Auch ohne Bundesinstitut: Essen will Maßstäbe in der Fotokultur setzen

Sein Nachlass kommt nach Essen: Fotograf Michael Schmidt (1945-2014), hier in seiner Ausstellung „Waffenruhe“ im Essener Museum Folkwang, aufgenommen am 9. Februar 1988. (© Marga Kingler/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Essen als d i e deutsche Fotografie-Stadt? Nun ja, es ist kompliziert. Nach politischem Willen, insbesondere auf Bundesebene, wird das noch zu gründende Deutsche Fotoinstitut eben nicht in der Ruhrstadt, sondern in Düsseldorf angesiedelt. Doch just heute ging man in Essen an die Öffentlichkeit, um kundzutun, dass man auch so gehörige Pflöcke einschlagen kann: Das hochkarätige Archiv Michael Schmidt, Nachlass eines prägenden Fotografen des 20. Jahrhunderts, kommt im Herbst aus Berlin dauerhaft in die Fotografische Sammlung des Museums Folkwang.

Da erhob sich im Verlauf der Pressekonferenz gar die Frage, ob Düsseldorf angesichts solcher Entwicklungen vielleicht nur noch die zweite Geige spielen werde. Nun aber mal halb lang! Folkwang-Museumschef Peter Gorschlüter legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, dass die Essener mit dem künftigen Bundesinstitut und anderen fotografischen Einrichtungen einvernehmlich kooperieren wollen – und das in guter föderalistischer Tradition. Gorschlüter gehört zur Gründungskommission des Deutschen Fotoinstituts und vertritt von daher nicht ausschließlich Essener Interessen, sondern nimmt eine übergeordnete Perspektive ein. Er mag sich nicht einmal andeutungsweise zu Äußerungen über den vormaligen Konkurrenten Düsseldorf verleiten lassen.

Neuer Verein bündelt kulturelle Anstrengungen

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen fasste es so: Die Stadt habe sich „redlich und engagiert“ um den Standort des Fotoinstituts bemüht. In der nun einmal gefällten Entscheidung für Düsseldorf sehe er keinen Fehlschlag. Überdies sei kaum eine deutsche Region seit Erfindung der Fotografie gründlicher ins Bild gesetzt worden als das Ruhrgebiet. Man könnte anfügen: Das Revier ist ja auch nicht so furchtbar weit von der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf entfernt.

Unterdessen hat sich in Essen ein Zusammenschluss gewichtiger Institutionen formiert, der hier Anstrengungen zur fotografischen Kultur bündeln soll. Das Ruhr Museum auf Zeche Zollverein zählt ebenso zum erlesenen Kreis wie das Historische Archiv Krupp, die Folkwang Universität der Künste und eben das Museum Folkwang. Neuerdings (genauer: seit 31. Januar) agieren sie zusammen als gemeinnütziger Verein mit Sitz im markanten SANAA-Gebäude auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein. Auch dieses „Zentrum für Fotografie Essen“ ist ein Statement.

Bedeutsamer Nachlass kommt von Berlin nach Essen

Vor diesem Hintergrund darf die bevorstehende Überführung des Archivs Michael Schmidt als bedeutsames Signal gelten. Der Fotograf, der von 1945 bis 2014 gelebt hat, hatte schon sehr früh und fortan recht häufig Ausstellungen in Essen, wo er – in der Tradition eines Otto Steinert – zeitweise auch eine Lehrtätigkeit ausgeübt hat. Zentraler Ort seines bildnerischen Schaffens war allerdings Berlin, wo in Kreuzberg nach und nach ein bestens aufgearbeitetes Archiv seiner Werke entstanden ist. Folkwang-Direktor Gorschlüter über den wertvollen Nachlass: „Wir übernehmen also keine Bananenkisten.“

Schon jetzt hat man im Depot eine spezielle Ebene vorbereitet, auf der das Archiv Platz finden wird. Das Schmidt-Konvolut kommt als Dauerleihgabe nach Essen – vorläufig bis zum 31. Dezember 2039, sodann mit Verlängerungs-Option bis 2045, wenn sich Michael Schmidts Geburtstag zum 100. Mal jährt. Auch danach sind Vertrags-Verlängerungen möglich. Zur Bedeutung des Werks nur diese Stichworte: Nach schwierigen Anfängen brachte es Michael Schmidt zu einer internationalen Fotokunst-Laufbahn, die bis hin zu einer großen Retrospektive im Museum of Modern Art (MoMa) in New York führte. Zu seinen bekanntesten Schülern gehört Andreas Gursky.

Kein Ankauf, sondern großzügige Dauerleihgabe

Wie Peter Gorschlüter erläuterte, handelt es sich nicht um einen Ankauf, sondern um eine großzügige Überlassung durch die „Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt“, eine Einrichtung des finanzkräftigen Sparkassen- und Giroverbandes. Mit der Übergabe ans Museum Folkwang gelangt der Nachlass in öffentliche Obhut. Weitere Vergünstigung: Das Copyright an den Fotografien geht für die Dauer der Leihgabe ans Essener Museum über, kann also womöglich lukrativ genutzt werden. Außerdem stellt die Stadt Essen in diesem und wohl auch im nächsten Jahr je rund 250000 Euro bereit, um die Übernahme zu begleiten.

Schmidts Nachlass umfasst u. a. 107 Ordner mit Negativen, etwa 2000 Prints mit Werkcharakter sowie rund 20000 Kontakt-, Arbeits- und Testabzüge. Hinzu kommen umfangreiche Fachbibliotheken. Künftig wird all das für Forschungsarbeiten an der Folkwang Universität der Künste zur Verfügung stehen. Gut denkbar, dass der Bestand eine Art Magnetwirkung ausüben und weitere Sammlungen nach sich ziehen wird.




Die helle Pracht im Kohlenbunker – „Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr“ auf Zeche Zollverein

Hell und transparent: Blick in die Mittelachse der Essener Adels-Ausstellung. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

In wessen Namen wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts einer der ersten Hochöfen im später so genannten Ruhrgebiet (genauer: Oberhausen) betrieben? Kaum zu glauben, aber historisch verbürgt: Es war die Fürstäbtissin des Reichsstifts von Essen, Maria Kunigunde von Sachsen, die bereits eine andere Hütte besaß. Und wer hat die hernach so imposante Henrichshütte in Hattingen begründet? Graf Henrich zu Stolberg-Wernigerode aus dem Harz. Zwei bedeutsame Beispiele für den Einfluss des geistlichen und weltlichen Adels in der Ruhrregion.

Das Plakatmotiv der Ausstellung: Abb. Anna von der Horst, geb. von Palandt († 1585), nach 1560. (© Förderverein Schloß Horst e. V. / © Ruhr Museum, Gestaltung Uwe Loesch)

Dies und natürlich viel mehr erfährt man jetzt in einer umfangreichen Ausstellung des Ruhr Museums auf Zeche Zollverein in Essen: „Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr“ bringt vermeintlich unvereinbare Sphären zueinander. Doch der Adelsbegriff kann in diesen Breiten keinesfalls nur auf „Arbeiteradel“ oder „Schlotbarone“ bezogen werden, sondern bezeichnet generelle Geschichtslinien – zumal auf der langen Strecke vom Mittelalter bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

Besagte Äbtissin verlor jedoch alsbald das Interesse am Hüttenwesen und verkaufte anno 1805 ihre Anteile an die Brüder Franz und Gerhard Haniel. Aus all dem erwuchs später die Gutehoffnungshütte (GHH) – und der Name Haniel stand seither für eine der großen industriellen Dynastien.

Eigentlich müßig zu sagen, doch oft wird es ausgeblendet: Das Revier hat nicht nur eine Industriegeschichte, es hat auch lange Zeiten davor gegeben. Und die waren nun mal überwiegend feudalistisch geprägt, von gewissen (temporären) Ausnahmen wie der Freien Reichsstadt – und späteren Hansestadt – Dortmund einmal abgesehen, wo sich zeitweise ein selbstbewusstes Patriziertum entwickeln konnte.

Als das Bürgertum noch nicht unbeschränkt wirtschaften durfte

Bevor zu Beginn des 19. Jahrhunderts die allgemeine Gewerbefreiheit eingeführt wurde, durften Menschen aus dem Bürgertum nicht einfach Unternehmen gründen. Also war es am Adel, die frühesten Weichen in Richtung Industrialisierung zu stellen. Umso mehr legte es das begüterte Bürgertum später darauf an, den adligen Lebensstil nachzuahmen oder sich – besser noch – durch (wiederum dem Adel abgeschaute) Heiratspolitik mit dem Adel zu vermählen. Namen, die auf „höhere“ Abkunft hindeuteten, schmückten ungemein: Man denke nur an Krupp von Bohlen und Halbach.

…und noch ein etwas näherer Blick in die Ausstellung. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Größere Herrschaftsgebiete entwickelten sich in und nach dem Mittelalter vor allem in rheinischen Landen, rund um die Ruhr blieben auch die Adels-Verhältnisse recht kleinteilig, was sich nachhaltig auf die zerfaserte Struktur des Reviers ausgewirkt hat. Ließen sich hier auch nicht so übermächtige Herrscher mit großen Ländereien nieder, so entstanden doch zahllose kleinere Adelssitze – in einer Dichte wie sonst kaum irgendwo in Europa. Allerdings hielt sich hier der repräsentative Anspruch in Grenzen. Als Beispiele für Um- oder Neubauten vom 16. bis ins 18. Jahrhundert (im Stil der Renaissance oder des Barock) wären im Revier zu nennen: Schloss Horst in Gelsenkirchen, Schloss Bodelschwingh in Dortmund, Schloss Herten oder Schloss Strünkede in Herne.

Über 800 Objekte von 160 Leihgebern

Die Ausstellung breitet über 800 Objekte von rund 160 Leihgebern aus, viele Stücke stammen aus Privatsammlungen und sind teilweise noch nie öffentlich gezeigt worden. Die Versicherungssumme für all die Preziosen beträgt 30 Millionen Euro. Es finden sich hier alle möglichen Hinterlassenschaften früherer Adelsherrschaft – Original-Fragmente von Bauten ebenso wie Mobiliar, Gemälde und Skulpturen, liturgische Gerätschaften, Urkunden, Münzen, Waffen, Rüstungen oder auch Spezialitäten wie die Kinderkutsche des Grafen von Bentheim-Tecklenburg und ein Löwenfell, mit dem es seine adelige Bewandtnis hat. Und so fort…

Der Aufwand war beträchtlich. Zwei Kuratorinnen und ein Kurator haben drei Jahre lang an der Vorbereitung gearbeitet: Magdalena Drexl, Reinhild Stephan-Maaser und Axel Heimsoth haben dabei auch wertvolle Forschungsarbeit geleistet, so dass der Katalog wohl für längere Zeit als Standardwerk gelten kann.

Totenbild des Conrad von Romberg (1535-1605) zu Bruninghausen (heutiger Dortmunder Ortsteil Brünninghausen), um 1605/06. (Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund / Foto: Jürgen Spiler)

Prof. Heinrich Theodor Grütter, der Direktor des Ruhr Museums, kommt – wie so häufig – aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Seit 1989 betreue er Ausstellungen im Ruhr Museum (vormals Ruhrlandmuseum), dies sei eine der schönsten überhaupt. Besonders stolz ist er auf einige Kostbarkeiten aus dem Essener Domschatz, auf Exponate wie ein Karolingisches Evangeliar oder einen in Cappenberg verwahrten, rundum vergoldeten Barbarossa-Kopf (hier als Replik zu sehen), die erste vollplastische Darstellung eines lebenden Menschen im Mittelalter. Bis dahin waren nur Heilige so dargestellt worden.

Gläserne Transparenz

Der österreichische Architekt Bernhard Denkinger, nicht zum ersten Male fürs Ruhr Museum tätig, hat die Adelsschau gestaltet. Im fensterlosen früheren Kohlenbunker auf der 12-Meter-Ebene hat er staunenswert lichte Installationen vollbracht und allseits für gläserne Transparenz gesorgt. Die Mittelachse, an der sich fünf Epochen („Vor 1000 n. Chr.“, 1000-1500, 1500-1800, Preußischer Adel, „Nach 1918″ bis heute) chronologisch aufreihen, soll ganz feierlich an einen Zeremonienweg erinnern. Tatsächlich könnte die dezent edel gehaltene Inszenierung dazu verführen, durch diese Ausstellung geradezu zu schreiten. Seitwärts, in kleineren Kabinetten, werden typische Elemente des adeligen Lebens aufbereitet, beispielsweise geht es um Schlösser, Burgen und Parks, um Wohnkultur, Kindererziehung, Kunstsammlungen und „Wunderkammern“, um die hochherrschaftliche Jagd oder um rauschende Festivitäten.

Kindererziehung des Adels, hier anhand des Gemäldes „Wilhelm von Westerholt und Gysenberg mit Steckenpferd und Peitsche“, unbekannter Maler, 1846, Privatbesitz (© Ruhr Museum / Foto: Christoph Sebastian)

Nicht nur feierlich

Doch halt! Die Stimmungslage ist nicht durchweg feierlich. Die höchst zwiespältige, wenn nicht abgründige Rolle großer Teile des Adels in der NS-Diktatur (der man sich vielfach weitaus willfähriger anbequemte als der Weimarer Republik) kann selbstverständlich nicht ausgespart werden. Die vorherige Rolle des Adels beim preußischen Militär erfährt ebenfalls kritische Betrachtung. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird dem Adel freilich bescheinigt, nicht nur mit karitativem und kulturellem Engagement seinen Anteil an der Demokratisierung gehabt zu haben. Ohne Glanz und Gloria.

Das Konzept durfte nicht auf bloße Glorifizierung hinauslaufen, musste aber einigermaßen aus- und abgewogen sein, sonst wären viele Leihgaben wahrscheinlich nicht nach Essen gelangt. Überhaupt galt es zu Beginn, etliche vertrauensbildende Gespräche zu führen. Offenbar mit Erfolg. Zur Eröffnung sollten jedenfalls zahlreiche Gäste mit adeligen Stammbäumen erscheinen…

Die bleibende Sehnsucht nach Pomp und Prunk

Zudem kommt eine solche Ausstellung eben nicht ohne Schauwerte aus. Also hat man es vor allem auf gediegene Prachtentfaltung abgesehen. Wer will’s den Ausstellungsmachern verdenken? Mit Grau in Grau lockt man kein größeres Publikum – erst recht nicht bei diesem Thema, dessen Ausläufer bis hin zur Rolle des Adels in der Werbung und in der Yellow Press verfolgt werden. Die Sehnsucht nach Pomp und Prunk ist in unserer ach so nüchternen Republik noch nicht vorüber.

Und wie steht’s mit dem heutigen Adel? Ist er wirklich „verarmt“, wie es manchmal vermutet wird? Oder hat er nur seine alten Vorrechte verloren? Heinrich Theodor Grütter: „Verarmter Adel ist uns nicht untergekommen.“ Nun ja. Verhandlungen mit ärmeren Blaublütigen hätten allerdings auch keine kostbaren Leihgaben nach sich gezogen. Man dürfte sich wohl von Anfang an auf vielversprechende Kontakte konzentriert haben. Übrigens: Selbst nach der Revolution von 1918 ist der Adel nicht enteignet worden. Da ist also eine „solide Basis“ geblieben, wenn man es so nennen will.

Viele Adelige arbeiten heute halt in bürgerlichen Berufen, vorzugsweise als Selbstständige. Der Erhalt ihrer Adelssitze kommt sie vielfach teuer zu stehen, so dass zumindest partielle Umnutzungen (z. B. zu Museen) eher die Regel sind. Apropos: Einst gab es an Rhein und Ruhr etwa 400 Adelssitze. Rund 200 davon sind noch aufzufinden, gar manche jedoch nur noch als Ruinen.

Festessen auf der fürstlichen Hochzeit in Düsseldorf (1585), Garten aus Zuckerwerk – Franz Hogenberg in Dietrich Graminäus „Beschreibung derer Fürstlicher Güligscher ec. Hochzeit“, Köln 1587 (Archiv Schloss Hugenpoet, Essen / © Ruhr Museum / Foto Christoph Sebastian)

„Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr“. Ruhr Museum, Essen (12-Meter-Ebene in der Kohlenwäsche des Unesco-Welterbes Zollverein, Gelsenkirchener Straße 181). Vom 13. Dezember 2021 bis zum 24. April 2022 31. Juli 2022 (verlängert). Geöffnet Mo-So 10-18 Uhr.
Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro, Leute unter 18 Jahren sowie Studierende unter 25 Jahren frei. Katalog (384 Seiten, über 400 Abbildungen) 29,95 Euro.

Infos und Buchung (Mo-Fr 9-16 Uhr): Tel. 0201 / 24 681 444.
besucherdienst@ruhrmuseum.de

www.ruhrmuseum.de
www.tickets-ruhrmuseum.de




Das Ruhrgebiet – von allen Seiten betrachtet: 100 Jahre Regionalgeschichte, wichtige Kulturbauten und zigtausend Luftbilder

Auch ein Aspekt bei „100 Jahre Ruhrgebiet“: selbstironische Imagekampagne „Der Pott kocht“ (1999) mit einem hässlichen Entlein aus dem Revier. (© Leihgeber Regionalverband Ruhr RVR)

Zur Zeit geht’s aber so richtig rund mit der allseitigen Selbstvergewisserung im Ruhrgebiet: Neben der hier bereits ausführlich vorgestellten Schau „Kindheit im Ruhrgebiet“ des Essener Ruhr Museums gibt es jetzt mehrere bemerkenswerte Projekte, welche die ganze Region in den Blick nehmen.

Zuvörderst wäre eine weitere, noch aufwendigere Ausstellung des Ruhr Museums zu nennen, die parallel zu den Kindheits-Betrachtungen läuft: „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“ umgreift mit über 1000 Exponaten alle wesentlichen Bereiche des öffentlichen Lebens im Revier, und zwar seit Gründung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, die am 4. Mai 1920 von der preußischen Landesversammlung beschlossen wurde, um den „Wilden Westen“ zu zähmen und zu ordnen. Erst damals entstand im Ruhrgebiet das Bewusstsein der Gemeinsamkeiten. Der Rundgang durch die Ausstellung erweist sich als vielfach aufschlussreicher Streifzug durch Politik, Verwaltung, Industrie, Infrastruktur, Kultur, Wissenschaft und Sport in der Region. Welch eine überbordende Themenfülle! Mehr Einzelheiten dazu folgen demnächst an dieser und an anderer Stelle, nämlich im „Westfalenspiegel“.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“. 13. September 2020 bis 9. Mai 2021 im Ruhr Museum, Zeche Zollverein, Essen, Gelsenkirchener Str. 181 (Navi: Fritz-Schupp-Allee). Gebäude Kohlenwäsche, 12-Meter-Ebene. Geöffnet Mo-So (täglich) 10-18 Uhr, Eintritt 7, ermäßigt 4 Euro. Kinder/Jugendliche unter 18 frei. Katalog im Verlag Klartext (304 Seiten, über 300 Abb.), 29,95 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de

Stätten der Revierkultur

Glamouröser Auftritt: Hollywood-Star Joan Crawford mit einem Modell des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier – bei Eröffnung der Ausstellung „The New Theatre in Germany“, New York, 5. Februar 1961. (Silbergelatine-Abzug / © Baukunstarchiv NRW)

Eine zweite regionale Selbstbetrachtung mit deutlich mehr eingrenzender Fokussierung ist jetzt im Essener Museum Folkwang zu sehen, und zwar die Ausstellung mit dem (ironisch) staunenden Titel-Ausruf „Und so etwas steht in Gelsenkirchen…“ Hier dreht sich alles um bedeutsame „Kulturbauten im Ruhrgebiet nach 1950″ (Untertitel). Die in Kooperation mit dem Dortmunder Baukunstarchiv NRW und der TU Dortmund entstandene Zusammenstellung umfasst vor allem Skizzen, Pläne und Modelle, beispielsweise zu Bauten wie dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier, der Essener Aalto-Oper und dem Bottroper Museum Quadrat.

„Und so etwas steht in Gelsenkirchen…“. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. Bis 10. Januar 2021. Öffnungszeiten Di, Mi, Sa, So 10 – 18 Uhr, Do, Fr 10 – 20 Uhr, Mo geschlossen. Der Katalog (ca. 200 Seiten, 34 Euro) erscheint im November 2020 im Dortmunder Verlag Kettler.

Aus der Vogelperspektive

Nur mal so als Beispiel von der Seite 3d.ruhr: Schrägluftbild des Dortmunder Westfalenstadions (aka Signal-Iduna-Park), des Stadions Rote Erde, der Körnighalle, der Westfalenhalle und des Messegeländes. (© Geonetzwerk Metropole Ruhr / Regionalverband Ruhr (RVR) / virtualcity SYSTEMS GmbH)

Die Resultate des dritten Projekts kann man besichtigen, ohne das Haus zu verlassen. Auf der Internetseite https://www.3d.ruhr lassen sich – Stück für Stück, Straße für Straße, Haus für Haus – die Städte und Kreise des Ruhrgebiets aus der Vogelperspektive betrachten. Ein kurzes Video auf der Startseite erklärt diverse Zugriffs-Möglichkeiten. Insgesamt 150.000 Luftbilder sind die Grundlage für diesen bundesweit beispiellosen Auftritt, für den die Vermessungs- und Katasterämter der gesamten Region sich untereinander abgestimmt haben. Federführend beteiligt ist der Regionalverband Ruhr (RVR).

https://www.3d.ruhr

 

 




Kindheit im Ruhrgebiet – Erinnerung an versunkene Zeiten

Diese Fotografie aus dem Jahr 1958 ist zugleich ein Plakatmotiv der Schau: „Zwei Milchholer in Buer“ (Gelsenkirchen). (© Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Herbert Konopka)

Oh ja, so war es. Wirklich und wahrhaftig: Genau solche kurzen Lederhosen haben wir Jungs („My Generation“) damals Tag für Tag getragen. Robuster ging’s nimmer. Und ja: Das Tischfußballspiel aus Blech kennt man so auch noch. Ebenso grüßen die viele Jahrzehnte alte Spielesammlung und die Märklin-Eisenbahn aus versunkenen Zeiten herüber. Oder jene zerbeulten Kannen, mit denen man ins Milchgeschäft ging. Und, und, und.

Diese Ausstellung weckt Erinnerungen noch und noch, für und für. Überdies macht die Schau „Kindheit im Ruhrgebiet“ im Essener Ruhr Museum deutlich, wie sich auch hier die frühen Lebensjahre verändert haben. Nach dem Krieg herrschte vielfach noch Not. Die breite Mehrheit lebte in sehr schlichten Verhältnissen. Trotzdem erinnern sich die Menschen heute vor allem an Glücksmomente ihrer Kindheit.

Nach und nach drang dann die zuweilen grelle Konsumwelt – wie überall im Lande – mit wachsender Macht in die Kinderzimmer vor. Da gab’s dann in den späten 70er und frühen 80er Jahren die ersten, anfangs freilich noch sehr bescheidenen Spielkonsolen (mit dem Plop-Plop-Klassiker „Pong“ für den TV-Bildschirm) oder gar schon das erste eigene Fernsehgerät im farbstarken Stil der Zeit. Derweil verschwand allmählich die ehedem typische Ruhrgebiets-Kindheit vor rußigen Zechen- und Halden-Kulissen. Auch an Ruhr und Emscher zogen sich die meisten Kinder von draußen in die Häuser und Wohnungen zurück. Traurig genug: Je sauberer die Luft im Revier wurde, umso öfter blieben die Kinder drinnen.

Sichtlich oft und gern benutztes Spielzeug: drei Teddybären – mit dem Buch „Drei Bären“ von Leo Tolstoi, 1950er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Ausstellung, binnen zwei Jahren nicht zuletzt auf Anregung des Kinderschutzbundes (Ortsverband Essen e. V.) entstanden, reicht mit 66 Vitrinen-Exponaten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1989. Spätere Signaturen der Kindheit gelten (noch) nicht als aufbewahrenswert. Es fehlt noch die zeitliche Distanz. Wahrscheinlich tauchen diese Dinge ja eines Tages auf Dachböden oder in Kellern auf und werden wieder wertgeschätzt. Abwarten.

All die jetzt präsentierten Erinnerungsstücke kamen aufgrund zweier öffentlicher Aufrufe zusammen. 2018 meldeten sich zwar etliche Bürger, aber noch kaum mit nostalgischen Kleinoden aus den 80ern. So wurde im Sommer 2019 noch einmal nachgelegt. Michaela Krause-Patuto und ihr Kuratoren(innen)-Team hatten nunmehr eine reichere Auswahl. Sie führten zu jedem ausgesuchten Stück Gespräche mit den privaten Leihgebern, um jeweils einen Erzähl-Zusammenhang herzustellen. Aus diesen Geschichten wiederum ergab sich erlebte Geschichte. Wer das ausgiebig nachschmecken möchte, sollte sich den Katalog besorgen. Das wird jedes Exponat im persönlichen und zeitgeschichtlichen Kontext vorgestellt.

Zunächst galt es, für die Ausstellung den Zeitrahmen der Kindheit zu setzen: Er reicht vom 4. bis zum 14. Lebensjahr – von den ersten bewussten Erinnerungen bis zur Pubertät. So schieden beispielsweise niedliche Babymützen aus dem Angebot aus. Überhaupt wollte man das Ganze eben nicht putzig aufziehen, sondern durchaus ernsthaft und mit historischen Hintergründen angereichert. Darauf legt auch der Museumschef Prof. Heinrich Theodor Grütter großen Wert.

Zeittypische Sammlung: Glanzbilder in Zigarrenkiste, 1960er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Leihgaben verweisen vor allem auf die üblichen Phänomene und Stationen des Aufwachsens: Kindergarten, Schule, Spiele, Familie, Geburtstage, Weihnachten und sonstige Feste.

Die chronologisch angeordnete Galerieausstellung auf der 21-Meter-Ebene des Ruhr Museums wirkt sehr konzentriert. Jedes Exponat wird in einer eigenen Vitrine gezeigt. Das verleiht noch den unscheinbarsten Ausstellungsstücken eine ungeahnte Dignität. Selbst die Knicker-Kügelchen oder die Glanzbilder fürs Poesiealbum haben hier ihren veritablen Auftritt, sie wirken nicht wie Bestandteile eines Sammelsuriums, sondern wie Besonderheiten, die allerdings auch für ein Allgemeines stehen. Bekannter Effekt: Sieht man etwa Klassenfotos bestimmter Jahrgänge, so scheinen sie jeweils innig miteinander „verwandt“ zu sein. Doch natürlich ist jede Kindheit auch individuell verschieden.

Geradezu die Ikone einer ehemaligen Kindheit im Revier: „Henkelmann-Brücke“, Oberhausen, um 1960. (@ Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Rudolf Holtappel)

Und so lässt sich hier eine kleine Zeitreise in diverse Kindheiten der Region antreten. Sie führt vom Schulranzen, den der Bergmanns-Opa für seine Enkelin selbst angefertigt hat, und dem vom Vater gleichfalls selbst gebauten Puppenhaus (das der Elektriker mit winzigen Lichtleitungen versehen hat), übers liebevoll zusammengestellte Fußball-Autogrammalbum bis hin zur rasanten Carrera-Bahn, mit der man in der Ausstellung spielen darf. Überhaupt schließt der inspirierende Rundgang mit einigen „Spielinseln“, auf denen auch Erwachsene mal wieder ein wenig Kind sein dürfen.

Eines der größten Exponate ist eine „Seifenkiste“, die in keine Vitrine passte. Das vielleicht erstaunlichste Stück ist indessen das Holzfenster, das aus einem reviertypischen alten Kiosk (Büdchen) stammt. Als es bei einem Einbruch zerstört wurde, sicherte sich die Enkelin der Inhaberin das Fenster – zur bleibenden Erinnerung.

Nicht nur dreidimensionale Objekte sind zu sehen, sondern auch rund 120 Fotos zum Thema, die aus der ungeheuren Bild-Kollektion des Ruhr Museums stammen, welche rund 4 Millionen (!) Lichtbilder umfasst. Auch die Fotografien bringen, wie die Gegenstände, so manches wortlos auf den Begriff.

Einige Fotos zeigen beispielsweise auch die Kinder türkischer Familien oder anderer Migranten im Ruhrgebiet. Dazu muss man wissen, dass dieser Teil der Bevölkerung sich von den erwähnten Aufrufen überhaupt nicht angesprochen fühlte. Lediglich ganz vereinzelte haben Leute mit spanischen oder italienischen Wurzeln reagiert. Das gibt zu denken, weit über diese Ausstellung hinaus.

Zaghafte Anfänge einer neueren Zeit: Spielekonsole „tele-ball“, 1970er Jahre (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

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P.S.: Anno 2001 gab es mit „Maikäfer, flieg…“ eine entfernt vergleichbare Kindheits-Ausstellung im damaligen Essener Ruhrlandmuseum (Vorläufer des Ruhr Museums), die ich damals ebenfalls besucht habe. Die Besprechung findet sich hier.

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„Kindheit im Ruhrgebiet“. Ruhr Museum, Essen (Gelände der Zeche Zollverein, in der Kohlenwäsche, Galerie auf der 21-Meter-Ebene. Gelsenkirchener Straße 181 / Navi: Fritz-Schupp-Allee). Vom 7. September 2020 bis zum 25. Mai 2021, geöffnet täglich (auch Mo) 10 bis 18 Uhr. 24., 25. und 31. Dezember geschlossen.

Eintritt 3 €, ermäßigt 2 €, Kinder und Jugendliche unter 18 frei (Führungen gibt es schon für Kinder ab 5). Besucherdienst: Mo-Fr 9-16 Uhr, Tel. 0201 / 24681 444. Katalog 24,95 Euro.

Online Tickets buchen: https://ruhrmuseum.ticketfritz.de

Beim Besuch gilt die Corona-Schutzverordnung des Landes NRW. Aktuelle Details: www.ruhrmuseum.de/de/informationen-zum-besuch/ hygiene-und-vorsorgemassnahmen/

 




Regionale Erdung, weiter Horizont – Buch und Ausstellung zum Thema „Mensch & Tier im Revier“

Der Titel „Mensch & Tier im Revier“ wirkt anheimelnd. Doch dieses Buch kommt vor allem anfangs auch mit gewichtigem theoretischen Unterbau und gesellschaftskritischem Besteck daher. Anlässe gibt’s ja genug.

Und so erfahren wir eingangs, dass das menschengeprägte Erdzeitalter, das Anthropozän, sich in der bisherigen Form dem Ende zuneige und dass wir endlich in eine – Achtung, Neologismus! – „humanimale Sozietät“ eintreten sollen. Sprich: Mensch und Tier mögen gleichsam auf Augenhöhe existieren, dem Tier wird eine Art „Inklusion“ zuteil und es sieht seinen so ganz anderes gearteten Geist (jawohl: Geist) gleichberechtigt gewürdigt. Eine ferne Utopie? Oder eine dringliche Notwendigkeit? Jedenfalls eine Sichtweise, die sich mit herkömmlichen Zoos oder zirzensischen Attraktionen nicht mehr vereinbaren lässt.

Grubenpferd, „Taubenvatta“ und Bergmannskuh

In fünf Hauptkapiteln greift der hochinteressante Band (und die zugehörige Ausstellung im Essener Ruhr Museum mit über 100 Exponaten und mehr als 100 Fotografien) die Aspekte seines vielfältigen Themenkreises auf, der nach Möglichkeit mit prägnanten Belegstücken aus der Geschichte des Reviers illustriert wird. Und ja: Auch der früher so allgegenwärtige „Taubenvatta“ sowie die Ziege als „Bergmannskuh“ kommen natürlich ebenso vor wie Gruben- oder Brauereipferde.

Der Horizont des Buches wie der Schau reicht allerdings weit über die Region hinaus, er erstreckt sich zugleich ins Existenzielle und Universelle. Man darf getrost von einem Standardwerk zum Thema sprechen, wobei es in den Texten häufig deutlich ernster zur Sache geht als in den Illustrationen.

Die Kapitel-Überschriften lauten:

1.) Tiere töten
2.) Tiere nutzen
3.) Tiere lieben
4.) Tiere ordnen
5.) Tiere deuten

Der Mensch handelt, das Tier erduldet und erleidet

Da gibt es, allen Differenzen zum Trotz, Gemeinsamkeiten: Immerzu ist nämlich der Mensch der Handelnde, das Tier erduldet und erleidet zu allermeist die Aktionen und Emotionen des Homo sapiens. Das biblische „Macht euch die Erde untertan“ wirkt lange und vielfach schrecklich nach.

Ganz unverhüllt und explizit zeigt sich das Gewaltverhältnis zu Beginn: „Tiere töten“ handelt vornehmlich von Jagd und Schlachtung, aber auch von rabiater Insektenvernichtung oder massenhaft überfahrenen Tieren. In den Blick gerät selbst ein Bildschirmspiel wie „Moorhuhn“, bei dem die Comic-Tierchen halt bedenkenlos abgeknallt werden. Befinden wir uns hier im Grenzgelände zwischen berechtigter Mahnung und humorfreier Spaßbremsung?

Auch in der Abteilung „Tiere nutzen“ verhält es sich nicht gerade zu wie auf dem sprichwörtlich idyllischen Ponyhof: Da geht es etwa um barbarische Tierversuche, erbärmlich ausgebeutete Grubenpferde, Brieftauben im Militärdienst, rücksichtslose Elfenbein-, Pelz- und Leder-Gewinnung, wobei im Ruhrgebiet das vielzitierte „Arschleder“ der Bergleute nicht fehlen darf.

Objekte der sortierenden Wissenschaft

„Tiere lieben“ klingt demgegenüber harmlos und versöhnend, doch auch die oftmals übertriebene Vermenschlichung und Verniedlichung der Tiere wird deren Wesen keinesfalls gerecht. Die herablassende Haltung schließt etwa die Zurschaustellung in Varietés und Zirkuszelten mit ein. Auch der vermeintliche „Schutz“ von Tieren hat furchtbare Kehrseiten: So wurden in Kriegszeiten Pferde in die Schlachten geschickt, notfalls mit Gasmasken versehen. Das war natürlich alles andere als mitfühlend.

„Tiere ordnen“ bezieht sich auf die Systematik der wissenschaftlichen Betrachtung, die im Tier vor allem ein Objekt sieht. Ausgestopfte Exemplare in naturkundlichen Sammlungen sind nur ein Ausdruck dieses herrschaftlich sortierenden und zergliedernden Zugriffs auf die Schöpfung, zu dem sich die Menschen selbst ermächtigen. Überdies umfasst der „Ordnungs“-Gedanke auch die ideologische Indienstnahme der Tiernatur – bis hinab zur 1935 in Essen gezeigten Ausstellung „Mensch und Tier im deutschen Lebensraum“, die unterm überdimensionalen Hitlerbild und unter Schirmherrschaft des „Reichsjägermeisters“ Göring rund 350.000 Besucher anzog.

Mit Blattgold überzogener WM-Krake

Schließlich „Tiere deuten“. Hier erfährt man von mancherlei Zuschreibungen symbolischer oder religiöser Art, mit denen der Mensch sich das Tier gedanklich für seine emotionalen Bedürfnisse zurechtlegt. Das Spektrum reicht hier vom putzigen Zigaretten-Igel bis zum Amulett und Wappentier, vom Tierkreiszeichen bis zum prolligen Fuchsschwanz am Auto-Rückspiegel.

Sogar der Oberhausener Fußball-Krake Paul, der bei der EM 2008 und bei der WM 2010 so manches Match mit deutscher Beteiligung richtig „vorhersagte“ und posthum mit Blattgold überzogen wurde, wird in diesem Zusammenhang noch einmal dargeboten. Das Exponat stammt übrigens aus dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund und zeugt auf bizarre Weise von einem obsoleten Blick auf die Tierwelt.

Das Buch

Heinrich Theodor Grütter / Ulrike Stottrop (Hrsg.): „Mensch & Tier im Revier“. Klartext Verlag, Essen. 304 Seiten Katalogformat, fester Einband, über 230 Abbildungen. 29,95 Euro.

Die gleichnamige Ausstellung

„Mensch & Tier im Revier“. Bis zum 25. Februar 2020 im Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Essen. Mo bis So 10-18 Uhr. 24., 25. und 31.12 geschlossen. Eintritt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro. Welterbe Zollverein, Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. www.ruhrmuseum.de 




„Aufbruch im Westen“: Schau über die Essener Gartenstadt und die Künstlerkolonie Margarethenhöhe im Ruhr Museum

Blick in die Ausstellung „Aufbruch im Westen". Im einstigen Industrie-Ambiente kommen die Exponate speziell zur Geltung: in der Mitte Joseph Enselings monumentale Bronze-Skulptur „Säerin", links vorne Gustav Dahlers Bildnis der Fotografen-Tochter „Sabine Renger-Patzsch" (um 1929/31). (Ruhr Museum / Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung „Aufbruch im Westen“. Im einstigen Industrie-Ambiente kommen die Exponate speziell zur Geltung: in der Mitte Joseph Enselings Bronze-Skulptur „Die Säerin“, links vorne Gustav Dahlers Bildnis der Fotografen-Tochter Sabine Renger-Patzsch (um 1929/31). (Ruhr Museum / Foto: Bernd Berke)

Solch einen „Aufbruch im Westen“ könnte man wohl auch heute gut gebrauchen. Damals, um 1919, fügte sich eins zum anderen. Maßgebliche Leute in Wirtschaft, Politik und Kunst zogen gleichsam am selben Strang. Geld war (mit gutem Willen auch für kulturelle Zwecke) reichlich vorhanden, das Ruhrgebiet war eine Boom-Region, wie man heute sagen würde. Auch waren die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und der hieß Essen.

So konnte (schon seit 1909) in vielen Bauabschnitten die famose Essener Gartenstadt Margarethenhöhe entstehen, in der sich ab 1919 nach und nach eine beachtliche Kolonie von Künstlern und Kunsthandwerkern niederließ. Die Nachkriegszeit, zugleich die nach-wilhelminische Ära, verhieß ihnen neue Freiheiten.

Das Ruhr Museum auf dem Gelände der Welterbe-Zeche Zollverein widmet sich jetzt mit der Ausstellung „Aufbruch im Westen“ jener Künstlersiedlung, die seinerzeit weit hinaus wirkte, gerade deshalb in der NS-Zeit schon ab 1933 schnellstens auf Linie gezwungen wurde und nach 1945 leider nur rudimentäre Fortsetzungen erfuhr.

Impression aus der Gartenstadt Margarethenhöhe, um 1912 – mit dem „Schatzgräberbrunnen" von Joseph Enseling. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Meinholz)

Impression aus der Gartenstadt Margarethenhöhe, um 1912 – mit dem „Schatzgräberbrunnen“ von Joseph Enseling. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Meinholz)

„Hagener Impuls“ als Keimzelle

Immerhin lebte der damals entwickelte Folkwang-Gedanke museal und in Form von Ausbildungsstätten weiter; freilich, wie Museumschef Prof. Heinrich Theodor Grütter betont, als Folkwang-Hochschule nicht mehr im urbanen Zentrum der Stadt, sondern in Essen-Werden, draußen im Süden. Trotzdem hält Grütter dafür, dass ohne jene Aufbruchszeiten Essen und das Ruhrgebiet weit weniger Chancen gehabt hätten, 2010 europäische Kulturhauptstadt zu werden. Eine gewagte Hypothese? Oder einfach ein weiter Horizont? Jedenfalls haben in Deutschland allenfalls die Gartenstädte von Dresden (Hellerau) und Darmstadt (Mathildenhöhe) annähernd vergleichbare Bedeutung erlangt.

Die Folkwang-Idee (derzufolge Kunst und Kunsthandwerk als Gesamtkraft das ganze Leben durchziehen sollten) keimte anfänglich nicht in Essen, sondern zuerst in westfälischen Gefilden, genauer: in Hagen, wo der rührige Mäzen Karl Ernst Osthaus etliche hochkarätige Künstler um sich scharte oder zumindest mit ihnen korrespondierte. Von diesem „Hagener Impuls“, der sich sodann zum „Westdeutschen Impuls“ steigerte, handelt ein Prolog der Ausstellung. Nicht nur Osthaus‘ inspirierendes Netzwerk fruchtete Jahre später in Essen und anderen Revierstädten, 1927 ging die gesamte Osthaus-Sammlung nach Essen und bildete den reichen Grundstock des Museums Folkwang. Für Hagen ein unermesslicher Verlust, für Essen ein kaum zu überschätzender Zugewinn.

Krupp-Witwe als kunstsinnige Stifterin

Doch Geist und Ästhetik allein hätten nicht genügt, um die Margarethenhöhe zu gründen und zur Blüte zu führen. Es fehlten noch Geld und Macht. Nach dem Tod des Industrie-Magnaten Friedrich Alfred Krupp – wahrscheinlich durch Selbstmord – leitete seine kunstsinnige Witwe Margarethe (die der Gatte vordem wegen ihrer „Renitenz“ in die geschlossene Abteilung einer Anstalt hatte wegsperren lassen) treuhänderisch den Stahlkonzern. Nach dieser Interimszeit gründete sie am 1. Dezember 1906 eine bestens ausgestattete Stiftung für Wohnungsfürsorge, in deren Gefolge die Essener Gartenstadt entstand – unter der Ägide des Architekten Georg Metzendorf. Eine treibende Kraft bei dem Großprojekt war auch der 1918 bis 1922 amtierende Oberbürgermeister Hans Luther, später (1925/26) Reichskanzler an der Spitze einer kurzlebigen Koalition.

Die kunstsinnige Stifterin: Margarethe Krupp mit ihren Töchtern Bertha und Barbara, um 1895. (© Historisches Archiv Krupp, Essen - Foto: Rainer Rothenberg)

Die kunstsinnige Stifterin: Margarethe Krupp mit ihren Töchtern Bertha und Barbara, um 1895. (© Historisches Archiv Krupp, Essen – Foto: Rainer Rothenberg)

Um 1919 begann Margarethe Krupp, zahlreiche Künstler(innen) in die Siedlung zu holen – zuerst den Grafiker Hermann Kätelhön, der jüngst (beim Abschied von der Steinkohle) wieder als Chronist der Zechenära zu neuen Ehren kam. Ihm ist auch eine ergänzende Ausstellung im erhalten gebliebenen Kleinen Atelierhaus der Mathildenhöhe (6. Mai bis 9. Februar 2020) gewidmet.

Nach und nach gesellten sich Kätelhön in unmittelbarer Nachbarschaft zu: der Bildhauer Will Lammert, die Buchbinderin Frida Schoy, die Goldschmiedin Elisabeth Treskow, der Fotograf Albert Renger-Patzsch (dem die vorherige Ausstellung des Ruhr Museums galt), die Maler Kurt Lewy, Gustav Dahler, Josef Albert Benkert und Philipp Schardt, die Bildhauer Richard Malin und Joseph Enseling sowie einige andere. Enseling, der sich nach 1933 mit den neuen Machthabern einließ, war übrigens nach dem Krieg für ein paar Semester Lehrmeister von Joseph Beuys, bevor der sich Ewald Mataré zuwandte. Ein Kapitel für sich.

Bis ins Detail durchdachte Möblierung

Über 700 Exponate werden aufgeboten, um uns eine Ahnung der einstigen Aura und ihrer Hintergründe zu geben. Die Ausstellung zeichnet nicht nur die architektonische Entwicklung des stadtnahen Geländes nach, sondern vor allem und buchstäblich ganz zentral den künstlerischen Ertrag. Als immer mehr Künstler, Kunsthandwerker und Gewerke Quartier in der Siedlung bezogen, entstanden Atelierhäuser und Werkstätten (etwa für Keramik), in denen gemeinsam gearbeitet werden konnte. Reichlich Aufträge gab’s hier gleichfalls.

Entwurf des Gartenstadt-Architekten Georg Metzendorf: Türgriff der gehobenen Ausführung aus dem Jahr 1921. (© Sammlung Rainer Metzendorf, Mainz - Foto: Rainer Rothenberg)

Entwurf des Gartenstadt-Architekten Georg Metzendorf: Türgriff der gehobenen Ausführung aus dem Jahr 1921. (© Sammlung Rainer Metzendorf, Mainz – Foto: Rainer Rothenberg)

Der Wiener Architekt Bernhard Denkinger hat die Schau gestaltet. Um ein zentrales Rondell (vor allem mit Skulpturen der Margarethenhöhe, z. B. Joseph Enselings „Die Säerin“ sowie Katzen-, Hühner- und Bärendarstellungen) gruppieren sich Themenbereiche wie etwa die Entfaltung der Folkwang-Ideen in Essen oder die Ausstattung und Möblierung der Wohnhäuser auf der Margarethenhöhe. Hier war alles formal durchdacht und sorgsam durchgearbeitet – buchstäblich bis hin zur Türklinke und sogar bis zum Spülkasten der Toilette. In dieser Abteilung bewegt man sich sozusagen im tagtäglichen Innenleben des Themas. Wenigstens kann man es sich einigermaßen vorstellen.

Allen vorhin genannten Künstler(inne)n sind jeweils eigene Seiten-Kabinette oder – wie Denkinger es nennt – „Lauben“ mit prägnanten Beispielen fürs Lebenswerk gewidmet. Populärstes Ausstellungsstück dürfte die Meisterschale des Deutschen Fußballbundes von 1948/49 sein, die von der vormaligen Gartenstadt-Goldschmiedin Elisabeth Treskow geschaffen wurde und 1955 am Ort verblieb, als Rot-Weiss Essen den Titel gewonnen hatte. Lokalgeschichtlich kaum minder bedeutsam ist das prachtvolle „Stahlbuch“ (Gästebuch der Stadt), entworfen und gefertigt von der Buchbinderin Frida Schoy.

Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (Kopie), eine Schöpfung der Goldschmiedin Elisabeth Treskow von 1948/49. (© Rot-Weiss Essen / Foto: Rainer Rothenberg)

Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (Kopie), eine Schöpfung der Goldschmiedin Elisabeth Treskow von 1948/49. (© Rot-Weiss Essen / Foto: Rainer Rothenberg)

Die dunkelste Zeit der Siedlung

Auch die dunkelste Zeit der Siedlung wird nicht übergangen. Gleichsam als „Kehrseite“ der Blütezeit ist sie im hintersten Bereich der Ausstellung zu finden. Da lernt man, wie fürchterlich entschieden die Nazi-Machthaber den freiheitlichen Geist der Margarethenhöhe abgewürgt haben. Auch vereinzelte Hervorbringungen von NS-Kunst, eigentlich nur mit besonderer Umsicht in solcherlei kulturhistorischen Kontexten präsentabel, sind da zu gewärtigen. Dabei erfährt man, dass manche Protagonisten der Margarethenhöhe sich dem Ungeist der „neuen Zeit“ zumindest anbequemt haben, während die Aufrechten gemaßregelt oder drangsaliert und ins Exil getrieben wurden.

Das alles ist umso betrüblicher, als sich doch 1919 und in den frühen Zwanziger Jahren die Künste in vordem ungeahnter, endlich demokratisch verfasster Liberalität hatten entfalten können. Es war manches möglich, was man sich zuvor nur erträumt hatte. Ein veritabler Aufbruch auch in diesem Sinne. 1933 wurde all das zunichte.

In Essen stellt man die Künstlerkolonie nicht zuletzt in größere Zusammenhänge der Moderne – zuvörderst bezieht man sich aufs heuer vor 100 Jahren gegründete Bauhaus; ein Jubiläum, das derzeit ohnehin zahlreiche Ausstellungen nach sich zieht. Wie viele Kreuz- und Querverbindungen es da gibt und wie sehr man andererseits zwischen diversen Strömungen differenzieren sollte, damit könnte man wahrscheinlich ganze Fachtagungen bestreiten.

  • „Aufbruch im Westen“. Die Künstlersiedlung Margarethenhöhe. 8. April 2019 bis 5. Januar 2020. Täglich (Mo-So) 10-18 Uhr.
  • Essen, Ruhr Museum auf Zollverein. Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. (Navigation zu den Parkplätzen A1 und A2: Fritz-Schupp-Allee).
  • Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €. Katalog im Klartext-Verlag, 304 Seiten, 300 Abbildungen, 29,95 €.
  • Umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Exkursionen, Workshops etc. Infos/Buchungen (Führungen): 0201 / 24681 444. Internet: www.ruhrmuseum.de



Wie eine späte Heimkehr: Essener Ruhr Museum zeigt stilbildende Revier-Fotografien von Albert Renger-Patzsch

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Über Jahrzehnte hinweg hat dieser Mann den Blick geprägt, mit dem viele Menschen die Landschaft des Ruhrgebiets wahrgenommen haben: Albert Renger-Patzsch (1897-1966) ist wahrhaftig ein stilbildender Fotograf gewesen. Jetzt widmet ihm das Essener Ruhr Museum auf dem Gelände der Zeche Zollverein eine Ausstellung, die just hierher gehört: „Die Ruhrgebietsfotografien“ waren ab Ende 2016 zunächst in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, jetzt ist die Ausstellung – in stark erweiterter Form – gleichsam heimgekehrt.

Renger-Patzsch, sonst vorwiegend als Auftrags-Fotograf unterwegs, hat die Ruhrgebietslandschaften als sein größtes freies Projekt in Angriff genommen. Es sind keine Ansichten eines kurzfristig Zugereisten. Renger-Patzsch war mit dem Revier vertraut. Der Fotograf lebte von Ende 1929 bis zum Oktober 1944 (als sein Haus bei Luftangriffen zerstört wurde) in der Essener Künstlersiedlung Margarethenhöhe.

Schon vor seiner Umsiedlung ins Ruhrgebiet war der gebürtige Würzburger prominent gewesen, insbesondere durch seinen vielbeachteten Bildband „Die Welt ist schön“ von 1928, der mit Pflanzen-, Tier- und vor allem Objektaufnahmen bereits die neusachliche Sicht auf die Welt kultivierte.

Entdeckung der „Zwischenstadt“

Die jetzt in Essen gezeigten Serien seiner Ruhrgebiets-Aufnahmen sind vorwiegend zwischen 1927 und 1935 entstanden. Im Kontrast zwischen noch ländlichen Stadträndern und gewaltig aufkommenden Industrie-Giganten hat er völlig neuartige Räume bzw. Raum(un)ordnungen entdeckt und festgehalten. Viel später hat man für derlei schwer beschreibliches Niemandsland den Begriff „Zwischenstadt“ verwendet.

Und tatsächlich: Seine Bilder von Zechengebäuden und Halden-Landschaften, Vorstadt-Siedlungen und Schrebergärten zeigen ein damals atemberaubend neues Amalgam aus schwindender Natur und ungeheuerlich wachsender Industrie. Das hat es in dieser Form in ganz Deutschland nicht so beispielhaft monumental gegeben, auch in Europa suchten solche Konglomerate ihresgleichen.

„Fotograf der Dinge“ – wertfrei und objektiv?

Als Fotograf im Umkreis der Neuen Sachlichkeit hat sich Renger-Patzsch (ganz anders als etwa Erich Grisar, dem das Ruhr Museum und im Gefolge die Dortmunder Zeche Zollverein zuvor eine Ausstellung gewidmet haben) absolut nicht für Arbeitsbedingungen oder gar für Klassenkämpfe interessiert. Seine Bilder sind denn auch menschenleer, er ist ein „Fotograf der Dinge“.

Wohl erst mit heutigem Blick sieht man die Trostlosigkeit und die argen Verletzungen, die der Landschaft zugefügt wurden. Renger-Patzsch hingegen hat offenkundig noch den bizarrsten Industrie-Wüsteneien ästhetische Valeurs abgewonnen. Auch das macht diese Bilder so scheinbar zeitenthoben und klassisch. Ja, seine Sichtweise mutet weitgehend emotionslos, „objektiv“ und „wertfrei“ an, doch könnte man gegen die letzten beiden Zuschreibungen eine ganze Menge einwenden.

Ruhrgebiet früherer Zeiten

Es ist dies eine Wiederbegegnung mit dem „alten“ Revier, wie es bis in die 1960er Jahre hinein Bestand hatte, insofern liegen die 20er und 30er gar nicht so immens weit zurück. Die Ansammlungen von Schloten zwischen einer kahlen Baumreihe oder direkt hinter einer Arbeitersiedlung im Essener Nordend wirken durchaus imposant, die zuweilen monströsen Halden haben etwas von großer Geste.

Wertungen sind diesen Bildern allerdings fremd, auch die gewiss dürftigen Häuser wirken wie selbstverständlich hingestellt. Und wenn sich ein Zechenturm samt Schornsteinen direkt hinter einem geduckten Fachwerkhaus erhebt oder einige Kühe vor Schlotkulisse stehen, so sind das beileibe keine kritischen Stellungnahmen, sondern: Es ist, wie es ist.

Keine sonderlichen Schwierigkeiten nach 1933

Jedenfalls war sein bildkünstlerisches Werk auch nach 1933 sozusagen „anschlussfähig“, er scheint in der Nazi-Zeit keine sonderlichen Schwierigkeiten gehabt zu haben und konnte sogar für die paramilitärische NS-Organisation Todt tätig werden. Andererseits hatte er lediglich im Winter 1933/34 einen Lehrauftrag an der Essener Folkwang-Schule für Gestaltung. Hat er sich bewusst entzogen?

Ergänzt werden die zentral präsentierten Ruhrgebietslandschaften mit rund 200 weiteren Fotografien von Albert Renger-Patzsch, die sich in einigen Seitenkabinetten gruppieren und ebenfalls mehrheitlich Vintage-Prints, also Originalabzüge sind. Es handelt sich überwiegend um Auftragsarbeiten, entstanden ab den 1920ern bis in die 1960er Jahre, beispielsweise für die Bochumer Edel-Tischlerei Dieckerhoff oder fürs Museum Folkwang, wo Renger-Patzsch seinerzeit ein eigenes Atelier hatte.

Rare Porträtaufnahmen

Hinzu kommen Aufnahmen der Villa Hügel, des Essener Münsters (Domkirche), der Gartenstadt Margarethenhöhe und von markanten Zechenbauten, nicht zuletzt vom jetzigen Ausstellungsort, der Zeche Zollverein – und aus der kriegszerstörten Stadt Essen. Als sein Haus in der Margarethenhöhe zerstört wurde, zog die Familie zum Künstler Hermann Kätelhön nach Wamel (Möhnesee) bei Soest.

Die Ausstellung, gemeinsam kuratiert von Stefanie Grebe (Essen) und Simone Förster (München), hält noch eine weitere Spezialität bereit: Überraschend für den sonst so sehr auf Dinge fixierten Renger-Patzsch, finden sich auch einige Porträtaufnahmen, die zwar gleichfalls von meisterlichem Handwerk und von Kunstfertigkeit zeugen, aber bei weitem nicht so stilbildend sind wie eben seine (Zwischen)stadtlandschaften. Interessant auf jeden Fall einige der Dargestellten: Die Skala reicht vom berühmten Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus (Hagen, 1920) über Großindustrielle wie Hugo Stinnes (Mülheim/Ruhr, 1930) bis zum 1935 porträtierten jungen Juristen bei den Rheinischen Stahlwerken in Essen. Er hieß übrigens Gustav Heinemann und wurde Jahrzehnte später Bundespräsident.

Kölner Galerie und Münchner Stiftung

Nun soll noch geklärt werden, wer all die fotografischen Schätze gesammelt und bewahrt hat. Es waren Ann und Jürgen Wilde, die schon sehr zeitig Fotografie als Kunst betrachtet und präsentiert haben, als die Marktpreise noch nicht verrückt gespielt haben. Bereits 1974 zeigten sie in ihrer Kölner Galerie Ruhrgebietsbilder von Albert Renger-Patzsch, dessen Werk sie auch hernach gepflegt haben. Seit 2010 ist die Stiftung Ann und Jürgen Wilde der Münchner Pinakothek der Moderne angegliedert, womit sich auch der Ort der Erstausstellung erklärt. Im Ruhrgebiet freilich wird man diese Ausstellung ganz anders rezipieren als an der Isar.

Albert Renger-Patzsch: Die Ruhrgebietsfotografien. Essen, Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181 (Navigation: Fritz-Schupp-Allee, 45141 Essen). 8. Oktober 2018 bis 3. Februar 2019. Geöffnet Mo bis So 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie für Studierende unter 25. Katalog (336 Seiten, ca. 200 Schwarzweiß-Abb.) 29,80 €. Weitere Infos: www.ruhrmuseum.de und Tel.: 0201 / 24 681 444.

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Nachbemerkung:

Aus Urheberrechtsgründen mussten die Fotos einzelner Werke zu dieser Ausstellung leider sechs Wochen nach Ende der Schau gelöscht werden. Somit steht jetzt nur noch der Text fast ohne bildliche Anschauung hier – bis auf einen einzige, sehr ungenauen Blick auf Stellwände. Ob wohl auch die Print-Medien Bilder in ihren Online-Auftritten getilgt haben?




Durchs „Schwarze Gold“ wurde Europa hell und bunt: Schau auf Zeche Zollverein zelebriert das Kohle-Zeitalter

Bergmann und Grubenpferd als "Arbeitskameraden", Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Bergmann und Grubenpferd als „Arbeitskameraden“, Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Im Dezember ist Schicht im Schacht, dann wird mit Schließung der Bottroper Zeche Prosper-Haniel das Steinkohle-Zeitalter im Ruhrgebiet und damit in ganz Deutschland enden. Da sollte man sich noch einmal bewusst machen, was die Kohle eigentlich bedeutet hat. Jetzt gibt es Gelegenheit. Und wie!

Eine geradezu ausufernde Ausstellung in Essen schickt sich an, uns die Sinne zu öffnen, wenn man sich denn von der betäubenden Menge und Vielfalt nicht ins Bockshorn jagen lässt: „Das Zeitalter der Kohle“ heißt sie, laut Untertitel erzählt sie (wohl auch wegen entsprechender Fördermittel) „eine europäische Geschichte“, und zwar so ungefähr seit 1800 bis heute. Die Macher wissen nicht einmal so ganz genau, ob sie nun rund 1000 oder 1200 Exponate zeigen. Ist ja im Endeffekt auch zweitrangig.

Treibstoff der Moderne

Ohne Kohle keine Moderne. Auf diese knappe Formel könnte man den „Parcours“ (so sportlich benennen sie in Essen den Rundgang) auf mehreren Ebenen in der gigantischen Mischanlage der Zeche Zollverein bringen. Beispielsweise hätte es ohne Kohle keine künstlichen Farbstoffe gegeben. Plakativ gesagt: Die Welt wurde bunt, während die Bergleute unter Tage schwarz wurden. Eine grandiose Installation aus etwa 3000 bis 4000 Original-Fläschchen mit derlei Farbstoffen führt das Ausmaß vor Augen. Auch hier hat wohl niemand exakt nachgezählt, es kommt halt auf den optischen Gesamteindruck an.

Aus Kohle entstanden: Tausende Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Aus Kohle entstandene Substanzen: Mehrere Tausend Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Die Welt wurde nicht nur bunter, sondern auch heller, denn die Gaslaternen, die damals immer mehr Städte erleuchteten, hätte es ohne Kohle so ebenfalls nicht gegeben. Ohne Kohle und ihre Nebenprodukte wären schließlich auch die Anfänge der modernen Chemie undenkbar gewesen. Da reden wir unter anderem von lebenswichtigen Medikamenten. Und von Düngemitteln. Von Bakelit. Und und und.

Keim des einigen Kontinents

Weit mehr noch: Mit Kohle wurden Dampfmaschinen angetrieben, hernach auch Dampflokomotiven und Dampfschiffe. Also änderte sich die Verkehrs-Infrastruktur grundlegend. Mit Kohle-Energie wurden sodann auch die verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts geführt, Kohle und Stahl galten als besonders „kriegswichtig“. Diesem Aspekt ist ein Extra-Kapitel der Ausstellung gewidmet.

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Und wie war das noch mit Europa? Nun, die Kohle, sprich die Gründung der Montanunion im Jahr 1951, stand am Beginn des europäische Einigungsprozesses. Der Impuls, der dahinter stand: Nie wieder sollten auf diesem Kontinent Kriege um Energie geführt werden. Ohne Kohle auch keine EU? Hört sich gewagt an, aber in den Anfängen ist was dran. In Essen kann man jetzt das staunenswert gut erhaltene Gründungsdokument des europäischen Kohleverbundes sehen – u. a. mit den Unterschriften von Robert Schuman und Konrad Adenauer, der nicht als Kanzler, sondern in seiner damals zusätzlichen Eigenschaft als Außenminister signierte.

Gewichtiger Auftakt zur Ausstellung: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest der größte in Deutschland. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewichtiger Auftakt zum Rundgang: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest in Deutschland der größte. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewaltige Geschichten

Man ahnt: Die Bedeutung der Kohle kann schwerlich überschätzt werden, sie hat tatsächlich ein ganzes Zeitalter geprägt, im Ruhrgebiet und anderswo bis tief in die Sozialstrukturen und in den Alltag hinein. Gewaltige Geschichten von Migration, Klassenkämpfen und Naturzerstörung sind hierbei zu erzählen. Was freilich gleichfalls stimmt: Die Kohlegewinnung hat auch einige Waldstücke gerettet, denn sonst wäre viel mehr Holz verbrannt worden.

All diese Phänomene – und einige Verzweigungen mehr – werden in der Schau aufgegriffen, für die das Ruhr Museum und das Deutsche Bergbau-Museum Bochum ihre eh schon gehörigen Kräfte vereint haben, als Hauptförderer tritt zudem die RAG-Stiftung in Erscheinung. Der Gesamtetat beträgt deutlich über 2 Millionen Euro, bei 80.000 Besuchern wäre man finanziell „aus dem Schneider“. Heinrich Theodor Grütter, Chef des Ruhr Museums, wäre sicherlich noch zufriedener, wenn um die 100.000 kämen.

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Zugang auch per Standseilbahn

Falls es so viele Besucher sein werden, so müssten sie sich beim originellsten Zugang per Standseilbahn (150 Meter) gewiss auf längere Wartezeiten einrichten, denn hier können immer nur wenige Leute auf einmal zusteigen. Aber man kann ja auch mit dem Aufzug ganz nach oben fahren, wo die Schau beginnt und dann etagenweise abwärts führt. So geht es sich allemal bequemer, als wenn man „bergauf“ müsste. Außerdem ist es themengerecht, denn man kann sich dabei Gänge und Fahrten in die Tiefe besser vorstellen. Rein theoretisch, versteht sich.

Der immense Aufwand ist jedenfalls angemessen. Denn derart vielfältig ist die Themenpalette, dass natürlich selbst über 1000 Ausstellungsstücke bei weitem nicht ausreichen, das Spektrum in aller Breite und Tiefe darzustellen. So erschöpft sich selbst diese streckenweise strapaziöse Groß-Inszenierung notgedrungen in lauter Hinweisen und Anspielungen, die füglich zu ergänzen wären. Will man mehr Durchblick und Zusammenhang, so wird man sich wohl den Katalog zulegen und/oder eine Führung buchen müssen. Auch wäre ein mehrfacher Besuch ratsam. Dann kann man sich auch eingehender den Grundsatzfragen widmen, wie etwa der, warum Menschen eigentlich auf die wahnwitzige Idee gekommen sind, derart brachial in die Tiefen der Erde vorzudringen.

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Kohlegürtel von England bis zur Ukraine

Um 1750/1800 begann zwar in einem europäischen West-Ost-Gürtel, der schließlich von England über Nordfrankreich, Belgien und das Ruhrgebiet bis in die Ukraine reichte, das eigentliche Kohle-Zeitalter mit zusehends intensiverem Abbau. Doch blickt die Ausstellung gleich eingangs noch viel weiter zurück, nämlich um einige Millionen Jahre, als das nachmalige „Schwarze Gold“ ursprünglich aus Farnwäldern entstanden ist. Man hat eine australische Sorte aufgetrieben, die den damaligen Gewächsen recht ähnlich sein soll. Daneben thront ein kolossales Stück Kohle, es ist wohl mindestens das größte in Deutschland, wenn nicht noch weiterer Superlative würdig: Sieben Tonnen wiegt der Würfel, er wäre längst gebröckelt, hielte ihn nicht Epoxidharz zusammen. Das Schaustück wurde – abseits der üblichen Produktion – anno 2016 abgebaut.

Ein Mobile aus Arbeitswerkzeug

So ist man denn eingestimmt auf die Inszenierungen der (Stuttgarter) Gestaltungs-Agentur „Space 4“, die sich beispielsweise ein Riesen-Mobile aus bergmännischem Gerät ausgedacht und implantiert hat. Überhaupt bietet die Ausstellung etliche imponierende Schauwerte und Punkte zum Innehalten. So manches Objekt verströmt überdies die Aura des Authentischen, die über das rein Museale hinausweist. Leitidee im Kernbestand der Ausstellung ist die vielfältige Bedeutung von Feuer, Wasser, Luft und Erde für den Bergbau. Man geht also ganz elementar ans Thema heran.

Lebensrettender Schuh

Welche weiteren Stücke soll man aus der Fülle nun besonders hervorheben? Das Ensemble der historischen Gaslaternen, die über den Köpfen der Besucher schweben? Die Wandtapete mit Darstellung der Eisenbahn von St. Ètienne nach Lyon? Die internationale Gemäldegalerie mit Porträts steinreich gewordener „Schlotbarone“? Die vielen prägnanten Fotografien, die vom Alltag der Bergleute und von nahezu mörderischen Arbeitsbedingungen zeugen? Vielleicht jenen unscheinbaren Arbeitsschuh des Hauers Fritz Wienpahl, der 1930 in der Castroper Zeche Victor verschüttet wurde und just diesen Schuh als lebensrettendes Trinkgefäß verwenden konnte? Die gewaltigen Gerätschaften auf dem Freigelände um die Mischanlage, die als eine Art Skulpturenpark präsentiert werden? Oder jenes Dokument, welches belegt, dass sich schon 1962 in Essen eine Interessengeminschaft gegen Luftverschmutzung im Revier formierte?

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Wehmut und Zukunft

Doch vergessen wir nicht die eher unspektakulären Momente, die das Ganze einrahmen: Ganz zu Beginn blicken wir in die gleichermaßen erschöpften und stolzen Gesichter von Bergleuten direkt nach der Schicht; am Schluss sehen wir Video-Aufzeichnungen ehemaliger Kumpel, die darüber nachdenken, was das Ende des Bergbaus für sie und für die Region bedeutet. Einer sagt fassungslos: „Da stehsse da. Wat machsse denn jetz?“ Überhaupt vernimmt man da viel Wehmut und Resignation, gegen die all die vielen Kohle-Kulturprojekte dieses Jahres unter dem Strukturwandel-Motto „Glückauf Zukunft!“ angehen wollen. Es möge nützen.

Der Abschied von der Kohle vollzog sich in unseren Breiten übrigens deutlich glimpflicher als in England. Dort fielen die Menschen in der berüchtigten Thatcher-Ära tatsächlich ins „Bergfreie“ und in die Verarmung. Auch dazu gibt es Exponate in Essen, so einen Solidaritätsaufruf aus dem Ruhrgebiet für die britischen Kollegen – und ein Plakat zum Benefizkonzert der Gruppe „Clash“ von 1984.

„Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“. 27. April bis 11. November 2018. Essen, Unesco-Weltkulturerbe Zeche Zollverein, Areal C (Kokerei), Mischanlage (C 70), Eingang am Wiegeturm, Arendahls Wiese.

Geöffnet täglich Mo-So 10-18 Uhr, Eintritt 10 €, ermäßigt 7 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie Studierende unter 25.

Öffentliche Führungen Mo-So 11 Uhr, 90 Minuten, 3€ pro Person plus Eintritt (Infos/Buchungen Tel. 0201 / 24681-444 und per Mail: besucherdienst@ruhrmuseum.de), Audioguide 3 €. Katalog (Klartext Verlag) 24,95 €. Umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Exkursionen usw.

Mehr Infos: www.zeitalterderkohle.de

 

 




„Zeit-Räume Ruhr“: Orte der Erinnerung im Revier gesucht

Jetzt mal Butter bei die Fische: An welchen Ort im Ruhrgebiet erinnern Sie sich besonders intensiv, ob nun gern oder ungern?

Das Plakat zum Projekt "Zeit-Räume Ruhr": Zechenkumpel wird zum... IT-Experten, Hipster oder was auch immer. (© Zeit-Räume Ruhr / Gestaltung: Freiwild Kommunikation)

Das Plakat zum Projekt „Zeit-Räume Ruhr“: Zechenkumpel wird zum… IT-Experten, Hipster oder was auch immer. (© Zeit-Räume Ruhr / Gestaltung: Freiwild Kommunikation)

Wenn Ihnen dazu jetzt oder demnächst etwas einfällt und Sie vielleicht auch noch eigene Fotos vom besagten Ort beisteuern können, dann sollten Sie vielleicht an einem neuen Projekt mitwirken. Es heißt „Zeit-Räume Ruhr“ und soll revierweit ortsbezogene Erinnerungen sammeln, später dann sichten und werten.

Texte und Bilder einfach hochladen

Es ist ganz simpel: Texte und Bilder bis zum 31. Dezember 2017 auf der Internetseite www.zeit-raeume.ruhr hochladen – und schon ist man dabei, wenn denn der Beitrag Netiquette und Gesetze nicht verletzt. Ansonsten gilt selbstverständlich: „Eine Zensur findet nicht statt“.

Treibende Kräfte sind das Ruhr Museum auf dem Gelände der Essener Kulturwelterbe-Zeche Zollverein, der Regionalverband Ruhr (RVR) und das zur Ruhr-Uni Bochum (RUB) gehörige Institut für Soziale Bewegungen. Wie in derlei Fällen landesüblich, soll es im Gefolge der Internetseite einen Fachkongress und eine Buchpublikation geben.

Bisher noch sehr übersichtlich

Und wie schaut’s jetzt auf der Seite aus? Bisher noch sehr übersichtlich. Gewiss, erst heute ist die Aktion auf einer Pressekonferenz in Essen vorgestellt worden, also kann sich seither nicht allzu viel getan haben. Die benannten Orte kann man einstweilen noch an zwei Händen abzählen. Abwarten.

Was bisher (Stand 18. Januar, 18 Uhr) zu finden ist, entspricht im Wesentlichen den Glaubensbekenntnissen des Regionalverbandes, dass nämlich der Strukturwandel an der Ruhr auf dem besten Wege sei. So gilt etwa das „Dortmunder U“ ebenso als Ort des geglückten Umschwungs wie auch die einstige Hertener Zeche „Schlägel und Eisen“. Um es zuzuspitzen: Man erinnert sich ans kohlenschwarze Gestern und freut sich am bunteren Heute. Wenn die allerersten Äußerungen nicht als bloße Anreize im redaktionellen Auftrage entstanden sind, sollte es mich wundern. Künftig kann es eigentlich nur interessanter werden.

Rivalität der Städte

Überdies träumt man beim RVR immer noch von einer Vernetzung der ganzen Region, der manche am liebsten den Kunstbegriff „Ruhrstadt“ und entsprechende Verwaltungsstrukturen überstülpen würden. Sie sind noch allemal am Rivalitäts- und Kirchturmdenken der einzelnen Städte gescheitert, was man bedauern mag. Doch mal ehrlich: Wenn ich „meine“ Erinnerungsorte aussuche, so liegen sie weit überwiegend in Dortmund und eben nicht in Bottrop, Herne, Oberhausen oder Gelsenkirchen. Unter veränderten Vorzeichen wird es den meisten ähnlich gehen. Isso, woll?

Nach Möglichkeit sollen es beim „Zeit-Räume“-Projekt kollektive Erinnerungsorte sein und wohl weniger Locations wie die eigene Schule (obwohl sich da manche Erinnerungen bündeln) oder der Arbeitsplatz – es sei denn, es handele sich um eine Zeche bzw. ein Stahlwerk. Denn von den einstigen Verhältnissen geht man immer noch aus. Auch das Plakat hebt auf die Kumpel-Zeiten ab.

Wandel der Ansichten

Einigermaßen spannend und anregend könnte die allmählich anwachsende Sammlung werden, wenn sich zu bestimmten Orten viele, womöglich konträre Erinnerungen „anlagern“ und sich dabei auch verschiedene zeitliche Perspektiven ergeben. Die Siebzigjährige erinnert sich halt anders als ein 25jähriger. Genau diesen Wandel der Ansichten soll das Projekt ja auch spiegeln. Derselbe Ort kann eben auf ganz unterschiedliche Weise Erinnerungen prägen.

Es wäre außerdem gut, wenn tatsächlich nicht nur die üblichen Sehenswürdigkeiten und „Landmarken“, sondern auch verborgene oder vergessene Ecken des Reviers auf der bislang noch so spärlich gefüllten Landkarte der Homepage auftauchten.

Steilvorlage vom Schalke-Fan

Übrigens sind die „Orte“ nicht nur wortwörtlich zu verstehen. Im Anfangsbestand der Netzseite finden sich auch überörtliche Themen wie „Flucht/Vertreibung“ (aus dem Osten ins Ruhrgebiet) und „Kohlenkrise/Zechensterben“, die nur beispielhaft in Bochum verankert werden. Einer nennt gar Herbert Grönemeyers Schallplatte „4630 Bochum“ als seinen liebsten Erinnerungsort. Wenn man auf der Scheibe mal keinen Drehwurm kriegt!

Ein anderer Revierbewohner gibt schon mal mit Schalker Kindheitserinnerungen an die Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn eine Steilvorlage. Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, dass Dortmunder mit „Rote Erde“ oder Westfalenstadion kontern und sich das Ganze ein bisschen hochschaukelt.

Um die Leute zu animieren, haben die Projektemacher schon mal vorab ein paar Orte vorgeschlagen: An den Phoenixsee (Dortmund) dürften sich freilich nur neuere Erinnerungen ergeben, ans Bochumer Schauspielhaus schon deutlich tiefer reichende. Und ans Bochumer Kneipenviertel Bermuda3eck? Nun ja. Was heißt hier Erinnerungen? Jedenfalls nicht an gestern Abend…

www.zeit-raeume.ruhr

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Nachtrag, 19. Januar, 10:30 Uhr: Inzwischen sind schon über 20 Erinnerungsorte verzeichnet. Es scheint zu werden…




Der Sound des Aufbruchs im Revier: Ruhr Museum zeigt 60 Jahre „Rock & Pop im Pott“

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Essens Kulturdezernent Andreas Bomheuer erinnert sich: Essener Songtage 1968, ein singuläres Ereignis in der neueren Musikgeschichte des Ruhrgebiets. Der legendäre Frank Zappa entstieg auf der Bühne einem Sarg und fragte das Publikum schlankweg: „How do you feel?“ Dann legte er los. – Bomheuer ist heute noch ergriffen von dem Moment: „So etwas vergisst man nie.“

Just in Essen, im Ruhr Museum auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein, schickt sich jetzt eine Ausstellung an, derlei kostbare Erinnerungen en gros zu wecken: „Rock & Pop im Pott“ erzählt die Geschichte der populären Musik im Revier über 60 Jahre hinweg. Dazu bietet man die immense Fülle von rund 1500 Exponaten auf (etwa die Hälfte davon Schallplatten).

Historischer Startpunkt sind die damals bundesweit beispiellosen Dortmunder Jugendkrawalle im Spätherbst 1956. Deutsche Radiosender spielten seinerzeit keinen Rock’n’Roll, also musste man sich die Schaffe im Kino „reinziehen“. Es lief der Film „Rock Around the Clock“ (deutscher Titel „Außer Rand und Band“) mit Bill Haley.

Dortmunder Jugendkrawalle

Nach dem Lichtspiel waren nahezu 2000 Jugendliche tatsächlich dermaßen aufgekratzt, dass gar Scheiben zu Bruch gingen – ein in jenen Jahren ungeheuerlicher Vorgang, über den etwa der „Spiegel“ breit berichtete und der schon die Energien ahnen ließ, die sich in dieser Musik Bahn brachen. Fotos und aufgeregte Zeitungsartikel erinnern daran. Interessanter Nebenaspekt: In den Anfangszeiten war – neben dem Kino – auch die Kirmes ein Ort, an dem Rock’n’Roll zur Geltung kam. Auch hier konnte man für ein paar Stunden aus der landläufigen Spießigkeit der Adenauer-Ära ausbrechen.

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Die Schau beginnt mit markanten Songzitaten und dem Durchgang durch einen Sound-Raum, in dem Highlights des Ruhrgebiets-Rock zur 15minütigen Bild- und Toncollage komprimiert sind. Eine Ausstellung über Musik geht halt nicht ohne Musik. Es ist freilich eine Gratwanderung: Man kann Rock & Pop zwar nicht nur in Vitrinen einsperren, doch andererseits muss man im Museum weit übers bloße „Zuballern“ mit Musik hinaus gelangen.

Sperrholzkisten-Ästhetik

Das Rock-Spektrum im Westen der Republik reicht von Nena bis Herbert Grönemeyer, von Phillip Boa bis Extrabreit (die heute zur längst überbuchten Eröffnung der Ausstellung spielen), von Franz K. bis Geier Sturzflug, von Grobschnitt bis Bröselmaschine. Auch die Humpe-Schwestern Inga und Annette stammen aus dem Ruhrgebiet, genauer: aus Hagen. Die berühmte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“ brachte ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck.

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe "The Kepa Beatles" in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe „The Kepa Beatles“ in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

Nach dem akustischen Einstieg wird man über einen Boden mit starken Farben (nach passender Maßgabe der Pop Art) durch die Jahrzehnte geleitet, unterwegs waltet eine dem Gegenstand angemessene Sperrholzkisten-Ästhetik. Bloß nicht zu schick und gediegen werden, lieber ein wenig „schmutzig“ bleiben! Einige Seitenkabinette vertiefen die Themen des Hauptstrangs, da geht es beispielsweise um veränderte Tanzstile und vielfach ausdifferenzierte Moden.

Das Team unter Leitung des Museumschefs Prof. Heinrich Theodor Grütter hat kaum eine Facette ausgelassen, die Ausstellung entfaltet ein wahres Kaleidoskop, sie trumpft hie und da mit raumgreifenden „Leitobjekten“ (Kinokasse, Jukebox, Synthesizer) auf, lässt aber nebenher auch manche Zwischentöne anklingen.

Wenn Rock historisch wird

Grütter hält dafür, dass eine solche Ausstellung erst jetzt wirklich sinnvoll sei, weil nun manche Entwicklungen abgeschlossen und somit „historisch“ sind. Mitten im Strom der Ereignisse wäre eine museale Aufarbeitung kaum möglich gewesen. Am Konzept beteiligt war übrigens das Dortmunder Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet. Eine Einrichtung, die sicherlich größere Beachtung verdient.

"Schmutzige" Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von "Eisenpimmel". (Ruhr Museum)

„Schmutzige“ Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von „Eisenpimmel“. (Ruhr Museum)

Zur besseren Gliederung gibt es eine Außen- und eine Innenperspektive, sprich: Hier geht es sowohl um Gastspiele internationaler Rock- und Pop-Stars im Revier, allen voran Beatles (25. Juni 1966) und Stones (12. September 1965) in der Essener Grugahalle, als auch um die zahllosen Bands, die im Ruhrgebiet selbst entstanden sind.

Heinrich Theodor Grütter selbst erinnert sich gern an die Jungs aus seiner Heimatstadt Gelsenkirchen, die als „German Blue Flames“ Furore machten und als eine der ganz wenigen deutschen Gruppen im „Beat Club“ des Fernsehens spielen durften.

Zu großen Teilen ist die Ausstellung eine Angelegenheit für „Best Agers“, wie Grütters selbstironisch anmerkt. Erkennbar ist aber auch das Bemühen, denn doch ein paar jüngere Leute aufs Zollverein-Gelände zu locken, beispielsweise durch Live-Konzerte und musikalische Workshops.

Hymnen aufs Revier

Hunderte, ja Tausende Formationen sind seit Ende der 50er Jahre im Revier entstanden. Zunächst spielten sie Rock’n’Roll und Beat, es folgten z. B. Protestlieder, Krautrock, Neue Deutsche Welle, Punk und Heavy Metal, schließlich Techno und HipHop, wobei in letzterer Stilrichtung Migranten den Ton angeben. Gar nicht mal so erstaunlich: Von den Kindern der Zugewanderten stammen, wie Experten versichern, neuerdings auch die treffendsten „Hymnen“ aufs vielfach geschundene Revier.

Eine regional zugespitzte These der Schau lautet, dass das proletarisch geprägte Revier für Beatmusik fast so prädestiniert gewesen sei wie die Gegend um Liverpool. Immerhin hat ja der Dortmunder Manfred Weissleder den Star Club in Hamburg gegründet, in dem die Beatles frühen Ruhm erlangten. Auch in späteren Jahrzehnten kann man dem (zuweilen rebellischen) Geist der Ruhrregion nachspüren. So hat das einst stählerne Industriegebiet buchstäblich seine eigenen Spielarten des Heavy Metal hervorgebracht.

Weitere Leihgaben gesucht

Die Essener haben den strammen Ehrgeiz, möglichst die gesamte Band-Landschaft des Ruhrgebiets zu kartographieren. Bereits jetzt zeugen über 700 Tonträger-Exponate von ungeheurer Vielfalt. Und die bis Februar 2017 dauernde Schau soll unentwegt wachsen: Wer selbst noch dergleichen Schätze hortet, soll sich melden und womöglich zum Leihgeber werden. Auch Bands, die schon Tonträger veröffentlicht haben (im Zweifelsfalle reichen Demo-Kassetten), werden aufgefordert, Laut zu geben. Das Ganze könnte zur Unternehmung von geradezu enzyklopädischen Ausmaßen anschwellen…

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs "Fantasio", 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs „Fantasio“, 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Man sollte sich jedenfalls für diese Schau reichlich Zeit nehmen, am besten (ganz im Sinne der Veranstalter) mehrmals kommen, sonst entgehen einem vielleicht Feinheiten wie etwa die Catering-Listen von Rockstars (welchen Saft wollten sie trinken?) oder rare Plakate wie jenes der vom Niederländer Ruud van Laar begründeten Dortmunder Kultstätte „Fantasio“ von 1971, das einen Auftritt des famosen Gitarristen Rory Gallagher avisierte. Oder ein hübsches Detail auf dem Plakat von 1967, das die Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle ankündigte und den Eintrittspreis mit schlappen 7 Mark angibt. Man vergleiche, was heute für die Crew von Mick Jagger aufgerufen wird.

Königsweg der Kultur

Rock & Pop haben auch im Revier etliche neue Auftrittsorte (neudeutsch Locations) entstehen lassen, dies ist natürlich gleichfalls Thema im Ruhr Museum, ebenso wie Fanzines, Szene-Zeitschriften und Devotionalien, das technische Equipment (vor allem zahlreiche Gitarren) oder die großen Festivals von „Rockpalast“ bis „Juicy Beats“, wobei die in Duisburg katastrophal beendete Loveparade nur diskret gedämpft zur Sprache kommt.

Glasklar wird allerdings, dass die anfangs so misstrauisch beäugte und niedergehaltene Rock- und Popkultur in den letzten Jahrzehnten recht eigentlich der Haupt-und Königsweg der Kultur gewesen ist. Wer damals jung war, hat es eh im Innersten gespürt.

„Rock & Pop im Pott“. 5. Mai 2016 bis 28. Februar 2017. Geöffnet Mo-So 10 bis 18 Uhr. Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (Gebäude A 14), kostenlose Parkplätze A 1 und A 2, Zufahrt über Fritz-Schupp-Allee. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de Audioguide 3 Euro. Katalog 304 Seiten, 33 Abbildungen (Klartext Verlag) 24,95 Euro. Info-Telefon/Buchung von Führungen: 0201 / 24 681 444.




Erinnerungstheater aus dem Revier – Neue Einblicke in die Sammlung des Ruhr Museums

Vor allem für Auswärtige sei’s gesagt: Das Ruhr Museum beherbergt die wohl umfangreichste Sammlung zur hiesigen Regionalgeschichte und befindet sich seit einigen Jahren auf dem Gelände der Essener Zeche Zollverein, welche bekanntlich als Unesco-Weltkulturerbe firmiert. Punkt.

Panorama vom Gelände der Essener Zeche Zollverein, auf dem sich das Ruhr Museum befindet. (Foto: Bernd Berke)

Panorama vom Gelände der Essener Zeche Zollverein, auf dem sich das Ruhr Museum befindet. (Foto: Bernd Berke)

Nach und nach werden die gesamten Bestände gesichtet, sukzessive ausgestellt und sorgsam katalogisiert. Dabei treten, gleichsam Stück für Stück, neue Einsichten und Erkenntnisse zutage. Jüngste Frucht der Bemühungen: Jetzt ist – unter dem Titel „Arbeit und Alltag“ – ein Konvolut aus dem Kernbesitz zu sehen, nämlich rund 350 Exponate aus der Kollektion zur Industriekultur und Zeitgeschichte.

Weißblech-Trinkflaschen der Bergleute, um 1970-1981 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Weißblech-Trinkflaschen der Bergleute, um 1970-1981 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Was dabei zum Vorschein kommt, ist nicht etwa aus der eh schon lohnenden Dauerausstellung des Hauses abgezweigt worden, sondern stammt aus den reichhaltigen Depots. Praktisch alle Schaustücke waren bislang noch nicht öffentlich zu sehen.

Die Ausstellung wurde kuratiert von Frank Kerner und Axel Heimsoth. Sie und ihr Team haben wahrlich gewichtige Stücke ausgewählt, die von der heute unvorstellbaren Härte der Arbeit künden, beispielsweise eine tonnenschwere Gießpfanne, die einst bei Hoesch in Dortmund zum Einsatz kam. Kohle und Stahl stehen natürlich im Zentrum der Abteilung „Betrieb“, sie machten das frühere Ruhrgebiet aus.

Rührflügelwaschmaschine, um 1935 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Rührflügelwaschmaschine, um 1935 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Ungleich schwerer als heute war freilich auch die Hausarbeit, damals noch eindeutig Sache der Frauen. Wir sehen frühe Haushaltsgeräte für Waschtag, Küche und Näharbeiten. Jedes Stück enthält eine Geschichte, wenn man sie zu lesen und zu deuten weiß. Nicht alles, aber vieles ist spezifisch fürs Ruhrgebiet, so auch jenes schwarze Brautkleid einer Bergmannsfrau, das kostensparend auch im späteren Alltag getragen werden konnte.

Weißes und schwarzes Brautkleid, um 1872 und 1896 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Weißes und schwarzes Brautkleid, um 1872 und 1896 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Die zahlreichen Signaturen aus den recht sinnvoll angeordneten Bereichen Betrieb, Individuen (Kleidung, Porträts, Hygiene), Haushalt, Freizeit (Vereine, Vegnügen, Spielzeug) und Gesellschaft (Schule, Kirche, Herrschaft, Weltkriege) bescheren immer wieder kleine Aha-Erlebnisse. Aus all dem ergibt sich ein Kaleidoskop der alten Zeiten im Ruhrpott.

Man sollte hierzu möglichst den Katalog lesen, der viele Exponate einzeln erläutert. Da finden sich einige Prachtstücke eingehend beschrieben, so eine der ganz frühen, mit Gas beheizten Duschen der Firma Vaillant (um 1910), eine Schulbank von 1893, eigens konstruiert für den privathäuslichen Unterricht in den gehobenen Schichten oder ein gänzlich stählerner Altar aus einer Essener Kirche, der auf besondere Weise vom materiell grundierten Selbstbewusstsein der Region zeugt.

Über die historische Erzählung hinaus, entfalten manche Objekte auch ästhetische Qualitäten. Man schaue sich etwa die zerbeulten Weißblech-Kaffeeflaschen an, die von den Bergleuten unter Tage verwendet wurden. Sie wirken, derart gruppiert wie hier, als gehörten sie zu einer künstlerisch inspirierten Installation.

Museumsdirektor Heinrich Theodor Grütter spricht von einem „Erinnerungstheater“, das von manchen der Objekte angeregt werde. Tatsächlich begegnen einem hier etliche Gegenstände, die man kennt, wenn man schon lange im Revier lebt, „Gelsenkirchener Barock“ inbegriffen. Zumal die Zeitzeugnisse aus den 50er und 60er Jahren dürften noch viele Besucher zuinnerst ansprechen.

Radio-Fernseh-Kombinationstruhe Saba "Bodensee" Vollautomatic 126 Stereo (1960/61). (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Radio-Fernseh-Kombinationstruhe Saba „Bodensee“ Vollautomatic 126 Stereo (1960/61). (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Vor allem ältere „Ruhris“ werden hier vertraute Zeichen der herkömmlichen Identität dieser oftmals geschundenen Gegend finden. Und noch ein Stichwort wirft Grütter in die Debatte: „Verlusterfahrung“. Ja, es ist wahr: Ein Großteil der ausgestellten Gegenstände hat mit längst oder unlängst versunkenen Lebenswelten zu tun, insofern auch mit Wehmut.

Wie alle Sammlungen, so hat auch diese ihre Vorgeschichte. Schon um 1903 gab es in Essen Pläne zum Aufbau einer industriegeschichtlichen Sammlung, die jedoch durch mancherlei Fährnisse und Widrigkeiten über Jahrzehnte hinweg nicht zustande kam. Ja, wesentliche Bestände der Krupp-Werke wanderten gar nach München ab, wo sie einen Grundstock des Deutschen Museums bildeten. Immer diese Münchner…

Über einige Zwischenstationen (z. B. das heimattümelnde Ruhrlandmuseum der NS-Zeit, das Ruhrmuseum neben dem Folkwang-Museum in der Goethestraße) gelangte man schließlich aufs Areal der Zeche Zollverein. Den Rückstand beim Sammeln industrieller Zeugnisse hat man derweil vielfach einigermaßen aufgeholt, wenn nicht gar wettgemacht.

Hausschülerpult, 1893 (© Ruhr Museum, Foto Jens Nober)

Hausschülerpult, 1893 (© Ruhr Museum, Foto Jens Nober)

Erst gegen Ende der 1970er Jahre, als die Montanindustrie deutlich schwächelte und der erzwungene Strukturwandel sich abzeichnete, wurde sich das Revier selbst historisch und ging allmählich auf betrachtende Distanz zur eigenen Geschichte. Zugleich begannen sich die Historiker überall mehr und mehr für Alltagsdinge zu interessieren, die vordem missachtet worden waren. Erst jetzt wurde dementsprechend gesucht und gesammelt.

Aus solchen Entwicklungen erklärt sich der Zuschnitt der heutigen Sammlung, die nicht zuletzt durch Zeitungsaurufe rapide angewachsen ist. Und der Zustrom hört beileibe nicht auf: Allwöchentlich werden dem Museum, etwa bei Haushaltsauflösungen, viel mehr Objekte angeboten, als es jemals beherbergen kann.

Da heißt es klug und besonnen auswählen. Nicht alles, was persönlich bedeutsam ist, muss der Allgemeinheit etwas sagen und in ein Museum gehören. Direktor Grütter über den Zustand, um den die meisten Leiter von Kunstmuseen ihn beneiden dürften: „Wir haben kein Geldproblem, wir haben ein Platzproblem.“

„Arbeit & Alltag“. Industriekultur im Ruhr Museum. 26. September 2015 bis 3. April 2016. Mo bis So 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €. Katalog 29,80 (im Museum 19,80) Euro. Infos: www.ruhrmuseum.de

Ruhr Museum. UNESO-Welterbe Zollverein, Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (Gebäude A 16), Essen, Gelsenkirchener Straße 181. Adresse für Navi-Systeme: Fritz-Schupp-Allee 15. Kostenlose Parkplätze A 1 und A 2.