Auf dem K2 der Liedkunst: Konstantin Krimmel und Daniel Heide mit einem Schubert-Mahler-Programm in Hamm

Konstantin Krimmel (31), Bariton deutsch-rumänischer Abstammung, zählt zu den besten Liedsängern unserer Zeit (Foto: Daniela Reske)

Vor dieser Stimme möchte man kapitulieren. Die professionelle Kritiker-Distanz einfach mal aufgeben. Nicht länger leugnen, was sich hartnäckig in die Gedanken drängt, wohl wissend, dass Künstler so wenig miteinander verglichen werden sollten wie Äpfel mit Birnen. Konstantin Krimmel durchbricht unsere Gegenwehr. Der Bariton deutsch-rumänischer Abstammung singt so mühelos und klar, dass uns Fritz Wunderlich durch den Kopf spukt, obwohl der als Tenor eine andere Stimmlage hatte (und sowieso einzigartig war).

Mit einem Liederabend im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zwingt Krimmel uns zum Offenbarungseid: Vor der Natürlichkeit, dem Fluss und Farbenreichtum dieser erlesenen Baritonstimme strecken wir die Waffen. In einem Atemzug mit ihm muss der nicht minder exquisite Liedpianist Daniel Heide genannt werden, unter dessen Fingern sublime Stimmungsbilder, aber auch Dramen und Schauergeschichten entstehen, sobald er die Tastatur nur anrührt.

Reichlich Weltschmerz tönt durch die Lieder von Franz Schubert und Gustav Mahler, die Krimmel und Heide für dieses Programm ausgewählt haben. Wanderschaft und Mondnächte und unglückliche Liebe, mithin tief romantische Leitmotive spiegeln sich in Versen von Goethe und Schiller, Hölty und Seidl und natürlich Schmidt von Lübeck. Letzterer wäre heute womöglich vergessen, hätte Schubert aus seinem Gedicht „Der Wanderer“ nicht ein Lied von ikonischer Bedeutung geformt.

Im Duo kaum zu übertreffen: Konstantin Krimmel und Liedpianist Daniel Heide (Foto: Guido Werner)

Mit den Worten „Ich komme vom Gebirge her“, setzt Krimmel ein, leise, nachdenklich, traumverloren, während der Klavierpart dunkle Täler eröffnet. Im Subtext schwingt ein halbes Dutzend unausgesprochener Fragen mit: „Wo bin ich? Was tue ich hier? Wie bin ich hierhergekommen?“ Man könnte sich ganze Romane dazu ausdenken, aber Krimmel singt mit größter Schlichtheit, mit nachgerade kindlichem Staunen und einer zart-tenoralen Farbe, die nach Unschuld klingt.

Damit ist der Ton gesetzt. Wir sind im Reich des Kunstlieds, wo jede Empfindung, jede noch so feine Regung des Herzens Widerhall findet. Wir sind bei Franz Schubert und Gustav Mahler, die Schmerz in ewige Schönheit transformierten. Und wir sind bei Konstantin Krimmel und Daniel Heide, die an diesem Abend höchste Erwartungen übertreffen, die uns mitnehmen auf die erhabenen Gipfel der Kunst, auf den K2 des Liedgesangs.

Unmöglich zu sagen, in welchem Register Krimmels lyrisch-bewegte, technisch phantastische Stimme am stärksten ist. Warm, sonor, beseelt klingt seine Mittellage, die Höhe ist klar und fragil, beinahe knabenhaft rein. Die Melancholie von „Wanderer an den Mond“ erhält einen trostvollen Schmelz, „Schäfers Klagelied“ schwelgt in den Farben von Sehnsucht und Resignation. Es gibt derzeit kaum ein anderes Lied-Duo, das aus der Reduktion solchen Reichtum gewinnt, das aus der Nussschale ein Universum steigen lässt. Wenige Noten genügen, um „Wanderers Nachtlied“ in die Weite des Himmels entschweben zu lassen.

Konstantin Krimmel ist Ensemblemitglied an der Bayerischen Staatsoper in München, wo er derzeit etliche Mozart-Partien singt (Foto: Florian Huber)

Schärfere Expressivität und einen größeren Tonumfang verlangen Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Aber Krimmel, Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper, hat damit keinerlei Schwierigkeiten. Mühelos füllt seine Stimme den Raum. Mit Ironie, ja einem Hauch von Sarkasmus unterläuft er den volksliedhaften Ton von „Ging heut morgen übers Feld“. Dieser Sänger und dieser Pianist sind zu klug, um den Schmerzensklang von „Ich hab‘ ein glühend Messer“ künstlich zu dramatisieren oder theatralisch aufzuladen. Das Lied bleibt authentischer Ausdruck tiefer Qual.

Nach der Pause gerät „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller zu einer rund 17minütigen Ballade mit schaurigen Zwischentönen. Daniel Heide und Konstantin Krimmel gönnen uns Sturm und Drang vom Feinsten. Bildstark, fast wie ein Film läuft Schillers Geschichte von freundschaftlicher Liebe und Treue vor uns ab. Trotz vieler Tempowechsel wirkt alles wie aus einem Guss. Krimmels Stimme reicht jetzt in Bassregionen hinab, erreicht spukhafte Schwärze und hinreißendes Volumen.

Zwei Tage vor dem Tag, an dem Donald Trump möglicherweise zum zweiten Mal zum Präsidenten der USA gewählt wird, klingt der Überdruss von „Totengräbers Heimweh“ leider allzu vertraut. „Oh Menschheit! Oh Leben! Was soll’s! Oh was soll’s!“ singt Konstantin Krimmel, wie von Ingrimm und Abscheu geschüttelt. Empörung gegen die Unbarmherzigkeit der Götter formuliert er in Goethes „Prometheus“: anklagend, rebellisch, mit der Bitterkeit des Enttäuschten. Da macht einer die Faust in der Tasche.

Doch auf solchem Schlusston soll die Sternstunde nicht enden. Krimmel und Heide gönnen ihrem Publikum zwei Zugaben: zunächst Schuberts Vertonung von Goethes „Willkommen und Abschied“, dann seine „Litanei auf das Fest Allerseelen“ (D 343), die uns zum Abschluss in eine warme Decke hüllt: schimmernd, trostvoll, in sanften langen Bögen.

(Informationen: www.konstantinkrimmel.com)




Früher war einfach mehr Kneipe!

Schankraum der Gaststätte Lohsträter, Herringen (Hamm), um 1920. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Heinz Hilse)

Ach, wo sind sie nur geblieben, die vielen Eckkneipen Westfalens, zumal im Ruhrgebiet? Wo sind die knarzigen, urigen Typen, die dort Abend für Abend gehockt und frei von der (wohl arg strapazierten) Leber weg geredet oder stundenlang schweigend gesüffelt haben?

Früher war’s nicht besser, aber anders. Da gehörten mindestens zwei Dinge zwingend zum Kneipenwesen: eine Jukebox und ein Flipper. Aber halt! Das war ja schon eine Weiterentwicklung für die damals jüngeren Jahrgänge. Noch vorher zählten zum unverbrüchlichen Inventar die gemeinschaftlichen Sparkästen mit nummerierten Fächern – und Soleier im Glas, das möglichst auf der Theke zu stehen hatte. Zuallererst natürlich stets das „Grundnahrungsmittel“: frisch gezapftes Bier, zünftiger noch in Form des „Herrengedecks“, also Bierchen und Schnäpschen in ritueller Abfolge.

Richtige Arbeiterkneipen habe ich kaum noch kennengelernt. Eine Frage des Jahrgangs und des Wohnviertels. Immerhin hat mein Vater mich (es muss wohl 1958 gewesen sein, zur Fußball-WM in Schweden) im Schatten der Dortmunder Zeche Germania als Kind mal zum Fußballgucken in eine solch proletarische Kneipe mitgenommen. Da flackerte einer der frühen Fernsehapparate – und es ging ziemlich hoch her, wenn ich mich recht entsinne.

O grelles frühes Tageslicht!

Die Zeit, als ich öfter in Kneipen gegangen bin, ist auch schon lange her. Die Lokale hatten sich allerdings schon damals verändert. Wir haben uns meist im vormals kleinbürgerlichen Dortmunder Kreuzviertel herumgetrieben, wo sich in den 1970er Jahren allmählich Szenekneipen herausbildeten, also eher studentische Treffs. Ein abendlicher Lebensmittelpunkt war für uns der „Bunker“, tatsächlich ein ehemaliger Weltkriegsbunker, in dem man sich – buchstäblich unterirdisch – ganze Nächte um die Ohren schlug. Frühmorgens gegen vier ließ der Wirt nach all dem Rock-Gedöns unversehens „Guten Morgen Sonnenschein“ von Nana Mouskouri laufen. Ein Schock. Draußen zwitscherten schon die Vögel. O grelles frühes Tageslicht im Sommer!

Wirtin Ingrid Brede in der Hammer Kneipe „Blauer Affe“, 1962. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Ludger Moor, Hamm)

An solche harmlosen Eskapaden bin ich jetzt durch eine Ausstellung im Hammer Gustav-Lübcke-Museum erinnert worden: „Treffpunkt Kneipe“ erzählt die Geschichte, die mit allerlei klösterlichen und privaten Braustätten (wenn etwas übrig war, stellte man halt Bänke auf und bat Gäste hinzu) als Kneipen-Vorläufern beginnt. Anno 1719 hat es allein in Hamm rund 50 Braustellen gegeben, mit der Industrialisierung wuchs die Isenbeck-Brauerei, die mittlerweile auch Geschichte ist. Warsteiner hat die Marke gekauft.

Funktionen gewonnen, Funktionen verloren

Die Kneipe, so erfährt man in der Schau, hat im Laufe der Zeit viele Funktionen gewonnen und nach und nach wieder verloren. Ehedem dienten die Lokale als politische Versammlungsstätten, als Vereinsheime, Orte für Gymnastik und Boxsport (im Rahmen der Arbeiterbewegung), Proben- und Auftrittsräume für Chöre oder sonstige Musikensembles. Überhaupt gab’s hier Kultur sämtlicher Sparten. Etliche Kneipen hatten Theaterbühnen oder dienten mangels Museum als Ausstellungsräume. Zeitweise fanden Modenschauen oder Auktionen statt, es wurden bizarre kleine Weltwunder vorgeführt, auch schauten Zahnärzte nebst anderem ambulanten Gewerbe vorbei. Das ganze bunte Leben.

Bergleute der Zeche Radbod beim Umtrunk, 1913. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Christa Weniger)

Zwei westfälische Stätten haben sich mir vor Jahren besonders eingeprägt: zum einen das gediegene, urgemütliche Gasthaus Porten Leve in Warendorf – und die ganz anders geartete „Klosterkanne“, ein bahnhofsnaher Schuppen just in Hamm. Heute kann man’s ja freimütig zugeben: In dieser Spelunke sind auch gewisse Lokaljournalisten verschiedener Blätter gelegentlich schon mal untertags „versackt“. Alle Gäste rauchten wie die Teufel, aus der Jukebox plärrten damals Gassenhauer wie „Waterloo“ von Abba und „Sugar Baby Love“ von den Rubettes, wahlweise auch Schunkler wie „Drink doch eine mit“ von den Bläck Fööss oder „Die kleine Kneipe“ von Peter Alexander. Andere Zeiten, andere Songs, andere Sitten.

Wie es wohl weitergehen wird?

All das war nicht annähernd vergleichbar mit dem, was wir zu jener Zeit in Irland erleben durften. Das war eine andere Kneipen- oder eben Pub-Kultur! Wenn zu so manchem „Pint of Guinness“ der ganze proppenvolle Laden zusammen aus voller Brust Folk-Songs anstimmte, wurde es einem auch ums westfälische Herz recht warm.

Inzwischen hat es einigen Niedergang oder jedenfalls Wandel gegeben. Ganze Kneipenquartiere, wie etwa jenes um den Dortmunder Ostwall herum, sind praktisch restlos verschwunden. Ob das Bochumer „Bermuda-Dreieck“ ein Ersatz ist? Nun ja, es ist nicht dasselbe. Ansonsten sind reine Kneipen vielfach Speiselokalen mit internationaler Anmutung gewichen. Statt von Kneipen redet man öfter von Clubs. Im Gefolge der Corona-Pandemie und erst recht seit Aufkommen der Omikron-Mutation ächzt die gesamte Gastronomie nicht nur unter Personalnot.

Wie es weitergehen wird? Hoffentlich bald wieder vital und betriebsam. Darauf heben wir die Gläser und bringen den landesüblichen Trinkspruch aus: „Wohlsein!“

Lokal fokussierte Ausstellung zum Thema: „Treffpunkt Kneipe. Hammer Lokalgeschichten“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße. Noch bis 20. März. Mehr Infos:

https://www.museum-hamm.de/ausstellungen/aktuell/treffpunkt-kneipe/
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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ (Münster) erschienen. www.westfalenspiegel.de




Auf ein Neues: Museum in Hamm würdigt den Künstler Otmar Alt (80)

Tierwelt in kraftvollen Farben: Blick in eine besonders kindgerechte Abteilung der Ausstellung über Otmar Alt. Bilder und Objekte werden hier extra bodennah präsentiert. (Foto: Bernd Berke)

Nein, es herrscht in Westfalen kein Mangel an Ausstellungen des Künstlers Otmar Alt: Von Ende 2013 bis zum März 2014 gab’s einen „Rückblick und Ausblick“ auf Schloss Cappenberg. Von April bis September 2018 lud das Haus Opherdicke (Holzwickede) in die „Fabelhaften Zauberwelten“ des vorwiegend farbenfrohen und weithin populären Malers, der auch dekorative Elemente nicht scheut, aber keineswegs darauf reduziert werden kann.

Auch etliche Glasobjekte gehören zum Umfang der Schau. (Foto: Bernd Berke)

Jetzt, nachträglich zu seinem 80. Geburtstag (*17. Juli 1940), kommt seine Wahlheimat Hamm selbstverständlich nicht um eine Würdigung herum. „Das Leben ist ein Versuch“ heißt (einem Ausspruch Otmar Alts folgend) die von Diana Lenz-Weber kuratierte Retrospektive im Gustav-Lübcke-Museum, die mit rund 150 Exponaten von den Anfängen in den frühen 1960er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart reicht – am Ende des Rundgangs sieht man drei „Corona-Bilder“, das letzte davon unvollendet.

Demnächst mehr dazu – hier und an anderer Stelle.

Otmar Alt – „Das Leben ist ein Versuch“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Vom 11. Oktober 2020 bis zum 7. März 2021. Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. www.museum-hamm.de

 




„Mammuts mag jeder!“ – Hammer Ausstellung versetzt uns in die letzte Eiszeit und ihre Tierwelt

Ein „Bildungs-Erlebnis“ versprechen die Veranstalter der neuen Hammer Ausstellung „Eiszeit Safari“ (modisch ohne Bindestrich). Betonung auf Bildung; Betonung gleichermaßen auf Erlebnis.

So ähnlich könnte es ausgesehen haben – vor rund 15.000 bis 30.000 Jahren: Im Vordergrund ein fürs Museum rekonstruiertes Wollnashorn, dahinter ein weibliches Mammut, ganz hinten links das Skelett eines (nicht ganz ausgewachsenen) Mammut-Bullen. (Foto: Bernd Berke)

So ähnlich könnten wesentliche Teile der Fauna ausgesehen haben – damals, vor rund 15.000 bis 30.000 Jahren: Rechts im Vordergrund ein fürs Museum rekonstruiertes Wollnashorn, dahinter ein Nashorn-Skelett, sodann ein zotteliges weibliches Mammut und ganz hinten links das Skelett eines (nicht ganz ausgewachsenen) Mammut-Bullen. (Foto: Bernd Berke)

Die Schau führt uns etwa 15.000 bis 30.000 Jahre zurück, als weite Teile des heutigen europäischen Kontinents unter einer Eisdecke lagen. Betritt man die Räume im Obergeschoss des Gustav-Lübcke-Museums, so steht man zwar nicht Aug‘ in Aug‘ mit tausend, aber doch mit etlichen Tieren. Ko-Kuratorin Dr. Sarah Nelly Friedland gibt dazu gleich ein griffiges Motto aus: „Mammuts mag jeder!“

Präparate nach dem Stand der Forschung

Und tatsächlich fühlt man sich hier ein wenig in eine Safari-Situation versetzt – nur eben nicht mit Löwen, Elefanten und Giraffen, sondern mit den beherrschenden Tieren (sozusagen den „Big Five“) jener Vorzeit, als da beispielsweise gewesen sind: Mammut, Wollnashorn, Höhlenbär, Riesenhirsch und Steppenbison.

All diese Exemplare, über 60 an der Zahl, sind – teilweise sehr lebendig wirkend – von erfahrenen Herstellern in den Niederlanden und Spanien rekonstruiert und präpariert worden; nicht einfach nach Gusto, sondern nach wissenschaftlichen Vorgaben, dem Stand der Forschung entsprechend. In schützende Container verpackt, wurden all diese Tiere der Wanderschau mit fünf Lastwagen nach Hamm verfrachtet. Ergänzend finden sich einige Beispiele zur damaligen Vegetation, ausgewählte Zeugnisse der frühen Kultur und Mitmach-Stationen, an denen man z. B. mit spitzen Steinsplittern ritzen und schnitzen oder mit den Händen Tierfelle ertasten kann. Zum virtuellen Zugang kommen wir später noch.

Mysteriöse Geräuschkulisse

Es ist eine (mit moderaten Gruselmomenten angereicherte) Wohlfühl-Ausstellung, gedacht für die ganze Familie, mit verschiedenen Ansatzpunkten und Begleitheften für Kinder und Erwachsene. Vor den oder jenen gefletschten Zähnen oder der schieren Größe mancher Tiere könnte man sich fürchten, aber auch die unentwegt eingespielte Geräuschkulisse mit geheimnisvollen „Huuhuuu“-Rufen klingt für Menschenwesen nach steter Gefahr. Das ganze Arrangement wirkt ein wenig „amerikanisiert“, es ist auch ein Show-Aspekt dabei. Aber sei’s drum. Man wird nicht getäuscht, sondern bei den Sinnen gepackt. Und zu trocken soll es ja auch nicht geraten.

Die damaligen Menschen, hier repräsentiert von zwei Figuren, die man Urs und Lena getauft hat, hatten es in ihrem Alltag nicht leicht. Ihr Leben muss einem ständigen Survival-Training unter erschwerten Bedingungen geglichen haben. Aber was heißt hier Training? Es war höchst lebensgefährlicher Ernst.

Ein paar ausgewählte archäologische Fundstücke (Schmuck, Kleidungsreste) deuten freilich auch schon auf die Frühzeit eines sozialen, gelegentlich gar geselligen Lebens hin. Überdies gibt es beispielsweise Anzeichen dafür, dass damals Alte und Kranke gepflegt worden sind. Auch Höhlenmalerei dürfte es gegeben haben, nur ist sie unter hiesigen Bedingungen nicht so erhalten geblieben wie in Frankreich oder Spanien.

„Sie waren wie wir“

Besonders dann, wenn die jagdbaren Tiere jahreszeitlich massenhaft Gelände und Gebiete wechselten, haben sich die Menschen an verheißungsvollen Treffpunkten verabredet – nicht nur zum Halali, sondern auch im Sinne des gegenseitigen Kennenlernens, der Fortpflanzung und eines erweiterten Genpools. Nach allem, was man weiß und vermutet, könnte dabei die Monogamie die vorherrschende Beziehungsform gewesen sein. Kuratorin Sarah Nelly Friedland ist ohnehin überzeugt, dass ein Mensch von damals, trüge er nur moderne Kleidung und spräche er nicht in seinem eiszeitlichen Idiom, uns kaum als „andersartig“ auffallen würde. Kurzum: „Sie waren wie wir.“

Sie soll bei Bedarf auch gejagt, er soll auch Nahrhaftes gesammelt haben: Dieses Paar (hilfsweise Urs und Lena genannt) repräsentiert in der Ausstellung die Eiszeit-Menschen. (Foto: Bernd Berke)

Sie soll bei Bedarf auch gejagt, er soll auch Nahrhaftes gesammelt haben: Dieses Figurenpaar (hilfsweise Urs und Lena genannt) repräsentiert in der Ausstellung die Eiszeit-Menschen. (Foto: Bernd Berke)

Und die Verteilung der Geschlechterrollen? Sei vermutlich auch nicht so starr gewesen. Frau Friedland ist überzeugt, dass (je nach Erfordernissen des Augenblicks) die Frauen auch schon mal gejagt und die Männer gesammelt haben.

Wobei auch das Wort Jagd eine Differenzierung verträgt. Tiere wurden nämlich längst nicht nur durch steinerne Geschosse zur Strecke gebracht, sondern vielfach auch durch Fallenstellerei. Statt der Bezeichnung Jäger bietet sich dafür der Begriff Wildbeuter an.

Natürlich geht es auch ums Klima

Und wie kalt ist es in der besagten Eiszeit gewesen? Nun, im Winter schon ziemlich arg. Doch in den Sommern konnte es sich wohl auch schon mal auf 20 Grad erwärmen. Das Gebiet des heutigen Westfalen darf man sich denn auch nicht als dauerhaft vereist vorstellen, sondern als karg bewachsene Steppe. In den fast waldlosen Weiten war übrigens der Besitz von kostbarem Holz (etwa für Speere) ein Glücksfall. Viel später, als sich weite Lande wieder bewaldeten, bedeutete genau dies das Ende einiger Tierarten. Sie konnten sich nicht mehr so frei bewegen, wie es hätte sein müssen. Verkürzt gesagt: Sie kamen nicht mehr richtig durch…

Überhaupt kommt man beim Thema Eiszeit natürlich nicht um die Klimadebatte herum, hie und da hebt die Ausstellung explizit darauf ab, u. a. mit einer wohlfeilen Fotomontage, die den Kölner Dom halb überflutet an einem südlichen Sonnenstrand zeigt, und mit einem Globus, der den Erdzustand bei heftig gestiegenem Meeresspiegel vor Augen führt. Auch das sind Gruselmomente.

Der Unterschied zwischen Eiszeit und Eiszeitalter

Damit es kein Vertun gibt: Auch wir leben – allen Debatten um Klimawandel und Erderwärmung zum Trotz – zwar in einer Warmzeit, dies aber im größeren Zusammenhang eines Eiszeitalters, das fachbegrifflich von einer Eiszeit zu unterscheiden ist. Für ein Eiszeitalter genügt es auf weite Sicht vieler Millionen Jahre, wenn zumindest eine Polkappe vereist ist. Das ist einstweilen noch der doppelte Fall. Aber wer weiß, wie lange noch. Zur Einschätzung der Dimensionen noch diese Zahlen: „Unser“ Eiszeitalter hat vor rund 33 Millionen Jahren begonnen, die letzte wirkliche Kaltzeit endete vor rund 11.600 Jahren. Eigentlich kein Stoff für die täglichen Nachrichten. Und doch…

Nach bisher eingependelten Rhythmen der Erdgeschichte stünde in 2000 bis 3000 oder auch erst in 15.000 Jahren der Beginn einer neuerlichen Eiszeit an. Über die Vorausdatierung streiten sich noch die Experten. Außerdem kann man sich gar nicht mehr so sicher sein, dass die Vorhersagen überhaupt eintreffen. Wenn die Menschheit so weitermacht wie jetzt, kommen vielleicht gar keine kältere Zeiten mehr. Apropos: Vor rund 160.000 Jahren haben in einer Warmzeit Nilpferde an den Flüssen gelebt, die wir heute Rhein und Neckar nennen.

Filmische Ergänzungen durch eine App

Die Wanderausstellung ist in Kooperation mit den federführenden Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim (gleichsam rockiges Kürzel: REM) entstanden. Ein Clou der Schau: Man hat eigens eine App entwickelt, mit der man (über Smartphone oder Tablet) die Hauptpunkte der Schau ansteuern und nach dem Scannen der Stations-Symbole mit einschlägigen Filmen und Tönen anreichern kann. Da wird beispielsweise vorgeführt, wie die Menschen damals wohl ihr Fleisch gekocht oder gebraten haben. Das Ganze funktioniert auch mit den Ausstellungsführern in Papierform, sie können ebenfalls via Kapitelnummer mit dem Smartphone angereichert werden. Damit in Hamm nicht alle Besucher mit tönenden Apparaten herumgehen, werden Kopfhörer ausgeteilt – und Leihgeräte, falls man selbst nicht ausgerüstet sein sollte.

Eine weitere Besonderheit stößt (!) wahrscheinlich erst Mitte Januar 2020 zur Ausstellung im Lübcke-Museum (neuer Direktor seit dem Sommer: der aus Neuss nach Westfalen gewechselte Dr. Ulf Sölter), und zwar ein veritabler Mammut-Stoßzahn, vor mehreren Jahren just auf Hammer Stadtgebiet gefunden und mittlerweile von Fachleuten des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) museumstauglich aufbereitet. Wie hieß doch gleich die Losung? „Mammuts mag jeder!“

„Eiszeit Safari“. Eine Erlebnis-Ausstellung. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel. 02381 / 17-5714. Vom 1. Dezember 2019 bis zum 5. Juli 2020. Geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Heiligabend, Weihnachtsfeiertag, Silvester und Neujahr geschlossen. Eintritt 9 €, ermäßigt 7 €, Familienkarte 22 € (bis zu 2 Erwachsene und 3 Kinder). Umfangreiches Begleitprogramm, u.a. auch kindgerechte Aktionen („Fit für die Eiszeit“) im örtlichen Maximilianpark.

www.museum-hamm.de

 

 

 




Trotz allem optimistisch bleiben – die fabelhaft farbigen Welten des Otmar Alt in Opherdicke

Wenn man seine Bilder und Skulpturen als „bunt“ bezeichnet, ist Otmar Alt nicht allzu begeistert. Buntheit klingt ein wenig nach bloß dekorativer Oberflächlichkeit. Viel lieber verwendet der Künstler das Wort „farbig“. In der Tat: Sein Werk ist weit überwiegend farbenfroh. In einer Retrospektive mit über 100 Arbeiten wird dieser an sich schon offenkundige Befund nun im Haus Opherdicke (Holzwickede) bekräftigt.

Otmar Alt mit seiner Tukan-Skulptur vor dem Haus Opherdicke. (Foto: Bernd Berke)

Otmar Alt mit seiner Tukan-Skulptur vor dem Haus Opherdicke. (Foto: Bernd Berke)

Die Zusammenstellung aus dem Leihgaben-Fundus der Otmar Alt Stiftung trägt den etwas wolkig ins Allgemeine ausgreifenden Titel „Fabelhafte Zauberwelten“. „Zauberhafte Fabelwelten“ wäre auch nicht verkehrt gewesen. Naja, egal. Jedenfalls wird Otmar Alts Entwicklung in wesentlichen Zügen seit den frühen 1960er Jahren nachgezeichnet. Nicht ausgeschlossen, ja füglich anzunehmen, dass einem hie und da die Augen übergehen, wenn sie so viel Farbe zu trinken bekommen.

Frühe Jahre im Geist des Informel

Als junger Mann hat sich der 1940 in Wernigerode (Harz) geborene und in Berlin aufgewachsene Otmar Alt zunächst am Informel orientiert. Es war damals ein Hauptstrang der abstrakten Kunst und entsprach dem waltenden Zeitgeist einer vermeintlichen „Tabula rasa“, also eines grundlegenden Neuaufbruchs nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus dieser Phase finden sich einige wenige Bilder, die man rückblickend schwerlich jenem Otmar Alt zurechnen würde, den wir heute zu kennen glauben.

Otmar Alt: "Die Sternenfängerin" (2014), Acryl auf Leinwand. (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

Otmar Alt: „Die Sternenfängerin“ (2014), Acryl auf Leinwand. (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

Um 1965 fand Otmar Alt allmählich zu seinem eigenen, nach und nach zusehends unverwechselbaren Stil der kraftvollen Farben und klar abgrenzenden Linien. Seine Bilder erscheinen nun wie puzzleartig zusammengesetzt. Dieser Stil verzweigt sich mit den Jahren allerdings vielfach. In dem grundsätzlich fröhlichen und optimistischen Gesamtwerk ist bei näherem Hinsehen dann und wann auch schrundiger Widerstreit, sind verschlungene Wege zu ahnen.

Kunst soll man nicht erklären

Auch dieser Künstler hat, so selbstverständlich fröhlich manche seiner Schöpfungen auch wirken mögen, zuweilen spürbar schmerzlich um die gültige Form gerungen. Auch die Farbe stand und steht ihm nicht einfach so zu Gebote. „Wenn man nicht genau aufpasst, macht die Farbe, was sie will“, sagt er, der auf solides Handwerk stets größten Wert gelegt hat. Ansonsten bleibt er bei seinem Leitsatz: „Kunst, die man erklären muss, ist langweilig.“

Otmar Alt, der nie sonderliche Berührungsängste hatte, was die Zusammenarbeit mit großen Firmen (Rosenthal, einstige RAG usw.) und überhaupt kommerzielle Verwertungen anging, gilt als einer der erfolgreichsten und populärsten Künstler Deutschlands. Auch in den Gefilden des Kreises Unna ist er wahrlich kein Unbekannter. 2013 war ihm eine Ausstellung auf Schloss Cappenberg in Selm gewidmet. Dort konnte man 700 Quadratmeter bespielen, in Holzwickede sind es nun gerade mal rund 300.

Otmar Alt: "Flugversuch" (1992), Acryl auf Leinwand (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

Otmar Alt: „Flugversuch“ (1992), Acryl auf Leinwand. (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

So kommt es, dass diese – von Sigrid Zielke-Hengstenberg und Arne Reimann kuratierte – Schau sehr dicht und konzentriert wirkt, ohne jedoch überladen zu sein. Man hat die knappe Fläche halt intensiv genutzt. Wo es irgend ging, wurden auch ein paar Großformate untergebracht. Otmar Alt selbst zeigte sich bei einer Vorbesichtigung sehr angetan von der werkdienlichen Auswahl, Platzierung und Hängung sowie vom Katalog aus dem Dortmunder Kettler Verlag.

Nach der Signatur ein Glas Rosé

Es ist Otmar Alt darum zu tun, mit seiner Kunst möglichst direkt in den Alltag hineinzuwirken. Zahlreiche Objekte in diversen Städten und Parks zeugen davon, auch im Garten von Opherdicke sind jetzt einzelne Beispiele zu finden. Nicht weit entfernt, in Norddinker (ländlicher Ortsteil von Hamm), wo sich der Künstler mitsamt seiner Otmar Alt Stiftung auf einem früheren Bauernhof niedergelassen hat, stehen etliche weitere Skulpturen.

Otmar Alt: "Zeichensetzer" (2012), Acryl auf Leinwand. (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

Otmar Alt: „Zeichensetzer“ (2012), Acryl auf Leinwand. (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

Die Farbigkeit seiner Arbeiten könnte zu dem Fehlschluss verleiten, der Künstler sei ein ungebrochener Optimist. Nichts da! Ganz offen bekennt er, öfter auch mal ausgesprochen schlechte Laune zu haben. Und ja: Man kann ihn sich notfalls auch bärbeißig vorstellen. Im Sternzeichen Krebs geboren, habe er auch etwas von einem „Einsiedlerkrebs“, sagt er selbst. Er male nicht etwa in einem großen Atelier, sondern in einer eher beengten Garage. Sei eine Arbeit vollendet, folge ein dreiteiliges Ritual: „Signatur. Pfeife. Ein Glas Rosé.“

Schwere Schicksalsschläge

Otmar Alt hat schwere familiäre Schicksalsschläge erlitten – den Tod eines kleinen Sohnes, den Tod seiner ersten Frau. Gerade deshalb und wegen der widrigen, um nicht zu sagen widerlichen Zeitläufte will er mit seiner Kunst ganz bewusst Gegenzeichen setzen und – als großes „Dennoch“ – sich gleichsam zu einer optimistischen Haltung durchkämpfen. Das könnte denn doch etwas heimlich Heroisches haben. Umso bemerkenswerter, dass viele dieser Bilder ziemlich zuverlässig ein Lächeln auf die Gesichter der Betrachter zaubern. Muss man eigens betonen, dass diese Kunst auch und gerade Kinder anspricht?

Dass bei Otmar Alt nicht alles bruch- und problemlos vonstatten geht, zeigen etwa Arbeiten wie „Gleichgewicht“, in der insgeheim auch das mögliche Unglück eines Zusammenstürzens enthalten ist, oder schon Titel wie „Schöne Gedanken auf Abwegen“ und „Zwiespalt“ – mit einem deutlichen Riss, der sich mitten durchs Bild zieht.

Otmar Alt: Trinkgefäße für die Firma Rosenthal (um 1985), Glas. (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

Otmar Alt: Trinkgefäße für die Firma Rosenthal (um 1985), Glas. (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

Man kann natürlich nicht alle Arbeiten in der Ausstellung gleichermaßen würdigen. Sicherlich hat man mehr von alledem, wenn man sich beim Rundgang bestimmte Bilder heraussucht und diese umso ausgiebiger betrachtet, indem man ihre inneren Spuren und Spannungsbögen verfolgt und dazu seine Assoziationen spielen lässt. Oder indem man sich einfach unversehens in Bezirke dieser Zauberwelt entführen lässt.

Wer mag, kann sich dabei auch speziellen Themen zuwenden: So ist ein Raum den Katzenbildern des Künstlers vorbehalten, in einem anderen überwiegen clowneske Darstellungen, in einem dritten die Auseinandersetzungen mit anderen Künstlern – von Lucas Cranach bis Andy Warhol.

Gewisse Verbindungslinien – nicht nur zu Miró

Hommage an Lucas Cranach: Otmar Alts Bild "Der Meister Lucas bei der Arbeit" (2014), Acryl auf Leinwand. (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

Hommage an Lucas Cranach: Otmar Alts Bild „Der Meister Lucas bei der Arbeit“ (2014), Acryl auf Leinwand. (Otmar Alt / Otmar Alt Stiftung)

Apropos andere Künstler. Obgleich Otmar Alts Schaffen schwerlich verwechselbar ist, lassen sich wohl Verbindungslinien ziehen. So liegt etwa der Gedanke an Joan Miró nicht fern. Mich erinnert manche Figuration bei Otmar Alt aus gewisser Halbdistanz ans Werk der Niki de Saint Phalle, das vor nicht allzu langer Zeit im Dortmunder Museum Ostwall ausschnitthaft präsentiert wurde und das – dem Anschein zum trotz – ebenfalls von inneren Kämpfen kündet. Auch wenn Otmar Alt es zu Recht ablehnt, in die Schublade mit der Aufschrift „Pop-Künstler“ einsortiert zu werden, so lässt sich seine Art der Farbigkeit doch aus jenen Zusammenhängen herleiten. Beispielsweise könnte man an die genialischen Beatles-Illustrationen eines Heinz Edelmann denken.

Ein weites Feld. Wir wollen es hier nicht gründlicher beackern. Schließen wir lieber mit einer einprägsamen Weisheit des Künstlers: „Die Kunst ist ein Versuch. Das Leben auch.“

Otmar Alt: Fabelhafte Zauberwelten. 22. April (Eröffnung um 11.30 Uhr) bis 2. September 2018. Geöffnet Di-So 10.30-17.30 Uhr. Haus Opherdicke, Dorfstraße 29 in 59439 Holzwickede. Tel. 02301 / 918 39 72. Eintritt 4 Euro, ermäßigt 3 €, Familienkarte 8 €. Katalog 20 €. Weitere Infos hier.




„Freundin der Kinder“ – die Hammer Autorin Ilse Bintig

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an die Kinder- und Jugendbuchautorin Ilse Bintig aus Hamm:

„Wenn ich erst mal pensioniert bin, schreibe ich ein Buch.“ Das ist ein Satz, den man als Autor gelegentlich von ambitionierten Menschen hören kann, und es ist besser, nicht darauf zu antworten. Warum sollte man jemandem seine Hoffnungen nehmen? Denn nach allen Erfahrungen gilt, dass man im Alter nicht etwas neu beginnen kann, was man vorher nicht geübt hat.

Und doch gibt es Ausnahmen. Die Hammer Kinder- und Jugendbuchautorin Ilse Bintig ist wohl die erfolgreichste, die dem Erfahrungssatz widerspricht. Ilse Bintig hat im Grunde zwei Leben gelebt. Zuerst das Leben als Ehefrau, Mutter und Lehrerin. Erst spät hat sie ihren Sohn Holger bekommen und ihre ganze Aufmerksamkeit galt fortan dem Wunschkind. Daneben war sie an einer Grund- und später einer Hauptschule eine engagierte Lehrerin, die ihre Arbeit mit großem Ernst und großer Freude erledigte, so dass für eine Nebentätigkeit keine Zeit blieb.

Den heimlichen Wunsch zu schreiben, hat sie in dieser Zeit nicht ausgelebt, aber er war da, schon seit Jugendzeit. Ilse Bintig wollte nämlich eigentlich gar nicht Lehrerin werden, Journalismus, das war ihr Traumberuf. Aber nach dem Abitur 1943 gab es keine Möglichkeit, dies zu studieren. Erst zwei Jahre nach Kriegsende bekam sie einen Studienplatz für Pädagogik. Und wenn es auch nicht ihr Traumberuf war, Lehrerin zu werden, Ilse Bintig ist es trotzdem gerne gewesen. Ihre Schüler, die sich bis zu ihrem Tod bei ihr meldeten, haben es ihr gedankt.

Zweites Leben nach der Pensionierung

Aber Ilse Bintig war zäh. Zäh im Verfolgen ihrer Ziele, gerade auch des heimlichen Ziels. In der Schule übernahm sie die Bücherei, und sie hat nicht einfach nur Bücher bestellt, von denen sie hörte, dass sie gut seien. Ilse Bintig hat sie fast alle gelesen. Sie wusste also, als sie 1984, mit sechzig Jahren, pensioniert wurde, welche Themen Kinder und Jugendliche interessieren, wie man eine Geschichte spannend aufbaut und vor allem wie man sie so erzählt, dass sich junge Menschen angesprochen fühlen.

Frei gelassen von den Pflichten ihres ersten Lebens, legte Ilse Bintig dann in einem Schreibtempo los, das lange seinesgleichen sucht. Kinderbuch auf Kinderbuch erschien. Und gleichzeitig brachte sie sich in die Literaturszene ein, wurde Mitglied im Schriftstellerverband, unterstützte Initiativen zur Literaturförderung und war maßgeblich an der Gründung des Westfälischen Literaturbüros in Unna beteiligt.

Beste Zeit beim Bitter-Verlag in Recklinghausen

Zuerst veröffentlichte sie im Kölner Pick-Verlag, dann wechselte sie zum damals sehr erfolgreichen Bitter-Verlag nach Recklinghausen und ihre beste Zeit begann. Man tut wohl niemandem Unrecht, wenn man sagt, dass Ilse Bintig neben Josef Reding viele Jahre lang erfolgreichste Autorin des Bitter-Verlags gewesen ist. Bücher wie „Paß bloß auf, du … Geschichten vom Zanken, Streiten und Vertragen“ sowie „Dominik und Löwenmähne. Geschichten von Liebe, Wut und anderen Gefühlen“ entstanden. Aber sie griff auch in ihre eigene Kindheit zurück und schrieb „Die Leierkastenfrau. Uroma erzählt von früher.“

Ilse Bintig folgte in ihrer Konzeption nicht der modischen Meinung mancher Kinderbuchautoren, dass Kinderliteratur völlig frei sei, dass sie keinem Auftrag folge und damit letztlich anzusehen sei wie all die übrige Literatur. Als Lehrerin, die sie über 30 Jahre lang gewesen ist, wusste sie es besser. Kinder brauchen liebevolle Zuwendung, sie brauchen Hilfestellung, um ihren Weg ins Leben zu finden und manchmal brauchen sie einfach nur einen guten Anlass, um laut loslachen zu können. Deshalb hatte sie nichts dagegen, dass eines ihrer Bücher den Untertitel „Mutmachgeschichten“ erhielt, der die Absicht verriet, die mit dem Buch verfolgt wurde.

Bloß keine Zeit mit Zank verschwenden

Ilse Bintig wusste, dass nicht der Untertitel wichtig war, sondern dass es auf etwas ganz anderes ankam. Pralle Charaktere mussten ihre Geschichten enthalten, spannende und lustige Abenteuer mussten ihre kleinen Helden erleben und dabei – ohne pädagogisch zu werden – etwas über das Leben erfahren, über seine düsteren, vor allem aber über seine angenehmen Seiten. Das Leben ist schön, das ist es, was ihre Geschichten verraten. Weshalb sollten die Kinder sich deshalb die Zeit mit Zanken vergällen, sie machten sich das Leben nur unnötig schwer. Besser sollten sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen und vor allem sollten sie optimistisch in die Welt der Erwachsenen eintreten.

Ab 1984 erschien von Ilse Bintig mindestens ein Buch pro Jahr, oft waren es zwei oder sogar drei. Es war so, als hätte sie ihr Leben lang Ideen gesammelt und nur auf die Zeit gewartet, in der sie alle niederschreiben konnte. In dieser Zeit hat Ilse Bintig viele Lesungen gehalten, war unter Grundschullehrern eine Autorengröße, die man gerne einlud. Ilse Bintig hat diese Lesungen, die sie trotz ihres doch schon hohen Alters mit Bravour meisterte, dazu benutzt, um die Stimmung der Kinder aufzunehmen. Um dabei zu lernen, was die Kinder interessierte und was sie folglich in ihrem nächsten Kinderbuch thematisieren sollte.

Der Flieger Hanno war ihre Jugendliebe

Aber es waren nicht nur Kinderbücher, die sie schrieb. Zwei Jugendbücher, die auch Erwachsene gut lesen können, ragen unter ihren gut 40 eigenständigen Werken heraus. In „Lieber Hanno“, einem Briefroman, thematisiert Ilse Bintig ihre eigene, erste große Liebe. Im Grunde besteht der Roman aus den Briefen, die sie bis Juli 1944 an ihre Jugendliebe schrieb, an Hanno, den Flieger, der  abgeschossen wurde und  nie zu ihr zurückkam.

Ein Freund von Hanno hat ihr die eigenen Briefe nach dem Tod des Fliegers zurück geschickt, als Autorin hat Ilse Bintig sie in die richtige Reihenfolge gebracht und mit den Briefen ihres Freundes kombiniert. Ein tief beeindruckendes Buch ist auf diese Weise entstanden, das von den Hoffnungen erzählt, die zwei junge Menschen an das Leben hatten und die brutal zerstört wurden. Es ist ein Buch, das zum Frieden mahnt, indem es die schreckliche Seite des Krieges unverblümt darstellt. Da wurden Hoffnungen zerstört, wurde ein Leben abgebrochen und mit ihm eine Liebe. Was hätte werden können, was alles wäre möglich gewesen? In der Folge dieses Buches hat Ilse Bintig sich mehrfach mit Antoine de Saint-Exupery beschäftigt, der ja auch ein begeisterter Flieger war und der ebenfalls im Krieg sein Leben lassen musste. Zum „Kleinen Prinzen“ hat sie eine Ergänzungsgeschichte geschrieben.

„Trümmer und Träume“: Frage nach Mitschuld der Mutter

Ihr zweites wichtiges Jugendbuch „Trümmer und Träume“ ist ebenfalls stark autobiographisch geprägt. Ilse Bintigs Mutter war im Krieg bei der NS-Frauenschaft tätig. Eher unbedacht und aus Pflichtgefühl ist sie da hineingeraten, wurde nach dem Krieg als „Mittäterin“ eingestuft und inhaftiert. Aus der Sicht der Tochter, also aus Ilse Bintigs eigener Sicht, wird nun der Verlust der Mutter und der Versuch, sie aus dem Lager frei zu bekommen, dargestellt. Die Sicht der Tochter auf die Mutter ist natürlich die des liebenden Kindes, das unter dem Verlust leidet. Sie umkreist die Frage nach der Schuld. Wie viel ist der Mutter anzulasten, wie ist sie da hineingeraten? Die Geschichte ist authentisch, sie ist spannend und sie zeigt, wie die Kleinen die Suppe auszulöffeln hatten, während die Großen, die sie eingebrockt hatten, oft genug ungeschoren davon kamen.

Gelegentlich wurde Ilse Bintig bei Lesungen der Vorwurf gemacht, den Faschismus zu verharmlosen, aber das war ein ganz und gar unberechtigter Vorwurf. Es ging ihr schon um die Rehabilitierung ihrer Mutter, das merkt man beim Lesen des Buches, aber eine Verharmlosung, gar Verklärung des Faschismus, ist das Buch auf keinen Fall. Im Gegenteil, es zeigt, wie die Tochter all die falschen Vorstellungen, die ihr im Umfeld, in der Schule eingehämmert wurden, nach und nach mit Einrücken der Alliierten und dem Ende des Krieges verliert und wie sie Klarheit gewinnt für eine Zukunft in Demokratie.

Ein Stück Sozialgeschichte des Ruhrgebiets

Völlig zurecht wurde „Trümmer und Träume“ Buch des Monats bei der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Eine Auszeichnung, über die Ilse Bintig sich sehr gefreut hat. Auszeichnungen bekam sie noch 1989 bei einem Schreibwettbewerb des WDR, bei dem sie den ersten Preis belegte, dazu erhielt sie 1990 den „Alfred-Müller-Felsenburg-Preis“.

Etwas unbeachtet blieb ihr Buch für Erwachsene. „Zwischen Fördertürmen und Fabrikschornsteinen“ heißt es und schildert ihre Jugend in Hamm. In sehr lebendig erzählten Erinnerungen wird hier ein Stück Sozialgeschichte des Ruhrgebiets sichtbar. Vielleicht war es die Begrenzung auf Hamm, die ein größeres Interesse ausbleiben ließ, was aber, wenn es so wäre, falsch ist. Gerade am Konkreten, am Lokalen, schimmert viel Allgemeingültiges durch.

Viele Kinderklassiker nacherzählt

In ihren letzten Jahren erzählte Ilse Bintig für den Arena-Verlag Kinderklassiker nach. „Nussknacker und Mausekönig“ von E.T.A. Hoffmann, „Peter Pan“, „Nils Holgerson“, „Die Schatzinsel“, „Till Eulenspiegel“ und viele andere Klassiker hat sie nacherzählt. Der Verlag wusste, warum er sie, inzwischen schon weit über achtzig Jahre alt, immer wieder ansprach, wenn ein weiterer Klassiker  neu erzählt werden sollte. Ilse Bintig fiel es leicht, sich in Themen und Schreibweisen einzufühlen. Die von ihr erzählten Klassiker erreichten hohe Auflagen und wurden in viele Sprachen übersetzt.

Meine „Büchskes“ nannte Ilse Bintig diese schön aufgemachten Bücher. Wenn ihr nach und nach die Kraft für eigene Bücher verloren ging, so hat das Nacherzählen der Klassiker sie jung gehalten und nach Krankheiten, die sich häuften, immer wieder neue Kraft fürs Leben gegeben. Diese Kraft gaben ihr auch ihr beiden Enkel, Anna und Hauke, die sie spät zur Oma werden ließen. Zu einer Oma, die diese Aufgabe wieder mit der ihr eigenen großen Freude und Liebe anging.

90 Jahre alt ist Ilse Bintig geworden. Ihren 90. Geburtstag, von der Stadt Hamm stark beachtet, hat sie noch begehen können. Nur 5 Tage später, am 12. April 2014, ist sie friedlich eingeschlafen. „Als Mutter, Großmutter, Lehrerin und Autorin war sie eine Freundin der Kinder“ stand in der Todesanzeige. Besser konnte man es nicht ausdrücken.

 

 

 




Mumien-Ausstellung in Hamm wirft Fragen auf: Ein besonderes Exponat stammt aus dem 3D-Drucker

Fangen wir nachrichtlich nüchtern an: Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zeigt ab 3. Dezember eine Ausstellung über Mumien. Titel: „Der Traum vom ewigen Leben“. Doch damit hat es nicht sein Bewenden.

In Hamm ausgestellt und n i c h t aus dem 3-D-Drucker: Mutter und männliches Baby als Gruftmumien aus der Dominikanerkirche in Vác (Ungarn). (© Naturhistorisches Museum Budapest)

In Hamm ausgestellt und n i c h t aus dem 3D-Drucker stammend: Mutter und männliches Baby als Gruftmumien aus der Dominikanerkirche in Vác (Ungarn). Tragischer Hintergrund: Die Mutter war bei der Geburt gestorben. Das Kind starb wenige Stunden, nachdem es durch Kaiserschnitt aus dem Leib geholt wurde. (© Naturhistorisches Museum Budapest)

Erweiterter Begriff

Die Fachwelt verwendet den Begriff  „Mumie“ heute mit deutlich erweiterter Bedeutung. Da geht es keineswegs nur ums Alte Ägypten und einbalsamierte Pharaonen. Vielmehr wird jeder Körper, dessen Verfallsprozess (teilweise) aufgehalten wurde, als „Mumie“ bezeichnet. Dabei ist es zunächst einmal gleichgültig, ob die Konservierung durch günstige natürliche Umstände oder durch absichtliche Behandlung des Leichnams im Rahmen von Kulten und Ritualen eingetreten ist.

Mit rund 100 Exponaten erkundet die Hammer Ausstellung, die in Kooperation mit dem Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum entstanden ist, das ausgedehnte Feld der Mumifizierung. Die Beispiele kommen aus Ägypten, Asien, Ozeanien, Südamerika und Europa. Wer bietet mehr?

Präkolumbianische Mumiengruppe einer Frau mit zwei Kindern, 12. bis 14. Jh. nach Chr., andine Küstenregion in Südamerika (© Reiss-Engelhorn-Museum, Mannheim, Jean Christen)

Präkolumbianische Mumiengruppe: Frau mit zwei Kindern, 12. bis 14. Jh. nach Chr., andine Küstenregion in Südamerika. (© Reiss-Engelhorn-Museum, Mannheim, Jean Christen)

So weit, so interessant und (vielleicht) hie und da für empfindsame Gemüter auch ein wenig gruselig.

Enthusiastischer Mumienverein

Doch es kommt noch ein besonderer Umstand hinzu, an den sich einige Fragen knüpfen: Hamm präsentiert nämlich einen rekonstruierten Mumienkopf aus einem hypermodernen 3D-Drucker. Ja, ihr habt richtig gelesen.

Zur lokalen Vorgeschichte: 1881 waren nahe der ägyptischen Stadt Luxor 50 Mumien entdeckt worden. Der Fund spach sich in aller Welt herum, so auch bis ins westfälische Hamm. Dermaßen begeistert waren dort einige Bürger, dass sie (wir sind in Deutschland) einen Mumienverein gründeten, der Aktien ausgab. Wer Anteilsscheine kaufte, trug seinen Teil zum Erwerb einer echten Mumie bei.

Und tatsächlich: Am 14. Dezember 1886 traf mit Pauken und Trompeten die „Hammer Mumie“ ein, sie konnte freilich in Ermangelung eines Museums nur in einer Gaststätte ausgestellt werden. 1944 wurde sie im Krieg zerstört. Nur noch eine Schwarzweiß-Fotografie dokumentierte ihr einstiges Vorhandensein. Und auch darauf erkennt man nur den Kopfbereich.

Museum spricht von einer „Auferstehung“

Just diese Fotografie diente als Mustervorlage für den 3D-Druck. Das Gustav-Lübcke-Museum spricht in diesem Zusammenhang von einer „Auferstehung“. Sehen wir mal vom logischen Wackler ab, dass ein Leichnam, der sozusagen Leichnam bleibt, schwerlich auferstanden sein kann, so müsste man womöglich einmal oder mehrmals grundsätzlich (wir sind in Deutschand) über das Verfahren an sich nachdenken.

Es stellt sich ja längst nicht nur die Frage der Erfassung, Beschriftung und Katalogisierung eines solchen Exponats. Da muss natürlich glasklar dargelegt werden, dass es sich nicht um ein Original handelt, so täuschend echt es auch aussehen mag. Selbstverständlich wird solchen Ansprüchen in Hamm Genüge getan.

Ob kriminelle Fälscher schon bald etwas aushecken?

Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die avancierte Technik des 3D-Drucks künftig immer im seriösen Sinne angewendet werden wird. Vorstellbar wäre, dass – auch angesichts der wahnwitzigen Preise auf dem Kunstmarkt – Fälscher schon bald kriminelle Erwägungen anstellen und raffinierte Duplikate aushecken.

Ich bin technischer Laie und frage mich ganz naiv, ob es eventuell Scan-Verfahren gibt oder demnächst geben wird, mit denen man Meisterwerke (etwa Skulpturen) ringsum „einlesen“ und später dreidimensional „ausdrucken“ kann. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die passenden Materialien zur Verfügung stehen und die Oberflächenbehandlung sich weiter verfeinert. Oder sollte ich mich irren? Na, hoffentlich.

Was geschieht eigentlich mit solchen Replikaten, nachdem sie ausgestellt worden sind? Kommen sie ins Depot und werden ordnungsgemäß verbucht, mit lückenloser Entstehungsgeschichte, Provenienz und allem Komfort? Oder werden sie gar beseitigt, damit sie nicht in dubiose Kreisläufe geraten?

Kunst und Kopie von Benjamin bis Warhol

Und bei all dem haben wir noch gar nicht erörtert, dass auf diesem Gebiet ja auch zahlreiche Kopien konventioneller Art existieren, also solche, die nicht aus 3D-Druckern kommen, sondern handwerklich angefertigt wurden. Aber die stellen in der Regel kein Problem dar.

Gut vorstellbar jedenfalls, dass sich hier auf Dauer neue Horizonte nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Juristen auftun.

Ach, und wie hieß nochmal jener Essay des großen Walter Benjamin? Genau. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Im Prinzip hat er das schon einiges voraus gedacht. Vom bedenkenfreien Kopiergeist eines Andy Warhol mal gar nicht zu reden… Oder vom allgegenwärtigen Copy & Paste im Internet. Oder vom allgegenwärtigen Copy & Paste im Internet. Oder vom allgegenwärtigen Copy & Paste im Internet. Oder vom allgegenwärtigen Copy & Paste im Internet. Oder vom allgegenwärtigen Copy & Paste im Internet. Oder vom…

„Mumien. Der Traum vom ewigen Leben“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Vom 3. Dezember 2017 bis zum 17. Juni 2018. Di bis Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr, Mo geschlossen.

Tel.: 02381/17 57 14. Infos: www.hamm.de/gustav-luebcke-museum




Aus der Hammer Wunderkammer – Museum zeigt Querschnitt durch die Sammlung seines Namensgebers Gustav Lübcke

Sie haben am Ende gar nicht mehr genau nachgezählt. Ungefähr 500 Exponate sind jetzt in einem großen Saal des Hammer Gustav-Lübcke-Museums zu sehen. Doch gemach, man schafft das Pensum in ein bis zwei Stunden: Denn zur imposanten Anzahl der Exponate tragen auch etliche Vitrinenobjekte wie Münzen, Kunsthandwerk (Gläser, Keramik) oder kleinteilige archäologische Fundstücke bei. Der Namensgeber des Hauses, Gustav Lübcke (1868-1925), hat nach dem Wunderkammer-Prinzip gar vieles erworben, was dem gehobenen Bürgertum seiner Zeit zusagte. Ein wahres Sammelsurium.

Auch Heiligenfiguren hat Gustav Lübcke gleichsam en gros gesammelt. (Foto: Bernd Berke)

Auch Heiligenfiguren hat Gustav Lübcke gleichsam en gros gesammelt. (Foto: Bernd Berke)

„Hereinspaziert!“ lautet der etwas unbedarft und geradezu circensisch klingende Titel der Ausstellung, die einen historischen Anlass hat: Fast genau 100 Jahre ist es nun her, dass die Stadt Hamm Gustav Lübcke diese denkbar breit gefächerte Kollektion als gesamtes Konvolut abgekauft hat. Im April 1917 wurde der Vertrag aufgesetzt.

Im Gegenzug erhielt der in Düsseldorf ansässige Antiquitätenhändler, der hinfort in seine Geburtsstadt Hamm zurückkehrte, eine lebenslange Jahresrente von 6000 Mark – damals eine passable bis ordentliche Summe. Nach Lübckes Tod erhielt seine 20 Jahre ältere Frau Therese geb. Nüsser (1848-1930) die Rente weiter. Beide hatten sich für Hamm entschieden, weil sie die Sammlung in den Wirren des Ersten Weltkriegs in Düsseldorf stärker bedroht sahen.

Gestrenge Dienstanweisungen 

Praktischerweise ließ sich Lübcke, eigentlich gelernter Buchbinder, 1917 gleich auch zum ersten Direktor der nach Hamm umgezogenen Sammlung ernennen und verfügte, dass ein künftiges Museum seinen Namen tragen solle. Eingangs der jetzigen Rückschau findet sich eine seiner strengen Dienstanweisungen, die zur Wachsamkeit vor Kunstdieben auffordert (auf Menschen mit weiten Mänteln achten!) und die tägliche gründliche Reinigung seines Arbeitsbereichs anordnet. Der Tonfall ist recht barsch und unduldsam. Ob Lübcke ein angenehmer Chef gewesen ist?

Unsigniert und namentlich nicht zuzordnen: filigraner Scherenschnitt "Leichenzug der Tiere". (© Gustav-Lübcke-Museum / Foto: Bernd Berke)

Unsigniert und namentlich nicht zuzuordnen: filigraner Scherenschnitt „Leichenzug der Tiere“. (© Gustav-Lübcke-Museum / Foto: Bernd Berke)

Und was hat der Mann gesammelt? Nun, wie schon angedeutet: alles Mögliche. Neben den stichwortartig erwähnten Beständen zählen beispielsweise auch wertvolle alte Möbel (Truhen, Schränke etc.), Heiligenfiguren und weitere sakrale Kunst, Scherenschnitte, Malerei (Düsseldorfer Schule, niederländische Genrebilder aus der „zweiten Reihe“ des 17. Jahrhunderts), Schnupftabaksdosen, ägyptologische Objekte, koptische (also christliche) Kunst aus Altägypten und kostbare Bücher zum Gesamtumfang, der in die zigtausend Stücke gehen dürfte.

Immer noch keine Inventarlisten

Und so hat sich in all den vielen Jahrzehnten bisher niemand gefunden, der es geschafft hätte, auch nur halbwegs komplette Inventarlisten zu erstellen. Die jetzige Ausstellung, kuratiert von Diana Lenz-Weber, die immerhin ein paar Schneisen durchs Dickicht geschlagen hat, könnte ein Anstoß zur Katalogisierung sein. Erstmals überhaupt befasst man sich so eingehend mit den Hinterlassenschaften Lübckes. Doch um eine präzise Erfassung der Bestände zu bewerkstelligen, bräuchte man mehr Personal, das möglichst eigens dafür eingesetzt wird. Hoffen darf man ja, es kostet nichts.

Tiroler Truhe aus dem 15. Jahrhundert, darüber zwei Gemälde von Adriaen van de Venne (17. Jhdt.). (Foto: Bernd Berke)

Eine mächtige Truhe, darüber zwei Gemälde von Adriaen van de Venne (17. Jhdt.). (Foto: Bernd Berke)

Man wird in dieser Retrospektive keine Sensationen finden, aber doch einen soliden, bewahrenswerten Grundstock, der freilich zu weiten Teilen etwas „altfränkisch“ anmutet. Schon zu seiner Zeit gehörte Gustav Lübcke nicht zu den Leuten mit avantgardistischen Neigungen. Spätimpressionistische Ausläufer sind schon das höchste der Gefühle, Symbolismus und Jugendstil sucht man bereits vergebens. Lübcke hatte mit einem Mann wie Karl Ernst Osthaus, der damals von Hagen aus die neuesten Strömungen aufspürte, praktisch keine Gemeinsamkeiten – außer der westfälischen Herkunft und der schieren Sammelleidenschaft.

Konservativer Geschmack

Gustav Lübcke hat also ausgesprochen konservativ gesammelt. Ein besonders gewichtiges Stück ist z. B. jener mit Geheimfächern ausgestattete, machtvolle Tiroler Büffetschrank im gotischen Stil aus dem 15. Jahrhundert, den Lübcke damals auf einen Wert von 5000 Mark taxiert hat – annähernd seine eigene jährliche Leibrente also.

Auch die liebevoll restaurierten Stoffstücke koptischer Kunst oder allerfeinstens ausgeführte Scherenschnitte („Leichenzug der Tiere“) sind mehr als einen Blick wert. Von kulturgeschichtlichem Interesse sind zudem Gemälde wie die lebensprall-derben Genrebilder eines Adriaen van de Venne („Bauerntanz“), die „Winterlandschaft“ des Anthonie (van) Beerstraaten oder Einzelbeispiele der Düsseldorfer Malerschule. Ansonsten gilt die Devise: Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.

Schätze blieben lange „heimatlos“

Im Vorfeld dieser Ausstellung hat das Museum einige Restaurierungs-Aufträge vergeben können. Doch zugleich zeigte sich, dass manche Stücke höchstwahrscheinlich gar nicht mehr zu retten sind. Einige beklagenswert ramponierte Exponate sind nun – bewusst in einer zerbrochenen Glasvitrine präsentiert – beisammen. Ein Bild des Jammers. Und nebenher eine eindringliche Mahnung zum sorgsamen Umgang mit Kunst und Kunsthandwerk.

Freilich war die Sammlung lange Zeit „heimatlos“ und irrte gleichsam durch diverse, unter konservatorischen Gesichtspunkten ungeeignete Gebäude. Erst 1993 (!) wurde, mit Fertigstellung des jetzigen Museumsbaus, Gustav Lübckes Forderung nach einem eigenen Ort für seine Schätze wahr. Gut Ding will manchmal sehr viel Weile haben.

„Hereinspaziert! 100 Jahre Sammlung Gustav Lübcke“. 16. Juli (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 15. Oktober 2017. Geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro (ermäßigt 2,50 Euro). Kinder bis 15 Jahre freier Eintritt. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel.: 02381 / 17-57 14. www.museum-hamm.de




Was im Revier sonst noch so geschieht… – Es war wieder mal einer dieser Donnerstage mit lauter neuen Ausstellungen

Wir erinnern uns: Das seit jeher von Kirchturmpolitik geplagte Ruhrgebiet hatte sich für 2010 zusammengerauft, um einmal gemeinsam als „Kulturhauptstadt Europas“ zu firmieren. Um das Thema einige Nummern kleiner aufzugreifen: Schon oft hätte man sich gewünscht, dass es eine Koordinationsstelle gäbe, die beispielsweise regionale Pressetermine miteinander abgleicht – und sei’s für den Anfang auch nur (ganz bescheiden) auf musealem Gebiet.

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte "Hiddensee", 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte „Hiddensee“, 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

Doch nein! Immer und immer wieder kommt es vor, dass zum allseits beliebtesten Vorbesichtigungs-Tag, dem Donnerstag, vier, fünf, sechs oder noch mehr Termine in mehr oder weniger unmittelbarer Nachbarschaft gleichzeitig anberaumt werden. So beispielsweise auch gestern, am 2. Februar.

Man sollte ab 11 bzw. 11.30 Uhr beileibe nicht nur die neue Ausstellung über Emil Schumacher in Hagen („Orte der Geborgenheit“) geneigt zur Kenntnis nehmen, sondern etwa auch eine Auswahl von Reisebildern des Landschaftsmalers Siegward Sprotte im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, die gleichfalls mit „Orten“ im Titel daherkommt („Reise doch – bleibe doch!“ – Orte der Inspiration). Hier hätte man sich also schon bei der Formulierung absprechen können. Zu spät…

Zwei weitere Termine liefen überdies praktisch parallel in derselben Stadt, nämlich in Dortmund: Das Künstlerhaus im Sunderweg präsentierte der Presse seine neue Schau „Ohne Netz und doppelten Boden – Über die Uneindeutigkeit von Bildern“, die DASA Arbeitswelt Ausstellung lud unterdessen zur „Alarmstufe Rot“ über Katastrophen und deren Bewältigung. Keine Kunst, aber ebenfalls ein museales Angebot.

Damit längst nicht genug: Zur gleichen Zeit bat „nebenan“, in der Landeshauptstadt Düsseldorf, die Kunstsammlung NRW/K 21 zur umfangreichen Retrospektive über den belgischen Künstler Marcel Broodthaers. Gewiss, Düsseldorf zählt nicht zum Ruhrgebiet, doch sollte man vor allem im Raum Duisburg und Essen ein Auge darauf haben, wann dort was geschieht. Sonst fahren die meisten Kulturschreiber dorthin und nicht in die Ruhr-„Provinz“.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner "Zick Zack" (2016), Acry auf Holz.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner „Zick Zack“ (2016), Acryl auf Holz.

Und damit habe ich noch nicht einmal alle Gelegenheiten aufgezählt, die sich gestern ergeben haben.

Klar, wenn ich jetzt für Ruhrgebietswerbung zuständig wäre, würde ich entgegnen, dass wir hier eben sooooo viele Kulturstätten haben, dass gelegentlich ein zeitliches Zusammentreffen kaum zu vermeiden ist. Das Argument lassen wir jetzt mal auf uns wirken.

Immerhin gibt es ja inzwischen den beachtlichen Kooperations-Verbund der Ruhrkunstmuseen, mit dem 20 Häuser in 15 Städten ihre Kräfte bündeln wollen. Hier erfolgen Absprachen mittlerweile auf kürzeren Dienstwegen als ehedem. Es möge weiterhin nützen. Und die Idee möge niemals auf bloße Einsparmöglichkeiten reduziert werden.

Es war zu hören, dass gestern auch bei personell halbwegs potenten Medien ob der Termin-Überschneidungen gestöhnt wurde. Nun aber wollen wir, die wir als Kulturblog erst recht kein halbes Dutzend kunstsinniger Journalistinnen und Journalisten gleichzeitig aufbieten können, wenigstens noch zu den Internet-Auftritten der oben genannten Häuser verlinken. Here we go:

Emil Schumacher Museum, Hagen: www.esmh.de
Gustav-Lübcke-Museum, Hamm: www.museum-hamm.de
Künstlerhaus Sunderweg, Dortmund: www.kh-do.de
DASA, Dortmund: www.dasa-dortmund.de
K21 in Düsseldorf: www.kunstsammlung.de




„Die Natur ist unsere Lehrerin“: Hamm zeigt Gemälde aus Künstlerkolonien um 1900

Lichtflirrende Birkenalleen, liebliche Gewässer, weite Felder, zauberhafte Seeblicke, düstere Moore. Diese Ausstellung führt uns hauptsächlich auf Schauplätze in der freien Natur. Im Hammer Gustav-Lübcke-Museum geht es jetzt um „Lieblingsorte – Künstlerkolonien“ von Worpswede bis Hiddensee. Man darf sich auf etliche schöne Ansichten gefasst machen.

Museumsleiterin Friederike Daugelat, die sich mit dieser Schau von Hamm verabschiedet, hat sich, der besseren Vergleichbarkeit wegen, auf den deutschen Norden konzentriert. Motive und Stimmungen, Licht und Schatten sind dort eben anders beschaffen als in südlicheren Gefilden.

Fritz Overbeck: "Birken vor Kornfeld" (um 1892) (Gustav-Lübcke-Museum)

Fritz Overbeck: „Birken vor Kornfeld“ (um 1892) (Gustav-Lübcke-Museum)

Bilder aus insgesamt sieben Künstlerkolonien sind zu sehen. Worpswede ist die bei weitem bekannteste, auf der imaginären Reiseroute folgen: Schwaan (Mecklenburg), Hiddensee, Heikendorf (bei Kiel), Ahrenshoop (Fischland-Darß), Ferch (bei Potsdam) und das am weitesten östlich gelegene Nidden (seinerzeit Ostpreußen, heute Litauen). Nicht von all diesen Orten hat man schon gehört.

Jede Kolonie hat ihre Eigenheiten, manche entstanden z. B. rund um Gasthöfe, in anderen Orten ließen sich die Maler dauerhaft nieder. Doch der Impuls ist derselbe: Um 1900 und vornehmlich bis zum Ersten Weltkrieg suchten viele Künstler, die der Verstädterung, der Industrialisierung und der gesellschaftlichen Zwänge überdrüssig waren, solche Refugien in der (damals schon bedrohten) Natur. In ganz Deutschland hat es rund 30 Künstlerkolonien gegeben. Heutige Trendfolger hätten sich wohl schier überschlagen vor lauter Zeitgeist-Anhimmelung.

Manche Idylle beruhte freilich bereits eher auf künstlerischem Wollen und nicht so sehr auf wirklicher Unberührtheit. Sehnsüchte nach „paradiesischen“ Zeiten waren im Spiel – und auch schon Mahnungen, den Raubbau an der Natur betreffend. Stilistische Feinheiten zwischen Jugendstil, Impressionismus und expressionistischen Ansätzen treten demgegenüber fast in den Hintergrund.

Die Parole hieß also: Hinaus aus den Ateliers und Akademien! Otto Modersohn formulierte es für Worpswede so pointiert: „Fort mit den Akademien, nieder mit den Professoren (…), die Natur ist unsere Lehrerin…“

Begonnen hatte die europaweite Bewegung zur Freilichtmalerei um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Barbizon (Frankreich), eine profane Voraussetzung war die Erfindung der Farbtube gewesen, die den Künstlern entschieden mehr Bewegungsfreiheit gab. Nun wurde die Landschaftsmalerei als Genre enorm aufgewertet, vordem hatte sie eher als Staffage gedient. Natur war zumeist nicht unmittelbar studiert und angeschaut worden. Fast schon groteskes Beispiel: Wer Schnee malen wollte, nahm oft genug weiße Watte als Vorlage.

Um anhand der Auswahl ein pauschales Urteil zu wagen: Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass den Künstlern, die sich in Worpswede zusammengefunden haben, insgesamt der größte und dauerhafteste Ruhm beschieden war. Tatsächlich beeindrucken hier Themenfindung und malerische Umsetzung ganz besonders.

Rudolf Bartels: "Obstbaumblüte" (Kunstmuseum Schwaan)

Rudolf Bartels: „Obstbaumblüte“ (Kunstmuseum Schwaan)

Die Ausstellung ist nicht auf allmähliche Steigerung angelegt, sondern beginnt gleich mit einigen der schönsten Werke, die just aus Worpswede stammen. Zu nennen wären beispielsweise Fritz Overbecks „Im Mai“ (1908), Heinrich Vogelers „Herbstgarten“ (1903), Hans am Endes „Frühling in Worpswede“ (1900) und Otto Modersohns „Moordamm“ (um 1900). Bemerkenswert übrigens, dass fast alle Worpsweder Leitfiguren zuvor an der Düsseldorfer Akademie studiert hatten.

Ähnlich starke „Akkorde“ wie zum Auftakt gibt es wieder am Schluss des Rundgangs, wenn quer durch die Kolonien spezielle Lieblingsorte einiger Künstler Auge und Herz erfreuen. Das dazwischen Eingefasste ist mitunter von schwankender Qualität.

Zum Worpsweder Kreis gehört natürlich zeitweise auch Paula Modersohn-Becker, die hier mit dem famosen Bild „Sitzende Bäuerin mit Kind vor Birken“ (1903) vertreten ist. Schöner Zufall übrigens, dass an diesem Donnerstag Christian Schwochows neuer Kinofilm „Paula“ (Titelrolle Carla Juri – hier ein Trailer) gestartet ist, der Episoden aus ihrem Leben aufgreift.

Apropos: Zu jenen Zeiten war Frauen der Zugang zu den Akademien noch verwehrt, es gab in ganz Deutschland nur drei (teure und ziemlich schlechte) „Damenakademien“. Die Künstlerkolonien boten seltene Chancen für damals so genannte „Malweiber“, von renommierten Kollegen zu lernen und sich zu entfalten wie zu jener Zeit nirgendwo sonst. Auf Hiddensee gründete sich gar ein veritabler Künstlerinnenbund.

Hermine Overbeck-Rohte: "Sonnenbeschienener Weg" (Overbeck-Museum, Bremen)

Hermine Overbeck-Rohte: „Sonnenbeschienener Weg“ (Overbeck-Museum, Bremen)

Warum eigentlich Hiddensee und nicht die Nachbarinsel Rügen? Dort war es den Freilichtmalern zu mondän und zu touristisch. Dort tauchte auch schon mal der Kaiser auf, der die Kunst der Kolonisten gar nicht schätzte. Drum suchten sie lieber Hiddensee als „Insel der Aussteiger“ auf.

Rund 80 Gemälde von etwa 40 Künstlern versammelt die Hammer Schau, die unversehens derart die Reiselust weckt, dass man – scherzhaft gesagt – an der Museumskasse die Möglichkeit vermisst, sogleich eine Tour gen Norden zu buchen.

Schade auch, dass es zwar umfangreiche Audioguide-Führungen gibt, aber keinen Katalog, sondern nur ein schmales Begleitheft. Da die Ausstellung auch keine zweite Station haben wird, ist sie hernach also unwiederbringlich dahin und wirkt hauptsächlich in der Erinnerung des Publikums nach.

Das soll allerdings nicht heißen, dass wir es durchweg mit großer Kunst zu tun hätten. Etliche Maler(innen)namen werden allenfalls Fachleuten vertraut sein, eine längliche Aufzählung wollen wir uns an dieser Stelle ersparen. Manchmal hat verblasste Erinnerung auch mit begrenzten malerischen Mitteln zu tun und nicht nur mit der bösen, ungerechten Nachwelt.

Die betrüblichste Entwicklung hat allerdings ein anfänglicher Anreger und Spiritus rector von Worpswede genommen, nämlich Fritz Mackensen. Idyllen bergen eben auch Gefahren und vermeintlich wertfreie Naturbetrachtung schützt vor Torheit nicht. Ist nicht schon Mackensens Bild „Trinkender Bauer“ (1909) etwas unangenehm Volkstümelndes anzumerken? Er zeigt den Landmann nicht realistisch als Schwerarbeiter, sondern idealisiert: statuarisch, bodenständig, wie später auch in der „völkischen“ Kunst ein gängiger Typus aussah. Tatsächlich hat Mackensen im Kunstbetrieb der Nazizeit an vorderster Front mitgemischt.

Stadtflucht, Emanzipation, Lebensreform-Bewegung im Sinnes eines „Zurück zur Natur“: Solche Stichworte legen den Gedanken nahe, dass gesellschaftliche Fragen an diese Ausstellung mindestens so ergiebig sein könnten wie rein künstlerische.

„Lieblingsorte – Künstlerkolonien“. Von Worpswede bis Hiddensee. 18. Dezember 2016 (adventliche Eröffnung 11.30 Uhr) bis 21. Mai 2017. Öffnungszeiten: Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. www.museum-hamm.de




Das Geld ist knapp, die Chefin kündigt: Wie sehr kriselt es im Hammer Museum?

Keine sonderlich guten Nachrichten kommen derzeit aus dem Gustav-Lübcke-Museum: Von Verlusten und mangelndem Besucheraufkommen ist in Hamm die Rede. Inzwischen hat Museumsleiterin Dr. Friederike Daugelat (40) gekündigt. Doch was verbirgt sich dahinter? Und hat beides miteinander zu tun?

Einen solch krisenhaften Zusammenhang bestreitet die bis Jahresende amtierende Museumschefin entschieden. Den Revierpassagen sagte sie heute: „Meine Kündigung hat ausschließlich persönliche Gründe.“ Tatsächlich wechselt sie in einen neuen Job, in dem ihre Verantwortung eher noch wächst: Friederike Daugelat, die Anfang 2013 nach Hamm gekommen war, wird ab Januar 2017 Referatsleiterin beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und ist dort für mehrere LWL-Museen zuständig, vor allem auf dem Feld der Beratung und strategischen Planung.

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Hamms Oberbürgermeister Thomas Hunsteger-Petermann forderte unterdessen im WDR-Hörfunk (Landesstudio Dortmund), was der OB einer finanziell klammen Kommune von der lokalen Kultur halt so verlangt: „Wir müssen die Besucherakzeptanz, die Bevölkerungsakzeptanz noch einmal deutlich verstärken.“ Er und andere Kommunalpolitiker wollen bewirken, dass das Museum kein Eigenbetrieb mehr ist, sondern wieder in städtische Regie überführt wird.

Gespräche über eine solche Neuorganisation laufen laut Friederike Daugelat schon seit längerer Zeit. Die Führung als Eigenbetrieb habe bislang abrechnungstechnische Gründe gehabt, die wegen geänderter Bestimmungen künftig entfallen. Somit sei es wohl vernünftig, das Museum wieder an die Stadt anzugliedern. Auf diese Weise ließen sich einige Kostenblöcke (z. B. für Wirtschaftsprüfer) einsparen.

Unterdessen war in einem Bericht des „Westfälischen Anzeigers“ (Presse-Platzhirsch in Hamm) von 156.000 Euro Verlusten die Rede, die das Museum 2015 angehäuft habe. Auch dies erklärt Daugelat mit Besonderheiten der Buchhaltung. 2014, gegen Ende der zweijährigen Umbauzeit des Museums, seien Kosten angefallen, die erst 2015 belastend zu Buche gestanden hätten. Dem stünden positive Abschlüsse aus anderen Jahren gegenüber, so dass die Bilanz auch politisch abgesegnet worden sei.

Und wie verhält es sich mit dem Zuspruch des Publikums? Eine Ausstellung mit finnischer Malerei zog 12.000 Besucher ins abseits der großen Kulturströme gelegene Hamm. Eine speziell für Kinder konzipierte Mitmach-Schau über die technischen Fähigkeiten der Alten Römer hat vor wenigen Tagen die Besuchermarke von 10.000 überschritten und dauert noch – über die Herbstferien hinweg – bis Ende Oktober. Für ein Museum in der kulturellen und touristischen Diaspora sind das keine schlechten Zahlen.

Zudem war das (tendenziell unterfinanzierte) Haus erst ab März 2015 nach langer Umbaupause wieder eröffnet worden, und zwar sukzessive, eine Abteilung nach der anderen, mit deutlichen Zeitabständen. Also haben sich auch die Besucherzahlen nur zögerlich entwickeln können.

Nach städtischen Vorgaben, so Friederike Daugelat, soll das Museum jährlich mindestens 36.000 Besucher anziehen. Diese Zahl werde 2016 auf jeden Fall erreicht und überschritten. Es sei realistisch, die Marke von 40.000 Besuchern anzupeilen.

Ach so, ja, Kunst wird es im Gustav-Lübcke-Museum auch noch geben: Die nächste, noch von Daugelat kuratierte Sonderausstellung beginnt am 18. Dezember und heißt „Lieblingsorte – Künstlerkolonien. Von Worpswede bis Hiddensee“.




Was die Alten Römer konnten – eine Mitmachausstellung für Kinder in Hamm

Ach, wie gediegen geht es doch gemeinhin bei Ausstellungsterminen für die Presse zu: eine überschaubare Anzahl von Menschen, daher recht freier Blick auf die Exponate. Dazu in der Regel kein ungebührlicher Lärm, sondern zumeist gepflegte Konversation.

Hätte ich die Hammer Ausstellung „Hightech Römer“ zur Pressekonferenz gesehen, dann hätte ich also einen völlig falschen Eindruck bekommen. So aber empfängt uns als zahlende Besucher (drei Erwachsene, zwei Kinder) im Gustav-Lübcke-Museum ein ordentlicher Krach, zu dem unsere Sechs- und Siebenjährigen sogleich selbst kräftig beisteuern werden. Und das ist in gewissen Grenzen auch erwünscht. Es geht ja ums lustvolle Entdecken.

Katapultieren nach altrömischem Vorbild... (Foto: Bernd Berke)

Katapultieren nach altrömischem Vorbild… (Foto: Bernd Berke)

Eingangs läuft ein Einführungsfilm, der das Interesse an Erfindungen der Alten Römer wecken soll, indem er jene längst vergangene Welt zwischen Kolosseum und Pantheon dreidimensional „auferstehen“ lässt. Doch der Kino-Bereich ist leider nicht schallisoliert, deshalb versteht man die Tonspur kaum. Denn in den Räumen dahinter dürfen und sollen Kinder an insgesamt 35 Stationen alles selbst ausprobieren – inklusive Schussapparaturen wie Katapult und Balliste. Auch wenn da nur Plastikbällchen fliegen, klackert der Mechanismus doch ganz erheblich. Ich appelliere an die akustische Vorstellungskraft der Leserinnen und Leser und rate zum Besuch an ganz normalen Werktagen.

Wie hält der Triumphbogen?

Für Leute ab etwa 5 Jahren (happiger Eintrittspreis für die Kleinen: auch schon 7 Euro) ist die anregende Ausstellung mit einigen Themenschwerpunkten (Architektur, Militär, Handwerk, Rechnen, Straßen, Reisen, Luxus, Maschinen, Kommunikation) gedacht. Tatsächlich vermittelt sie allererste Eindrücke von manchen technischen Leistungen der Römer – vom Flaschenzug bis zur Fußbodenheizung und zum ausgeklügelten System der Wasserleitungen (Stichwort Aquädukt). Letztere kann man im einfachen Modell ebenso nachbauen wie eine Brücke oder einen Triumphbogen. Wie kriegt man bloß den obersten Stein so hingesetzt, dass der ganze Bogen hält?

Dachdecken auf antike Art (Foto: © Museum Het Valkhof Nijmegen)

Dachdecken auf antike Art (Foto: © Museum Het Valkhof Nijmegen)

Nur noch ein paar weitere Beispiele: Kinder dürfen sich hier als Dachdecker nach Art der Antike betätigen, sie können ein Bodenmosaik legen, frühe Entfernungsmesser erproben, mit Holz bauen, altrömische Statuen per Bildschirm bunt anmalen und einander zwischen zwei Türmen mit Flaggen Signale senden. Zwischendurch sieht man wenige originale Fundstücke in Vitrinen. Sie werden hier eher zur Nebensache. Weitaus empfänglicher sind Kinder für anschauliche Details aus der römischen Sklavenhaltergesellschaft.

Selbst auf der Galeere rudern

Besonders belagert sind der Schießstand, an dem man mit althergebrachter Technik auf Scheiben zielen kann, und die „Galeere“. Vom Bildschirm her gibt ein fieser Trommler die rhythmischen Kommandos, die natürlich allesamt auf „Schneller, schneller“ hinauslaufen. Gerudert wird freilich nicht virtuell, sondern schweißtreibend analog. Am Ende kann das jeweilige Vierer-Trüppchen vom Bildschirm ablesen, welche Strecke es geschafft hat. Der Rekord (Highscore) lag an unserem Besuchstag schon bei unfassbaren 61,5 Seemeilen. Was wir geschafft haben? Och, das tut nichts zur Sache.

Die Wanderschau ist eine Koproduktion des LVR-Landesmuseums Bonn mit Museen in Den Haag und Nijmegen (Holland) sowie Mechelen (Belgien). Den Einführungsfilm und die Beschriftungen gibt’s denn auch auf Deutsch, Niederländisch, Englisch und Französisch. Doch damit nicht genug. Themengerecht kann man die Ausstellungstexte via Homepage auch auf Lateinisch herunterladen.

Was von all dem emotional und gedanklich andauern wird, lässt sich scherlich vorhersagen. Vielleicht erinnern sich die Kinder später an einzelne Anstöße, wenn sie etwas übers Altertum lesen oder hören. Vielleicht wird der gar eine oder andere Besucher (Besucherin) später einmal hochgelahrter Antike-Spezialist. Und wenn dann jemand fragt, wie alles begonnen hat, dann heißt es womöglich: „Damals in Hamm…“

„Hightech Römer“. Mitmachausstellung im Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Bis 30. Oktober 2016, geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr, montags geschlossen..
Am Sonntag, 22. Mai (Internationaler Museumstag), ist das ganze Haus kostenlos zugänglich. Sonst: Erwachsene 9 Euro, Kinder ab 5 Jahren 7 Euro, Familienkarte (bis 2 Erwachsene und 3 Kinder) 22 Euro.




Diese Weite, diese Stille – „Sehnsucht Finnland“ im Hammer Gustav-Lübcke-Museum

Was wissen wir eigentlich über finnische Kunst? Die aufrichtige Antwort dürfte wohl lauten: nichts.

Jetzt kann man solchen Mangel ein wenig beheben, denn das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm gibt mit beachtlichen Leihgaben einen Einblick ins Werden der finnischen Moderne zwischen 1880 und 1920.

Der Titel „Sehnsucht Finnland“ hat gleich mehrfache Bedeutung. Zum einen wecken besonders die Landschaftsbilder aus dem hohen Norden Sehnsucht nach unberührter Natur und sind vielleicht geeignet, manche Reisepläne für den nächsten Sommer zu beeinflussen.

Akseli Gallen-Kallela: "Landschaft in Kuhmo" (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Akseli Gallen-Kallela: „Landschaft in Kuhmo“ (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Vor allem aber haben die meisten damaligen Maler ihre Kunst nicht zuletzt als sehnsüchtige Suche nach einer finnischen Identität verstanden, denn ihr Land hatte vom Mittelalter bis 1809 schwedische und dann noch fast 100 Jahre russische Fremdherrschaft ertragen. Erst 1917 wurde Finnland eine unabhängige Nation. Zuvor hatten Künstler Finnland sozusagen erfunden.

Es war eine Zeit, in der kulturelle Schöpfungen – zumindest mittelbar – politisch einiges bewirkt haben: Tatsächlich zählten die Künstler zur Spitze der finnischen Bewegung (so genannte „Fennomanen“), die auf Selbständigkeit aus war. Und wahrhaftig vermochten sie es, in ihren Bildern glaubhaft einigen Grundlinien dessen nachzuspüren, was just die finnische Besonderheit ausmacht. Dabei entstand eine angenehm unaufgeregte Kunst, die so gar nicht imponieren will und niemals auftrumpft.

Akseli Gallen-Kallela: "Gewitterwolken" (1897). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Akseli Gallen-Kallela: „Gewitterwolken“ (1897). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Die Einsamkeit und schier endlose Weite der nordischen Natur mit ihren Wäldern und Seen war das bevorzugte Feld derartiger Erkundungen, zumal auch in den langen harten Wintern. Sagt man manchen Sprachen nach, sie hätten etliche, fein differenzierende Begriffe für Schnee und Eis, so findet man derlei Vielfalt ebenso in den Bildern finnischer Maler.

Hie und da dringen die Maler mit ihren Schneebildern gar schon unversehens in die Gefilde der Abstraktion vor. Die große Leere der größtenteils noch wirklich unberührten Landschaften kann ebenso Beglückung wie Melancholie hervorrufen. Welche Stille solche Bilder atmen – und wie verhalten die Farben sind! Doch den finnischen Frühlingsbildern merkt man an, wie sehnsüchtig man dort droben auf die Blüte gewartet hat. Auch nicht nur nebenher: Ein Seitenblick zeigt, dass auch das Genre der Sauna-Bilder zur finnischen Identitätsfindung beitrug.

Akseli Gallen-Kallela: "Frühling" (1902). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Akseli Gallen-Kallela: „Frühling“ (1902). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Rund 70 Tafelbilder hat man in Hamm beisammen, die so bislang nur in Stockholm und Paris zu sehen waren. Eigentlicher Hort dieser Fülle ist die finnische Gösta Serlachius Stiftung, deren Kunstschätze seinerzeit von der Industriellenfamilie Serlachius (Forstwirtschaft und Papierfabriken) erworben wurden. Heute gilt das Konvolut als finnisches Nationalerbe und wird sonst allenfalls vereinzelt ausgeliehen.

Die Familie Serlachius unterstützte auch einen befreundeten Künstler, der seinen ursprünglich schwedisch lautenden Namen zu Akseli Gallen-Kallela finnisierte. Seine Bilder ragen, wie sich beim Rundgang mehrmals zeigt, mit ihrer vielfältig delikaten Malweise aus der ohnehin sehenswerten Schau (mit nur wenigen Schwachpunkten) noch einmal deutlich heraus.

Wäre Gallen-Kallelas Name bei uns bekannter, hätte man seine Werke durchaus in einer Einzelausstellung zeigen können, so aber ist die allgemeiner gehaltene „Sehnsucht Finnland“ natürlich zugkräftiger. Sein geheimnisvoll symbolistisch aufgeladenes Bild „Symposion“ (1894) zeigt beim Künstlertreffen in der Kneipe auch den berühmten finnischen Komponisten Jean Sibelius, es vereint mehrere Stilrichtungen und erinnert in einer Partie gar schon an die zur Kenntlichkeit verzerrenden Darstellungen eines George Grosz.

Und weiter: Vor Gallen-Kallelas grandioser karelischer „Landschaft in Kuhmo“ kann man lange schweigend und schwelgend verweilen, sein Bild „Gewitterwolken“ (1897) erweist sich gleichfalls als famose Naturdarstellung. Das in der Fabrik angesiedelte, realistische Porträt des Industriellen Adolf Serlachius (1887) gemahnt nahezu an Adolph von Menzel. „Matti, der Luchsjäger“ (1905) zeigt einen kernigen Mann, der für den idealtypischen Finnen schlechthin gestanden haben mag. Ein Mädchenbildnis von 1895/96 ist hingegen ein Inbild der Traurigkeit und wohl das bewegendste Stück der ganzen Ausstellung. Kurzum: Dieser Künstler kann auch im europäischen Vergleich mit seinen Zeitgenossen bestehen.

Hugo Simberg: "Tanz auf dem Anleger" (1903). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Hugo Simberg: „Tanz auf dem Anleger“ (1903). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Um wenigstens ein paar weitere Namen zu nennen: Albert Edelfelt, der auch noch für bildnerische Huldigungen an die russische Zarin einsteht, besticht mit einem hintergründigen Hafenstück und dem Bildnis eines strickenden Mädchens, irritiert heutige Gemüter freilich mit einer „Gitane“ („Zigeunerin“). Doch Vorsicht! 1881 war ein solches Motiv noch längst nicht als Massenware diskreditiert. Dann wieder die unentrinnbaren Blickfänge: Hugo Simbergs eigentümlich verhalten leuchtendes Tanzbild auf einer Seebrücke, Victor Westerholms Robbenjäger…

Dass die Bilder auch schon in Paris zu sehen waren, ergibt übrigens auch speziellen Sinn, manche sind damit gleichsam an den Ort ihrer Inspiration zurückgekehrt. Denn zahlreiche finnische Künstler gingen ab 1880, wie ihre Kollegen aus ganz Europa, in die Weltkunstmetropole Paris, um dort Strömungen wie Realismus oder Impressionismus und das Phänomen der Freilichtmalerei kennen zu lernen. In der Hammer Schau lassen sich zudem die finnischen Anfänge einer flächigen Malweise und kubistischer Formfindung studieren.

Albert Edelfelt: "Am Ankerplatz in Kopenhagen" (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Albert Edelfelt: „Am Ankerplatz in Kopenhagen“ (1890). (Serlachius-Stiftung/Gustav-Lübcke-Museum)

Die Ausstellung zeugt überdies von einer weiteren Besonderheit in der finnischen Kunst. Wie damals nirgendwo sonst, haben Frauen die Entwicklung mitbestimmt. Zwar waren sie anfangs auf den häuslichen Kreis und somit überwiegend auf Kinderbilder eingeschränkt, doch schon relativ früh haben sie dann mehr als die Hälfte aller Kunstpreise erhalten und zwischenzeitlich auch die Mehrheit in den (vergleichsweise spät gegründeten) finnischen Kunstakademien gestellt. Beispielhafte Bilder, etwa von Maria Wiik und – noch eindrücklicher – Helene Schjerfbeck, lassen ahnen, welche Begabungen da am Werk gewesen sind.

Jammerschade nur, dass diese Ausstellung, die auch weitere Anreisen lohnt, nicht durch einen Katalog bewahrt wird.

„Sehnsucht Finnland“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Bis zum 20. März 2016. Geöffnet Di-Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 7 Euro). Kein Katalog. Weitere Infos: www.museum-hamm.de




Vom Hörspiel zum Buch: „Task Force Hamm“ als Sammelbecken polizeilicher Problemfälle

E_Schmidt_Task Force Hamm_02.indd Tatort Hamm? In der ARD? Noch nie gesehen? Aber gehört vielleicht schon. Die „Task Force Hamm“ gehört zu den Ermittlerteams des ARD Radio-Tatorts und wird im Rahmen dieser Hörspielserie vom WDR ins Rennen geschickt. Jeden Monat gibt es in den Rundfunkanstalten der ARD ein neues Tatort-Hörspiel, in denen ein Ermittlerteam mit starken regionalen Bezügen Verbrechen aufklärt. Zu den beliebtesten Teams dieser Radio-Reihe gehört die Task Force Hamm.

Der Erfinder des Hammer Teams, Dirk Schmidt, verfasste bisher zahlreiche Kriminal-Hörspiele und Drehbücher. Seine „Task-Force Hamm“ fand großen Anklang und hat eine Reihe treuer Fans. Mit „Ertränkt, Erhängt, Erschossen“ liegt nun der erste Fall in gedruckter Form vor. Adaption mal andersrum. Meistens liegt ja erst ein Buch vor, welches dann verfilmt oder vertont wird. Aber das Wagnis hat sich durchaus gelohnt. Von kleinen Einschränkungen abgesehen.

Ausgerechnet Hamm, mag sich nun so mancher denken. Hamm – die unbekannte, unspektakuläre, gerne ignorierte Stadt. Nicht mehr ganz Ruhrgebiet, noch nicht so ganz Münsterland und auch sonst fallen einem dazu allenfalls die Stichworte Kraftwerk und Elefant ein. Aber genau aus diesem Grund ist Hamm für den WDR der Ort des Geschehens.

Hochgestellte Herren der Landespolizeibehörde haben beschlossen, es ist Zeit für eine Konzentration. Es gehe nicht länger an, dass in Ungnade gefallene Polizisten, die man aus den verschiedensten Gründen nicht einfach rausschmeißen kann, dauernd quer durchs Land und somit diverse Abteilungen in Unruhe versetzt werden. Vielleicht macht es das Ganze handelbarer, wenn man sich einfach eine Behörde ausguckt, in die man all diese gescheiterten Existenzen versetzt. Dann hat man zwar noch immer ein Problem, aber man versucht es mal mit der Losung: Besser ein großes Problem als viele kleine.

Und so erwischt es die kreisfreie Polizeibehörde Hamm. Sie wird zum Sammelbecken für die ungelösten Problemfälle der Polizei. In der zur „Strafkolonie“ gewordenen Mordkommission finden sich zusammen: der spielsüchtige Hauptkommissar Scholz, der Haus, Hof und seine Ehe dem Gott des Rouletts geopfert hat. Der gutmütige, aber ziemlich schlicht gestrickte Hobby-DJ Latotzke, der einzige gebürtige und somit ortskundige Hammer – bei der Polizei nur dank „Vitamin B“. Der zu Aggressionen neigende Kollege Ditters, der nicht so recht weiß, ob er Männlein oder Weiblein oder vielleicht einfach nur schwul ist.

Zusammengehalten wird diese Chaoten-Truppe mehr schlecht als recht vom Dienststellenleiter Vorderbäumen. Der Chef wartet auf dem Abstellgleis, während seine Klage gegen vorzeitige Pensionierung läuft und beschäftigt sich derweil vorzugsweise mit einem Nebenerwerb als Möbelhändler.

Kommissar Scholz jedenfalls nimmt trotzig die Herausforderung Hamm an und setzt all seinen verbliebenen Ehrgeiz darein, den ersten Mord, der auf seinem Tisch landet, restlos aufzuklären. Die „Task Force Hamm“ wird zur Leiche des Metzgers Terjung gerufen. Zunächst weiß man nicht einmal, ob der arme Mann erhängt, erschossen oder ertränkt wurde. Klar ist zunächst nur: der Verdächtigen gibt es viele und starke Emotionen sind im Spiel. Vom enttäuschten Vater über die aus dem Katalog georderte mit dem Metzger ganz frisch verheiratete Thailänderin bis hin zum verschwundenen Zockerkumpel, der sich gemeinsam mit Terjung wohl mit Geldgebern angelegt hat, denen man besser nicht im Dunkeln begegnet. Scholz besinnt sich auf seine durchaus respektablen Fähigkeiten als Ermittler und bringt erstmal seine Truppe auf Trab…

Dass es sich hier um ein ausformuliertes Drehbuch handelt, merkt man durchaus. Dies stört aber vornehmlich nur an Stellen, an denen man das Gefühl hat, die Handlung wurde unnötig in die Länge gezogen. Die ARD-Radio-Tatort-Hörspiele dauern lediglich 55 Minuten und um das Ganze auf normale Buchlänge zu bringen, wurden hie und da Erklärungen eingefügt, die man jetzt auch als Leser nicht unbedingt zum Verständnis gebraucht hätte.

Aber davon abgesehen, ist der Krimi gut zu lesen. Subtiler Wortwitz wechselt sich ab mit brachialem Humor, die Grenzen zur Stammtisch-Peinlichkeit werden aber recht geschickt eingehalten. Bierernst ist der Krimi nicht zu nehmen, was der Vielzahl der behandelten Themen und teilweise auch sehr aktuellen Problemen nicht immer gut bekommt. Was es gar nicht gebraucht hätte: Den Ton des Märchenonkels auf den letzten Metern, als es um die Katharsis des zweifelnden Ditters geht. An dieser Balance dürfte zu arbeiten sein, aber grundsätzlich betritt mit der Task Force ein etwas anderes, durchaus liebenswertes Team die Krimi-Bücherszene.

Dirk Schmidt: „Ertränkt, erhängt, erschossen – Task Force Hamm“. Grafit-Verlag Dortmund, 205 Seiten, € 9,99




Hamm kann seine Ägypten-Sammlung endlich im größeren Rahmen zeigen

Wo befindet sich die größte Ägypten-Sammlung des Ruhrgebiets? Die Antwort mag überraschen: in Hamm.

Auch in ganz Westfalen hat die Kollektion nicht ihresgleichen. Das lässt sich jetzt noch besser nachvollziehen: Ab Sonntag (30. August) kann man die wesentlichen Schaustücke auf verdoppelter Ausstellungsfläche sehen. Ein durchaus angemessener Rahmen.

Sarkophag wiegt 7,5 Tonnen

Der Umbau des Hammer Gustav-Lübcke-Museums hat der ägyptologischen Sammlung endlich einen eigenen, über 500 Quadratmeter großen Bereich beschert. Dank zeitgemäßer Klimatisierung erhält das Haus jetzt auch leichter Leihgaben, beispielsweise die Hauptattraktion der neu geordneten Schau, einen rund 4000 Jahre alten Granitsarkophag des Beamten Sechem-ka. Das imposante, 7,5 Tonnen schwere Stück bleibt als Dauerleihgabe des Roemer- und Pelizaeus-Museums (Hildesheim) in Hamm.

Hildesheimer Dauerleihgabe für Hamm: über 4000 Jahre alter Granitsarkophag des Sechem-ka. (Foto: Bernd Berke)

Hildesheimer Dauerleihgabe für Hamm: über 4000 Jahre alter Granitsarkophag des Sechem-ka. (Foto: Bernd Berke)

Ungleich kleiner ist ein weiterer Stolz des Museums: Zum Eigenbesitz zählt eine grünlich schimmerne Originalringplatte des weltberühmten Tutanchamun, die allerdings mit bloßem Auge so schwer zu erkennen ist, dass man eine fotografische Vergrößerung direkt darüber gesetzt hat. Gleichwohl meint man da eine Aura zu spüren…

Totenkult und Hieroglyphen

Kuratorin Carola Nafroth hat die beachtliche Ägypten-Abteilung in zehn dicht gestaffelte Themenfelder aufgeteilt. Da geht es z. B. um den Totenkult, um die Hieroglyphenschrift und um alltägliche Verrichtungen wie Handwerk und Schmuckherstellung. Ein kleiner Tempelnachbau erweist sich als geheimes Zentrum der Ausstellung. Auch nachpharaonische Epochen und ihre Protagonisten (Ptolemäer, Römer, Kopten) geraten noch kurz in den Blick.

Grabbeigabe: Schiffsmodell (ca. 2119 bis 1976 v. Chr.) (Foto: Stadt Hamm/Thorsten Hübner)

Grabbeigabe: Schiffsmodell (ca. 2119 bis 1976 v. Chr.) (Foto: Stadt Hamm/Thorsten Hübner)

Zu all diesen Bereichen gibt es prägnante Belegstücke, zwar nicht immer in Hülle und Fülle, doch in anregender Menge. Hie und da behilft man sich mit Repliken, doch überwiegen die Originalfunde. Spürbar ist das Bemühen, rundum eine „ägyptische“ Atmosphäre zu schaffen, so etwa mit Bilderfenstern, stilecht verzierten Säulen und Obelisken, auf denen kurze Einführungstexte stehen.

Als der „Mumienverein“ aktiv wurde

Wie kommt es überhaupt, dass gerade in Hamm derlei Schätze aus dem alten Ägypten gehortet werden? Nun, es gab direkte Kontakte zu frühen archäologischen Ausgräbern. Daraus entwickelte sich eine regelrechte Ägyptomanie, die 1886 zur Gründung eines „Mumienvereins“ in Hamm führte. Erklärtes Ziel war es, eine veritable ägyptische Mumie in die Stadt zu holen. Um das kostspielige Vorhaben umzusetzen, wurden eigens „Mumien-Aktien“ zu je 20 Mark ausgegeben.

Götterfamilie: Osiris und Isis mit Horus. (Foto: Stadt Hamm/Thorsten Hübner)

Götterfamilie: Osiris und Isis mit Horus. (Foto: Stadt Hamm/Thorsten Hübner)

Tatsächlich gelang es, eine Mumie nach Hamm zu bringen. Zeitweise war sie – mangels Museum – in einer Gaststätte für ein paar Pfennige Eintrittsgeld zu besichtigen. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie zerstört, doch besaß man in Hamm, auch durch die Sammeltätigkeit Gustav Lübckes, mittlerweile etliche Kleinode aus Altägypten.

Museum ist jetzt wieder komplett

Mit der Neueröffnung der Ägyptensammlung ist das Museum jetzt wieder komplett. Sukzessive sind seit dem Frühjahr alle Abteilungen in veränderter Form wieder zugänglich gemacht worden: Stadtgeschichte, Kunst des 20. Jahrhunderts, Archäologie und Angewandte Kunst. Die ausgewählten Altertümer Ägyptens gelten freilich als Kernbestand, Museumsleiterin Dr. Friederike Daugelat und ihr Team betrachten diese Sammlung als eine Art Alleinstellungsmerkmal und rechnen auch mit Anreisen aus weiter entfernten Gegenden.

Besonderen Wert legt man in Hamm auf die Vermittlung. Beileibe nicht alle kennen sich mit dem Alten und Mittleren Reich Ägyptens aus, um nicht zu sagen: fast niemand weiß da richtig Bescheid. Deshalb gibt es, neben den schriftlichen Infos in der Ausstellung, zwei kostenlos ausleihbare Audioguides – einen für Erwachsene, einen speziell für Kinder (ab etwa 8 Jahren), übrigens mit der Stimme von „Benjamin Blümchen“. Sehr sinnvoll: Beide Rundgänge sind exakt aufeinander abgestimmt und dauern jeweils 60 Minuten, in denen man das gesamte Lübcke-Museum kennenlernt. Wohlan denn, ab September haben wir sicherlich wieder öfter mal Museumswetter.

Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Geöffnet Di-Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr. Infos: www.museum-hamm.de




Besseres Klima, leichterer Zugang, neue Akzente: Museum in Hamm öffnet nach Umbau

Am östlichen Rand des Ruhrgebiets steht eine kulturelle Festivität ins Haus: Nach 21 Monaten Bauzeit feiert die Stadt Hamm die Wiedereröffnung ihres Gustav-Lübcke-Museums.

Damit es sich auch lohnt, wird dieses Ereignis fast das ganze Jahr über zelebriert, sozusagen Stück für Stück. Die einzelnen Abteilungen der Dauerausstellung öffnen nach und nach in jeweils neuer Form, die erste größere Wechselschau („Sehnsucht Finnland“ mit skandinavischer Kunst) wird es im Oktober geben.

Äußerlich sieht man so gut wie nichts vom Umbau: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Äußerlich sieht man so gut wie nichts vom Umbau: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

An diesem Sonntag beginnt der Reigen mit einem Tag der offenen Tür. Dann werden bereits die völlig umgestaltete Abteilung für Stadtgeschichte (auf verdreifachter Fläche) und Beispiele zur Kunst des 20. Jahrhunderts zu sehen sein. Ein Herzstück des Museums, die immerhin revierweit größte Ägypten-Sammlung, wird ab 30. August wieder präsentiert.

Aber was heißt hier „wieder“? Auch hier sollen sich Umfang und Darstellung gründlich ändern. Die Abteilung Altes Ägypten profitiert gleichfalls vom Umbau, bei dem vor allem die Klimatechnik nebst Heizung und Lüftung aufwendig erneuert wurde. Folge: Hamm bekommt jetzt in allen wesentlichen Bereichen so manche Leihgabe, deren Überlassung vorher zu riskant gewesen wäre.

Insgesamt rund 5,1 Millionen Euro hat die Stadt ins Museum investiert. Durchaus erwähnenswert: Dieser Kostenrahmen wird höchstwahrscheinlich eingehalten, vielleicht sogar knapp unterschritten. Man wird es sehen, wenn die letzten Ingenieur- und Handwerkerrechnungen beglichen sind.

Innenansicht mit Zugangsrampen (Foto: Bernd Berke)

Innenansicht mit Zugangsrampen (Foto: Bernd Berke)

Von den Ergebnissen der Sanierung sieht man als Besucher kaum etwas, denn die zeitgemäße technische Ertüchtigung hat sich vor allem in den „Eingeweiden“ des Museums vollzogen. Wer es genauer wissen will, kann sich einer Technikführung anschließen.

Das von Friederike Daugelat geleitete Haus mit seinen 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche bietet weitere Neuerungen, die der besseren Orientierung dienen: Die Besucher werden mit einem Farbleitsystem durch die einzelnen Bereiche geführt (Gold für Ägypten usw.) und mit neu gestaltetem Info-Material versorgt. Vor allem aber gibt es jetzt schicke Multimedia-Guides, die kostenlos ausgeliehen werden können und beim Rundgang per Ton und Film in die Museumsbestände einführen.

Überhaupt legt man offenbar großen Wert darauf, die Besucher nicht mit ihren etwaigen Fragen allein zu lassen. In der Abteilung für Kunst des 20. Jahrhunderts (trotz einzelner Glanzpunkte insgesamt wohl eher eine Kollektion aus der zweiten Reihe, wenn man ehrlich ist) eröffnet man den Zugang bevorzugt über die Künstler-Persönlichkeiten und erläutert lieber von Grund auf, was es mit der Kunst und Sammelschwerpunkten wie Expressionismus oder Informel auf sich habe. Man versucht also, anhand eines recht schmalen Ausschnitts aus der Sammlung, die weniger kundigen Besucher „da abzuholen, wo sie sind“, um eine nicht eben schmerzfreie Formel aus der populären Publizistik zu zitieren.

Stadtgeschichtliche Abteilung: Wohnzimmer der 50er Jahre. (Foto: Bernd Berke)

Stadtgeschichtliche Abteilung: Wohnzimmer der 50er Jahre. (Foto: Bernd Berke)

Das Gustav-Lübcke-Museum, seit 1993 im jetzigen Bau an der Neuen Bahnhofstraße ansässig, bietet also eine ausgesprochen vielfältige Mischung aus Gebieten der Kunst- und Kulturgeschichte, auch Archäologie und Angewandte Kunst (beides ab 14. Juni geöffnet) zählen noch hinzu. Geschärftes Profil sieht eigentlich anders aus. Hamm hat fast schon eine Wunderkammer.

Deutlich aufgewertet wird jetzt die Hammer Stadtgeschichte. Auch hier steht leichtere Faßbarkeit im Vordergrund. Die stadthistorische Präsentation wirkt liebevoll arrangiert, wenn auch hie und da noch etwas brav und bedächtig.

Die Chronologie reicht jetzt – anders als vordem – über den Zweiten Weltkrieg hinaus. So gibt es beispielsweise einen Raum zur „Wirtschaftswunder“-Zeit mit Kleinwagen, Jukebox und zeittypischem Wohnzimmer. Neu ist auch ein zeitungsgeschichtlicher Strang, bei dem man sich vom lokalen Platzhirschen („Westfälischer Anzeiger“) ausgiebig hat helfen lassen. Auch so eine Public Private Partnership.

Am Beginn des stadtgeschichtlichen Rundgangs geht es übrigens um den veritablen Mord an einem Kölner Erzbischof. Die Folgen dieser Bluttat führten anno 1226 (am Aschermittwoch) zur Gründung der Stadt Hamm. Dramatische Anfänge, fürwahr.

  • Gustav-Lübcke-Museum, 59065 Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel. 02381/17 75 01
  • Am Sonntag, 8. März 2015, Wiedereröffnung mit einem Tag der offenen Tür ab 10:30 Uhr (Musik vor dem Museum) bzw. 11:30 Uhr (offizieller Festakt) bis 18 Uhr.
  • Reguläre Öffnungszeiten Di-Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt: Dauerausstellung 2,50 Euro, ermäßigt 1,30 Euro, Kinder bis 15 Jahre frei.



Was Architekten gut finden: „Ausgezeichnete“ Bauten im Raum Dortmund – Hamm – Unna

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Die nach den Geschwistern Scholl benannte Gesamtschule in Lünen (hier eine Innenansicht) ist ein Werk des Star-Architekten Hans Scharoun. Der sorgfältigen Renovierung des Baus wurde jetzt eine „Anerkennung“ des Architektenbundes zuteil. (Foto: BDA)

Wenn der Bund deutscher Architekten, Abteilung Dortmund Hamm Unna, gute Architektur und somit in der Regel gute Architekten ehren will, dann finden sich auf der Vorschlagsliste Büros aus Berlin, Nürnberg, Hagen oder Senden, wo lebendige Architekten unermüdlich an der Verschönerung der Welt werkeln.

Will man aber einen großen Toten der Zunft ehren, Fachleute wissen das natürlich, muß man nach Lünen fahren. Das dortige ehemalige Mädchengymnasium, nach den Geschwistern Scholl benannt und heute Gesamtschule, hat nämlich Ende der 50er Jahre Stararchitekt Hans Scharoun entworfen, dem unter anderem Berlin seine Philharmonie und Bremerhaven sein Schiffahrtsmuseum verdankt.

Als Lünen Scharoun und keinen anderen beauftragte, war die Stadt noch eine reiche Stadt; das änderte sich, und lokale Armut spiegelte sich bald auch im Erhaltungszustand des Gebäudes, das im übrigen ja, alte Lüner wissen das, nie ganz dicht war. Mit viel Geld aus der Wüstenrot-Stiftung haben die Architekten Spital-Frenking und Schwarz den Bau jetzt sorgfältig durchsaniert und auf Vordermann gebracht, und dafür gab es warme Worte (und Urkunde, aber kein Geld).

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Stimmig eingepapte Bürobauten neben der Hörder Burg. (Foto: BDA)

Mit der Renovierung wurde das Gebäude auch recht bunt angestrichen, was das Erstaunen Uneingeweihter hervorrief. Denn eigentlich war die Mädchenpenne immer weiß. Doch gab es nun vor der Renovierung einen Putzbefund, der auf einem Prüffeld der Fassade Reste bunter Farben zeigte; und tatsächlich finden sich die auch in Scharouns Entwurfsplanung, wenngleich er ja gegen das Weiß nichts gehabt zu haben scheint. Nun denn, also jetzt Scharoun in Ocker, Grün, Rot…

Kommen wir zu den Projekten, bei denen lebende Architekten ihre Kreativität ausleben konnten. Preiswürdig war der Jury an derSchule Am Eierkamp (Dortmund-Hombruch) die Einbeziehung einer Außenfläche in den Baukörper. Eigentlich, so könnte man meinen, keine große fachliche Herausforderung. Doch das sah die BDA-Jury anders, zumal diese Baumaßnahme richtungweisend für Umbauten von Schulgebäuden in den kommenden Jahren sei.

Auch einem Einfamilienhaus wurde die BDA-Auszeichnung zuteil. Geplant hat es das in Dortmund recht bekannte Büro Schamp und Schmaloer. Richard Schmaloer, dies nur anbei, ist amtierender Vorsitzender der hiesigen BDA-Gruppierung. Das Haus könnte ein Kubus sein, doch sein Dach ist schräg. Des Rätsels Lösung liegt in der Bauherrschaft Wunsch: Sie wollte ein Haus mit Flachdach in einem Neubaugebiet, in dem die Stadt Pult- und Satteldächer forderte. Das Haus steht, der städtischen Auflage ist Genüge getan; doch trägt die Dachschräge nicht unbedingt zur Schönheit des, wie gesagt, von Konzept her eher kubischen Baukörpers bei, und abhängig vom Blickwinkel wird er in der Siedlung wohl auch ein Fremdkörper bleiben. Die Maßnahme ist ein schöner Beitrag zum Thema Sinn und Unsinn behördlicher Vorgaben. Architektonische Kreativität erscheint hier in einem ganz neuen Licht.

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Die Dortmunder Liebfrauenkirche wurde – stilvoll – in ein Kolumbarium umgewandelt. (Foto: BDA)

Der Umbau der Dortmunder Liebfrauenkirche zu einem Kolumbarium durch das Berliner Büro Staab Architekten ist ohne Einschränkung gelungen. Hier ist jetzt Platz für 4000 Urnengräber, deren diskrete Anordnung an die vormalige Möblierung mit Kirchbänken erinnert. Ein guter, starker Ort.

Das nächste Objekt, das den Architekten anerkennenswert erschien, liegt nur einige hundert Meter Luftlinie von der Liebfrauenkirche entfernt. An der zu einem „Boulevard“ rückgebauten Dortmunder Kampstraße steht das ehemalige Verwaltungsgebäude der West-LB, das zu einem Ärztehaus umfunktioniert wurde. Ein Betonklotz aus den 70er Jahren, den umlaufende, meterbreite weiße Plastikwülste prägen und den schön zu finden doch einige Anstrengung erfordert.

Auch wenn Baudenkmäler definitionsgemäß nicht nach Schönheit, sondern nach architektur- und städtebaugeschichtlicher Bedeutung ausgesucht werden sollen, hätte man diesen Bau nicht zwingend erhalten müssen, denn ganz so einzigartig ist er gewiß nicht. Das wesentlich jüngere Volkswohlbund-Haus aus den Achtzigern, nur wenige hundert Meter weiter am Wall gelegen und von weitaus erträglicherem Äußeren, entsorgte man vor einigen Jahren kurz und schmerzlos mit Hilfe einiger Sprengladungen. Die West-LB aber steht jetzt unter Denkmalschutz und trägt angeblich zur Schönheit der Dortmunder Innenstadt bei. Lol.

Munter geht die Reise weiter. Wir erreichen Dortmunds prominentestes Ziergewässer, den Phoenix-See. Hier haben Drahtler Architekten einen Verwaltungsgebäudekomplex neben die so genannte Hörder Burg gestellt, der sich ausgesprochen harmonisch dem baulichen Bild einfügt, gleichermaßen in Materialität und Proportionen. Angenehm fällt insbesondere der Verzicht auf modischen Zierat auf, läßt man die in die Ecken der Gebäudekörper gesetzten Fenster auf einigen Etagen einmal außer Acht. Die Auflockerung des Fassadenbildes durch versetzte horizontale Fensterreihen vermeidet Langeweile. Eine derart gleichermaßen anspruchsvolle wie unaufdringliche Architektur hätte man sich am Phoenixsee häufiger gewünscht. Ist jetzt aber zu spät.

Unna Busbahnhof

Busbahnhof in Unna. (Foto: BDA)

Wir kommen nach Unna, und zwar mit Bahn und Bus. Hier gibt es ein großes Dach über dem Busbahnhof, damit die Fahrgäste beim Umsteigen trocken bleiben. Das wird wohl auch gelingen; doch hätte die Konstruktion nicht etwas filigraner ausfallen können? Das wuchtige Dach sieht aus wie eine plattgedrückte Betonbratwurst auf Stelzen. Darunter ist es düster, weil Beton bekanntlich kein Licht durchläßt. Deshalb gibt es ein Lichtkonzept, das im Wesentlichen aus Strahlern besteht, die von unten das Betondach erhellen. Nachts braucht man die natürlich, aber nicht bei Sonnenschein. Es bricht sich der Gedanke Bahn, daß flächendeckend eingesetztes Glas auch ein schöner Baustoff gewesen wäre.

In Hamm gefiel den Architekten der Neubau einer Sparkassenfiliale, über dessen bauliche Qualität wenig zu sagen ist; einfach gegliederter Baukörper aus Beton und dezent sandsteinfarbenem Klinker mit modischer Entrée-Situation. Eine so uneitle Zweckarchitektur ist oft das Schlechteste nicht!

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Sparkassenneubau in Hamm (Foto: BDA)

Neben den mit einer „Anerkennung“ geehrten Objekten gibt es auf der Vorschlagsliste noch etliche weitere. Viele Neubauten der letzten Jahre, Bürohäuser zumal, tauchen hier auf, daneben aber auch gravierende Umbauten innerhalb bestehender Objekte, wie beispielsweise im Dortmunder Johanneshospital.

Auffällig schließlich ist, daß der jüngst umgebaute und erweiterte Baukörper der Städtischen Musikschule in Hamm es nicht von der Vorschlagsliste in die Liga der Anerkannten schaffte. Ein bißchen Ähnlichkeit hat er mit dem Fußballmuseum, das vor dem Dortmunder Hauptbahnhof im Werden ist. Aber das ist wohl Zufall und hat nichts zu bedeuten.

Eine Ausstellung im Gebäude des ehemaligen Dortmunder Ostwall-Museums, Ostwall 7, präsentiert auf Schautafeln ausführlich die ausgezeichneten und vorgeschlagenen Bauobjekte. Bis 30.11. Geöffnet Freitag, Samstag, Sonntag 15 – 19 Uhr.

 




Der preußische König zeigt sich milde

Von Überfällen auf Spielhallen oder über dreiste Handtaschenräuber liest man heutzutage, wenn die Polizei ihren Tagesbericht abliefert. Früher, als die Menschen noch quälenden Hunger kannten, ging es noch direkter zu: Da wurden sogar Grundnahrungsmittel wie Getreide gestohlen.

In Berlin saß ein milder König. (Foto: Pöpsel)

Für den Bereich Schwelm ist aus dem Jahr 1795 eine regelrechte „Hungerrevolte“ überliefert. Wenn es in Notzeiten zu Getreideknappheit kam, hatten die Magistrate der Städte die Aufgabe, die vom preußischen Staat verordneten Korn-Ausfuhrverbote und die Einschränkung des Branntweinbrennens zu überwachen. Weil im Winter 1794/95 in der Grafschaft Mark die Brotpreise sprunghaft in die Höhe schnellten, griff die Not leidende Bevölkerung von Schwelm zur Selbsthilfe, indem sie Fuhrwerke mit Getreide überfiel, das trotz des Verbots in das nahe Bergische Land ausgeführt werden sollte: Die Kaufleute erhofften sich auf den dortigen Märkten noch höhere Erlöse als in der Mark.

Von einem dieser Überfälle gibt es im Archiv der Stadt Schwelm einen genaueren Bericht. Fünf „Rädelsführer“ wurden festgesetzt und angeklagt. Sie richteten daraufhin ein Bittgesuch an den preußischen König und baten um Milde, und dem kam der Regent sogar nach. Ihnen wurde unter anderem zugute gehalten, dass sie ja im Sinne eines königlichen Erlasses gehandelt hätten, wonach verbotenerweise ausgeführtes Getreide zu konfiszieren sei.

Die königliche Kriegs- und Domänenkammer in Hamm drängte zwar später auf ein scharfes Urteil, weil man revolutionäre Stimmungen wie im absolutistischen Frankreich fürchtete, doch der König lehnte eine Revision des Urteils ab. Zudem ordnete er an, aus den Heeresmagazinen die Hälfte des für die Truppen vorgesehenen Getreides an die Not leidende Bevölkerung im Herzogtum Cleve-Mark zu verteilen.

Solche Einzelmaßnahmen konnten an der fortschreitenden Verarmung weiter Teile der Bevölkerung im 19. Jahrhundert jedoch nichts ändern. Revolutionär wurde diese Entwicklung dann in den Hungerwintern der 40-er Jahre bis hin zur Revolution im Jahre 1848.

Heute haben wir keinen mílden König mehr, und auch eine Revolution ist nicht in Sicht. Oder?




Ins Getriebe der Wirtschaft blicken

Rot – Gelb – Blau. Rot – Gelb – Blau.

Der Künstler Andreas Siekmann hat immer und immer wieder dieselben Farben genommen. Auf jedem Blatt. Seine Bilder bringen wirtschaftliches Geschehen auf den Punkt. Vorsichtiger gesagt: Sie stellen in immer neuen Versuchsanordnungen die Frage, wie man dies sinnvoll bewerkstelligen kann. Sie ranken sich um ein Zeichensystem der Piktogramme und reihen sich wie Argumentations-Ketten, oft mit frappierender Folgerichtigkeit, zuweilen mit spielerischen Ausläufern. 223 Blätter sind auf exakt vermessenen und installierten Tischen zu sehen. Hie und da kreuzen sich ihre Fluchtlinien, als wären es die Gelenkstellen der gesellschaftlichen Debatte.

Siekmann zeigt seinen zeichnerischen Zyklus „Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (1996-1999), der in anderer Form bereits auf der documenta (2002) präsentiert wurde. Jetzt ist das prinzipiell endlos erweiterbare Konvolut als Leihgabe aus dem Museu d’Art Contemporani (Barcelona) ins Hammer Gustav-Lübcke-Museum gekommen.

Der 1961 in Hamm geborene Künstler lebt heute in Berlin. Er ist besonders auf der lateinamerikanischen und indischen Szene präsent, wo politische reflektierende und unterweisende Kunst noch keinen so schlechten Ruf hat wie hierzulande, wo man vor jedem Anflug von Pädagogik zurückschreckt. Doch Siekmanns Kunst bevormundet nicht. Er recherchiert und zeigt Resultate vor. Nur eben nicht in textlicher oder tabellarischer Form, sondern bildnerisch.

Sein zentrales, beängstigend zeitgemäßes Thema ist die Zurichtung des öffentlichen Raumes im Dienst der neoliberalen Ideologie. Sehr schlüssig und sinnlich nachvollziehbar führt er vor, wie die Städte zusehends privatisiert und kommerziell beherrscht werden. So ist etwa Frankfurt zum schnieken „Wohnzimmer“ im Schatten der allmächtigen Banken geworden. „Verdächtige“ Gestalten, die nicht in diese gründlich durchökonomisierte schöne neue Welt passen, werden per Überwachungs-Kamera als Bedrohung wahrgenommen und notfalls ferngehalten. Dafür stehen Fachkräfte bereit. Latente Gewaltsamkeit schwebt über den Szenerien, die nur beim allerersten Hinschauen harmlos wirken.

Produktionsschlachten, Arbeitskämpfe, Konzernfusionen und etliche weitere ökonomische Prozesse entfalten und verästeln sich auf den Blättern. Die eindringliche Sequenz namens „Ex und Hopp“ erläutert die allfällige Wert(e)vernichtung im laufenden kapitalistischen Wirtschaftsbetrieb.

Gelegentlich wird das gnadenlose Getriebe angehalten, und es kommen alternative Handlungsweisen in den Blick, auf dass das Ganze nicht fatalistisch erstarre, sondern Hoffnung übrig bleibe.

Man kann umhergehen, stehen bleiben und sich über die Tische beugen. Man kann sich aber auch auf Bürostühle setzen, damit geschäftig, seh- und wissbegierig zwischen den Bildern hin- und herrollen, was eventuell für komische Anblicke beim Ausstellungsbesuch sorgen könnte. Das ganze Arrangement hat etwas Lehrhaftes, erinnert (obwohl auf Tischen drapiert) an Wandzeitungen, Flugblätter oder Plakate – und ein wenig wohl auch an die Tafeln des Joseph Beuys. Kunst, über die öffentlich zu reden ist.

Ästhetisch greifen die Blätterreihen weit über Piktogramme oder Comic-Elemente hinaus – bis hin zur Abstraktion im Stile eines Mondrian oder Paul Klee. Man wird hier nicht mit simplen Schemata abgespeist.

Eine Spezialität für sich ist das verwaschene Blau in den Bildern. Es handelt sich stets um Blue Jeans, die sich als vielfältig besetztes Zeichen geradezu surreal selbstständig machen. Man glaubt ja nicht, was sich mit diesen Hosen alles illustrieren lässt! Siekmanns Phantasie ist dabei schier unerschöpflich.

Ganz bewusst bezieht sich Siekmann auf die Tradition der „Kölner Progressiven“ aus den 1920er Jahren. Bei Beuys hat er studieren wollen, doch dann ist er in die Klasse Ulrich Rückriems an der Düsseldorfer Akademie gekommen. Dessen eher minimalistische Skulpturenblöcke scheinen allerdings keinen Einfluss auf Siekmann gehabt zu haben, jedenfalls nicht an der sichtbaren Oberfläche. Vielleicht hat Rückriem einfach vorgelebt, wie man auf künstlerischen Wegen unbeirrbar bleibt.

Andreas Siekmann: „Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Bis 8. August, Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Die Ausstellung ist Teil des Ruhr2010-Projektes “Mapping the Region“.

Bild: Konsumüberwachung (Bild: Andreas Siekmann/Lübcke-Museum)




Klee und Feininger: Stilles Leuchten

Es steht ja schon in der Bibel: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Die ganze bildnerische Ideen- und Formenfülle liegt in jener Frühzeit bereit – und gleichzeitig liegen die Fertigkeiten noch brach.

Umso besser also, wenn begnadete Künstler irgendwann auf Kinder- und Kindheitsbilder zurückkommen, so auch Lyonel Feininger (1871-1956) und Paul Klee (1879-1940), die jetzt bei einer Doppelausstellung in Hamm ästhetische Dialoge auf höchstem Niveau führen.

Rund zehn Jahre haben sie parallel am berühmten Bauhaus in Weimar und hernach Dessau gewirkt – Feininger in erster Linie als technisch beschlagener Leiter der Druckwerkstätten, Klee vor allem als einfühlsam Lehrender. Nebenher schufen beide auch Spielzeug (Holzhäuser, Lokomotiven etc.) für den Nachwuchs.

In Bildern wie „Stadt mit Sonne“ (1921) hat sich der gebürtige US-Amerikaner Feininger, der damals schon reichlich Erfahrung mit Comic-Zeichnungen gesammelt hatte, ein kindlich anmutendes Raumschema anverwandelt, sprich: Die Dinge schweben neben- und übereinander, sie sind weder hierarchisch sortiert noch perspektivisch gestaffelt. Vor allem aber bringt Paul Klees oft so leichthändige, stille Freude an formalen Reduktionen Gegenstände zum innigen Erglühen – wie in unvordenklichen Kindertagen.

Ein Schwerpunkt der angenehm konzentrierten Ausstellung (insgesamt etwa 90 Exponate) sind Meeres- und Schiffsbilder. Feininger zog es häufig an die Ostsee , er begriff sich zeitweise gar als „Marinemaler“. Von duftiger, kühl umwehter Transparenz sind seine Segelschiff-Darstellungen. Der Künstler hat Anteile der einmal aufgetragenen Ölfarbe zuweilen wieder abgewaschen, so dass eine Art bleicher Schwerelosigkeit zurückbleibt. So vermag er es auch, Segelboote in Nebelschwaden als bloßen Hauch anzudeuten. Die Bildräume atmen oft ungeheure Weite. Es ist, als werde eine imaginäre Pforte in eine neue Dimension größter Ruhe aufgetan. Trotz kubistischer Aufsplitterung mancher Motive (speziell aus der Architektur) bleiben die kristallinen Gegenstände doch stets erkennbar.

Während Feininger ersichtlich auch etwas beflissen Akkurates hatte, kommt einem Paul Klees Vorgehensweise meist spielerischer vor, wie ein schöner, selbstvergessener Tanz von Kräften und Gegenkräften. Seine Bilder sind um einige Spuren anekdotischer, erzählerischer, sanft getragen von feinnervigem Humor – und letztlich vielleicht doch weniger „kontrolliert“ als Feiningers Schöpfungen.

Gewiss: Auch Klee ist mit Farbtheorien, mathematisch-musikalischen Rhythmuslehren und sonstigem Kunstwissen aus dem Baukasten der Historie genugsam gewappnet und gesättigt, doch verliert er sich „unterwegs“ im Schaffensprozess oft ins wundersam Beiläufige, bis hin zu dem Punkt, an dem es wohl gar keinen Vorbehalt oder Rückhalt mehr gibt.

Sie mögen einander geistig nah gewesen sein, doch der gegenseitige Einfluss war begrenzt. Feininger und Klee wussten je für sich, was sie wollten und konnten. Mit großer Wertschätzung nahmen sie die unvergleichliche Arbeit des jeweils Anderen wahr. Auch schenkten sie einander gelegentlich Bilder. Doch letztlich zog jeder seine ganz eigene Bahn.

„Lyonel Feininger – Paul Klee. Malerfreunde am Bauhaus“. Bis 24. Mai. Gustav-Lübcke-Museum. Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Geöffnet Di-Sa 11-18, So 10-18 Uhr. Katalog 19,90 €.




„Mao und die 100 Blumen“: Der Diktator mit dem ewigen Lächeln – Chinese Ren Rong zeigt seine Bilder in Hamm

Hamm. Sieht aus wie ein Palmzweig des Friedens, was da aus dem Mund des chinesischen Diktators Mao ragt.Dazu lächelt der Despot milde und zukunftsgewiss.

Um das Mindeste zu sagen: Solche Bilder des deutsch-chinesischen Künstlers Ren Rong können sehr mulmige Gefühle hervorrufen. Mao hatte schließlich einige Millionen Menschenleben auf dem Gewissen. Und nun diese aufgewärmte Propaganda?

„Mao und die 100 Blumen“ heißt die Ausstellung im Hammer Gustav-Lübcke-Museum. Der Titel folgt einer Kampagne des „Großen Vorsitzenden“ aus dem Jahr 1956, welche die vielfach blutige Kulturrevolution im Reich der Mitte ausgelöst hat.

Der 1960 geborene Ren Rong scheint dem Mythos Mao recht naiv aufzusitzen. Die Bildnisse des Machthabers erinnern von fern her an Andy Warhols herzlich unpolitische Prominenten-Porträts, aber natürlich auch an kommunistische Propaganda-Plakate, die in den späten 1960er Jahren bei nicht wenigen westlichen Studenten „Kult“ waren.

Und was fügt der Künstler hinzu? Er hinterlegt die Bilder beispielsweise mit traditionellen chinesischen Mustern. Er collagiert sie mit Familienfotos. Er verziert sie mit floralen Ornamenten oder mit seinem „Markenzeichen“: den so genannten „Pflanzenmenschen“, die sich auch als Metallskulpturen im Museum wiederfinden. Die über einige Bilder gezogene Wachsschicht verstärkt den Eindruck: Gar manches wirkt geglättet, hübsch, dekorativ. Kein Wunder, dass der Kunstmarkt darauf anspricht, erst recht im Vorfeld der Olympischen Spiele und weil China derzeit ohnedies „angesagt“ ist.

Mao zeigt bei Ren Rong in allen Situationen und Lebensphasen ein fröhliches Gesicht; ganz egal, ob herrscherlich allein oder zwischen gleichfalls frohen Kindern. Mit den pflanzlichen Beigaben versehen, erscheint sein Tun und Trachten einerseits auf fatale Weise als naturwüchsig. Doch man könnte in dem Verfahren auch eine klitzekleine, unbekümmerte Respektlosigkeit erblicken. Wirkt Mao da nicht hin und wieder ein wenig lächerlich? Zumal die Formen als Vertiefungen eingeritzt sind und somit Maos Oberfläche „beschädigen“. Aber das Letztere muss man sich schon etwas mühsam zurechtdeuten.

Nach seinen Ansichten zu Mao (und Adolf Hitler) sollte man Ren Rong lieber nicht befragen. Er gibt da reichlich krauses Zeug von sich – bei aller wohlmeinenden Würdigung der kulturellen Unterschiede. Es bewahrheitet sich hier abermals Goethe: Spruch: „Bilde Künstler, rede nicht.“

Seltsam genug, wenn Ren Rong seine Arbeitsweise auf deutsche Motive anwendet. Da sieht man beispielsweise den Bundestag und das Brandenburger Tor, in ähnliche Formen eingebettet wie zuvor Mao. Oder eine geisterhafte Flotte von Lufthansa-Flugzeugen – und im Vordergrund just Umrisse von weißen „Pflanzenmenschen“, gleichsam im Fluge erhascht. Vieldeutig ihre Gestik mit erhobenen Armen: Doch auch hier hat wohl hohle „Fortschritts“-Propaganda Pate gestanden. Sie wird hier ins halbwegs Witzige gewendet. Ideologie war gestern…

Ren Rong: „Mao und die 100 Blumen“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstr. 9. Bis 17. August. Di bis Sa 11 -18, So 10-18 Uhr. Katalog 19,90 Euro

(Der Beitrag stand am 19. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Paarbilder: Das Glück und seine Grenzen

Hamm. Diese Ausstellung beginnt buchstäblich mit Adam und Eva. Warum denn auch nicht? Schließlich geht es um Paare in der Kunst.

Max Beckmanns Radierung von 1917 zeigt das biblische Ur-Paar nach der Vertreibung aus dem Paradies – in schutzloser, gar nicht lustvoller Nacktheit. Es waren Zeiten des Krieges. Auch Peter August Böckstiegels Gemälde „Abschied” (1915) zeugt davon. Der Maler war soeben zum Militär einberufen worden, seine Frau schmiegt sich zum bangen Abschied noch einmal an ihn – geradezu grünlich erbleicht.

„Liebe. Love – Paare” heißt die Schau im Hammer Gustav-Lübcke-Museum; ganz so, als hätte man drei starke Wortsignale zugleich aussenden wollen. Jedenfalls stehen große Namen im Katalog, beispielsweise Emil Nolde, Edvard Munch („Eifersucht”) und Andy Warhol (Siebdruck „The Kiss”, 1963).

Signale der
sexuellen
Verfügbarkeit

Die Streifzüge durch Paarwelten führen durch sehr verschiedene seelische „Klimazonen”. Hie Max Pechsteins ungezwungene, recht freizügig erträumte Südsee-Szenerie (1921), dort Rudolf Schlichters etwas schwüle Impressionen aus der lesbischen Subkultur Berlins („Tanzlokal”, 1920). Hie George Grosz‘ sarkastische Karikaturen fetter Geldsäcke im Bordell, dort die ausgemergelten Proletarier, die ihr allzu kurzes Glück vor dem Fabriktor auskosten wollen. Selbst die größte Liebe ist gesellschaftlich mitgeprägt. Just gegen solche Zustände begehren viele Künstler im Namen der Natur auf.

Alle Fährnisse und Untiefen der (ehelichen) Verbindungen finden ihren bildlichen Ausdruck. Bei Frank Kupka („Der Traum”, 1906/1909) schwebt das Paar in schier grenzenlosen Glücksgefühlen, bei Magnus Zeller („Liebespaar”, 1919) herrscht bereits gemeinsame Alltags-Erschöpfung vor. Im ernüchterten Stil der Neuen Sachlichkeit schuf Jan Oeltjen 1927 sein „Selbstbildnis mit Elsa”. Im grellroten Kleid drängt seine Gefährtin nach vorn, er bleibt mit irritiertem Gesichtsausdruck im Hintergrund. Sie war Bildhauerin, er Maler – und sie konkurrierten beruflich. Es soll eine schwierige Ehe gewesen sein. Wer dieses Bild ansieht, kann es schmerzlich ahnen.

Spätestens seit den 1960er Jahren wachsen grundsätzliche Zweifel an haltbaren „Beziehungen” – zuerst in den seismographischen Künsten. Beim Pop-Artisten Richard Lindner gerinnt das Paar-Universum zur grellen, sexuell aufgeladenen Signalwelt der Fetische – im Zeichen allseitiger Käuflichkeit und Verfügbarkeit in der Warenwelt. Andy Warhol zeigt den Moment vor dem Kino-Kuss als Bildstörung, Roy Lichtenstein das Comic-Klischee vom Liebesweh. Jedes Gefühl ist nur indirekt vorhanden, als medial vermittelter Abklatsch.

Letzte Ausläufer der Auswahl ragen, etwa mit (Foto)-Arbeiten von Anna und Bernhard Blume oder Rosemarie Trockel, bis in die Gegenwart. Es sind vor allem mehr oder weniger ironische Inszenierungen von Zweisamkeit. Doppelbödiges, hintersinniges Spiel der Täuschungen. Aber auch verzweifelte Versuche, zu den Ursprüngen zurückzufinden. Bis dahin herrscht einstweilen viel Verwirrung. Nur eins ist gewiss: Die Sehnsucht höret nimmer auf.

„Liebe. Love – Paare”. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9). Bis 1. Juni. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 6 €, Katalog 29,90 €.




Transportmittel, Kampfmaschine und Statussymbol – Ausstellung „Pferdeopfer – Reiterkrieger“ in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Pferde haben den Menschen europäischer Breiten schon seit der Altsteinzeit begleitet. Doch gezähmt wurden diese Tiere wohl erst um 2000 vor Christus. Episoden aus der langen Zwischenzeit erzählt jetzt eine archäologische Ausstellung in Hamm.

Die ältesten Funde der recht sparsam bestückten Schau sind rund 400 000 Jahre alt. Relikte von einem Rastplatz steinzeitlicher Jäger belegen, dass Pferde anfangs vor allem als Nahrung gedient haben. Lanzen, die man in Hamm zu sehen bekommt, gelten als weltweit älteste Waffen überhaupt. Damit also hat das ganze Elend begonnen.

Im Laufe der Prähistorie erging es den Pferden etwas besser: Sie wurden sogar vielfach als magische Wesen verehrt. Freilich: In solchen Zusammenhängen wurden sie oft auf Altären geopfert – und nunmehr bei kultischen Ritualen verzehrt. Aus germanischer Zeit sind viele Pferdeskelette erhalten. Die Ausstellung hat ihre Gruseleffekte.

In Schiefer geritzte Pferde-Silhouetten aus Gönnersdorf/ Eifel sind hingegen so hauchzart, dass sie erst als Bleistift-Abrieb auf Papier vollends sichtbar werden. Sie zählen zu den frühesten „Kunstwerken“ der Menschheit.

Vor rund 4000 Jahren vollzog sich die Zähmung der wilden Tiere. In der Folgezeit begann die Geschichte des Reitens und Fahrens mit Pferden. Ehedem hatten Rinder die Wagen gezogen, nun kamen Rösser an die Reihe. Übrigens: Im Norden blieben die Achsen starr, im Süden drehten sie sich mit ,dem Rade. Kann man daraus landsmannschaftliche Schlüsse ziehen?

Zaumzeug als imposantes Blendwerk

Hört sich so an, als hätte der Mensch damals endlich Vernunft im Umgang mit dem Pferd angenommen. Nichts da! Denn nun wurden die gerade mühsam gezähmten Gäule eben auch kriegerisch eingesetzt. Ein altrömisches Grabmal mit dem Bildnis eines Reiterkriegers zeugt davon. Von grimmigen Hunnen und vom ritterlichen Mittelalter ganz zu schweigen.

Belege hat Hamm (Kooperation mit dem Bremer Focke-Museum und der Krefelder Burg Linn) vor allem aus dem norddeutschen Raum bekommen, so das bronzene Rad eines Kultwagens aus Stade (um 870 v. Chr.). Manchmal muss man sich mit Rekonstruktionen behelfen. Ein Spitzenstück wie den „Sonnenwagen von Trundholm“ (Dänisches Nationalmuseum Kopenhagen) kann man nicht ausleihen, hier muss ein getreuliches Modell herhalten. Manche Nachbildungen haben wiederum wissenschaftlichen Charakter: Sie wurden eigens angefertigt, um praktisch zu erproben, wie gefundene Dinge (Sättel, Sporen, Zaumzeug) funktioniert haben.

Schließlich das Kapitel „Pferde als Statussymbole“. Es reicht von Adel und gehobenem Bürgertum bis zur heutigen Freizeitgesellschaft. Das güldene, mit Halbedelsteinen verzierte Zaumzeug eines Fürsten von Krefeld ist fürwahr imposantes Blendwerk. Manche müssen eben zeigen, wie wichtig sie sind.

Pferdeopfer – Reiterkrieger. Fahren und Reiten durch die Jahrtausende. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm (Neue Bahnhofstr. 9). Bis 29. Juli. Di bis So 10-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, Begleitbuch 22 Euro.




Wenn das Gebirge kippt, gerät die Wohnung ins Rutschen – Werke des berühmten Briten David Hockney in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Wie kommt Hamm zu einer Ausstellung des berühmten David Hockney? Man pflegt die passende Städtepartnerschaft.

Seit nunmehr 30 Jahren ist Hamm mit dem englischen Bradford verbandelt. Just dort wurde Hockney 1937 geboren. Unter Partnern – noch dazu im Jubiläumsjahr – leiht man großzügiger aus.

In Bradford befinden sich umfangreiche Bestände des selten gezeigten Hockney-Frühwerks um 1955. Der Künstler, der mit fleißigen Anatomie-Studien (Schädel, Skelette) begonnen hatte, malte damals recht konventionell. Doch die Stimmung seiner frühen Ölbilder nimmt einen gefangen. Es sind melancholische, vollkommen ereignislose Stillstands-Momente aus der englischen Provinz. Leere Augenblicke dehnen sich wie Ewigkeiten.

Diese Bilder sind ein Kernthema der Schau. Außerdem liegt einiges Gewicht auf graphischen Zyklen. Unter anderem hat Hockney Motivstränge von Picasso, William Hogarth (Schurken-Geschichte „The Rake’s Progress“) sowie dem griechischen Dichter Konstantin Kavafis aufgegriffen. Und er hat Märchen der Gebrüder Grimm („Fundevogel“) eigenwillig „illustriert“: Da nimmt die Magie einfacher Gegenstände Gestalt an.

Sprung ins grelle Jetzt von Swinging London

Zu Beginn der 1960er Jahre springt Hockney sozusagen aus dem späten 19. Jahrhundert geradewegs ins grelle Jetzt von Swinging London. Auf einmal sind Dinge und Farben geborsten und zerstoben. Aber man kann die realen Ursprünge dieser furiosen Zeichen noch erkennen. Zusehends gibt Hockney das Versteckspiel mit seiner Homosexualität auf, die in den frühen 60ern noch strafbar war. So tauchen Worte wie „Queer“ oder „Queen“ als Signale für die schwule Szene anfangs nebelhaft, später plakativ in den Bildräumen auf. Schließlich entstehen ganze Serien zur Männerliebe.

Hockneys Übersiedlung ins sonnige Kalifornien belebt die Farbpalette. Keine Angst mehr vor jedweder Buntheit. Hier entstehen auch sattblaue Swimmingpool-Bilder. Eines ist in Hamm zu sehen, es besteht aus gepresstem Papierbrei. Erfasst ist der dynamische Moment des Sprungs ins Wasser: Platsch!

Postmoderne avant la lettre

Hockney ist geradezu berüchtigt für ungeheuren Stilpluralismus. Er meint, man dürfe sich stilistisch nach Belieben in der Historie oder bei Zeitgenossen bedienen. Er ist „postmodern“, bevor der Begriff marktgängig wird. Auf ein und demselben Hockney-Bild finden sich oft verschiedenste Ansätze zwischen Zentralperspektive und flächigen Ornamenten. In dicht gedrängter Nachbarschaft wird das Formenvokabular bis hin zum Comic buchstabiert. Bisweilen ist’s vertrackte Kunst für Kenner.

In solch simultanen Puzzle-Ansichten findet das Auge des Betrachters keinen eindeutigen Halt, es irrt ruhelos zwischen den diversen Aspekten hin und her. Ein Wohnungs-Interieur gerät dabei ins Rutschen, und ein grandios gemalter Gebirgs-Ausschnitt des Grand Canyon kippt zwischen Fern- und Nahsicht hin und her. Die Welt als unruhige, nervöse Vexierbild-Collage ohne festen Standpunkt.

Manche Bilder wirken eh schon wie flirrende Auftritte. Kein Wunder, dass Hockney nebenher als Bühnen- und Kostümbildner fürs Theater gearbeitet hat. Hamm zieht auch dafür den Vorhang auf.

2. April bis 2. Juli im Gustav Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstr. 9. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, Katalog 24,90 Euro.




Im Kosmos der Farben und Formen – Vier Museen würdigen Fritz Winter

Von Bernd Berke

Cappenberg/Hamm/Ahlen. Es grenzt an ein biographisches Wunder: Da ist jemand in den 1920er Jahren Grubenelektriker auf der Ahlener Zeche „Westfalen“ und notiert: „Keinen Strahl Sonne – so ist im Augenblick mein Leben.“ Dann aber bewirbt er sich als Kunstschüler beim berühmten Bauhaus in Dessau. Mit Erfolg. Kein Geringerer als Paul Klee ist der Fürsprecher.

Der erstaunliche Mann heißt Fritz Winter und wird später zu den prägenden Gestalten der abstrakten westdeutschen Nachkriegskunst gehören. Am 22. September 1905, also vor fast 100 Jahren, wurde Winter in Bönen (Kreis Unna) geboren. Es wäre fahrlässig, würde man dieses Datum in Westfalen nicht museal begehen. Nun geschieht’s massiv: Vier Häuser in Cappenberg (Schloss), Hamm (Lübcke-Museum) und Ahlen (Kunstmuseum, Fritz-Winter-Haus) zeigen insgesamt rund 300 Arbeiten aus allen Werkphasen. Welch eine Fülle!

Jungenhaft frech und zu jedem Jux aufgelegt – so soll Winter gewesen sein, als er beim Bauhaus anfing. Aber er lässt sich von Meistern wie Klee, Schlemmer und Kandinsky bereitwillig in höhere Sphären der Kunst einweihen. Fleißige Notizen aus den Kursen zeugen davon.

Inspiration durch Bauhaus-Meister

Den Part des Frühwerks hat das Museum in Hamm übernommen. Vielfach sind hier noch Paul Klees fruchtbare Einflüsse spürbar. Es gibt anfangs noch figürliche Anklänge, doch schon bald entfaltet sich eine Bildwelt, die mit ihren Energiefeldern kosmischen Dimensionen zustrebt. Ein weites, weites Feld mit langen „Versuchsreihen“. Ästhetische Leitschnur ist der Formenreichtum der Natur. Winter begreift Kunst als „zweite Schöpfung“. Erfindungen wie Mikroskop und Teleskop erschließen neue Ansichten der Kreatur – im Großen und Kleinen.

Günstiger Umstand: Die parallele Hammer Schau über „Bauhaus und Esoterik“ (die WR berichtete) lädt zum Vergleich ein. Auch bei Winter gibt es ja einen gewissen Hang zum Metaphysischen.

Ortswechsel: Im Ahlener Fritz-Winter-Haus sind Werke aus finsteren Zeiten zu sehen. Auch Fritz Winter wird von den Nazis als „entartet“ verfemt. Er hält sich innerlich aufrecht, so mit Bildvisionen über „Triebkräfte der Erde“.

Nach dem Krieg und russischer Gefangenschaft kehrt Fritz Winter 1949 zurück. Ein Schaffensrausch zieht ihn sogleich ins Atelier. „Sehr aktiv“ heißt ein typisches Bild. Nun also beginnt seine Blütezeit, deren vielfach erhebende Resultate im Schloss Cappenberg ausgebreitet werden.

Rückzug in die Innenwelt

Gewiss: Manches aus den 50er Jahren wirkt heute auch zeitbehaftet und ist nicht mehr schrankenlos „gültig“. Doch es finden sich hier zahlreiche Gemälde von wunderbar schwebender Transparenz und Farbmagie. Naturerscheinungen lösen sich in reinste Strukturen und Urformen auf, Titel wie „Bewegung der Gräser“ oder „Pflanzliches Gewebe“ lassen es ahnen. Nur eine „Konstruktion schwarz“ wirkt wie eine ferne Reminiszenz an Zechentürme.

Ahlens Kunstmuseum widmet sich dem oft vernachlässigten, innig strahlenden Spätwerk des 1975 gestorbenen Winter. Kein abrupter Bruch, doch allmählicher Rückzug und Revision des Erreichten. Fließende, dann scharfkantige Farbfelder bestimmen diese Phase – und kalligraphische Zeichen. Natur bleibt nun im Hintergrund. Es geht um das Bild als Bild, um intime Innenwelten.

• Alle vier Ausstellungen ab 11. September. Cappenberg: Schloss bis 29. Januar 2006 / Hamm: Lübcke-Museum bis 20.Nov. /Ahlen: Fritz-WinterHaus und Kunstmuseum, jeweils bis 8. Jan. 2006. Gemeinsamer Katalog 27 Euro. Internet: www.fritz-winter.de




Wenn Mythos und Naturkunde sich vereinen – Hamm zeigt Informel-Sammlung Lückeroth als Schenkung

Von Bernd Berke

Hamm. Die Kunst des so genannten „Informel“ findet in Westfalen immer mehr museale Heimstätten: Jene gestisch bestimmte, oft gar nicht so „formlose“ Abstraktion der Nachkriegsjahre hat ihren Hort ohnehin schon in Dortmund und Witten, vielleicht ja irgendwann auch in Hagen (Stichwort: Schumacher-Museum). Und nun reiht sich das Gustav Lübcke-Museum in Hamm noch selbstbewusster als bisher in die Phalanx ein.

Glücklicher Umstand: Das finanziell nicht gerade auf Rosen gebettete Haus hat eine Schenkung mit 164 Bildern erhalten. Sie stammt aus dem Nachlass des Kölner Malers Jupp Lückeroth (1919-1993). Im Brotberuf Mathematiker bei einer Versicherung, hat Lückeroth über Jahrzehnte hinweg durch Tausch oder Kauf Bilder anderer Künstler erworben – aus kollegialer Bewunderung und zur eigenen Inspiration. Lange war die Kollektion im süddeutschen Raum zu sehen, dann gaben passender Eigenbesitz und gute Kontakte den Ausschlag für Hamm.

Kunstrichtung mit weitem Horizont

Jetzt zeigt das Museum ein erstes Konvolut von 103 Bildern des Zuwachses. Man erfährt, wie viele verschiedene Impulse mit dem Etikett „Informel“ versehen worden sind. Die Geburtsjahrgänge der Künstler reichen von 1889 bis 1930, so dass die biographischen Hintergründe ebenso heterogen sind wie Temperamente und Techniken.

Bekannte Namen sind in der Sammlung vertreten: Wols, Emil Schumacher, K. O. Götz, Bernard Schultze, Fred Thieler. Doch es sind auch etliche Künstler dabei, die vom manchmal darwinistischen Markt in die „zweite Reihe“ gestellt wurden, darunter Lückeroth selbst. So bekommt man einen recht breiten Überblick zur Szene, die sich seit Beginn der 50er Jahre vor allem an Rhein und Ruhr gruppierte.

Das Informel ist also ein weites Feld mit großem Deutungs-Horizont. Zuweilen finden sich durchaus noch gegenständliche Elemente, so etwa in Lückeroths „Holzrhythmus“, der farblich und strukturell gleich an Bäume denken lässt. Der studierte Mathematiker und Physiker befasste sich eingehend mit Einsteins Relativitätstheorie oder Entwicklungen wie dem Elektronenmikroskop, das eine ganz neue Sicht auf die Dinge erlaubte.

Zellhaufen und magnetische Felder

Manche Bilder wirken tatsachlich wie Zellhaufen, Zeit-und-Raum-Durchbrüche oder magnetische Kraftfelder. Die Serien der reliefartigen „Wellenbilder“ greifen bei Wattwanderungen entdeckte Spuren im Schlick, Jahresringe im Gehölz oder fossile Abdrücke im Gestein auf. Das Naturkundliche und das Mythische werden hier mitunter eins.

Lückeroth sammelte bevorzugt Bilder von Geistesverwandten, die oftmals im Surrealismus aufbrachen, durch die Passagen des „Informel“ gingen und teilweise bei strenger Geometrie ankamen. Derlei Ausprägungen und Überschreitungen machen die Schau bis ins Detail interessant. Zumeist sind es kleinere „Wohnzimmer-Formate“, in den bescheidenen 50er Jahren noch weithin üblich. Dennoch muss man sich Lückeroths Haus mit all diesen Werken nachträglich als wahre „Bilderhöhle“ vorstellen. Im Museum, aus dem Zusammenhang eines Lebens genommen, hängen die Werke nobel auf Abstand.

„Frühes deutsches Informel – Sammlung Lückeroth“. Hamm, Gustav Lübcke-Museum. Neue Bahnhofstraße 9. Bis 13. März 2005. Geöffnet Di-So 10-19 Uhr.




Wildwuchs der Schöpferkraft – Werkschau über Antonius Höckelmann in Hamm und Beckum

Von Bernd Berke

Hamm/Beckum. Hier herrscht selten Stillstand, sondern meist kreisende, voran stürmende oder auch abwärts strebende Bewegung. Im Kosmos des zweifachen documenta-Teilnehmers Antonius Höckelmann (1937-2000) geht es fast durchweg brodelnd dynamisch zu.

Selbst auf dem Bildnis eines Golfers scheinen die starken Farben in alle Richtungen zu spritzen – ganz so, als tobe sich m dieser doch eher gemächlichen Sportart eine Action ohnegleichen aus. Erst recht gilt der Befund für Höckelmanns aufgewühlte Turf-Bilder: Pferderennen als Ereignis aus purer Bewegungs-Energie. Und bei Betrachtung g des wüsten Farben-Gewoges auf einem Kneipen-Gemälde bekommt man fast einen „Drehwurm“ wie nach dem x-ten Glas Pils.

Grell lacht Judith über Holofernes

Eigentlich wollte das Hammer Gustav Lübcke Museum eine Ausstellung zum 65. Geburtstag Höckelmanns ausrichten. Vor zwei Jahren verstarb der Künstler mit 63, so dass man seiner nun posthum gedenkt. Der breite Überblick (mehrdeutiger Titel: „Passionen“, was Leiden und Leidenschaft bedeuten kann) umfasst nun rund 80 Bilder und Skulpturen und wird ergänzt um kleinere Arbeiten, die zeitgleich im Stadtmuseum Beckum zu sehen sind. Überdies zeigt Hamm Foto-Strecken von Benjamin Katz, der Höckelmann sogar auf dem Krankenbett ablichten durfte.

Vereinte westfälische Kräfte also. Grund: Höckelmann stammte aus der Region. 1937 in Oelde geboren, ging er 1957 zum Studium bei Karl Hartung, dem großen Plastiker der Informel-Ära, nach Berlin. Doch es gab noch einen früheren, für die avancierte Kunstszene untypischen Einfluss. Höckelmann hatte in Oelde einem „Hergottsschnitzer“ über die Schulter geschaut. Viele Jahre später finden sich thematische Spuren, etwa im nahezu „naiv“ angelegten Lindenholz-Relief „Sündenfall“ (1988/91) mit kanariengelber Paradiesschlange und einem über Adam und Eva grollenden, bärtigen Gottvater.

Doch auch das wilde Reitervolk der Skythen hat Höckelmann inspiriert, etwa zu archaisch anmutenden Skulpturen blutverschmierter Opferstätten. Es sind Objekte, die fremd in unsere vermeintlich rationalen Zeiten hinein ragen. Ähnliches gilt für verknotete Mischwesen, die gelegentlich monströse Zähne oder Zungen vorzeigen, für bizarre Stuhl-Gewächse oder die biblische, grell lachende Judith mit dem abgeschlagenen Kopf des Holofernes – hier vielleicht eine finale Szene aus den laufenden Geschlechterkämpfen.

Am Anfang war die schiere Schöpferkraft, die einzelnen Themen haben sich wohl erst sekundär daraus ergeben. Oft scheint es, als habe Höckelmann mit bloßen Händen in den Urgründen wilden Wachsens und Werdens gewühlt: Hier wurde etwas ungestüm begonnen, dort etwas (scheinbar unvollendet und regellos) liegen gelassen.

Gesamtkunstwerk für eine Kneipe

Der herkömmliche Werkbegriff trifft hier nicht zu. Manches scheint unfertig, doch ist es vollendet. Ein untrüglicher Instinkt hat dem Künstler eingeflüstert, wann der Form Genüge getan war. Vitalität und Lebensnähe gingen Höckelmann über alles. Lieber als in schicken Ateliers betätigte er sich in Hinterhöfen, lieber als im Museum hätte er im Metzgerladen ausgestellt.

Einmal hat er eine Kölner Kneipe mit seinen hängenden Plastiken ausgestattet. Das Gesamtkunstwerk blieb leider so nicht erhalten, ein neuer Pächter ließ es entfernen. Die Einzelteile liegen heute irgendwo verpackt. Wie gut sich diese und andere Arbeiten halten werden, steht noch dahin: Konservatoren haben wenig Erfahrung mit Materialien wie Styropor und Alufolie.

Gustav Lübcke Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9). 1. Dez. bis 9. März 2003. di-so 10-18 Uhr / Stadtmuseum Beckum (Markt 1) di-so 9.30-12.30, sa 15-17 Uhr. Katalog 14,90 Euro.




Das Leben ist wie ein bleicher Traum – Hamm zeigt Heinrich Vogelers Frühwerk im Umkreis des Jugendstils

Von Bernd Berke

Hamm. „Schöner wohnen – edler leben“. Dieser Slogan könnte für die neue Ausstellung im Gustav-Lübcke-Museum werben. Der umfassende Überblick zum Frühwerk des Heinrich Vogeler (1872-1942), konfrontiert mit Schöpfungen anderer Künstler aus dem Jugendstil-Umkreis, wirkt wie die Feier eines stilvollen, aber auch bis zur Erstarrung stilisierten Lebens.

Vogeler, begütert aufgewachsener Bremer Kaufmannssohn, bewies – als Maler, als Architekt, mit Alltags-Entwürfen – einen Hang zum Komfort. Der hochbegabte Autodidakt betätigte sich als umtriebiger Universalkünstler. Vom Mobiliar bis zum Besteck, von der Buchillustration bis zum Schmuckstück erstreckte sich sein weites Feld.

Der Zeitgeist zur letzten Jahrhundertwende wollte es so: Man verabschiedete sich vom Historismus und griff (statt auf die Geschichte) lieber auf natürliche Formen zurück. Zumal aus dem reichen Repertoire der Pflanzenwelt erwuchsen die typischen Ornamente des Jugendstils. Einem solchen Bildvokabular konnten sich weder Vogeler noch Peter Behrens oder Henry van de Velde ganz entziehen. Die beiden Letzteren fanden freilich, wie die Ausstellung zeigt, alsbald zu funktionaleren Formen.

Auf drei Etagen verteilen sich die rund 300 Exponate in Hamm: Im Erdgeschoß findet man Malerei, im ersten Geschoß „Design“ und ganz oben Belegstücke zum architektonischen Schaffen.

Traumzeit regiert in der malerischen Abteilung: Hier sieht man sich satt an blumig umrankten, oft ätherisch oder gar etwas mondsüchtig dreinschauenden, zarten jungen Frauen. Diese bleichen, beinahe transparenten Wesen blicken in die Welt, als könnte ihre unnennbare Sehnsucht sie im nächsten Moment himmelwärts davontragen.

Märchenhaftes Mischwesen aus Fee und Fisch

Prägnantes Beispiel ist „Melusine“ (um 1910), dreiteiliges, an einen Altar gemahnendes Prunkbild: Ein Mädchen – halb Fisch, halb Fee – thront traumverloren inmitten einer märchenhaften Naturkulisse. Kitschverdächtig monumental, füllt das symmetrisch aufgebaute Gemälde „Sommerabend“ (1905) eine Wand. Hier gefriert weltenthobenes Dasein zwischen Flora und musikalischer Ergötzung zur vollends idyllischen Szenerie.

Mit seinen zwei Ehen hatte Vogeler wenig Glück. Frauen aus Fleisch und Blut konnten schwerlich dem hehren Ideal genügen, das in solchen Bildern aufscheint. Gelegentlich streifte Vogeler weiblichen Modellen gleich ein „Reformkleid“ über, auf daß sie seine Weltsicht rein verkörperten. Eine Männerphantasie, wenn auch eine sanftmütige.

Die schönsten Blüten trieb seine Kunst der Buchillustration. Der mit dem Dichter Rilke befreundete Vogeler schuf vor allem für die Insel-Bücherei wundervolle Zierden und Girlanden rund um die Literatur. Über erstaunlich zweckmäßige, weit weniger verspielte Möbel und Alltagsgegenstände arbeitet sich der Besucher zum architektonischen Rüstzeug Vogelers vor. Regionaler Bezug: Für den Hammer HNO-Arzt Emil Löhnberg, einen Anhänger der Gartenstadt-Bewegung, entwarf Vogeler ein schmuckes Fachwerk-Sommerhaus im sauerländischen Willingen, dessen Grundzüge heute noch als Flügel eines Hotels erhalten sind.

Angesichts der Hammer Schau ist es kaum zu glauben, daß Vogeler in den 30er Jahren nach Moskau zog, wo er zu einem Vorläufer des unsäglichen „Sozialistischen Realismus“ wurde. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Gustav-Lübcke-Museum, Hamm (Bahnhofstraße 9). 25. Oktober bis zum 10. Januar 1999, tägl. 10-18, mittwochs 10-20 Uhr. Eintritt 10 DM. Katalog 49 DM.




Betrübt vom Lauf der Welt – Lübcke-Museum in Hamm zeigt Karl Hofers Bilder aus der Sammlung Deyhle

Von Bernd Berke

Hamm. In der Mitte des Bildes steht der Künstler, ganz auf sich allein gestellt, die Hände zum Selbstschutz erhoben, aber eigentlich hilflos. Denn ringsum drohen maskenhafte Fratzen. „Selbstbildnis mit Dämonen“ hat Karl Hofer (18781955) diese Arbeit genannt. Und wahrlich: Er hat zeitlebens dämonische Erfahrungen machen müssen.

Die vielfältige Hofer-Werkauswahl, die jetzt in Hamm zu sehen ist, stammt aus der Sammlung des jüngst in Finanzprobleme geschlitterten Musical-Magnaten Rolf Deyhle, dem freilich das Land Baden-Württemberg just mit einer sicher hilfreichen Kreditbürgschaft zu Diensten war.

Zurück zum weniger lukrativen Leben des Künstlers Karl Hofer: Unglücklich verlief schon seine Kindheit. Kaum war er auf der Welt, starb sein Vater. Die Mutter verarmte und mußte als Haushaltshilfe ihr Dasein fristen. Bald konnte sie sich um den Sohn nicht mehr kümmern, und er kam ins Waisenhaus.

Auch nach dem Krieg ein Außenseiter

Zwar konnte er als junger Mann mit Hilfe von Mäzenen Kunst studieren, ja, er etablierte sich bis Ende der 20er Jahre als Meister der „Neuen Sachlichkeit“ und honoriger Akademie-Professor. Doch dann griffen die Nazis nach der Macht. Die Bilder Hofers, der schon 1931 vor dem heraufziehenden Unwesen gewarnt hatte, wurden als „entartet“ verfemt. 1936 malte er einen Hungernden, der verzweifelt an einem mageren Knochen nagt. Ein krasses Armuts-Zeugnis – und somit im „Dritten Reich“ mehr als mißliebig.

Nach dem Krieg, als nahezu alle Kunstwelt der Abstraktion frönte, geriet Hofer erneut in eine heftig befehdete Außenseiterposition, denn vom realistischen Abbild des Menschen und der Dinge hat er sich nie verabschiedet.

Kein Wunder, daß man vorwiegend freudlose Bilder zu sehen bekommt. Auch wenn Hofer Liebespaare oder Gruppen darstellt, wirken die Menschen seltsam vereinzelt. Nie schauen sie einander an, die Blicke irren betrübt ins Leere.

Von 1907 bis 1954 reicht die Auswahl der 66 Werke. Schon das früheste Ölbild, ein nackter „David mit der Schleuder“, kündet von Entfremdung: David steht nicht wirklich in der Landschaft, sondern davor wie ausgestanzt, von der Natur abgestemmt. Später sind die Figuren oft von knittrigen Höhlen-Formationen umgeben, aber nicht wohlig umhüllt, sondern ins schmerzliche Alleinsein gestellt.

Bildnis zweier sanftmütiger Schwestern

Für Hofers Verhältnisse ungewohnt idyllisch und delikat gemalt sind manche Landschaftbilder aus dem Tessin, doch eines läßt aufmerken: Da hat Hofer einen Bauzaun vors schöne Panorama plazierte. Die heile Welt ist abgeriegelt. Fast schon eine Vorform ökologischen Unbehagens.

In vielerlei Stilrichtungen hat sich Hofer umgetan. Die Bildnisse badender Mädchen lassen Einflüsse von Paul Cezanne ahnen, die Stilleben der 20er Jahre sind gewiß nicht ohne Kenntnis des Kubismus entstanden. Behutsame Auflösung plastischer Körper in Farbflächen war freilich schon das Höchste an Abstraktion.

Die oft resignierende, gelegentlich auch depressive Grundstimmung verdichtet sich – mit gutem Grund – in den Bildern aus der Trümmerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein brennender Hampelmann schreit vor Schmerzen. Kein Kinderspiel. Ein gebrochener Mensch geht durch eine zerstörte Stadt, ein anderer kriecht vollends am Boden.

Doch es gibt auch ergreifende Momente der Zärtlichkeit in dieser Ausstellung: Zwei Schwestern, sanftmütig sinnend, so zart wie von Botticelli hingehaucht. Gleichfalls in ihre Innenwelt versunken ist die junge Frau, die sich „Nach dem Bad“ (Titel, 1934) abtrocknet – ganz so, als suche sie nach einem tröstlichen Gefühl.

Karl Hofer. Gustav Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel.: 02381 / 17 57 01. Bis 28. Juni. Di-So 10-18, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 7 DM. Katalog 25 DM.




Zutritt in ein Zauberland – Werkschau des 95-jährigen Woldemar Winkler in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Es fällt „Diamantregen über Aschenputtels Goldschuh“, oder man begeht die „Muschelzeremonie unterm Baldachin“. Doch wenn man „Erinnerung in Schweigen vergräbt“, erschrickt man vielleicht vor den „Zerpeitschten Ausgeburten des Fieberreichs“. Die Bilder-Titel des Woldemar Winkler (95) hören sich an wie poetische Parolen für den Einlaß in ein Traum- und Zauberland. Solche Sphären lernt man jetzt im Hammer Gustav-Lübcke-Museum kennen.

Winkler, der aus der Nähe von Dresden stammt und seit 1949 bei Gütersloh lebt, war bereits in den frühen 1920er Jahren künstlerisch tätig – im gedanklichen Sog eines André Breton, der im Surrealistischen Manifest (1924) zum Aufspüren geheimer Entsprechungen zwischen entferntesten Dingen aufrief. Winkler orientierte sich zudem an Paul Klee und Wassilv Kandinsky. Sie forderten, daß die Kunst nicht mehr das Sichtbare zeigen, sondern Verborgenes erst sichtbar machen sollte. So heißt denn auch ein Bild WoldemarWinklers ganz programmatisch: „Halte die Augen geschlossen, wenn Du mehr sehen willst“. Und die ganze Ausstellung bekam folglich den Titel „Begegnung mit dem Unsichtbaren“.

166 Werke aus den Jahren von 1920 bis 1996 sind in Hamm zu sehen. 1924 porträtiert sich der damals 22jährige noch realistisch als proletarischer Typus mit Schiebermütze, der einem Text von Brecht entstiegen zu sein scheint. Collagiert ist dieses Selbstbildnis mit einem eingeklebten Zeitungsausschnitt, der sich mit den Jahrzehnten tief ins Bild eingesogen hat und nun wie gemalt wirkt. Presse-Ausrisse, auch inhaltlich ganz gezielt ausgewählt, hat Winkler oft in seine Werke eingefügt. Ein Mann, der die Zeitläufte beachtet, aber in seiner Kunst weit darüber hinaus gelangt.

Verwandlung der Fundstücke

Woldemar Winkler ist Sammler: Fundstücke aller Art, mal im Rohzustand belassen, mal formbewußt bearbeitet, sind Grundlage seiner Arbeit. Ein Vitrinenschrank in der Ausstellung läßt vage ahnen, wie sehr Winklers Haus damit angefüllt sein muß – mit besonderen Blättern, Wurzeln, Zweigen, Steinen, Muscheln, aber auch Eierkartons, Gliedmaßen von Puppen, Packpapier und tausend anderen Sachen. In Winklers Kunst werden sie zu Zeichen einer ins Übersinnliche driftenden Welt. Da wird der Eierkarton plötzlich zum Tiergesicht und der scheinbar leblose Stein zum mythischen Ur-Zeichen. Figuren, die aus dem Unbewußten aufsteigen. Um solche Wandlungen glaubhaft zu gestalten, muß man wohl auch im Wortsinne „Seher“ sein.

In all den Jahren kein Stilbruch

In der Fläche bändigen lassen sich viele dieser Material-Eruptionen nicht. Also häufen sich Gegenstände und Bemalungen vielfach zu sogenannten Assemblagen (etwa: „An- ‚ Sammlungen“), die in gläsernen Schaukästen dreidimensional dargeboten werden.

Einen heftigen Stilbruch hat es in all den Jahrzehnten eigentlich nie gegeben, nahezu sämtliche Werke atmen gleichen Geist. Doch dieser Zusammenhang wirkt keineswegs eintönig, denn Winkler läßt seine Fundsachen zu immer wieder neuen Formen anwachsen. Ein Grundzug der Winklerschen Phantasien ist übrigens erotischer Natur – nicht von der zotigen Art freilich, sondern im Sinne einer vom heiligen Eros beflügelten Aneignung der vielfältigen Formenwelt. Ein Agavenblatt reckt sich unter dem Titel „Stachelwege der Lust“ in die Höhe.

Lange auf den Erfolg gewartet

Anders als etwa der Hagener Emil Schumacher (84), der im Vergleich zu Winkler eine halbe Generation jünger ist und schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg mit informellen Bildern Erfolg hatte, mußte der Gütersloher lange auf Anerkennung warten. Inzwischen aber gibt es dort eine Winkler-Stiftung, betrieben von der Sparkasse, die auch die Werkschau in Hamm gesponsert hat. Und man muß es als besonderes Ereignis werten, daß der Künstler zur Eröffnung (Sonntag, 11.30 Uhr) erscheinen will.

Woldemar Winkler – „Begegnung mit dem Unsichtbaren“. Gustav Lübcke Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9 – Tel. 02381 / 17 57 01). 3. August (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 21. September. Di-So 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 3 DM. Katalog 30 DM.




Wo man fürs Theater den roten Teppich ausrollt – „Helios“-Truppe zieht von Köln nach Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Ein kultureller Vorgang von Seltenheitswert: Da siedelt eine Bühne aus der Metropole Köln an den östlichen Rand des Reviers um und wird im bisher theaterlosen Hamm bald über eine eigene Spielstätte verfügen.

Die Rede ist vom „Helios“-Theater, benannt nach dem altgriechischen Sonnengott. In Köln hielt es die 14köpfige Truppe nicht mehr, weil sie inmitten der kulturellen Fülle am Rhein nicht mehr sonderlich auffiel und weil, so findet „Helios“-Chefin Barbara Kölling, die dortige Kommunalpolitik den freien Theatern kein gutes Pflaster bereite.

Ganz anders in der Provinz. In Hamm, wo bislang nur Tourneebühnen Station machten, rollt man den „Helios‘-Leuten, allesamt ausgebildete Profis, den roten Teppich aus und behandelt sie fast wie ein Stadttheater. Durch Umschichtungen im Etat gelang das Kunststück: 100.000 DM pro Jahr, etwa ein Viertel des Gesamtbedarfs, erhält die Gruppe von der Kommune, die zudem den VHS-Bürgersaal theatertauglich umbaut. Hinzu kommen Landeszuschüsse und Sponsorengeld.

„Helios“ soll in Hamm pro Jahr zwei bis drei Premieren herausbringen und künftig von hier aus Gastspiel-Tourneen starten. Enge Kooperation ist mit den Städten Unna, Kamen und Lünen vorgesehen, aber auch Arnsberg zählt zur Dauerkundschaft. Mit derlei Regionalbezug sieht man sich selbst gar als „Modellfall (Kölling), was auch die Geldgeber beim Land zur Großzügigkeit bewogen habe. Dazu beigetragen hat wohl auch der Ruf der Gruppe, die bei etlichen Festivals (wie etwa dem Dortmunder „Theaterzwang“) aufgetreten ist.

Weil die „Helios“-Produktionen landes- und bundesweit offeriert werden, konkurriert die Gruppe direkt mit dem Westfälischen Landestheater (WLT), das seine Fäden von Castrop-Rauxel aus zieht. Und was wird bei „Helios“ gespielt? Vorzugsweise eine eigenwillige Mischung aus (zumeist selbstverfaßten) Texten, Tanz und Musik. Für Kinder hat man stets etwas im Angebot. Doch die neueste Eigenschöpfung handelt von einer „starken Frau“ der Historie, der Nobelpreisträgerin Marie Curie. Die Hammer Premiere am 1. März ist bereits ausverkauft. Ein gutes Omen.

Infos/Karten: Kulturamt Hamm 02381 / 17 55 55.

 




Der Zauberer zeigt, was hinter den Dingen leuchtet – Zeichnungen und Aquarelle von Paul Klee in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Einige wenige Künstler sind über Zweifel ziemlich erhaben. Pablo Picasso zählt dazu – und gewiß auch Paul Klee. Wollte sich einer erdreisten, Klee herabzustufen, so würde sich dieser Jemand selbst disqualifizieren. Umso erstaunlicher, daß von solch einem Künstler wesentliche Werkteile noch nicht zusammenhängend gezeigt worden sind. Unglaublich gar, daß man noch viele verschollene Bilder aufspüren kann.

Die jetzt in Hamm eröffnete Ausstellung „Paul Klee – Reisen in den Süden“ birgt stille Sensationen. Denn die Klee-Expertin Frau Dr. Uta Gerlach, die 107 Aquarelle und Zeichnungen zusammengetragen hat, konnte 13 Arbeiten auftreiben, von denen man geglaubt hatte, sie seien auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Weitere 26 Werke werden entweder erstmals oder (nach Jahrzehnten im Depot) erneut öffentlich gezeigt.

Paul Klee (1879-1940),. hat sein Oeuvre selbst akribisch dokumentiert. Ab 1911 hat er rund 10 000 Blätter und Leinwände numeriert und ins Werkverzeichnis aufgenommen. Er war offensichtlich kein Jäger-Charakter unter den Menschen, sondern ein Sammler, der wohl auch an die Nachwelt dachte. Jedenfalls erleichtern seine Listen heute die korrekte Zuschreibung.

Südliche Reisen in das andere Licht

Reisen in den Süden also, Reisen ins Licht. Hier waren Farbklänge zu entdecken, die der Norden einfach nicht hergab – zu schweigen vom meteorologischen und menschlichen Klima, das die bereitwilligen Sinne anregt und öffnet.

Die Italienfahrt von anno 1901 hat man, des geringen künstlerischen Ertrages wegen, ausgeblendet 1914 fuhr Klee mit August Macke und Louis Moilliet nach Tunesien. Über diese legendäre Trio-Tour war 1982 im Landesmuseum Münster eine große Ausstellung zu sehen, an die in Hamm einige Stücke erinnern. Weitere Stationen sind Sizilien (1924), Italien und Elba (1926), Südfrankreich und Korsika (1927).

Der Schwerpunkt aber liegt, der ägyptologischen Sammlung des Gustav-Lübcke-Museums gemäß, auf Klees Streifzügen durch das Land am Nil (1928/29). Einige Motive, die Klee dort vorgefunden hat, kann man hier sogleich in archäologischen Originalen bewundern.

Klee, Meister der Abstraktion, hat sich innig an der Natur geschult. Hellwache Wahrnehmung landschaftlicher Realität beweisen zahlreiche Skizzen von Felsformationen oder Küstenlinien, die fast als Vorläge für Landkarten dienen könnten. Klee nahm sie ins Werkverzeichnis auf. Es sind tatsächlich keine bloßen Abbilder der Wirklichkeit, sondern bereits künstlerisch inspirierte Vergewisserungen.

Wo alles Farbe und Bewegung wird

Hochinteressant ist es nun zu sehen, wie solche Landschaften oder auch Häuser zu gültigen Chiffren umgestaltet werden. Es ist, als habe Klee einen magischen Blick, der die Dinge in eine andere, wahrhaftigere Welt überführt, in der alles Farbe und strömende Bewegung wird.

Vielfältig sind die Ausdrucksformen: Von einer solchen Feinheit der Strichführung zeugen manche Blätter, daß man denkt, Klee habe etwa die diesigen Luftschichten, gleichsam den Schleier vor den Dingen, mitgezeichnet. Andere Arbeiten, wie etwa die „Scene vor einer arabischen Stadt“ oder „Predigt für Wüstentiere“, sind kleine Grotesken feinsinnigen Humors. Die „Ruinen von Git“ werden pointillistisch dargestellt und wirken wie ein antikes Mosaik. „Blick in das Fruchtland“, eines der subtilen Farbstreifen-Bilder Klees, weckt die Ur-Idee gedeihlichen Wachstums auf der guten Mutter Erde.

Klee schuf eigene Hieroglyphen, überließ sich dem Rätsel der Sphinx und zitierte geisterhaft die Pyramidenform herbei. Doch nie wird der Blick dieses Seelen-Zauberers touristisch. Immer zeigt er unendlich viel mehr, als man mit bloßem Auge sehen kann.

Paul Klee – „Reisen in den Süden“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Bis 13. April, täglich (außer montags) 10-18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Eintritt 12 DM. Katalog 52 DM.




Als die Jungfrau Maria der alten Göttin Isis glich – Christliche Kunst der ägyptischen Kopten in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Seien wir ehrlich: Archäologische Ausstellungen gleichen sich oft wie Zwillinge. Man sieht reihenweise Vitrinen mit Grabbeigaben, ein paar Zeugnisse der Alltagskultur, beispielsweise Münzen, Krüge, Vasen und Öllämpchen, dazu reichlich blendenden Schmuck. Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm möchte mit „Ägypten – Schätze aus dem Wüstensand“ solcher Einheitsoptik entgehen.

Nimmt man nur das Titelwort „Ägypten“ wahr, hat man sich schon in die Irre führen lassen. Denn es geht nicht um Pharaonen oder Mumien und auch nicht um islamische Kultur, sondern um die Kunst der Kopten, der ägyptischen Christen.

Seit über 30 Jahren (damals in der Essener Villa Hügel) ist es die erste große deutsche Kopten-Ausstellung. Da haben sich die Hammer Veranstalter wohl gedacht: So trocken können wir den Laien diese Spezialitäten nicht anbieten. Folglich hat ein Ausstellungs-Architekt die Sache in die Hand genommen und so getan, als sei dies eine Ausstellung moderner Kunst. Die Wüstenschätze werden nicht gelehrsam nach Zeitenfolge dargeboten, sondern nach ästhetischen Maßstäben.

Nach Schönheit aufgestellt

Da prangen Säulenkapitelle aus ganz verschiedenen Jahrhunderten auf orangefarbenen Podesten in einer trügerischen Reihe – weil es so schmuck aussieht. Da flankieren zwei Löwenfiguren einen Grabstein, zu dem sie gar nicht gehören und mit dem sie stilistisch nichts zu tun haben – weil es so beruhigend symmetrisch wirkt. In derlei Fällen ermöglicht erst der Katalog die korrekte Zuordnung.

Die Schau, die u. a. noch nach Mainz und München weitergereicht wird, imponiert mit über 500 Exponaten. Etwa 300 kommen aus Berlin. Leihgaben des Koptischen Museums in Kairo fehlen leider völlig, denn im Bann des zunehmenden Fundamentalismus hält man es dort wohl nicht für opportun, Kleinode ins westliche Ausland zu geben, schon überhaupt nicht für eine Ausstellung christlicher Kunst.

Vielfältige Einflüsse

Gezeigt werden kunstvolle Handschriften, Buchmalereien und Textilien, Ikonen und Skulpturen, Grabsteine, Alltagsgerät, Werkzeuge, kostbares Geschmeide. All dies zeugt von handwerklicher Hochblüte und dezentem Sinn fürs schlichte Schöne.

Die koptische Spielart des christlichen Glaubens entfaltete sich schon früh. Um 120 n. Chr., das belegen Papyrus-Fragmente, waren Altes und Neues Testament am Nil schon bekannt. Im 5. Jahrhundert gab es dort eine eigenständige Koptische Kirche.

Religion wie Kunst der Kopten unterlagen in der Folgezeit vielfältigen Einflüssen. Zunächst sind altägyptische Elemente nachweisbar. So wird etwa die Muttergottes dargestellt wie die ägyptische Göttin Isis.  Später werden auch Gestalten wie Aphrodite gleichsam in christlichen Dienst gestellt. Denn auch altgriechische, römische, byzantinische und schließlich islamische Traditionen fließen nach und nach ein. Angesichts dieses beständigen Wandels fällt es schwer, das Gemeinsame in der koptischen Kunst dingfest zu machen.

Askese steht in den Gesichtern

Die Kopten waren ausgesprochene Asketen. Zu Tausenden zogen sie als Eremiten in die Wüste, gelobten vielfach Ehelosigkeit und Schweigsamkeit, und sie schufen gar die ersten bekannten Mönchsregeln. Manche aber flüchteten auch in die Wüste, um den Steuereintreibern Roms oder den kaiserlichen Christenverfolgungen Diokletians zu entkommen.

Askese meint man auch in den Künsten zu spüren. Die dargestellten Gesichter haben fast stets etwas Entsagungsvolles. Auch die mit spröden Inschriften versehenen Grabteile aus Kalkstein geben sich nicht prunkvoll, sondern karg. Die Symbole, ob Vögel oder Muscheln, beziehen sich meist auf Vorstellungen der Wiederauferstehung und eines bekömmlichen Daseins im Jenseits.

Unseren Sinnen am leichtesten zugänglich sind natürlich die alltäglichen Objekte, so etwa der Holzkörper eines Saiteninstruments, verzierte Schmuckbehälter oder auch Steinscherben, in die Vertragstexte eingemeißelt wurden. Hoffentlich hat man die Kontrakte auch so steinern fest eingehalten.

Bis 13. Oktober in Hamm, Gustav-Lübcke-Museum (direkt hinterm Bahnhof, Neue Bahnhofstraße 9). Täglich 10-18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 10 DM. Katalog 49 DM.




Jede körperliche Regung fließt ins Bild – Aquarell-Werkschau des 80-jährigen Hann Trier in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Wenn der Maler Hann Trier zu Werke geht, so sieht das beinahe aus, als rühre ein Schlagzeuger die Trommeln. In jede Hand nimmt er einen Pinsel und macht sich sozusagen zweifach über Papier oder Leinwand her. Die Vibrationen des Körpers gehen als fein abgestufte Farb-Klänge ins Bild ein. Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zeigt nun rund 100 Aquarelle des Mannes, der vor wenigen Tagen 80 Jahre alt geworden ist.

Der gebürtige Düsseldorfer Hann Trier gehört für Kunsthistoriker in die Reihe der großen „Informellen“, die nicht die Nachbildung der Außenwelt, sondern den Ausdruck ihrer Innenwelten im Sinn hatten. Der Hagener Emil Schumacher wird ebenso hinzugezählt wie Bernard Schultze und Gerhard Hoehme, wobei jeder von ihnen ureigene Wege beschritten hat.

Werkausschnitte von Schumacher und Schultze wurden unlängst in Hamm präsentiert. Über den Geburtstags-Anlaß hinaus ist es also ein Zeichen planvoller Kontinuität, wenn nun Hann Trier an die Reihe kommt.

Die Aquarelle, bevorzugtes Medium hauchzart verwehender Farb-Konzerte, werden in solcher Fülle erstmals gezeigt. Die meisten Stücke stammen aus dem sorgsam gehüteten Besitz des Künstlers, befinden sich mithin nicht auf dem Markt und werden so bald nicht wieder zu sehen sein.

Die Exponate reichen von 1946 bis 1986. Seither fertigte Trier kaum noch Aquarelle an. Erst im Vorfeld der Hammer Ausstellung begann er wieder damit. Diese neuesten Arbeiten setzen nun den Schlußakzent. Unmittelbar nach dem Krieg entstanden Bilder, die noch deutlich im Bannkreis des Kubismus und des Surrealismus stehen – Beispiele einer zeittypischen, noch nicht vollends persönlich ausgeprägten Figuration der späten 40er Jahre.

Freude an der puren Schnelligkeit

Der Kontakt zur „Ecole de Paris“ sowie ein längerer Aufenthalt in Süd- und Mittelamerika (1952-55) veränderten sodann die Bildersprache, die nun musikalischer, tänzerischer, duftiger wurde. Als Impuls kam die Faszination maschineller Geschwindigkeit hinzu, die sich hier freilich ganz als körperliche Aktion auslebt: Aus Bildern wie „Windpumpe“ (1950) oder „Schnellbahn“ (1951) spricht keine blinde Technik-Begeisterung, sondern Freude an purer Bewegung und Regsamkeit.

Irgendwann hat der Linkshänder Hann Trier angefangen, den Malgrund beidarmig zu bearbeiten. Daraus erwachsen oft schwebende Beinahe-Symmetrien, eigentümlich fragile Balancen, als sei’s eine munter wispernde Zwiesprache zwischen beiden Bildhälften. Kein Streit jedoch, sondern ein harmonisches Wogen.

Nicht Trend noch Zeitgeist, auch keinem vordergründig politischen Anspruch ist Hann Trier gefolgt, sondern sich selbst. Malen sei für ihn alltäglich wie essen, trinken oder einkaufen, hat er einmal gesagt. Und so entwickelt sich diese künstlerische Sonderwelt denn auch ganz selbstverständlich, ohne Aufhebens.

Nicht von ungefähr erinnern viele Bilder an biologische Formen, an fedrige Gewächse oder ungeahnte Anatomien aus haarfein „gestrickten“ Rippen und Wirbelsäulen. Körper wird Pflanze, diese wird Geist und so fort. Es ist, als habe der auch literarisch hochgebildete Hann Trier die unaufhörlichen mythischen „Metamorphosen“ (Wandlungen) des altrömischen Dichters Ovid vergegenwärtigen wollen. So naturhaft kann Kunst sein.

Hann Trier: „Metamorphose der Farbe. Aquarelle“ – Gustav Lübcke-Museum. Hamm. Neue Bahnhofstraße 9 – direkt am Hauptbahnhof). 6. August bis 10. September, tägl. 10-18, mi 10-20 Uhr, mo. geschlossen. Katalog 45 DM.




Hintergründiges Funkeln – Arbeiten des Farbtheoretikers Edgar Knoop in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Wenn man vor den Bildem von Edgar Knoop steht, bleiben auch sie still, ja fast starr. Doch sobald man sich bewegt, nimmt man ein Flirren und Flimmern wahr. Was steckt dahinter?

Der gebürtige Dortmunder Knoop (Jahrgang 1936) lebt seit 1957 in München und ist dort seit 1972 Hochschullehrer für Farbtheorie. Hier ist also ein Fachmann und fundierter Theoretiker am Werke. Auch in der Praxis zeigt es sich: Gerade durch äußerst sparsam kalkulierten Einsatz bringt er die Farbe zur Wirksamkeit.

Knoops Ausstellung „Objekte – Projekte“ im Hammer Gustav-Lübcke-Museum (bis 16. Juli) enthält Collagen, Stelen (edel-schlanke Säulen), Reliefs, dickwollige Farb-Teppiche sowie Dokumente zu seinen Werken und Visionen für öffentliche Plätze.

Auf den ersten Blick wirkt die Zusammenstellung wie von aller Leidenschaft gereinigt, wie eine frostige Abfolge mathematisch vorberechneter Experimente mit Grundlagen der Kunst. Die geraden Linien verlaufen zumeist in Reih‘ und Glied, es herrscht vielfach quadratische Ruhe, oder es triumphiert der Goldene Schnitt.

Ist dies also Kunst vom Reißbrett, kühle Könnerschaft eines versierten Farb- und Formenforschers? Nein, das bewegende Moment der Emotion verbirgt sich nur, tritt nicht gleich in den Vordergrund. Derlei Zurückhaltung verweigert sich auch den Modeströmungen des Kunstmarktes. Knoop bleibt sich und – wenn man denn schon etikettieren will – der „konkreten Kunst“ treu, die zuletzt immer auf die Frage hinausläuft, was das Sehen überhaupt sei.

Insgeheim beginnen diese Arbeiten sich in der Phantasie des Betrachters zu regen: So hinterlegt der Künstler etwa breite dunkle Streifen mit einer glitzernden Spezialfolie. Das Licht trifft durch schmale Schlitze auf, wird gebrochen und ins Regenbogen-Spektrum zerstäubt. Daher also das besagte Flimmern und Funkeln. Und die quadratischen Formate werden so auf die Eckspitzen gestellt, daß – im Widerspiel mit Rahmung und Linien – eine eigentümlich kreisende optische Irritation entsteht. Hintersinnige Kopfkunst.




Oase in Hamm: Der Maxi-Park lockt mit Kultur und Natur

Von Bernd Berke

Hamm. Vom Kabarett bis zur Katzenschau, von der gewichtigen Dampflok bis zu federleicht flatternden Schmetterlingen aus aller Welt – der Hammer Maximilianpark lockt mit Kultur und Natur. Und das zu vergleichsweise zivilen Eintrittspreisen.

Am Haupteingang erhebt sich der 34 Meter hohe gläserne Elefant, längst ein Wahrzeichen der Stadt. Im Inneren ist das imponierende Tier über und über begrünt, und einige Kinetik-Kunstwerke des Elefanten-Erfinders Horst Rellecke verrichten hier ihre spielerische Tätigkeit, darunter ein „automatischer Fensterputzer“. Ein paar kleine Jungen stehen davor und finden es einfach „cool“. So kann man es sagen.

Hoch hinauf in den Kopf des Elefanten

Mit dem Fahrstuhl geht’s hinauf in den „Kopf“ des durchsichtigen Dickhäuters. Von hier aus kann man sich einen Überblick aufs Parkgelände verschaffen, das zur Landesgartenschau 1984 entstanden ist. Sieben Kilometer Spazierstrecken laden zum Erkunden ein. und immer wieder findet man am Wegesrand attraktive Haltepunkte.

Kaum zu glauben, daß sich auf diesem Areal einmal eine Zeche befunden hat. Immerhin zeugt noch eine schmucke alte Halle (Elektrozentrale) davon, die mit wechselnden Ausstellungen und Konzerten bespielt wird. Derzeit sind (bis 6. August) interessante Foto-Arbeiten von Michael Wissing und Gemälde von Harald Herrmann zu sehen. Über den ganzen Park verstreut sind jene Bronzeplastiken von Wilfried Koch. die sich so recht in die grüne Oase einschmiegen.

Musikalische Auftritte sind häufig, am 8. Juli steigt beispielsweise eine „Italienische Nacht“. Unter freiem Himmel findet sich ein kleines, aber feines Eisenbahnmuseum mit altgedienten Waggons und Lokomotiven (Prunkstück: eine Dampflok der 44er Reihe). Das ehrwürdige Bahnsteigdach stammt übrigens aus Hagen-Haspe.

Wo Ameisen den Weg kreuzen

Ein paar Ecken weiter stößt man unvermittelt auf das Warnschild „Ameisen kreuzen!“ – und das ist ökologisch ernst gemeint. Denn es gibt ganz ruhige Winkel im Park, in denen die Kreatur möglichst unbehelligt gedeihen soll. Ein naturnaher Wasserlauf schlängelt sich zwischen den idyllischen Fleckchen.

Es macht jedoch den besonderen Reiz dieses Parks aus, daß er vielfältige Abwechslung zwischen Ruhe und Anregung bietet. Es gibt – natürlich – ein Restaurant, einen Kiosk mit Seeterrasse, Eisstände und dergleichen Annehmlichkeiten. Es gibt Sportbereiche zum Bolzen und für Basketball. Vor allem aber locken gleich mehrere phantasievoll gestaltete Spielplätze Scharen von Kindern an.

An heißen Tagen ist besonders der Platz am Wasser begehrt. Der Form halber mahnt zwar eine Tafel „Baden verboten“, doch niemand hält sich daran, und keiner hat was dagegen. Überall wird geprustet und geplantscht. Obwohl das Naß nur knietief ist, paßt ein Park-Angestellter auf, daß nichts Arges geschieht.

Landesweit einzigartig ist das Tropenhaus des Parks. Nur hier sieht man – „live und in Farbe“ – so viele exotische Schmetterlinge aus allen Erdteilen durch eine üppig sprießende Pflanzenwelt flattern. Bunter geht’s nimmer. Das ist wahrlich etwas anderes, als die üblichen Sammlungen aufgespießter Exemplare.

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Tipps und Infos

  • Maximilianpark Hamm. Stadtteil Uentrop-Werries, Alter Grenzweg 2.
  • Erreichbar über Autobahn A 2 (Dortmund-Hannover), Abfahrt Hamm-Uentrop, rechts in die Uentroper Straße, links über die Lippebrücke, rechts Lippestraße Richtung Hamm-Mitte, links Ostwennemarstraße bis zu den Parkplätzen (der Weg zum Maximilianpark ist auch gut ausgeschildert).
  • Öffentliche Verkehrsmittel: Mit der Bahn bis Hamm Hauptbahnhof, dann Buslinie 1 oder 3 bis Maximilianpark.
  • Geöffnet April und September von 9 bis 21 Uhr (Kassenzeit 9 bis 19 Uhr).
  • Eintrittspreise in den Park: Kinder unter 4 Jahren frei, Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre 2 DM, Erwachsene 3 DM. Glaselefant: Kinder 50 Pfennig, Erwachsene 1 DM. Schmetterlingshaus 3 DM. Gruppenführungen (nach Vereinbarung) 30 DM. Für Sonderveranstaltungen wie Konzerte wird meist ein Extra-Obolus verlangt.
  • Informationen / Veranstaltungsprogramme unter: Tel. 02381/8 85 01 oder 8 85 02.

 




Versteckt im Irrgarten der Bilder – Druckgraphik von Bernard Schultze in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. In solchen Bildern kann man sich verirren: Bernard Schultze (geb. 1915) verstrickt die Blicke des Betrachters in üppige Liniengewächse. Es scheint, als wolle er sich selber drin verstecken. Und so heißt die Hammer Ausstellung seiner Druckgraphik denn auch, einem Schultze-Zitat gemäß: „Das Labyrinth ist mein Schutz“.

Die rund 120 Lithographien und Radierungen gehören fast ausschließlich privaten Sammlern. Die Auswahl beginnt mit dem Blatt „In den Kulissen“ (1950/51). Es zeigt eine noch figurative, womöglich von Theaterszenen inspirierte Gruppierung. Abstrahierte Schatten-Wesen überlagern einander so vielfach im Raum, daß dieser dem Orientierungssinn spottet. Die frühe Lithographie markiert also bereits den Weg in den Irrgarten.

Schultze, der um 1952 (Gruppe „Quadriga“) zu den Mitbegründern des deutschen Informel zählte, ließ das Gestrüpp der Linien fortan zusehends wuchern. Manchmal wirkt es beim ersten Hinsehen maßlos oder ungestalt, als habe das alles kein Ziel. Doch da täuscht man sich, denn der Künstler entzieht sich lediglich der raschen Festlegung, er will sich gegen Zudringlichkeit wehren. Bestimmt werden derlei Bilder letzten Endes von altmeisterlicher Formstrenge. Der kunsthistorisch sehr kundige Schultze arbeitet keineswegs bodenlos, sondern weiß sozusagen genau, wo er den Anker werfen muß und wo er ihn lichten darf.

Gestalten aus der Nebenwelt

In den 60er Jahren schuf er sich ein Markenzeichen, die sogenannten „Migofs“. Die Körper dieser Phantasiewesen quellen und verzweigen sich derart bizarr in alle Richtungen, daß man tief ins Dickicht gerät. Es sind Formen eines zweiten Lebens, das sich selbständig fortpflanzt. Etwas Morbides, Todessüchtiges haftet ihnen an, sie werden zu Zeichen einer aus aller Ordnung geratenen Epoche. Schultze meidet politische Anklänge, doch seine Bilder sammeln Zeitgeist mitunter beängstigend präzise ein. Die Körper-Explosionen lassen an kriegerische Greuel und Gewalt denken, es sind dringliche Angstvisionen.

Die Hammer Ausstellung bietet auch eine Premiere. Vier große Radierungen (jeweils 1 mal 2 Meter) sind erstmals öffentlich zu sehen. Schultze hat sie ab 1992 in einer renommierten Spezialdruckerei zu Barcelona geschaffen. Allesamt dem gleichen Motiv entsprungen, wirken sie je für sich und doch auch im Vierklang miteinander. Durch immer wieder andere Tönungen und Drehung der Formen verändert sich der Ausdruck.

Schultze kehrt mit diesen neuen Arbeiten wieder zur entschiedenen Gegenstandslosigkeit des Informel zurück. Beinahe lieblich-versöhnlich leuchten nun die Farben, himmelweit offen ist der Bildhorizont. Nun irrt der Blick nicht mehr, sondern verliert sich wohlig ins Ferne.

Bernard Schultze. Druckgraphik. Hamm, Gustav-Lübcke-Museum. Neue Bahnhofstraße 9. Tel.: 02381/17 57 01). Bis 23. April, Di-So 10-18, Mi 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Kein Katalog zur Ausstellung, aber: Ein bebildertes Werkverzeichnis ist für 90 DM im Museum erhältlich.




Kunst aus klirrender Kälte – Archäologische Ausstellung über sibirische Waljäger vor 3000 Jahren

Von Bernd Berke

Hamm. Reichlich nachgedunkelt und arg ledrig sieht das Boot aus. Doch es macht einen intakten Eindruck. Denkbar gar, daß es noch für eine Paddelfahrt taugt. Der älteste komplette Kajak der Welt ist Prunkstück einer archäologischen Schau in Hamm und gehörte zur Ausrüstung arktischer Waljäger, die vor 2500 bis 3000 Jahren an der Nordostküste des heutigen Sibirien den Naturgewalten getrotzt haben.

Jagd auf die Großsäuger wurde freilich nicht in solchen Solo-Kajaks gemacht, sondern mit vereinten Kräften in „Siebenern mit Steuermann“. Während einer die Kommandos gab, stießen die anderen Männer mit Speeren und Harpunen aus Walroß-Elfenbein zu. Da werden viele Stiche nötig gewesen sein, bis der Wal erlegt war.

Die tollkühnen Herren hatten denn auch, so vermutet man, riesigen Respekt vor dem Tier und seiner Seele, mit der sie sich nach vollbrachter Tat rituell „versöhnt“ sehen wollten. Die ostsibirischen Ureinwohner jagten nur zum Überlebensbedarf, nicht für schnöden Gewinn wie heutige Fänger – und sie warfen nichts weg. Die Sehnen der Tiere wurden Z.B. zu Bindfäden verarbeitet oder in Bogenschußgeräte gespannt, die Häute dienten zur Abdichtung der hölzernen Behausungen und Boote.

Die meisten Gegenstände bestehen jedoch aus dem Elfenbein der Walroßzähne, das mit Hilfe von Steinwerkzeug bearbeitet wurde. Die rund 370 Fundstücke, die jetzt im Hammer Gustav-Lübcke-Museum zu bestaunen sind, wurden in den letzten Jahren zumeist aus Bestattungsanlagen geborgen. Die Objekte lassen auf ein entbehrungsreiches Dasein der sibirischen Eskimos schließen.

Kein Matriarchat gab’s in der eisigen Zone: Die Frauen blieben damals wohl brav in den Hütten und bereiteten die Mahlzeiten zu. Derweil müssen besagte Wal-Kämpfe für die Männer stets lebensgefährlich gewesen sein.

Magische Praktiken

Hinzu kam just die klirrende Kälte, fast das ganze Jahr über. Davon zeugen elfenbeinerne Schneebrillen und Schlittenkufen. Die Gleiter wurden von Rentieren gezogen.

Offensichtlich übten die damaligen Eskimos, wie bei naturnahen Völkern die Regel, magische Praktiken aus. So jedenfalls deuten Fachleute die vielen phantastischen Tierfiguren, Masken und Verzierungen der Waffen. Rätselhaft die Art der Bestattung: Den Verstorbenen wurden die Köpfe gewaltsam um 180 Grad gedreht, der Rücken wurde gar durchbohrt.

Ganz schmucklos liefen die Menschen auch damals nicht herum. Kämme und Gürtel deuten auf jenes Mindestmaß an Eitelkeit hin, ohne das unsere Gattung seit Urzeiten nicht auskommt.

„Arktische Waljäger in Sibirien vor 3000 Jahren“. Hamm, Gustav-Lübcke-Museum, Neue Bahnhofstraße  – Bis 21. Mai, tägl. (außer Mo) 10-18, Mi 10-20 Uhr. Katalog 38 DM.




Die Furcht vor der Leere überwinden – Arbeiten auf Porzellan und Keramik sowie Gouachen von Emil Schumacher

Von Bernd Berke

Hamm. Es ist eine allseits beliebte Abfolge bei Ausstellungen moderner Kunst: Am Anfang des Rundgangs kommen gegenständliche Arbeiten, dann wird es zusehends abstrakter. Ganz so, als könne Fortschritt nur in diese eine Richtung laufen. Der Hagener Emil Schumacher entzieht sich solchen Zuweisungen. Das belegt auch seine neue Ausstellung in Hamm.

In Schumachers Werk gibt es gerade in jüngerer Zeit wieder stärkere Andeutungen von Figürlichkeit. Man glaubt zum Beispiel Pferde oder Frauenakte zu erkennen. Nach wie vor aber ist bei Schumacher der körperlich-gestische Prozeß des Malens entscheidend. Ob daraus nun Abstraktionen oder Anklänge ans Gegenständliche entspringen, ist zweitrangig. Alles stammt aus dem gleichen schöpferischen Universum, hat gleiches Recht.

Die Ausstellung in Hamm umfaßt auf zwei Etagen rund 150 neuere Gouachen (Malerei mit speziellen Wasserfarben), dazu bemalte Keramik und Arbeiten auf Porzellan. Hätte Hamm nicht seinen Neubau des Lübcke-Museums, so wäre in dieser Stadt, die nun wieder eine deutliche Markierung auf der Kunst-Landkarte verdient, eine solch großzügige Schau nicht möglich. Zudem handelt es sich um Premieren, denn die Gouachen waren in unseren Breiten noch nicht öffentlich zu sehen, und die Präsentation der Porzellanbilder ist sogar eine „Uraufführung“.

Die Gouachen erinnern vielfach an Ur-Äußerungen des Menschen in der Höhlenmalerei. Solche Bilder altern nicht, denn sie sind nicht zu erschöpfen, sprich: Man kann ihnen immer wieder neue Aspekte abgewinnen. Keine Arbeit trägt einen Titel, der Betrachter wird nirgendwo festgelegt. Vor allem aber: Das ersichtlich Spontane fällt hier mit dem souverän Gelungenen und Gültigen ineins – reife Früchte eines langen Künstlerlebens.

Porzellan als blütenreines Material

Fast noch erstaunlicher ist Schumachers Porzellanmalerei, denn hier hat sich der inzwischen 81jährige auf Ungewohntes eingelassen. Während er – aus Angst vor Leere, vor Vakuum – sonst schneeweiße Malgründe meidet und lieber Unterlagen mit Schlieren oder kleinen Schäden verwendet, mußte er hier mit blütenreinem Material umgehen. Das „weiße Gold“ aus der Staatlichen/Königlichen Forzellan Manufaktur Betlin („KPM“) ist ein makelloses Spitzenerzeugnis. Schumacher wählte nicht die Standardform kreisrunder Schalen, sondern schlanke Ovale, die bereits Spannkraft und Dynamik in sich bergen. Doch nach Schumachers Behandlung werden diese kleinen Flächen zu Ereignissen, ja Dramen aus Linie und Farbe.

Den meisten Künstlern, die für teure Sammlerserien arbeiten, unterläuft auf derlei Material leicht dekoratives Kunstgewerbe. Nicht so Schumacher, Er gelangt mit diesen Unikaten weit übers lediglich Gefällige hinaus, selbst in der Verwendung von Goldfarbe wird er nicht geschmäcklerisch. Er setzt diese kostbare Farbe so ein, daß sie nicht prunkend, sondern ganz selbstverständlich wirkt. Und welch ein ungeheures Blau weiß er, in Gouachen ebenso wie auf Porzellan, zur Geltung zu bringen – ein Durchlaß für Blicke in die Unendlichkeit.

Näher an seinem wohl eigentlichen Element, den sonnengegerbten Erdfarben, ist er bei der Bearbeitung von Keramik. Hier kann er auch das Material selbst formen und sodann beim Bemalen pastoser verfahren, also mächtige Farbspuren ziehen. Es ist, als sei er hier – nach seinem glückhaften Ausflug in die Weiße des Porzellans – wieder ganz bei sich daheim.

Emil Schumacher: Gouachen der 80er Jahre / Arbeiten auf Keramik und Porzellan. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9. Bis 12. Juni (di-sa 10-18 Uhr, mi 10-20 Uhr, mo geschlossen). Eintritt 5 DM, zwei Kataloge (55/45 DM).




Neues Gustav-Lübcke-Museum mit Luft und Licht für die Kunst – Zur Eröffnung in Hamm: Schau über ägyptischen Totenkult

Von Bernd Berke

Hamm. Mit einer weit ausladenden und doch sanften Schwingung, fast wie ein riesiger Konzertflügel, ragt der Bau in die sonst recht gesichtslose City. Welch ein Gewinn für eine Mittelstadt wie Hamm! Um ihr neues Gustav-Lübcke-Museum nach Entwürfen der dänischen Architekten Bo und Wohlert dürften die Westfalen überall beneidet werden. Der Neid wird wohl vorhalten, denn dies dürfte für lange Zeit der letzte große Museumsneubau in der Region bleiben.

36 Millionen DM hat das Haus gekostet. Um die Pläne, die bis ins Jahr 1981 zurückdatieren, wurde zäh gerungen. Die „Kulturfraktion“ aller Parteien hat den städtischen Finanzexperten sogar noch Luxus abgetrotzt. So durfte man zur Außenverkleidung Marmor statt Sandstein nehmen.

Das Kunst-Domizil ist deutlich lichter und luftiger geworden als das zehn Jahre alte Museum Bochum, das von denselben Architekten stammt. Gewisse Elemente finden sich zwar auch in Hamm wieder: die lange Rampe etwa, über die man in die obere Etage flanieren kann. Doch was in Bochum ein wenig beengt wirkt, ist hier zum allseits offenen Haus geraten. Nirgendwo stößt man auf verwinkelte Ecken, nirgendwo auf verschlossene Türen. Und im zweiten Stock mit seinen neuartig konstruierten Oberlichtern wird die Tageshelle staunenswert kunstfreundlich gefiltert.

„Durchbruch für diese Stadt“

Prof. Jürgen Gramke vom Sponsorenzirkel „Initiativkreis Ruhrgebiet“ legte denn auch nationale Maßstäbe an. um das Werk als „Durchbrach für diese Stadt“ zu preisen. Der Initiativkreis hat folglich in seine Schatullen gegriffen und die Eröffnungs-Ausstellung mitfinanziert. Was wenige wissen: Hamm verfügt über die größte ägyptologische Sammlung von NRW. Um diese Bestände gruppiert sich die Premierenschau – vor allem mit Leihgaben aus dem Roemer- und Pelizaeus-Museum zu Hildesheim.

„Ägypten – Geheimnis der Grabkammern“ versammelt etwa 300 Exponate aus 3000 Jahren Totenkult. Da die alten Ägypter fest an ein Fortleben im Jenseits glaubten, handelt es sich vor allem um Grabbeigaben, die den Verstorbenen eine bekömmliche Existenz über den Tod hinaus sichern sollten. Neben Nahrungsgefäßen für die Todesreise gab es sogar hilfreich-magische Figürchen, die den Sterblichen in jener anderen Weit die lästige Arbeit abnehmen mußten. Ein Höhepunkt der Ausstellung ist die fotomechanisch reproduzierte Grabkammer des Bürgermeisters Sennefer von Theben. Das dreidimensionale Schaustück hat schon einige Tourneen hinter sich.

Keine geringen Folgekosten

Mag die Eröffnungsschau auch sehenswert sein und mag auch die Hammer Sammlung (Schwerpunkte: Informel-Malerei, Stadtgeschichte) nun erstmals richtig zur Geltung kommen, so bleiben doch offene Fragen. Wie sieht es z. B. mit den Folgekosten aus? Eine Stadt wie Frankfurt, die sich in besseren Zeiten reihenweise neue Museen zulegte, verzweifelt heute daran. In Hamm kommen durch das Museum zwei Mio. DM jährliche Kosten auf die Kommune zu.

Oberstadtdirektor Dieter Kraemer ließ durchblicken, daß das Museum durch gewieftes Marketing einen Großteil dieser Lasten selbst ausgleichen soll. Für die Eröffnungsschau kalkuliert Museumsleiterin Ellen Schwinzer mit bis zu 60 000 Besuchern, für künftige Vorhaben im Schnitt mit 30 000. Das zeugt nicht gerade von Pessimismus.

Neues Gustav-Lübcke-Museum. Hamm, Bahnhofstraße 9. Tel. 02381/17 25 24. Eröffnungsschau „Ägypten – Geheimnis der Grabkammern“. 26. September bis 27. Februar 1994 (Eintritt 8 DM, Grundkatalog 28 DM, dreibändig 58 DM).