milanov. Dass sie eine von der blinden Willkür des Schicksals Gejagte ist, kann sie musikalisch nicht darstellen, weil ihr der Dirigent dazu die Dynamik im Tempo verweigert.

Von der Regie zur Episodenfigur reduziert, kann Yaroslava Kozina als Preziosilla immerhin mit ein wenig „Rataplan“ punkten. Tiziano Bracci mutiert als Melitone vom frechen, dicken Mönch zum Adjutanten des Marchese Calatrava und singt mit schlanker, damit auch farbreduzierter Stimme seine sprachlich bewusst gestaltete Szene. Albrecht Kludszuweit erweist sich als Trabuco mit schönem Tenor in ein paar Sätzen wieder einmal als sichere Stütze des Essener Ensembles. Und Marcel Rosca, auch ein Essener „Urgestein“, hatte einen guten Tag und gab der patriarchalistischen Doppelgestalt des Marchese di Calatrava mit gut fokussiertem Bass ein differenziertes Profil.

Nur noch zwei Mal ist diese „Macht des Schicksals“ in Essen zu sehen, am 15. September und am 14. Oktober. Eine Alternative bietet sich in Köln: Dort inszeniert Oliver Py die Oper zur Eröffnung der Spielzeit neu; Premiere ist am 16. September.




Zur Liebe nicht mehr fähig: Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in Essen

Weiße Räume, einsame Menschen: Christina Clark (Blondchen) und Roman Astakhov (Osmin) in der Essener "Entführung aus dem Serail"

Weiße Räume, einsame Menschen: Christina Clark (Blondchen) und Roman Astakhov (Osmin) in der Essener "Entführung aus dem Serail"

Nur einer kämpft wirklich, tobt herum, heult hemmungslos, zeigt Emotionen pur: Osmin. Und er ist der Einzige, der möglicherweise die Liebe findet: Blondchen wendet sich ihm zu, dem cholerischen, aber authentischen Mann. Die anderen singen derweil von Freud‘ und Wonne in blassen, weißlichen, leeren Räumen. „Es lebe die Liebe“, heißt es im Quartett am Ende des zweiten Aufzugs in Mozarts „Entführung aus dem Serail“, aber in der Essener Inszenierung von Jetske Mijnssen gähnt stattdessen die Einsamkeit aus der tief gestaffelten Leere der Bühne.

Es ist einiges anders als sonst in der „Türkenoper“ Mozarts – und das lässt viele Zuschauer die Premiere ordentlich ausbuhen. Mijnssen, ihre Bühnenbildnerin Sanne Danz und ihre Kostümkünstlerin Arien de Vries haben Orient-Kolorit und Türken-Mode ausgetrieben. Hier geht es nicht um ein fesches Singspiel aus dem Wien von 1782, sondern um ein psychologisch verdichtetes Kammerspiel von 2012. So zumindest ist die durchaus schlüssige Idee der neuesten „Entführung“ am Essener Aalto-Theater.

Osmin ist also kein pluderhosiger Haremsaufseher und der Bassa Selim kein Turban tragender Märchen-Nahostler, erfüllt vom großmütigen Menschen-Ideal der Aufklärung. Er feiert gerade seinen 40. Geburtstag, mit Torte und Bierdosen. Wir erleben die behutsame Annäherung von zwei Menschen. Selim möchte mit Konstanze ausbrechen aus seinem Umfeld, sinnenfällig markiert vom Rahmen der Bühne. Eine „neue, bessere Welt“ will er erreichen, in der man „wenigstens dann und wann“ glücklich sein kann.

In der Essener „Entführung“ sprechen Menschen, die innerlich ihren Ort verloren haben, die ihre erste Liebe schon lange hinter sich haben, die es verlernt haben, sich zu entscheiden, sich zu binden. Aber sie träumen sich zurück in unversehrte Räume des Fühlens. Belmonte zum Beispiel – er könnte die erste Liebe Konstanzes gewesen sein – vertieft sich in die Intensität seines Sehnens, seiner Erwartung. Wenn er vor dem Vorhang vor seinen eigenen Emotionen in die Knie geht: Ist er dann ganz bei sich? Oder nur in sich selbst gefangen?

Konstanzes Attribut ist die Reisetasche. Ein Mensch unterwegs. Wie beschwörend packt Belmonte das braune Ding, als ihm klar wird, dass ihm die Frau seiner Sehnsüchte – wieder? – entschwindet. Am Ende, musikalisch durch den wiederholten ersten Teil der Ouvertüre noch erweitert – macht sich Konstanze mit der Tasche auf den Weg. Alleine. Wohin, wird die Regisseurin in ihrer ersten Arbeit am Aalto-Theater Essen nicht verraten. „Zuletzt befreit mich doch der Tod“, singt Konstanze in ihrer zentralen Arie. In Mozarts „Entführung“, Libretto von Johann Gottlieb Stephanie, ist klar, von was: von der angedrohten Folter. In der „Entführung“, umgedichtet von Jetske Mijnssen, wird wohl erst der Tod Konstanzes innere Einsamkeit beenden.

Mijnssen packt in ihrem „Entführungs“-Experiment so mutig wie in ihrer letztjährigen Dortmunder „Rusalka“ zu. Die weißen Räume von Sanne Danz öffnen sich weit nach hinten, reproduzieren jedoch konsequent immer wieder nur die gleiche Leere. Mijnsen will etwas über Menschen erzählen, die ungefähr so alt sind wie sie selbst. Über den Bassa etwa, der das „Chaos“ in sich fühlt. Und am Ende desillusioniert keine Großmut, sondern Wurstigkeit zeigt: Sollen sie doch gehen, die Verliebten. Ist ihm so was von egal …

Einsame Menschen: Sanne Danz' Bühne zu Mozarts "Entführung aus dem Serail" Fotos: Aalto Theater Essen

Einsame Menschen: Sanne Danz' Bühne zu Mozarts "Entführung aus dem Serail" Fotos: Aalto Theater Essen

Gedanklich ist die Inszenierung ein Wurf, szenisch nur stellenweise. Denn dem Drama fehlt der Spannungsbogen. Umgearbeitete Dialoge biedern sich der heutigen Sprache an, wirken aber manchmal banaler als die Stephanie-Reimereien. Personen wie Blonde oder Belmonte bleiben unerklärt; der Bassa des Schauspielers Maik Solbach ist bloß ein blasser Typ mit dem neudeutschen Tonfall eines Fernsehmoderators. Sicher, hier treffen Monaden aufeinander, die einer Novelle von Martin Walser oder einem Roman Michel Houellebecqs entkriechen könnten. Die Regie versucht in zerdehnten Bewegungen ihre Seelenzustände einzufangen. Aber oft bleibt das Stück auf der Stelle stehen Und die Auftritte und Bewegungen der Figuren muten an, als habe die Regie ihr Handwerk einer Idee geopfert. Konstanzes Klagen über die „Martern aller Arten“ wirkt so vor allem hysterisch: Die Figur ist nicht konsequent genug durchgeformt, dass man ihr glauben würde, von ihrer Entscheidungsangst könnte sie „nur der Tod“ befreien.

Musikalisch sorgt Christoph Poppen – erstmals am Aalto-Theater zu Gast – für eine Mozart-Sternstunde: Zwar verhetzt er die Ouvertüre á la mode, opfert dem Tempo Artikulationsfinesse und feine Detailarbeit der Geigen. Doch das gibt sich zum Glück bald: Den Essener Philharmonikern gelingen das innere Beziehungsgeflecht der Musik spannend, Einzelheiten filigran modelliert, Klangfarben sinnig ausgespielt. Auf den Zusammenhalt von Bühne und Graben dürfte Poppen allerdings noch einen Blick werfen.

Simona Saturova zeigt Beweglichkeit und Substanz. Sie hat keine Probleme damit, die Grausamkeiten auf dem Atem zu tragen, die Mozart seiner Uraufführungs-Konstanze Catarina Cavalieri in die Kehle geschrieben hat. Sie weiß zu färben und dynamisch zu schattieren. Allerdings ist ihre Stimme wenig flexibel positioniert, steckt in einem beengt wirkenden Klangraum, der sich nicht weiten will. Bernhard Berchtold verzaubert als Belmonte mit lyrischen Wundern, bis an die Grenze des Atems gehaltenen Legati, sorgsam gebildeten Schwelltönen.

Roman Astakhov ist kein idealer Osmin: zu schlank-metallisch die Stimme, ohne klanglichen Kern und gesättigten Ton. Die bezaubernde Christina Clark (Blondchen) und der fabelhaft höhensicher und tonschön singende Albrecht Kludszuweit (Pedrillo) bestätigen erneut das hohe Niveau des Aalto-Ensembles. Mit dieser „Entführung“ hat Essen eine Neuinszenierung, die viel Klugheit investiert, um das Stück ins Heute hineinzutragen. Das haben andere auch schon getan, aber – trotz aller Einwände – kaum mutiger und näher am Puls unserer Zeit und ihren psychischen Befindlichkeiten.

Information und Termine: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-entfuehrung-aus-dem-serail.htm




„Die Fledermaus“ in Essen: Pläsier ohne Sprengsatz

Das Stubenmädchen Adele (Hulkar Sabirova, l.) und ihre Schwester Ida (Yara Hassan) vergnügen sich auf Orlofskys Party mit einem Tänzer (Foto: Iko Freese)

Welch rauschende Party! Für das Vergnügen seiner Gäste hat Prinz Orlofsky keine Mühen und Kosten gescheut. Da gibt es ein Live-Orchester, einen künstlichen Sternenhimmel, ein Riesen-Roulette, edlen Stuck, blitzende Spiegel, funkelnde Diskokugeln. Sogar ein Feuerwerk lässt der generöse Gastgeber zünden. Zu sehen ist dies alles auf der Bühne des Essener Aalto-Theaters, wo Gil Mehmert es in seiner neuen Inszenierung der Strauß-Operette „Die Fledermaus“ mächtig krachen lässt.

Der in Herten geborene Regisseur, der seit 2003 Professor im Studiengang Musical an der Essener Folkwang Universität ist und für die Eröffnungsshow der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 verantwortlich zeichnete, serviert das sprühende Meisterwerk als glanzvolles Spektakel, das vor allem unterhalten soll. Dies wohl auch auf Geheiß des Opernintendanten Stefan Soltesz, der sich im Programmheft für eine illustrierende, auf ein jüngeres Publikum zielende Fassung stark macht. Als Konsequenz wird aus der neuen Essener Fledermaus ein Tierchen ohne Biss: Sie ist leicht zu konsumieren, steht dem Varieté aber näher als der Spottlust à la Offenbach. Von den Nachwehen des Wiener Börsenkrachs im Jahr vor der Uraufführung, in dessen Folge sich manch Verzweifelter das Leben nahm, aber auch von der erschreckenden Brüchigkeit bürgerlicher Verhältnisse ist in Mehmerts Version nicht viel zu spüren.

Gesungen und gespielt wird aber auf einem Niveau, das dem guten Ruf des Aalto-Theaters entspricht. Mit Peter Bording als Gabriel von Eisenstein und Alexandra Reinprecht als Rosalinde verfügt die Produktion über zwei Hauptdarsteller, die nicht nur stimmlich eine glänzende Figur abgeben. Hulkar Sabirova mag als Stubenmädchen Adele zuweilen etwas überdreht agieren, zwitschert sich als „Unschuld vom Lande“ aber trefflich in die Herzen des Publikums. Andreas Hermann kostet als Alfred das Klischee vom selbstverliebten Tenor köstlich nervtötend aus. Für mehr als nur einen Schuss schillernder Dekadenz sorgt Countertenor Matthias Rexroth, der als Prinz Orlofsky wie ein Party-Gott aus der Stuckdecke geschwebt kommt. Tom Zahner als versoffener Gefängniswärter Frosch, Heiko Trinsinger als Dr. Falke und Michael Haag als Gefängnisdirektor Frank komplettieren das Bild dieser ebenso feierwütigen wie fragwürdigen Gesellschaft. Der spielfreudige, auch stimmlich gut aufgelegte Opernchor sowie die Essener Philharmoniker, die unter dem Dirigat von Stefan Soltesz voller Transparenz und Spannkraft spielen, machen die Produktion musikalisch zu einem Erfolg. Mag das Orchester in sehnsuchtsvoll ausgreifenden Melodien auch kühl und reserviert klingen, so begeistert es doch durch nadelfeine Akzente und sprühende Delikatesse.

Freundlich, aber ohne Überschwang nahm das Premierenpublikum die aufwändige, auf zweieinhalb Stunden gekürzte Neuproduktion auf. Als Silvesterstück dürfte die Essener Fledermaus funktionieren, zumal die elegante Bühne von Jens Kilian und die prachtvollen Kostüme von Dagmar Morell viel fürs Auge bieten. Wer aber auf den im Pläsier verborgenen Sprengsatz wartet, wird trotz des Feuerwerks enttäuscht.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-fledermaus.htm)




Hoffmanns Spukgestalten

Hoffmann (Thomas Piffka, im Rollstuhl) ist verliebt und bereits in den Fängen der Puppe Olympia (Rebecca Nelsen). Foto: Thilo Beu

Die Geliebte glänzt durch Abwesenheit. Vielleicht ist Stella nur ein Traumbild, in dem der Dichter Hoffmann seine Idealfrau erblickt. Die Sehnsucht nach ihr befeuert zwar seine Phantasie, erwärmt aber nicht sein Leben. Das fühlt sich kalt und unbewohnt an: Wie sehr, das lässt Regisseur Dietrich Hilsdorf uns jetzt im Essener Aalto-Theater spüren. Dort begegnet uns der Titelheld von Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ auf komplett leer geräumter Bühne.

Dunkel und trostlos ist es um den Poeten, der da allein an einem Tischchen sitzt und trinkt. Keine ausgelassenen Studenten, sondern schwarz gekleidete Theaterleute strömen herbei, um sich von der Ballade von Klein-Zack unterhalten zu lassen. Hoffmanns Einsamkeit mildert das nicht. Deshalb flüchtet er in eine andere Welt, in der er drei Frauenentwürfe schafft: den Gesangsautomaten Olympia, die der Kunst verfallene Sängerin Antonia und die berechnende Kurtisane Giulietta.

Mit dem Beginn der drei Binnen-Akte könnte die Regie trefflich auf eine andere Ebene abheben. Könnte die Leere mit Leben füllen, könnte dem Zug ins produktiv Phantastische folgen. Aber Hilsdorf wählt einen anderen Weg: Er will Schauergeschichten nach Art des „Gespenster-Hoffmann“ erzählen. Vor blutroten Vorhängen zeigt er uns Spukszenen: Aus Olympia wird eine larvenhaft weiße Puppe im Rollstuhl, Antonia tauscht mit ihrer im Sarg aufgebahrten Mutter den Platz. Und die teuflisch verführerische Giulietta macht aus einem unbescholtenen Mann einen Mörder.

So lastet weiter nächtliches Dunkel auf der Bühne. Glutvolle Schwärmerei oder quirliger Esprit sind in dieser Schattenwelt Mangelware, vielmehr färbt die Gespensterblässe auf Offenbachs Opern-Torso ab. Die eigens für das Aalto-Theater erstellte Dialogfassung nimmt zusätzlichen Schwung aus dem Stück heraus. Natürlich ist Hilsdorf Meister genug, um der tausendfach verkitschten „Barcarole“ neuen, ironisch gebrochenen Zauber zu geben. Auch hält er dem Publikum gelegentlich den Spiegel vor, wenn er das gesamte Theater zur Spielfläche erhebt. Aber wo sich sein „Fidelio“ einst zum umfassenden Opernfest rundete, mühen sich „Hoffmanns Erzählungen“ durch manche Ebene, bevor sie sich zum apotheotischen Finale aufschwingen.

Seltsam schräg zur intendierten Schauerromantik steht der eher beiläufige Operettenklang aus dem Orchestergraben. Unter der Leitung von Stefan Soltesz lassen die Essener Philharmoniker Offenbachs Musik schlank und flink, aber auch recht folgenlos parlieren. Vieles klingt eher nivelliert als ausgewogen: Die Partitur bleibt auch in ihren besten Momenten seltsam kraftlos. Das Gesangsensemble ist gut besetzt, ohne wirklich zu glänzen. Mehr leidende Künstlerseele denn kraftvoller Dionysiker ist Thomas Piffka in der Hauptrolle. Er führt seinen schlanken Tenor mit Eleganz, löst die bis dahin offenbar angezogene Handbremse aber erst im letzten Akt, um richtig Kraft und Schmelz zu entwickeln. Rebecca Nelsen ist als Olympia ein verlässlicher Gesangsautomat, dem menschliche Mühen in der koloraturgepanzerten Mechanik indes nicht fremd sind. Die Muse Niklausse (Michaela Selinger), die Sängerin Antonia (Olga Mykytenko) und die Kurtisane Giulietta (Ieva Prudnikovaite) bilden ein ausgewogenes Trio. Trotz allem überwiegt am Ende das Gefühl, der große Dichter und Phantast habe in Essen mehr Wasser getrunken als Wein.

Termine und Informationen: http://www.theater-essen.de

(Der Artikel ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen.)