„Mut zu einem ganz neuen Anfang“ – David Grossmans Plädoyer für Frieden im Nahen Osten

Wenige Tage nach dem 7. Oktober 2023, als Terroristen die Grenze zu Israel überwanden, ein Massaker an Juden verübten und zahlreiche Geiseln nach Gaza verschleppten, schwankt David Grossman zwischen Entsetzen und Ohnmacht. Seit Jahren hatte der israelische Autor sich gegen die Besatzung ausgesprochen, Frieden und eine Zweistaaten-Lösung angemahnt.

„Was jetzt geschieht“, schreibt er, sei ein „Alptraum“ und zeige „den Preis, den Israelis zu zahlen haben, weil sie sich jahrelang von korrupten Politikern verführen ließen“, die „das Justizwesen, das Erziehungswesen wie auch die Armee unterhöhlten und bereit waren, uns alle existenziellen Gefahren auszusetzen, um den Ministerpräsidenten vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren.“

Doch bei aller „Wut auf Netanjahu, seine Leute und sein Vorgehen“ dürfe man sich „keiner Täuschung hingeben: Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein noch viel schwereres Verbrechen.

Die furchtbare Hierarchie des Bösen

Auch im Bösen gibt es eine Hierarchie. „Wenn man die Hamas-Terroristen auf Motorrädern sieht, wie sie junge Leute, von denen einige noch ahnungslos tanzen, einkreisen, um sie dann unter Jubelgeschrei wie Wild zu jagen und zu erlegen – ob man sie Bestien nennen sollte, weiß ich nicht, ihr menschliches Antlitz aber haben sie zweifelsohne verloren.“ Israel, das weiß er sofort, wird den Terror mit Krieg beantworten, und er vermutet: „Das Land wird nach dem Krieg sehr viel rechter, militanter und auch rassistischer sein“. Ängstlich fragt er: „Ist die winzige Chance auf einen wahren Dialog, auf ein irgendwie geartetes Abfinden mit der Existenz des jeweils anderen Volks nun für einige Jahre auf Eis gelegt worden, oder ist diese Aussicht womöglich auf ewig eingefroren?“ Dabei müsse doch jedem, der die Spirale der Gewalt durchbrechen will, klar sein: „Frieden ist die einzig Option.“

Was Grossman eine Woche nach dem „Schwarzen Schabbat“ formulierte, ist jetzt in einem Band mit Aufsätzen und Reden nachzulesen. Schon am 16. November 2023 fordert er in einer „Trauerrede für die Terroropfer“, den Hass zu überwinden und den „Mut zu einem ganz neuen Anfang“ aufzubringen.

Wie kann das denn funktionieren?

Grossman bleibt seiner Rolle als Friedensstifter treu. Bereits auf der „Münchner Sicherheitskonferenz“ von 2017 wies er darauf hin, dass der unablässige blutige Konflikt die Beteiligten „dermaßen deformiert, dass sie ihren eigenen existenziellen Interessen zuwiderhandeln.“ Die Politiker flehte er an: „Ich bitte Sie, alles zu tun, was in Ihren Kräften steht, um die beiden Seiten zusammenzubringen und den Dialog zu erneuern, dem beide schon seit Jahren mit der seltsamen Logik der Selbstzerstörung aus dem Weg gehen.“

Doch niemand mochte Grossman folgen. Dass seine Appelle nicht unumstritten sind, zeigt eine „Korrespondenz“ zwischen dem deutsch-iranischen Schriftsteller Navid Kermani und dem israelisch-deutschen Soziologen Natan Sznaider: Auf Kermanis Plädoyer für einen Frieden durch eine Zweistaaten-Lösung entgegnet Sznaider: „Wie kann denn so ein Palästina innerhalb von Gaza und Westbank funktionieren? Wie sollen sie denn in einem solchen Staatsgebilde leben? Da muss ja fast schon automatisch das Begehren bei den Palästinensern frei werden, dann doch lieber alles haben zu wollen. Ich sehe im Moment jenseits des Krieges keine Lösung und glaube nicht mehr an die Kompromissbereitschaft der anderen Seite. Der Terror wird weitergehen und somit auch die Reaktion auf den Terror.“ Bittere Aussichten.

David Grossman: „Frieden ist die einzige Option.“ Aus dem Hebräischen von Anne Birkenbauer und Helene Seidler. Hanser, 63 Seiten. 10 Euro.

Navid Kermani/Natan Sznaider: „Israel. Eine Korrespondenz“. Hanser, 64 Seiten, 10 Euro.

 




Eher widerwillig mitgemacht – Borussia Dortmund zur NS-Zeit

Wie stand es in der NS-Zeit um den BVB? Hat der Verein am faschistischen Unwesen freiwillig oder eher notgedrungen mitgewirkt? Solchen Fragen, die sich keinesfalls „erledigt“ haben, widmen sich Rolf Fischer und Katharina Wojatzek in ihrem Buch „Borussia Dortmund in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945″.

Sie haben, so gut es angesichts der schwierigen Quellenlage nur ging, das Thema mit dem Rüstzeug der Geschichtswissenschaft eingehend recherchiert und bislang unbekannte Details zutage gefördert. Der BVB, dessen Präsident Reinhold Lunow ein Vorwort geschrieben hat, hat die Untersuchung nach Kräften unterstützt. Gut so.

Wertvolle Pionierarbeit hatte schon 2002 Gerd Kolbe mit seiner Publikation „Der BVB in der NS-Zeit“ geleistet, für die er noch zahlreiche Zeitzeugen befragen konnte. Im Sinne der zunehmend aufgewerteten „Oral History“ hat er mündlich überlieferte Quellen gesichert, die später nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten. Darauf ließ es sich aufbauen. Inzwischen konnten aufschlussreiche Akten und Dokumente (auch Fotografien) gesichtet werden, sofern sie nicht im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden. Erschwerend kam hinzu: Da der BVB in seinen Anfängen ein Arbeiterverein war, haben die Mitglieder weniger Schriftliches hinterlassen, als dies im bürgerlichen Umfeld der Fall gewesen wäre.

Unterschiedlich „nazifizierte“ Vereine

Um ein Fazit des neuen Buches vorwegzunehmen: Die Borussen haben sich gegen eine Vereinnahmung durch die NS-Machthaber nicht wehren können, doch hielt sich diese für längere Zeit in Grenzen. Die meisten anderen Vereine ließen sich bereitwilliger oder in vorauseilender Fügsamkeit gleichschalten. Andernorts gehörten deutlich mehr Vereinsmitglieder zugleich NS-Organisationen an, und zwar oft schon sehr frühzeitig.

Ein nachvollziehbarer Befund lautet so: Es gab Unterschiede, was den Grad der „Nazifizierung“ angeht. Schon der soziologische Hintergrund der jeweiligen Vereine gab eine Richtung vor, wobei man von etwaigen heutigen Sympathien strikt absehen muss. Demnach waren damals bürgerliche Clubs wie etwa der VfB Stuttgart, Werder Bremen (wo anfangs gar höhere Schulbildung Voraussetzung war), Alemannia Aachen oder 1860 München in aller Regel anfälliger für Indienstnahme, desgleichen die größeren Vereine in Nürnberg, Fürth und Kaiserslautern. Sie waren schnell „auf Linie“.

Bürgerliche und proletarische Milieus

Proletarisch grundierte Vereine wie der BVB (Ursprünge in den Stahlwerksvierteln rund um den Borsigplatz) oder auch Hertha BSC Berlin (Wurzeln im „roten Wedding“) waren hingegen zumindest von der Genese und vom Milieu her widerständiger, ihre Mitglieder hatten vor 1933 überwiegend KPD oder SPD gewählt. In Dortmund kam noch ein katholischer Impuls von früheren „Zentrums“-Wählern hinzu – nicht zuletzt durch polnische Zuwanderer. Allerdings konnte aus all dem kein offener Widerstand gegen das NS-Regime erwachsen. Allenfalls insgeheime Sabotage-Akte waren möglich, wenn auch sehr riskant. Eine bewegende und schließlich betrübliche Geschichte solchen Zuschnitts rankt sich um den kommunistisch orientierten BVB-Platzwart Heinrich Czerkus, der lange von Leuten im Verein systematisch gewarnt wurde, wenn die Gestapo sich näherte – bis eigens ein V-Mann auf ihn angesetzt wurde. Czerkus wurde von den Nazis ermordet.

Der BVB galt in den 1930er Jahren noch als Verein, für den man sich nur in seinem engeren Umkreis und nicht in der ganzen Stadt interessierte. Also stand er nicht so sehr im Fokus, auch nicht in dem der NS-Parteigenossen. Ganz anders der FC Schalke 04, der damals die renommierteste Mannschaft des ganzen Reichs stellte. Also ließen sich die NS-Chargen stets gern mit den „Knappen“ ablichten.

Borussia Dortmund hatte seinerzeit keine jüdischen Spieler, so dass man auch nicht gezwungen war oder gedrängt wurde, jemanden auszuschließen, wie dies bei vielen anderen Vereinen geschah – selbst bei solchen, die von jüdischen Bürgern (mit)gegründet worden waren. Kein Dortmunder Verdienst also, sondern eine Folge der Mitgliederstruktur.

Verdruckster Umgang nach dem Krieg

Erhellend auch das Kapitel über den Umgang mit dem Thema in der Nachkriegszeit. Mindestens bis zur Jubiläumsschrift von 1969 (der BVB 09 wurde damals 60 Jahre alt) muss die Haltung dazu als verdrängend, verlogen und verdruckst bezeichnet werden. In der erwähnten Broschüre wurden zwar Bilder aus der NS-Zeit gezeigt, freilich hatte man sie dilettantisch retuschiert (Übermalung von Hakenkreuzfahnen etc.) und damit „entschärft“. Es dauerte noch eine ganze Weile, letztlich bis in die späten 90er Jahre, bevor endlich offen über die NS-Verstrickungen geredet wurde – wenigstens von jüngeren Jahrgängen.

Das Buch dürfte zum Standardwerk über den BVB in jenen finsteren Zeiten werden. Zwar ist man in manchen Fragen auf Spekulationen angewiesen, doch klingen die Mutmaßungen zumeist plausibel und werden transparent ausfbereitet. Vor allem aber hat sich die intensive Quellenarbeit ausgezahlt. Im steten Wechsel zwischen Blicken aufs größere Ganze und biographische Nahansichten zeichnen Fischer und Wojatzek ein vielschichtiges Zeitbild, das auch Widersprüche und Leerstellen umfasst.

Rolf Fischer / Katharina Wojatzek: „Borussia Dortmund in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945″. Metropol Verlag, Berlin. 256 Seiten mit zahlreiche Schwarzweiß-Abbildungen, 24 Euro.




Entlustet und mohrifiziert – Wortverhunzung und Schlimmeres im Dunstkreis des Vereins Deutsche Sprache

Katzen, die sich anschicken, über Tastaturen zu laufen, sind hoffentlich gegen die Versuchungen des Denglischen gefeit… (Foto: Bernd Berke)

Mit dem „Verein Deutsche Sprache“ (VDS), 1997 aus der Taufe gehoben vom Dortmunder Statistik-Professor Walter Krämer, hat es von jeher seine erzkonservative Bewandtnis. Bereits zu Gründerzeiten war es zu ahnen. Ich hatte schon damals das zweifelhafte Vergnügen, dies und jenes über den zwiespältigen Zusammenschluss zu schreiben, der heute nach eigenen Angaben rund 36000 Mitglieder hat.

Manchmal, ob nun punktuell oder partiell, scheint das eh schon schillernde Gebilde auch in Richtung rechtslastiger Umtriebe zu kippen, neuerdings wohl auch begünstigt durch die gesellschaftliche Großwetterlage. So wurde jetzt offenbar, dass VDS-Vorstandsmitglied Silke Schröder – neben einigen AfD-Angehörigen und Neonazis – an jenem unsäglichen Treffen nahe Potsdam teilgenommen hat, bei dem über die massenhafte Vertreibung von Bürgern nichtdeutscher Abstammung schwadroniert wurde. Selbst die etwaige deutsche Staatsbürgerschaft sollte nicht vor insgesamt millionenfacher Ausweisung schützen. Auch Menschen, die sich für Flüchtlinge und deren Belange einsetzen, sollten demnach gleich mit verschwinden – am besten in ein eigens geräumtes nordafrikanisches Gebiet. Wahnsinn.

Umgehend distanzierte sich der Sprach-Verein, der die Teilnahme Schröders nicht autorisiert und schon gar nicht angestoßen haben wollte. Auch kündigte sogleich der prominente Philosoph Peter Sloterdijk seine Mitgliedschaft auf. Viele dürften erst auf diese Weise erfahren haben, dass er dem Verein überhaupt angehört hat. Überdies haben einige weitere Mitglieder den Vereinsausschluss Silke Schröders und eine deutlich klarstellende Positionierung des VDS gefordert. Unter anderem haben sich Dieter Hallervorden und Ehrenmitglied Bastian Sick („Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“) in diesem redlichen Sinne geäußert. Just heute (15. Januar) ist Frau Schröder aus dem Verein ausgetreten. Nach wie vor ist es übrigens aufschlussreich, auf der VDS-Homepage (deutschtümelnder Vereinsjargon: „Heimseite“) die Rubrik „Bekannte Mitglieder“ aufzurufen.

Wenn man schon mal auf der „Heimseite“ ist…

Wenn man sich schon mal auf der Seite herumtreibt, kann man gleich schauen, wie es um die Anglizismen-Bekämpfung des nunmehr in Kamen bei Dortmund angesiedelten Vereins bestellt ist. Man kann hier ein mit derzeit 430 Seiten recht umfangreiches, aber keinesfalls vollständiges Wörterbuch durchblättern, mit dem etliche englische Begriffe aufgeführt und mehr oder weniger triftig erklärt werden. So weit die lexikalischen Anstrengungen, die freilich weit hinter jedem seriösen Wörterbuch zurückbleiben.

Keine Frage, dass es etwas für sich hat, eine allzu bereitwillige Preisgabe deutscher Ausdrucksformen zu kritisieren. Manchmal mutet der demonstrative oder auch nur gedankenlose Hang zum Englischen wirklich stark übertrieben an. Doch wie es so zu gehen pflegt, wenn man sich ein Feindbild erkoren hat: Hie und da finden sich in den VDS-Listen Vorschläge zur Eindeutschung, die unfreiwillige Komik in sich bergen oder gar vor sich hertragen. Es folgen ein paar Beispiele. Wir wünschen viel Vergnügen, falls es einem noch nicht im Halse steckt:

abgefuckt = entlustet
abhotten = sich (tanzend oder zappelnd) enthitzen
Actionthriller = Geschehnisreißer
blackfacing = mohrifizieren
Deostick = Gegenduftstift
Deutschied = deutscher Abschied (für einen etwaigen Austritt aus der EU – statt Dexit)
Disco = Zappelschuppen
eros center = Körperlustladen
Erdnuss-Flips = Erdnuss-Röstwürmer

Haarspray = Haarhaltgeber
Hacker = Programmparolenknacker
Handy = Telefönchen
iPad = Brettrechner

„Unerwachtes Sprachbewusstsein“

Insbesondere die technischen Begriffe aus dem Computerbereich dürften kaum noch ins Deutsche rückholbar sein. Während sich das Wortverzeichnis über weite Strecken einigermaßen neutral gibt, schleichen sich doch an manchen Stellen explizite Wertungen ein. Auf Seite 220 heißt es, eine an sich harmlose anglophone Wortverwendung („Kidney-Bohnen“) sei „ein Exempel unerwachten Sprachbewusstseins“. Nein, da steht (noch) nicht „Sprachbewusstsein, erwache!“ Bonus-Beispiel: Das englische Wort hookup verweist nach VDS-Lesart auf – so wörtlich mit Rufzeichen – „Triebauslebe-Unkultur (!)“. Schwingt da nicht einiges von der „Zuchtlosigkeit“ aus unguten Zeiten mit?

Apropos Triebe: Derbere sexuelle Konnotationen meidet man beim VDS tunlichst – oder man bemerkt sie erst gar nicht. So wird das englische „cock“ lediglich mit „Hahn“ übertragen, während „fisten“ nur der Faustabwehr des Fußballtorwarts zugeordnet wird. Ergänzende Erläuterung wohl überflüssig.

Die allermeisten „Anglizismen“ sind – streng genommen – eigentlich gar keine. Anglizismen im engeren Sinn sind englische Fügungen, die sich dem Deutschen aufprägen, wie etwa in der Formel „Es macht Sinn“ (von „It makes sense“) statt „Es ergibt Sinn“ oder neuerdings in „Da hast du einen Punkt“. In den allermeisten Fällen geht es allerdings schlichtweg um so genanntes „Denglisch“. Überdies handelt es sich bei vielen Übernahmen und Anverwandlungen aus dem Englischen unterschwellig um lateinisches oder griechisches Wortgut, das in manchen Kreisen immer noch eher mit höherer Bildung assoziiert wird. Jaja, es ist kompliziert – und selten so simpel, wie vom VDS verbreitet.




Kehrseiten des Expressionismus – eine nachdrückliche Befragung in Dortmund

Kunstgenuss ist in Dortmund keineswegs ausgeschlossen: Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Sertigweg“, 1924/26, Öl auf Leinwand (Sammlung Horn, Stiftung Rolf Horn / Landesmuseen Schleswig-Holstein, Schloss Gottorf, Schleswig)

Der Expressionismus ist museal vielfach durchbuchstabiert worden. Gibt es da noch Neues zu entdecken? In Dortmund wird es versucht.

Der Reihe nach: Die Sammlung Horn bereichert seit 1988 das schleswig-holsteinische Landesmuseum Schloss Gottorf in Schleswig. Nun wird dort umgebaut, deshalb können die Bestände auf Reisen gehen. Die Tournee hat im Kirchner-Museum zu Davos begonnen, wo man sich – wie meist üblich – auf Künstler-Persönlichkeiten konzentriert hat: Heckel, Kirchner, Schmidt-Rottluff, Pechstein, Rohlfs, Nolde, Jawlensky, Kollwitz.

In Dortmund, wo die Sammlung Horn unter dem Titel „Expressionismus – hier und jetzt!“ gastiert, soll diese Kunst hingegen nicht allein für sich sprechen. Bildergenuss geht hier nur mit Hintergrund. Die Werke werden mit einem Netz aus Theorie überzogen, ja hie und da überfrachtet.

Im Kontext der „Schwarzen deutschen Geschichte“ 

Das rein weibliche Kuratorinnen-Team des Museums Ostwall im „Dortmunder U“ fügt die rund 120 expressionistischen Werke in den Horizont ihrer Entstehungszeit ein, und das heißt – heutigem Zeitgeist gemäß – nicht zuletzt in ein kolonialistisches Umfeld. Besonders der Ko-Kuratorin Natasha A. Kelly ist daran gelegen, den Kontext „Schwarzer deutscher Geschichte“ aufzurufen. Die Expressionisten haben demnach vielfach Modelle mit dunkler Hautfarbe gemalt, allem damaligen Fortschrittsdrang zum Trotz letztlich doch mit „weißem“ Blick und stereotypen Sichtweisen, die freilich erst viel späteren Generationen aufgefallen sind. Bis auf Namen wie Milli und Nelly war bisher kaum Näheres über diese Frauen bekannt. Eine Video-Installation von Anguezomo Mba Bikoros stellt nun einen Bezug zu jener Ära her, als sich schwarze Frauen in der Unterhaltungsindustrie zum Amüsement des europäischen Bürgertums verdingten.

Aneignung „exotischer“ Formensprachen

Bestrebungen der Expressionisten zur Lebensreform mit Natursehnsucht und Freikörperkultur (als Einspruch gegen Industrialisierung) galten als Avantgarde, während die „Naturvölker“, denen sie die vermeintlich paradiesische Körperlichkeit abschauten, als rückständig wahrgenommen wurden. Zugleich eigneten sich Expressionisten die künstlerische Formensprache an, wie sie in Völkerkundemuseen zu finden war oder auf Reisen in exotische Weltregionen erlebt wurde. Grundsätzlich wäre – auch vor dem Hintergrund heutiger Debatten – zu fragen, ob derlei „kulturelle Aneignung“ nur verwerflich ist oder auch dem produktiven Austausch der Kulturen dienen kann.

Beispiel für die theoretische Befragung der Kunst in Dortmund: Moses März‘ Raum mit einer „Kartographie des Expressionismus im Zeitalter des Tout-Monde“. (© Moses März – Foto: Museum Ostwall im Dortmunder U / Roland Baege)

Suche nach gegenläufigen Erzählungen

Die Dortmunder Ausstellung versucht an einigen Stellen, etwa mit Arbeiten der melanesischen Künstlerin Lisa Hill, wirksame „Gegenerzählungen“ zu entwerfen, die dem wohlfeilen Exotismus entgegenstehen. So sollen etwa die Bewohner von Südsee-Regionen ihre Natur und Geschichte aus eigener Perspektive schildern. Außerdem ist Moses März‘ weit ausladende Kartierung komplizierter Zusammenhänge zwischen Expressionismus, Kolonialhistorie und kapitalistischem Kunstmarkt zu sehen. Ein Saal, wie mit lauter Wandzeitungen gespickt, im Prinzip gelehrt und belehrend, doch wildwüchsig verflochten und recht chaotisch wirkend.

Trotz aller kritischen Befragung bietet die Ausstellung auch einen gewissen Überblick zur expressionistischen Kunst – vom harschen Holzschnitt bis zur satten Farbenpracht. Schätze der Sammlung Horn begegnen ausgewählten Stücken des Dortmunder Eigenbesitzes und Leihgaben aus Davos. Doch so „unschuldig“, wie einem diese Kunst bislang erschienen sein mag, soll sie künftig wohl nicht mehr betrachtet werden können. Ob das Publikum diesen sperrigen Zugang goutiert?

„Expressionismus – hier und jetzt!“ Museum Ostwall im Dortmunder U. Noch bis zum 18. Februar 2024. Di, Mi, Sa, So 11-18 Uhr, Do und Fr 11-20 Uhr, 31.12.23 und 1.1.24 geschlossen. www.dortmunder-u.de/museum-ostwall

Eine längere Version des Beitrags ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen.

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Nachtrag: Die erwähnte Dortmunder Ko-Kuratorin Natasha A. Kelly hat neuerdings an der Universität der Künste in Berlin eine Gastprofessur fürs Studium generale inne. Dort ist sie jüngst auch im Zusammenhang mit entschieden pro-palästinensischen und tendenziell antisemitischen Aktionen in Erscheinung getreten, die sie laut einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Die Politik der Verdammnis“, Autor Claudius Seidl, 27. November 2023) ausdrücklich gutgeheißen hat. Nach einer verqueren Lesart gelten auch Israelis und somit Juden als „weiße Kolonisatoren“, so dass es durchaus ideologische Querverbindungen zu Ansätzen der Dortmunder Ausstellungen geben könnte.




„Der doppelte Erich“ – wie Kästner sich durch die NS-Zeit lavierte

Erich Kästner scheint, von heute aus betrachtet, zu den Unbezweifelbaren zu gehören. War er nicht eindeutig „links“ und somit unverdächtig, es auch nur ansatzweise mit dem NS-Regime gehalten zu haben? Wenigstens bis in die späten 1960er Jahre galt er quasi als geheiligt, und bis heute scheint sein Andenken gegen Attacken gefeit. Sind seine Bücher nicht schon 1933 auf den schändlichen Scheiterhaufen der Nazis verbrannt worden? Ja, gewiss, so war es. Und doch…

…und doch gibt es jetzt ein bedenkenswertes Buch, in dem etliche Zweifel an seiner Redlichkeit laut werden. Diese Einwände lassen sich wohl nicht so einfach beiseite wischen. Kästner, schon am Vorabend des „Dritten Reiches“ mit Büchern wie „Emil und die Detektive“ (1931) weithin berühmt, ist alle die finsteren Jahre über – bis zum „bitteren Ende“ – in Deutschland geblieben, ja, er hat in dieser Zeit (wenn auch meist unter Pseudonymen schreibend) zuweilen gar nicht schlecht verdient. Propagandaminister Joseph Goebbels ließ Kästner gewähren, als der das Drehbuch des groß angelegten Films „Münchhausen“ (Kinostart März 1943, Hauptrolle Hans Alberts) zum Ufa-Jubiläum schrieb. Mit dieser Produktion wollten die NS-Machthaber zeigen, dass der längst „abgehängte“ deutsche Film Hollywood mindestens ebenbürtig war – natürlich ein lachhafter Trugschluss. Übrigens: Erst Hitler selbst setzte der stillschweigenden Schreiberlaubnis für Kästner ein abruptes Ende.

Nach 1933 nur Harmloses geschrieben

Buchautor Tobias Lehmkuhl, Journalist u. a. für „Zeit“, „FAZ“ und Deutschlandfunk, hat erwartungsgemäß gründlich recherchiert, um Kästner auf die teilweise verdächtigen Spuren zu kommen. Zwar trägt er viele, viele Fakten zusammen, doch muss er auch immer mal wieder spekulieren. Demnach ist es dann nicht unwahrscheinlich oder einigermaßen wahrscheinlich, dass Kästner zu dem oder jenem Zeitpunkt diesen oder jenen Menschen getroffen und dieses oder jenes Thema mit ihm besprochen hat. Na, wenn das so sein soll… Da steht spürbar so manches auf tönernen Füßen.

Der Buchtitel „Der doppelte Erich“ ist eine etwas wohlfeile, aber griffige Anspielung auf Kästners Erfolg „Das doppelte Lottchen“ (erst 1949 erschienen) und überdies ein Hinweis darauf, dass dieser Autor fast durchweg Maskierungs- und Doppelgänger-Geschichten ersonnen und erzählt habe. Daraus wiederum leitet sich die hartnäckig verfolgte Annahme her, dass er selbst ein Meister im Verschleiern und im geschickten Rollenspiel war. Während des „Dritten Reiches“ hat Kästner, der zuvor den beachtlichen „Fabian“ geschrieben hatte, nur noch Harmlosigkeiten wie „Drei Männer im Schnee“ oder „Die verschwundene Miniatur“ hervorgebracht. Er war, wie es hier heißt, sozusagen ein amputierter Autor, der sich hin und wieder sogar von der unmenschlichen Sprache der Faschisten (von Victor Klemperer LTI = „Lingua Tertii Imperii“ genannt) infiziert zeigte.

Kompromisse fürs (finanzielle) Überleben

Tatsächlich muss einem längst nicht alles sympathisch oder auch nur geheuer sein, was Kästner damals unternommen und unterlassen hat. Zwar hat ihm der von den Besatzern als deutscher Kronzeuge eingesetzte Carl Zuckmayer schon 1943 eine Art Unbedenklichkeits-Bescheinigung („Persilschein“) ausgestellt, doch hatte Kästner zuvor mehrfach nachdrückliche Versuche unternommen, in die NS-geführte Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden. Fürs finanzielle Überleben scheint er zu einigen (faulen) Kompromissen bereit gewesen zu sein. Er selbst stand übrigens unerkannt in hinterer Reihe dabei, als (auch) seine Bücher verbrannt wurden – und hat keinesfalls dagegen die Stimme erhoben, weil ihm sein Leben lieb war.

Nach dem Krieg hat Kästner Legenden verbreitet wie jene, dass er als einziger unter Tausenden bei einer Propaganda-Veranstaltung im Berliner Sportpalast nicht mitgesungen habe und nicht aufgestanden sei, was Tobias Lehmkuhl füglich in Zweifel zieht. Man darf wohl schließen: Ein Kurt Tucholsky, mit dem Kästner in den 20ern zusammengearbeitet hatte, war und ist sicherlich eine verlässlichere moralische Instanz als der zur Nonchalance neigende Kästner.

Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns

Der in Zeitungs-, Literatur- und Filmszene bestens vernetzte Caféhausliterat (eine Feststellung, keine Abwertung!) Kästner hat sich den Zumutungen der Zeit oft durch seinen Charme und durch Verhandlungsgeschick zu entziehen vermocht. Weiterhin pflegte er laut Lehmkuhl seinen verfeinerten Lebensstil zwischen Tennissport und Teintpflege. So detailfreudig wird sein Verhalten und werden seine beruflichen Freundschaften seit den „Goldenen“ Zwanzigern durchgespielt, dass mancherlei Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns sich offenbaren. Auch scheint Kästner hin und wieder Gesinnungs-Verrat an einstigen Mitstreitern verübt zu haben, womit er heftige Kritik z. B. von Walter Benjamin oder Klaus Mann (Wie sich das angepasst hat (…) bis zum morastischen Schlammgrund der Ufa-Presse“) auf sich zog. Gegen solche harschen Anwürfe nimmt auch Lehmkuhl seinen Protagonisten in Schutz. Überhaupt ist er bemüht, möglichst Mittelwege einzuhalten. Auch damit entspricht er seinem Thema, das man wahrscheinlich nicht anders als schwankend schildern kann.

Fragen zur „Inneren Emigration“

Ein eigenes Kapitel ist Kästners ebenfalls zwiespältigem Verhältnis zu Frauen gewidmet. Der Mann, der allzeit sein Dresdner „Muttchen“ (freilich arg geschönt und verharmlost) brieflich auf dem Laufenden hielt, gestand – damals keine Selbstverständlichkeit – seinen zahlreichen Liebschaften zwar einen eigenen Kopf und eigene Freiheiten zu, ließ aber gelegentlich Frauenverachtung durchblicken. Auch dafür bringt Lehmkuhl passende Belegstellen bei. Mit Treue hatte Kästner es eh nicht. Beispiel: Just als eine Gefährtin beim Autounfall verstarb, lag er mit einer anderen zu Bette. Etwas küchenpsychologisch werden folglich Vermutungen über seine Beziehungsunfähigkeit angestellt.

Noch einmal wirft dieses Buch häufig gestellte Fragen zur „Inneren Emigration“ auf, die auch anhand anderer Zeitgenossen (Gottfried Benn, Axel Eggebrecht etc.) aufgeworfen werden, wobei u. a. die wirklichen Emigranten Thomas Mann und Theodor W. Adorno als moralische Maßstäbe angelegt werden. Auch dabei gibt es kein reines Schwarz oder Weiß, es geht um vielerlei Grautöne. Hatte Kästner anfangs vielleicht wirklich noch angestrebt, einen größeren Roman übers „Dritte Reich“ zu verfassen und eben deshalb im Lande zu bleiben, so sind kaum Notizen für ein solches Projekt erhalten – geschweige denn, dass ein veritables Werk dieser Art entstanden wäre. Nur: Konnte jemand unter vergleichbaren Bedingungen wesentlich anders handeln als Kästner?

Gar lange lässt eine Schilderung von Kästners Nachkriegs-Existenz auf sich warten, die dann leider auch etwas knapp ausfällt. Speziell hätte mich zum Beispiel Kästners patenschaftliche Rolle bei Gründung des legendären Satiremagazins „Pardon“ (1962) interessiert. Aber das ist vielleicht noch mal ein anderes Kapitel.

Tobias Lehmkuhl: „Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“. Rowohlt Berlin. 305 Seiten, 24 Euro.




Schlechtes Gewissen im Wohlstand – „Geld spielt keine Rolle“ von Anna Mayr

Nach ihrem bitteren Armutsbericht „Die Elenden“ (2020) legt Anna Mayr nun ein Buch über ihren und anderleuts (letztlich doch begrenzten) finanziellen Aufstieg vor: „Geld spielt keine Rolle“.

Der Titel ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Im Gegenteil. Geld spielt immer und überall eine Rolle, so lautet der unumstößliche Befund. Über Geld redet „man“ nicht? Oh, doch! Hier schon. Jedes einzelne Kapitel ist mit einem konkreten Geldbetrag überschrieben: „600 Euro für einen Umzug“. – „200 Euro für Falafel“. – „225 Euro für eine Katzentherapeutin“ – „149 Euro für einen Elektrogrill“. Und so weiter, aus etlichen Lebensbereichen. Das Buch enthält somit (bestürzend) viele und genaue Proben des bundesdeutschen Alltags.

Als Frau, die in ärmlichen Verhältnissen am Ostrand des Ruhrgebiets aufgewachsen ist, „genießt“ Anna Mayr street credibility. Ihre Mitteilungen fußen zuerst auf schmerzlichen Erfahrungen, seither auch auf vielen Lektüren und Gesprächen. Inzwischen geht es ihr finanziell ungleich besser und sie macht sich oft ein schlechtes Gewissen daraus. Immer noch wundert sie sich darüber, welche Dinge sie sich leisten und erlauben kann, doch schwindet das Staunen allmählich. Sie hadert und ringt gleichsam mit sich selbst, ob sie sich diesen Sinneswandel verzeihen kann. Bloße Reflexion und Wohlmeinen reichen ja nicht aus. Irgendwann steht man mit seinem Geld „auf der falschen Seite“.

Nicht Leistung, sondern glückliche Umstände

Schon der rasante Einstieg („Eat The Rich“) enthält steile Behauptungen, die allerdings einiges für sich haben: Erfolgreiche berufliche Laufbahnen und höheres Einkommen hätten gar nichts mit Leistung, sondern allemal mit Glück (sprich: Herkunft, Erbschaften, Beziehungen) zu tun. Die grundsätzliche Ungerechtigkeit hat demnach weitreichende Folgen, auch für den Seelenhaushalt. Zitat: „Je mehr Geld man den Leuten gibt, desto unempathischer werden sie, desto unsozialer verhalten sie sich (…) Reich zu sein erhöht die Wahrscheinlichkeit, schäbig zu sein…“ Wie lautet doch das derzeit medial dauerverwendete Modesätzchen: „Da hat sie einen Punkt.“ Und nicht nur diesen einen. „Geld verdirbt den Charakter“ – haben ja auch schon unsere Großeltern gesagt, sofern sie keine prallen Portemonnaies hatten.

Die Autorin Anna Mayr. (Foto: © Anna Tiessen)

Je nach Betrachtungswinkel ist ein Besuch beim Bundespresseball in Berliner Edelhotel Adlon ein Tief- oder Höhepunkt des Buches. Da lassen sich eben mancherlei Studien zum Gebaren der Wohlhabenden betreiben. Der Autorin wurde dabei reichlich unbehaglich zumute, was sich durchaus nachfühlen lässt. Der uralte Satz, dass Reichtum nicht glücklich mache, findet sich – in entschieden abgewandelter Form – auch bei ihr: „Viele reiche Leute sind nicht besonders glücklich. Weil sie immer denken, dass es noch nicht genug ist.“ Wer sich und das Seine missgünstig vergleicht, kann sich leicht benachteiligt vorkommen. Jeff Bezos, Elon Musk, Bernard Arnault und Konsorten seien einmal weitgehend ausgenommen von solcher Selbstquälerei. Aber wer weiß, ob nicht sogar sie auf die Besitztümer von ihresgleichen schielen. Aber ich schweife ab.

Ganz bewusst ohne finale Moral

Zurück zu irdischen Verhältnissen. Gar viele Phänomene und Situationen kommen einem bekannt vor. Da geht es etwa um (vielfach unsinnigen) Konsum als Trost und „Leistungsnachweis“, um die Gemengelage zwischen dem Kauf eines Brautkleids und den Fallstricken von Eheverträgen, ums komplizierte Verhältnis zwischen Haupt- und Zuverdienern, um die feinen Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten… Geld durchdringt eben alles und jedes. Mit mehr Geld nehmen so manche Sorgen und Leiden ab, da lebt es sich in aller Regel gesünder. Ohne genügend Geld wissen viele nicht aus noch ein und sterben folglich früher.

In einem Exkurs verteidigt Anna Mayr geradezu trotzig ihren vor Jahren neu entdeckten Hang zu vegetarischer und veganer Ernährung. Einst hat sie das Recht der weniger Begüterten auf Schnitzel verteidigt, heute hält sie das für einen gesundheitsschädlichen Fehler. Vorschriften will sie freilich niemandem machen. Aber zuraten möchte sie gern.

Sehr deutlich an die finanziellen Grenzen stößt die Autorin – mit den allermeisten anderen Menschen – beim tollkühnen Vorhaben, eine Immobilie in Berlin zu erwerben. Mit normalen Gehältern, selbst im relativen Komfortbereich, geht das einfach nicht mehr.

Und die Moral von der Geschicht‘? Gibt es nicht. Ganz bewusst und explizit verweigert Anna Mayr eine allgemein gültige Schlussfolgerung aus all ihren Beobachtungen. Mit unserem Verhältnis zum Geld müssen wir also selbst klarkommen. Doch sie hat dazu ein paar Fährten gelegt. Vertrackt genug: Wer sich dieses Buch kaufen kann, zählt schon mal nicht zu den ganz Bedürftigen. Auch kluge Denkanstöße sind käuflich.

Anna Mayr: „Geld spielt keine Rolle“. Hanser Berlin. 172 Seiten. 22 Euro.

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Nachbemerkung: Als einstiger Redakteur der Westfälischen Rundschau freue ich mich besonders über zwei Leute, die ihre journalistischen Anfänge in Lokalredaktionen dieser Zeitung hatten: Navid Kermani, heute hochgeachteter Publizist und u. a. Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, hat seinen Weg in der WR-Lokalredaktion Siegen begonnen. Und just Anna Mayr, jetzt vielzitierte Politik-Redakteurin der „Zeit“, ist aus der WR-Redaktion in Unna hervorgegangen.

 




Wie ich dann doch kein Sargträger wurde

Hauptfriedhof Buer – Tritt ein! (Foto: Gerd Herholz)

Okay, ich will hier nicht das Lamento anstimmen vom Selbstausbeuter im Kulturjob, der als Ruheständler mit karger Rente zu kämpfen hat. Scheiß drauf, Schwamm drüber. Andererseits bleibt so einem wie mir nichts anderes, als beide Augen offen zu halten nach einem 520-Euro-Job, der auf Altersbezüge nicht angerechnet werden darf. Ansonsten hätte man vielleicht noch die Wahl, den Kopf in den Gasherd zu legen, solange einem das Gas noch nicht abgesperrt wurde.

Erfreulicherweise aber sprang sie mich tatsächlich an, diese Kleinanzeige aus den Stellenangeboten: „Sargträger (m/w/d) für Bestattungsunternehmen gesucht. Einsätze nach Absprache Mo.-Sa. vormittags. Minijob-Basis. Führerschein erforderlich.“

Hm…, gestorben wird immer, wie man zurzeit überall sehen muss. Vielleicht könnte ich das Unangenehme mit dem Nützlichen verbinden, Särge schultern und nebenbei auf Friedhöfen oder in Friedwäldern Milieustudien zur Trauerarbeit betreiben. Hatte nicht einst auch Jorge Luis Borges solchen Stoff zu seinen „Memoiren eines Sargträgers“ veredelt? Zumindest aber ein bisschen Wallraffen beim Urnengang sollte doch möglich sein.

Dich, Gott, loben wir

Dich, Gott, loben wir (Foto: G. Herholz)

Ich fasste mir also mein wehes Herz und wählte die angegebene Telefonnummer. Das sei ja schön, dass ich mich melde, sie hätten schon viele Ruheständler in Lohn und Brot, alle seien froh, mal ein paar Stunden rauszukommen, weg von häuslicher Enge und angetrauter Nervensäge, hahaha. Ob ich denn auch fit genug sei. Ja, sicher, gerade erst Übungsleiterschein für Breitensport gemacht. Super, dann solle ich mich umgehend unter tragfähig@bestattung bewerben.

Bewerben? Das hieße doch Arbeit, da hakte ich lieber nach. Und also sprach der Bestatter-Tycoon: Etwas über Mindestlohn würde gezahlt, 12,50 Euro, man solle möglichst Montag bis Freitag verfügbar sein, auf Abruf. Man könne mit anderthalb bezahlten Stunden pro Beerdigung rechnen, dabei sei der Trauerraum vorzubereiten, Blumenschmuck usw., dazu der Gang zum Grab, danach aufräumen. „Und alles in anderthalb Stunden?“, fragte ich. Klar, das ginge bei etwas Routine. Falls Beerdigungen außerhalb der Stadt anfielen, müsse man zu einem Sammelpunkt nach Schalke kommen, von wo aus man mit den Kollegen zum auswärtigen Friedhof fahre. Bezahlt würde ab der Abfahrt vom Bestattungsunternehmen.

Bei normaler Beisetzung komme man an einem Vormittag auf 18,75 Euro, außerhalb dann etwa auf 25 Euro. Überstunden würden gegebenenfalls angerechnet.
Und die Benzinkosten? Da könne man nach Vorlegen von Nachweisen mit Benzingutscheinen rechnen. „Aber die Berufskleidung stellen Sie?“ „Ne, müssen Sie in anderen Berufen ja auch selbst kaufen. Und einen schwarzen Anzug werden Sie von privaten Trauerfeiern her sicher noch haben!“ „Nein, habe ich nicht, ich gehe da immer in gedeckten Farben hin.“ „Tja, dann müssten Sie den wohl kaufen. Wir können jetzt nicht für alle Größen Anzüge vorrätig halten. Einen schwarzen Mantel bekommen Sie bei Bedarf aber von uns geliehen.“ Mist, genau davon habe ich tatsächlich selbst zwei.

Noch Plätze frei! (Foto: G. Herholz)

Fazit: Man (m/w/d) soll sich fünf Vormittage auf Standby schalten, um vielleicht an einigen Vormittagen zunächst 18,75 € brutto zu verdienen. Eigene Fahrtkosten vorstrecken und auf Erstattung hoffen. Schwarzen Anzug kaufen und ein paar Wochen auf Friedhöfen gratis Tote tragen, weil man dessen Kosten hereinzuholen hat. Mir schwante: So ein Job kann einen auch selbst sehr schnell unter die Erde bringen. Work fast, die hard.

P.S. Wochen später beklagte sich das Bestattungsgewerbe in einem großen regionalen WAZ-Artikel darüber, dass der Nachwuchs fehle, Sargträger nicht einmal ansatzweise so zahlreich nachwüchsen wie Menschen stürben. Und immer weniger Menschen seien bereit, als Sargträger zu arbeiten. Bestatter müssen also improvisieren, gründen Pools. Immerhin gebe es schon Versenkungsmaschinen, aber die seien bei Hinterbliebenen nicht so beliebt.

Einen Sargträger haben sie bei den Recherchen zu diesem Artikel allerdings nicht befragt. Was hätte der auch sagen können? „Hier verdienze zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.“ Vielleicht sind deshalb so viele Träger so oft betrunken?




Ausstellung in der Dortmunder DASA knöpft sich „Konflikte“ vor

Diese Ausstellung beginnt buchstäblich bei Adam und Eva – präsent durch eine Gemälde-Reproduktion. Am biblischen Anbeginn der Menschheit erleben sie, wie unversehens Sünden und damit Konflikte in die Welt geraten. Mit Kain und Abel, die hier nicht direkt vorkommen, steuert schon die Frühzeit auf eine Eskalation zu.

„Gartenzwerg-Olympiade“ vor angriffslustigem Rot: Die Platzierung zeigt an, worüber sich Nachbarn in Deutschland am häufigsten vor Gericht streiten. (Foto: Bernd Berke)

Den schlichten Titel „Konflikte“ trägt die neue Schau in der Dortmunder DASA (Arbeitswelt Ausstellung). Sie kommt vom inhaltlich ähnlich gelagerten Museum der Arbeit aus Hamburg und zieht das Thema hie und da an Beispielen aus dem hohen Norden auf. Doch im Grunde bewegt sie sich auf universalem Gelände. Kurator Mario Bäumer hat all die Denkanstöße just in Zeiten zwischen hitzigen Corona-Debatten und Krieg in der Ukraine arrangiert. Beides wird nicht konkret aufgeführt, ist aber stets gegenwärtig.

Bist du Hai oder Teddybär?

Knapper Platz, weiter Horizont: Auf rund 280 Quadratmetern Ausstellungsfläche wird das Thema praktisch von allen Seiten her angegangen. Gleich zu Beginn dürfen an Medienstationen 20 einschlägige Gewissens-Fragen beantwortet werden, danach ist einigermaßen geklärt, welcher Konflikttyp man sei, z. B. Eule, Fuchs, Hai, Teddybär oder Schildkröte. Aha. Mit diesem etwas wackligen Wissen gerüstet, geht’s auf den kurzen Parcours. Doch welch‘ weites Feld zwischen Alltag und Wissenschaft tut sich hier auf!

Alle streiten miteinander – Faltblatt-Titelbild zur „Konflikt“-Ausstellung. (© ungestalt, Leipzig / DASA)

All das wird möglichst sinnlich vermittelt. Da finden sich etwa kleine dreidimensionale Schaubilder (sozusagen Mini-Dioramen) mit typischen Konflikt-Situationen. Zwei Figuren tragen einen symbolischen Streit um eine Orange aus. Ob sie sich jemals einigen können? Zahllose Lösungsvorschläge stehen auf Zetteln, die bereits vom Publikum in Hamburg beigesteuert worden sind. Anhand von bunten Gartenzwergen, die auf ein Siegerpodest gestellt werden dürfen (Platz 1, 2, 3 etc.), soll geraten werden, worüber sich Nachbarn in Deutschland am häufigsten vor Gericht zanken: Lärm, Parkplätze, Haustiere, Grundstücksgrenzen? Zuvor ist zu sehen, dass veritable Äpfel in zwei Kisten mit den Aufschriften „Konflikt“ und „Empörung“ angehäuft sind. Auch da gilt es zu wägen und zu differenzieren – in diesem Falle wortwörtlich mit „Zank-Äpfeln“.

Sauertöpfische Ermahnungen

Im Laufe des assoziativen Rundgangs begegnen uns etliche Konflikt-Sorten – vom inneren Konflikt und Beziehungskonflikten über den Generationenkonflikt und den derzeit mal wieder aktuellen Arbeitskampf bis hin zum erbitterten Streit um Denkmäler (Bismarck vs. Heinrich Heine) oder zum schwelenden familiären Konflikt bei Tisch: Eine Schauspielerin bringt dort via Film lauter sauertöpfische Ermahnungen zu Benimmregeln vor. Wer da nicht aus der Haut fährt! Wer mag, kann gleich nebenan auf zwei frontal zueinander aufgestellten Stühlen Platz nehmen und „Gehaltsverhandlungen“ führen. Einige Argumente pro und kontra lassen sich vom Schreibtisch ablesen. Wie praktisch! Gegen Schluss wird, sozusagen pflichtgemäß, auch noch der Konflikt ums Klima angetippt, recht übersichtlich mit der Frontstellung Aktivistinnen gegen beharrende Kräfte.

Spezieller Konflikt: entspannt nachgestellte Gehaltsverhandlung in der DASA-Schau. (Foto: Pia Kiara Hilburg)

Zwischendurch erhebt sich mehrfach die grundsätzliche Frage: Was ist überhaupt ein Konflikt? Ist ein kriegerischer Überfall oder auch eine Vergewaltigung noch ein „Konflikt“ – oder sind sie nicht vielmehr jäh in ein ganz anderes Stadium getreten? Müsste es bei einem Konflikt nicht noch irgend etwas zu verhandeln geben, müssten Kompromisse nicht wenigstens denkbar sein?

Ohne Konflikt kein Wandel

Aus anderer Perspektive fragt sich: Haben viele Konflikte nicht auch ihr Gutes und Notwendiges? Im Gefolge des Philosophen Georg Simmel, der zuerst ausdrücklich auf solche Gedanken kam, präzisierte später der Soziologe Ralf Dahrendorf die Bedeutung von Konflikten, mit denen häufig gesellschaftlicher Wandel angestoßen wird. Ohne Konflikte keine Veränderung. So manche Auseinandersetzung bringt eben mehr als (falsche, verlogene) Harmonie.

Allerdings geht es auch um den vernünftigen Umgang mit Konflikten, die – wiederum animalische Klischees – nach Art eines aggressiven Wolfes oder einer höhengerecht umsichtigen Giraffe betrieben werden könnten. Die Tiere verkörpern Gut und Böse, als gäb’s nicht allzu viel dazwischen. Doch eigentlich macht die Schau feinere Unterschiede und zieht dabei auch allerlei Chancen zur Vermittlung (Mediation) in Betracht.

Vielleicht könnten die derzeit offenbar zerstrittenen Habeck, Lindner, Scholz, Baerbock & Co. ja mal eben in der Dortmunder DASA vorbeikommen und über ihre ständigen Ampel-Konflikte nachsinnen. Sollte Olaf Scholz etwa ein Teddybär sein? Oder doch ein Fuchs?

„Konflikte. Die Ausstellung“. 24. März 2023 bis 28. Januar 2024. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Geöffnet Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Eibtritt 6 Euro, ermäßigt 3 Euro, Kinder/Jugendliche bis 18 Jahre frei. Begleitprogramm mit Workshops, u. a.  für Schulklassen (Besucherservice: 0231 / 9071-2645).

www.dasa-dortmund.de




Wenn das Ungeheuerliche alltäglich wird, gewöhne dich (nicht) daran…

Einbahnstraße zum Pfandhaus. (Foto: Bernd Berke)

„Gewöhn dich nicht.
Du darfst dich nicht gewöhnen.“

So lauten zwei Gedichtzeilen Hilde Domins. Doch liest man die Gazetten, hier im Ruhrgebiet vor allem die der Funke Mediengruppe, oder sieht fern (also weder weit noch tief), dann lautet der einem jetzt überall entgegenschlagende Imperativ: „Gewöhn dich endlich. Du sollst dich gewöhnen!“

Unter dem Deckmantel journalistischer Objektivität (meist also: fehlender Haltung) werden die Welt-Erklärungen aus den oberen Etagen einer sich selbst zur Elite stilisierenden Geld- und Machtkaste an das Wahlvolk durchgereicht. Nur wenige Journalisten/Formate versuchen, der Meinungsmache in oder außerhalb medialer Blödmaschinen etwas entgegenzusetzen. Lieber bleibt die Journaille im Mitläufer-Pulk, gebiert unaufhörlich neoliberale Kopflanger, jene Tuis, die Brecht einst so beschrieb: „Der Tui ist der Intellektuelle dieser Zeit der Märkte und Waren. Der Vermieter des Intellekts.“ Sofern denn von Intellekt noch die Rede sein darf.

Geistmangellage

Gerne würden diese Tuis eine manchmal noch zu störrische Masse an Worte wie „Krieg“, „Waffenlieferung“, „Inflation“ oder auch „Energiearmut“ gewöhnen. Ein Wort, das jüngst sogar der Eigentümerverband „Haus und Grund“ benutzte und das hier ausgerechnet einmal nicht die Verknappung der Energiereserven meinte, sondern den miserablen Zustand jener Menschen, die zu neuen Armen werden oder arme Alte bleiben, weil sie die horrenden Energiepreise hochsubventionierter Kartelle und Konzerne nicht mehr zahlen können. Und das, obwohl die Erdgaspreise erheblich sinken und die vielbeschworene Gasmangellage ausgefallen ist.

Aber die Ölpreise legen doch zu? Kein Problem, meldet boerse.de: „Starke Gewinne auf Wochensicht“ – für Unternehmen und Aktionäre selbstverständlich. Mir dagegen teilt man mit, dass die Strom-Vorauszahlung trotz „Gaspreisbremse“ um knapp 35 Prozent steigen wird. (Und nebenbei: Gewöhne dich auch daran, dass nicht nur die sogenannten „Schwarzen Schafe“ unter den Wohnungseigentümern schon jetzt ihre Mieter bei Mieterhöhungen und Nebenkosten obszön abzocken; Stichwort „Index-Miete“). Gewöhne dich an Wohnungsnot und Obdachlosigkeit, auch, weil Hunderttausende Sozialwohnungen fehlen und der Wohnungsmarkt – politisch flankiert – schon lange zur Beute von Investoren, Spekulanten und Maklern geworden ist.

Wortgemetzel

Gewöhne dich an Bürgergeld als Würgegeld. Gewöhne dich an ein Ende der Maskenpflicht und daran, dass viele ihre Maske niemals ablegen werden. Gewöhne dich daran, dass auf der „Achse des Bösen“ immer die anderen die Schurken sind: „Klimaterroristen“ zum Beispiel, Pazifisten, Migranten, ukrainische Flüchtlinge und ihr „Sozialtourismus“. Mit Worten werden Menschen abgerichtet, in vielen Teilen der Welt sogar hingerichtet als „Gotteslästerer“, „Präsidentenbeleidiger“ oder „Agent“ und nicht zuletzt „Vaterlandsverräter“, ein Wort, das vielleicht demnächst auch bei uns wieder Konjunktur haben könnte.

Preis-Lohn-Spirale

Gewöhne dich daran, dass du hinters Licht in die Dunkelheit geführt wirst, dass du besser das Kurzgemeldete und Kleingedruckte auf Wirtschaftsseiten lesen solltest und jenes, das zwischen und hinter den Zeilen steht, wenn du dem Klima systematisch geschürter Angst und Kriegstreiberei etwas entgegensetzen willst. Dann wirst du nicht verblüfft sein, wenn von dpa gemeldet wird, dass die deutsche Wirtschaft Krieg und Krise trotzt: „Die angesichts von Ukraine-Krieg, Rekordinflation und Energiepreisschock düsteren Prognosen erfüllten sich nicht. Stattdessen war das BIP 2022 preisbereinigt um 0,7 Prozent höher als 2019, dem letzten Jahr vor der Pandemie.“ Frag nicht nach, mit welchen offenen und versteckten Subventionen das gelungen ist, während sie Gewerkschaften und Arbeitnehmern predigen, dass eine Lohnerhöhung, die auch nur in die Nähe eines Inflationsausgleichs käme, die deutsche Wirtschaft zerstören und global wettbewerbsunfähig machen würde.

Der Autor beim Mülltauchen in der Dämmerung - Selfie

Der Autor beim Mülltauchen in der Dämmerung (Selfie)

Gewöhne dich an Worte wie „Aktienrente“, mit denen sich der Staat endgültig als Sozialstaat verabschiedet und so tut, als könnte er ausgerechnet über Finanzspekulation den Lebensabend der Alten sichern, also mit Hilfe jener Hasardeure, die global die Existenzgrundlagen vieler Menschen gründlich zerstören. Gewöhne dich daran, dass auf lange Sicht unter dem Deckmantel von Freiheit und Selbstverantwortung die finanzielle Absicherung des Alters den Einkommensschwachen selbst aufgebürdet werden wird. Spätestens Friedrich Merz, der Ex-BlackRocker, wird als Kanzler dafür sorgen. Und Lindner stielt es schon heute ein. „Privatisierung“ heißt vor allem, was vielen Menschen jede menschenwürdige Privatheit verweigert.

Gewöhne dich an die weitere Nutzung von Atomkraft, an den Einkauf von Fracking-Gas, an die vorläufige „Endlagerung“ von Brennstäben und CO₂, an die Öldeals mit menschenverachtenden Regimen.

Hoch die nationale Solidität!

Gewöhne dich nach der Ökonomisierung aller Lebensbereiche auch an die Militarisierung der Sprache und des Denkens, an „Sondervermögen“, also horrende Schulden zur Nach- und Hochrüstung, aus denen kommende Generationen nie mehr herauskommen werden, eine Erblast, so zerstörerisch wie die Folgen der Klimakatastrophe. Gewöhne dich daran, dass „der Krieg“ neben der Menschlichkeit an den Fronten vor allem nach innen Tugenden und Werte einer zivilen Friedensgesellschaft zerstört und toxische Männlichkeit neuerdings zu Heroismus verklärt wird. Als Waffen-Narr trägt man Camouflage-Shirts, als Etappenhase beantragt man vorsichtshalber den kleinen Waffenschein. Der Krieg heiligt die Mittel, aber leider frisst er auch seine Kinder. Gewöhne dich an Doppel- und Dreifachmoral, daran, dass Menschenrechte und „unsere westlichen Werte“ nur noch in Sonntags- und Fensterreden vorkommen, aber nirgendwo mehr gelebt werden.

Gewöhne dich an „Übergewinne“ bei Rüstungsfirmen, Energieriesen, Kriegs- und Krisengewinnlern, die aber kaum etwas davon an das Gemeinwesen abzuführen haben, um bessere Infrastrukturen, offenere Bildungseinrichtungen oder medizinische Versorgung abzusichern und weiterzuentwickeln. Gewöhne dich an Kummer und Cum-Ex, an Suizid und Success.

Trümmermänner: Aufgewachsen als Ruinen

Gewöhne dich an korrupte Politikerinnen und Politiker und an Medien als Beifall-Klatschblätter. Medien, die meist jenen gehören, die hierzulande vor und hinter den Kulissen den Ton und die Börsenkurse angeben. Gewöhne dich an Putinismus, Trumpismus, Gottesstaaten, Autokraten, Oligarchen und Superreiche wie Musk, die jeden Rest von Demokratie endgültig aushöhlen werden. Gewöhne dich daran, dass die AfD und damit ausgewiesene Faschisten in ihren Reihen als koalitionsfähig gelten und hetzende Antisemiten als meinungsstark: Wer, wenn nicht die werden ja wohl noch sagen dürfen, was wir Verblödeten uns zu sagen (noch) kaum trauen.

Gewöhne dich an den Gedanken eines alltäglichen Gangs zur Tafel e.V., wo sie dir einen verwelkten Kohlkopf in den Korb legen werden, einen Joghurt jenseits des Haltbarkeitsdatums, aber nur, falls du deine Armut umfassend nachweisen kannst. Gewöhne dich daran, dass du so nur ungleich Ärmeren einen Platz in der Warteschlange der Lebensmittelausgabe wegnehmen wirst. Wie gut für uns, dass Containern bald straffrei bleiben soll.

Tauche also ein in den Müll der Millionen und Milliardäre, dann kannst du jedweden Hunger getrost vergessen. Doch gewöhne dich an eine Scham, der du nicht mehr entkommen wirst.




Die vielen Lügen entlarven – Europas Faktencheck-Teams schließen sich zusammen

Seit 23. Februar online: Screenshot der neuen GADMO-Faktencheck-Homepage.

Eigentlich zutiefst betrüblich, dass so etwas nötig ist, aber: Faktenchecks werden in diesen Zeiten dringend gebraucht. Spätestens seit Corona ist es bekannt, erst recht seit Russlands Kriegsüberfall auf die Ukraine.

Es sind viel zu viele Lügen und Fälschungen auf dem medialen Markt und in den „sozialen Netzwerken“ unterwegs, die nicht so ohne weiteres entlarvt werden können, sondern nach journalistischer und sonstiger Expertise sowie hartnäckiger Recherche verlangen. Nun gibt es einen professionellen Zusammenschluss auf europäischer Ebene, der sich genau dies zur Aufgabe gemacht hat. Gegenwärtig sind in diesem Rahmen rund 100 spezialisierte Journalistinnen und Journalisten vorzugsweise in Sachen Faktenchecks tätig. Das Projekt, das wissenschaftlich begleitet („evaluiert“) werden soll, wurde jetzt auf einer von der Dortmunder Uni (TU) eingerichteten Online-Pressekonferenz vorgestellt.

Zertifizierung nach strengen Regeln

Beteiligt sind im deutschsprachigen Raum (ohne Schweiz) die Deutsche Presseagentur (dpa), deren österreichisches Pendant APA, das in Essen angesiedelte Recherche-Netzwerk Correctiv, das Institut für Journalistik sowie Statistiker der TU Dortmund und – als Verbindungsglied zu Europa – die französische Nachrichtenagentur Agence France Presse (AFP). Auch IT-Fachleute sind mit an Bord. Der deutsch-österreichische Zweig des kontinentalen Projekts nennt sich abgekürzt GADMO (German-Austrian Digital Media Observatory), informiert über eine nagelneue Homepage (gadmo.eu) und geht mit je eigenen Ressourcen, aber auch namhaften EU-Mitteln an den Start. Alle Beteiligten sind nach den strengen Faktencheck-Kriterien des IFCN zertifiziert.

Über 14 sogenannte Hubs (Knotenpunkte) werden sämtliche EU-Mitgliedsländer einbezogen, sogar (man muss es leider eigens betonen) Ungarn, wo gesteigerter Bedarf wahrlich gegeben ist. Als Nicht-EU-Länder bleiben Großbritannien und die Schweiz allerdings außen vor. Man kann nur hoffen, dass sie auf andere Weise Anschluss finden und sich zu helfen wissen.

Angesichts der vielen Beteiligten kann es passieren, dass dieselben Themen mitunter mehrfach untersucht werden. Kein Problem, wie es heißt. Vielleicht erhellt die Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven die Dinge sogar noch gründlicher. Und falls dabei Widersprüche auftauchen? Das wird sich finden.

Unterwegs zu einem „Frühwarnsystem“

Da Fakes und Desinformationen dermaßen weit verbreitet sind, ist es nicht mit einzelnen Überprüfungen getan. Ein mittelfristiges Ziel ist es, wiederkehrende Muster falscher Faktenbehauptungen zu sammeln und auf dieser Basis künftig möglichst im Voraus zu erkennen. So ließe sich eine Art „Frühwarnsystem“ errichten, etwa im Vorfeld von Wahlen. Auch Künstliche Intelligenz (KI) soll dabei helfen – ein Mittel, das freilich auch von den Gegenseiten genutzt werden dürfte. Es ist ein Informations-„Krieg“, in dem beide Lager nach Kräften aufrüsten. Und gewiss sind die Probleme nicht auf Europa beschränkt, sondern globaler Art.

Die folgende Erkenntnis gehört zu den gar häufig zitierten Standards, die man kaum noch hören mag, aber es stimmt ja immer wieder: Das erste Kriegsopfer ist die Wahrheit. Also haben die in GADMO zusammengeschlossenen Faktencheck-Teams derzeit vor allem mit Russland und der Ukraine zu schaffen. Da wurden und werden etwa Fotos aus dem Zusammenhang gerissen und/oder neu montiert, so dass sich deren Aussagen grundlegend ändern. Auf einmal werden beispielsweise irgendwo stationierte Panzer zu finnischen Gerätschaften umdeklariert, die vermeintlich Russland bedrohen. Wer so etwas glaubt, könnte schrecklich falsche Konsequenzen ziehen.

Zwischen Wolfsrudeln und Schokoladensorten

Ein weiterer Evergreen lautet ungefähr so: „Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Auch das rührt an ein dauerhaftes Problem: Häufig werden obskure Studien und Zahlenkolonnen angeführt, die nur mit viel Aufwand zu widerlegen oder wenigstens einigermaßen zu klären sind. Es gibt so viele Unwahrheiten, aber letztlich nur eine Wahrheit – wenn sie sich denn überhaupt dingfest machen lässt. Manchmal scheint es, als sei es ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Aber aufgeben wäre fatal. Schließlich zielen zahllose Fakes auf die Substanz demokratischer Gesellschaften.

Wie ein kurzer Probelauf über die neue Homepage zeigt, geht man auch etwas harmloseren Gerüchten über bedrohliche Wolfsrudel (angeblich in Österreich, in Wahrheit in Kanada) nach oder recherchiert der eher absurden Behauptung hinterher, demnächst werde es die „Ritter Sport“-Schokolade auch in der Geschmacksrichtung „Ganze Grille“ geben – im Zuge der EU-Erlaubnis, bestimmte Insekten als Nahrungsmittel zuzulassen. Stimmt natürlich nicht. Aber auch das will erst einmal bewiesen werden; wobei andere Handlungsfelder ungleich wichtiger sind.

Hilfestellungen zur Medienkompetenz

Auf der besagten Homepage sollen Monat für Monat etwa 100 Faktenchecks hinzukommen. Auf diese Weise soll und dürfte sich auch das komplett durchsuchbare Archiv rasch füllen. Beim „Durchblättern“ (vulgo: Scrollen) wird man sich wohl für allerlei Falschmeldungen sensibilisieren können. Auf der Homepage finden sich Kontaktwege für alle User, über die Fachwelt hinaus – via WhatsApp. Apropos Breitenwirkung: Weitere Aufgabe der Faktenchecker sind Angebote zur Steigerung der „Medienkompetenz“, sprich: Wir alle sollen besser gegen Lug und Trug gewappnet werden und im Idealfalle irgendwann selbst in der Lage sein, Falschnachrichten gleichsam zu „wittern“. Dazu wird es hin und wieder spezielle Workshops geben. Wie wär’s außerdem mit gezielten Aktionen an den Schulen?

Ein österreichischer Fachpublizist („Ich habe 15 Bücher veröffentlicht“) gab in der Pressekonferenz zu bedenken, dass man strikt unterscheiden müssen zwischen der Überprüfung von Fakten und von Meinungen. Manchmal sei das kaum zu trennen. Die online anwesenden Faktencheck-Leute wiesen etwaige Meinungs-Kontrollen weit von sich. Überdies gebe es jederzeit Beschwerde-Möglichkeiten. Zur guten Recherche gehöre es außerdem, eigene Fehler öffentlich zu machen.

Übrigens: Wie einigen Statements nebenher zu entnehmen war, kooperieren die Faktencheck-Teams punktuell auch mit machtvollen Online-Akteuren wie Google und Meta (Facebook). Diese Verbindungen sollten unbedingt aufrecht erhalten werden – ohne die eigene Unabhängigkeit und Transparenz auch nur im Mindesten einzuschränken.

Deutschsprachige Homepage: gadmo.eu
Europaweites Projekt: edmo.eu

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Hier noch einige Namen aus der Leitungs- und Organisations-Ebene des Projekts:

  • Stephan Mündges, Institut für Journalistik, TU Dortmund,
    GADMO-Koordinator
  • Prof. Christina Elmer, GADMO-Koordinatorin, Institut für Journalistik der TU Dortmund
  • Uschi Jonas, Team-Leiterin CORRECTIV.Faktencheck und Florian Löffler, Projektleiter EFCSN & GADMO bei CORRECTIV
  • Teresa Dapp, Leiterin der Faktencheck-Redaktion der dpa, Tobias Schormann, Faktencheck-Koordinator für Ausschreibungen & Projekte der dpa, und Kian Badrnejad, Faktencheck-Redakteur der dpa
  • Christian Kneil, Head of Content Business und Mitglied der APA-Chefredaktion, und Florian Schmidt, Verification Officer und Leiter von APA-Faktencheck
  • Yacine Le Forestier, AFP, stellvertretender Direktor für Europa, und Isabelle Wirth, Projektleiterin GADMO bei der AFP.



Louis Klamroth und das hitzige Klima beim WDR

Louis Klamroth, seit 9. Januar 2023 Moderator bei „hart aber fair“. (Foto: © WDR/Thomas Kierok)

Dies vorangeschickt: Ich bin froh, dass es im Westen den WDR gibt und wir nicht nur von privaten Dudelsendern beschallt oder beflimmert werden. Jedoch war ich mit dieser Präferenz früher deutlich mehr im Reinen als jetzt, hat sich der Westdeutsche Rundfunk doch vielfach mit seinem Niveau abwärts anbequemt.

So bangt man denn auch zusehends (nicht nur) mit diesem öffentlich-rechtlichen Sender, dass er sich mit seinem Gebaren bitte nicht noch angreifbarer mache und damit allerlei Populisten auf den Plan rufe, die ihm am liebsten gleich den Geldhahn zudrehen wollen.

Der neueste Vorfall in dieser unguten Richtung dreht sich um die montägliche TV-Sendung „hart aber fair“, genauer: um Louis Klamroth (33), der die Talkrunde kürzlich als Nachfolger des langjährigen Moderators Frank Plasberg übernommen hat und (nebenbei bemerkt) bei seiner Premiere recht handzahm zu Werke gegangen ist.

Liiert mit der „Aktivistin“ Luisa Neubauer

Na und? Ist nicht dennoch alles in bester Ordnung? Nicht ganz. Klamroth hat offenbar in der Einstellungsphase verschwiegen, was wohl nur Insidern bekannt gewesen sein dürfte: Er ist mit der Klima-„Aktivistin“ Luisa Neubauer liiert. Da mag der Verdacht keimen, dass er – zumindest bei bestimmten Themen – in Interessenkonflikte gerät. Gut möglich, dass ihm das auch selbst bewusst gewesen ist, sonst hätte er ja rechtzeitig aktiv darauf hinweisen können. So aber hat er die öffentliche Bekanntgabe seiner beruflichen Veränderung erst einmal abgewartet und erst danach verraten, was eventuell gegen die Regeln des Senders verstößt.

Gewiss: Louis ist nicht Luisa, er hat seinen eigenen Kopf und sein eigenes journalistisches Ethos. Dennoch bleibt ein mulmiges Gefühl: Warum hat er nicht zeitig für Transparenz gesorgt? Er hätte damit etwaigen Widersachern den Wind aus den Segeln nehmen können. Oder er hätte den lukrativen Job vielleicht gar nicht erst bekommen…

Das Ganze schlägt jetzt hohe Wellen, wenn man einem Bericht der springerschen „Welt“ glauben darf. Der Rundfunkrat des Senders scheint demnach bereit zu sein, in seiner nächsten Sitzung am Dienstag (31. Januar) die WDR-Chefetage (Intendant Tom Buhrow, Programmdirektor Jörg Schönenborn) frontal zu attackieren. Ein Teil, wenn nicht eine Mehrheit des Aufsichtsgremiums moniert nicht nur die verspätete Bekanntgabe der Beziehung Klamroth/Neubauer, sondern auch und vor allem die Tatsache, dass Buhrow und Schönenborn trotz allem unverdrossen (oder auch stur) an Klamroth festhalten.

Wann die Regeln gelten – und wann nicht

Die Einlassung der WDR-Spitze mutet grotesk und rabulistisch an. Laut „Welt“ machen die Bosse geltend: „Klamroth sei schließlich erst nach seiner Vertragsunterzeichnung Mitarbeiter des WDR geworden – vorher hätten die Regeln für ihn nicht gegolten.“ Aber vielleicht just m i t der Vertragsunterzeichnung? Welch schönes Thema für juristische Debatten!

Ungeschickt auch der Umgang des WDR mit einer weiteren Entgleisung, die der Rundfunkrat ebenfalls als Thema aufrufen will. Dabei geht es laut „Welt“ um den Fall eines anderen WDR-Moderators, der in seinem Instagram-Kanal ein Video mit der Titelzeile „Die CDU ist unser Feind“ eingestellt hat. Dazu der WDR an die Adresse der „Welt“: Der Sender übernehme „keinerlei Verantwortung für die privaten Äußerungen von wem auch immer.“ Da lässt sich nur noch mit Loriot antworten: „Ach was“.

Bliebe noch zu klären, welches Thema Louis Klamroth jetzt in „hart aber fair“ aufgreifen möchte. Doch nicht etwa…? Oh doch! Für den morgigen Montag (21 Uhr) angekündigt: „Letzte Abfahrt: Wie verändert die Klimakrise Alltag und Leben?“ *

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  • Auf der Gästeliste des Klima-Talks am Montag, 30. Januar 2023 (ARD, 21 Uhr):
  • Gitta Connemann, CDU-Bundestagsabgeordnete; Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT)
  • Sven Plöger, Meteorologe und ARD-Wetterexperte
  • Konstantin Kuhle, FDP, stellv. Fraktionsvorsitzender
  • Aimée van Baalen, „Aktivistin“ und Sprecherin der „Letzten Generation“

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Kurzer Nachtrag am Ende der Sendung:

Der Wahrheit die Ehre: Louis Klamroth hat sich keine Blöße gegeben und beim Klima-Thema die Neutralität – so gut es ging – gewahrt. Die „Aktivistin“ Aimée van Baalen musste es sich unter seiner Leitung gefallen lassen, dass sich die Mehrheit der Diskussionsrunde entschieden gegen sie und ihre kruden Ideen von einem „Gesellschaftsrat“ stellte. Ein solcher Rat aus Experten und „normalen Bürger*innen“ soll nach ihrer Auffassung in Klimafragen entscheidend sein – an allen gewählten parlamentarischen Gremien vorbei. Wer soll denn eigentlich die Zusammensetzung eines derartigen „Gesellschaftsrates“ bestimmen?

Noch’n Nachtrag

Nun wird eine etwas andere Version aus dem Hut gezaubert. Klamroth habe den WDR Ende August 2022 „über seine Beziehung informiert, deutlich vor Abschluss des Vertrages.“ (Zitat aus dem „Focus“)  Der WDR hatte freilich schon Mitte August seine Entscheidung für Klamroth veröffentlicht, jedoch seien die Vertragsgespräche erst zum Ende des Jahres abgeschlossen worden, heißt es vom Sender. So ähnlich muss es sich wohl anhören, wenn jemand rumeiert.

 




Vor zehn Jahren starb die „Rundschau“ – ohne Rettungsversuch

Kurz vor Ende eines Spätdienstes entstanden und Jahre danach unversehens vielsagend: der leere Newsdesk der Westfälischen Rundschau in Dortmund – mit fertiggestellten Seiten auf der Bildschirmwand, aufgenommen im Jahr 2009. (Foto: Bernd Berke)

Beängstigend rasende Zeit: Zehn Jahre soll das schon wieder her sein, dass am 15. Januar 2013 die damalige WAZ-Gruppe (heute Funke-Mediengruppe) das faktische „Aus“ für die Westfälische Rundschau (WR) verkündet hat?

Zur Erinnerung: Danach ging alles ganz schnell – oder auch quälend langsam; je nach Perspektive. Denn die kurzerhand Entlassenen mussten noch volle zwei Wochen das totgesagte Blatt machen. Nach dem 31. Januar 2013 erschien die einst so stolze und weit verbreitete Dortmunder Zeitung nur noch als Phantom-Publikation oder „Zombie-Zeitung“, nämlich gänzlich ohne eigene Redaktion, wenn man vom zunächst einsam weiter (als „König Ohneland“) amtiert habenden Chefredakteur Malte Hinz absieht.

Die Seiten wurden fortan von der WAZ (Mantelteil) sowie, was Dortmund anbelangt, von den vormals konkurrierenden Ruhrnachrichten (Lokalteil) befüllt und nur noch kosmetisch auf WR-Look getrimmt. Bis dahin hatte die Rundschau auch mit den anderen Zeitungen der WAZ-Gruppe (Westfalenpost, Westdeutsche Allgemeine Zeitung) einigermaßen heftig im Wettbewerb gestanden. Seit der WR-Schließung war jedoch häufig dieser Effekt zu beobachten: Fehlt ernsthafte Konkurrenz, so verloddern mitunter die journalistischen Sitten. Man hat’s ja nicht mehr nötig.

Verlust für die publizistische Landschaft

Es war ein großer Verlust für die publizistische Landschaft (und somit für die demokratische Meinungsbildung) in Westfalen und eine persönliche Tragödie für manche Kolleginnen und Kollegen, die auf einmal ohne Job waren. Von Beruf, Berufung und Herzblut gar nicht erst zu reden. Es ging ja nicht nur um rund 120  festangestellte Redakteurinnen und Redakteure, sondern auch um etwa 180 freie Mitarbeiter(innen) zwischen Dortmund, Hagen, Lünen, Schwerte, Unna und Siegen, Lüdenscheid, Altena,  Gevelsberg, Arnsberg, Meschede und Olpe. Um nur einige Standorte zu nennen.

In früheren Zeiten hatte das Verbreitungsgebiet gar nordwärts bis ins Emsland, weit ins westliche Ruhrgebiet und – rings um Betzdorf – bis in einen nördlichen Zipfel von Rheinland-Pfalz gereicht. Da knüpfte die Westfälische Rundschau beinahe wieder an die große Tradition des Dortmunder Vorläufers „Generalanzeiger“ an, der vor 1933 die auflagenstärkste deutsche Zeitung außerhalb Berlins gewesen war – bis die Nazis ihn mundtot machten.

Aber kommen wir auf 2013 zurück. Gewiss, vor allem einige Jüngere haben sich nach der „Freisetzung“ beruflich neu erfunden, gelegentlich mit staunenswertem Erfolg. Doch wer bereits über 50 war, hatte meist zu kämpfen. Ich will nicht nachträglich unken, aber: Seit 2013 sind recht viele ehemalige WR-Leute verstorben; nicht auszuschließen, dass hie und da auch nagender Kummer über die abrupt abgerissene berufliche Laufbahn und die hinterrücks entwertete Lebensleistung übel mitgespielt hat. Niemand kann es wissen.

Die Redaktion als weit verzweigter Organismus

Es mag sein, dass ein Teil der Leserschaft sich ebenso rasch wie sang- und klanglos umorientiert hat. Es gab ja schon vorher diese Cleverles alias treulose Abo-Hopper, die in regelmäßigen Abständen die Zeitung wechselten und dabei jeweils Willkommens-Prämien einheimsten. Vielen aber war – auch, aber nicht nur aus politischen Gründen – die WR speziell ans Herz gewachsen. Ich persönlich (und nicht nur ich) halte immer noch dafür, dass „wir“ redaktionell insgesamt besser waren als z. B. die Ruhrnachrichten oder – weiter südwärts – als die „Siegener Zeitung“. Fragen der Wirtschaftlichkeit stehen freilich auf einem anderen Blatt.

Noch heute erfasst einen das Weh, wenn man über Jahrzehnte dabei gewesen ist und beispielsweise weiß, wie weit früher das eigene Korrespondentennetz der Rundschau gespannt war, wie denn überhaupt mit der Zeitung ein ganzer Organismus verendet ist. Die Westfälische Rundschau hat übrigens auch journalistische Prominenz hervorgebracht – vom nachmals fernsehbekannten Ernst Dieter Lueg über den späteren NRW-Ministerpräsidenten, Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement bis hin zu Hans Leyendecker, dem bundesdeutschen Investigativ-Reporter schlechthin. Mehr noch: Erste Schritte ins Leben als exponiert Schreibende haben bei der WR z. B. auch Navid Kermani (nun einer der wichtigsten Publizisten dieses Landes) und Anna Mayr (heute gefragte Autorin der „Zeit“) getan. Kermani hat in der Lokalredaktion Siegen angefangen, Mayr in der Lokalredaktion Unna. Da rede noch jemand von „Provinz“.

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Machtdemonstration der Konzernchefs?

Der nordrhein-westfälische Zweig des Deutschen Journalistenverbands (DJV-NRW) hat zum Jahrestag der WR-Schließung bzw. Redaktions-Entlassung einen Podcast produziert, in dem die eben erwähnte Anna Mayr sowie Barbara Merten-Kemper (langjährige Betriebsrätin der WAZ) und Lars Reckermann (in den finalen Jahren der WR stellvertretender Chefredakteur) Rückschau halten und Ausblicke wagen.

Eine Lesart läuft darauf hinaus, dass die schockierende Maßnahme wohl eine Machtdemonstration der Konzernleitung gewesen sei – ein Exempel mit Drohpotenzial gegen etwaige Rebellen. Als aufsässig hätten zumal die WR-Redaktionen gegolten, ein Geschäftsführer sei damals als notorischer Rundschau-Hasser verschrien gewesen. Reckermann wählte folgenden Vergleich: Die WR sei stets die linke „Malocher-Zeitung“ gewesen, sozusagen das Schimanski-Blatt, während die WAZ wie James Bond aufgetreten sei. Nun ja. Ich habe mir 007 immer ein klein wenig anders vorgestellt.

Die Auflage war gar nicht so schlecht

Einig war man sich in der Ansicht, dass die WR mit gutem Willen und Fortune durchaus hätte gerettet werden können. Zum Zeitpunkt der Schließung hatte sie immerhin noch eine Auflage von cirka 115.000 Exemplaren – eine ansehnliche Zahl, über die sich heute beispielsweise der bundesweit trommelnde „Tagesspiegel“ oder die „Welt“ freuen würden. Engagierte Verleger der alten Schule hätten unter solchen Voraussetzungen nichts unversucht gelassen…

Geradezu erschütternd ist, woran Barbara Merten-Kemper sich erinnert. Manfred Braun, zur fraglichen Zeit einer von drei Geschäftsführern der WAZ-Gruppe, habe ihr später – an seinem allerletzten Arbeitstag – gestanden, dass die WR-Demontage ein „Fehler“ gewesen sei. Eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, dies erst zum Abschied zuzugeben. Merten-Kemper sagt, sie sei fassungslos gewesen und habe ihn gefragt, warum er all die Jahre über nichts getan habe, um die Entscheidung zu revidieren. Da musste er passen.

Medien brauchen die besten Leute  

Seinem vorwärts strebenden Naturell entsprechend, schlug Lars Reckermann (zwischenzeitlich Chefredakteur der Nordwest-Zeitung in Oldenburg, jetzt Chef bei der Schwäbischen Post) ein paar optimistische Töne an. Die Funke-Mediengruppe habe sich mit der Zeit ein besseres Image zugelegt als einst die WAZ-Gruppe – und überhaupt sei der Journalismus in den letzten Jahren generell deutlich besser geworden. Dem möchte ich nur bedingt beipflichten. Anna Mayr wünscht sich unterdessen noch mehr: Die allerbesten Leute der kommenden Jahrgänge sollten möglichst ins Zeitungsgewerbe gehen. Ein schöner Traum. Doch auch andere Branchen brauchen besondere Talente.
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P. S.: Dies ist beileibe nicht der erste Revierpassagen-Beitrag zur WR-Schließung. Früher sind beispielsweise schon erschienen:
https://www.revierpassagen.de/22807/ein-jahr-nach-schliesung-der-rundschau-redaktion-die-folgen-schmerzen-noch/20140115_2138

https://www.revierpassagen.de/28818/zwei-jahre-nach-dem-ende-der-rundschau-beaengstigende-zeiten-fuer-den-journalismus/20150115_1717

https://www.revierpassagen.de/36681/ein-bisschen-schwund-ist-immer-wie-die-erinnerungen-an-die-rundschau-verblassen/20160614_0957

https://www.revierpassagen.de/47988/heute-vor-fuenf-jahren-das-ende-der-rundschau/20180115_1637

Wird all das hintereinander gelesen, so mögen sich Redundanzen ergeben, aber was soll’s. Nehmt es als Chronologie eines allmählichen Verschwindens.

Hier noch ein Link zum Podcast des DJV-NRW (Moderation: die freie Journalistin Sascha Fobbe): https://www.youtube.com/watch?v=q0GTb3PbQkU




Wo Bürokraten bräsig walten, pflanzt sich das Unvermögen fort

Ob die Weisheit all dieser Eulen ausreicht, um dieses Land voranzubringen? Beim Philosophen Hegel hieß es jedenfalls vielsagend: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Foto: Bernd Berke)

Wer hat in letzter Zeit ähnliche Erfahrungen mit der kläglichen Unzulänglichkeit gewisser Unternehmen gemacht; besonders mit den Abkömmlingen früherer Staatsbetriebe: Post, Bahn, Telekom? Blöde Frage: natürlich wir alle.

Die Älteren erinnern sich: Post und Bahn hatten – bei aller Gängelung und piefigen Beschränkung – einst auch etwas Wohliges und ziemlich Verlässliches an sich. Heute aber bedeutet Bürokratie längst nicht mehr Ordnung und Sicherheitsgefühl, sondern es hat sich eine gewaltige Brems- und Verhinderungs-Maschinerie herausgebildet, die die gesamte Gesellschaft immer wieder fesselt und zurückwirft. Bizarre Beispiele lassen sich täglich in den Medien finden (bei denen es freilich auch nicht rundweg zum Besten steht).

Die raffinierten Fallensteller

Ich erspare es uns, detailliert von meinem neuesten Dauerärger mit der Telekom zu berichten, der sich bei genauerem Hinsehen als Kommunikations-Debakel der Hotline erweist. Ruft man z. B. drei „Berater(innen)“ an, hört man mindestens drei verschiedene, einander teilweise widersprechende Ratschläge. Sie schicken einen in die absurdesten Unsinns-Schleifen und sind ganz groß darin, immer wieder neue Hindernisse aufzubauen. Gar manche erweisen sich als raffinierte Fallensteller.

Damit verknüpft war u. a. das Versagen eines „Dienstleisters“ (nur in Anführungsstrichen) mit dem Namensbestandteil „Angel“, der für die Telekom Versandaufgaben übernehmen soll. Man ist versucht, in diesem Falle von „Hell’s Angels“ zu sprechen. Jedenfalls mochte ein Smartphone auch nach Wochen partout nicht eintreffen, doch die Telekom wollte es – nach einem rechtzeitigen Widerruf – gleichwohl als Retoure haben. Bring mir das Nichts!

Leider „in Verlust geraten“

Schließlich wurde dann doch ernsthaft nachgeforscht und es hieß, das Gerät sei – so wörtlich – „in Verlust geraten“. Also verschlampt, geklaut oder sonst etwas Unerfreuliches. Zusätzlicher schlechter Witz: Eine geringfügige Änderung war direkt nach Bestellung nicht mehr möglich, weil der Auftrag (so einer dieser Berater) „auch nach Sekunden“ schon nicht mehr rückholbar sei. Hört sich nach rasender Eile an. Umgekehrt wird ein Schuh daraus, ganz anders als bei den sprichwörtlichen „Kreuzberger Nächten“. Bei der Telekom heißt es offensichtlich: Erst fang’n se janz zackig an – aber dann, aber dann…

Nun muss man sagen, dass im Namen und im Auftrag der Telekom Vorort-Shops arbeiten. Und just in einem dieser Läden wurden alle Problem-Knoten fast wie von Zauberhand gelöst, ja beherzt zerschlagen wie nur je ein gordischer. Was die persönliche Beratung, sofern kompetent verabreicht, doch vermag! Und wie die anonymen Hotlines, auf deren sinnlose Einlassungen man schier endlos harren muss, einen so häufig verzweifeln lassen.

Ihr Hotline-Connaisseure und Connaisseusen fragt, welchen Song die Telekom diesmal in der ca. mindestens halbstündigen Warteschleife abgenudelt habe? Textprobe:

„Es wird mal wieder Zeit für ein’n Moment, der ewig bleibt.
Heut‘ sind wir alle gleich, wenn der Tag Geschichte schreibt…“ 

(Textzeilen aus Mike Singer „Es wird Zeit“)

Nein, wir wollen das jetzt nicht weiter interpretieren. Ohne Wirrwarr und Hirnverknotungen ginge das nicht vonstatten.

Düpiert in Diktaturen

Um zur Eingangs-Hypothese zurückzukehren: In gar zu vielen Bereichen des Geschäftslebens sackt diese Republik ab, als hätte sie sich die Fußball-Nationalmannschaft zum Vorbild genommen. Solche vermeintlichen Zusammenhänge werden ja stets gern konstruiert. So haben sich die einstmals gefürchteten Deutschen auf den Rasenflächen der letzten beiden Weltmeisterschaften (jeweils in Diktaturen abgehalten) u.a. von den „lösbaren Aufgaben“ Südkorea und Japan düpieren lassen.

Die seit vielen Jahren in Fensterreden beschworene Digitalisierung kommt derweil so schleppend voran, dass „wir“ (die einstige „Ingenieurs-Nation“) hinter ehedem belächelte Länder wie Albanien zurückgefallen sind; von Skandinavien, den Niederlanden oder dem Baltikum ganz zu schweigen. Hätte man die Wahl, irgendwo in Europa zu investieren – würde man es hier tun?

Mehr als sieben Brücken musst du bau’n…

Das Unvermögen pflanzt sich durch viele Bereiche fort. Wie furchtbar lange dauert der Bau einer einzigen Brücke, wo doch weite Teile des gesamten Bestandes marode sind?! Fragt mal beispielsweise in und um Lüdenscheid nach. Wie unterbesetzt sind gesellschaftlich notwendige Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser oder die Pflegebetriebe? Wie oft werden rasche Änderungsversuche und zaghafte Impulse erstickt – beispielsweise auch durch maßlos übertriebenen Datenschutz, ein deutsches Steckenpferd par excellence? Warum konnten sich (trotz mancher Kontrollinstanzen) Korruption, Steuerhinterziehung und haltlose Bereicherung in Teile der Gesellschaft geradezu hineinfräsen?

Immerhin scheinen noch Rechtssicherheit und demokratische Gepflogenheiten zu walten. Mit kleineren Abstrichen hie und da. Da muss man sich eben gegen jeden kleinen Verlust stemmen. Sonst geht auch das noch den Bach hinunter. Man könnte Beispiele nennen; Beispiele diesseits und jenseits der großen Ozeane.




Zornige Suada – längst nicht nur gegen die Finanzbehörden: Elfriede Jelineks „Angabe der Person“

Seit Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis erhielt, hat sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es schien, als sei sie in ihrem Werk verschwunden und sie lebe nur noch in ihren Texten. Umso überraschender, dass es Claudia Müller gelang, die scheue Autorin mit der Kamera zu begleiten und das filmische Porträt „Die Sprache von der Leine lassen“ zu realisieren. Kaum ist der Film in den Kinos, legt Elfriede Jelinek nach und veröffentlicht einen neuen Text: „Angabe der Person“. Der Verlag kündigt an, das Buch sei die „Lebensbilanz“ der Autorin. Stimmt das?

Tatsächlich benutzt Jelinek einmal das Wort „Bilanz“ und schreibt: „Ich ziehe Bilanz, obwohl es dafür zu früh ist.“ Sie meint aber damit nicht, dass sie ihr Leben bilanzieren will. Dann müsste sie vieles thematisieren, ihre schwierigen Beziehung zu den Eltern, ihre Nervenzusammenbrüche, ihre zeitweilige Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Österreichs, ihre zornigen Dramen und wütenden Romane, die oft für Skandale sorgten.

Es geht Jelinek um etwas anderes: um den Staat, der willkürlich in das Leben einzelner eingreift, unkontrollierte Steuerbehörden, die sich aus unerfindlichen Gründen an einzelnen Personen festbeißen. Der Satz lautet denn auch vollständig: „Ich ziehe Bilanz, obwohl es dafür zu früh ist, ich zahle also das, was des Staates ist, ich zahle meine Steuern, das wird Ihnen jeder nachweisen können, der Ziffern voneinander unterscheiden kann.“

Es macht sie rasend, dass die Steuer-Behörden sie regelrecht verfolgen und zermürben. Die Autorin pendelt seit Jahrzehnten zwischen Deutschland und Österreich, sie hat zwei Wohnsitze, einen in München, wo ihr kürzlich verstorbener Ehemann lebte, und einen in Wien, wo sie sich zumeist aufhält und in ihre Schreib-Einsamkeit zurückzieht. Die Finanzbehörden unterstellen offenbar, sie habe ihre Einnahmen nicht ordentlich versteuert und eröffnen ein Ermittlungsverfahren gegen sie, beschlagnahmen private Unterlagen, sichten sämtliche Konten, machen eine Hausdurchsuchung bei ihr, schnüffeln sich durch intime E-Mails.

Sie fühlt sich gedemütigt und zur Verbrecherin abgestempelt, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst ist und alle Schulden längst beglichen hat: „Schuld“ und „Schulden“, ihr Lebens-Thema. Es geht ihr nicht um ihre eigenen Geldsorgen oder Steuer-Probleme, sondern um die historische „Schuld“ einer von Nazis verseuchten Gesellschaft, um die „Schulden“ von Steuer-Sündern, die ihre Geschäfte in Steuer-Oasen verlagern, es geht um Sparmodelle, Betrugsskandale, Cum-Ex-Geschäfte. Das macht sie wütend, so wird aus ihrem Zorn über die gegen sie laufenden Ermittlungen ein Nachdenken über globale Kapitalströme und über einen Kapitalismus, der keine Moral kennt, sondern nur den Imperativ des Profits: Wie sehr, fragt sich Jelinek, profitieren bis heute Staaten von enteigneten jüdischen Vermögen? Wie viele Nazi-Größen wurden anstandslos entschädigt, während die Opfer von Terror und Enteignung bis heute vergeblich auf Wiedergutmachung warten?

Elfriede Jelinek hat noch nie so offen und einfühlsam über die Geschichte des jüdischen Teils ihrer Familie gesprochen: Jetzt schreibt sie zum ersten mal über eine in Auschwitz ermordete Tante, einen Onkel, der nach Dachau deportiert wurde und, kaum wieder freigelassen, Selbstmord beging. Sie spricht vom Vater, der im Nazi-Jargon als „Halbjude“ galt und der Vernichtung nur entging, weil er als Ingenieur für die Kriegsindustrie gebraucht wurde: „Hätte das deutsche Land, das damals einfach überall war, noch länger, tausend Jahre mindestens, sich breiter aufgestellt, als meine Eltern es aushalten konnten, dann gäbe es mich nicht. Hätte das Land länger, als es mußte, auf garantiert rassereinem Nachwuchs bestanden, gäbe es mich nicht, meine Rasse ist unrein, ich weiß, ich gehöre nirgends dazu.“

Pandemie, Flüchtlinge, Religion, Philosophie, Kunst, Heidegger, Nietzsche, Freud und Camus. Nichts wird geordnet. Der 190-seitige Text ist eine unaufhörliche Suada der Empörung, ein unablässiger Gedankenstrom. Er öffnet die Tür in surreal anmutende Wirklichkeiten. Vieles klingt grotesk und ist doch fürchterlich wahr, vermischt sich zu einer absurden Collage und einem vielstimmigen Chor. Oft weiß man nicht, wer spricht, die Autorin oder der Geist des toten Vaters, ein Cum-Ex-Betrüger oder ein Jungspund aus der Polit-Riege um Österreichs Ex-Kanzler Kurz. Man weiß nur: Es ist ein schwer lesbarer und schwer verdaulicher, aber ungemein wichtiger und unverzichtbarer Text.

Elfriede Jelinek: „Angabe der Person“. Rowohlt Verlag, 190 S., 24 Euro.

Nachspann:

Elfriede Jelinek, geboren 1946, aufgewachsen in Wien, hat für ihr Werk viele Auszeichnungen erhalten, u. a. 1998 den Georg-Büchner-Preis und 2004 den Literaturnobelpreis. Zu ihren bekanntesten Werken zählen die Romane „Die Klavierspielerin“ (1983), „Lust“ (1989) und „Gier“ (2000) sowie ihre Theatertexte „Raststätte“ (1994), „Ein Sportstück“ (1998) und „Ulrike Maria Stuart“ (2006). Ihr Ehemann, Gottfried Hüngsberg, der früher für R. W. Fassbinder Filmmusiken schrieb und seit Mitte der 1970er Jahre als Informatiker tätig war, verstarb vor wenigen Wochen. (FD)




Im Dunstkreis russischer Propaganda: Teodor Currentzis dirigiert Verdis „Messa da Requiem“ im Konzerthaus Dortmund

Teodor Currentzis nimmt im Konzerthaus Dortmund den Beifall entgegen. Rechts ist der Sänger Matthias Goerne zu sehen. (Foto: Holger Jacoby)

Darüber lässt sich keine übliche Konzertkritik schreiben: In Dortmund tritt ein Dirigent auf, der sich bisher erfolgreich um eine eindeutige Distanzierung von Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine gedrückt hat, sich mit seinem Ensemble aber nach wie vor von Sponsoren mit Putin-Nähe fördern lässt.

Teodor Currentzis bringt ins Konzerthaus  statt der angekündigten konzertanten „Tristan und Isolde“-Aufführung Giuseppe Verdis „Messe da Requiem“ mit. Ein Statement gegen den Krieg? Der Abend in Dortmund sieht nicht so aus: Die bürgerliche Kunstreligionsfeier geht ungebrochen vor sich; im Programmheft ist kein Wörtchen zu lesen, das der Aufführung irgendeine über den Event selbst hinausgehende Bedeutung geben würde. Das Publikum im nicht ganz vollbesetzten Saal begrüßt Chor und Orchester von MusicAeterna mit verhaltenem, aber langem Beifall. Als Currentzis mit viertelstündiger Verspätung aufs Podium springt, gibt es bereits einzelne Bravos. Der Schlussbeifall ist ebenfalls durchmischt mit – künstlerisch verdienten – Anerkennungsrufen. Gilt’s also nur der Kunst?

Auf Gazprom-Tournee

Wenn es so einfach wäre, hätte sich die Kunst tatsächlich aus der gesellschaftlichen Relevanz verabschiedet. Denn im Falle von Currentzis und MusicAeterna geht es nicht um moralische Bewertung privater Meinungen oder um idealistischen, von den Niederungen der Politik elfenbeinern abgeschiedenen Musik-Enthusiasmus, sondern es geht um ein Ensemble und einen Dirigenten, die auf Gazprom-Konzerttour gegangen sind, als die sogenannte Spezialoperation längst im Gange war. Das Verdi-Requiem, das nun in Dortmund zu hören war, gab es kurz zuvor in Sankt Petersburg – und das etwa ohne Förderung von Gazprom oder der sanktionierten VTB-Bank, deren Sponsoring schon vor dem Krieg auf Kritik stieß?

Currentzis hat sich medial wahrnehmbar nicht einmal mit einer allgemein gehaltenen Aussage gegen Krieg und Gewalt von dem distanziert, was da seit Monaten in Europa an Grausamkeiten verübt wird. Er schweigt und entzieht sich den Fragen von Medien – und die machen, wie der Musikjournalist Axel Brüggemann dokumentiert hat, problemlos mit. Wo sonst um jede Straßenumbenennung eine Debatte geführt wird, ist die Haltung eines Nutznießers des Putin-Systems offenbar nicht der hartnäckigen Nachfrage wert. Dabei ist es naiv anzunehmen, man könne in der gegenwärtigen politischen Situation einfach nur Kunst um der Kunst willen genießen: Currentzis wird, ob er will oder nicht, Bestandteil der russischen Propaganda; ein Teil eines kulturellen Krieges, der nicht nur auf den Schlachtfeldern in der Ukraine ausgefochten wird.

Problematische Finanzierung

Die Kölner Philharmonie hat klare Kante gezeigt und ein Konzert mit Currentzis und dem SWR Sinfonieorchester abgesagt. So weit gingen weder der Ex-Dortmunder Benedikt Stampa in Baden-Baden noch Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech. Dem Bayerischen Rundfunk sagte er über die Finanzierung, er halte sie für kritisch, wisse aber, dass das nicht so schnell änderbar sei. Das mag so sein, aber wenn ein Ensemble keinerlei Indizien erkennen lässt, dass es seine Finanzierung von problematischen Sponsoren unabhängig gestalten könnte, ist das auch ein Statement. Und ob ein Klangkörper mit einem Sony Classical Exklusivvertrag und Hochglanz-Auftritten in ganz Europa – einem umstrittenen Event bei den Salzburger Festspielen dieses Jahres eingeschlossen – beim Abschied von problematischen Sponsoren gleich an den Rand seiner Existenz geraten würde, ist fraglich: Vielleicht hätte sich nach einer Distanzierung ein neuer Sponsor gefunden, der solchen Mut gewürdigt hätte?

Immerhin schließt von Hoensbroech weitere Auftritte von MusicAeterna im Konzerthaus Dortmund vorerst aus. Einige Musiker, die sich in sozialen Medien für den Krieg positioniert hatten, wurden suspendiert – ob nur für den Auftritt in Dortmund oder auf Dauer, ist unklar. Dazu zählt auch der Geiger, der in einem Video-Post angekündigt hatte, er zerstöre Deutschlands Wirtschaft, und dazu ein Heizkörperventil aufgedreht hat. Den Witz muss man nicht verstehen. Aber er könnte wohl auch als Indiz für die Haltung in Teilen der Orchesters verstanden werden und damit mehr als nur eine individuelle Entgleisung darstellen.

Die Kunst muss sich nicht verstecken

Um die Kunst soll es nun aber auch gehen – und in dieser Hinsicht braucht sich MusicAeterna nicht zu verstecken. Schon im „Te decet hymnus“ gibt der Chor eine erste Probe seiner Präzision, die sich im Verlauf des „Dies irae“ und in der „Sanctus“-Doppelfuge atemberaubend bestätigt. Selten ist diese oft als musikalisches Schlachtengemälde missverstandene Sequenz so durchhörbar und genau gestaltet zu erleben. Currentzis wägt sorgfältig ab, welche Gruppen im Orchester gerade dominieren und welche zurücktreten sollen, erzeugt so einen tief gestaffelten, bei aller Wucht variablen Klang, lässt hören, dass Verdi hier keine bloße Überwältigungsstrategie fährt und die differenziert ausgearbeitete Partitur nicht als Lektürevergnügen, sondern als blutvoll ausmusizierte Vorlage dienen soll.

Dass Currentzis mit seinen Manierismen nicht bricht, ist jedoch auch hörbar. Die Celli zu Beginn sind in ihrer absteigenden Dreiklangfigur kaum wahrnehmbar: Ein solch übertriebenes Pianissimo ist nicht im Sinne Verdis, der von den Instrumenten einen leisen, aber sonoren Klang verlangt. Der Chor singt das erste „Requiem“ nicht, sondern murmelt es vor sich hin, so wie er in „Quantus tremor“ das Zittern vor dem Weltenrichter flüsternd skandiert. Die Piano-Abstufungen gestaltet er jedoch meisterlich, auch wenn ihm dann die süße Wendung zum „lux perpetua“ nicht so recht gelingen will. Das „Te decet“ setzt nicht nur einen entschiedenen Kontrast, sondern platzt heraus: Da wäre weniger mehr gewesen. Zum „Dies irae“ bringt sich Currentzis in Stellung, aber er verzichtet tatsächlich auf Effekthascherei, schafft es stattdessen, den Sinn des Textes ausdeuten zu lassen, schafft es auch, „teste David cum Sibylla“ entspannt zurückzunehmen, damit sich die Kräfte der Dynamik wieder ballen und erneut losbrechen können.

Teodor Currentzis mit seinen Solisten. (Foto: Holger Jacoby)

Die Auswahl der Solisten hängt wohl mit dem ursprünglich geplanten „Tristan“ zusammen: Weder Andreas Schager – einer der führenden Tristan-Sänger heutiger Tage –, noch der Liedsänger Matthias Goerne passen in Verdis vokales Profil. Und sie harmonieren nicht mit dem Sopran Zarina Abaeva und dem Mezzo Eve-Maud Hubeaux, was vor allem im nur leise harmonisch gestützten Quartett („fac eas de morte transire ad vitam“) durch zerrissenen Klang Schmerz bereitet. Andreas Schager müht sich bewundernswert darum, seine Soli textsinnig und klangschön zu gestalten, aber schon das „Kyrie“ ist nicht leuchtend, sondern nur laut. Ein schönes Legato fällt ihm schwer. Im „Ingemisco“ sucht er den bittenden Ton, aber die Stimme ist nicht geschmeidig genug, auch nicht, um das „Inter oves“ in seinem fast kindlichen Flehen in einen schwerelosen Klang zu kleiden. Zarina Abaeva erweist sich dagegen als stilgewandte Verdi-Sängerin, die sich nicht zu vibratosatter Tongewalt hinreißen lässt und die Höhe auch im Piano sicher ans Zentrum anzubinden weiß. Ihr „Libera me“ erfleht sie sich von der Chorempore herab; vielleicht bleibt seine innere Bewegung deshalb etwas blass.

Eve-Maud Hubeaux und Andreas Schager. Foto: Holger Jacoby)

Nichts bleibt ungesühnt

Bei Matthias Goerne spürt man die Qualität des Liedgestalters: Kaum einer singt das dreimalige „mors“ jedes Mal anders aufgeladen – erschüttert, bitter, resigniert; kaum einer gestaltet die rhythmische Feinheit des „Hostias“-Beginns so klug wie Goerne. Aber schon im Kyrie befremdet der gewohnte, weit hinten gebildete, kehlige Klang der Stimme, der sich zu gurgelnder Intensität steigert und einen sinistren Gegensatz zum schlank-samtigen Timbre von Eve-Maud Hubeaux aufbaut. Die Schweizer Mezzosopranistin – die Amneris der Salzburger Festspiele 2022 und Eboli der Wiener Staatsoper 2020 – ist kein breiter italienischer „Contralto“, sondern eine präsent artikulierende Sängerin mit einer definierten Emission, die nur im Wechsel in die Bruststimme („latet apparebit“) ihren ästhetischen Ton nicht mitnehmen kann.

Hubeaux singt in der mittelalterlichen „Dies irae“-Sequenz den einen Satz, der sich in der gebannten Stille nach dem Verklingen des letzten „Libera me“ (und eines prompt einsetzenden Handy-Gebimmels) aufdrängt: „Nil inultum remanebit“. Nichts bleibt – glaubt man denn an einen Gott und ein Weltgericht – ungesühnt. Dieser Satz sollte den Mächtigen in den Ohren gellen, die heute ihre Gewaltorgien in der Ukraine und in vielen Teilen der Welt toben lassen. Der gerechte Gott ist die Hoffnung der Opfer. Das wäre das Statement dieses Requiems.




Funkelnder Geist, fröhlich voraus – zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger, am 20. Mai 2006 in Warschau (Polen). (Wikimedia Commons / Own work of © Mariusz Kubik, editor of Polish Wikipedia). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/deed.en

Eine erfreulich lange Lebenszeit war ihm vergönnt. Nun aber trauert die literarische Welt: Hans Magnus Enzensberger, der wohl brillanteste Intellektuelle seit den frühen Jahren der Bundesrepublik, ist mit 93 Jahren in München gestorben. Unter den Lebenden fällt einem allenfalls noch jemand wie der ebenso vielseitige Alexander Kluge ein, wenn es um derart funkelnden Verstand geht, der sich aus gutem Grund an alle Themen wagt.

Enzensberger war alles andere als ein Schriftsteller aus dem Elfenbeinturm, wusste er doch auch die Klaviatur der Medien zu bespielen wie kaum ein anderer. Sehr früh und beispielhaft hat er die Sprache von Augsteins „Spiegel“ analysiert und später das deutsche Fernsehen fachgerecht seziert. Sein ganzer Habitus und sein geradezu elegantes Denken waren eine Absage ans alte Deutschland, sie schienen einer luftigen übernationalen Sphäre anzugehören.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat der 1929 in Kaufbeuren geborene und dann in Nürnberg aufgewachsene Mann sich u. a. als Schwarzhändler und Barmann verdingt, was durchaus nach wertvoller Lebenserfahrung klingt. Später hat er edlere Berufungen mit Leben erfüllt, er war Rundfunkredakteur beim Schriftstellerkollegen Alfred Andersch und Lektor im Suhrkamp-Verlag.

Der weltläufige Enzensberger blickte zeitig weit über Deutschland hinaus: 1960  hat der polyglotte Sprachkünstler den wunderbaren Gedichtband „Museum der modernen Poesie“ herausgegeben, mit dem er herausragende Lyrik aus aller Welt einsammelte und den poetischen Stand der Dinge als sinnliche Bestandsaufnahme reflektierte. Mit dem Band „Ach Europa“ (1987) hat er zudem seine Vision für diesen unseren vielfältigen Kontinent entworfen. Er dürfte denn auch – neben Böll und Grass – durch all die Nachkriegs-Jahrzehnte der international bekannteste deutsche Autor gewesen sein.

Enzensberger hat auch kaum zu überschätzende Verdienste als Herausgeber und Anreger. So publizierte er nach dem „Museum der modernen Poesie“ das um 1968 ungemein wichtige „Kursbuch“, gegen Ende der 70er Jahre die ambitionierte Kulturzeitschrift „TransAtlantik“ (gemeinsam mit Gaston Salvatore) und von 1985 bis 2004 die von Franz Greno herrlich gestaltete bibliophile Reihe „Die andere Bibliothek“. Eine Spezialität: Enzensberger war überdies ein Liebhaber der Mathematik, von deren Schönheit er auch andere gern überzeugen wollte – nachzulesen in „Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben“.

Bereits 1957 und 1960 waren Enzensbergers frühe Lyrikbände „Landessprache“ und „Verteidigung der Wölfe“ erschienen, mit denen ein unerhört neuer, geradezu „frech“ auftrumpfender, sogleich einnehmender Tonfall in die deutschsprachige Literatur kam, nein: Einzug hielt. Kleiner Schwenk ins Persönliche: Wir hatten eine recht junge Deutschlehrerin, die uns Mitte der 60er Jahre zumal auf Enzensberger und Ingeborg Bachmann aufmerksam machte, wofür man noch heute dankbar sein darf. Den furiosen Debüts folgten Dutzende weiterer Bücher, die wir hier nicht aufzählen wollen. Entsprechende Listen finden sich vielfach in Druckwerken und im Netz. Auf dem Foto sind ebenfalls ein paar Titel zu erkennen.

Je nun, im heimischen Billy-Regal befinden sich auch ein paar Bücher von Enzensberger. Ehrensache. (Foto: BB)

Enzensberger betätigte sich praktisch auf allen Feldern des Schreibens und Debattierens. Auch und gerade als Essayist setzte er neue Maßstäbe, wobei er stets wundersam wandelbar blieb und sich nie auf eine starre Meinung festnageln ließ. Sein luzider Duktus konnte an Größen wie die Freigeister Montaigne oder Lichtenberg erinnern. Ja, auf solchen Höhen war er unterwegs, immerzu formvollendet.

Dem allgemeinen Stand der Diskussionen war Hans Magnus Enzensberger in aller Regel weit voraus. Wer immer geglaubt haben mag, er habe ihn bei der oder jener festgelegten Denkfigur „erwischt“, dem war dieser höchst bewegliche, niemals dogmatische Geist schon wieder frisch und fröhlich enteilt. Bei ihm wusste man nie im Voraus, wie er sich zu einer Sache stellen und wie er argumentieren würde. Deshalb waren seine Texte eigentlich immer überraschend und spannend.

Mehr noch: Oft ertappte man sich bei der dringlichen Frage, was wohl Enzensberger zu dieser oder jener Wendung der Zeitläufte sage? Um maßlos zu untertreiben: Es gibt heute nicht mehr so furchtbar viele Schriftsteller und Intellektuelle, auf die derlei Wünsche gleichfalls zuträfen. Heißt im Umkehrschluss: Hans Magnus Enzensberger wird uns fehlen. Sehr.




Die „Hitlerwerdung“ Adolf Hitlers – Feridun Zaimoglus riskanter Roman „Bewältigung“

Als Romangestalt bleibt der Autor namenlos. Zunehmend scheint es so, als hätte eine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen, so dass er gar kein Individuum mehr sein kann; als hätte er sich selbst verloren. Dahinter steht ein furchtbar monströses Projekt: Er hat sich vorgenommen, einen Roman zu schreiben, dessen Hauptperson Adolf Hitler ist. Genauer: Es geht um die frühen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, sozusagen um die „Hitlerwerdung“ Hitlers.

Besagter Autor hat Dutzende von Büchern durchgearbeitet, die das „Phänomen“ Hitler erschließen sollen. Er hat sich auf Recherche-Reise begeben – nach Bayreuth, wo Winifred Wagner den späteren „Führer“ angehimmelt hat; nach München, wo er einige Lieblingsorte Hitlers aufsucht; nach Dachau; zum Obersalzberg.

Mehr und mehr muss der Autor sich Hitler als glaubhafte Romanfigur anverwandeln, sonst hätte das Schreiben ja gar keinen Zweck. Hitler steckt in seinem Kopf, in seiner Psyche. Es sieht so aus, als käme der Schreibende aus dieser Zwangslage nicht mehr heraus. Lässt sich – bei aller schmerzlichen Anstrengung – überhaupt etwas wesentlich „Neues“ über Hitler herausfinden? Wie war das noch mit dem Diktum „Zu Hitler fällt mir nichts mehr ein“, das fälschlicherweise Karl Kraus zugeschrieben wird?

Feridun Zaimoglu, zwar 1964 in der Türkei geboren, aber seit seinem sechsten Lebensmonat in der Wahlheimat Kiel „ein deutsches Leben“ führend, wie er es selbst nennt, hat sich mit seinem Roman „Bewältigung“ ein denkbar belastendes Thema vorgenommen. Sein Buch enthält zahllose Passagen, in denen der fiktive Autor (und mit ihm Zaimoglu selbst) gedanklich und sprachlich beängstigend nahe an Hitler herangeführt wird. Wer immer sich in diesen Massenmörder dermaßen hineinversetzt, kann nicht einfach „normal“ weiterleben. Nicht nur nebenbei sei’s gesagt: Es gibt hierzulande gewiss nicht viele Autoren, die sprachmächtig genug sind, um solch ein Unterfangen zu beginnen. Da muss manches aus dem zeitgeschichtlichen Urschlamm hervorgeholt und gesagt werden, was eigentlich nicht sagbar ist. Zaimoglu und sein Autor taumeln auf schmalem Grat. Praktisch alle, die vom Hitler-Projekt erfahren, sind zutiefst befremdet.

Es stellt sich die Frage, ob solch ein Projekt auszuhalten ist. Eine irgendwie fassbare Romanfigur muss – so verbrecherisch sie sei – auch menschliche Eigenschaften haben, womöglich Traumata, die aus der biographischen Frühzeit herrühren. Um sie aufzuspüren, muss man sich tief ins Innere begeben. Daraus geht man nicht schadlos hervor, denn diese Figur ist ja recht eigentlich unfassbar. Je konsequenter man Hitlers Wesen nachzeichnen will, umso mehr ist es zum Verrücktwerden. Da hilft es auch nicht, sich in einen Opferstatus hineinzuversetzen, indem man sich eine KZ-Nummer in die Haut ritzt. Ist nicht jede „Bewältigung“ nur Beschönigung?

Seltsam genug, dass der Autor Hitler zumeist „den Österreicher“ oder „Menschenschwein“ nennt. Im Verlauf seiner Untersuchungen stößt dieser Schriftsteller auf mancherlei Vorlieben und Abneigungen Hitlers, er erwägt dessen Verhältnis zu Frauen, zu seiner Mutter und zu Hunden, geht zu den Quellen seiner rassistischen Raserei, untersucht sein verkorkstes Verhältnis zur Kunst. Gar manches klingt plausibel (sofern man es überhaupt so sagen kann) und trifft den schnarrenden Tonfall jener Zeiten, anderes streift beinahe zwangsläufig die läppische Kolportage. Was soll es besagen, dass Hitler als Achtjähriger angeblich einem Ziegenbock ins Maul gepisst hat? Dass er für gewöhnlich sieben Stück Zucker in seinen Tee rührte? Was für lachhafte Exzesse!

Aus vielen, vielen Notizen schält sich ein Kernsatz heraus, mit dem der Autor seinen Roman beginnen lassen will. Er bezieht sich auf eine Verwundung Hitlers durch britisches Gas in Ersten Weltkrieg. Damals in Flandern wäre Hitler fast dauerhaft erblindet, seither sei er von Gas besessen gewesen. Welch ein Ansatz, wenn man die späteren Vernichtungslager mitdenkt…

Hitler wird, aller Annäherung zum Trotz, nicht nur als Einzelmensch geschildert. Immer wieder geraten auch die willfährigen Helfer in den Blick, die ihn erst möglich gemacht haben. Doch auch darin geht die Geschichte nicht auf. Noch immer ist nicht bis ins Letzte ergründet, warum so viele Menschen Hitlers Wahn geradezu rauschhaft gefolgt sind.

Eine weitere Ebene zieht  Zaimoglu in den Roman ein, indem er seinen Autor Sprach- und Integrations-Unterricht für Geflüchtete aus dem arabischen Sprachraum erteilen lässt. Da stellt sich auf noch einmal ganz andere Weise die Frage nach dem Deutschsein an sich. Es zeigt sich, dass das Thema keineswegs „erledigt“ ist. Wohl jede Generation hat hierin eine Herkulesaufgabe. Das betrifft auch jene Menschen, die dauerhaft in dieses Land kommen. Sollte sich da ein Hoffnungsschimmer verbergen?

Feridun Zaimoglu: „Bewältigung“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 268 Seiten. 24 Euro.




Im Haifischbecken der Berliner Politszene – Christoph Peters‘ Roman „Der Sandkasten“

Lang ist’s her: Anno 1953 erschien Wolfgang Koeppens legendärer Roman „Das Treibhaus“, der den Politbetrieb der frühen Bonner Bundesrepublik famos zur Sprache brachte. Großer Zeitsprung: 2018 erhielt der Schriftsteller Christoph Peters just den Wolfgang-Koeppen-Preis. Jetzt legt Peters‘ seinen Roman „Der Sandkasten“ vor, in dem er sich (in bewusster Anknüpfung an den großen Vorläufer) anschickt, aus dem Maschinenraum des jetzigen Berliner Polit- und Medienbetriebs zu plaudern.

Peters‘ Protagonist heißt Kurt Siebenstädter und gilt mit seinen 51 Jahren als einflussreichster Hörfunkjournalist Deutschlands, gleichermaßen geachtet und gefürchtet wegen seiner zupackenden, entlarvenden Art der Gesprächsführung, die schon manchen Gast in Verlegenheit gebracht hat. Siebenstädter ist Skeptiker durch und durch, er vertritt keinerlei parteinahe Überzeugung und traut sich gerade deshalb, von solcher Warte aus Prominente jeder Couleur herzhaft bloßzustellen. Dennoch drängeln sich Politiker in sein Morgenmagazin, wenn sie Botschaften lancieren wollen. Fast wirkt es tatsächlich wie ein Sandkastenspiel. Aber Vorsicht!

Klima einer neuen Ernsthaftigkeit

Das gesellschaftliche Klima hat sich gewandelt, so dass weder Politiker noch bekannte Medienleute sicher im Sattel sitzen. Die Zeit der lässigen Ironie ist vorbei, eine neue Ernsthaftigkeit und ein „woker“ Puritanismus haben Einzug gehalten. Figuren wie Siebenstädter sind vor diesem Hintergrund längst nicht mehr unumstritten. Es mehren sich die Zeichen: Gerade jetzt sieht es so aus, als dürfe er sich keinen Schnitzer mehr erlauben. Ausgerechnet er, der altgediente Zyniker, der selbst schon so manchen peinlichen Skandal aufgedeckt oder „ausgeschlachtet“ hat. In dieser wackligen Situation bekommt er einen Hinweis auf mögliche Verfehlungen eines Spitzenpolitikers. Wie wird er mit dem riskanten Tipp umgehen? Wird’s ein Befreiungsschlag – oder kommt etwas Selbstzerstörerisches ins Spiel?

Viel Freude beim Figurenraten

Wie es sich aus den Zeitläuften so ergibt, spielt die Geschichte im November 2020 vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und erweist sich als Schlüsselroman, in dem u.a. Statthalter von Jens Spahn, Karl Lauterbach und Christian Lindner aufzutreten scheinen. Den Namen Garbsen darf man überdies wohl mit Drosten kurzschließen. Na, und so weiter. Viel Freude beim Enträtseln. Christoph Peters dementiert im Vorspruch freilich jede Nachbildung lebender Personen.

Tiefere Einblicke in den intriganten Berliner Betrieb halten sich allerdings in Grenzen, die Befunde entsprechen weitgehend den Vorstellungen, die sich weite Kreise der Bevölkerung eh schon davon machen. Stichwort Haifischbecken. Stichwort lauter furchtbar wichtige Leute. Stichwort Jahrmarkt der Eitelkeiten. Nebenbei: Dass man heutzutage Bilder elektronisch manipulieren kann, erweist sich als überflüssiger Exkurs. Und noch mehr nebenbei, mit Gruß ans Lektorat: Es heißt korrekt „krakeelen“, nicht „krakelen“.

Unverhoffte Bedeutung des Hörfunks

Verwunderlich, dass hier der Hörfunk noch einmal als Leitmedium fungiert. Schön wär’s ja vielleicht. In Wahrheit dominiert doch das Audiovisuelle seit vielen Jahren. Oder ist’s ein von Peters bewusst gesetzter Anachronismus, der auf die Zeiten von Wolfgang Koeppen zurückverweist? Ein Effekt scheint immerhin zu sein, dass sich praktisch alle Hörfunk-Feuilletons sogleich auf das Buch gestürzt haben.

Erwartbarer Standard sind die Passagen, in denen von allerlei kriselnden Ehen im Polit- und Medienzirkus die Rede ist. Siebenstädter selbst hat sich mit der Deutsch- und Geschichtslehrerin Irene gründlich auseinandergelebt, auch ist ihm die Tochter Nora herzlich gleichgültig, was wiederum auf Gegenseitigkeit beruht. Was bliebe denn, wenn jetzt noch der berufliche Abstieg folgen sollte? Eröffnet sich etwa gerade noch rechtzeitig die Chance auf einen lukrativen Parteijob?

Man lauscht ja recht gerne in diese Promi-Szene hinein. Also liest sich der routinierte Roman recht zügig und munter, er verlangt kompositorisch und stilistisch nicht allzu viel ab. Mit derlei grundsolider Unterhaltung jedoch den Vergleich mit Wolfgang Koeppen zu suchen und geradezu herauszufordern, könnte ein gewagtes Unterfangen sein.

Christoph Peters: „Der Sandkasten“. Roman. Luchterhand. 256 Seiten, 22 Euro.




Zwischen Yellow Press und Wahlplakat: Wie sich Hendrik Wüst in Szene setzt

Von etwas anderer Art als die im Beitrag erwähnten Fotos: Pressebild des jung-dynamischen Hendrik Wüst, heruntergeladen von der Seite cdu-nrw.de

Nein, ich will nicht behaupten oder auch nur argwöhnen, dass der NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst mit seiner nagelneuen schwarz-grünen Koalition schlechte Politik machen wird. Das wird man einfach abwarten müssen. Doch eins geht mir schon jetzt, ganz zu Beginn seiner Amtszeit, gehörig auf den Geist: seine (Selbst)-Inszenierung.

Wir erinnern uns daran, wie er sich in den letzten Wochen und Monaten hat öffentlich darstellen lassen. Entweder ähneln seine medialen Auftritte den Illustrations-Mustern der Yellow Press – oder es sind Bilder wie auf Wahlplakaten. Gar oft ist Wüst umfangen von lauter saftig-frischem Frühjahrsgrün. Gar herzig lachen er und seine Stellvertreterin Mona Neubaur (Grüne) immer und immer wieder für die versammelte Presse. Selbst ein so trockener Vorgang wie die schlichte Unterschrift unter den Koalitionsvertrag geriet so zur politischen Liebesgeschichte mit Happy End. Aber vielleicht gibt es ja eine zusätzliche Erklärung: So fröhlich kann man wohl nur sein, wenn die FDP nicht an einer Regierung beteiligt ist.

Tatsächlich hat Hendrik Wüst in der Wahlkampfphase auch das Mittel der Homestory eingesetzt, unter anderem in der einschlägig bekannten „Bunten“. Neben so einem Traumschwiegersohn wirkte denn auch der vergleichsweise etwas stachelige SPD-Widersacher Thomas Kutschaty beim kreuzbraven TV-„Duell“ chancenlos. Politische An- und Absichten, die sich eh nicht fundamental zu unterscheiden schienen, waren demgegenüber fast zweitrangig.

Etliche Blätter und besonders die WAZ bringen die schrecklich harmonischen Wüst-Fotos gern in großflächiger Aufmachung auf ihren Titelseiten. Ein perfekt arrangierter Gipfelpunkt findet sich als dpa-Foto auf der heutigen Seite eins der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: Hendrik Wüst in inniger familiärer Dreieinigkeit mit Frau und Töchterchen, darüber die Schlagzeile „Wüst verspricht eine ,lebenswerte Heimat'“. Schon im Landtags-Wahlkampf unterließ es Wüst nicht, höchstpersönlich für die Pressefotografen den Kinderwagen zu schieben, auch im Wahllokal ließ er sich gern so sehen. Wer weiß, wie viele Frauenstimmen ihm das eingebracht hat.

Ganz offenkundig hat Wüst einen Berater*innenstab, der die Gelegenheiten gezielt so vorbereitet – und ebenso offenkundig folgen die allermeisten Medien diesen sanften Vorgaben. Nichts bleibt bei Wüsts Auftritten dem Zufall überlassen. Da kommt einem im Nachhinein Armin Laschet, der zuweilen etwas unberaten durch die Gegend taperte, noch wie ein Ausbund an Authentizität vor, geradezu sympathisch in seinem grundehrlichen Scheitern.

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P. S.: Schade eigentlich, dass wir die besagten Fotos hier nicht bringen können, es liegen halt Urheberrechte darauf. Aber Ihr wisst sicherlich auch so, was gemeint ist.




Predigt und Pathos – Amanda Gormans Gedichtband „Was wir mit uns tragen“

„Dieses Buch ist eine Flaschenpost“, schreibt Amanda Gorman im Gedicht  „Schiffsmanifest“, das ihren ersten großen Lyrikband einleitet, und fährt dann fort: „Dieses Buch ist ein Brief. / Dies Buch lässt nicht locker. / Dieses Buch ist wachsam. / Dieses Buch weckt auf.“

Dieses Buch, möchte man vorsichtig einwenden gegen das Übermaß an poetisch-politischem Pathos, ist vieles, aber vor allem eines: ein großes lyrisches Missverständnis. Denn „Was wir mit uns tragen“ legt Zeugnis ab von der literarischen Überforderung einer jungen Dichterin, die mit einem einzigen Auftritt die ganze (westliche) politische Welt verzauberte und zur Ikone des Aufbruchs in eine neue Zeit wurde: Als sie am 20. Januar 2021 zur Amtseinführung von Joe Biden die traurige und zugleich stolze Geschichte ihres von Rassismus gepeinigten Landes in eine poetische Predigt formte, schwer bepackt „Hügel hinauf“ kletterte („The Hill We Climb“) und stellvertretend für alle Gemarterten und Geschundenen, Vergessenen und Verlorenen das von Trump zerrissene Land wieder vereinen und heilen wollte, waren ihre Worte „Balsam für unsere Seelen“, wie Talkshow-Diva Oprah Winfrey begeistert ausrief.

Als Stil-Ikone vereinnahmt

Amanda Gorman ist die Verkörperung des neuen schwarzen Selbstbewusstseins. Wann immer sie öffentlich auftritt: Stets geht es um Gleichheit und Gerechtigkeit und darum, Rassismus und Unterdrückung ein für alle Mal in den Orkus der Geschichte zu verbannen. Dass sie nicht nur religiöse und politische Verheißungen verkünden will, sondern auch ein literarisches Anliegen hat und moderne Lyrik schreiben möchte, geriet ein bisschen in Vergessenheit. Vielleicht auch, weil sie vom Kapitalismus sofort vereinnahmt und mit ihrem gelben Mantel und roten Haarband (die sie bei der Inauguration trug) zur Stil-Ikone avancierte und sich profitträchtig vermarkten ließ.

Natürlich fehlt das coole Outfit auch nicht auf dem Cover des Buchs, das zahllose Texte enthält, aber eigentlich kaum ein Gedicht, das mehr ist als eine religiöse Litanei und politische Variation der immer gleichen Gedanken. Immer spricht aus ihrem Mund ein nicht näher definiertes „Wir“, immer fühlt sie sich als Sprachrohr einer von Leid und Schmerz befallenen Gruppe, die die Hoffnung auf ein besseres Morgen nicht aufgeben will.

Überall findet sich das „Wir“

Welche Seite man auch aufschlägt, welches Gedicht man auch liest, überall findet man solche Zeilen: „Wir haben geweint“, „Wir verschliefen die Tage“, „Wir waren schon tausende / von Toten in diesem Jahr“, „Wir hatten Zuhause satt“, „Wir strebten nach neuen Muskeln“, „Wir mussten uns erst selbst verlieren, / um zu verstehen, wir brauchen kein Königreich“, „Was sind wir, / wenn nicht der Kurs des Lichts“, „Wir gehen in ein Morgen / & tragen nichts / als die Welt.“

Mit Verlaub: das ist nicht Poesie, sondern Kitsch. Keine von sprachlicher Schönheit und gedanklicher Kraft erzwungene Literatur, sondern banales Geschwurbel und billiges Klischee. Kein widerborstiger Einfall, keine aufreizende Fantasie, nur Predigten einer jungen Frau, die jeden aufgeschriebenen Gedanken für ein gelungenes Gedicht hält: „Ein Gedicht hat kein Ende, / nur eine Stelle, wo die Seite / offen & erwartungshungrig glüht, / wie eine erhobene Hand, / gerüstet & gelassen.“

Übersetzung mit Sternchen

Ganz gelassen bemerken wir: Auch hübsch gemalte Kurven und fein gezogene Striche oder ein Gedicht in Form eines Wals (weil es auf Melvilles „Moby Dick“ anspielt), sind noch keine Lyrik, die einen bewegt oder berührt. Dass die deutschen Übersetzerinnen oft ein Gendersternchen (das es im amerikanischen Original nicht gibt) einfügen, versteht sich von selbst.

Amanda Gorman: „Was wir mit uns tragen / Call Us What We Carry“. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft und Daniela Seel. Hoffmann & Campe, Hamburg 2022, 432 Seiten, 28 Euro.




„Alles geben“: Der Fußballer Neven Subotić und seine Abkehr vom rauschhaften Luxusleben

Ganz ehrlich: Dies Buch gehört eigentlich nicht zu der Sorte, die ich getreulich Seite für Seite und Zeile für Zeile durchackern würde. Querlesen tut’s auch. Doch dabei zeigt sich, dass der Fußballer Neven Subotić (unterstützt von der Journalistin Sonja Hartwig) zumindest die Stoffsammlung für eine Art „Entwicklungsroman“ vorgelegt hat, der allerdings keine Fiktion ist, sondern mitten im (un)wirklichen Leben spielt und vielsagend „Alles geben“ heißt.

Neven Subotić, geboren 1988 in Banja Luka (heute Bosnien und Herzegowina) und von Haus aus serbischer Staatsbürger, kommt im Vorfeld des Jugoslawien-Kriegs mit seinen Eltern nach Süddeutschland. Der extrem arbeitsame (und fußballerisch ehrgeizige) Vater schuftet in etlichen Jobs, um die Migranten-Familie über Wasser zu halten.

„Ich bin ein Arbeiter. So wie meine Eltern.“

Als die „Duldung“ in Deutschland fraglich wird, brechen die Subotićs in die USA auf, wo in Salt Lake City und später Tampa ein gänzlich anderes Leben beginnt als in der Provinz bei Pforzheim. Doch Neven bleibt auch dort lange ein Außenseiter in eher kümmerlichen Verhältnissen – nicht nur, was die sportliche Ausrüstung anbelangt. Er und seine Schwester müssen familiär mithelfen, mal beim Klavier-Schleppen, mal beim Putzen oder wobei auch immer. Irgendwann zieht der Jugendliche ein erstes Zwischenfazit seines Lebens, es kennzeichnet später auch seine Präsenz auf dem Fußballplatz: „Ich bin ein Arbeiter. So wie meine Eltern.“

Immer mehr geraten nun fußballerische Belange in den Blick. Im Laufe eines Europa-Trips darf er tatsächlich bei der Jugendabteilung des Edel-Clubs Ajax Amsterdam vorspielen – einstweilen noch ohne Erfolg. Doch sein Kampfgeist ist geweckt. Bald darauf geschieht einer der an Wunder grenzenden Zufälle (oder war’s doch schicksalhafte Bestimmung?): Überraschend, fast wie aus dem Nichts, gehört Neven Subotić auf einmal zu den 40 besten Nachwuchsspielern der Vereinigten Staaten. Qualität setzt sich durch.

Glücksfall Jürgen Klopp – in Mainz und Dortmund

Gleichsam noch heute mit großen Augen staunend, registriert Neven Subotić seinen rasanten sportlichen und sonstigen Aufstieg: In Mainz trifft er – noch so ein Glücksfall – erstmals auf Jürgen Klopp, dem er fortan die entscheidenden Impulse verdankt (und der auch ein warmherziges Vorwort zu diesem Buch beigesteuert hat). Der charismatische Trainer nimmt ihn später mit zu Borussia Dortmund, 2011 und 2012 erringt das Team die deutsche Meisterschaft. Zusammen mit Mats Hummels bildet Neven Subotić beim BVB das jüngste und alsbald beste Abwehr-Duo der Liga (Sportjournalisten-Schnack: „Kinderriegel“). Man ahnt, dass die Titelgewinne auch mit menschlicher „Chemie“ zu tun hatten, die Klopp wie kaum ein zweiter Trainer anzuregen und zu nutzen weiß.

Im Rausch der Erfolge und des großen Geldes kann sich der ärmlich aufgewachsene Neven Subotić nun alles leisten, alles erlauben: ein sündhaft teures Domizil, den Cadillac und ähnliche Premium-Fahrzeuge, exzessiv lange Partynächte und Gelage, serienweise schöne Frauen, die er jeweils schnell wieder fallen lässt.

Stiftung für Brunnenbau in Äthiopien

Irgendwann jedoch befällt ihn Scham über dieses halt- und sinnlose Leben ohne jede Verantwortung. Nicht häufig, aber zuweilen eben doch gibt es diese Geschichten der gründlich geläuterten Menschen (berühmteste, gar zu hoch gegriffene Beispiele: Buddha oder der Heilige Franziskus), die ob der Ödnis eines rauschhaften Lebens in Saus und Braus irgendwann ins tiefe Nachdenken geraten sind und sich zur Umkehr entschlossen haben.

Von Subotićs Umkehr handelt die zweite Hälfte des Buches. So wie er auf dem Platz alles gegeben hat, setzt er sich mit seiner 2012/13 gegründeten Stiftung für eine der ärmsten Weltregionen in Äthiopien ein. Hauptanliegen ist der dort bitter notwendige Brunnenbau, also die Verwirklichung des Menschenrechts auf sauberes Wasser. Dieser Aufgabe widmet Neven Subotić längst einen Großteil seiner Zeit und Kraft – und fragt sich doch, nahezu selbstquälerisch, ob er wirklich von sich behaupten kann, er würde „alles geben“.

Wie ein Mensch im Büßergewand

Eine Angabe taucht immer wieder auf, nämlich die der Quadratmeter, auf denen Neven Subotić nach und nach gewohnt hat; zunächst auf beengten 17 Quadratmetern eines Mainzer Dachgeschosses, dann auf auch noch recht bescheidenen 45 Quadratmetern, danach immerhin auf 80 qm. Kaum war er Stammspieler bei Borussia Dortmund, diente man ihm ein Riesenhaus mit 220 Quadratmetern und allen Schikanen an. Und heute? Lebt er mit Freundin auf 90 Quadratmetern und findet, das sei eigentlich zu viel. Manchmal klingt er wie jemand, der sich mönchisch kasteien möchte, wie ein Mensch im Büßergewand. Vor allem aber sagt er, wollte man es biblisch formulieren: Folget mir nach! Das andere Extrem zu seinem früheren Luxusrausch.

Fest steht, dass Neven Subotić, abseits von allen oberflächlichen Image- und Marketing-Fragen, auf seiner Sinnsuche ausgesprochen authentisch und sympathisch wirkt. Nur sehr wenige Fußballspieler erlangen diesen menschlichen Reifegrad. Es wäre schön, wenn sich sein Beispiel auf andere Millionäre jeder Couleur auswirken könnte, nicht nur auf prominente Kickerkollegen. Dass Subotić bei den Fans, insbesondere natürlich den schwarzgelb orientierten, für alle Zeit einen dicken Stein im Brett hat, ist ohnehin klar.

Neven Subotic (mit Sonja Hartwig): „Alles geben“. Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten. Mit einem Vorwort von Jürgen Klopp und einigen Farbfotos. 22 Euro.

 

 




Als die Revolte noch ganz jung war – Rückblick auf ein Gespräch mit F. C. Delius

Friedrich Christian Delius am 16. März 2012 bei einer Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse. (Foto: © Wikimedia Commons: Amrei-Marie – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius ist am 30. Mai mit 79 Jahren in Berlin gestorben. Aus diesem Anlass noch einmal die Wiedergabe eines kurzen Gesprächs, das ich auf der Frankfurter Buchmesse 1997 mit ihm führen durfte:

Die Werkliste des Friedrich Christian Delius (54) ist lang. Das Spektrum reicht von herzhaften Attacken auf Konzerne („Unsere Siemens-Welt“, 1972) bis zum Romanzyklus über den „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. In „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) schilderte Delius die Gefühle eines kleinen Jungen zur Zeit der Fußball-WM 1954. Sein Roman „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (Rowohlt-Verlag) spielt 1966, im Vorfeld der 68er Studenten-Rebellion. Ein Gespräch mit F. C. Delius auf der Frankfurter Buchmesse:

Warum die Revolte der 60er Jahre als Romanthema? Aus Nostalgie?

F. C. Delius: Ich bin im Grunde kein „68er“, sondern ein „66er“. 1966 fing die enorme geistige und kulturelle Bewegung an und erweiterte sich dann aufs Gebiet der Politik. Demonstrationen hatten noch einen ganz schlichten moralischen Impuls. Und eine dieser allerersten Demonstrationen – im Februar 1966 vor dem Amerikahaus in Berlin – versuche ich zu beschreiben. 1968 gab es bereits eine Verengung. Da waren viele schon überzeugt bis zur Selbstüberschätzung und sprachen von Revolution. Der Aufbruch ist eine Sache von 1966. Das war noch frei von Dogmatismus und Ideologie, es war die Erweiterung des Horizonts. Der erste Blick nach Vietnam…

Ihre Trilogie zum „Deutschen Herbst“ und das „Weltmeister“-Buch liegen vor. Jetzt also 1966. Haben Sie eine komplette Roman-Chronik der Republik im Sinn?

Delius: Den Ehrgeiz habe ich nicht. All diese Bücher haben sich aus ganz persönlichen Fragestellungen entwickelt. Mit den Romanen zum „Deutschen Herbst“ wollte ich meine Lähmung und meine Hilflosigkeit erkunden. Das „Weltmeister“-Buch hat mit meiner Kindheit zu tun.

Sie verknüpfen in Ihrem neuen Roman die politischen Vorgänge mit den sexuellen Problemen Ihrer Hauptfigur. Dieser Martin ist überaus schüchtern und kommt nicht recht an die Mädchen heran.

Delius: Es geht mir nicht nur in politischer Hinsicht um das Öffnen des Blicks, das Öffnen der Person. Ich finde, daß immer ein Zusammenhang besteht zwischen dem Sexualleben und den politischen Gefühlen und Gedanken.

Im „Literarischen Quartett“ ist das Buch vor ein paar Tagen recht gut weggekommen. Aber die „Frankfurter Allgemeine“ hat Ihnen vorgehalten, Sie hätten „Ich war dabei“-Literatur geschrieben.

Delius: Das finde ich eher amüsant. Meine Figur ist ja gerade kein Held, sondern ein relativ schwacher Mensch mit einigen Macken. Er entspricht nicht dem Klischee, das sich von den 68ern gebildet hat. Damals waren viele arme Würstchen dabei, die trotzdem was bewegt haben und was Richtiges gedacht haben.

Für wen haben Sie das Buch in erster Linie geschrieben: Für die Apo-Generation – oder eher für jüngere Leute?

Delius: Ich denke beim Schreiben zunächst mal nicht ans Publikum. Ich muß erst gucken, daß das, was ich mir vorgenommen habe, auf die Reihe kommt. Erst dann kann es auf andere wirken. Aber gerade jüngere Leute finden das Buch glaubwürdig, weil ich nicht das Heldenepos eines fertigen Jung-Revoluzzers geschrieben habe, sondern von einem erzähle, der skeptisch beobachtet, der Angst hat und Scham kennt.

Was sagen Sie zu den landläufigen Vorwürfen, die deutsche Gegenwartsliteratur sei nicht welthaltig genug?

Delius: Das ewige Gejammer ist dumm. Die deutsche Literatur ist stärker, als man allgemein denkt.




Am atomaren Abgrund: Buch über die Kubakrise 1962

Es waren wahrlich dramatische Tage – damals, im Oktober 1962. Wir („My Generation“) waren damals Grundschulkinder und haben kaum etwas von der Kubakrise mitbekommen. Die Medienwelt war noch längst nicht so unabweislich allgegenwärtig.

Man erschrickt noch 60 Jahre im Nachhinein zutiefst, wenn man sich das alles heute vergegenwärtigt; erst recht in Zeiten des europäischen Krieges in der Ukraine. Es ist, als wären wir wieder näher an „1962″ herangerückt.

Schon damals stand die Welt am atomaren Abgrund. Für die Vereinigten Staaten galt als Leitlinie noch nicht die später abgestufte „flexible response“, sondern das Prinzip der „massive retaliation“, also gleich der Griff ins ganze apokalyptische Arsenal.

Bloße Chronistenpflicht?

Rainer Pommerin (Jahrgang 1943), pensionierter Oberst und Geschichtsprofessor, schlägt nicht den großen Bogen einer etwaigen „Neudeutung“ der Kubakrise, sondern erzählt das Geschehen getreulich Punkt für Punkt und Tag für Tag nach, übrigens auch mit jenem Fokus auf Waffentechnik und Militärstrategie, wie er neuerdings wieder in den Vordergrund getreten ist. Der Autor berichtet, als sei’s seine reine Chronistenpflicht, so dass man sich gelegentlich fragt, welchen Standpunkt er eigentlich einnimmt. Pure Objektivität gibt es ja nun mal nicht, sie kann allenfalls ein Wunsch- und Näherungswert sein.

Die Kubakrise wird eingebettet in die Vorgeschichte – von der nahöstlichen Suezkrise sowie den Aufständen in Ungarn und Polen (alles 1956) über den „Sputnik-Schock“ am 4. Oktober 1957 (als die Sowjetunion einen weltraumtechnischen Vorsprung vor den USA erlangte) bis hin zum Berliner Mauerbau am 13. August 1961. Eine hochexplosive Gemengelage zwischen den Machtblöcken hatte sich aufgebaut und angestaut.

Als der Kalte Krieg alles prägte

Mit Fidel Castros kubanischer Revolution hatten die USA den von ihnen überaus gefürchteten Kommunismus seit 1959 sozusagen vor der Haustür. Hardliner argwöhnten, dass die Sowjets es via Kuba auf den gesamten amerikanischen Kontinent abgesehen hatten. Groß war das Entsetzen in Washington, als ein U-2-Aufklärungsflug am 14. Oktober 1962 ergab, dass die Russen insgeheim Abschussbasen und sonstige atomare Logistik auf Kuba installiert hatten – erstmals in Raketen-Reichweite zu US-Millionenstädten.

Bilder von damaligen Treffen der US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower bzw. John F. Kennedy mit dem KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow haben nahezu mythischen Status. Derlei persönliche Konfrontationen sind denn doch (in grotesk verzerrter Form) bis in manche Kinderzimmer vorgedrungen. Ich erinnere mich, wie wir Chruschtschows legendäre UNO-Wutrede (die mit seinem angeblich aufs Pult geschlagenen Schuh) mit Stoffbären nachgespielt haben. Kein Zufall, dass damals auch die James Bond-Filme aufkamen. Der Kalte Krieg prägten damals alles. Und jetzt? Das Vergangene ist offenbar nicht völlig vorbei. Es steht freilich unter anderen Vorzeichen.

Die „Falken“ hatten anderes im Sinn

Doch Überlegungen übergreifender Art stellt Reiner Pommerin überhaupt nicht an. Sein Buch liest sich so, als hätte es ebenso gut irgendwann in den letzten 20 oder 30 Jahren geschrieben worden sein können und als sollte es zum 60jährigen Gedenken nur noch einmal den Gang der Dinge rekapitulieren. Dennoch kann man daraus ein paar Erkenntnisse gewinnen – zum Beispiel die, dass beide Weltmächte (China war noch Nebendarsteller auf der globalen Bühne) sich gleichermaßen in die Krise verstrickt haben. Schließlich hatten die USA, bevor die Sowjetunion Atomwaffen nach Kuba brachte, bereits eine ähnliche Präsenz mit Jupiter-Raketen in der Türkei, die 1963 aufgrund einer Geheimvereinbarung zurückgezogen wurden.

Vielleicht hat es beim schließlich doch noch einigermaßen rationalen Umgang mit der Krise 1962 eine Rolle gespielt, dass Chruschtschow und Kennedy aus eigenem Erleben wussten, was Krieg bedeutete und sie sich offenbar vorstellen konnten, wie verheerend sich eine „nukleare Option“ auswirken würde – allen Drohgebärden zum Trotz. Sie reizten das Risiko bis zum Letzten aus, doch fanden sie gerade noch rechtzeitig einen Ausweg. Die „Falken“ beider Seiten hatten ganz anderes im Sinn. Vielleicht ließe sich heute etwas daraus lernen.

Ein verseuchter Neoprenanzug

Das Buch enthält einige geradezu bizarre Fakten, so etwa die US-Pläne, Fidel Castro und „Che“ Guevara aus dem Weg zu räumen. So sollte ein Unterhändler Castro als Geschenk einen Neoprenanzug (mit gefährlichem Hautpilz präpariert) und einen Schnorchel (mit Tuberkel-Bazillen) überreichen. Der Sendbote verweigerte jedoch die Mitnahme der „Gaben“, aus nachvollziehbaren Erwägungen.

Beinahe hätte es sich fatal und final ausgewirkt, dass im Verlauf der Kubakrise einmal  unterschiedliche Zeitzonen nicht berücksichtigt wurden. Zudem verzögerte sich der Austausch diplomatischer Noten durch umständliche Ver- und Entschlüsselung. Dabei war auf dem Höhepunkt der Krise doch allergrößte Eile geboten.

Kennedy durfte erst einmal ausschlafen

Kaum zu fassen auch, dass John F. Kennedy für die Mitteilung zum Berliner Mauerbau nur kurz einen Segeltörn unterbrach und dann sogleich wieder losschipperte. Von wegen „Ich bin ein Berliner“… Auch wurde ihm die Entdeckung der russischen Atombasen auf Kuba am 14. Oktober 1962 nicht sofort mitgeteilt. Die Krisengremien ließen ihn vielmehr erst einmal ausschlafen. Ergänzend hierzu erfährt man auch noch einmal, dass Kennedy keineswegs so viril war, wie er sich im siegreichen Wahlkampf gegen Nixon gegeben hatte. Der Mann war chronisch krank und benötigte ständig Schmerzmittel.

Nach dem Ende der Kubakrise wurden 1963 immerhin drei bedeutsame Schritte im Sinne einer besseren Beherrschbarkeit solcher Großkonflikte unternommen: Ab 6. Juli wurden endlich Geheimcodes für den Abschuss von Atomwaffen eingerichtet, die bis dahin bloß durch mechanische Schlösser „gesichert“ waren. Am 20. August wurde eine Fernschreiber-Verbindung zwischen Weißem Haus und Kreml als „heißer Draht“ installiert. Am 10. Oktober 1963 wurde ein Abkommen über das Verbot von Kernwaffenversuchen geschlossen.

Nachspann: Am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy in Dallas erschossen. Am 14. Oktober 1964 wurde Nikita Chruschtschow entmachtet. Die Geschichte ging mit anderen Protagonisten weiter – und wurde auf Dauer nicht friedlicher.

Reiner Pommerin: „Die Kubakrise 1962″. Reclam, 160 Seiten. Paperback mit zahlreichen Schwarzweiß-Abbildungen. 14,95 Euro.

 




Abbilder der Verhältnisse – im „Atlas des Unsichtbaren“

Sinnreiche Visualisierung komplexer Sachverhalte ist eine Kunst, auf die sich nicht viele verstehen. Im Netz geht neuerdings der Auftritt „Katapult“ steil, der auch verwickelte Dinge auf möglichst simple optische Umsetzungen „herunterbricht“ – mit wechselndem Geschick: Manches, aber längst nicht alles gelingt. In den „Atlas des Unsichtbaren“ sollte man sich hingegen einigermaßen vertiefen. „Auf einen Blick“ erlangt man hier nicht viel.

Die Autoren James Cheshire und Oliver Uberti versprechen laut deutschem Untertitel recht vollmundig „Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern“. Die Kapitelüberschriften („Woher wir kommen“, „Wer wir sind“, „Wie es uns geht“, „Was uns erwartet“) erweisen sich als wenig trennscharf und taugen nicht zur Sortierung. Also heran an die vielen Einzelheiten, die eben nicht in solche Schubladen passen.

Nach und nach zeigt sich, dass Kartographie und graphische Darstellungen weitaus mehr vermögen, als sich der Diercke-Schulatlas träumen ließ. Manches lässt sich veranschaulichen, was vorher undurchdringlich schien, verblüffende Ein- und Durchblicke werden möglich. Auch Statistiken und Tabellen sind kein leerer Wahn, wenn sie mit Verstand eingesetzt werden.

Da zeigt eine Schautafel ganz schlüssig, ob und wie sich die Gene über 14 Generationen hinweg (etwa seit 1560) noch vererben. Neue Klarheit verschaffen Karten zu den Strömen des Sklavenhandels oder über Walfänge seit 1761. Der Aufschlüsse sind viele: Migrations- und Pendlerrouten, Mobilfunkdaten oder eine Karte zur Lichtstärke in Städten und Regionen verdeutlichen soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Sie können als Ergänzung zu wortreich differenzierten Betrachtungen sehr brauchbar sein.

Häufig wird der globale Maßstab angelegt, bevorzugt aus angloamerikanischer Perspektive: In welchen US-Staaten kommt Lynchjustiz besonders häufig vor? Inwiefern lassen Gebäudedaten auf künftige Gentrifizierung schließen, so dass Prognosen dazu einen höheren Wahrscheinlichkeitsgrad haben? Wo leisten Frauen im Verhältnis zu Männern die meiste unbezahlte Arbeit (Indien) und wo die wenigste, aber immer noch deutlich über 50 Prozent (Schweden)? In welchen Ländern erleiden Frauen die meiste physische Gewalt?

Durch graphische Umsetzung werden auch die Muster der US-Bombardierungen im Vietnamkrieg gleichsam „transparenter“. Übrigens hat Ex-Präsident Bill Clinton die zugrunde liegenden Daten freigegeben. Freilich wirken solche fürchterlichen Sachverhalte in atlasgerechter Aufbereitung leicht zu harmlos. Auf diese Weise können eben nur bestimmte Dimensionen des Geschehens vermittelt werden. Dessen eingedenk, blättern wir weiter.

Das letzte Konvolut („Was uns erwartet“) handelt – man durfte gewiss damit rechnen – überwiegend vom bedrohlichen Klimawandel, so gibt es etwa Karten über weltweite Hitzewellen und Stürme oder zur Eis- und Gletscherschmelze. Auch erfährt man zum Beispiel, auf welchen Flugrouten künftig erheblich mehr Turbulenzen bevorstehen dürften. Hilfreich jene Sonnenlicht-Karte, die quasi jeden Quadratmeter eines bestimmten Gebiets im Hinblick auf Sonneneinstrahlung (Intensität, Dauer, zeitlicher Verlauf) definiert, so dass im Winter das Streusalz praktisch punktgenau verteilt werden kann und nichts verschwendet wird. Viele Flächen tauen eben auch rechtzeitig ohne Salz auf.

Ein Buch zum gründlichen Durchsehen, lehrreich, hie und da von echtem Nutzwert, dies aber von begrenzter Dauer. Denn solche Datenbestände und folglich die Karten altern leider ziemlich schnell.

James Cheshire / Oliver Uberti: „Atlas des Unsichtbaren. Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern.“ Aus dem Englischen von Marlene Fleißig. Hanser Verlag, 216 Seiten (Format 20 x 25,5 cm), 26 Euro.




Ein Beitrag, der jetzt gestrichen werden muss

Seit den monströsen Kriegsverbrechen von Buschta (oder Buchta oder Butscha – sucht euch die Schreibweise aus, es ist zweitrangig) „gehen“ Texte wie der folgende, eilig gestrichene eigentlich nicht mehr, es verbietet sich jede auch noch so eingehegte Launigkeit. Da wir aber andererseits keine (Selbst)-Zensur ausüben wollen, bleiben die Ende März verfassten Zeilen noch notdürftig erkennbar.

Überhaupt vergeht einem schon seit einiger Zeit ganz gründlich die Lust auf kulturell oder feuilletonistisch angehauchte Betrachtungen. Obwohl gerade die Künste, sofern sie den Namen verdienen, ein dauerhaftes Gegengewicht sein und bleiben könnten… Ars longa, vita brevis.

Ceterum censeo: Jetzt endlich selbst das russische Gas abdrehen – und sei es „nur“ als starkes Zeichen ohne entscheidende Wirkung!

Was waren das noch für selige Zeiten, als „wir“ lediglich eine Nation von 40, 60 oder 80 Millionen Fußballtrainern gewesen sind. Gewiss, Länder- und Vereinsmannschaften stellen wir auch heute noch linkshändig auf, notfalls für Frankreich, England und Spanien gleich mit. Aber nur noch nebenbei. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.

Inzwischen haben wir nämlich anderweitige Karrieren draufgesattelt. Zunächst bekanntlich als Top-Virologen, die sich ganz geläufig über komplizierteste Fachfragen ausgetauscht haben. Mit Corona und Konsorten kennt sich doch heute jeder Depp aus. Nun gut: Zuweilen ist da auch ein bisschen Besserwisserei im Spiel. Das bleibt halt nicht aus, wenn man viele Semester eines Fachstudiums und praktischer Forschung kurzerhand überspringt. Dann muss man eben beherzt behaupten.

Neuerdings haben sich viele, die das vorher nicht von sich selbst erwartet hätten, dem verschrieben, was hirnparalysierte Vorväter „Kriegskunst“ zu nennen beliebten. Zeitenwende eben. Oder richtiger: Zeitenbruch. Als Generalissimus von eigenen Gnaden widmet sich nun so mancher Mann überschlägigen ballistischen Berechnungen, intelligenter Nachschub-Logistik, effektiven Abwehrsystemen oder der schlagkräftigen Koordination verschiedenster Waffengattungen bis hin zu… Nein, wir wollen es nicht auch noch hier leichtfertig herbeireden. Frauen sind auf diesem Felde jedenfalls hoffnungslos in der Minderheit. ER wird es ihnen beizeiten zu erklären versuchen – wie einst das Abseits.

„Blamiert“ sich Russland militärisch – oder sollte man es nach wie vor „nicht unterschätzen“? Hockt Putin schon im Bunker? Dreht er uns den Gashahn zu? Gibt er sich mit dem Donbass zufrieden? Was machen die Chinesen? Derlei gravitätische Fragen werden Tag für Tag in mancherlei Medien erwogen. Im Gefolge solcher Gedankenspiele haben sich einige Leute außerdem flugs zu Flüchtlings-Kommissaren und Energie-Experten mit ungeahnt fossilen Präferenzen promoviert. Zwei bis drei Talkshows gucken – und schon kann man wieder mitpalavern. Wo liegt denn nur wieder die Generalstabskarte mit den vielen Pfeilsymbolen?

 




Das Ende der Unendlichkeit: Erinnerungen an ein Buch, das die Welt verändert hat

Im Frühsommer vor 50 Jahren lag es in den Buchhandlungen: Ein blauer Umschlag, darauf lugt der Planet Erde zwischen den beiden Hälften eines aufgebrochenen Eis hervor. „Die Grenzen des Wachstums“ lautete der Titel; die Unterzeile verhieß epochale Erkenntnisse: Ein Bericht „zur Lage der Menschheit“! Kaum einer kannte den „Club of Rome“, noch unbekannter war der als Autor genannte, damals 30jährige Dennis Meadows.

Und doch hat dieses Buch Geschichte gemacht. Zwischen März und Juni 1972 erschien es in zwölf Sprachen mit rund 12 Millionen Exemplaren. Eine „Bombe im Taschenformat“ nannte die „Zeit“ die knapp 200 Seiten, vollgepackt mit hochkomplexen Berechnungen und Tabellen.

Seine Aussage: Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist unser Lebensmodell bis zum Jahr 2100 am Ende. Die Modellrechnung, die der Amerikaner Meadows und sein Team vorlegten, ging von fünf Tendenzen mit globaler Wirkung aus, setzte sie in Bezug zueinander und untersuchte die gegenseitigen Rückkoppelungen:

„Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit führt dies zu einem ziemlich raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität.“

Das Fazit der Studie, die das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit Hilfe eines neuen Großcomputers im Auftrag des „Club of Rome“ erstellte, stieß auf kontroverse Reaktionen. „Unverantwortlicher Unfug“ hieß es im amerikanischen Magazin „Newsweek“. Der „Spiegel“ ordnete sie in die damals schon verbreiteten apokalyptischen Ängste ein und kritisierte eine „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“. Mit entsprechender Häme wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder festgestellt, wie falsch die berechneten Zahlen für die Erschöpfung bestimmter Rohstoffe gewesen seien. Der „Club of Rome“ habe – so monierten Kritiker – auch die Rolle neuer Technologien unterschätzt, die den negativen Folgen des Wachstums entgegenwirken könnten. Es gab aber auch berechtigte Kritik, vor allem an der Vernachlässigung der sozialen und gesellschaftlichen Folgen eines eingeschränkten oder „Nullwachstums“.

Das Modell der Lilie im Gartenteich

Auch wenn sich kritische Einwände in einzelnen Fragen als zutreffend herausstellten: Das Grundproblem der „Grenzen des Wachstums“ bleibt bestehen. Die Gefahr exponentiellen Wachstums ist in Meadows Modell des Lilienteichs zutreffend beschrieben: Eine Lilie in einem Gartenteich wächst jeden Tag auf die doppelte Größe. Ihr Wachstum erscheint nicht besorgniserregend, denn auch wenn sie erst die Hälfte des Teichs bedeckt, scheint es noch genug Platz zu geben. Niemand denkt daran, sie zurückzuschneiden. Aber schon am nächsten Tag wächst die Lilie wieder um das Doppelte ihrer Größe, bedeckt den ganzen Teich und erstickt jedes Leben darin.

Die grundsätzliche Feststellung der Endlichkeit aller Ressourcen wird zum Teil bis heute nicht verstanden oder verdrängt. Die Unausweichlichkeit dieser Grenzen folgt aus physikalischen Gesetzen. Der Sozialethiker Wilhelm Dreier und der Physiker Reiner Kümmel haben damals in ihrem Forschungsschwerpunkt an der Universität Würzburg „Zur Zukunft der Menschheit“ die Thesen des „Club of Rome“ mit als erste in Deutschland aufgenommen und in ihrer Studie „Zukunft durch kontrolliertes Wachstum“ 1977 durch den Blick auf soziale und Bildungsprozesse ergänzt. Auch diese Ergebnisse wurden nicht verstanden oder – vor allem in konservativen und traditionell christlichen Kreisen – abgelehnt. Der vor 100 Jahren geborene CDU-Politiker Herbert Gruhl („Ein Planet wird geplündert“, 1975) ist ein Beispiel dafür, wie wenig Resonanz das neue ökologische Bewusstsein in seiner Partei fand, die er 1978 verließ.

Aktuelle Mahnung zu globalen Problemen

„Die Grenzen des Wachstums“ waren nicht, wie ihnen unterstellt wurde, eine Vorhersage apokalyptischen Schreckens. Sie waren ein Zustandsbericht zu einer Situation, die als veränderbar und beherrschbar eingeschätzt wurde – allerdings nur unter klar definierten Voraussetzungen: Dazu zählen eine radikale Energiewende weg von fossilen Brennstoffen, ein nachhaltige Landwirtschaft, der Abbau von Ungleichheit durch faire globale Steuersysteme, um zu vermeiden, dass die Reichsten der Erde mehr als 40 Prozent des Weltvermögens besitzen. Als nötig erachtet werden ferner enorme Investitionen in Bildung, Geschlechtergleichheit, Gesundheit und Familienplanung und neue Wachstumsmodelle für ärmere Länder.

Damals beflügelte das Buch die junge ökologische Bewegung in der Bundesrepublik; heute ist es nach wie vor eine aktuelle Mahnung, denn die globalen Probleme sind akuter, als wir es uns 1972 vorstellen konnten. Für mich persönlich waren „Die Grenzen des Wachstums“ ein wirklicher Augenöffner. Mein ökologisches Interesse war bereits durch die Lektüre von Rachel Carsons „Der stumme Frühling“ geweckt worden, hatte sich aber eher auf den klassischen Natur- und Tierschutz bezogen. Jetzt erweiterte es sich zu einem umfassenden ökologisch geprägten Nachdenken über die Entwicklung unserer Welt, die theologische, philosophische und politische Dimensionen mit einschloss und zum gesellschaftlichen Engagement für einen grundlegenden Wandel führte.

 

 




„Wehe, wenn der Russe kommt…“ – So haben wir damals gelacht und nicht gedacht

Sichtbares Bekenntnis beim Gang durch den Dortmunder Rombergpark, Ende Februar 2022. (Foto: Bernd Berke)

„Wann und wie mag denn wohl der Russe kommen?“ Wenn ich diese triefend ironische, hier noch einmal mitsamt Text verlinkte Überschrift vom 24. Juni 1982 über einem meiner Artikel wieder lese, läuft es mir heißkalt den Rücken herunter, so überaus falsch klingt sie jetzt.

Die Schlagzeile stand jedenfalls über einer TV-Vorschau auf einen Film des Dortmunders Michael Braun, der damals die Bundeswehr aufs Korn genommen hat. Flott und flockig, wie man wohl zu sagen pflegte. Wenn ich mich recht entsinne, hat die Süddeutsche Zeitung den Beitrag seinerzeit aus der Westfälischen Rundschau übernommen.

Ich war mit einer solchen Gesinnung beileibe nicht allein. Es war weithin Konsens. Dabei gab es doch noch die Sowjetunion, über die seinerzeit der Hardliner Leonid Breschnew (gestorben im November 1982) gebot, der am 25. Dezember 1979 seine Armee in Afghanistan hatte einmarschieren lassen. Doch das Böse, so haben viele – spätestens seit dem Vietnamkrieg – ganz selbstverständlich gemeint, hause vor allem oder gar ausschließlich in den Vereinigten Staaten und bei ihren Vasallen; erst recht, seit Ronald Reagan ab 1981 US-Präsident war und hitzig über den NATO-Doppelbeschluss diskutiert wurde.

Waren es nur Jugendsünden?

Rund vierzig Jahre ist das her. „Jugendsünden“ also? Ja, so haben wir damals und noch lange, lange Zeit danach uns lustig gemacht über die vermeintlich unsinnige Vorstellung, dass „der Russe“ kommen werde. Wir, die wir uns für links und fortschrittlich gehalten haben. Sehr viele sehr kluge Leute dabei und trotzdem gar nicht gut beraten, wenn man es von heute aus betrachtet. Aber hätten wir denn auf die Kommunistenfresser hören sollen? Auf einen CDU-Betonkopf wie Alfred Dregger etwa, an dessen von Buhrufen übertönten Dortmunder Marktauftritt aus den späten 70er Jahren ich mich noch erinnere, weil er immer „Kommenisten“ sagte. Wie haben wir uns beömmelt!

Das Gefasel vom „Ende der Geschichte“

Spätestens 1989 und die Folgen (das Gefasel vom „Ende der Geschichte“) haben uns vollends eingelullt. Wenn man nur hellhöriger gewesen wäre! Wenigstens in den letzten Jahren, wenigstens 2014, als Wladimir Putin kurzerhand die ukrainische Halbinsel Krim annektieren ließ. Doch aus schierer Gewohnheit, Denkfaulheit und Bequemlichkeit haben wir noch jede Lüge Putins geglaubt, haben sie glauben wollen. Nun überschreiten seine Truppen nicht nur widerrechtlich Staatsgrenzen, sondern er selbst lässt auch Grenzlinien des bisher Vorstellbaren hinter sich. Über 70 Jahre Frieden in weiten Teilen, ja fast (!) in ganz Europa haben uns in Sicherheit gewiegt. Nun droht uns einer mit Atomwaffen und lässt Atomkraftwerke attackieren. Auch wird wild spekuliert, ob seine Armee Polen, das Baltikum oder Berlin angreifen werde. Welch ein Wahnsinn! Seit der Kubakrise 1962 ist die Weltlage nicht mehr so brandgefährlich gewesen. Jetzt aber direkt vor unserer Haustür. Was freilich angesichts atomarer Bedrohung beinahe zweitrangig ist.

Ausläufer der alten „Denke“ waren noch bis vor ein, zwei Wochen virulent oder vielmehr: einschläfernd wirksam; bis zum ruchlosen Überfall der russischen Militär-Maschinerie auf die Ukraine am historischen 24. Februar 2022. Seitdem hat sich so furchtbar viel getan und geändert, hat sich manches, was oben zu liegen schien, zuunterst gekehrt. Nun beugen sich auch Pazifistinnen und Pazifisten besorgt über Europa-Karten, sprechen auf einmal geläufig von wehrhafter Demokratie und stellen strategische Erwägungen an, die bis vor Kurzem Generälen vorbehalten waren.

Wertschätzung für Wehrhaftigkeit

Die ziemlich marode Bundeswehr, wenn auch vielfach reformbedürftg (was derzeit eher organisatorisch als politisch verstanden wird), ja das Militärische im Westen überhaupt, erfährt eine vordem ungeahnte Wertschätzung. Wehrhaftigkeit ist das Wort der Stunde, vielleicht des Jahrzehnts. Wenn das mal nicht ins andere Extrem umschlägt! Wer hätte unter einer „Ampel“-Regierung erwartet, dass man in dieser „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) so schnell derart viele Gewissheiten über Bord wirft?

Und wir dachten, wir wären dabei, in Sachen Corona-Pandemie (die bereits als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg galt) schon das Schlimmste hinter uns zu lassen. Und jetzt? Redet kaum noch jemand vom Virus.




Goethe-Institut – auf Wellenlänge der neuen Außenministerin

Nein, die neue Außenministerin Annalena Baerbock hatte noch keine Zeit, sich eingehend um Belange des Goethe-Instituts zu kümmern.

Prof. Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts, beim Statement zur Jahrespressekonferenz. (Screenshot aus der Zoom-Konferenz)

Antrittsreisen nach Paris, Brüssel und Warschau standen für Baerbock ebenso an wie ein G7-Gipfel. Wir haben davon lesen können. „Große Politik“ also. Doch beim Goethe-Institut ist man zuversichtlich, was den künftigen Kurs des Auswärtigen Amtes angeht, denn im Koalitionsvertrag stehen einige Sätze, die auf eine Stärkung der auswärtigen Kulturpolitik und damit des Instituts hinauslaufen sollten.

Institutspräsidentin Prof. Carola Lentz betonte ihre Vorfreude auf die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung. Solche Schönwetter-Freundlichkeit durfte man allerdings erwarten, denn das Institut muss ja gut mit dem Außenamt auskommen. Das scheint auch überhaupt nicht schwerzufallen. Wahrscheinlich werde im Januar Gelegenheit zu ausführlichen Gesprächen sein, hieß es.

Weniger Präsenz, mehr Digitalität

Es war eine der aktuellen Kernaussagen bei der heutigen Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts, die hybrid abgehalten wurde, also mit (geringer) Präsenz in Berlin und hauptsächlich online. Ähnliches trifft auch im zweiten „Corona-Jahr“ für die globalen Aktivitäten des Instituts zu, sprich: Viele Veranstaltungen konnten nicht physisch stattfinden. Stattdessen hat sich die Zahl der virtuellen Zugriffe auf die Angebote (wie z. B. deutsche Sprachkurse) spürbar gesteigert. So sieht’s gerade draußen in der weiten Welt aus: 86 Goethe-Institute sind komplett geöffnet, 32 sind teilweise und 27 ganz geschlossen. Schon morgen kann es wieder anders sein.

Zahl der Problemländer hat zugenommen

Mancherorts finden die Goethe-Institute ausgesprochen schwierige Arbeitsbedingungen vor, Carola Lentz sprach von zunehmend „illiberalen Kontexten“. Klartext: Man hat es mit einigen Autokraten oder Diktaturen zu tun, zum Beispiel (aber längst nicht nur) in Belarus, wo das deutsche Institut derzeit gar keine Kulturarbeit mehr leisten darf. In anderen problematischen Ländern stellt man die „Goethe“-Räume nach Möglichkeit für nicht öffentliche Veranstaltungen zur Verfügung. Manches Treffen muss dann recht diskret vonstatten gehen. Digitalität könnte theoretisch weitere Verbreitung sichern, erleichtert aber leider auch die Überwachungs-Möglichkeiten durch gewisse Staaten. Ansonsten: tun, was man kann, um Partnerorganisationen und Einzelpersonen in den jeweiligen Ländern zu unterstützen und zu schützen.

Stichworte im Geiste des „grünen“ Programms 

Im gerafften Geschäftsbericht des Generalsekretärs Johannes Ebert fielen praktisch alle gängigen Stichworte, die sowohl Annalena Baerbock (Grüne) als auch die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth (ebenfalls Grüne) auf gleicher Wellenlänge ansprechen dürften: Klima, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Feminismus (bzw. Feminismen), Diversität (Vielfalt aller Art), Respekt, Teilhabe, Bereicherung durch Einwanderung. Es scheint da Schnittmengen mit grüner Programmatik zu geben.

Unter dem Leitmotto „Mein Weg nach Deutschland“ wolle man insbesondere die Einwanderung qualifizierter Fachkräfte begleiten – vor allem durch Sprachunterricht, aber auch durch frühzeitig einsetzende Integrationskurse. So betreue man beispielsweise ein Projekt, mit dem vietnamesischen Pflegekräften auch deutsche Fachbegriffe und Gepflogenheiten des Metiers vermittelt werden. Hintergrund: Schon jetzt fehlten – nicht nur, aber besonders im Pflegebereich – in Deutschland insgesamt rund 400.000 Fachkräfte. Für die nächsten 40 (!) Jahre gebe es Berechnungen, nach denen jährlich 260.000 Zuwanderungen nötig sein werden. Mal eben den Taschenrechner bemüht: 40 mal 260.000 – macht 10,4 Millionen.

Apropos Inland: In fünf Städten sollen „Anlaufstellen für die internationale kulturelle Bildung in Deutschland“ eingerichtet werden. Es handelt sich um Bonn, Dresden, Hamburg, Mannheim und Schwäbisch Hall. Ist es kleinlich zu fragen, warum z. B. das gesamte Ruhrgebiet mit seinen rund 5 Millionen Einwohnern aus allen möglichen Herkunftsländern mal wieder nicht vertreten ist?

Außenperspektiven auf Deutschland

Es soll nicht nur Kultur- und Sprachexport betrieben werden, sondern man will umgekehrt auch von Menschen aus anderen Weltteilen lernen. Deswegen werden vor allem Künstlerinnen und Künstler sowie Intellektuelle aus vielen Ländern eingeladen; nicht zuletzt, um andere, womöglich aufschlussreiche Außenperspektiven auf Deutschland zu gewinnen und somit die hiesige Diskussion zu „beflügeln“. Diversität habe man sich auch intern als Institut vorgenommen, unterstreicht Prof. Carola Lentz. So sei es beispielsweise sehr wahrscheinlich, dass demnächst Mitarbeiterinnen mit afrikanischer Lebensgeschichte Goethe-Institute in Asien leiten. Sagen wir mal so: Zu früh wäre man damit nicht dran. Trotzdem klingt es noch ungewohnt.

Unterdessen muten manche Projekte wie die vielzitierten Tropfen auf heiße Steine an, so unter anderem ein schulisches Unterfangen, das sich an junge Russen wendet und die in Putins Reich vielfach gängigen Formen der Maskulinität zur Debatte stellen soll. Nun ja, besser kleine als gar keine Schritte.

Übrigens: Johannes Eberts Einlassung, das Goethe-Institut sei eine „NGO“ (Nicht-Regierungs-Organisation), trifft es nicht so ganz. Schließlich ist das Haus abhängig von Bundesmitteln, speziell via Außenministerium. Ein bisschen Regierung ist also doch „drin“. Was ja nicht per se verwerflich sein muss.

 

 




Gar nichts ist gewiss – die rätselhaften „Weltgeist“-Bilder des René Schoemakers

Selbstporträt des Künstlers als Bezwinger des rosaroten Panthers – René Schoemakers‘ Gemälde „Der böhse Paul“, Acryl auf Leinwand 180 x 120 cm, 2019/2020 (Bild: © René Schoemakers)

Da schau her: Dieses rosarote Stofftier ist doch Paulchen Panther! Und der Mann, der ihm mit einem (total verpixelten) Spielzeug-Schwert den Kopf abgeschlagen hat, ist offenkundig der Künstler und hat dieses stellenweise bluttriefende Bild gemalt. Sein gar nicht so triumphales Ganzkörper-Selbstbildnis changiert zwischen Grau und Pink. Was sollen wir davon halten?

Im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte bleibt man mit diesem und vielen anderen rätselhaften Bildern zunächst ohne Hilfestellung. Die Arbeiten haben Titel, die aber nicht vorgezeigt werden. Also wird man sogleich aufs genaue Hinschauen verwiesen. Aber das allein nützt nicht viel. Denn man muss zusätzlich parat haben, dass die rechtsradikale NSU-Mörderbande ausgerechnet die Panther-Figur in einem Bekennervideo verwendet hat. Doch selbst danach ist man nur bedingt schlauer, zumal auch noch ein Frauenakt zum Panther-Ensemble gehört. Etwas mehr Aufklärung halten Katalog und Internet-Auftritt bereit.

Irritationen und sinnliche Schauwerte

Der in Kleve geborene und in Kiel lebende Künstler René Schoemakers zieht in seine stupend fotorealistisch, geradezu altmeisterlich gemalten Bilder (2011 hat er den Cranach-Preis erhalten) gar viele Sinn-Ebenen ein, die sich auch stilistisch verzweigen. Irritierend sind die zahllosen Brüche und Widersprüche, die Ironisierungen, Verschiebungen und Verfremdungen, die Variationen und Überlagerungen. Hier ist nichts gewiss. Sobald man den Sinn eines Bildes halbwegs zu erhaschen glaubt, scheint der Künstler schon wieder ein paar Ecken und Hirnwindungen weiter zu sein. Es ist kompliziert. Doch die Ausstellung lockt auch mit sinnlichen Schauwerten.

Schoemakers hat nicht nur Kunst, sondern auch Philosophie studiert. Er denkt sich mancherlei Vertracktes aus. Doch wenn er vor der Leinwand steht, sagt er, sei er völlig spontan. Dann gehe es nur noch um die Wirkung des Bildes – und sonst um gar nichts mehr. Allerdings bereitet er jedes Werk penibel vor, oftmals mit dreidimensionalen Modellaufbauten als Vorlagen.

Der Schrecken kommt harmlos und clownesk daher

So kommt es beispielsweise, dass wir – als sei’s eine Dokumentation vom Tatort – die blutigen Spuren des rechtsradikalen Münchner Oktoberfest-Attentats von 1980 sehen, freilich wie mit Spielzeug bühnenhaft nachgestellt. Eine bestürzende Mischung aus vermeintlicher Harmlosigkeit, Nüchternheit und namenlosem Schrecken. Hier kann überall Gewaltsamkeit lauern, zuweilen auch seltsam verquickt mit Clownerie. Totenköpfe können hier aus Lego-Bausteinen bestehen oder als Papier-Faltungen herumliegen. Anspielungen auf Terrorismus werden auch schon mal mit dem Playboyhäschen-Logo unterlegt.

Rund 70 Arbeiten auf etwa 170 Leinwänden, nicht in Öl, sondern Schicht für Schicht mit schnell trocknender Acrylfarbe ausgeführt, sind in der Dortmunder Werkschau zu sehen. Die ungleichen Zahlen erklären sich daraus, dass Schoemakers eine Vorliebe für Triptychen hat, also für dreiteilige Bilder nach dem fernen Vorbild christlicher Altäre. An einem anderen Ende des Spektrums finden sich Schautafeln nach Art von Gebrauchsanweisungen oder Flugblättern, die freilich inhaltlich alles andere als simpel sind.

Gewagte Darstellung mit Bezug zum Massenmörder Anders Breivik: das Katalog-Cover mit René Schoemakers‘ Gemälde „Anders (Mummenschanz)“, Acryl auf Leinwand 160 x 120 cm, 2019. (Bild: © Foto René Schoemakers)

Christian Walda, stellvertretender Museumsdirektor und eigentlich Kurator der Ausstellung, sagt, Schoemakers habe ihm weitgehend die Aufbauarbeit abgenommen. Walda begibt sich auf die philosophischen Fährten, die der Künstler gelegt hat. Der setzt sich gedanklich und malerisch mit dem Idealismus und seinen Weiterungen (oder auch Verengungen) auseinander. Im Gefolge Hegels – die Schau trägt den hegelianisch inspirierten Titel „Weltgeist“ – seien  bloße Ideen vielfach übermächtig geworden und hätten sich gegen jegliche Realität durchgesetzt. Daraus seien die verschiedensten Ideologien mitsamt ihrem Gewaltpotential erwachsen.

Allmachts-Phantasien aus dem Idealismus

Die Allmachts-Phantasien, die sich darin verbergen, nehmen in der Historie und in Schoemakers‘ Bildern diverse Gestalt an. Hier gibt es einen Raum, in dem etwa Porträts von Martin Luther, des Islamisten Pierre Vogel und des US-Rechtsaußen Steve Bannon einander zugesellt werden – ergänzt um etliches Beiwerk. An anderer Stelle heißt es im Goebbels-Brüllton und in Frakturschrift: „Wollt ihr die totale Metapher?“ Mindestens ebenso abgründig ist solcher „Mummenschanz“: Eine Frau steckt in der Phantasie-Uniform, in der sich der rechtsextreme Massenmörder Anders Breivik gefallen hat. Dieselbe Frau posiert ebenso frontal mit Militärklamotten, Knarre und Theater-Schnurrbart – als „Karl-Heinz“ von der rechten „Wehrsportgruppe Hoffmann“.

Schoemakers scheint, allem Gedankenreichtum zum Trotz, kein Grübler zu sein. Für einen Mann vom Jahrgang 1972 hat er sich staunenswert jung erhalten, vielleicht just durch intellektuelle Wendigkeit. Seine Frau und fünf Kinder stehen ihm immer wieder Modell. Welch ein spezielles „Familienalbum“! Es hält seine ansonsten divergierenden Kunstwelten zusammen.

Seine Bilder lassen einen mit ihrer Überfülle möglicher Bezugspunkte nicht in Ruhe. Sie leisten Widerstand gegen Interpretation. Doch wer sie sieht, will ihnen zwangsläufig Sinn verleihen. Keine leichte, aber eine lohnende Übung.

René Schoemakers: „Weltgeist“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Noch bis zum 9. Januar 2022.

https://weltgeist-mkk.de

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Der Beitrag ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de




Geschichtlicher Spuk – Maxim Billers Roman „Der falsche Gruß“

Junger Mann namens Erck Dessauer drängt als kommender Autor zum führenden Edelverlag, doch der dort längst etablierte, allseits hofierte Großschriftsteller und jüdische Intellektuelle Hans Ulrich Barsilay scheint ihn daran hindern zu wollen. Nanu?

Gleich zu Beginn begibt sich dieser Skandal, als wär’s eine Phantasmagorie: In einer irrsinnigen Aufwallung zeigt Dessauer diesem Barsilay und dessen eingeschworener Entourage so etwas wie einen zittrigen Hitlergruß. Ein hochnotpeinlicher Moment im Berliner Lokal „Trois Minutes“. Ganz gleich, ob Dessauer damit die vermeintlichen Machtspiele des anderen provokant kenntlich machen wollte: Die gänzlich verunglückte Geste dürfte doch wohl das Ende all seiner Ambitionen bedeuten. Mit seinem publizistischen Einfluss wird Barsilay ihn nun gewiss gesellschaftlich vernichten, oder? Wir werden nun Zeugen einer unkontrolliert anschwellenden Furcht.

In der Villa des Hitler-Vertrauten

In seinem neuen Roman „Der falsche Gruß“ vollführt Maxim Biller mancherlei Zeitsprünge und verquickt manches mit manchem. Einen Altnazi-Großvater. Die Auflösung der DDR. Flüchtlings-„Schicksale“ daselbst. Jüdische Identität im heutigen Deutschland. Intrigen im Literaturbetrieb und im Verlagswesen. Herausgehobene Protagonistin ist die Verlegerin, die sich in einer ehemaligen Villa des Hitler-Vertrauten Martin Bormann hochherrschaftlich eingerichtet hat. Zudem geht’s um Berliner Befindlichkeiten als Brennglas komplizierter deutscher Zustände. Oder ist das alles ein zirzensischer Bühnenzauber mit parodistischem Einschlag? Nun, eher ist es vielfältiger historischer Spuk, der keine Ruhe geben will.

Wer die Arbeitslager perfektioniert hat

Sein Antipode Barsilay, so will es dem stets vorauseilend beleidigten Dessauer jedenfalls scheinen, ist zu allem Überfluss wohl drauf und dran, ihm das Thema wegzuschnappen. Dessauer schickt sich an, ein Buch über Naftali Frenkel zu schreiben, jenen erzkriminellen Abenteurer aus jüdischer Familie, der eines Tages Stalins Aufmerksamkeit auf sich zog, weil er teuflische Vorschläge zur „Rationalisierung“ und Perfektionierung der sowjetischen Arbeitslager gemacht und später selbst umgesetzt hat: Nahrung nur noch für einstweilen nützliche Kräfte, die anderen kann man ja mit winzigen Rationen Hungers sterben lassen. Im Raum schwebt somit die heikle Frage, ob ausgerechnet Frenkel – vor allen Nazis – als „Erfinder“ der Konzentrationslager gelten kann, so dass Ernst Noltes höchst umstrittene These vom NS-Staat als Reaktion auf den Stalinismus neue Nahrung bekäme. Gefährlich vermintes Debatten-Gelände. Aber Hauptsache, Dessauers Buch kommt heraus…

Was sind das nur für Ränkespiele?

Irgendwann hat sich ja auch der Knoten gelöst – und es schwinden die seit dem „falschen Gruß“ virulenten Angstattacken Dessauers. Warum? In Barsilays überall hochgelobtem Buch „Meine Leute“, dem auch er nicht seine Bewunderung versagen konnte, hat Erck Dessauer eine Passage entdeckt, in der jener seine schockhafte Erschütterung beim Besuch der Auschwitz-Gedenkstätte schildert, ja geradezu als entscheidende Lebenswende zelebriert. Dessauer findet heraus, dass es sich bei den näheren Umständen um Erfindung handeln muss, ja, dass Barsilay nicht einmal in Polen gewesen ist. Also hat er jetzt etwas Gewichtiges gegen seinen Widersacher in der Hand, das die Sache mit dem Hitlergruß womöglich aufwiegt. Auschwitz und der deutsche „Kult“ um den Holocaust, so sein zwiespältiger Befund, verzeihen keine Lügen. Aber wer lügt und belügt sich hier eigentlich am meisten? Und überhaupt: Was sind das für irrwitzige Ränkespiele, wo es doch inhaltlich um die schlimmsten Verbrechen der Geschichte geht?

Womöglich auch noch ein Schlüsselroman

Und sonst? Haben wir auch hier einen Hauch vom Ewigweiblichen, das hinan und hinab ziehen kann. Im Tross des Hans Ulrich Barsilay (solch ein Name aber auch!) bewegt sich zeitweise die aufreizende Russin Valeria, die selbst der sonst erotisch nur schwer ansprechbare Dessauer (vergebens) zu begehren scheint. Mittlerweile hat Barsilay in einem Buch mit dem Titel „Lustlos“ Valeria sexuell bloßgestellt, worum sich Gerichtsverfahren ranken – ein juristisches Feld, auf dem auch Maxim Biller mit „Esra“ so seine Erfahrungen gesammelt hat. Doch auch das bleibt Episode, wie so vieles in diesem Roman-Konstrukt, in dem schon mal solche Sätze ‚rausgehauen werden: „Freundschaften, das fand ich schon lange, waren nur etwas für Frauen und Verlierer.“ Klingt halt obercool.

Ist „Der falsche Gruß“ am Ende etwa auch noch ein Schlüsselroman über eine real existierende Welt des Scheins, über gewisse intellektuelle Kreise und Figuren der deutschen Hauptstadt? Mag sein. Aber vielleicht sollten kundige Herrschaften in Berlin das Rätsel unter sich ausmachen. Es ist ja gar nicht so furchtbar spannend. Und wer weiß, ob Biller nicht auch hiermit sein Verwirrspiel treibt.

Ganz ehrlich: Ich habe mich eher missmutig durch die bisweilen raffiniert verknüpften, streckenweise aber auch wirr verschlungenen Handlungsmuster des doch eigentlich recht kurzen Romans gequält. Vielleicht finde ich einfach keinen Zugang zu Billers Schreibweise, die mir – bei all seiner funkelnden Intelligenz und polemischen Potenz – zumindest unterschwellig arrogant und anmaßend vorkommt. Tja. Das wäre dann im Grunde m e i n Problem, nicht wahr?

Maxim Biller: „Der falsche Gruß“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 128 Seiten, 20 Euro.




Sonneborn steigt in den Wahlkampf ein – mit 99 launigen Ideen und einigen „Bonustracks“

Es ist angeblich Wahlkampf – und da führt man sich schon mal ein politisch angehauchtes Büchlein zu Gemüte. Angehaucht? Naja, schon durchdrungen.

Der mittlerweile weithin bekannte Martin Sonneborn („& seine politische Beraterin“, Claudia Latour) stemmen „99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie“. Ausweislich des Covers ist hier das Kommunistische Manifest durch Streichung von „munist“ das komische Manifest geworden. Man ist schließlich der Satire verpflichtet, so ungefähr vom Geiste der „Titanic“.

Und was steht drin? So allerlei. Und es scheint, als werde hier nichts, aber auch gar nichts ernst genommen – vielleicht erst einmal ein ratsamer Zugriff in diesen Zeiten. Alle bestehenden Parteien (außer Sonneborns „Die Partei“, versteht sich) seien überflüssig, heißt es sogleich. Alles nur öde Realisten, die unentwegt öde Realpolitik betreiben. Auch die Grünen kommen in dieser Hinsicht nicht besonders gut weg. Im Laufe der Lektüre wird sich zeigen, dass eben doch ein paar grundlegende Forderungen erhoben werden, die nicht nur spaßig gemeint sind.

Vorschläge gibt’s, die nicht ganz von der Hand zu weisen sind: Wenn die Regierenden schon so viele Aufgaben an teure Berater auslagern, warum dann nicht gleich zwischen den Beratern wählen? Außerdem (kleine Auswahl): resolute Mütter ins Parlament! Überhaupt: mehr Berufe in den Bundestag! Vakzin-Patente freigeben! Minister durch preiswertere Osteuropäer ersetzen! Tempolimit sofort! Komplette Abschaffung des Adels! Facebook & Co. „fairstaatlichen“! Schulunterricht erst ab 10 Uhr! Keine Bankenrettung mit Steuergeld! Vor allem aber: bedingungsloses Grundeinkommen! Weg mit der Schufa! Armut verbieten, Reichtum hart besteuern!

Klingt ziemlich radikal im Sinne von „an die Wurzel(n)“ gehend, oder? Verabreicht werden die meist knackig kurzen Lektionen ausgesprochen launig, ein mehr oder weniger kalauerndes Wortspielchen (statt GroKo etwa „GroKo Haram“) ist allemal drin. Über die praktische Umsetzung der Utopie muss man sich als Satiriker ja nur bedingt Gedanken machen. Das wäre ja öde Realpolitik.

Wer die auf dem Titel verheißenen „99 Ideen“ absolviert hat, ist mit dem Buch noch nicht durch. Es folgen nämlich noch „33 Bonustracks“ von ähnlichem Kaliber. Noch ein paar Kostproben: Die Menschen für Theaterbesuche bezahlen – nach dem Vorbild der alten Griechen! (Soll gegen Verblödung helfen). Weg mit dem Massentourismus! Jedwede Religion sei Privatsache! Cannabis legalisieren, Privatisierungen rückgängig machen, Chaos Computer Club (CCC) soll für die Digitalisierung zuständig sein! Wenn Christian Lindner das liest, fällt er vom neoliberalen Glauben ab. Oder auch nicht.

Genug! Man muss das beileibe nicht alles unterschreiben, aber insgesamt hat das Buch etwas Erhellendes und Anregendes. Endlich mal beherzter Klartext in diesem bislang so müden Wahlkampf. Bleibt aber wahrscheinlich auch herzlich folgenlos.

Kleine Nebenbemerkung: Joseph Beuys wird als vermeintlich vorbildlicher Erz-Demokrat nach meinem Empfinden zu bruchlos gepriesen. Neuerdings wird sein Schaffen doch in anderen Kontexten und durchaus kritischer diskutiert. Nachvollziehbar hingegen die Loblieder auf Wikileaks und das umtriebige, leider so früh verstorbene Kreativ-Genie Christoph Schlingensief. Jammerschade, dass er nicht mehr ins Geschehen eingreifen kann.

Martin Sonneborn (& seine politische Beraterin): „99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie“. Kiepenheuer & Witsch (KiWi-Taschenbuch). 192 Seiten, 10 Euro.




Die Hoffnung auf Befreiung in der Geschichte: Luigi Nonos „Intolleranza“ als Stream aus Wuppertal

Die Tristesse von Containerbehausungen moderner Arbeitssklaven. Szene aus „Intolleranza“ in Wuppertal. (Foto: Bettina Stöß)

Luigi Nonos Musiktheater ist eine Ikone der Moderne. Immer wenn eines der Werke aufgeführt wird, umweht ein Hauch säkularen Weihrauchs die Stätte, fühlen sich Musiker und Publikum besonders herausgefordert. Eher bewundert als geliebt, stellen „Al gran sole carico d’amore (1975) und sein Erstling „Intolleranza 1960“ (1961) immense Ansprüche an die Ausführenden.

In Wuppertal wurden sie überzeugend eingelöst: Aus Anlass des 200. Geburtstags von Friedrich Engels war die Inszenierung von „Intolleranza“ (mit dem aktualisierenden Zusatz „2021“) dazu gedacht, an das Schaffen des in Barmen geborenen Urvaters des Marxismus zu erinnern. Tatsächlich ist Nonos Protagonist, ein Gastarbeiter in einer schmutzigen Mine eines fremden Landes, ein Prototyp eines Menschen, der seiner selbst als Subjekt der Geschichte bewusst wird und den Kampf mit den ökonomischen Verhältnissen aufnimmt. Auch Nonos Begriff von der Geschichte, in der sich ein Befreiungsprozess vollzieht, lässt sich auf philosophische Vorstellungen Engels‘ zurückführen.

Dass die Premiere von „Intolleranza 2021“ im Wuppertaler Opernhaus erst ein halbes Jahr nach Engels‘ Geburtstag stattfindet, ist der Corona-Pandemie geschuldet. Es bleibt – aus diesem Grund – auch bei einer einzigen Live-Vorstellung für die Presse. Das Publikum bekommt die „szenische Handlung“ ab 18. Juni als Stream zu sehen. Was in diesem Fall bedauerlich ist, weil Johannes Harneit als musikalischer Leiter die sonst kaum gewährte Chance nutzt, nach Nonos Vorstellungen einen mehrdimensionalen Raumklang zu entwickeln, der im Stream wohl kaum akustisch nachvollziehbar wird.

Aus der Not der Pandemie macht Wuppertal eine Tugend: Das Publikum – in diesem Fall die Musikjournalisten – sitzen im Parkett, haben vor sich auf der Hinterbühne, zehn Meter hoch gestaffelt, 12 Schlagzeuger und 12 Blechbläser, im Graben Streicher, Celesta und Harfen, auf den Rängen 12 Holzbläser und die 24 Sängerinnen und Sänger des Wuppertaler Opernchores, verstärkt durch Einspielungen des Chorwerks Ruhr. Harneit dirigiert im Graben und wird durch einen zweiten Dirigenten, Stefan Schreiber, hinter der Bühne unterstützt.

Das Ergebnis ist eine musikalische Wucht: breit gesplitteter Klang, extreme Transparenz, Reibungen statt Vermischung. Harneits präzise Führung der Ensembles und seine minutiöse Klangkalkulation im Raum führen auch zu verdichteten und verschmelzenden Klängen, zu sphärischen Interferenzen und schwebenden Tongespinsten. Harneit entdeckt in Nonos weiterentwickelter Zwölftonmusik nicht nur die scharf geschnittenen Schläge, die schmerzhaften Dissonanzen, die Spannungen zwischen extremen Registerfarben von Instrumenten, sondern auch die Stille, die Finesse, den von den Solisten des Sinfonieorchesters Wuppertal wohlgeformten Klang.

Mit der Bezeichnung „azione scenica“ (szenische Handlung) setzt sich Nono bewusst von der „Oper“ ab. „Intolleranza“ erzählt nur skizzenhaft eine äußere Handlung, reiht eher innere Prozesse aneinander und verknüpft diese mit politischen Statements, die vor sechzig Jahren als so brisant angesehen wurden, dass der Schott-Verlag in der deutschen Übersetzung auf Entschärfung drängte. Schon Peter Konwitschny hat in seiner Berliner Inszenierung 2001 darauf hingewirkt, die Geschichte klar und unmissverständlich zu erzählen. Dem ist auch Dietrich Hilsdorf in Wuppertal gefolgt.

Dietrich Hilsdorf aktualisiert die 60 Jahre alte szenische Handlung: Anspielung auf den Fleischskandal während der Corona-Pandemie. (Foto: Bettina Stöß)

Dieter Richter stellt die Bühne voll mit einem unwirtlichen Wohncontainer-Aufbau, eine schäbig eingerichtete Behausung für den Arbeitsmigranten. Ein Datum wird eingeblendet, der 11. Januar 2021, der Tag, an dem die zweite Verschärfung des Lockdowns bekanntgegeben wurde. Gestalten in weißer Schutzkleidung mit blutigen Schürzen hecheln über die dunkle Bühne (Kostüme: Nicola Reichert). Markus Sung-Keun Park, der Emigrant, klagt mit gequält positioniertem, aber dramatisch effektvoll attackierendem Tenor über die verzehrende Sehnsucht nach seiner Heimat, beschließt, seine Geliebte (Solen Mainguené) zu verlassen und zurückzukehren. Er gerät durch Zufall in eine Demonstration, wird festgenommen, verhört, erfährt in Folter und Konzentrationslager die Allmacht des Staates und die Ohnmacht des Einzelnen. Das Verlangen nach seiner Heimat verwandelt sich in den Willen zur Freiheit. Eine neue Gefährtin (Annette Schönmüller) gibt ihm neue Hoffnung in der Einsamkeit; beide versinken in einer gewaltigen Sintflut.

Hilsdorfs Verweise auf den Tönnies-Fleischarbeiterskandal und das Schicksal moderner Arbeitssklaven aktualisieren das Provokante des Stücks. Die Videos Gregor Eisenmanns sind im Sinne Nonos, der Filmeinblendungen und Projektionen vorgesehen hatte. Sie holen das Außen nach Innen, lassen sich aber auch als überhöhende Momente lesen, die das Einzelschicksal transzendieren. Und während sich – so eine Regieanweisung Nonos – die Projektionen von „Albträumen der Intoleranz“ fortsetzen, sieht man in den Fenstern des Containers die Flut steigen: Die Natur übernimmt am Ende den Willen der marschierenden Arbeiter, „mit dem Hochwasser einer zweiten Sintflut die Städte der Welten zu waschen“. Spätestens in diesem Bild mündet Nonos politisch gemeinte Aktion in eine apokalyptischen Vision, für die er im Schlusschor Textteile aus Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ montiert. Hilsdorf inszeniert dazu sparsam-stille Bilder, die an ein Oratorium erinnern. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine Zeit, in der „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“.

Luigi Nonos „Intolleranza“ 2021 ist ab 18. Juni im Online-Streaming zu sehen. Weitere Termine, jeweils um 19.30 Uhr, sind 26. Juni, 2. Juli, 13. und 27. August 2021. Tickets zu 12 Euro über die Webseite der Wuppertaler Bühnen: www.oper-wuppertal.de




Zwischen Agitation und Innerlichkeit – Vor 100 Jahren wurde der Dichter Erich Fried geboren

Erich Fried 1988 bei einer Lesung – als Gast des Literaturbüros Ruhr im Mülheimer Theater an der Ruhr. (Foto: Jörg Briese)

Viele Jahre hatte der vor den Nazis aus Wien nach London geflohene Erich Fried als kritischer Journalist und politischer Dichter Texte für ein eher kleines Publikum geschrieben. Als er 1979 einen Band mit Liebesgedichten veröffentlichte, wurde er einem größeren Publikum bekannt. Dem im November 1988 verstorbenen Dichter blieben nur noch wenige Jahre des späten Ruhms. Am 6. Mai jährt sich sein Geburtstag zum 100. Male.

Sein vielleicht bekanntestes Liebesgedicht heißt „Was es ist“, es geht so:

„Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist Unglück / sagt die Berechnung / Es ist nichts als Schmerz / sagt die Angst / Es ist aussichtslos / sagt die Einsicht / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist lächerlich / sagt der Stolz / Es ist leichtsinnig / sagt die Vorsicht / Es ist unmöglich / sagt die Erfahrung / Es ist was es ist / sagt die Liebe.“

Typisch für Fried ist die Beharrlichkeit, mit der ein einfacher Gedanke mehrfach umkreist wird, es werden Argumente ausgetauscht und Bedenken vorgebracht: Jemanden zu lieben ist unsinnig, aussichtslos, lächerlich, leichtsinnig, unmöglich und hinterlässt nur Unglück und Schmerz. Gegen die Liebe sprechen Vernunft, Vorsicht und Erfahrung, doch es nützt nichts: „Es ist was es ist“, die Liebe ist zu groß, um sich gegen sie zu wehren.

Keine Scheu vor Selbstentblößung

Etwas gebetsmühlenartig zu wiederholen, suggestiv vorzutragen, lakonisch zu beenden, ist typisch für Fried, dazu eine simple literarische Form, reimloses Sprechen, alltägliche Erfahrungen, keine Scheu davor, sich selbst als verletzlichen Menschen zu entblößen, sich mit allen Schwächen und Stärken, Hoffnungen und Enttäuschungen mit ins Gedicht zu nehmen, sich nicht hinter anderen Figuren oder fremden Stimmen zu verstecken: Das Ich, das hier spricht, der ältere Mann, der in den oft erotisch stark aufgeladenen und sexuell ziemlich freizügigen Liebesgedichten erzählt, wie schön es ist, die Brüste seiner Frau zu streicheln oder ihren Schoß zu küssen, ist immer Erich Fried, der Lust und Sehnsucht offen ausspricht, kein Bedürfnis verschweigt, sich aber auch selbst nicht so ernst nimmt und seine erotischen Obsessionen ironisiert. In seinem Gedicht „Als ich mich nach dir verzehrte“ schreibt Fried: „Wenn ich mich / nach dir / verzehre / heißt das / ich habe zuerst / als Hauptgericht / dich verzehrt / und mich dann / als Nachtisch / oder warst du / die Suppe / und ich / bin das Fleisch?“

Fried hatte zum richtigen Zeitpunkt den richtigen literarischen Ton getroffen, hatte gespürt, dass die Zeit der knallharten Politisierung vorbei war und seine links-alternative Klientel sich danach sehnte, eine neue Beziehung zwischen Kopf und Bauch, Politik und Leben herzustellen und literarisch widergespiegelt zu sehen.

Eine Zuflucht für Rudi Dutschke

Bis Mitte der 1970er Jahre hatte Fried das Gedicht als Mittel zur Verbreitung von Erkenntnissen und des Aufrufs zur Rebellion verstanden: purer Agitprop, vorgetragen bei Versammlungen und Demonstrationen. Fried hatte Rudi Dutschke bei sich in London aufgenommen, als der Studentenführer vom Attentat halbwegs genesen war und sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlte. Als Hausbesetzer Georg von Rauch von der Polizei erschossen wurde, bezeichnete Erich Fried die Tat als „Vorbeuge-Mord“ und wurde dafür vor Gericht gezerrt.

Fried hat sich eingemischt, gegen den Krieg in Vietnam genauso angeschrieben wie gegen den Radikalenerlass, das Wettrüsten der Supermächte, die atomare Bedrohung: Es sind Lehr- und Lerngedichte, die über Ausbeutung und Unterdrückung aufklären, zur Solidarität und zum Kampf aufrufen, sie sind der Zeit verhaftet und lesen sich heute wie politisch-historische Dokumente einer hochpolitisierten Epoche, die im Terror der RAF ihren degenerierten Tiefpunkt und ihr blutiges Ende fand.

Manchmal haarsträubend banal

Doch wer eben noch auf den Barrikaden stand und die Weltrevolution predigte, wollte nun in einer Landkommune leben, sich gesund ernähren, grüne Pläne schmieden und sich den eigenen Gefühlen widmen: Die Neue Innerlichkeit griff um sich und Erich Fried wurde ihr literarisches Sprachrohr.

Die Liebesgedichte sind lyrischer Ausdruck einer Ära, in der Liebe und Politik eins sein sollten. Aber worüber und wie die Gedichte sprechen, ist oft haarsträubend banal und auf fast peinliche Weise selbstverliebt. Sprachlich subtil und gedanklich von zeitloser Schönheit sind die Gedichte nur selten. Doch die Liebesgedichte immer mal wieder hervorzukramen und zu lesen, ist bestimmt besser, als sie zu vergessen und nicht zu lesen. Oder?

Erich Fried: „Liebesgedichte.“ Wagenbach, Berlin 1979 (16. Auflage 2013, 18 Euro)

Erich Fried: „Es ist was es ist.“ Wagenbach, Berlin 1983 (19. Auflage 2021, 18 Euro)

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Eine andere Sicht auf Erich Fried offenbart ein 2018 zum 30. Todestag des Dichters entstandener Beitrag, den Gerd Herholz für die Revierpassagen verfasst hat.

 

 




Wachsamkeit dringlich gefragt – eine Diskussion zum „Tag der Pressefreiheit“

Der 3. Mai ist „Tag der Pressefreiheit“. Da kann der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) nicht untätig bleiben. Doch obwohl man eine einschlägige (nicht ganz halbstündige) Video-Diskussion heute gleich auf vier Online-Kanälen eingestellt hat, dürfte die Zuschauerzahl recht überschaubar und eher auf Teile der Berufsgruppe beschränkt bleiben. Leider bewegt das für die Demokratie zentrale Thema nicht gerade die Massen. Drum tragen wir unser bescheidenes Scherflein zur Aufmerksamkeit bei.

Schmerzliche Vorfälle: Benjamin Piel, Chefredakteur beim „Mindener Tageblatt“, während der DJV-Video-Diskussion über Pressefreiheit. © DJV NRW. Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=MwMzA1C2lf8

Es heißt wachsam zu sein, jetzt erst recht: Beim internationalen Vergleich durch die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ ist Deutschland in Sachen Pressefreiheit jüngst auf den 13. Rang zurückgefallen – vorwiegend deshalb, weil es hier mit stark zunehmender Tendenz tätliche Übergriffe auf Medienvertreter gegeben hat, zumal (aber nicht nur) bei sogenannten „Querdenker“-Demonstrationen. Diesen Sachverhalt griff die stellvertretende DJV-NRW-Landesvorsitzende und Gesprächsmoderatorin Andrea Hansen in ihren einleitenden Worten auf.

Defizite in der Polizeiausbildung

Längst nicht immer, so der DJV-Bundesvorsitzende Prof. Frank Überall in besagter Diskussion, herrsche unter den Polizeikräften das nötige Bewusstsein, dass und mit welchen Mitteln die Pressefreiheit bei Demonstrationen zu schützen ist. Die Lage sei von Bundesland zu Bundesland und mitunter von Stadt zu Stadt unterschiedlich. So seien neueste Erfahrungen in Frankfurt deutlich positiver zu bewerten als etwa in Stuttgart. Den Belangen der Pressefreiheit sei in der Polizeiausbildung „kein riesengroßes Modul“ gewidmet. Deshalb suche der Journalistenverband häufiger den Dialog mit angehenden Polizistinnen und Polizisten. Man hofft dabei ebenso auf mittel- und langfristige Wirkungen wie beim Bestreben, das Themenfeld häufiger in den Schulen zu vermitteln.

Ein bedrohlicher Vorfall in Minden

Benjamin Piel, Chefredakteur beim „Mindener Tageblatt“, brachte konkrete lokaljournalistische Aspekte in die Debatte ein. In der vermeintlich so beschaulichen Provinzstadt hat ein abscheulicher Vorfall diffuse Ängste in der Redaktion ausgelöst: Von einer Mindener Brücke baumelte eine aufgehängte Schaufensterpuppe, versehen mit dem Schild „Covid Presse“. Ein solches „symbolisches Bedrohungs-Szenario“ bleibe als Bild im Kopf haften und führe womöglich zu Selbstzensur. Der bloße Verweis aufs Grundgesetz, das die Pressefreiheit ja schließlich garantiere, reiche zur Beruhigung nicht aus. In der Redaktion habe sich denn auch eine Supervisions-Gruppe gebildet, um den Umgang mit der Bedrohung eingehend zu besprechen. Im Übrigen sagte Piel, er habe die Schauspieler-Videoaktion #allesdichtmachen mit ihrer pauschalen, undifferenzierten Kritik an „d e n“ Medien als schmerzlichen Fehlgriff empfunden.

Ganz andere Dimension in Belarus

Eine noch ganz andere Dimension der Bedrohung skizzierte die aus Belarus stammende und in Köln lehrende Prof. Katja Artsiomenka. In Belarus sei Journalismus sozusagen generell verboten, der journalistische Beruf praktisch abgeschafft, das Land nach außen nahezu vollständig abgeschottet. Dennoch solle man alle nur irgend möglichen Verbindungen dorthin aufrecht erhalten. Frau Artsiomenka mahnte dringlich, das Thema Pressefreiheit global zu denken und zu behandeln, sonst wachse auch hier die Gefahr einer Erosion. Als Vorboten misslicher Entwicklungen nannte sie den Einfluss russischer Propaganda in Deutschland.

Frank Überall erinnerte sich unterdessen an Gespräche mit tief besorgten Kollegen in der Türkei, die im Sinne der Pressefreiheit appellierten: „Sorgt dafür, dass wir nicht vergessen werden.“

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Hier noch ein Link zum Podiumsgespräch im YouTube-Kanal des DJV:




Bedeutsam wie eh und je: George Orwells „Farm der Tiere“ gleich in zwei neuen Übersetzungen

„Kein Tier soll seinesgleichen je tyrannisieren. Schwach oder stark, schlau oder schlicht, wir sind alle Brüder. Kein Tier soll je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich.“ Mit diesem Schlachtruf beginnt der Aufstand der Tiere gegen die Unterdrückung der Menschen. Doch schnell gerät die Revolution aus dem Gleis.

Die Manesse-Ausgabe (Übersetzung: Ulrich Blumenbach). (© Manesse)

Statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gibt es Terror, „Säuberung“ und Diktatur auf der „Animal Farm“, auf der die Schweine die Macht ergreifen und alle anderen Tiere versklaven: George Orwells „Farm der Tiere“ ist ein böses Märchen, eine Abrechnung mit der stalinistischen Pervertierung des Sozialismus. Jetzt sind gleich zwei neue deutsche Übersetzungen des 1945 veröffentlichten Romans erschienen.

Weltliteratur von gnadenloser Präzision

Wenn wir die „Farm der Tiere“ nur als wütende Abrechnung eines frustrierten Sozialisten mit der Einparteien-Diktatur Stalins lesen und hinter jedem Tier nur das Abbild eines realen Menschen suchen, dann bräuchte es wohl auch keine neue Übersetzung. Aber die „Farm der Tiere“ ist ein großes Stück Weltliteratur: perfekt konstruiert, sprachlich schillernd, politisch visionär, zeitlos aktuell. Orwell zeigt uns mit gnadenloser Präzision, wie schnell die schönsten Träume zerplatzen, die buntesten Wunschbilder von skrupellosen Demagogen in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie Populismus funktioniert und Propaganda die Hirne vernebelt, wie sich Angst und Anpassung ausbreiten, wenn Gehirnwäsche und Säuberungswellen jeden Widerstand im Keim ersticken und Verschwörungstheorien die Wirklichkeit ersetzen.

Natürlich steht der fiese Eber „Napoleon“ für Stalin, das kluge Schwein „Schneeball“ für Trotzki, das arbeitssame Pferd „Boxer“ und der duldsame Esel „Benjamin“ stehen für die gutgläubige Arbeiterklasse, die blutlechzenden Hunde für die Geheimpolizei, die blökenden Schafe für das leicht manipulierbare Fußvolk: aber sie sind nicht nur Fabelwesen, sondern stimmige Archetypen, prägnante Charaktere, die uns glaubhaft von Machtmissbrauch und Lüge, Verrat und Mord erzählen. Es ist der wohl wichtigste politische Roman des letzten Jahrhunderts und zugleich das Buch der Stunde, das sprachlich immer geschliffen und geschärft und auf den neuesten Stand gebracht werden sollte.

Die dtv-Ausgabe (Übersetzung: Lutz-W. Wolff). (© dtv)

Als Kritik an Stalin in England verpönt war

Orwell hatte eigene Erfahrungen mit dem langen Arm Stalins und war der Überzeugung, dass der Sozialismus nur zu retten ist, wenn man bereit ist, Fehler einzugestehen und die Sowjetunion rücksichtslos zu kritisieren: „Seit gut einem Jahrzehnt habe ich den Eindruck“, schrieb Orwell in einem Essay, „dass das jetzige russische Regime überwiegend böse ist, und ich bestehe auf dem Recht, das laut zu sagen, auch wenn die UdSSR unser Verbündeter in einem Krieg ist, in dem ich unseren Sieg herbeisehne.“

Genau das aber war das Problem: Die meisten englische Intellektuellen, Verleger und die Politiker wollten keine Kritik an Stalin zulassen, niemand mochte den Verbündeten verärgern, man hatte sich wehrlos der sowjetischen Propaganda ausgeliefert und wollte von Säuberungen und Schauprozessen nichts hören.

Orwell wusste, wovon er sprach. Als Freiwilliger hatte er am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und in einer trotzkistischen Miliz gegen die Faschisten gekämpft. Aber der Einfluss Stalins reichte bis nach Barcelona und führte dazu, dass alle Trotzkisten von ihren sowjettreuen Mitkämpfern verfolgt, vertrieben, ermordet wurden. Orwell konnte sich in letzter Minute nach England retten, doch keiner wollte ihm glauben, niemand wollte seinen Augenzeugenbericht „Hommage an Katalonien“ lesen, und auch als er seinen Roman „Farm der Tiere“ seinem Verleger zeigte, lehnte der auf Anraten der Zensurbehörden ab, ihn zu drucken. Orwell war geschockt von der intellektuellen Feigheit in England und wollte den Roman auf eigene Faust im Selbstverlag herausbringen, doch dann war der Heiße Krieg vorbei und wurde schnell zum Kalten Krieg – und der Roman konnte endlich erscheinen.

Eine Fassung ist deutlich eleganter

Es ist Geschmacksache, welche der beiden neuen Übersetzungen man bevorzugt, manche mögen es exakt, andere poetisch, mache bestehen auf Worttreue, andere schätzen den freien Umgang mit der Vorlage. Man muss nicht gleich tief ins sprachliche Unterholz des politisch komplexen Romans kriechen, es reicht schon, sich den ersten Absatz anzusehen, also den letzten friedlichen Moment, bevor der Aufstand der Tiere losbricht.

In der Version von Lutz-W. Wolff liest man: „Mr Jones von der Manor Farm hatte die Hühnerställe für die Nacht abgesperrt, aber er war zu betrunken, um daran zu denken, die Auslaufklappen zu schließen. Der Lichtkreis seiner Laterne tanzte von einer Seite zur anderen, als er über den Hof schwankte und an der Hintertür seine Stiefel abschüttelte. Er zapfte sich noch ein letztes Bier vom Fass in der Spülküche und machte sich auf den Weg nach oben ins Bett, wo Mrs Jones bereits schnarchte.“

Bei Ulrich Blumenbach heißt es dagegen: „Mr. Jones von der Herrenfarm verriegelte die Hühnerställe zur Nacht, er war so betrunken, dass er vergaß, die Klappen zu schließen. Der Lichtkegel seiner Laterne sprang hin und her, als er über den Hof torkelte, an der Hintertür die Stiefel abstreifte, sich am Fass in die Spülküche ein letztes Bier zapfte und die Treppe hoch ins Bett ging, wo Mrs. Jones schon schnarchte.“

Die Fassung von Ulrich Blumenbach ist eleganter, moderner, flüssiger als die etwas holzige und beflissene von Lutz-W. Wolff. In der Ausgabe von dtv schreibt Ilija Trojanow ein Vorwort, reist in Gedanken auf die schottische Insel, auf der Orwell zurückgezogen lebte und am Roman schrieb. Trojanow macht einen Nachfahren von Esel Benjamin ausfindig und diskutiert mit ihm über die Revolution, die für viele Beteiligte im Gulag endete: Der Kunstgriff soll keck und witzig sein, ist aber selbstverliebt und nervig.

Einfühlsames Nachwort von Eva Menasse

Beim Manesse-Verlag (Blumenbach-Übersetzung) verfasste Eva Menasse ein Nachwort,  sie stellt sich ganz in den Dienst des Buches, beschreibt einfühlsam die Faszination des Romans, die Leiden des Autors und die zeitlose Aktualität des tierischen Märchens. Während dtv noch viele Anmerkungen und eine Zeittafel mit Lebensdaten und Werken von Orwell auflistet, präsentiert der Manesse-Verlag zwei spannende Aufsätze: einen Essay über die von Selbstzensur und Opportunismus bedrohte Pressefreiheit sowie einen subversiven Text, den Orwell für eine ukrainische Ausgabe verfasst hat.

Doch für welche Aufgabe man sich auch entscheidet: Wenn die Tiere mitansehen müssen, wie ihre schweinischen Anführer wieder mit den verhassten Menschen gemeinsame Sache machen, hat der Roman nichts von seinem Schrecken verloren,: „Die Geschöpfe draußen sahen von Schwein zu Mensch, von Mensch zu Schwein und wieder von Schwein zu Mensch, aber es ließ sich schon nicht mehr sagen, wer was war.“ Da kann einem angst und bange werden.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Nachwort von Eva Menasse. Manesse Verlag, München 2021, 192 Seiten, 18 Euro.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Ilija Trojanow. dtv, München 2021, 192 Seiten, 20 Euro.




Was Politiker sagen, wenn ihnen Corona keine Ruhe lässt

Speziell in solchen Nächten treibt es manche Leute um. (Foto: BB)

Sofern man sich durch die eine oder andere Nachrichtensendung, Doku oder Talkshow zu Corona-Themen gequält hat, wird man finden, dass in der Polit-Szene ein Modewort kursiert, das im Grunde sehr alt ist.

Nein, es hat nicht direkt mit fachlichen Fragen zu tun, erst recht nicht mit Feinheiten der Virologie. Noch der nüchternste Polit-Darsteller wird dieser Tage ein bestimmtes Wort benutzen, das anzeigen soll, wie ihm Corona bei Tag und bei Nacht keine Ruhe lässt. Nun ratet!

In Ordnung, ihr habt euch redlich bemüht. Das Wort lautet: umtreiben. Die Folgen von Corona treiben mich um. Die Situation der Gastronomie / der Kultur / der Senioren / der Pflegeberufe treibt mich um. Und so weiter, und so fort. Man sieht sie förmlich durch menschenleere Straßen wanken, schräg gegen Stürme gestemmt, den Mantelkragen hochgezogen, sie selbst gramgebeugt, umgetrieben noch und noch. Mitunter fragt sich jedoch, ob diejenigen wirklich umgetrieben oder eher umtriebig sind.

Das Wort wird zur bloßen Kennmarke

Nein, bewahre: Dies soll kein landläufiges Politiker-Bashing werden, dafür ist eine präpotente Kampagnen-Journaille zuständig, allen voran mal wieder das Blatt mit den vier großen Buchstaben. Wir wollen dem Gros der Parteipolitiker keineswegs die Empathie, die Mitleidensfähigkeit absprechen, aber wenn selbige immer und immer wieder mit demselben Ausdruck daherkommt, schimmert denn doch etwas Unechtes durch. Wenn man also vernimmt, wie Politiker sich seit einiger Zeit immerzu umgetrieben wähnen, sollte man hellhörig werden. Wer auch immer die Wendung zuerst benutzt hat, andere haben sie für tauglich befunden und alsbald nachgesprochen. Nun ist sie in fast aller Munde. Das Wort wird zur bloßen Kennmarke. „Lassen Sie mich durch, ich werde umgetrieben!“

Übrigens: Ich mag mich irren, aber mir scheint, dass Männer die Umtreibe-Formulierung viel öfter verwenden als Frauen. Deshalb unterbleibt auch an dieser Stelle das mit obligatorischer Sinnpause zu sprechende „Politiker*innen“. Sollte die ungleiche Häufigkeit etwa daran liegen, dass männliche Politiker glauben, ihre Empathie eigens betonen zu müssen, während sie bei den weiblichen immer noch als quasi naturgegeben gilt?




Neustart bei den „Mitternachtsspitzen“: Da geht noch was…

Einladend: Christoph Sieber, der neue Gastgeber der „Mitternachtsspitzen“. (Foto: WDR/Melanie Grande)

Soso. Ein Schwabe also. Christoph Sieber (51), geboren in Balingen (etwa auf halbem Wege zwischen Stuttgart und Bodensee), fungiert nun als neuer Gastgeber der WDR-„Mitternachtsspitzen“. Als lediglich reingeschmeckter Rheinländer mit Wohnsitz in Köln.

Die altvertraute Kabarett-Comedy-Mixtur, ab jetzt also ohne den gewohnten, bei allem kritischen Sinn immer noch irgendwie „gemütlichen“ und menschenfreundlichen Colonia-Tonfall von Jürgen Becker, ohne Herbert Knebels ruhrischen Zungenschlag („Boah ey, glaubsse…“) und ohne die dröhnend entnervten Schlussmonologe von Wilfried Schmickler. Und da soll man sich gleich heimisch fühlen? Der Mensch braucht doch auch in solchen Dingen seine Rituale.

Zweimal gab’s Anspielungen darauf, dass Sieber und/oder die Zuschauer mit seinem neuen Job womöglich fremdeln könnten. Anfangs wollte so eine groteske Möhre den hierorts Unbekannten gar nicht erst in den Kölner Wartesaal ‚reinlassen. Später hatte er (als coronabedingt beschäftigungsloses Funkenmariechen) erst einmal ordentlich kölsche Tön‘ zu lernen. Tja.

Und was gab’s sonst?

Die beiden Schweinepuppen von Michael Hatzius nervten schon jetzt, bei ihren Debüt; besonders, wenn das Wildschweinchen Torsten unentwegt stotterte und einzelne Worte fast gar nicht herausbrachte. Mit bestenfalls durchwachsener, brav abgespulter „Ach Was!“-Komik wartete Philip Simon auf, der Scherzvorlagen wie den Vergleich zwischen US-Wahlen und Bundesliga zum x-ten Mal nachkaute. Wie Trump es gerne gehabt hätte, so auch Bayern München: Sobald sie führen, soll das Spiel vorbei sein.

Christian Ehring plauderte recht nett über das gepflegte Mittelmaß des Armin Laschet, die eher humorfrei wirkende Sarah Bosetti lieferte mal wieder 1 a politisch korrekte Minuten ab (diesmal über den mehr als latenten Rassismus in der unsäglichen WDR-Talkshow „Die letzte Instanz“). Sie drückte dabei weit offen stehende Türen ein.

Darstellerisch gleich doppelt hervorstechend: Susanne Pätzold als tief in seinem Machtwillen gekränkter Friedrich Merz auf der Couch des Psychiaters (einer Echsenpuppe, wiederum geführt von Michael Hatzius) und final im „Homeschooling“-Musical à la „Abba“. Das hatte echten Schwung.

Christoph Sieber (re.) mit Helge Schneider und dessen Sohn Charly. (Foto: WDR/Melanie Grande)

Bekanntester Gast war Helge Schneider mit einem Song über jenen „Boss“, der seinem geknechteten Mitarbeiter so gut wie nix bezahlt, denn – so die diabolisch vorgetragene Ansage: „Ich will reich werden!“ Am Schlagzeug saß übrigens Helges offenbar hochtalentierter Sohn Charly. Von wem er die Begabung wohl hat?

In seinen Überleitungen rechnete Christoph Sieber mit Figuren wie Verkehrsminister Scheuer oder Kardinal Woelki ab – wahrlich zwei Watschenmänner, wie sie zu Recht im Musterbuche aller Witzbolde stehen. Unfassbares legte Siebers knappes Aufklärungsstück über NSU-Morde und Verfassungsschutz bloß, es hätte auch gut in „Die Anstalt“ (ZDF) gepasst. Dort hatte Sieber ja schon einige Auftritte.

Kurzum: Die etwas zusammenhanglose Nummernrevue hatte zum Auftakt vereinzelt passable, doch selten wirklich starke Elemente zu bieten. Hinderlich wirkt sich freilich aus, dass man sich nach wie vor nicht vor Live-Publikum entfalten kann. Da kommt einfach keine Saalstimmung auf, es fehlt die Rückkopplung, die die Leute auf der Bühne beflügeln könnte. Auch Becker, Knebel und Schmickler hatten zum Schluss ihrer Ära mit diesem Manko ihre liebe Not.

Vorläufiges Fazit:  Sieber und seine Gäste werden sich warmspielen und es sicherlich bald noch etwas besser machen. Am liebsten demnächst mit leibhaftig anwesendem Publikum, und sei’s auch erst einmal reduziert.




Deutsche Depressionen – Durs Grünbeins geschichtliche Sondierungen „Jenseits der Literatur“

Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der Gegenwart. Für sein vielfältiges Werk aus Lyrik und Essays, Tagebüchern, Übersetzungen und autobiographischer Prosa hat er den Büchner-, den Hölderlin-, den Nietzsche-Preis bekommen. Sein neues Buch heißt „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Genau genommen sind es die „Lord Weidenfeld Lectures“, ins Leben gerufen vom Journalisten, Verleger und Diplomaten George Weidenfeld, dem großen Briten mit österreichisch-jüdischen Wurzeln, einem Brückenbauer über nationale, politische und religiöse Grenzen hinweg.

Eingeladen wurden und werden Geisteswissenschaftler und Schriftsteller: Umberto Eco, Amos Oz, Mario Vargas Llosa, und jetzt Durs Grünbein. Eine passende Wahl: Denn auch Grünbein ist ein notorischer Brückenbauer, er kennt keine künstlerischen Grenzen, seine Dichtung kreist immer um Poesie und Politik, Literatur und Philosophie. In den Vorlesungen versucht er allem, was sein Denken und sein Leben ausmacht, was sein Schreiben bestimmt und ihn mit den politischen Verwerfungen und historischen Bewusstseinsströmen verbindet, auf den Grund zu kommen.

Vom Verstummen, Vergessen und Verdrängen

„Jenseits der Literatur“ ist etwas, was alles Schreiben infrage stellen und unmöglich machen kann, was uns verstummen und verzweifeln lässt, uns belastet und bedrängt, was wir aber erinnern und bearbeiten müssen, um frei atmen, denken und schreiben zu können: Es ist die Erfahrung, Teil eines Geschichtsprozesses zu sein, einer Nation, einer Sprache, einer Familie, die das Denken beeinflusst und die Sicht auf die Welt bestimmt.

„Jenseits der Literatur“ liegen Verstummen, Vergessen, Verdrängen der jüngeren deutschen Geschichte: die Verbrechen des Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust, das Stalin-Trauma der DDR, der Opportunismus der Mitläufer, die Unfähigkeit zu trauern, die Nachwirkung von Propaganda, Manipulation und Gehirnwäsche, die sich wie eine Grabplatte über die deutsche Geschichte gelegt hat und bis heute die deutsche Gegenwart verdunkelt. „Jenseits der Literatur“ sind die „Abgründe der Geschichte“, vor denen es einen graust. Aber es gilt, das Vergessene auszugraben und sich von den Schwindelgefühlen der Geschichte zu befreien. Denn, da ist sich Grünbein sicher, „es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt“, es ist die Literatur „als Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem“.

„Eine violette Briefmarke“ als Ausgangspunkt

Grünbein taucht hinab in seine Kindheitserinnerungen, macht eine „violette Briefmarke“ zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Er findet sie beim Stöbern in einem alten Album, die „violette Briefmarke“ zeigt den Kopf von Adolf Hitler, und Grünbein verfällt sofort in eine von Scham und Schuld belastete „Erinnerungs-Depression“. Schon als Kind in der DDR ahnte er, dass Briefmarken von diesem Dämon, der mit einem Bilder-Verbot und einem Tabu belegt war, etwas Verbotenes und Ungeheuerliches waren. In einem Akt der Teufelsaustreibung hatte er sie deshalb verkehrt herum, kopfüber ins Album sortiert.

Als er zufällig im Haus seiner Großeltern auf ein vergilbtes Exemplar von „Mein Kampf“ stößt, ahnt er, etwas Obszönes und Verbotenes in den Händen zu halten, etwas, worüber er auf keinen Fall reden darf. Dieses Verstecken, Verdrängen, Vergessen, von seinen Eltern und Großeltern auf ihn, den Jungen aus Dresden, übertragen, dient ihm heute dazu, über die gesellschaftliche Amnesie nachzudenken, über die Mechanismen der Inszenierung von Macht und die Manipulation der Massen, über die Rumpelkammer der deutschen Geschichte, in die er gefallen ist wie einst Alice in den Kaninchenbau des Wunderlandes.

Von der „violetten Briefmarke“, die früher von allen Deutschen – in einem Akt erotischer Symbiose mit dem politischen System – angeleckt, auf Postkarten geklebt, an die Front und in die Vernichtungslager geschickt wurde, ist die Unruhe ausgegangen, die Grünbein bis heute verfolgt: „Ich werde das dumpfe Gefühl nicht los“, schreibt er, „daß sie auch in Zukunft hier und da noch meinen Weg kreuzen wird.“

„Keiner springt aus der historischen Zeit…“

Grünbein bohrt historisch tiefer und holt empor, was bis heute als Gespenst durch die Geschichte geistert und den Traum von Rechtspopulisten beherrscht, was rückwärts gewandte Visionen ausmacht, regressive Fantasien, aggressive Massenbewegungen, die von einem Unbehagen an der Kultur und einer Verklärung der Vergangenheit gespeist werden. Um die Anhänger von „Retropia“ zu verstehen, reist Grünbein in die faschistische Vergangenheit, fährt über Hitlers Autobahnen, deren Bau als „heroische Arbeitsschlacht“ inszeniert wurde und zur Militarisierung der Gesellschaft diente. Er steigt in den Himmel, um den „Luftkrieg der Bilder“ zu beschreiben, den von Deutschland angezettelten Bombenkrieg, die totale Zerstörung.

Schließlich landet Grünbein bei seiner Kindheit in Dresden, als auf dem Weg zur Schule ein russischer Militär-Konvoi an ihm vorbei donnert und ihm das erste Mal dämmert, in was er da hineingeboren wurde. „Keiner springt aus der historischen Zeit, niemand entzieht sich der Formung durch Geschichte“, schreibt Durs Grünbein und beendet seinen Versuch, die Welt mit eigenen, poetischen Augen zu sehen, mit Worten von Ingeborg Bachmann: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“

Durs Grünbein: „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 168 Seiten, 24 Euro.




Goethe-Institut: Corona-Probleme und Abkehr vom bloßen Kulturexport

Warum nicht dabei sein, wenn die Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts schon per Livestream gesendet wird? Sonst hat man sich gegen Jahresende stets in Berlin versammelt, die Anreise aus dem Revier war gar zu aufwendig. Aber so, wenn das Ganze frei Haus aus der Münchner Goethe-Zentrale kommt? Na, klar. Doch hat es sich auch gelohnt?

Neue Präsidentin des Goethe-Instituts: Carola Lentz. (Foto: Goethe-Institut/Loredana La Rocca)

Wie man’s nimmt. Es war eine jener Pressekonferenzen, die oft und gern mit der Formel „…zog positive Bilanz“ überschrieben werden. Doch eigentlich stimmt das diesmal nur sehr bedingt, denn selbstverständlich hat auch hier Corona die Agenda diktiert. Und da hat man denn doch zwangsläufig Verluste eingefahren, insbesondere bei den Deutsch-Sprachkursen in aller Welt, die meist keine Präsenzveranstaltungen mehr waren.

Boom der Online-Sprachkurse

Wie Goethe-Generalsekretär Johannes Ebert sagte, wurde im Gegenzug eine exorbitante Steigerung bei den Online-Sprachkursen erzielt. Die Zahl der Teilnehmenden schnellte um rund 500 Prozent  auf etwa 62.000 hoch. Das war wohl nur möglich, weil das Goethe-Institut sehr zeitig eine digitale Strategie verfolgt hatte. Damit wurden die Defizite zwar nicht vollends kompensiert, doch immerhin gemildert: Vom eigens aufgespannten „Rettungsschirm“ über 70 Millionen Euro, den der Bund „wegen Corona“ fürs Goethe-Institut bereitstellte, musste bislang nur ein geringer Teil in Anspruch genommen werden. Dazu muss man wissen, dass das Institut mit seinen 157 Niederlassungen in 98 Ländern etwa ein Drittel seines Jahresbudgets selbst erwirtschaftet, nämlich rund 145 Millionen Euro. Geschäftsführer Rainer Pollack hatte dazu noch viel mehr Zahlenmaterial parat, das wir hier nicht im Detail ausbreiten können.

Weltweite Netzwerke knüpfen

Generalsekretär des Goethe-Instituts: Johannes Ebert. (Foto: Martin Ebert)

Sprachkurse sind nur eine, wenn auch zentrale Aktivität des Goethe-Instituts. Hinzu kommt der allgemeine Kulturaustausch im globalen Maßstab, inbegriffen auch die Bildung von nachhaltigen Netzwerken, die in und nach Pandemie-Zeiten Bestand haben sollen.

Die neue Goethe-Präsidentin Prof. Carola Lentz, die derzeit an einem Buch zur Geschichte des Instituts arbeitet, skizzierte als Leitlinie, dass man zusehends über den bloßen Kulturexport hinausdenke – just in Richtung weltweiter Netzwerke, die auch zivilgesellschaftliche und im weitesten Sinne politische Fragen aufgreifen sollen. Generalsekretär Ebert ergänzte weithin übliche Stichworte wie Diversität und Teilhabe sowie Generalthemen wie Klimawandel, Rassismus und Migration – Signale, wie sie wahrscheinlich in etlichen, doch nicht in allen Partnerländern bereitwillig aufgegriffen werden.

Zuhören wird immer wichtiger

Allgemein gilt, dass man sich nicht nur in anderen Ländern bemerkbar machen will, sondern zunehmend beachten will, was Kulturschaffende und sonstige Bewegungen in all diesen Ländern zu sagen und zu zeigen haben. Zum Kulturexport soll sich also ein Kulturimport gesellen.

Ein beispielhaftes Projekt stellte die live zugeschaltete Anisha Soff vom Goethe-Institut in Nairobi (Kenia) vor. Dort arbeitet man mit einheimischen Künstlerkollektiven seit Jahren Lücken der kenianischen Museen auf, die vor allem entstanden sind, weil „wahnsinnig viele“ (Soff) Objekte aus Kenia in Museen der westlichen Welt gehortet, aber vielfach nie gezeigt werden. Oft sei deshalb nicht einmal klar, was sich überhaupt wo befinde. Erste Schneisen ins Dickicht der Unzugänglichkeit will man mit einer Objekt-Datenbank schlagen, die mittlerweile 32.000 Stücke umfasst. Es wird noch weiter gesammelt, allerdings dürfte sich im Laufe der Zeit immer dringlicher die Frage nach Restitution (Rückgabe an afrikanische Museen) stellen. Kein gänzlich konfliktfreies Thema.

Im nächsten Jahr das 70. Jubiläum

Im nächsten Jahr steht ein bedeutsames Jubiläum an: Am 8. August 2021 jährt sich die Gründung des Goethe-Instituts zum 70. Mal. Man darf wohl annehmen und hoffen, dass dies im angemessenen Rahmen begangen werden kann, wie denn überhaupt der Institutsbetrieb sich ganz allmählich normalisieren dürfte. Auch das Außenministerium, dem das Institut vertraglich verbunden ist, wird sich die Jahrestags-Gelegenheit zur kulturellen Repräsentation mutmaßlich nicht entgehen lassen.

 

 




Digitalisierung, Anfangszeiten, Distanzunterricht – die Mühen der Ebenen in der lokalen Schulpolitik

Hier wissen Schüler und Eltern (hoffentlich) Bescheid: die schulspezifischen Apps Google Classrooom und Untis auf einem iPad-Bildschirm. (Screenshot: BB)

Wenn die Dortmunder Stadtelternschaft (d. h. vor allem: die Schulpflegschaftsvorsitzenden) mit der Schuldezernentin Daniela Schneckenburger (Grüne) eine Videokonferenz abhält, dann kann man schon mal interessiert kiebitzen. Und was soll ich euch sagen: Da lernt man ein wenig die oft zitierten Mühen der Ebenen kennen.

Beim Online-Treff mit rund 40 Leuten ging’s heute Abend wahrlich nicht um den „großen Wurf“, sondern um recht kleinteilige, teilweise ziemlich knifflige Fragen, etwa zur Bildungsgerechtigkeit und zur Digitalisierung der Schulen.

Auf den immer dringlicheren Ruf nach Klassenteilungen, Wechsel- und Distanz-Unterricht in Corona-Zeiten konnte die Schuldezernentin nur ansatzweise eingehen, denn diese Themenbereiche fallen hauptsächlich in die Verantwortung des Landes NRW. Die Gemengelage scheint sehr unübersichtlich zu sein. Da gab es zwar kürzlich einen Landeserlass, der es örtlichen Schulen bzw. Gesundheitsämtern bei entsprechender Infektionslage freistellte, für Distanzunterricht zu sorgen. Dieser Erlass aber wurde wieder zurückgerufen. Daniela Schneckenburger musste bekennen, sich mit der „Distanzlernverordnung“ (man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen) des Landes nicht sonderlich gut auszukennen. Sowohl politisch als auch juristisch ist die Angelegenheit offenbar kompliziert. Wer wollte sich anmaßen, hierin Expertise zu besitzen?

Man sollte doch, man müsste mal…

Anke Staar, Vorsitzende der Stadteltern Dortmund (und auch der Landeselternschaft), sagte, sie habe den Eindruck, auf diesem Felde gehe es oft nicht um die Sache, sondern vielfach um  „parteipolitisches Geplänkel“. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) mache sich dabei schon mal „einen schlanken Fuß“.

Geradezu quälend war sodann das Gespräch über Fragen der Information und Transparenz in der Schulpolitik, sprich: Erreichen die Botschaften aus der Landes- und Kommunalpolitik die Schul- und Klassen-Pflegschaftsvorsitzenden überhaupt in ausreichendem Maße? Als säße man in dieser Frage erst jetzt endlich einmal beisammen, machte Daniela Schneckenburger schwierige Datenschutz-Regelungen geltend. Immerhin einigte man sich darauf, dass es möglich sein müsse, die Elternvertretungen nicht unter privaten Mailadressen, sondern unter neutralen Schuladressen anzuschreiben. Man sollte doch, man müsste mal…

Ein ganzer Schwall von Zahlen

Noch so ein leidiges Thema: die Digitalisierung der Schulen und die Ausstattung mit entsprechenden Geräten – sowohl für (bedürftige) Schüler(innen) als auch fürs Lehrpersonal. Hier zeigte sich Schuldezernentin Schneckenburger präpariert, um jeder etwaigen Kritik am angeblich langsamen Vorgehen der Stadt zu begegnen. Sie wartete mit einem wahren Schwall von Zahlen auf. Wie viele Millionen Euro für diese Zwecke bereitstünden, was davon bereits abgerufen sei, wie viele Tausend Geräte jetzt und demnächst ausgeliefert werden könnten. Und so weiter, und so fort. Wie schnell die Geräte jetzt zur Verfügung stünden, hänge allerdings nicht zuletzt davon ab, „wie schnell die Menschen in China arbeiten.“ Sprach’s – und musste dann flugs erst einmal ihr eigenes iPad ans Stromnetz anschließen, damit der Akku nicht leerlief.

Apropos iPad: Die Stadt Dortmund, finanziell bekanntlich nicht gerade auf Rosen gebettet, gönnt sich und ihren Schulen die vergleichsweise teuren Apple-Apparaturen, also vor allem iPads. Familien, die daheim mit Android-Geräten arbeiten, müssen diese folglich selbst einrichten und warten. Ob immer alles kompatibel ist, wird sich zeigen. Unklar zudem, ob in weniger begüterten Haushalten überall flächendeckendes WLAN bereitsteht.

Kostspielige iPads per Leihvertrag

Fragen über Fragen: Was geschieht im Falle von Diebstahl oder Beschädigung? Da die Geräte sonst nicht zu vernünftigen Preisen versicherbar sind, werden sie per Leihvertrag ausgegeben. Einrichtung und Wartung übernimmt – bei jedem einzelnen der vielen Tausend iPads – das „Dortmunder Systemhaus“. Ein gar mühseliges und langwieriges Unterfangen. Kein Wunder, dass die meisten Geräte nicht morgen oder übermorgen nutzbar sein werden. Aber die Digitalisierung ist eben nicht erst mit Corona, sondern schon lange vorher verschlafen worden; in ganz Deutschland, beileibe nicht nur in Dortmund.

Schließlich noch die Frage nach einer Entzerrung des Unterrichtsbeginns, um auch die Verkehrsströme zu entlasten. Derzeit wäre es möglich, die Schule zwischen 7.30 und 8.30 beginnen zu lassen. Die Stadt, so Daniela Schneckenburger, habe die Schulen gebeten, entsprechende Möglichkeiten zu sondieren. Eine Weisungsbefugnis habe man indes nicht. Ein neuer Erlass sieht vor, dass der Unterricht künftig sogar zwischen 7 und 9 Uhr anfangen kann. Das mag vernünftig und flexibel klingen, aber Daniela Schneckenburger ließ schon mal etwas Luft heraus: Es könne passieren, dass Familien mit mehreren Kindern und diversen elterlichen Arbeitszeiten sich plötzlich auf drei oder vier verschiedene Anfänge einrichten müssten. So hat eben alles seine Licht- und Schattenseiten.

Wir aber blicken gleichermaßen froh und bang den Weihnachtsferien entgegen – und dem, was danach kommen mag.