Gedenktag von großem Gewicht: Im nächsten Jahr werden wir an die 1918 ausgerufene Weimarer Republik erinnert

Gedenktage gibt es ja mittlerweile in Unmengen, und dank Wikipedia kann man sich für jeden Tag des Jahres ein Gedenken aussuchen. Allerdings sind diese Anlässe nicht alle in ihrer Bedeutung gleichwertig, und deshalb ist ihre historische und faktische Einordnung auch die Aufgabe guten Journalismus‘.

Grabmal der beiden 1920 im Kapp-Putsch erschossenen Männer aus Ennepetal. (Foto Pöpsel)

In diesem Jahr sind besonders drei historische Ereignisse hervorzuheben, weil sie nachhaltige Auswirkungen hatten. Das ist zum einen Martin Luthers Anti-Papst-Handlung vor 500 Jahren, die inzwischen fast bis zum Überdruss erörtert wurde.

Das Zweite Ereignis von Bedeutung war vor hundert Jahren, im Sommer 1917, der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg und damit die Wende zur endgültigen Niederlage der deutschen Reichswehr.

Als Drittes muss man die Oktoberrevolution 1917 in Russland nennen, die letztlich in der mörderischen Stalin-Diktatur endete und in deren Folge später die DDR entstand – ein erst 1989 überwundener undemokratischer Polizeistaat.

Und wo bleibt das Positive? Das kommt bestimmt im nächsten Jahr, denn dann können wir den Beginn der ersten echten Demokratie auf deutschem Boden vor einhundert Jahren feiern, die von den Sozialdemokraten am 9. November 1918 ausgerufene Republik, die später wegen des Tagungsortes des Parlaments „Weimarer Republik“ genannt wurde.

Die SPD bereitet sich auf Bundesebene bereits auf das Jubiläum vor – schließlich spielte sie damals die Hauptrolle, und ihr Vertreter Friedrich Ebert wurde der erste Reichspräsident.

Auch auf regionaler Ebene gibt es historische Forschungen, zum Beispiel über das Wirken der Arbeiter- und Soldatenräte, die sich im Laufe der Novemberrevolution bildeten und die Anfang 1919 gewaltsam ausgeschaltet wurden.

In Großstädten wie Dortmund bestimmten die Räte wochenlang das öffentliche Wirken, in Kleingemeinden findet man nur Randnotizen über ihre Arbeit. Im Protokollbuch der Gemeindevertretung Milspe zum Beispiel, heute Teil der Stadt Ennepetal, gibt es nur einmal eine Eintragung vom 18. November 1918, als neben den Gemeindevertretern auch der spätere Reichstagsabgeordnete Walter Öttinghaus „als Arbeiter- und Soldatenrat“ das Sitzungsprotokoll mit unterschrieb.

Die neue demokratische Republik war natürlich gefährdet, und als im März 1920 mit dem Kapp-Putsch der Angriff von rechts begann, gab es auch im Ruhrgebiet zahlreiche Tote. Zwei junge Männer aus Milspe, Max Fuchs und Artur Klee, wurden bei Kämpfen mit den Putschisten am Bahnhof in Remscheid erschossen. Die Gemeindevertretung ließ sie in einem Ehrengrab bestatten, und als Rechtsnachfolgerin hat sich auch die Stadt Ennepetal zur weiteren Grabpflege verpflichtet – als sichtbares Zeichen für eine Demokratie, die mit der Ausrufung der Republik in Berlin vor beinahe 100 Jahren begann und die mit der NS-Diktatur schon 1933 ihr Ende fand.




Zum 40. Todestag des Idols – Vom Erwachen eines Elvis-Fans im Ruhrgebiet

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über den Tod eines Idols vor 40 Jahren:

An jenem denkwürdigen Abend hatte ich lange vor dem Fernseher gesessen, bis zu den Spätnachrichten, die damals ausschließlich aus stummen Schrifttafeln bestanden. Auf einer davon war zu lesen: Elvis Presley, der King of Rock ‘n‘ Roll, ist tot. Anschließend einige dürre Lebensdaten. Ich war wie vom Schlag gerührt. Immerhin war Elvis in meiner Kindheit und Jugend mein absolutes Idol gewesen (mit dem Tophit: Jailhouse Rock).

Nach der ersten Überraschung schob sich jedoch ein gänzlich anderer Gedanke in mein Hirn: Wenn Du jetzt ganz schnell bist, könntest Du der Erste sein, der nach dem Tod von Elvis ein brandneues Buch herausbringt, das ihn zum Thema hat. Ich schrieb damals gerade an der Erzählung „Das erste Erwachen eines Elvis-Fans“.

Der Text war allerdings noch nicht weit gediehen. Doch dann bekam ich Gewissensbisse: Würde ich durch diese hastige Schreiberei den Tod von Elvis nicht schändlich für schlichte und ekelhaft profane Zwecke ausnutzen, würde ich mich mit so einer schnell rausgehauenen Erzählung, nur, um anderen zuvorzukommen, nicht an Elvis versündigen? Ich hatte ein sehr schlechtes Gefühl dabei, als würde ich mit so einem übereilten Text auch meine Hochachtung vor Elvis verraten.

Kurzum: Ich habe die Erzählung in aller Ruhe weitergeschrieben, mit Erinnerungen an die 1950er Jahre, an die Kirmes in Bottrop, Halbstarken-Kloppereien und Rock ‘n‘ Roll an der ratternden Raupe. Und fühlte mich moralisch auf der besseren Seite, als kurz nach der Todesnachricht – wie zu erwarten – die Elvis-Erinnerungsbücher den Markt fluteten. Ich jedenfalls hatte mich an diesem kommerziellen Hokuspokus nicht beteiligt!

Die ganze Geschichte nahm später ein unerwartetes, erfreuliches Ende. Die Erzählung vom „Erwachen eines Elvis-Fans“ wurde zunächst von Biby Wintjes in seinem Bottroper Info-Zentrum veröffentlicht. Dort entdeckte sie Carl-Ludwig Reichert, ein Münchner Autor, der gerade eine Anthologie „Fans, Bands, Gangs“ für den Rowohlt-Verlag vorbereitete. In diesem Sammelband erschien das „Erwachen eines Elvis-Fans“ ungekürzt – und in naturgemäß hoher Auflage.

Im Rowohlt-Verlag! Da war ich, damals ein noch relativ junger Autor, wirklich stolz wie Oskar. Und zu Recht, will ich meinen. – Ich sollte wieder einmal Jailhouse Rock auflegen.

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(Elvis Presley * 8. Januar 1935 in Tupelo/Mississippi
† 16. August 1977 in Memphis/Tennessee).




Mubi, alleskino und realeyz: Drei Kino-Streamingdienste mit cineastischem Ehrgeiz

Seit einigen Wochen schaue ich gelegentlich bei MUBI rein. Das ist ein Kino-Streamingdienst, der deutlich abseits vom Mainstream operiert und vorwiegend Independent-Filme vorhält; zum Teil auch Besonderheiten, die es selbst in manchen Programmkinos schwer hätten.

Wahrlich keine kindgerechte Umgebung - Screenshot aus Peter Nestlers Mülheim-Film von 1964.

Wahrlich keine kindgerechte Umgebung – Screenshots aus Peter Nestlers Mülheim-Film von 1964.

Bevor hier jemand „Schleichwerbung“ grummelt, sei die ebenfalls achtbare direkte Konkurrenz genannt. Bei www.alleskino.de erhält man einen Überblick zum ambitionierten deutschen Filmschaffen, www.realeyz.de ist ein cineastisch kuratierter, international ausgerichteter Auftritt von einigen Graden. Nur gut, dass es diese drei Offerten gibt, die den globalen Riesen Netflix, Amazon, Maxdome etc. wenigstens ein paar filmkünstlerische Statements entgegensetzen. Demnächst wird wohl auch bei uns noch www.sundancenow.com hinzukommen.

Das Prinzip bei www.MUBI.com lautet, stets 30 Filme vorrätig zu halten. Pro Tag kommt einer hinzu – und dafür verschwindet ein anderer, der halt schon 30 Tage lang im Angebot ist. Nach einem Monat hat sich also der ganze temporäre Bestand einmal umgewälzt.

Die Wiederentdeckung des Filmemachers Peter Nestler

In den letzten Tagen hält man die Abonnenten zeitlich etwas knapper. Statt dass pro Tag (wie sonst meist üblich) ein mehr oder weniger abendfüllender Streifen hinzukommt, speisen sie einen mit lauter Viertelstunden-Stückchen ab. Davon könnte man ruhig vier oder fünf auf einen Hieb präsentieren. Warum eigentlich nicht, wenn man schon eine solche Wiederentdeckung im Köcher hat?

Es handelt sich um kurze Dokumentarfilme von Peter Nestler, der schon in den frühen und mittleren 1960er Jahren prägnante Sozialreportagen gedreht hat. Kein Geringerer als Jean-Marie Straub hat Nestler als den wichtigsten Nachkriegs-Filmemacher Deutschlands bezeichnet. Welch ein Ritterschlag!

Nestler hat sich damals in den Armutszonen Griechenlands ebenso umgetan wie im rheinischen Weinbaugebiet. Fast überall dasselbe, freilich je nach Region variierte Grundmuster: ungemein harte Arbeit, arg begrenzter Lohn, Ablenkung und mitunter Betäubung durch gehörige Mengen an Alkohol und Zigaretten.

Das Ruhrgebiet des Jahres 1964

Kein Wunder also, dass der gebürtige Freiburger Nestler auch im Revier unterwegs war. Ein rund viertelstündiger Film ist 1964 in Mülheim/Ruhr entstanden. Und obwohl man jene Lebenswelt teilweise noch selbst erlitten hat, erschrickt man doch zutiefst ob der trostlosen Schwarzweißbilder. Dieser ungeheuer dichte Smog! Da tanzt ein kleines Mädchen im fast undurchdringlichen Nebel und es ist ein berührendes Inbild der Lebensfreude inmitten einer lebensfeindlichen Umgebung.

Typen in einer Revierkneipe - weiterer Screenshot aus Peter Nestlers Mülheim-Film.

Typen in einer Revierkneipe – weiterer Screenshot aus Peter Nestlers Mülheim-Film.

Die Erwachsenen scheinen indes alle kopflos eilig vorüber zu huschen, als wollten sie der Kamera möglichst rasch entgehen – und als gäbe es durchaus Dringlicheres zu besorgen. Was ja wohl auch gewiss der Fall war.

Und immer wieder dieser Nebel, schlimmer als in einer Edgar-Wallace-Verfilmung der späten 50er und frühen 60er Jahre. Dabei gab es in den fraglichen Vierteln nur ganz wenige Autos. Doch die Schwerindustrie stand noch unter Volldampf.

Sodann die vielfach noch vom Krieg und von Nachkriegsentbehrungen gezeichneten Menschentypen, die damals die Gegend prägten. Sehr knorrig und kernig, sozusagen durch und durch rußig, gar nicht „schick“. Und wie bedenkenlos sie gezecht und geraucht haben. Übler als die verpestete Luft ringsum konnte das ja auch schwerlich sein. Seltsam zu denken, dass und wie man sich als Kind in diesem Umfeld bewegt hat.

Wie bitte? Ja, natürlich sollt ihr noch weiterhin fleißig in die Programmkinos gehen. Was für eine Frage! Das Erlebnis im Kino ist durch kein Streaming und durch keinen Beamer zu ersetzen.




„Der war nicht drin!“ – über den Dortmunder Torwart Hans Tilkowski und den umstrittensten Treffer aller Zeiten

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über den legendären Torhüter von Westfalia Herne und Borussia Dortmund:

Untrennbar ist seine Fußballkarriere mit einem einzigen Tor verbunden. „Herr Tilkowski“, rufen ihm bis heute wildfremde Menschen zu, „ich habe da mal eine Frage.“ Und noch im Umdrehen antwortet er: „Der war nicht drin!“ Hans Tilkowski und das Wembley-Tor, er wird es einfach nicht los.

Torwart-Legende Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion "Die Kirsche" - Permission: Wikimedia Commons) - Permission: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Hans_Tilkowski.jpg&action=edit

Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion „Die Kirsche“ – Wikimedia Commons)

1966 hat dieses Tor, das keines war, das WM-Finale entschieden, die Engländer wurden  Weltmeister, Hans Tilkowski blieb die Ehre, Torhüter im Endspiel einer Fußball-Weltmeisterschaft gewesen zu sein.

Vor oder hinter der Torlinie?

Der aserbaidschanische Linienrichter Tofiq Bachramow hat die folgenreiche Entscheidung nach einem Schuss von Geoff Hurst getroffen. Tilkowski hatte den Ball noch mit den  Fingerspitzen berührt und an die Unterkante der Latte gelenkt, von wo er, da ist er sich sicher, auf und nicht hinter die Torlinie tickte. Schiedsrichter Dienst aber folgte der Meinung von Bachramov und erkannte auf Tor. Es war das 3:2 für England und die Entscheidung bei dieser WM. 

Als 2009 die deutsche Fußballnationalmannschaft in einem WM-Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan antreten musste, sind Tilkowski und ich im Vorfeld des Spiels nach Baku gereist. Bachramow war nämlich nicht einfach nur ein Linienrichter, er war später der berühmteste Fußballfunktionär des Landes geworden, er hat den Verband nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion gegründet. Es gibt eine Briefmarke mit seinem Konterfei, nach seinem Tod wurde das Nationalstadion nach ihm benannt und überlebensgroß, in Bronze gegossen, steht sein Denkmal davor.

Eine versöhnliche Rede an den früheren Linienrichter

Der aserbaidschanische Fußballverband und Vertreter der deutschen Industrie wünschten sich vor dem Länderspiel eine versöhnliche Geste. Was lag da näher, als Hans Tilkowski einzuladen? Und wenn es um Werte wie Versöhnung oder soziales Engagement geht, ist Tilkowski immer ansprechbar. Da lebt fort, was er als Kind einer Bergarbeiterfamilie in Dortmund-Husen erfahren hat, Solidarität nämlich und ein tief empfundenes Gerechtigkeitsgefühl.

Vor der versammelten Presse, vor Fernsehen, Funktionären und Regierungsvertretern hat er in Baku, unter dem Bachramow-Denkmal stehend, eine beeindruckende Rede zur Fairness im Sport gehalten. Der erste Satz stand natürlich schon beim Abflug fest: „Der Ball war nicht drin.“ Aber dann wies Tilkowski auf die völkerverbindende Funktion des Fußballs hin, der es immer wieder schaffe, Menschen zusammen zu führen und so seinen Beitrag zu leisten zu einer friedlichen Welt. Zum Schluss hob er den Kopf und  sprach das Denkmal direkt an: „Tofiq, wenn du noch leben würdest, hätten wir garantiert ein schönes Gespräch über Fairplay im Sport.“

Es begann beim Vorortverein SV Husen

Das kam gut an, Tilkowski war ein überzeugender Botschafter des deutschen Fußballs. Trotz solcher Momente, seine Karriere auf das  Wembley-Tor zu reduzieren, ist aber ebenso falsch  wie ungerecht. Beim SV Husen, dem Dortmunder Vorortverein, hat er begonnen, Fußball zu spielen. Ganz nebenbei hat er auch noch geboxt, es waren die beiden Sportarten, die Arbeiterjungen im Ruhrgebiet damals gerne ausübten. Samstags boxen, sonntags Fußball.

Der Fußball war aber doch Tilkowskis große Liebe. Nach der Zwischenstation beim SuS Kaiserau, dem Verein im Schatten der Sportschule, wo er schon als ganz junger Mann in der ersten Mannschaft spielte, wechselte er 1955 zu Westfalia Herne in die Oberliga. Fußballlegende Ernst Kuzorra hätte ihn gerne „auf Schalke“ gesehen, aber Tilkowski hatte die Sorge, an deren Stammtorwart Orzessek nicht vorbeizukommen. Und er wollte vor allem eins, nämlich spielen.

Als Sepp Herberger aufmerksam wurde

Seine Entscheidung erwies sich als goldrichtig, Trainer Fritz Langner vertraute dem jungen Torwart und Westfalia konnte, nicht zuletzt dank seiner tollen Paraden und seines noch besseren Stellungsspiels, jahrelang die Klasse halten. Schnell fiel er Bundestrainer Herberger auf, der Torhüter ohne Showeinlagen liebte, und im April 1957 war es so weit. Beim Länderspiel in Amsterdam, das 2:1 gewonnen wurde, stand der junge Hans Tilkowski zum ersten Mal im Tor der deutschen Nationalmannschaft. Auf insgesamt 39 Einsätze hat er es gebracht und war damit für einige Zeit Rekordnationaltorhüter.

1959 wurde dann zum großen Jahr von Westfalia Herne. Noch vor den Großvereinen Schalke und Borussia Dortmund wurde völlig überraschend die westdeutsche Meisterschaft gewonnen. Bei der darauf folgenden Endrunde zur Deutschen Meisterschaft fehlte den Spielern allerdings die Kraft. Fritz Langner, unsterblich mit der Trainingsanweisung „Ihr fünf spielt jetzt vier gegen drei“, hatte wohl zu hart trainieren lassen.

Funkstille mit dem Bundestrainer

In dieser Zeit stieg Tilkowski zum Stammtorhüter der Nationalmannschaft auf. Er bestritt alle Qualifikationsspiele für die WM 1962 in Chile, beim Turnier selbst aber  erlebte er eine bitterböse Überraschung. Nicht er durfte nämlich spielen, sondern der unerfahrene Wolfgang Fahrian. Vier Jahre vorher hatte Herberger Tilkowski nicht zur WM in Schweden mitgenommen, weil er zu jung sei und zu wenige Länderspiele bestritten hätte. Vier Jahre später war Fahrian noch jünger und hatte noch weniger Länderspiele als Tilkowski 1958 bestritten. Der hat mit dem Bundestrainer danach für einige Zeit kein Wort mehr gewechselt.

Eineinhalb Jahre lang herrschte Funkstille zwischen den beiden, denn Tilkowski hat Stolz und ein bisschen ist er auch ein westfälischer Dickkopf. Er stand in dieser Zeit trotzdem im Blickpunkt des Fußballs. 1964, mit Einführung der Bundesliga, war er  zu Borussia Dortmund gewechselt und lieferte mit dem Verein glanzvolle Spiele im Europapokal, vor allem gegen Titelverteidiger Benfica Lissabon.

1966 Europapokalsieger mit dem BVB

Tilkowski hielt in diesen Spielen, was zu halten war und immer auch ein bisschen mehr. Sogar  in eine Europaauswahl wurde er berufen. Schließlich war es Herberger, der ganz gegen seine Gewohnheit nachgab. Ob er ihn mal anrufen dürfe, hat er ihn beim Bankett nach einem Europapokalspiel gefragt. Er durfte und am Neujahrstag 1964 stand Tilkowski wieder im Tor der Nationalmannschaft. Es war aber kein guter Neueinstand, das Spiel gegen Algerien ging mit 0:2 verloren.

Mit Borussia Dortmund feierte Tilkowski weiter Erfolge. 1965 wurde die Mannschaft Pokalsieger und im Jahr darauf gewann sie als erste deutsche Mannschaft einen Europapokal, den der Pokalsieger. Nach Libudas sagenhaftem Heber aus vierzig Metern wurde Liverpool in Glasgow mit 2:1 geschlagen.

Die deutsche Meisterschaft hätte die Mannschaft  auch gewinnen können. Trainer „Fischken“ Multhaup wollte den Feiern aus dem Wege gehen und die Mannschaft für die letzten Bundesligaspiele abseits vom Trubel in aller Ruhe vorbereiten, aber das ließ sich in Dortmund, das im Freudentaumel lag,  nicht durchsetzen. Nach vielen Feiern gingen die letzten drei Spiele allesamt verloren,  1860 München überflügelte im letzten Moment die Borussia und wurde Deutscher Meister. So blieb Tilkowski, 1965 Fußballer des Jahres, der Meistertitel verwehrt.

Zwei Jahre spielte er noch bei Eintracht Frankfurt, dann begann er eine Karriere als Trainer. Werder Bremen, der 1. FC Nürnberg, auch AEK Athen waren u.a. seine Wirkungsstätten.

Soziales Engagement – vor allem für Kinder

Danach engagierte sich Tilkowski für Sozialprojekte, für das Friedensdorf in Oberhausen zum Beispiel, wo in Kriegen verwundete Kinder operiert und wieder  gesund gepflegt werden. Er sammelte Geld für Aktionen der Unicef, für leukämiekranke Kinder und vieles mehr. Eine Hauptschule in Herne, wo er noch immer wohnt, ist  nach ihm benannt worden. Natürlich sorgte Tilkowski dafür, dass diese  Multikulti-Schule einen Bolzplatz bekam, getreu seinem Motto, dass der Fußball über alle Unterschiede hinweg Gemeinschaft stiftet.

Neuerdings ist er Botschafter für den westfälischen Fußball-  und Leichtathletikverband und weist beharrlich daraufhin, dass Westfalen und das Ruhrgebiet viel zu bieten haben, auch im Sport. Er muss in dieser Eigenschaft oft in die Sportschule Kaiserau, wo er als junger Spieler unter Leitung von Dettmar Cramer seine Torwartausbildung erfuhr und wo inzwischen ein Neubau nach ihm benannt wurde. So schließt sich bei ihm, der immer wieder gerne nach Kaiserau zurückkommt, der Kreis.

Auch mit 82 noch drahtig und rege

Skandale sind Tilkowski fremd. Er ist noch immer mit seiner Frau Luise, mit der er drei Kinder hat, verheiratet.

Am 12. Juli wurde er, der noch immer regelmäßiger Tribünenbesucher bei den BVB-Heimspielen ist, 82 Jahre alt. Wer diesen drahtigen, geistig regen und immer, wenn es um eine gerechte Sache geht, streitbaren Mann sieht, wird ihm das Alter kaum abnehmen. Er müsste, denkt man, nur seine Torwartkluft anziehen, dann könnte es wieder losgehen.




Aus der Hammer Wunderkammer – Museum zeigt Querschnitt durch die Sammlung seines Namensgebers Gustav Lübcke

Sie haben am Ende gar nicht mehr genau nachgezählt. Ungefähr 500 Exponate sind jetzt in einem großen Saal des Hammer Gustav-Lübcke-Museums zu sehen. Doch gemach, man schafft das Pensum in ein bis zwei Stunden: Denn zur imposanten Anzahl der Exponate tragen auch etliche Vitrinenobjekte wie Münzen, Kunsthandwerk (Gläser, Keramik) oder kleinteilige archäologische Fundstücke bei. Der Namensgeber des Hauses, Gustav Lübcke (1868-1925), hat nach dem Wunderkammer-Prinzip gar vieles erworben, was dem gehobenen Bürgertum seiner Zeit zusagte. Ein wahres Sammelsurium.

Auch Heiligenfiguren hat Gustav Lübcke gleichsam en gros gesammelt. (Foto: Bernd Berke)

Auch Heiligenfiguren hat Gustav Lübcke gleichsam en gros gesammelt. (Foto: Bernd Berke)

„Hereinspaziert!“ lautet der etwas unbedarft und geradezu circensisch klingende Titel der Ausstellung, die einen historischen Anlass hat: Fast genau 100 Jahre ist es nun her, dass die Stadt Hamm Gustav Lübcke diese denkbar breit gefächerte Kollektion als gesamtes Konvolut abgekauft hat. Im April 1917 wurde der Vertrag aufgesetzt.

Im Gegenzug erhielt der in Düsseldorf ansässige Antiquitätenhändler, der hinfort in seine Geburtsstadt Hamm zurückkehrte, eine lebenslange Jahresrente von 6000 Mark – damals eine passable bis ordentliche Summe. Nach Lübckes Tod erhielt seine 20 Jahre ältere Frau Therese geb. Nüsser (1848-1930) die Rente weiter. Beide hatten sich für Hamm entschieden, weil sie die Sammlung in den Wirren des Ersten Weltkriegs in Düsseldorf stärker bedroht sahen.

Gestrenge Dienstanweisungen 

Praktischerweise ließ sich Lübcke, eigentlich gelernter Buchbinder, 1917 gleich auch zum ersten Direktor der nach Hamm umgezogenen Sammlung ernennen und verfügte, dass ein künftiges Museum seinen Namen tragen solle. Eingangs der jetzigen Rückschau findet sich eine seiner strengen Dienstanweisungen, die zur Wachsamkeit vor Kunstdieben auffordert (auf Menschen mit weiten Mänteln achten!) und die tägliche gründliche Reinigung seines Arbeitsbereichs anordnet. Der Tonfall ist recht barsch und unduldsam. Ob Lübcke ein angenehmer Chef gewesen ist?

Unsigniert und namentlich nicht zuzordnen: filigraner Scherenschnitt "Leichenzug der Tiere". (© Gustav-Lübcke-Museum / Foto: Bernd Berke)

Unsigniert und namentlich nicht zuzuordnen: filigraner Scherenschnitt „Leichenzug der Tiere“. (© Gustav-Lübcke-Museum / Foto: Bernd Berke)

Und was hat der Mann gesammelt? Nun, wie schon angedeutet: alles Mögliche. Neben den stichwortartig erwähnten Beständen zählen beispielsweise auch wertvolle alte Möbel (Truhen, Schränke etc.), Heiligenfiguren und weitere sakrale Kunst, Scherenschnitte, Malerei (Düsseldorfer Schule, niederländische Genrebilder aus der „zweiten Reihe“ des 17. Jahrhunderts), Schnupftabaksdosen, ägyptologische Objekte, koptische (also christliche) Kunst aus Altägypten und kostbare Bücher zum Gesamtumfang, der in die zigtausend Stücke gehen dürfte.

Immer noch keine Inventarlisten

Und so hat sich in all den vielen Jahrzehnten bisher niemand gefunden, der es geschafft hätte, auch nur halbwegs komplette Inventarlisten zu erstellen. Die jetzige Ausstellung, kuratiert von Diana Lenz-Weber, die immerhin ein paar Schneisen durchs Dickicht geschlagen hat, könnte ein Anstoß zur Katalogisierung sein. Erstmals überhaupt befasst man sich so eingehend mit den Hinterlassenschaften Lübckes. Doch um eine präzise Erfassung der Bestände zu bewerkstelligen, bräuchte man mehr Personal, das möglichst eigens dafür eingesetzt wird. Hoffen darf man ja, es kostet nichts.

Tiroler Truhe aus dem 15. Jahrhundert, darüber zwei Gemälde von Adriaen van de Venne (17. Jhdt.). (Foto: Bernd Berke)

Eine mächtige Truhe, darüber zwei Gemälde von Adriaen van de Venne (17. Jhdt.). (Foto: Bernd Berke)

Man wird in dieser Retrospektive keine Sensationen finden, aber doch einen soliden, bewahrenswerten Grundstock, der freilich zu weiten Teilen etwas „altfränkisch“ anmutet. Schon zu seiner Zeit gehörte Gustav Lübcke nicht zu den Leuten mit avantgardistischen Neigungen. Spätimpressionistische Ausläufer sind schon das höchste der Gefühle, Symbolismus und Jugendstil sucht man bereits vergebens. Lübcke hatte mit einem Mann wie Karl Ernst Osthaus, der damals von Hagen aus die neuesten Strömungen aufspürte, praktisch keine Gemeinsamkeiten – außer der westfälischen Herkunft und der schieren Sammelleidenschaft.

Konservativer Geschmack

Gustav Lübcke hat also ausgesprochen konservativ gesammelt. Ein besonders gewichtiges Stück ist z. B. jener mit Geheimfächern ausgestattete, machtvolle Tiroler Büffetschrank im gotischen Stil aus dem 15. Jahrhundert, den Lübcke damals auf einen Wert von 5000 Mark taxiert hat – annähernd seine eigene jährliche Leibrente also.

Auch die liebevoll restaurierten Stoffstücke koptischer Kunst oder allerfeinstens ausgeführte Scherenschnitte („Leichenzug der Tiere“) sind mehr als einen Blick wert. Von kulturgeschichtlichem Interesse sind zudem Gemälde wie die lebensprall-derben Genrebilder eines Adriaen van de Venne („Bauerntanz“), die „Winterlandschaft“ des Anthonie (van) Beerstraaten oder Einzelbeispiele der Düsseldorfer Malerschule. Ansonsten gilt die Devise: Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.

Schätze blieben lange „heimatlos“

Im Vorfeld dieser Ausstellung hat das Museum einige Restaurierungs-Aufträge vergeben können. Doch zugleich zeigte sich, dass manche Stücke höchstwahrscheinlich gar nicht mehr zu retten sind. Einige beklagenswert ramponierte Exponate sind nun – bewusst in einer zerbrochenen Glasvitrine präsentiert – beisammen. Ein Bild des Jammers. Und nebenher eine eindringliche Mahnung zum sorgsamen Umgang mit Kunst und Kunsthandwerk.

Freilich war die Sammlung lange Zeit „heimatlos“ und irrte gleichsam durch diverse, unter konservatorischen Gesichtspunkten ungeeignete Gebäude. Erst 1993 (!) wurde, mit Fertigstellung des jetzigen Museumsbaus, Gustav Lübckes Forderung nach einem eigenen Ort für seine Schätze wahr. Gut Ding will manchmal sehr viel Weile haben.

„Hereinspaziert! 100 Jahre Sammlung Gustav Lübcke“. 16. Juli (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 15. Oktober 2017. Geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro (ermäßigt 2,50 Euro). Kinder bis 15 Jahre freier Eintritt. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel.: 02381 / 17-57 14. www.museum-hamm.de




Künftige Zentrale beim „Hellweger“ in Unna: Ruhr Nachrichten wollen ihre Dortmunder Mantel-Redaktion aufgeben

Nein, so richtig überrascht ist man von einer solchen Nachricht längst nicht mehr. Dazu ist am einst leidlich blühenden Pressestandort Dortmund (in besseren Zeiten: zwei konkurrierende Mantel- und drei Lokalredaktionen) schon zu viel Unbill geschehen.

Titelschriftzug und Werbeslogan der Ruhr Nachrichten (© RN)

Titelschriftzug und Werbeslogan der Ruhr Nachrichten (© RN)

Jetzt, rund viereinhalb Jahre nach der kompletten Schließung der Rundschau-Redaktion (WR), stehen die Zeichen nochmals auf sicherlich Kosten sparenden Umbau, anders gesagt: auf weiteren Schwund.

Wie der in aller Regel gut unterrichtete Bülend Ürük für den renommierten Kress-Report berichtet, wollen die Ruhr Nachrichten (RN) ihre Mantel-Redaktion in Dortmund auflösen und sich noch mehr aufs Lokale konzentrieren. Inzwischen greift auch der WDR das Thema auf.

Da wedelt der Schwanz mit dem Hund

Ganz ehrlich: Der RN-Mantel (also regionale und überregionale Seiten übers Lokale hinaus) war nicht mehr wirklich konkurrenzfähig, die WAZ lag – nicht zuletzt durch ihre Berliner Redaktion – mit Eigenleistungen meistens klar besser im Rennen. Die RN behalfen sich vielfach mit bloßem Agenturmaterial, das eben alle Zeitungen haben.

Ab Oktober, so heißt es im Kress-Report weiter, sollen beim deutlich kleineren RN-Partner „Hellweger Anzeiger“ auch die RN-Mantelseiten entstehen. Da wedelt sozusagen der Schwanz mit dem Hund. Und unversehens wird das kleine Unna, wo der Hellweger Anzeiger erscheint, quasi zur Pressehauptstadt des östlichen Ruhrgebiets, während Dortmund in die zweite Reihe rückt. Ob der Mantelteil dadurch an Qualität gewinnt?

Höhere Verteilungs-Mathematik

Das Ganze soll angeblich ohne Entlassungen vonstatten gehen. Von den (gerade mal) 16 RN-Mantelredakteuren sollen neun auf die Lokalredaktionen verteilt werden. Sechs weitere bleiben laut Kress-Report als überregional ausgerichtete „Content-Agentur“ (branchenüblicher Managersprech) in Dortmund. Rein rechnerisch geht das zwar nicht auf, es bliebe ein Rest von einer Redaktionskraft. Aber es wird vermutlich eine höhere mathematische oder verlegerische Wahrheit dahinter stecken; zumal ja noch drei RN-Leute in die Mantelredaktion des „Hellwegers“ wechseln sollen. Zu hoffen wäre, dass alle ihren tariflichen Status behalten.

Ausnahme für den BVB-lastigen Sportteil

Eher als Ironie könnte man diese Kress-Einschätzung verstehen: „Sportfans können sich aber beruhigen, der Mantelsport, und damit vor allem BVB-Fußball, entsteht weiterhin in Dortmund.“ Wenn man weiß, dass die Ruhr Nachrichten und der BVB eine so genannte „Medienpartnerschaft“ pflegen, die kaum kritische Berichterstattung über den Verein und seine Geschäftsführung zulässt, wird man die Aussicht nicht unbedingt bejubeln. Ex-RN-Sportredakteur Sascha Fligge ist seit einiger Zeit BVB-Pressesprecher, pardon: Mediendirektor. Eine innige Verbindung von Blatt und Ballspielverein also.

Eine vielköpfige Chefredaktion

Ein Ding für sich ist die seit 1. Juli bestehende Chefetage der Ruhr Nachrichten, die eher an Dimensionen der New York Times oder eines DAX-Unternehmens denken lässt und folglich auch mit angloamerikanischen Kürzeln daherkommt. Mit Wolfram Kiwit (CSO), Hermann Beckfeld (CCP), Jens Ostrowski (CCQ) und ab Oktober Moritz Tillmann (CDO) werden sich nicht weniger als vier Chefredakteure mit je eigenen Zuständigkeiten tummeln. Ostrowski hat übrigens als Freier Mitarbeiter der Westfälischen Rundschau (WR) begonnen und seitdem offenbar persönlich goldrichtige Wege eingeschlagen.




Vernetzte Akteure der kulturbasierten Urbanität – ein paar Beispiele für den üblichen Subventions-Abgreifer-Jargon

Nein, man mag ihn manchmal wirklich nicht mehr hören, diesen immerwährenden, nur in Nuancen sich verändernden, angeblich kulturaffinen Subventions-Abgreifer-Jargon. Sollte er etwa spezifisch fürs Ruhrgebiet sein? Oder gibt es ihn so oder ähnlich überall?

Immer hübsch wolkig bleiben...

Immer hübsch wolkig bleiben…

Wenn man ordentlich Fördergeld abzapfen wollte, so müsste man in den Antrag vor allem einige Reizworte einstreuen. Von „Vernetzung“ müsste man schwafeln, über „Akteure“ der Szene psalmodieren. Selbstverständlich müsste auch „Urbanität“ raunend beschworen werden. Zusammensetzungen mit Inter- oder Trans- gehen sowieso immer. Interkulturell, transkulturell, international, transnational, intersexuell, transsexuell. Eigentlich egal. Multi geht natürlich auch. Und bunt sowieso.

Aber bloß nicht konkret werden. Lieber Nebelkerzen werfen. Immer in der umwölkten Schwebe lassen, was man eigentlich will und erstrebt (außer Fördergeld, hoho).

Den Mund so richtig voll nehmen

Vollends entfesselte Euphorie bricht sich Bahn, wenn erst einmal das Zauberwort „Kreativwirtschaft“ gefallen ist. Dann gibt es kein verbales Halten mehr. Dann ist quasi alles erlaubt. Dann darf man den Mund so voll nehmen, wie man will. Hauptsache, es klingt irgendwie cool und jung. Nach Zukunft fürs gebeutelte Ruhrgebiet. Und – naja – irgendwie auch nach „Kultur“, die sich nach solchem Verständnis nicht selten bei nett illuminierten Straßen-, Park- und Quartiersfesten mit anschließendem Feuerwerk manifestiert. Prösterchen!

Doch hören wir mal rein: Richtige Formulierungs-Könner sind beispielsweise beim Projektbündel unter dem Titel „Urbane Künste Ruhr“ am Werk. Wir zitieren ehrfürchtig: „Urbane Künste Ruhr rückt 2017 Utopien in den Fokus und verwandelt den urbanen Raum in eine temporäre Handlungsfläche…“ Fokus – urban – Handlungsfläche… Das klingt zwar schwammig, ist aber beherzt in die Textschublade gegriffen und großzügig ausgestreut. Auch wollen sie nach eigenem Bekunden „Handlungsstrategien für die Bevölkerung vor Ort“ entwickeln. „Vor Ort“ ist immer gut, „Handlungsstrategien“ sind es nicht minder. Fehlen eigentlich nur noch noch Textbausteine, wie sie auch im gar flotten Lokalteil der Zeitung beliebt sind: „Kiez“, „Quartier“, „total lokal“ oder das allgegenwärtige „Umsonst und draußen“. Da ächzt der Kenner.

Dieter Gorny, Großmeister der Zunft

Ein, wenn nicht d e r Großmeister aller eloquenten Subventionsempfänger und vielfach gekrönter König der „Kreativwirtschaft“ ist der umtriebige „Medienmanager, Lobbyist und Musiker“ (Wikipedia) Dieter Gorny, seines Zeichens u. a. Ex-„Viva“-Chef und künstlerischer Ko-Direktor der „Ruhr.2010“, vulgo der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010. Als solcher hat er sich auch nachdrücklich für die Loveparade in Duisburg eingesetzt.

Länger nichts mehr von Gorny (Jahrgang 1953) gehört? Wie man’s nimmt: Im März 2015 wurde er vom seinerzeitigen Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (einst selbst als öffentlich bestallter „Siggi Pop“ unterwegs) zum „Beauftragten für Kreative und Digitale Ökonomie“ erkoren. Damit haben wir nur einen Bruchteil der Ämter und Würden genannt. Nicht zu vergessen: Der Mann firmiert längst als Prof. Dieter Gorny. Früher hätte man solch einen Teufelskerl „Tausendsassa“ genannt. Oder „Hansdampf in allen Gassen“.

...und so undurchsichtig wie Milchglas. (Fotos (2): Bernd Berke)

…und so undurchsichtig wie Milchglas. (Fotos (2): Bernd Berke)

Wer sich mal kriminal über Gornys Treiben aufregen will, muss bei den geschätzten „Ruhrbaronen“ nur mal das Stichwort „Gorny“ eingeben und wird vielfach fündig. Die Barone, die gern schon mal die eine oder andere Kampagne reiten (z. B. mit Stoßrichtung auf Grüne oder Anthroposophen), haben in ihm einen ihrer Lieblingsgegner gefunden…

Selbsternannte Impulsgeber

Uns hingegen geht es natürlich ausschließlich um linguistische Belange. Im Gefolge von Ruhr.2010 wurde Gorny Geschäftsführer einer Institution mit dem geschwollenen Namen „European Centre for Creative Economy“ (ECCE), die auf dem Gelände am Kulturzentrum „Dortmunder U“ residiert.

Auch und vor allem im ECCE-Dunstkreis beherrscht man den erwähnten Subventions-Jargon aus dem Effeff, ja, man hat ihn wohl recht eigentlich mitgeprägt. So versteht man sich laut Homepage als „Impulsgeber für eine kulturbasierte Stadt- und Quartiersentwicklung“. Allein schon das Wort „kulturbasiert“ könnte einen auf die Palme bringen… Einen wirklichen Eigenwert scheint Kultur in solchem Kontext nicht mehr zu haben, sie wird halt für andere Zwecke in Dienst genommen.

Soeben erhalte ich eine einladende E-Mail von „Interkultur Ruhr“, in der lockend von „Partizipation im öffentlichen Raum“ geredet wird. Jaja, auch allerlei Teilhabe kommt immer gut. Im selben Text tauchen ebenfalls mal wieder „urbane Diskurse“ auf. Tja, auch diese Leute verstehen ihr Handwerk bzw. ihr verkleisterndes Sprachdesign, das sich nicht zuletzt aus pseudosoziologischem Funktionärssprech speist.

Auf zur Reparatur ganzer Stadtteile!

Am besten ist es, wenn man der jeweiligen Kommune bzw. der Stiftung oder dem Verband gleich die soziokulturelle Reparatur ganzer Stadtteile in Aussicht stellt. Wer fragt später schon danach, was daraus geworden ist? Es sind allemal Zeichen gesetzt und Impulse gegeben worden. Also Ruhe, ihr Zweifler! Da wird kein Geld verpulvert. Es wird nur verbraucht.

Damit wir uns nicht missverstehen: Es geht hier weniger um Qualität, Sinn oder Unsinn einzelner Vorhaben, es geht um den ranschmeißerischen Jargon, der sich mit automatisch einrastenden Schlüsselworten an Gremien und sonstige „Entscheider“ heranwanzt. Doch wo schon die Sprache verhunzt wird, wächst das Misstrauen in die Sache schnell.

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P.S.: Auch hier, wie schon im Falle des landläufigen Fußball-Jargons, mache ich mich anheischig, nach und nach weitere Beispiele zu sammeln.

Hatten wir schon „nachhaltig“ und „achtsam“? Oder ist das eine andere, sanftere Kategorie?




Die Hauruck-Metropole gibt sich die Ehre: „Stadt der Städte“ – eine neue Image-Kampagne fürs Ruhrgebiet

Da wird der steinreiche Chinese aber staunen und womöglich gleich ein paar Dutzend Milliönchen im „Pott“ investieren. Denn siehe da: Das Ruhrgebiet hat eine neue Werbekampagne mit dem fulminanten Slogan „Stadt der Städte“. Da staunt auch ihr, nicht wahr?

Blick von oben: Bildmotiv der neuen Revier-Kampagne. (© Regionalverband Ruhr/Kai-Uwe Gundlach)

Blick von oben: Bildmotiv der neuen Revier-Kampagne. (© Regionalverband Ruhr/Kai-Uwe Gundlach)

Natürlich haben sich böse, böse Menschen im Netz gleich darüber lustig gemacht. Nun gut: „Stadt der Städte“ hört sich ja auch mal wieder – wie das bei Revierkampagnen öfter mal der Fall ist – etwas geschwollen an; ganz so, als gebe es nichts Größeres auf Erden.

Tja, wer kann sich schon mit uns vergleichen? Frech bis anmaßend tritt die im Auftrag des Regionalverbands Ruhr (RVR) entstandene Kampagne auf und fordert Metropolen wie New York ausdrücklich heraus. Da möchte man am liebsten mit Frank Goosens lakonischem Klassiker „Woanders is‘ auch scheiße“ dagegenhalten. Runterkommen statt abheben.

Formel des Wunschdenkens

Mit sanfter Gewalt sollen die 53 Kommunen in ein begriffliches Korsett gezwängt werden, auch das ist ein altbekannter Impuls. Die Formel „Fünf Mio. Menschen, 53 Städte, 1 Metropole.“ steht – trotz stimmiger Zahlen in den ersten beiden Teilaussagen – irgendwie windschief in der Landschaft, sie zeugt von Wunschdenken. Selbst die WAZ, als publizistischer Platzhirsch sonst für jede Hauruck-Vereinigung des Ruhrgebiets zu haben, sieht sich in der heutigen Ausgabe zu einem „Pro & Contra“ zweier Redakteure genötigt, bei dem zumindest ein wenig Skepsis durchschimmert.

Vor Jahr und Tag wollte das Blatt partout der ganzen Gegend den Namen „Ruhrstadt“ aufdrängen – vergebens. Welcher Bewohner, der bei Trost und kein RVR-Funktionär ist, würde im Alltag von der „Ruhrstadt“ oder auch nur von der „Metropole Ruhr“ reden? Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Übergreifende Projekte wie Emscher-Renaturierung und Fahrrad-Autobahn sind selbstverständlich manche Anstrengung wert. Aber Gemeinsamkeiten müssen erst einmal wachsen und nicht herbeigefaselt werden. Und wir reden hier längst nicht mehr von Stahl- und Bergbaugeschichte.

Zehn Millionen Euro im Werbetopf

Satte zehn Millionen Euro, die vorerst in drei Jahren verpulvert werden sollen, kostet der neue Kampagnen-Spaß, der die Region als besonders innovativ und dynamisch darstellen soll. Über den Auftrag durften sich zwei Werbeagenturen aus Essen und Hamburg freuen. Das Wort „Werbefuzzis“ verkneifen wir uns. Für die eine oder andere Flasche Champagner dürfte es jedenfalls gereicht haben. Nur für Fernsehspots langt das Geld nicht. Statt dessen will man die frohe Botschaft vom modernen Revier vorwiegend in Zeitungsanzeigen und im Internet verbreiten. Gemeine Frage: Was könnte man mit zehn Millionen Euro sonst noch anfangen?

Der Slogan „Stadt der Städte“ (siehe P.S. im Nachspann) zielt, wie schon angedeutet, besonders auf potente Investoren aus aller Welt. Global tritt man als „City of Cities“ auf. Was sie wohl in New York, Shanghai, Tokyo, Bombay oder Rio dazu sagen werden? Und ob sich Investoren durch Slogans locken lassen oder ob sie auf handfeste Kennzahlen achten werden? Mal sehen.

Starkes Stück und kochender Pott

Wir erinnern uns: Es ist beileibe nicht die erste Image-Kampagne fürs Ruhrgebiet. 1985 hieß es „Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland“, ab 1998 folgte „Der Pott kocht“. Zwischendurch gab es auch schon mal völlige Rohrkrepierer. Es wäre interessant zu erfahren, was all diese Bemühungen in den Köpfen tatsächlich bewirkt haben. Ja, is klar, das kann man nicht messen.

Apropos Kampagne. Jüngst hat die WAZ mal wieder in ein solches Horn gestoßen und sie wird wohl nicht ruhen, bis die Sache so oder so durch ist. Nachdem das Weltereignis in diversen anderen deutschen Städten keine Chance hatte, will die Zeitung darauf dringen, Olympische Spiele ins Revier zu holen. Abgesehen davon, dass es oft reichlich dubiose Wege sind, auf denen man an solche Veranstaltungen gelangt (ich will nichts gesagt haben), blendet man auch sonst alle möglichen Begleiterscheinungen (von Doping bis Terror) aus und malt lieber schon jetzt die schönsten Bilder etwa von neuen Verkehrswegen, auf denen nicht nur die Jugend der Welt durchs Ruhrgebiet gleiten soll.

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P.S.: Durch einen mit entsprechenden Links versehenen Newsletter des Journalistenbüros correctiv.org werde ich gerade darauf aufmerksam, dass „Stadt der Städte“ nicht einmal neu ist. Der wahrlich nicht ganz unbekannte Werbemann Michael Schirner hat den Slogan 1996 ausgerechnet für die WAZ verwendet (© Schirner Zang Institute of Art and Media GmbH), auch die WAZ selbst erinnert daran. Gutes kommt eben wieder…




Warum wird eine allseits beliebte Frau ermordet? – Neuer Bierstadt-Krimi „Grappa und die Venusfalle“

Sie opfert sich jeden Tag neu auf für ihre schwer kranke und pflegebedürftige Tochter, diese Martina Schrott, die in Bierstadt jeder kennt und schätzt. Denn auch in öffentlichen Auftritten macht sie sich stark für Menschen mit Handicap und solche, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Doch eines Tages zieht man die Leiche dieser vielen als Vorbild geltenden Frau aus dem Phoenixsee. Nun könnte man meinen, sie sei durch einen Unfall ums Leben gekommen, doch es stellt sich heraus, dass ihre Lunge kein Seewasser, sondern eindeutig Wasser aus einem ihrer viele Hundesalons enthält. Denn mit eben diesem Unternehmen hat sie ihr Geld verdient und sich ein großes Ansehen in der Stadt erworben. Kunden sind mit Service und Qualität der Arbeit mehr als zufrieden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern sich rührend um die kleinen und großen Vierbeiner. Wer aber mag nun ein Motiv haben, eine solche Frau umzubringen?

Reporterin Maria Grappa hat auch in dem neuen Krimi von Gabriella Wollenhaupt den richtigen Spürsinn hat. Wie schon üblich, ist sie mit ihren Recherchen sehr häufig den polizeilichen Ermittlungen einen Schritt voraus. Der Krimi-Autorin gelingt es, einen Spannungsbogen aufzubauen, indem sie ihre Hauptfigur das Image der Wohltäterin in Frage stellen lässt. Dabei spielt der Journalistin Kommissar Zufall gern mal in die Hände, aber häufig sind es auch gezielte Vorgehensweisen, durch die die Reporterin der Wahrheit näherkommt.

Als bekannt wird, dass Martina Schrott noch eine weitere Tochter und einen Ehemann hat, die beiden in Amerika leben, erlebt die gesamte Geschichte eine überraschende wie plötzliche Wendung. Eigentlich meinte man nämlich in Bierstadt ihren Mann zu kennen, denn ein Jakobus Hiller war stets an ihrer Seite. Erstaunt ist man als Leser am Ende dann schon, was sich da im Leben der Familie Schrott alles abgespielt hat und in welchen Kreisen die Angehörigen unterwegs waren.

Aufgrund des lockeren Schreibstils und sehr klarer Handlungsstränge macht die Lektüre Freude, zumal man natürlich wissen möchte, warum denn nun das Opfer umgebracht wurde.

Amüsant sind die Passagen, die Gabriella Wollenhaupt dem Alltag in der Zeitungsredaktion widmet, für die Maria Grappa arbeitet. Die Neubesetzung zentraler Posten sorgt für eine gewisse Unruhe unter den Redakteuren, verbale Sticheleien und Geschacher untereinander sind an der Tagesordnung. Die Beteiligten scheinen damit allerdings gerne und gut zu leben.

Gabriella Wollenhaupt: „Grappa und die Venusfalle“. Grafit Verlag, Dortmund. 218 Seiten, 11 Euro.




„BoBiennale“ – ein neues Festival der Freien Szene

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über den Veranstaltungsreigen des neuen Festivals „BoBiennale“, an dem er selbst teilnimmt:

Das Logo des neuen Festivals. (Screenshot von der Homepage der BoBiennale)

Das Logo des neuen Festivals. (Screenshot von der Homepage der BoBiennale)

Zunächst war ich etwas skeptisch, wie dieses Vorhaben gelingen würde, hatten sich doch zwei Treffen der Freien Szene in Bochum, bei denen ich dabei gewesen war, mehr um die ewig leidigen Finanzfragen denn um konkrete Planungen gedreht. Welch erfreuliche Überraschung nun: Das vielfältige Angebot der BoBiennale, die, wie der Name vermuten lässt, nun alle zwei Jahre stattfinden soll, füllt nicht weniger als 150 Seiten in einem handlichen Programmbuch im Gebetbuchformat.

Die BoBiennale, das erste Festival der Freien Szene, das noch bis zum 18. Juni dauert, umfasst einen beachtenswerten Reigen an Veranstaltungen, der alle Sparten von der Bildenden Kunst bis zur Literatur umfasst. Als man mich vor einiger Zeit fragte, ob ich mitmachen wolle, habe ich gern zugesagt, da mich neue (Kultur-)Initiativen zunächst einmal grundsätzlich interessieren. Und so konnte ich im „Blue Square“ (Stadtmitte) einige Passagen aus meinem jüngsten Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“ vorstellen.

Als besonderes Ereignis, nicht nur für literarisch Interessierte, erwies sich eine Lesung aus der Romantrilogie „Der Meteor“ von Karel Čapek. Angekündigt war Martina Eitner-Acheampong (früher Schauspielhaus Bochum), die Passagen aus Čapeks Hauptwerk rezitieren würde. Doch kam sie nicht allein in die Rottstr5-Kunsthallen. Alan Acheampong am Schlagzeug und die Puppenspielerin Sara Hasenbrink unterstützten sie bei ihrem furiosen Vortrag, der mal erzählend, mal anteilnehmend, mal aufgeregt, den Linien des Romans folgte, der der Vieldeutigkeit der Realität und der Wahrheit nachspürt. Nonne, Hellseher und Dichter spielen darin wichtige Rollen.

Während der Lesung steuerte Alan Acheampong Hintergrundklänge bei, unaufdringlich, genau gesetzt. Zunächst glaubte der Zuschauer, auch Sara Hasenbrink sei nur auf eine dezente Nebenrolle verpflichtet, bis die schwarzgekleidete Frau begann, sich in langsamen Bewegungen den Kopf mit einer schier endlosen Mullbinde zu umwickeln. Die Lesung erhielt dadurch eine seltsam unwirkliche Anmutung. Schließlich verwandelte sich der aufgewickelte Rest des Mullbinde plötzlich zu einem sprechenden Kopf, der der Vorleserin akustisch assistierte: ein geradezu beklemmendes Erlebnis, das die Einsicht von Fidena-Chefin Annette Dabs bestätigte, dass beim Figurentheater aus allem alles werden kann.

Als Höhepunkt der BoBiennale gilt am Fronleichnamstag (Donnerstag, 15. Juni) das Open Air-Programm am Springorum-Radweg.

Infos zur BoBiennale:
http://www.bobiennale.de

Freie Kulturszene Bochum e.V.
c/o Bahnhof Langendreer e.V.
Wallbaumweg 108
44894 Bochum
Tel.: 0177-5403350
kontakt@kultbo.org




Fluchtpunkt Kantpark: Kunst aus Brot und alten Bäumen in Duisburg

Kleiderskulptur von Jana Sterbak im Lehmbruck-Museum. (Foto: es)

Die besten Ideen sind oft geklaut: Zum Beispiel Lady Gagas legendäres Kleid aus Fleisch. Die tschechisch-kanadische Künstlerin Jana Sterbak hatte diesen Einfall schon 1987 mit ihrer Arbeit „Vanitas.Fleischkleid für ein magersüchtiges Albino“.

Inzwischen ist die Robe etwas eingeschrumpelt, aber sie steht im Zentrum der Ausstellung Life-Size mit Werken von Jana Sterbak, die noch bis zum nächsten Wochenende (11. Juni) im Lehmbruck Museum Duisburg zu sehen ist.

Auch die anderen Objekte haben alle etwas mit dem Kult um den Körper zu tun: Stählerne Reifröcke symbolisieren das strikte Reglement, in das Frauen in früheren Zeiten eingezwängt waren – außer man nutzt sie für eine Tanz-Performance, wie das begleitende Video es vormacht. Letzte Dinge spricht das auseinandergezogene Skelett in einer Vitrine an, zum Trost ist es aus Schokolade. Überhaupt verwendet Sterbak am liebsten ganz existenzielle Materialien, sprich Lebensmittel im Wortsinn: Das große Bettgestell hat eine Matratze aus Brot.

Bett mit Matratze aus Brot von Jana Sterbak. (Foto: es)

Freiluftwerkstatt

Ich widerstehe der Versuchung, mich gleich hineinzulegen und wandere bei dem schönen Wetter lieber durch den Kantpark zur cubus Kunsthalle, denn hier wird sogar im Garten Kunst gemacht: Der syrische Bildhauer Mohamad Al Natour hat zurzeit eine Art Freiluftwerkstatt bezogen und schnitzt seine Skulpturen aus Baumresten, die einst der Sturm im Park gefällt hat.

Der Künstler Mohamad Al Natour mit seiner Skulptur im Kantpark. (Foto: es)

Vor anderthalb Jahren kam Al Natour nach Deutschland, lebte in verschiedenen Unterkünften und hat nun eine Wohnung in Duisburg-Ruhrort gefunden. Seine Skulpturen haben oft zwei Gesichter: Die eine Seite zeigt eine ganz verzerrte Visage und stehe für den Hass, erklärt er. Die andere Seite trägt weibliche Züge, eine Frau, die ihr Kind beschützt. Am Baumstamm entlang schlängelt sich eine orientalische Altstadt, von vielen Treppen durchzogen. „Das steht für die Lebensreise“, so der junge Künstler, der selbst schon eine lange Reise hinter sich hat und nun ganz neu anfängt: im Kantpark in Duisburg.

Weitere Infos:
www.lehmbruckmuseum.de
www.cubus-kunsthalle.de




Moers ist ganz woanders – eine Nachlese zum Festival

Mit Sorge sahen langjährige Besucher der Zukunft ihres Festivals entgegen. Im vorigen Jahr waren der Künstlerische Leiter und der Geschäftsführer des Moers Festivals nach Querelen mit den Stadtobersten vorzeitig aus ihren Verträgen ausgestiegen. Es ging um Geld, um einen Anteil der Stadt an dem von vielen Seiten geförderten Festival, aber auch, wie schon öfter in der wechselvollen 45-jährigen Geschichte, um die Vermittlung zwischen den hohen künstlerischen Ansprüchen der Festivalmacher und den Interessen der Stadtbewohner.

Festival-Plakat (© Moers Festival)

Diese begegneten mitunter nie gesehenen Gestalten, von denen manche den Namen ihrer Stadt „Mars“ aussprachen und ihrerseits von einem fremden Planeten, auf dem man ein seltsames Verständnis von Musik hatte, zu stammen schienen. Während der Parkplatz vor der Haustür, eine der verständlichen Hauptsorgen der Anwohner, eher von Fahrzeugen aus Münster, Bonn oder den benachbarten Niederlanden zugestellt war.

From Mars to Moers

„Jemand, der sich schon lange aus dem Jazz verabschiedet hat (…) und der ganz woanders ist“, diese Worte wählte Tim Isfort, der neue Künstlerische Leiter, als er am Samstagabend den Ausnahmekomponisten Anthony Braxton ankündigte. Ganz woanders sein, zumindest für die Dauer von vier Tagen, das möchten auch viele der Moers-Pilger – nicht in einer mittelgroßen Stadt am Niederrhein, sondern auf einem den Kosmos musikalischer Möglichkeiten erkundenden Raumschiff. So treffen seit Anbeginn diejenigen, die Moers als Metapher der Grenzenlosigkeit verstehen, auf Menschen, die ganz konkret hier leben.

Vom neuen Festivalleiter erwarten die Stadtväter nicht mehr und nicht weniger, als die verschiedenen Welten einander näherzubringen. Seinem ersten Programmheft stellt Tim Isfort ein 1978 entstandenes Foto voran, das ihn, auf seinem Bonanzarad stehend, mit seiner Familie am Bretterzaun des Festivals zeigt: Er ist ein Kind der Stadt; hier, ganz nah am jährlichen Festival, ist er aufgewachsen.

Auch Anthony Braxton ist in Moers ein alter Bekannter – in den Jahren von 1974 bis 1978 trat er hier regelmäßig auf – und zugleich ein noch zu entdeckender großer Unbekannter. Braxton schreibt täglich Musik, hat mehr als zweihundert Alben aufgenommen, ist mit Jazz und Neuer Musik gleichermaßen vertraut, kombiniert Notation und Improvisation und ist vor allem ein Freigeist.

Braxton-Projekt so komplex wie Stockhausens „Licht“-Zyklus

Braxtons Opernprojekt mit 36 Teilstücken ließe sich in Dauer und Komplexität mit Stockhausens Zyklus „Licht“ vergleichen. Seine Kompositionen Nr. 169 aus dem Jahr 1992 und Nr. 199 von 1997 aus dem Konvolut „Ghost Trance Music“ wurden am 20. Mai dieses Jahres im Großen Sendesaal des WDR vom Ensemble Musikfabrik in Braxtons Abwesenheit, aber mit seinem langjährigen Mitarbeiter, dem Trompeter Taylor Ho Bynum, als Gastmusiker, der die schwierigen Passagen auch dirigierte, aufgeführt.

Anthony Braxton begeisterte am Samstagabend. (© Moers Festival)

Eingerahmt waren seine Stücke von Werken ähnlich anspruchsvoller Komponisten, Harrison Birtwistle und Richard Barrett. Keine leicht zugängliche Musik, aber wohl wenige Erdenbewohner fassen die Welt so durch und durch musikalisch auf wie der Verfasser des 1.700-seitigen Manifests mit dem Titel Tri-Axium Writings. Entsprechend groß waren die Erwartungen an sein einziges Konzert in Europa in diesem Jahr, und sie wurden nicht enttäuscht.

Anthony Braxton reiste mit dem ZIM Sextet aus den USA an; ein Gastauftritt der Saxophonistin Ingrid Laubrock erweiterte die Formation an diesem Abend zum Septett. Zur Aufführung kam ein hochkomplexes Werk für zwei Harfen, Cello, Tuba, verschiedene Saxophonformen einschließlich des riesigen Kontrabasssaxophons und Klarinetten sowie mehrere Blechblasinstrumente (Trompeten, Posaune, Flügelhorn, Kornett), die Taylor Ho Bynum spielte. Eine Komposition mit Noten und Freiräumen zur Improvisation, zusammengehalten durch ein gestisches System der Verständigung. Ein Konzert der Meisterklasse.

Empfehlung: Swans leise hören

Als Anthony Braxton nach einer kurzen Zugabe seinen Auftritt beendete, bereit, mit einigen Freunden in seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag hineinzufeiern, waren die Swans auf ihrer Abschiedstour soeben aus Barcelona eingetroffen. Trotz längerer Umbaupause und Soundcheck konnte der Auftritt zur angekündigten Uhrzeit 23:11 beginnen (fast alle Anfangszeiten im Programmheft wirkten wie gewürfelt).

Zuvor hatten die Zuhörer ausreichend Gelegenheit, sich mit Ohrstöpseln zu versorgen. Der Schaumstoff in den Ohren ließ das Gewitter aus drei Gitarren, zwei Keyboards und einem unentwegt wirbelnden Schlagzeuger zwar dumpfer, jedoch nicht spürbar leiser klingen. Im Publikum vor der Bühne sah ich eine einzelne Frau ausgelassen tanzen. Vielleicht reagierte sie angemessener auf die in der Lautstärke angelegte physische Destruktion als wir Vorsichtigen in den hinteren Stuhlreihen, die wir uns von den vibrierenden Lehnen den Rücken massieren ließen. Auch der Sänger der Swans arbeitete wie Braxton mit Gesten, aber die seinen dienten weniger der Kommunikation mit den Mitmusikern; er schien vielmehr seine Fans beschwören oder verhexen zu wollen.

Ich verließ die Festivalhölle nach etwa einer halben Stunde und schaffte es, zu Hause im Livestream nicht nur das Ende des Auftritts, sondern auch die während der Autofahrt verpassten Teile nachzuhören – und stellte bei selbstbestimmter Lautstärke fest, es steckten sehr wohl Feinheiten in dem massiv wirkenden Sound, die mir zuvor mit Ohrstöpseln und zusätzlich zugehaltenen Ohren entgangen waren. Swans-Fans werden mich für den wohlmeinenden Rat, ihre Musik in Zimmerlautstärke zu hören, steinigen wollen, denn, wie der Frontman der Gruppe, Michael Gira, im Programmheft zitiert wird, wirke die Musik durch ihre Energie, „seelisch beflügelnd und körperlich zerstörend“.

Kommerzielles Kalkül und künstlerisches Konzept

Diese beiden gegensätzliche Auftritte am Samstagabend – die schnell gespielten kleinen, feinen Töne Anthony Braxtons und die betäubende Lautstärke der Swans – mögen stellvertretend stehen für eine nur allzu auffällige Eigenart des diesjährigen Festivals, die mindestens ebenso sehr kommerzielles Kalkül sein dürfte wie künstlerisches Konzept. Um es in der Sprache von Online-Shops zu sagen: Wer Anthony Braxton mag, dem wird vermutlich auch Miller’s Tale gefallen, das Trio mit der großartigen Pianistin Sylvie Courvoisier aus der Schweiz, dem britischen Saxophonisten Evan Parker, der zuletzt 2012 mit Rocket Science in Moers auftrat, und der Japanerin Ikue Mori an der Elektronik (sie war hier 2013 mit John Zorns „Electric Masada“ zu erleben).

Und wer sich Karten für diese beiden Auftritte kaufen würde, ließe sich sicherlich auch für die beiden Kompositionen „Vogelfrei“ und „Contemporary Chaos Practices“ von Ingrid Laubrock begeistern, die am Pfingstmontag mit dem EOS Kammerorchester Köln aufgeführt wurden, das erste Stück zusätzlich mit zwei Chören, das zweite als Kompositionsauftrag der Kunststiftung NRW eine Welturaufführung.

Verschiedene Schnittmengen im Publikum

Das gleiche Zielpublikum wird auch bereits am Freitagabend dem Auftritt des Streichquartetts um Carolin Pook mit Genuss gelauscht haben, das mit seinem Programm „cosmic string time travel“ auf das New Yorker Powertrio Spacepilot traf. Vier großartige Konzerte für einen bestimmten Teil des Publikums, eventuell auch fünf, wenn man das medidativ-minimalistische Saxophonquartett Battle Trance aus New York hinzunimmt. Bezeichnenderweise fanden diese Konzerte an vier verschiedenen Tagen statt, sodass das Festivalticket die preisgünstigste Option war.

Unmittelbar vor oder nach solchen Höhepunkten standen Musiker auf der Bühne, die eine andere Schnittmenge im Publikum ansprachen. Ich kann mir vorstellen, dass Verehrer der Swans dem Auftritt der belgischen Crust Punks von Cocaine Piss mehr Lustvolles abgewannen als manche Hörer neuer Kammermusik, für die Aurélie Poppins‘ Kreischen geklungen haben könnte, als habe sich die Sängerin einen Finger in der Autotür eingeklemmt, vierzig Minuten lang. Doch freilich schickt der Künstlerische Leiter nicht einfach irgendeine Punkband auf die Bühne. Er brachte die vier Crusties aus Liège mit der dänischen Saxophonistin Mette Rasmussen zusammen, die ihr Instrument so punkgemäß malträtierte, dass beides gut zueinander passte.

Jedem sein eigenes Moers

„Ich bin sicher, dass nach den vier Festivaltagen jeder ‚sein eigenes Moers‘ erlebt haben wird“, schreibt Tim Isfort in der Einleitung des Programmhefts. Die Vielfalt an musikalischen Stilen war auf dem Festival selbstverständlich sehr viel reicher, als die bisher genannten Beispiele vermuten lassen. Da war das Dub Trio aus den USA, das genau die Musik spielte, die der Name der Band versprach. Es waren neue Kostproben aus der Singer-Songwriter-Szene zu hören, von der 21-jährigen Julien Baker in der Kirche St. Josef, oder von Brian Blade, der eigentlich Schlagzeuger ist, aber für sein Projekt Mama Rosa als Sänger mit Gitarre auf die Bühne der Festivalhalle kam, begleitet von fünf Musikern.

Stimmgewaltig und theatralisch präsentierte sich Dorian Wood am Piano, der seine ersten Auftritte in der Gay-Bar-Szene von Los Angeles hatte. Er sang, vielmehr: er performte seine Songs auf Spanisch, Englisch und Bulgarisch, unterstützt von dem sechsköpfigen Ensemble CRUSH, bestehend aus vier Streichinstrumenten, Akkordeon und E-Gitarre. Einen bewegenden Song widmete er den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.

Dorian Wood widmete einen Song den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.
(© Moers Festival)

Und es war auch weiterhin gediegener Altherren-Jazz auf dem Festival vertreten, etwa von der isländischen Formation ADHD oder von The Bad Plus aus den USA.

Dagegen hoben sich erfrischend einige jüngere deutsche, österreichische oder belgische Jazzer ab, das Quartett Philm des Berliner Saxophonisten Philipp Gropper etwa, das Trio De Beren Gieren und nicht zu vergessen: der diesjährige „Improviser in residence“ in Moers, John-Dennis Renken. Mit seiner Gruppe „Tribe“ spielte er unter anderem drei Stücke, die er für seine kleine Tochter geschrieben hat, die am Samstag ihr erstes Konzert besuchte. Eines der Stücke heißt „Quatschkopp“ und klingt ziemlich chaotisch, ein anderes, „Charlie‘s Lullaby“, langsamer und sehr emotional. Dennoch: Charlotte muss ein ganz besonderes Kind sein, wenn es ihr gelingt, zu der Musik ihres Papas einzuschlafen. Moers war, für diejenigen, die lange genug im Saal blieben, ein Wechselbad der Gefühle.

Likembe ekuba und die Bohrmaschine

Zu den temperamentvollsten Auftritten gehörte am späten Sonntagabend die kongolesische Gruppe Radio Kinshasa mit der kraftvollen Sängerin und Trommlerin Huguette Huguembo und dem ausdrucksstarken Sänger und Performer Strombo, der seine Instrumente selbst baut. Sie tragen Namen wie likembe ekuba, clavier mesa oder guitard miliki.

Die beiden und drei weitere afrikanische Perkussionisten/Drummer spielten zusammen mit FM Einheit, alias Frank-Martin Strauß, langjähriges Mitglied der Einstürzenden Neubauten, der seine Instrumente ebenfalls selbst herstellt, meterlange Metallspiralen, die er auf der Bühne mit dem Elektrobohrer bearbeitet, oder ein Blech mit Steinen. Dazu spielte der Tenorsaxophonist und Pianist Pavel Arakelian, der an seinem Wohnort Minsk nicht allein von der Musik leben kann und sich ein Zubrot als Bodybuilder verdient. Der Trompeter Markus Türk vervollständigte den energiegeladenen Auftritt von Radio Kinshasa, der im Programm an der Stelle stand, an der früher die African Dance Nights stattfanden. Die Musik lädt nicht nur ein, sie treibt das Publikum geradezu zum Tanzen.

Ausblick

Viele gute Ideen sind in der kurzen Vorbereitungszeit von nur fünf Monaten realisiert worden, und das bei spürbaren finanziellen Einschnitten, die Tim Isfort auf der Bühne ansprach. Aber auch die eingangs erwähnten Sorgen sind nicht unberechtigt. Freunde des Festivals hoffen, dass Moers keine ähnliche Entwicklung wie das benachbarte Traumzeit-Festival nehmen wird, dessen künstlerische Leitung nach der Trennung von Tim Isfort 2012 vom Festivalbüroleiter der Duisburger Marketing Gesellschaft zusätzlich zur kaufmännischen Leitung übernommen wurde und seitdem mit erheblichen Zugeständnissen an den Mainstream fortgeführt wird. Für dieses Jahr jedenfalls erwies sich die Befürchtung, das Moers Festival könnte zu viele Kompromisse eingehen, als unbegründet. Doch andererseits sollte der Wunsch nach Besonderheit nicht in einem Kuriositätenkabinett sämtlicher Musikstile münden.

Deutlicher noch als Vorgänger Reiner Michalke hat die neue Programmleitung das Festival an verschiedene Spielorte verlagert, in die Innenstadt, in den Park, wo Kunstinstallationen zu sehen waren, ins Festivaldorf; moersify nennt sich eine der Reihen. Auch innerhalb der Festivalhalle sucht Isfort neue Formen, wie die discussions, Sessions, die in einer Art Boxring im unteren Teil der Tribüne stattfanden.

Auf der Startseite des Moers Festivals ist im Newsletter zu lesen, das gesamte Team freue sich sehr darauf, „nächstes Jahr mehr Zeit zu haben für – – – Alles!“ Das lässt hoffen.

Das vollständige Programm kann auf der folgenden Website nachgelesen werden: www.moers-festival.de/programm/programmuebersicht/




Ob Kultur oder Sport: Ohne Holländer geht es nicht! Jetzt wird Peter Bosz aus Amsterdam Trainer in Dortmund…

Soso, nach all den unwürdigen Machenschaften um den achtkantigen und nach meiner Meinung vereinsschädigenden Rauswurf Thomas Tuchels (lest die 5000 möglichen Links bitte bei Gelegenheit nach) bekommt der BVB also einen neuen Trainer. Und nach dem Vorbild gewichtiger Kultureinrichtungen im Revier ist es abermals ein Holländer.

Zur Feier des Tages schwenken wir schon mal niederländische Mini-Flaggen. (Foto: Bernd Berke)

Zur Feier des Tages schwenken wir schon mal niederländische Mini-Flaggen. (Foto: Bernd Berke)

Wie jetzt?

Nun, das Kulturzentrum „Dortmunder U“ hat bekanntlich seit Januar einen Chef aus den Niederlanden. Edwin Jacobs kam aus Utrecht. Und wer leitet seit 2015 die RuhrTriennale? Richtig, es ist der Holländer Johan Simons, der ab 2018 Intendant des Bochumer Schauspielhauses wird. Bei vakanten Posten dieser erstrangigen Güte schweift der suchende Blick also nicht selten aus dem Westen noch weiter westwärts. Nach englischem Vorbild, wo sie auf alles setzen, könnte man nun Wetten auf die künftige Leitung des Dortmunder Konzerthauses abschließen. Kommt er/sie aus den Niederlanden? Ja: Quote 1,5. Nein: Quote 3,5.

Ja, geht es denn überhaupt nicht mehr ohne die Leute aus dem flachen, topfebenen Nachbarland? Ist das jetzt unsere neue Leitkultur? Jedenfalls klingt der Akzent immer recht charmant und aufmunternd. Man weiß es spätestens seit Rudi Carrell.

Seine Oma  hielt zu Schalke

Zurück zum oft so bitteren Ernst des Fußballs. Der neue Mann beim BVB wird nicht nur Boss am Spielfeldrand, er heißt auch ungefähr so: Peter Bosz. Achtet mal drauf, wie oft wir ab sofort mit entsprechenden Wortspielen behelligt werden. Man soll ja auch keine sprachliche Steilvorlage verschenken, sondern beherzt einnetzen. Übrigens: Peter Bosz (Aussprache „Bosch“) spricht sehr gut Deutsch. Wohlfeile Scherze werden sich im Ruhrgebiet darum ranken, dass seine Großmutter angeblich Schalke-Fan gewesen ist.

Mijnheer Bosz (53) kommt von Ajax Amsterdam, wo es zuletzt Konflikte mit dem vielköpfigen Trainerstab gegeben haben soll. Mit dem jungen Team, das er nur für eine einzige Spielzeit betreut hat, ist er immerhin gleich ins Finale der Europa League vorgedrungen, das allerdings deutlich gegen Manchester United verloren wurde. Außerdem hat Bosz mit Ajax den zweiten Rang der höchsten niederländischen Liga („Eredivisie“) erreicht. Wobei zu sagen wäre, dass der dortige Fußball einiges von seinem früheren Glanz eingebüßt hat. An manchen großen Turnieren nimmt Oranje mangels Qualifikationserfolg gar nicht mehr teil, was stets hämische Gesänge deutscher Fans nach sich zieht.

Ein ordentlicher Karriereschritt

Mit dem BVB darf Peter Bosz gleich in der Champions League antreten, der Wechsel bedeutet also einen ordentlichen Karriereschritt für ihn. Er wird als Draufgängertyp beschrieben, als einer, der einen angriffslustigen Hurrastil spielen lasse. Gerühmt wird besonders sein Umgang mit jungen Talenten. Da hat er in Dortmund ein reiches Betätigungsfeld. Eine Aufzählung der Namen erspare ich uns.

Beim BVB erhält er jedenfalls einen Vertrag bis 2019. So war auch sein Vertrag in Amsterdam datiert – ebenso wie Tuchels Vertrag in Dortmund. Aber was sind heutzutage schon Verträge? Man kann die Leute ja notfalls kostspielig herauskaufen oder dito abfinden.

Sollte Bosz eines Tages beim BVB seine Mission (nicht) erfüllt haben, so kann ich euch schon jetzt eine bevorzugte Überschrift auf den Sportseiten nennen: „Der fliegende Holländer“. Jede Wette! So sind sie drauf, die für Leibesübungen zuständigen Redakteure.

Watzke wirkte seltsam verhalten

Auf die offizielle Deutung der Ereignisse haben wir natürlich demütig bis zur Pressekonferenz gewartet, die ab 15:15 Uhr per Livestream bei BVB total übertragen wurde. Ich mag hier keine ferndiagnostische Küchenpsychologie betreiben – und doch: Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke wirkte bei seinem ersten Statement vor den Kameras äußerst verhalten, er rang nach Worten und wirkte nicht gerade froh. Anscheinend haben ihn die letzten Tage mitgenommen. Daraus leiten wir jetzt mal gar nichts ab.

Und Peter Bosz? Versicherte selbstverständlich, dass er den BVB für einen Superverein halte und in einem fast dreistündigen Gespräch mit Watzke und Sportdirektor Michael Zorc überzeugt worden sei, nach Dortmund zu kommen. Und ja: Dem Kartenspiel frönt der offenbar umgängliche Mann gelegentlich auch…

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P.S.: Alle, die seit Tagen vor lauter trunkener Vereinstreue nur noch nach vorn blicken und keinerlei Hergangs- oder gar Gewissenserforschung zulassen mochten, werden jetzt hörbar aufatmen. Nun spricht ja erst einmal keiner mehr über Tuchel.

P.P.S.: Voreiliges Unken ist ebenso unangebracht wie voreiliger Jubel über den neuen Trainer. Peter Bosz soll halt mal schauen und machen. Viel Glück und Erfolg dabei!




BVB feuert Tuchel – und nun wabern die Gerüchte

Es kam, wie es (vielleicht nicht) kommen musste: Der BVB hat am Mittag tatsächlich die Trennung von Trainer Thomas Tuchel vollzogen, das Personal-Gespräch soll gerade mal 21 Minuten gedauert haben. Über diese Fehlentscheidung, die sich seit Tagen und Wochen angedeutet hatte, habe ich mich hier schon gleich nach dem Pokalendspiel echauffiert.

Flüchtiger Moment nach dem Pokalfinale: BVB-Geschäftsführer Watzke (hinten) umarmt Trainer Tuchel. (Vom ARD-Bildschirm abgeknipst)

Flüchtiger Moment nach dem Pokalfinale: BVB-Geschäftsführer Watzke (hinten) umarmt Trainer Tuchel. (Vom ARD-Bildschirm abgeknipst)

Jetzt wabern die Spekulationen. Doch egal, woran es nun letztlich gelegen haben mag, ob halt „die Chemie nicht gestimmt hat“ und ob Tuchel für Watzke & Co. etwa kein guter Kartenspielpartner oder Bierkumpan gewesen ist, wie es hie und da geheißen hat: Die Meinungen bei den Fans sind gespalten, wie nie in den letzten Jahren. Es mutet wie eine Zerreißprobe an. Wenn man sich heute in den so gern zitierten „sozialen Netzwerken“ umtut, liest man, dass sich dort vielfach tiefe Enttäuschung Luft macht. Und man fragt sich, wie das nun alles gekittet werden soll. Der Slogan „Echte Liebe“ wird derweil fast nur noch ironisch zitiert.

Außerhalb von Dortmunder Dunstkreisen schütteln sie eh die Köpfe: Wie kann man nur einen Erfolgstrainer so Knall auf Fall entlassen? Es muss wahrlich triftige Gründe geben, die weit über den zuweilen spröden Charakter Tuchels hinaus reichen.

Das wird ein ziemlich teurer Spaß

Das Ganze wird mit Sicherheit ein ziemlich teurer Spaß: Tuchel wird eine mehr als ordentliche, millionenschwere Abfindung erhalten, weil sein laufender Vertrag nicht erfüllt wird. Auch wird man sich beim Angebot für den Nachfolger nicht lumpen lassen dürfen. Das kommt einiges zusammen.

Doch natürlich hat sich die Geschäftsführung in Person von Hans-Joachim („Aki“) Watzke der breiten Gremien-Unterstützung versichert. Also wird Watzke die nunmehr nötigen Beträge wohl nicht aus eigener Tasche bezahlen (haha, bitterer kleiner Scherz meinerseits). Bin allerdings mal gespannt, wie der BVB-Aktienkurs sich jetzt entwickelt…

Apropos Nachfolger. Da kommen jetzt die wildesten Gerüchte auf. Vom Kölner Coach Peter Stöger ist die Rede, auch vom Frankfurter Trainer Nico Kovac, dessen Team gerade noch Gegner im Pokalfinale war. Lucien Favre (Nizza, vormals Mönchengladbach) ist eh seit Wochen im Gespräch.

Jedenfalls kann sich der neue Mann darauf gefasst machen, dass er mit großen Erwartungen befrachtet wird. Platz zwei in der Liga wäre wohl das Mindeste, was man sich von ihm erhoffen müsste, außerdem eine erstklassige „Performance“ in der Champions League. Falls der künftige Trainer sportlich hinter Tuchel zurückbleibt (der laut „Kicker“-Berechnung im Schnitt aller Spiele die meisten Punkte für den BVB geholt hat – sogar mehr als Klopp oder Hitzfeld), werden viele zu maulen beginnen. Und man kann nur hoffen, dass dann kein Dortmunder Trainer-Karussell angeworfen wird.

In der offiziellen Mitteilung des Vereins heißt es übrigens heute u. a.: „Der BVB legt großen Wert auf die Feststellung, dass es sich bei der Ursache der Trennung keinesfalls um eine Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Personen handelt. Das Wohl des Vereins Borussia Dortmund, den viel mehr als nur der sportliche Erfolg ausmacht, wird grundsätzlich immer wichtiger sein als Einzelpersonen und mögliche Differenzen zwischen diesen.“

Klingt ein wenig nach Kommuniqué aus dem Kreml, nicht wahr? Und die uralte Leier, dass der Verein größer sei als jeder Einzelne? Ach, Sportsfreunde: geschenkt!

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P.S.: Inzwischen hat sich Hans-Joachim Watzke mit einem „Offenen Brief“ an die BVB-Fans gewendet, der Wortlaut findet sich hier. Es müssen ja auch einige Wogen geglättet werden. Ob’s hilft?




Pokal geholt – und jetzt soll Tuchel gehen?

Endlich geschafft! Der BVB hat, nach einigen vergeblichen Endspiel-Anläufen, im Berliner Olympiastadion gegen eine tapfere Eintracht aus Frankfurt den DFB-Pokal errungen. Und jetzt?

Ziemlich gelb: BVB-Triumph im Berliner Olympiastadion. (Vom ARD-Bild abgeknipst)

Ziemlich gelb: BVB-Triumph im Berliner Olympiastadion. (Vom ARD-Bild abgeknipst)

Jetzt wird erst einmal gefeiert. Morgen gibt’s die große schwarzgelbe Jubelorgie in Dortmund – mit Autokorso durch die Innenstadt. Wie sich das gehört. Und wie sie es in München so gar nicht mehr kennen. Dort werden Titel eher achselzuckend zur Kenntnis genommen. Und wehe, es gibt kein Double oder Triple…

Und dann?

Die BVB-Bosse werden doch wohl den Trainer Thomas Tuchel nicht entlassen? Was soll er denn noch abliefern? Letzten Samstag Platz drei in der Bundesliga, der die direkte Qualifikation zur Champions League bedeutet. Heute den DFB-Pokal. Und dabei haben wir die furchtbare Geschichte mit dem Bus und der Bombe gar nicht mal erwähnt. Diese Krise überwunden zu haben…

BVB-Trainer Thomas Tuchel im Moment der Genugtuung. (Vom ARD-Bild abgeknipst)

BVB-Trainer Thomas Tuchel im Moment der Genugtuung. (Vom ARD-Bild abgeknipst)

Und daraus soll man nun die Konsequenz ziehen, den Schweizer Lucien Favre aus Nizza nach Dortmund zu holen? Klingt irgendwie falsch, auch wenn Favre ein guter Trainer sein mag. Doch warum dieser Tage ausgerechnet der einstige BVB-Erfolgscoach Ottmar Hitzfeld für seinen Beinahe-Landsmann Favre plädiert („Favre passt zum BVB“), bleibt sein Geheimnis. Der gebürtige Lörracher, längst nicht mehr im Geschäft, hätte doch einfach mal schweigen können.

Dasselbe gilt für den Mannschaftskapitän Marcel Schmelzer, der offenbar noch gegen Tuchel nachgetreten hat, indem er die Nicht-Aufstellung Nuri Sahins fürs Finale heftig kritisiert und den Trainer dafür verantwortlich gemacht hat. Ach was! Moment mal: Wer stellt ein Team eigentlich auf? Die Fans? Der Kapitän? Oder gar der Trainer?

Um mal etwas weiter unten anzusetzen: Auf Schalke, wo sie in dieser Saison rein gar nichts erreicht haben, hätten sie einem wie Tuchel zu Füßen gelegen. Selbst dort, wo alleweil Chaos herrscht, würden sie ihm also gewiss nicht den Stuhl vor die Tür setzen.

Kurz noch dies notiert: Beim DFB haben sie offensichtlich einen grottenschlechten Geschmack. Was sollten diese golden gewandeten Deko-Miezen zur Pokalübergabe? Was um Himmels Willen sollte der Auftritt von Helene Fischer zur Halbzeitpause? Sofortiges Abschalten für 15 Minuten war das Mindeste.

Und was für ein Schwätzer war bei der ARD zugange? Kommentator Steffen Simon richtet sein Fähnlein – wie üblich – stets minutengenau nach dem Wind. Erst gerierte der Opportunist sich wie ein BVB-Fan, dann zwischenzeitlich wie ein Frankfurter – und schließlich schwenkte er wieder zu den Westfalen über. Schilfrohr am Mikro.




Konjunktur mit Fußballbildchen: Das Wunder in Tüten aus Dortmund und Unna – zur Geschichte des Bergmann-Verlags

Anno 2011 war in den Revierpassagen einmal vom heute längst vergessenen Dortmunder Pinguin-Verlag die Rede. Unser Gastautor Horst Delkus (Kamen) hat dazu noch ein paar Hintergründe und Weiterungen recherchiert. Hier sein Bericht:

Mit Autogramm: Spielerkarte des BVB-Stürmers Siggi Held, Jahrgang 1942, der zu den Europacup-Gewinnern von 1966 gehörte. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Mit Autogramm: Spielerkarte des BVB-Stürmers Siegfried („Siggi“) Held, Jahrgang 1942, der zu den Europacup-Gewinnern von 1966 gehörte. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Für uns Jungs der fünfziger und sechziger Jahre bestand das Wirtschaftswunder vor allem aus Tüten. Wundertüten. Gekauft am Kiosk – „anne Bude“ – für einen Groschen, was damals 10 Pfennig, etwa 5 Cent waren. Diese Tüten waren gefüllt mit buntem Popcorn, Karl May-Figuren, Tieren aus Afrika. Und mit bunten Fußballbildern: Mannschaften im Postkartenformat und Spielerporträts im handlichen Format von 9 mal 6 Zentimetern.

Man konnte die Bilder in Alben einkleben, die „Doppelten“ tauschen, gegen eine Hauswand „schnibbeln“ (wer seine Karte am nächsten an der Wand liegen hatte, hatte gewonnen) und mit Autogrammen veredeln. Welche Anziehungskraft diese bunten Pappbilder damals hatten, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Denn Fußballer kannte man meist nur dem Namen nach. Oder aus dem Stadion. Bilder, zumal in Farbe, waren noch selten.

Boom mit Beginn der Bundesliga

Ihren Boom erlebten die bunten Fußball-Karten mit Beginn der der Bundesliga im Jahr 1963. Beliebt wurden vor allem die Tütenbilder aus dem Bergmann-Verlag. „Der Name Bergmann“, so der „Spiegel“, „steht wie kein anderer für die Fußballbilder der sechziger und siebziger Jahre.“

Rückseite des oben wiedergegebenen Fotos von Siegfried Held. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Rückseite des oben wiedergegebenen Fotos von Siegfried Held. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Gegründet wurde Bergmann-Verlag 1964 in Dortmund. 1967 dann die Verlegung des Unternehmenssitzes nach Unna, 1975 in die Schweiz. Seitdem gab es auch die Kooperation mit Panini, dessen Bilder und Alben bis heute zur Fußball-Fankultur gehören.

Hervorgegangen ist der Bergmann-Verlag aus einem kleinen Dortmunder Kinderbuchproduzenten, dem Pinguin-Verlag am Westenhellweg. Der stellte Bilderbücher her wie „Der Baron Fox von Kolon“, eine italienische Lizenzausgabe. „Unbeholfen gezeichnet und gleich zu Beginn sprachlich fehlerhaft“, wie der Kulturjournalist Bernd Berke an dieser Stelle, nämlich 2011 im Revierpassagen-Blog befand, zudem eine „spindeldürre Geschichte“ von einem bösen Fuchs und einem guten Hasen mit „einer windschiefen politischen Codierung“.

Gegründet hatten den Pinguin-Verlag der Unnaer Heinz Bergmann und seine aus Italien stammende Ehefrau Maria Luisa. Neben Kinderbüchern vertrieb der Verlag seit Beginn der Bundesliga Postkarten mit deren Fußballvereinen.

Böser Fuchs, guter Hase (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

Aus dem Vorläufer-Verlag: böser Fuchs, guter Hase in „Der Baron Fox von Kolon“ (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

1964 erfolgte die Gründung der Bergmann GmbH als Beteiligungsgesellschaft. Mit dieser GmbH als Komplementär gründete das Unternehmerpaar die Bergmann GmbH & Co.KG. Ein Jahr später gründeten sie noch eine dritte Bergmann-Gesellschaft, die Bergmann GmbH & Co.KG Fußballbild-Vertrieb, später Sportbild-Vertrieb.

Aus Pinguin wurde Bergmann

Die Herstellung und den Vertrieb von Fußball-Bildpostkarten übernahm der Bergmann- vom Pinguin Verlag zum 1. Oktober 1964, „nachdem“, heißt es in einem Schreiben an die IHK, „ein Hamburger Verlag gegen die Herausgabe dieser Karten unter dem Namen Pinguin-Verlag protestiert hatte“. Der Pinguin-Verlag hatte bereits im ersten Jahr allein mit den Postkarten einen Umsatz von etwa 100.000 DM erwirtschaftet – bei einem Verkaufspreis von 15 Pfennig.

Legendäre deutsche WM-Siegermannschaft von 1954 als Postkarte aus dem Dortmunder Pinguin-Verlag. (Pinguin-Verlag/Sammlung Delkus)

Legendäre deutsche WM-Siegermannschaft von 1954 als Postkarte aus dem Dortmunder Pinguin-Verlag. (Pinguin-Verlag/Sammlung Delkus)

Bald wurden auch größere Bilder der Bundesligavereine sowie Karten einiger prominenter Fußballspieler vom neuen Verlag hergestellt. Die Kunden des Bergmann-Verlages bestanden anfangs aus großen Waren- und Kaufhäusern, aus Buchhandlungen und Sportvereinen sowie Schreibwaren- und Sportgeschäften, die diese Postkarten und Bilder wiederum an ihre Kundschaft verkauften. Fehlende Postkarten und Bilder konnten Sammler auch direkt über den Versandhandel des Verlages erwerben. Nicht ohne Stolz schrieb Heinz Bergmann: „Wir sind der einzige vom Deutschen Fußball-Bund lizenzierte Verleger, der die farbigen Fußball-Bildkarten herstellt und vertreibt.“ Diese Lizenz stellte sich für Bergmann schon bald als eine Lizenz zum Gelddrucken heraus.

Lukrative Kooperation mit Heinerle

Unscheinbar: das ehemalige Bergmann-Verlagshaus in Unna, Hochstraße 12. (Foto: Horst Delkus)

Unscheinbar: das ehemalige Bergmann-Verlagshaus in Unna, Hochstraße 12. (Foto: Horst Delkus)

Ein weiterer Coup gelang Heinz Bergmann, als er 1965 Hugo Hein aus Bamberg, den Erfinder der Heinerle-Wundertüten, als Kommanditisten an einer seiner drei Gesellschaften, den Sportbild-Vertrieb, beteiligte. Damit war dem Bergmann-Verlag eine neue wichtige Vertriebsschiene für die Fußballbilder gesichert. Die Firma Heinerle selbst hatte bereits seit 1959 diverse Bilder als Beilage in ihren millionenfach verkauften Wundertüten abgesetzt. Mit den Bildern von Bergmann – oder umgekehrt: mit den Wundertüten von Heinerle – gelang bald der Durchbruch auf dem umkämpften Markt der Sammelbilder. Eine Win-win-Situation, wie man heute sagt.

Das erste Bundesligaalbum des Bergmann-Verlages erschien im Jahr 1965: „Bundesliga 65/66“, damals noch mit dem Kultverein Tasmania Berlin. Bis 1984/85 kam dann in jeder Bundesligasaison ein Sammelalbum für jeweils 300 bis 400 Bilder heraus. Dazu gab es Sonderauflagen zum Beispiel zu Weltmeisterschaften. Diese Sammelalben waren neben der exklusiven DFB-Lizenz an den Bildrechten und den Heinerle-Wundertüten die dritte Säule des wirtschaftlichen Erfolges des Bergmann-Verlages. Denn ein Album sollte natürlich voll und möglichst komplett werden.

Sechs VW-Busse für die Auslieferung

Zwei Jahre nach der Gründung, Ende 1966, beschloss Heinz Bergmann, seine Verlagsaktivitäten an seinen Wohnort zu verlegen, nach Unna-Königsborn. Hier wuchs der Verlag weiter, hatte Ende 1967 sechs VW-Busse für die Auslieferung und zwölf Beschäftigte.

Die Produktpalette seines Verlages erweiterte Bergmann ständig. So erschienen Fußball-Postkarten als Reklamebilder. Für Knorr-Suppen zum Beispiel, für Aral und andere. Neben den Sammelalben gab der umtriebige Verleger auch Poster von Mannschaften heraus. Seine Rechte an den bunten Fußballbildern vergab Bergmann ebenfalls an andere Verlage, die die Bilder dann in Lizenz druckten. Auch im Fußballmagazin „Kicker“ erschienen Sammelmarken für Fußballbilder aus dem Bergmann-Verlag. Bergmann schaffte es so, zum Marktführer für Fußball-Sammelbilder zu werden.

Rückseite eines Fußball-Sammelbildes von Helmut Haller - als Werbung für Knorr-Suppen. (Sammlung Delkus)

Rückseite eines Fußball-Sammelbildes von Helmut Haller – als Werbung für Knorr-Suppen. (Sammlung Delkus)

1969 gab Bergmann gar – „mit freundlicher Unterstützung der Schallplatten-Industrie“ – ein erstes Sammelalbum über Musiker heraus, die „Schlager-Star-Parade `69“. Auch diese Bilder waren für 10 Pfennig pro Tüte am Kiosk zu kaufen.

Als die Qualität nachließ

Anfang 1975 erfolgte – aus mir unbekannten Gründen – die Auflösung der Bergmann-Gesellschaften in Unna und die Verlagerung nach Fribourg in der Schweiz – nun als Bergmann AG. Dort brachte der Verlag anstelle der Kartonbilder erstmals selbstklebende Bilder heraus. „Leider“, heißt es, „ließ die Qualität der Bildmotive stark nach. Hatte man sich bis dato mit wenigen Ausnahmen auf Porträts der Spieler beschränkt, bestimmten nunmehr lieblos fotografierte Spielszenenbilder den Eindruck. Noch dazu waren sie grobkörnig und nicht selten auch unscharf.“

…und dann trat Panini auf den Plan

1979 kam es zu einer weiteren entscheidenden Veränderung: Der Bergmann-Verlag gab in diesem Jahr das erste Bundesliga Fußball-Sammelalbum in Kooperation mit Panini heraus. Vermutlich war diese Kooperation mit dem italienischen Sammelbildhersteller der Anfang vom Ende der Eigenständigkeit des Bergmann-Verlages.

Das Aus für den Bergmann-Verlag kam dann 1984. Ironie der Geschichte für einen Verlag mit schwarz-gelben Wurzeln: Nach „80 Jahre Schalke 04“, der Jubiläumsserie für ein Faltposter, kam das Ende. „Neben vielen Spielszenenbildern der Bundesliga-Begegnung „Schalke – Karlsruhe“ aus der Saison 1983/84 umfasst die Serie Spielerporträts, welche der Verlag bereits in früheren Jahren publiziert hatte.“ Danach war es vorbei mit dem Bergmann-Verlag.

Doch Fußballbilder gibt es weiterhin. Auch heute noch sammeln und tauschen viele junge (und inzwischen alte Männer) die Bilder aus Tüten. Wen wundert`s?

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Quellen- und Literaturverzeichnis:

Westfälisches Wirtschaftsarchiv WWA, Dortmund: Signatur K1 Nr. 7841-7843; K1 Nr. 13595-98
Bergmann-Sammelalben 1965 – 1984 bei www.stickerfreak.de
Berke, Bernd: „Pinguin-Verlag in Dortmund? Nie davon gehört!“ in: www.revierpassagen.de vom 29. September 2011
Giesen, Klaus: Sammelbilder in www.sammlerforen.net/showthread.php?t=1243




Vom Alltag einer Arbeiterfamilie zwischen Ruhrgebiet und Sauerland – Martin Beckers Roman „Marschmusik“

Sowohl der Buchtitel „Marschmusik“ als auch das Sujet, nämlich die Geschichte einer Arbeiterfamilie, sind auf den ersten Blick wohl nicht zugkräftig genug, um Leser für einen Roman zu gewinnen.

Marschmusik von Martin Becker

Was hat schon der Alltag von Menschen zu bieten, die erst vom Bergbau und später von anderer Industrie lebten? Eine solche Frage ist zweifellos berechtigt, doch wer einmal mit dem Buch von Martin Becker begonnen hat, der legt es so schnell nicht wieder aus der Hand. Denn der Autor beherrscht die Kunst des Erzählens. Auch wenn er im klassischen Sinn keine Spannungsbögen aufbaut, sorgt er für echten Lesegenuss.

Beckers Hauptdarsteller sind die Mitglieder seiner fünfköpfigen Familie, wobei man in der wichtigsten Nebenrolle noch einen Mann namens Hartmann erwähnen sollte, einen im wahrsten Sinne „Kumpel“ des Vaters. Nachdem die beiden anfangs durch Dick und Dünn gegangen sind, treten aber dann doch die Eigenwilligkeiten Hartmanns immer stärker hervor und schließlich landet er auf der schiefen Bahn.

Doch damit ist das Kapitel dieser Männerfreundschaft noch lange nicht beendet, denn Hartmann findet wieder auf den rechten Weg zurück – zumindest so einigermaßen. Er meldet sich auch wieder bei der Familie des Erzählers. Begeisterung sieht allerdings anders aus.

Ohne nostalgische Verklärung

Dem Verfasser gelingt es nicht nur, ein sehr klares Profil von den Menschen zu zeichnen, die ihn seit der Kindheit umgeben haben, auch die Beschreibungen über die Schufterei in den Tiefen des Bergwerks sind anschaulich, präzise und lebendig. Dabei verfällt Becker keineswegs in Nostalgie und seine Texte sind auch weit davon entfernt, die Bergbau-Ära als die gute alte Zeit zu klassifizieren. Schon die Mühsal der Arbeit spricht dagegen. Dass die Jahre aber durchaus ihre Vorzüge hatten (wirtschaftliche Sicherheit, Zusammenhalt untereinander), schildert Becker ebenfalls.

Ob es nun der Vater schon früh vorhergesehen hat oder die Plackerei ihm doch zu viel war, jedenfalls zieht die Familie nach einigen Jahren in ein Städtchen, das sowohl am Rande des Sauerlands als auch des Ruhrgebiets liegt und einen sicheren Arbeitsplatz zu bieten hat. Hier kauft man sich schließlich auch ein Haus und schlägt Wurzeln, wobei der Erzähler ein vielschichtiges Portrait von seinem Vater vorlegt.

Der Vater ist, wie wohl viele Männer aus der Arbeiterschaft in den 70er und 80er Jahren, zwar ein knorriger und äußerst distanzierter Mensch, der tagein tagaus in einem Metallbetrieb schuftet und keine wirklichen Freunde hat. Doch es lassen sich auch andere Seiten erkennen. Dazu gehört beispielsweise die liebevolle Sorge um die Neugeborenen in der Familie oder ein lockerer Umgang mit dem Sohn, als dieser ins Jugendalter kommt.

Kleinbürgerliche Enge

Der in Plettenberg (Sauerland) aufgewachsene Autor selbst hatte sich derweil schon als Kind in den Kopf gesetzt, ein berühmter Musiker werden zu wollen. Er schließt sich einem Orchester an, das die Art von Musik spielt, die nun im Buchtitel steht. Mit feiner Ironie blickt der Verfasser auf sein eigenes Schaffen zurück und mit ebenso hintersinnigem Humor beschreibt er auch das Leben seiner Eltern und die kleinbürgerliche Enge, die ein Wohnort in dem kleinen Städtchen so mit sich bringt. Ein Einzelfall sei der Ort keineswegs betont der Autor, davon gebe es überall viele.

Martin Becker beobachtet sehr genau, was um ihn herum passiert, damals und heute. Mal schildert er die Fährnisse des Alltags, so wie sich in der Vergangenheit ereignet haben, dann wieder beschreibt er, wie es in heutiger Zeit bei Besuchen im Elternhaus zugeht und blickt dabei zurück in jene längst vergangenen Jahre. Mittlerweile ist der Vater verstorben, die Mutter lebt nun allein. Eines hat sie sich nie abgewöhnt oder auch nicht abgewöhnen wollen. Sie raucht – aus Leidenschaft.

Martin Becker: „Marschmusik“. Roman. Luchterhand, 288 Seiten, 18 Euro.




Alle Medien reden derzeit über die Dortmunder Nordstadt – ist sie ein vitaler Schmelztiegel oder eine No-Go-Area?

1982 war ich in den USA, begleitet von einer hochschwangeren Sozialarbeiterin, die sich in den Kopf gesetzt hatte, die Bronx zu besichtigen. Unser Vermieter fragte sie, ob sie lebensmüde sei und brachte sie davon ab. Das weltberühmte Stadtviertel von New York ist bis heute berüchtigt und Teil des Stadtmarketings.  Auf dem Weg dahin ist die Dortmunder Nordstadt – oder besser: ein Teil der Dortmunder Nordstadt.

Nordstadt-Impression: Bürgerfest am Borsigplatz. (Foto: Rolf Dennemann)

Nordstadt-Impression: Bürgerfest am Borsigplatz. (Foto: Rolf Dennemann)

So könnte man meinen, wenn man all die Artikel in Zeitungen und Magazinen, die Filmdokus und Berichte liest und sieht, jeweils mit den empörten Reaktionen und Kommentaren aus der Anwohnerschaft. „Man schreibt immer über die dunklen Seiten. Dabei ist es hier auch schön. Die günstigen Mieten etc…“

Wo ist es am schlimmsten?

Ja, ja, Schönheit ist Ansichtssache. All die Berichte leben von dieser Situation, vom Schlagwort von der „No-Go-Area“. Dahinter reihen sich andere Stadtviertel und Straßenzüge in Duisburg, Essen, Gelsenkirchen ein. Wo ist es am Schlimmsten? Wär‘ das nicht was für eine RTL-Serie Die 25 miesesten Ecken Deutschlands?

Und seit über 30 Jahren lesen und wissen wir vom Strukturwandel im Ruhrgebiet. Es kann auf den Nerv gehen, denn der Wandel dauert bis zum Sankt Nimmerleinstag und bis dahin wird Kosmetik betrieben. Die Fassaden glänzen, die Grünflächen werden grüner, die Kinderspielplätze mit hohen Sicherheitszäunen in Beruhigungsfarben umbaut, An- und Verkauf florieren, die „Maßnahme“ und die sozialen Einrichtungen sind Hauptarbeitgeber, die Touristengruppen zahlreicher und die Dunkelziffern im Dunkeln größer.

Gelassene Hinnahme der Zustände

Was bleibt, ist die Hinnahme der Zustände, ob böse oder gut, mit Gelassenheit. Andere laufen die Straßen auf und ab, vorbei an rumänisch-bulgarischen Versammlungen von Männern, um den Grund für die eigene Angst zu messen. „Schmelztiegel“ – nennen das einige – „Melting Pot“, um gleich international zu sein. Da kommt so manches zusammen, was nicht gewollt war, aber weitgehend funktioniert. Die Wahrheit ist vielfältig.

Es gibt übrigens weniger Wohnungseinbrüche in der Gegend als in den „Do-Go-Areas“. Es ist der Kiez, den man will. Aber wie wird ein Kiez zu einem Kiez? Da wirbt mitten im sozialen Tohuwabohu ein Café mit einer Biergarteneröffnung mit „Pflanzen- und Tauschbörse, Grillerei, Waffeln, Musik, Hängematten und Urban Gardening, Kuchen etc.“. Na also, geht doch.




Coup fürs „Dortmunder U“: Schau über die legendäre Rockband „Pink Floyd“ kommt aus London

Das ist doch mal eine gelungene Überraschung: Edwin Jacobs, aus Utrecht kommender neuer Chef des „Dortmunder U“ und somit auch des Museums Ostwall, kann bereits den ersten Coup seiner Dortmunder Amtszeit verbuchen; allerdings nicht mit einer klassischen Kunstausstellung, sondern mit einer Schau über die legendäre Rockgruppe „Pink Floyd“.

"Animals" - album cover art, Riger Waters, 1977 (© Pink Floyd Music Ltd. / Victoria and Albert Museum, London)

„Animals“ – album cover art, Roger Waters, 1977 (© Pink Floyd Music Ltd. / Victoria and Albert Museum, London)

Die weltweit erste derartige Retrospektive über die Band startet ihre Tour am kommenden Wochenende im ehrwürdigen Victoria and Albert Museum in London, wo sie vom 13. Mai bis zum 1. Oktober zu sehen sein wird. Der Titel kommt schon gebührend gravitätisch, aber auch ein wenig britisch-ironisch daher: „Pink Floyd: Their Mortal Remains“ („Pink Floyd: Ihre sterblichen Überreste“).

Ab Frühjahr 2018 soll dann Dortmund die einzige Station im deutschsprachigen Raum sein. Schauplatz ist dann die 6. Etage des „Dortmunder U“. Einen weiteren Halt macht die Präsentation in Rom. London – Rom – Dortmund. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen…

Angekündigt wird eine multimediale Reise durch die rund 50-jährige Geschichte der ungemein einflussreichen Band. Im Mittelpunkt steht zwar vorwiegend, aber nicht nur die Musik – mit den Bandmitgliedern, ihren Songs und Instrumenten, Tourneen und Auftritten. Es geht beispielsweise auch um die visuelle Gestaltung der Alben und der Bühnenbilder – und um persönliche Erinnerungsstücke wie etwa Klassenbuch oder Rohrstock aus Kindertagen. Insgesamt soll die Ausstellung die wandelbare Entwicklung von der anfänglichen psychedelischen Phase bis hin zu den kommerziellen Welterfolgen nachzeichnen.

Schon dieses erste Ausrufezeichen des neuen Museumsdirektors deutet an, dass künftig auch populäre Themen ins Haus geholt werden dürften, die das bisherige Spektrum erweitern. Sicherlich hofft man dabei auf ein Publikum, das über die üblichen Kreise der Museumsbesucher hinaus reicht. Es kann ja wirklich nicht schaden, neue Besucherschichten zu erschließen.

Das „Dortmunder U“ könnte dabei zur temporären Pilgerstätte von zahlreichen „Pink Floyd“-Fans werden, die sich vermutlich auch auf weitere Anreisen begeben . Übrigens war es die Dortmunder Westfalenhalle, wo die Band im Februar 1981 mit der gigantischen Show „The Wall“ einen ihrer wohl spektakulärsten Auftritte hatte. Auch 1977 und 1988 gastierte die Gruppe in Dortmund. Manche Leute schwärmen heute noch davon.

Einen Vorgeschmack auf die Londoner Ausstellung kann man sich auf der Internet-Seite des Victoria and Albert Museums verschaffen: https://www.vam.ac.uk/exhibitions/pink-floyd




Neuer Intendant für das Theater Hagen: Was treibt Francis Hüsers dazu, diesen Posten anzustreben?

Gestern Abend war es am Rand eines Konzerts in Hagen zu erfahren: Der neue Intendant des Theaters steht fest. Francis Hüsers, bis 2015 Operndirektor und Stellvertretender Intendant der Staatsoper Hamburg, sei einstimmig gekürt worden, hieß es.

Francis Hüsers (Foto: Jörn Kipping)

Francis Hüsers (Foto: Jörn Kipping)

Kurze Zeit später hatte auch die Westfalenpost eine Meldung auf ihrer Webseite. Die Entscheidung des Rats am 18. Mai dürfte Formsache sein: Niemand wird die Qual der Wahl fortsetzen wollen, die sich in der finanziell schwer gebeutelten Stadt nun schon seit Mitte 2015 hinzieht.

Imposanter Lebenslauf

Der 57-jährige Francis Hüsers, aufgewachsen in Krefeld und Mönchengladbach, hat auf seiner Webseite einen imposanten Lebenslauf aufzuweisen: Dramaturg zwischen Hamburg und Berlin, Zusammenarbeit mit profilierten Regisseuren wie David Alden, Johannes Erath oder Jochen Biganzoli, von 1995 bis 2005 Referent und Künstlerischer Produktionsleiter an der Hamburgischen Staatsoper, dann Leitender Dramaturg und Künstlerischer Produktionsleiter an der Staatsoper Unter den Linden Berlin.

2010 holte ihn Simone Young zurück nach Hamburg und machte ihn zu ihrem Stellvertreter. Derzeit arbeitet Hüsers frei als „Autor, Dozent und Dramaturg für Oper und Musiktheater sowie als Fachberater für Kulturschaffende“. Seine letzten Projekte als Dramaturg: „Tosca“ in Halle in einer – ziemlich missglückten – Regie von Jochen Biganzoli, „Lohengrin“ in Sankt Gallen mit Vincent Boussard, dem Regisseur der von der Kritik nicht eben günstig aufgenommenen Inszenierung von Meyerbeers „Le Prophète“ in Essen, zuvor Korngolds „Die tote Stadt“ an der Oper Graz mit Johannes Erath, ausgezeichnet mit dem Österreichischen Musiktheaterpreis.

Langwieriges Berufungsverfahren

Stellt sich die Frage, was den 1960 geborenen studierten Soziologen, Germanisten und Sozialpädagogen daran reizt, ausgerechnet nach Hagen zu gehen. Denn nicht nur das turbulente Berufungsverfahren stellt der Stadt kein gutes Zeugnis aus: Im April 2016 endete die erste Runde ohne einen geeigneten Kandidaten, nachdem sich das Verfahren seit August 2015 hingeschleppt hatte.

Das Theater Hagen, aufgenommen 2014. Foto: Werner Häußner

Das Theater Hagen, aufgenommen 2014. Foto: Werner Häußner

Der aussichtsreichste Bewerber, Ex-Marketingleiter Jürgen Pottebaum, verzichtete, nachdem ihm offenbar klar geworden war, dass die vorgesehenen Kürzungen des Theaterzuschusses der Stadt von 15 auf 13,5 Millionen Euro ab 2018 nicht zu realisieren seien. Im September 2016 kam Dominique Caron, Leiterin der Eutiner Festspiele in Schleswig-Holstein, als neue Intendantin ins Gespräch. Die Wahl schien perfekt. Aber nach harscher Kritik, unter anderem an ihrem Führungsstil, zog Caron ihre Bewerbung im November 2016 zurück.

Ein Mann für Kürzungen und Einsparungen?

Francis Hüsers wirkt nicht wie ein Theatermann ohne künstlerischen Ehrgeiz. Er wirkt auch nicht wie einer der eiskalt-glatten Kulturmanager oder wie einer jener eilfertigen Liebediener der Politik, die noch jedem versprechen, mit der Hälfte des Geldes des Vorgängers doppelt so gutes Theater zu machen. Seine Hamburger Bilanz liest sich eindrucksvoll, wenn man auch über den künstlerischen Ertrag in einigen Fällen geteilter Meinung sein kann. Sie zeigt Offenheit für neue Werke und für das an den Rand gedrängte Repertoire – eben das, was das Theater Hagen schon vor der Zeit des verdienstvollen scheidenden Intendanten Norbert Hilchenbach über die Region hinaus bekannt gemacht hat.

Umso rätselhafter ist Hüsers Interesse an einem Theater, das bisher schon auf dem Level eines kleineren Stadttheaters arbeiten musste, mit der Absenkung des Zuschusses aber nach jeder seriösen Prognose unter die Deadline eines noch einigermaßen funktionsfähigen Mehrspartenhauses fällt. Hat er’s wirklich so nötig? Oder treibt ihn unstillbarer Ehrgeiz auf den Schleudersitz eines Intendanten, der gezwungen ist, vor allem durch Kürzungen und Einsparungen aufzufallen? Der Mann muss ein Geheimnis haben.

Und so darf man, um die abgestandene Formulierung jedes ratlosen Journalisten zu bemühen, gespannt sein, was er an Lösungen für die Hagener Malaise mitbringt. Glück muss man ihm auf jeden Fall wünschen!




Alles auf Anfang: Wie die Künstlergruppe „junger westen“ im Ruhrgebiet der Nachkriegszeit wirkte

Gruppenbild: "junger westen" mit Thomas Grochowiak (ganz links). (Kunsthalle Recklinghausen)

Gruppenbild: „junger westen“ mit (von links) Thomas Grochowiak, Heinrich Siepmann, Gustav Deppe, Ernst Hermanns und Hans Werdehausen. (Kunsthalle Recklinghausen)

Darüber darf man heute noch staunen: Ab 1947 erlangte die doch relativ kleine Ruhrgebietsstadt Recklinghausen eine Ausnahmestellung in der westdeutschen Kunstwelt. Hier fanden vor 70 Jahren die Protagonisten der alsbald so einflussreichen Künstlergruppe „junger westen“ zusammen, 1948 ließen sie sich ganz ordentlich ins Vereinsregister eintragen.

In jenen frühen Jahren wurde in Recklinghausen zudem ein alter Bunker zur Kunsthalle umgewidmet, der zum zentralen Ort dieser Formation werden sollte. Tatsächlich kamen die Impulse für diese Kulturstätte von den Künstlern selbst. Ein sehr profiliertes Mitglied der Gruppe, Thomas Grochowiak, war (als Nachfolger des 1952 früh verstorbenen Gründungsdirektors Franz Große-Perdekamp) über die Marathonstrecke von 1954 bis 1980 zugleich Leiter der Kunsthalle und der weiteren Städtischen Museen.

Im Revier verwurzelt und geerdet

Der „junge westen“ war eindeutig eine Angelegenheit des Reviers, er war personell und zunächst auch thematisch regional verwurzelt, was seine nationale und später auch internationale Wirkung nicht schmälerte. Jetzt widmet die Recklinghäuser Kunsthalle dieser Gruppierung eine sinnreich und liebevoll gestaltete Überblicks-Schau, die als Ausstellung zu den Ruhrfestspielen firmiert. Mehr Revier-Anmutung geht also kaum.

Ausstellungskatalog der Gruppe aus dem Jahre 1948. (Kunsthalle Recklinghausen)

Ausstellungskatalog der Gruppe aus dem Jahre 1948. (Kunsthalle Recklinghausen)

Der Rückblick auf die Gruppengründung vor 70 Jahren bringt es mit sich, dass sich jetzt sukzessive gleich mehrere Häuser im Ruhrgebiet dem „jungen westen“ widmen: das Märkische Museum (Witten), das Museum DKM in Duisburg, das Kunstmuseum Gelsenkirchen, das Kunstmuseum Mülheim und das Kunstmuseum Bochum steuern je eigene Aspekte bei, auch die Kunstsammlungen der Ruhr-Uni Bochum sind beteiligt. Den institutionellen Rahmen bildet das langfristige Kooperations-Projekt RuhrKunstMuseen.

Die gewichtigste Ausstellung des Gedenkjahres gebührt freilich Recklinghausen, wo allein schon die seit den späten 40er Jahren gewachsenen Eigenbestände eine großzügige Auswahl ermöglichen. Über 30 Leihgeber haben zudem Ergänzungen beigesteuert. Und so kommt es, dass man alle Phasen der Gruppe mit prägnanten Beispielen belegen kann.

Dauerhafter Zusammenhalt

Bemerkenswert dauerhaft, hielt sich der „junge westen“ als gemeinsame Plattform bis etwa 1962 (in dieser Phase endet auch der Fokus der Ausstellung), die entstandenen Freundschaften währten noch viel länger. Nie haben die einzelnen Künstler vergessen, dass sie ihre Werdegänge anfänglich der Gruppe zu verdanken hatten. So etwas gibt es heute praktisch nicht mehr, da waltet eher die von Galeristen und Sammlern entfesselte Marktkonkurrenz.

Thomas Grochowiak: "Scherzo Grazioso" (1948). (Märkisches Museum Witten)

Thomas Grochowiak: „Scherzo Grazioso“ (1948). (Märkisches Museum Witten)

Der Gruppenname „junger westen“ führt etwas in die Irre: Die Mitstreiter waren in der Gründungszeit um oder über 40 Jahre alt, sie hatten wertvolle Lebenszeit im verfluchten Krieg vergeudet.

Im Wesentlichen war es eine Entwicklung von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion, die die einzelnen Künstler, aber auch die Gruppe „junger westen“ insgesamt vollzogen haben. So waren damals die Zeichen der Zeit, die in Recklinghausen nicht nur aufgenommen und gedeutet, sondern teilweise auch aktiv gesetzt wurden.

Die Ausstellung präsentiert das Schaffen der Künstler jeweils in persönlichen Werkblöcken, so dass sich die Entwicklung wie im Zeitraffer nachvollziehen lässt. Zum Kernbestand zählen diese sechs Gruppenmitglieder: Gustav Deppe, Thomas Grochowiak, Heinrich Siepmann, Emil Schumacher, Hans Werdehausen und Ernst Hermanns. Vier weitere treten flankierend hinzu: K. O. Götz (der heute als 103jähriger in Aachen lebt), Georg Meistermann, HAP Grieshaber und Emil Cimiotti.

Ja zur Zukunft mit Atomenergie

Der Blick dieser Künstler im allseits kriegsverwüsteten, buchstäblich ruinösen Land richtete sich entschieden nach vorn, es ging nicht so sehr um die Rehabilitierung als „entartet“ verfemter Künstler. Nein, man erstrebte eine gründliche Inventur, einen Neuanfang. Die Künstler vom „jungen westen“ wollten sich entschlossen einer besseren Zukunft zuwenden, zur Aufbruchsstimmung gehörte übrigens auch eine Bejahung des als friedlich gedachten Atomzeitalters. Keine Bomben mehr, sondern schier unerschöpfliche Energie…

Gustav Deppe: "Hochspannung" (1952). (Kunsthalle Recklinghausen)

Gustav Deppe: „Hochspannung“ (1952). (Kunsthalle Recklinghausen)

Schon 1950, also gerade mal fünf Jahre nach Weltkriegsende, gab es in Recklinghausen eine deutsch-französische Ausstellung zum künstlerischen Stand der Dinge – im Geist der Völkerversöhnung. Frankreich war das gelobte Land, Paris die Metropole, auf die alle schauten. Der Zeitgeist war mit ihnen. Und genau in diese Zeitstimmung kann man in Recklinghausen eintauchen.

Formwelt der Industrie

Praktisch alle Künstler beim „jungen westen“ haben damit begonnen, sich figurativ am industriellen Umfeld des Ruhrgebiets abzuarbeiten. Das Spektrum reicht von Starkstrommasten (Gustav Deppe) über Figuren wie den „Fördermaschinisten“ (Thomas Grochowiak) bis zum prosaischen Alltagsobjekt Küchenherd (Emil Schumacher).

Gustav Deppe war fortan der Einzige, der weitgehend im Gegenständlichen verharrte und den formalen Strukturen der technisch bestimmten Welt unermüdlich nachspürte; ein Umstand, der ihn vielleicht gerade jetzt wieder interessant macht. Man muss darin wahrlich keine Rückschrittlichkeit oder mangelnden Drang zu avantgardistischen Positionen sehen. Es ändern sich die Perspektiven. Heute schwört man längst nicht nur auf Abstraktion.

Heinrich Siepmann: "Komposition IV" (1954). (Kunstmuseum Mülheim/Ruhr - VG Bild-Kunst, Bonn)

Heinrich Siepmann: „Komposition IV“ (1954). (Kunstmuseum Mülheim/Ruhr – VG Bild-Kunst, Bonn)

Die Hauptströmung beim „jungen westen“ führte hingegen weg vom erkennbaren Gegenstand. Doch auch da gab es verschiedene Wege, manche Künstler sind eher dem Konstruktiven zuzurechnen, andere (allen voran Emil Schumacher) strebten in die gestisch-energetischen Gefilde des Informel.

Bis zum Tapeten-Entwurf

Dennoch haben sich die Künstler im „jungen westen“ einander dermaßen intensiv beeinflusst, dass individuelle Unterschiede zeitweise verblassten. Doch dann wieder strebten die Linien wieder auseinander. Ja, zuweilen geht es bei ein- und demselben Künstler mal hierhin, mal dorthin und wieder zurück. Eben dies verleiht der Zusammenstellung die nötige Spannung.

Ein weiterer Aspekt ist das durch den (mit Große-Perdekamp seit Schulzeiten befreundeten) Bottroper Josef Albers vermittelte Bauhaus-Gedankengut, in dessen Nachfolge sich der „junge westen“ sah. So lieferte man zwischendurch auch schon mal ganz selbstverständlich Musterentwürfe für Tapeten.

Zeitgeist in aussagekräftigen Fotografien

Nicht nur die rund 100 Kunstwerke, sondern speziell auch die zahlreichen, vielfach großformatigen Fotografien aus jener Zeit lassen den „jungen westen“ wieder aufleben. Fotos von Ausstellungs-Ereignissen der 50er Jahre zeigen im zeittypischen Ambiente, dass damals bei Eröffnungen etwa noch ganz locker geschwoft und geraucht wurde. Mit konservatorischen Bedenken hatte man es noch nicht so.

Emil Schumacher: "Libya" (1962). (Kunsthalle Recklinghausen)

Emil Schumacher: „Libya“ (1962). (Kunstmuseum Bochum)

Vor manchen dieser Dokumente kann man lange verharren und sinnieren. So beispielsweise vor einem Foto, auf dem offenbar hundert oder noch mehr uniformierte Polizisten in eine Ausstellung drängen, und zwar keineswegs in dienstlicher Absicht. Ein anderes Foto belegt, dass damals Kunst durchaus im Zusammenhang der Warenwelt auftauchen konnte, so auch direkt neben einer Miele-Waschmaschine. Eine Avantgarde traf gleichsam die andere, der Fortschritt schien unteilbar zu sein.

Wer sich viel Zeit nimmt, kann überdies eine große Stellwand mit einer zeitgenössischen „Presseschau“ Zeile für Zeile goutieren, so dass nicht nur den Schauwerten, sondern auch dem Diskursiven Genüge getan ist. Apropos Zeitung: Der FAZ-Kulturkorrespondent für NRW, Albert Schulze Vellinghausen, war es wohl, der der Gruppe publizistisch zum Durchbruch verhalf.

Museumsdirektor Prof. Ullrich nimmt Abschied – doch nicht so ganz

Die von Hans-Jürgen Schwalm und Stephan Strsembski kuratierte Ausstellung bedeutet übrigens auch für den Recklinghäuser Museumsbetrieb eine Zäsur. Es ist die letzte, die Prof. Ferdinand Ullrich als Direktor verantwortet. Er wird allerdings auch im so genannten „Ruhestand“ dem Ruhrgebiet treu bleiben und sicherlich mit Ausstellungs- und Buchvorhaben weiter von sich reden machen. Seine Dissertation hat Ullrich, der seine Laufbahn als Künstler (Meisterschüler bei Timm Ulrichs) und nicht als Kunsthistoriker begonnen hat, einst just über den „jungen westen“ verfasst. So rundet sich alles.

„Auf dem Weg zur Avantgarde. Die Künstlergruppe JUNGER WESTEN“.  Kunstausstellung der Ruhrfestspiele Recklinghausen in der Kunsthalle Recklinghausen (Große-Perdekamp-Straße 25-27). Vom 7. Mai bis zum 13. August 2017. Geöffnet Di-So & feiertags 11-18 Uhr, Mo geschlossen.

Infos zu Recklinghausen: www.kunst-re.de
Infos zu den weiteren Ausstellungen über den „jungen westen“: http://www.ruhrkunstmuseen.com/ausstellungen.html




Wenn 60 Schriftsteller durch die Dortmunder Nordstadt gehen

Schriftsteller Heinrich Peuckmann (frontal, Mitte) im Kreise von Autorenkolleg(inn)en auf dem Weg zur Dortmunder Nordstadt. (Foto: Bernd Berke)

Schriftsteller Heinrich Peuckmann (frontal, Mitte) im Kreise von Autorenkolleg(inn)en auf dem Weg zur Dortmunder Nordstadt. (Foto: Bernd Berke)

Freunde, jetzt mal Butter bei die Fische, wie man hier so sagt: Der Autorenverband PEN hat heute auf seiner Dortmunder Jahrestagung mit Regula Venske nicht nur eine neue Präsidentin gewählt, sondern u. a. auch eine Resolution gegen die konfuse Rechtsausleger-Partei AfD verabschiedet. Morgen (Samstag) soll es um die betrübliche Lage in der Türkei gehen. Das alles ist richtig und wichtig. Jedoch…

Das „wirklich wahre Leben“ (wie es bei „Dittsche“ so schön heißt) spielt sich teilweise woanders ab als im Tagungssaal. Beispielsweise in der nicht gerade bestens beleumundeten Dortmunder Nordstadt, die den überregionalen Medien oft als prototypisches Gelände für soziale Schauergeschichten aus dem Revier dient.

Eine verrufene Gegend

Also war es im Prinzip eine gute Idee des Schriftstellers Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), für interessierte Autorenkolleg(inn)en einen Gang durch diesen Stadtteil zu organisieren, den manche gar als No-Go-Area verunglimpfen, man lese dazu etwa diesen Text aus der FAZ. Nicht nur die Polizei hat auf diesem Areal zuweilen ihre liebe Not. Und so hatte vor Tagen schon Dortmunds OB Ullrich Sierau gescherzt, wenn man auf dem Gang die Hälfte aller Teilnehmer ans Ziel bringe, sei es schon gut gelaufen…

Nun aber mal halblang: Die Strecke des gar nicht so erschröcklichen „Spaziergangs“ führte vom Tagungsort, dem Kulturzentrum „Dortmunder U“, in eine weitere Kulturstätte, das „Depot“ in der Immermannstraße. Kurt Eichler, Leiter der Dortmunder Kulturbetriebe, machte den kundigen „Bärenführer“. Hinterdrein trottete eine immerhin rund 50 bis 60 Menschen starke Autorinnen- und Autorenschar. Angesichts einer solchen Ballung von auf längere Sicht Publizierenden kam ich mir als Schreiber des Tages schon beinahe etwas seltsam vor. Sei’s drum. Da muss man durch, woll?

„Lauter Deutsche“ auf der Strecke

Nordstadt ist nicht gleich Nordstadt. Wirklich verrufen sind bestimmte Straßenzüge. Freilich hat Kurt Eichler recht, der sagte, dass Dortmunder Bürger, die sich für gediegen halten, den Fuß schon seit jeher generell nicht in Gebiete nördlich des Hauptbahnhofs setzen. Er wusste auch von unermüdlichen Versuchen seit den 1970er Jahren zu berichten, der Nordstadt etwas Kultur und etwas Grün angedeihen zu lassen. Es begann mit Mitteln des Städtebaus, nicht mit der eigentlichen Kulturförderung. Die Erfolge sind begrenzt.

Nun ist es ein gar eigenes Ding, mit geschätzt 60 Leuten durch soziale Brennpunkte zu stiefeln, wobei man überdies die ärgsten Ecken links oder rechts liegen ließ. Welch eine Exotengruppe! Ich hab’s nicht mit eigenen Ohren gehört, aber hernach hieß es, ein paar Jugendliche hätten sich am Wegesrand gewundert, dass da ja „lauter Deutsche“ auf Tour seien. Hätten sie noch gewusst, dass es sich fast durchweg um arrivierte Bücherschreiber gehandelt hat, so wäre des Staunens kein Ende mehr gewesen. Ob sich jemand aus der literarischen Gruppe nun animiert fühlt, einige Seiten über Dortmund zu schreiben? Man darf es bezweifeln.

Mich hat die Aktion ganz vage an ein Erlebnis am Ende der 80er Jahre erinnert. Damals waren wir – im Gefolge des damaligen NRW-Kultusministers Hans Schwier – als Journalisten-Tross in New York unterwegs. Zum Programm gehörte eine Führung durch die Bronx, die damals wahrhaftig eine No-Go-Area war. Ohne bewaffneten Polizeischutz ließ man uns nicht gehen.

Homöopathische Dosierung

Zurück nach Dortmund, wo es vergleichsweise herzlich harmlos zuging: Das wahre Flair der Nordstadt war auf diese Weise jedenfalls kaum zu spüren. Es kam allenfalls in stark verdünnter, gleichsam in homöopathischer Dosierung an, keineswegs als Essenz. Die Frauen und Männer des gepflegten Wortes hätten sich vielleicht allein oder zu zweit auf den Weg begeben müssen.

Auf dem langen Rückweg habe ich mir ein solches Erlebnis im Solo gegönnt. Kreuz und quer. Und was soll ich sagen: Hie und da scheint etwas in der Luft zu liegen, nicht in jedem Moment geht das Ganze völlig schwerelos vonstatten. Oder bildet man sich das alles – im Gefolge permanent aufgeregter Medien – nur ein? Es ist allemal eine Erfahrung. Ja, grinst nur!

Der kitzligste Augenblick des besagten Autorenausflugs war hingegen schon jener, in dem ein ungeduldiger BMW-Fahrer an der Ampel am liebsten gleich ein Dutzend Schriftsteller auf die Kühlerhaube genommen hätte, weil die nach seiner Ansicht nicht schnell genug die Kreuzung räumten. Rüpel, elender!

Auf den Spuren von Samuel Beckett

Was viele vorher nicht wussten: Wir wandelten „irgendwie“ auf den Spuren des großen Samuel Beckett. Wie Heinrich Peuckmann versicherte, habe Beckett in grauer Vorzeit eine Freundin in Kassel gehabt und sich auf der An- oder Abreise mitunter in der Dortmunder Nordstadt umgesehen. Rund um den Steinplatz gab’s damals etliche „Amüsier-Betriebe“. Davon inspiriert, habe der irische Weltliterat auch ein Gedicht über Dortmunder Bier verfasst. Peuckmann: „Das Bier fand ich allerdings besser als das Gedicht.“ Wer weiß: Am Ende ist selbst Becketts legendäres „Warten auf Godot“ noch auf eine Dortmunder Anregung zurückzuführen.

Ob sich dazu noch mehr Substanzielles recherchieren ließe? Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann soll, als er die Geschichte vernahm, schon scherzhaft (?) über eine Gedenktafel an geeigneter Stätte nachgedacht haben…




171 Schriftsteller kommen jetzt nach Dortmund – zur Jahrestagung des deutschen PEN-Zentrums

Das deutsche PEN-Zentrum ist mit seinen insgesamt rund 800 Mitgliedern hierzulande wohl die bedeutendste Schriftstellervereinigung. Jetzt halten die PEN-Autoren ihre Jahrestagung in Dortmund ab. Das klingt immer noch nicht selbstverständlich, denn Dortmund gehört kaum zu den Städten, bei deren Nennung man gleich an belletristische Literatur denkt. Nun ja. Darauf kommen wir noch zurück.

Im Dortmunder Rathaus: Der scheidende PEN-Präsident Josef Haslinger (links), Dortmunds OB Ullrich Sierau (rechts) und der Autor Heinrich Peuckmann (Mi.), der die Tagung nach Dortmund geholt hat. (Foto: Bernd Berke)

Im Dortmunder Rathaus: Der scheidende PEN-Präsident Josef Haslinger (links), Dortmunds OB Ullrich Sierau (rechts) und der Autor Heinrich Peuckmann (Mi.), der die Tagung nach Dortmund geholt hat. (Foto: Bernd Berke)

Nun haben sich jedenfalls gleich 171 Autorinnen und Autoren zum Verbandstreffen im Dortmunder „U“ angemeldet. Wollte man das auf die Dortmunder Einwohnerzahl (rund 600.000) umrechnen, so käme zwischen dem 27. und 30. April auf 3508 Einwohner je ein Schriftsteller. Immerhin.

Das ist doch mal ein temporär kultursinniges Zahlenverhältnis, wie es gewohnheitsmäßig vielleicht gerade mal in Dublin anliegt. Berlin? Noch nie gehört.

Weltweiter Einsatz für verfolgte Autoren

Jetzt aber im Ernst, ja im bitteren Ernst: Der PEN (Abkürzung für „Poets – Essayists – Novelists“ / etwa: Poeten, Essayisten, Prosaautoren) kümmert sich weltweit mit Nachdruck um das freie Wort; vor allem, indem er verfolgten Autoren zu helfen sucht – oft unter schwierigsten politischen Bedingungen. Beispielhaft ist die deutsche Umsetzung des Programms „Writers in Exile“. Finanziell unterstützt von der Bundesregierung, finden bis zu acht Autoren mittel- und langfristig Zuflucht in Deutschland – vor Drangsalierung und oft tödlichen Bedrohungen durch Diktaturen oder radikale Gruppierungen.

Im Vorfeld des Treffens zeigte sich Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau heute von der Gastgeberrolle angetan: „Wir betrachten das als Auszeichnung!“ Ein solches Schriftstellertreffen könne wichtige Impulse setzen und Debatten anstoßen.

Überraschung: OB setzt sich für ein Stadtschreiber-Amt ein

Sierau hat sich nicht nur recht eigenwillige Gedanken über die Bedeutung der Abkürzung „PEN“ gemacht (ihm zufolge: „pluralistisch – empathisch – nachhaltig“), sondern überraschte vor allem mit einer Ankündigung: Er lese immer wieder von „Stadtschreibern“ in anderen Kommunen. Sierau redete sich (mit Bedacht) geradezu in Spendierlaune: Nach einer solchen Tagung könne doch auch Dortmund ein Stadtschreiber-Amt einrichten, sprich: eine Autorin oder einen Autor für ein Jahr hierher bitten und mit einem Stipendium ausstatten. Er meine das ernst, wenngleich die Angelegenheit „unter Gremien-Vorbehalt“ (Kulturausschuss) stehe, betonte Sierau.

Der scheidende PEN-Präsident Josef Haslinger (bekannter Roman: „Opernball“) vernahm es mit Freuden. „Das haben Sie nicht einfach so dahingesagt“, nahm er Sierau charmant, aber bestimmt beim Wort. Der bekräftigte das Vorhaben noch einmal. Hört, hört!

Verbandspräsident Josef Haslinger nimmt Abschied

Haslinger wird Sieraus Ankündigung also gewiss noch dem Kollegenkreis schmackhaft machen, doch ansonsten gibt er sein seit rund vier Jahren ausgeübtes Präsidentenamt beim PEN auf. Zuletzt hat er mit dafür gesorgt, dass etliche jüngere Autoren sich dem deutschen PEN-Zentrum angeschlossen haben. Schließlich will man kein Seniorenverein werden.

Hauptsächlicher Grund für Haslingers Amtsverzicht: Der Österreicher möchte sich wieder mehr aufs Bücherschreiben konzentrieren, als Autor habe er sich zuletzt sozusagen wie „im Winterschlaf“ gefühlt. In Dortmund wird also ein(e) Nachfolger(in) an die Spitze gewählt, auch andere Ämter werden neu besetzt, was der Zusammenkunft zusätzliche Bedeutung verleiht.

Sorgen um Meinungsfreiheit in der Türkei

Akut sind derzeit die Sorgen, die man sich im PEN um die Meinungsfreiheit in der Türkei macht. Vielleicht ist von der Tagung eine entsprechende Resolution zu erwarten. Außerdem bildet sich derzeit ein einschlägiges Netzwerk, zu dem auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ gehören. Gerade in Dortmund und im Ruhrgebiet, so Haslinger, hätten sehr viele türkische Bürger für Erdogans autokratisches Referendum gestimmt. „Wir müssen uns fragen: Was ist da falsch gelaufen?“

Überhaupt sieht Haslinger Meinungsfreiheit und Demokratie in einigen Ländern als gefährdet an. Auch in weiten Teilen Europas gebe es Kräfte, „die uns die Empathie austreiben“ und Opponenten „zum Schweigen bringen“ wollten, befand Haslinger. Sogar einzelne PEN-Verbände, wie etwa in Ungarn, seien von solcher unguten Denkweise angekränkelt.

Gemeinsamer Gang durch die Nordstadt

Zurück zum Tagungsort Dortmund. Es war der Autor Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), Präsidiumsmitglied des deutschen PEN (und übrigens gelegentlich auch Gastautor der „Revierpassagen“), der es unermüdlich einfädelte, dass die Tagung in „seine“ Region kam. Womöglich wäre gerade hier eine Debatte über soziale Verantwortung der Literatur angebracht, für die sich Peuckmann stets einsetzt.

Peuckmann hat sich auch dafür stark gemacht, dass viele Autoren einen gemeinsamen Gang durch die zuweilen verrufene Dortmunder Nordstadt unternehmen werden (vom zentralen Tagungsort, dem Dortmunder „U“, zum Kulturzentrum „Depot“). Gut möglich, dass in diesem Umfeld manche Themen-Anregungen zu finden sind.

Was ebenfalls nicht im offiziellen Programm steht: Direkt nach Ende der Tagung will Peuckmann am nächsten Sonntag eine möglichst zahlreiche Kollegenschar noch zum Besuch des Deutschen Fußballmuseums animieren. Thema der dort gerade laufenden Sonderausstellung ist übrigens – wie passend – die Bibliothek des legendären Bundestrainers Sepp Herberger. Schon am Samstag führt eine Bustour die Schriftsteller zum Phoenixsee, zum imposanten Industriemuseum Zeche Zollern und zum Fritz-Hüser-Institut. So viel Sightseeing muss sein.

Die Autoren freuen sich zudem auf einen „Clubabend“ in geschlossener Gesellschaft, wollen jedoch natürlich nicht durchweg unter sich bleiben. Mit Lesungen und Diskussionen geht die Tagung auch an die Öffentlichkeit. Nähere Infos dazu gibt es hier.

Dortmund als literarischer Ort?

Und wie war das jetzt mit Dortmund als literarischem Ort? Tja. Einzelne Schriftsteller von gewissem Gewicht (z. B. Max von der Grün, Josef Reding, Wolfgang Körner, Ralf Thenior, zeitweise Jörg Albrecht) haben hier gelebt und gewirkt oder tun dies noch.

Dass weitere Krise gezogen wurden, ist indes schon länger her: Bundesweite Bedeutung auf literarischem Felde erlangte die Revierstadt im Gefolge des 31. März 1961. Damals wurde hier die „Gruppe 61“ um den Lokalmatador Max von der Grün gegründet, der sich u. a. auch Günter Wallraff anschloss. Man setzte sich vor allem mit der am Ort und in der Region übermächtigen industriellen Arbeitswelt auseinander. Später ging der nicht minder einflussreiche „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ daraus hervor. Es war halt keine Gegend für Liebesromane oder für hypersensible Ich-Beschau.

Das zwischen Politik und Poesie allzeit tragfähige Motto der Tagung stammt vom in Dortmund geborenen Dichter Peter Rühmkorf (1929-2008), der allerdings lieber in Hamburg leben wollte. Die Zeile lautet: „Bleib erschütterbar und widersteh.“

Apropos Rühmkorf. Immerhin hat er hier seinen ersten Schrei getan. Wie wär’s denn, wenn Dortmund nicht nur ein Stadtschreiber-Amt auslobte, sondern auch noch eine möglichst zentral gelegene Rühmkorf-Straße bekäme?

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P. S.: Zu den 800 PEN-Mitgliedern zählen u. a. auch bekannte Größen wie der 90jährige Martin Walser sowie – in alphabetischer Folge – F. C. Delius, Tankred Dorst, Peter Härtling, Rolf Hochhuth, Gerhard Köpf, Franz Xaver Kroetz, Martin Mosebach, Botho Strauß, Uwe Timm und Feridun Zaimoglu, um nur einige wenige zu nennen.

Die bisher Erwähnten kommen nicht nach Dortmund, wohl aber z. B. Arnfrid Astel, Jenny Erpenbeck, Tanja Kinkel, Judith Kuckart oder Ilja Trojanow – sie alle ebenfalls stellvertretend genannt. Eins dürfte feststehen: Dermaßen viel literarische Potenz ist bislang wohl noch nie zu einem Zeitpunkt in Dortmund versammelt gewesen.




Neben dem Pflaster der Bücherstrand: Das „Literaturhaus Oberhausen“ ist eröffnet – und was kann daraus werden?

Das erste Programm

Name und Konzept verheißen Gutes und die Stadt hat diese Initiative literaturverliebter Ehrenamtler bitter nötig. Ziele bleiben die Gründung einer Genossenschaft, gelebte literarische Geselligkeit und irgendwann vielleicht das große Haus.

21. April 2017, Freitagabend, 19 Uhr: Zwei Lesungen zu Bob Dylan und „Tussi-Literatur“ hat es im März/April bereits gegeben, nun endlich sollte das neue Literaturhaus Oberhausen offiziell eröffnet werden. Per Rundmail hatte der „Verein der Freundinnen und Freunde“ eingeladen und man erwartete in Alt-Oberhausen Liebhaber des guten Buches und die versprengten Anhänger der übersichtlichen literarischen Szene.

Städtische Herzrhythmusstörung

Allerdings hat das neue Literaturhaus nicht gerade die feinste Adresse: Marktstraße, Nummer 146. Seitdem das Einkaufszentrum CentrO in der „Neuen Mitte“ die Innenstadt verödete, liefert der Alltag auf der Marktstraße nur noch Schatten früherer Tage. In der Süddeutschen Zeitung hieß es dazu im August 2016:
„Wenn sich in den vergangenen Jahren überhaupt jemand für Oberhausen interessierte, dann gab es immer die Bilder aus der Marktstraße (…). Meistens wehte eine zerknüllte Zeitung über das Pflaster, kein Mensch war zu sehen, leere Geschäfte blickten traurig und vorwurfsvoll in die Kamera.“

Trotzig hält das Stadtmarketing mit branchenüblichem Dummdeutsch dagegen:
„Die Marktstraße – mit 1.4 km die längste Einkaufsstraße in Oberhausen. 90.000 Einwohner und 8 Mio. Besucher jährlich decken hier mehr als nur den täglichen Bedarf. (…) Von montags bis samstags bietet der Frischemarkt auf dem Altmarkt (…) ein buntes Treiben. Hier schlägt das Herz von Oberhausen.“

Ach ja? Ich mache die Gegenprobe und gehe die Straße am Literaturhaus ab.
Nach fünfzig Metern gleich sechs Läden, die neue Mieter suchen, dazu Döner-Imbiss, Christlicher Verein Junger Menschen. Immerhin, vor einem Afrika-Shop wehen bunte Kaftane etwas Lebenslust in die Tristesse aus schäbigen Fassaden und den kaugummiverklebten, einst sündhaft teuren chinesischen Pflastersteinen. Viel jedenfalls hat sich die Stadt hier nicht einfallen lassen, um den Verfall ihrer alten Mitte aufzuhalten.

Trotz alledem: Die Wüste lebt

Sicher, bei gutem Wetter kann es tagsüber anders aussehen, man fühlt sich auf der Marktstraße weiter unten wie auf einem Basar. Engagierte Kulturgastronomen im nahen Café Gdanska und andere machen das Leben sogar abends da und dort lebenswert.

Das Literaturhaus Oberhausen schafft jetzt eine weitere Kultur-Oase für all jene, die es nach Poesie hungert, nach geistigem Leben dürstet. Der Ort dafür ist im Prinzip so schlecht nicht gewählt. Die Literaturenthusiasten haben von Emile Moawad, dem Betreiber der Weinlounge Le Baron, das benachbarte Ladenlokal angemietet. Der schon lange in Deutschland lebende Ägypter hatte es bislang nur als Weinlager genutzt. „Eine Win-Win-Situation“, wird mir Rainer Piecha später im Stile eines routinierten Pressesprechers mitteilen.

Ehemaliges Weinlager

Mit ein bisschen Glück wird das Literaturhaus Oberhausen nicht nur von der Gastronomie Moawads und seiner Klientel profitieren, sondern Moawad im Gegenzug auch von den Gästen des Literaturhauses, die zunächst mittwochs und freitags, später hoffentlich immer öfter zu Lesungen und Gesprächen erscheinen sollen.

Das Ladenlokal wurde sanft renoviert, das Regalsystem konnten die Literaturhäusler gut gebrauchen, um Teile einer Bibliothek, die ihnen einst gespendet wurde, auf den etwa 100 Quadratmetern unterzubringen. Jetzt wirkt das alles hell und freundlich, eine Mischung aus großzügigem Bibliothekszimmer und kleiner Buchhandlung plus ein wenig Café-Bestuhlung. 65 Gäste lauschten hier schon dem Bonner Gisbert Haefs, als der Ende März den Literaturnobelpreisträger Bob Dylan vorstellte, dessen Songtexte aus fünfzig Jahren Haefs unter dem Titel „Lyrics“ ins Deutsche übersetzt hatte.

Das schönste Meer ist das noch nicht befahrene, schreibt Nazim Hikmet

Freistätte oder Netzwerk?

Sympathisch, wie da am Eröffnungsabend die drei Vorstandsherren Obendiek, Piecha und Kowsky-Kawelke aus ihren Lieblingsbüchern vorlasen, aus T.C. Boyles „Wassermusik“, Nazim Hikmets Gedichten und Ralf Rothmanns „Milch und Kohle“.

Sicher, weibliche Ästhetik fehlte an diesem Abend, aber den meist etwas bejahrten Literaturkennerinnen und -kennern gefiel’s, die Lokalpolitik ließ sich eh nicht blicken, nicht einmal vor der Landtagswahl.

Apropos Wassermusik, der Kalauer sei erlaubt: Während des Zuhörens fiel mein vagabundierender Blick am Vorleser vorbei durchs große Schaufenster und damit auf etwas, das aussah wie der potthässliche Eingang zu einem unterirdischen Atombunker. Ein überdimensioniertes öffentliches WC, wie sich später herausstellte, das äußerst selten benutzt wird. Wohl auch, weil viele, die dort unterwegs sind, nur im äußersten Notfall fürs Pinkeln zahlen würden.

Kein Flair wie in Berlin oder Hamburg

Wer Literaturhäuser in Berlin, Hamburg oder München besucht, trifft da auf anderes Fluidum. An einem lauen Sommerabend im Garten des Literaturhauses Berlin sitzend, bei einem Glas Wein mit Freunden plaudernd, stört kein Blick auf profane Bedürfnisanstalten. In den urbanen Literaturhäusern bundesweit erwarten die Besucher täglich geöffnete Cafés und Buchläden, oft gestalten sie monatlich bis zu 20 literarische Veranstaltungen und holen sich internationale Autoren ins Haus. (In Berlin ist es dazu nur ein Katzensprung bis zum Kurfürstendamm – okay, okay, auch der ist manchmal nur noch eine Marktstraße auf höchstem Niveau.)

Das wirft nebenbei auch die Frage auf, was die Literatur-Aficionados aus Oberhausen dazu verleitet hat, für ihre derzeitige literarische Freistätte unbedingt das Etikett ‚Literaturhaus‘ zu verwenden. Was immer die – sagen wir mal – „Literaturlounge“ neben dem Le Baron noch zu werden verspricht, ein Literatur-Haus von Format ist es vorerst nicht. Und sollte es besser auch gar nicht werden?

Textrevolte anzetteln

Die Stärke des Literaturhauses Oberhausen ist seine Vernetzung mit Partnern in der Stadt, mit Stadtbibliothek oder Geschichtswerkstatt, vor allem, wenn größere Veranstaltungsräume benötigt werden. Im soziokulturellen Zentrum Altenberg ist das Haus demnächst mit der Reihe „Literatur unterwegs“ zu Gast: Am 25. Mai liest dort Frank Witzel aus „Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“.

Warum also nicht auch in Oberhausen aus der Not eine Tugend machen und Textrevolten anzetteln, die ins städtische Leben eingreifen? Oberhausen hat zwar mit dem neuen Literaturhaus noch kein Literaturhaus, aber bereits jetzt existiert übers beharrlich optimistische Engagement der Ehrenamtlichen eine veritable Erste-Hilfe-Textstation, eine Literaturambulanz vom Feinsten, ein mobiles Einsatzkommando für literarische Interventionen aller Art.

Und eigentlich ist es doch das, was Oberhausen wirklich nötig hätte: Störfeuer gegen abgehalfterte Kulturpolitik im Revier, einen Piratensender gegen allgegenwärtigen Kommerz, einen geistreichen Flaschenpost-Versand übers Meer austauschbarer Event-„Kultur“. Oder?




Das Dortmunder Bombenattentat und der Zettel einer Siebenjährigen

Zu diesem unsäglichen Bombenanschlag auf den BVB-Mannschaftsbus ist so ziemlich alles gesagt. Gottlob ist der Täter ganz offensichtlich gefasst. Und ja: Aus schierer Verachtung weigere ich mich, auch nur seinen Vornamen hinzuschreiben. Über die abgründig niederen Motive (kann es jedoch überhaupt „höhere“ Beweggründe für so etwas geben?) mag man nur noch ratlos den Kopf schütteln.

Als Konsequenz müssten sie endlich einmal daran gehen, die abenteuerliche Regellosigkeit in der Börsenwelt gründlich zu durchforsten und einzuhegen. Wobei zu sagen wäre, dass die zugehörige Zockermentalität immer schon Verwerfliches hervorgebracht hat – auch im Weltmaßstab. Wer mag da an grundlegende Veränderungen glauben? Wenigstens haben ja ein paar Warnmechanismen funktioniert und auf die (unfassbar breite) Spur des mutmaßlichen Täters geführt.

Ich weiß nicht, ob es Sache eines Kulturblogs ist, sich näher über solche Themen auszulassen. Immerhin steht im Titel „Kultur und weiteres…“ Froh bin ich jedenfalls, die anfänglichen, reichlich wüsten Spekulationen zum etwaigen Täterkreis nicht mitgemacht zu haben. Viele haben geradezu gehofft und auch schon keine Zweifel mehr daran gehegt, es möchten doch fanatisierte Muslime gewesen sein; andere (ähnlich beschränkte) Fraktionen haben inständig darauf gesetzt, dass es sich entweder um Rechts- oder Linksradikale handeln möge. Ähneln derlei zügellose Spekulationen nicht sogar strukturell jenen, die inzwischen an der Börse üblich sind? Materiellen oder ideellen Gewinn aus Schaden zu ziehen – das wäre das gemeinsame Prinzip. Ekelhaft.

Dass es wohl ein geldgieriger Einzeltäter gewesen ist, scheint zunächst einmal die beruhigendste Variante zu sein. Allerdings zeigt sich natürlich auch in diesem Einzelfall das große Ganze, das Gesellschaftliche. Es erledigt sich nicht einfach mit Festnahme und Verurteilung.

Wenn man Kinder hat, kommen solche üblen Vorfälle noch einmal ganz anders im so genannten Privatleben an. Man muss versuchen, das Unerklärbare zu erklären, so gut es eben geht. Je nach Alter des Kindes, soll man weder über- noch untertreiben, man darf nicht lügen, sondern höchstens dämpfen und mildern. Es wäre nutzlos, alles zu verschweigen. Sie hören ja doch davon. Der Rest steht in den tausend Ratgebern.

Nachdem wir darüber gesprochen haben, hat unsere siebenjährige Tochter sich die – trotz aller Erklärungsversuche – bleibende Verwirrung von der Seele schreiben wollen; ganz aus eigenem Antrieb, ohne jegliche Hilfe. Der beigefügte Zettel zeugt davon. Er ist schmucklos und unbebildert, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit. Vielleicht ist es der Versuch, das Lastende von sich wegzuschieben, es ein wenig zu „objektivieren“, als könnte es Anlass zu einem Detektivspiel sein. Egal. Wir wollen nicht deuteln. Es steht für sich.

Doch jetzt soll sie bitte, bitte wieder unbeschwert spielen. Sie ist ja auch schon wieder albern. Die Wucht der Ereignisse kommt noch früh genug. Nein: eigentlich immer z u früh.




„Die Abbieger“ – Thomas Schweres hat den Ruhrgebiets-Krimi zur Stauschau geschrieben

„Und nun die Stauschau. Wir melden alles ab 7 Kilometern“. Keine Seltenheit, diese Ansage. Als Autofahrer ist man da schon dankbar, wenn man auf der A 2 im Stau steht. Muss man sich nicht die ganzen (trotz der Beschränkung auf 7 km immer noch epischen) Verkehrsnachrichten anhören. Kein Geheimnis, dass dies schon fast der Normalzustand auf den Straßen des Ruhrgebiets ist. Bringt wohl so ziemlich jeden Autofahrer an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Klaus-Werner Lippermann, der Anti-Held in Thomas Schweres‘ neuem Krimi „Die Abbieger“, kann es nicht mehr ertragen. Alles war so schön in seinem Leben. Mama Elfriede wusch zuverlässig seine weißen Socken und sorgte auch sonst im gemeinsam bewohnten Zechenhaus für Ordnung. Den Feierabend verbrachte er im Schrebergarten mit den preisgekrönten Kaninchen Molly und Whitey und solange man ihn dort in Ruhe ließ, ließ er auch die anderen in Ruhe.

Ein Kaninchenmörder geht um

Ihm doch egal, wieso Familie Yüksel soviel Strom für ihr Gewächshaus braucht, dass sie dort Tag und Nacht in die Pedale der aufgestellten Trimmräder treten. Umweltfreundlich ist diese Stromerzeugung ja und der Rest ging ihn auch nichts an. Nur diese dauernden Staus auf der A 40, die er nach Verlagerung seines Arbeitsplatzes in Kauf nehmen muss – unzumutbar ist das. Wieviel Lebenszeit diese unfähige Behörde Strassen.NRW ihm raubt!

Doch dann ändert sich alles. Ein Kaninchenmörder geht um, auch Molly und Whitey fallen ihm zum Opfer. Klausi sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben und heiraten will er auch nicht, da kann Elfriede noch so verzweifelt kuppeln. Stattdessen schmiedet er Rachepläne, während er zur Untätigkeit verdammt am Steuer seines getreuen VW Jetta sitzt.

Verlorene Lebenszeit auf der A 40

Ganz genau hat er es sich ausgerechnet: 352 Stunden waren es noch zu Lebzeiten von Molly und Whitey selig, die er unfreiwillig auf der im Volksmund Ruhrschleichweg genannten A 40 verbracht hat. 14 Tage und 16 Stunden, die er nicht mit seinen geliebten Karnickeln hat verbringen können. Und Schuld daran war – ganz genau – Straßen.NRW. Diese Fehlplanungen. Baustellen, die eingerichtet, aber nicht bearbeitet werden. Diese unsinnigen Zuflussregelungsampeln, die nur Rückstaus verursachen und dann noch die Radarfallen und Geschwindigkeitsbegrenzungen, die nur der Befüllung der Stadtsäckel dienen. Und da die A 40 jede Menge Städte durchschneidet, gibt es entsprechend viele davon.

Klausi ist es leid, er braucht einen Befreiungsschlag. Genug ist genug. Zunächst einmal weiht er seinen besten, weil einzigen Freund Alfred Kruppel ein, einen bierseligen Schrotti, der genau an der A 40 wohnt. Kruppel ist Feuer und Flamme und beginnt sofort mit der logistischen Planung…

Wo der Manager Möhrchen knabbert

Die beiden entführen Dr. Weissfeld, den Chef von Strassen.NRW. Soll der jetzt mal sehen, wie das so ist mit den Murmeltiertagen im Stau. Sie halten ihn mit einer säurebefüllten grünen Wasserpistole in Schach, so dass dem armen, nur mit rudimentären Fahrkünsten begabten Manager nichts anderes übrig bleibt, als tagsüber Klausi und Kruppel durch die Staus zu chauffieren und nachts im alten Kaninchenstall an Möhren zu knabbern.

Die Forderung der Erpresser geht beim schon alarmierten Kommissar Schüppe ein: läppische 55.000 Öcken will man haben. Das Geld ist für Kruppel, Klausi ist da eher idealistisch unterwegs, auf sein Konto gehen die restlichen Forderungen, die es durchaus in sich haben: Man verlangt die Aufklärung der Kaninchenmorde und die Auflösung der Staus durch diverse von Klausi höchstselbst ausgearbeitete Maßnahmen. Alles muss in der Presse verkündet und als Verdienst des ausgedachten TuS-V (Tierfreunde und Staugegner – vereinigt) deklariert werden. Schnell gewinnt der TUS-V eine beachtliche Fangemeinde, das halbe Ruhrgebiet will in den Verein eintreten.

Schüppe und seinen Mannen ist klar, sie müssen handeln und diesen Fall aufklären, bevor das Ganze vollends außer Kontrolle gerät. Auch der Spürnase Tom Balzack, dem kriminalistisch begabten Reporter ist schnell klar, dass hinter den erstaunlichen Zeitungsmeldungen – die er durchaus erfreut begrüßt – mehr stecken muss. Undenkbar, dass Strassen.NRW plötzlich Einsicht zeigt. Balzack kann sich ja vieles vorstellen, aber das nun wirklich nicht.

Es droht die Autobahnmaut als Standgebühr

Unschwer vorstellen kann man sich hingegen, dass Thomas Schweres mit dem Thema seines schon vierten Krimis um den knorrigen Kommissar Schüppe und den umtriebigen Balzack einen Nerv trifft. Nicht nur Klausi hat wohl das Gefühl, dass die Politik den „Straßenbau als Ersatzdisziplinierungsmöglichkeit“ entdeckt hat und dass die drohende „Autobahnmaut im Ruhrgebiet wohl eher so eine Standgebühr“ sein wird. Man glaubt sofort, dass ein Verein wie der TuS-V schnell begeisterte Anhänger finden würde. Thomas Schweres hat wahrscheinlich in seinem Hauptberuf als oft genug nicht rasen könnender Reporter im Ruhrpott viel Zeit im Dauerstau verbracht.

Schweres benutzt für seine „Stellvertreter-Rache“ das Genre des Krimis, aber „Die Abbieger“ unterscheiden sich erheblich von ihren Vorgängern. Nicht nur, dass man Täter und Motive von Anfang an kennt und eher ihre Verstrickungen sowie die Aufklärungsversuche verfolgt, als mitzurätseln, auch der Stil ist ein anderer. Waren die Vorgänger noch eher Thriller als Krimi, so lesen sich „Die Abbieger“ in weiten Teilen als Satire. Wäre das Buch ein Tatort, dann wäre es mehr Tatort Münster als Tatort Dortmund. Spannung kommt so natürlich selten auf, aber die Lektüre ist kurzweilig und wirklich witzig.

Machte Schweres sonst gerne ein großes Fass auf und brach das kriminelle Weltgeschehen auf das Ruhrgebiet runter, bleibt er diesmal ganz in seinem Revier. Mehr als sonst leben „Die Abbieger“ vom Ruhrgebiet-Kolorit, schon das vorgeschaltete Personenregister ist voller gewollter Klischees. Der heimliche Star des Buches ist Mutter Elfriede, die als echte Ruhrpott-Zechenmutter daherkommt, eine Kreuzung aus Tana Schanzara und Else Stratmann.

Thomas Schweres: „Die Abbieger“. Grafit Verlag, Dortmund. 282 Seiten, 11,00 €.




Privatsammler setzen Akzente: Anbau für Duisburger Museum Küppersmühle – Editionen von Gerhard Richter in Essen

„Blau-Gelb-Rot“ von Gerhard Richter (1974), jetzt zu sehen im Essener Folkwang-Museum (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Man mag es beklagen, doch bestreiten läßt es sich kaum: Zunehmend setzen Privatsammler in der bundesrepublikanischen Museumsszene die Akzente, treten als Dauerleihgeber hervor oder bauen sich gleich ein eigenes Museum. Nolens volens kooperieren die staatlichen Häuser, bietet die Zusammenarbeit mit Privaten doch oft die einzige Möglichkeit, jüngere teure Kunst in größerer Menge zu zeigen.

Ganz risikofrei ist das nicht. Von willkürlichen Entscheidungen der privaten Leihgeber war hier und da schon zu hören, die ihre Kunst abholen ließen, wenn sie etwa mit Bau- oder Personalentscheidungen unzufrieden waren.

Auch das Kulturgutschutzgesetz („Lex Grütters“) hat viele Kunstbesitzer davon abgeschreckt, ihre Schätze weiterhin öffentlich zu zeigen, könnte sie doch im Weiteren der Bannstrahl des gesetzlichen Exportverbots treffen. Fürchten sie jedenfalls. Wie auch immer: Gleich an zwei Orten des Reviers, in Duisburg und in Essen, setzen Privatsammler nun deutliche Akzente.

Das Ensemble des MKM Museum Küppersmühle in Duisburg in der Zukunft: Rechts neben dem grauen Betonsilo wird dann der (hier bereits sichtbare) Neubau entstanden sein. (Bild: MKM/Herzog und de Meuron)

Privates Geld für Neubau

Fangen wir in Duisburg an. Von dort kommt es diesmal eher nachrichtlich. Das Museum Küppersmühle,  wohl das bedeutendste private Kunstmuseum im Revier, erhält einen Anbau, erweitert seine Ausstellungsfläche von knapp 3000 auf 5000 Quadratmeter. Die Kosten für den millionenschweren Anbau trägt das Sammlerehepaar Sylvia und Ulrich Ströher, das auch schon den grundlegenden Umbau der wuchtigen Industrieimmobilie im Duisburger Innenhafen, die der Strukturwandel 1972 ihrer ursprünglichen Aufgabe beraubt hatte, bezahlte und seitdem sämtliche Betriebskosten trägt. Aus der umfangreichen Sammlung Ströher stammen die Kunstwerke der Dauerausstellung.

Der Neubau in der Animation. Erhaben gesetzte Ziegelsteine formen in der fensterlosen Fassade das Wort KÜPPERSMÜHLE.  (Bild: MKM/Herzog und de Meuron)

Dezentere Neuplanung

Groß und luftig wirkt das Haus schon heute, auch im Parterre, wo es Wechselausstellungen gibt und derzeit Großformate von David Schnell zu sehen sind. Doch es sollte eben noch einiges an Fläche dazukommen. Erste Pläne für eine Erweiterung datieren aus dem Jahr 1999. Sie sahen vor, auf den bislang funktionslosen Betonsilos einen Ausstellungsraum aufzusetzen. Entfernt erinnerte die Architektur an einen „Hammerkopfturm“, einen Zechenförderturm mit ungewöhnlich symmetrischer Optik – die Zeche Minister Stein in Dortmund beispielsweise hat einen, der als Denkmal erhalten blieb. Eine Stahlkonstruktion wurde zusammengeschweißt, stand Jahre lang neben dem Gebäude, und das Publikum konnte ihr beim Verrosten zuschauen. Die Ausführung der Konstruktion, in anderen Worten, war höchst mangelhaft geraten, dann geriet die Baufirma Gebag in finanzielle Turbulenzen, und 2008 schließlich verabschiedeten sich Bauherrschaft und Architektenbüro von diesem Projekt.

Gleiche Architektursprache

Doch ihren Architekten blieben die Ströhers gewogen. Und deshalb machte sich das renommierte Baseler Büro Herzog und de Meuron, das übrigens jüngst in Berlin den Architektenwettbewerb für das Kulturforum neben der Neuen Nationalgalerie gewonnen hat, nach kurzer Schockstarre an eine Neuplanung. Die ist nun wesentlich dezenter geraten, sieht einen Anbau vor, der die Backsteinoptik der vorhandenen Substanz aufnimmt und sich in das ganze, naturgemäß ein wenig industriell-unordentliche Ensemble völlig integriert. Man wird späterhin Mühe haben, ohne nähere Sachkenntnis den Neubau als solchen zu identifizieren. Die Gebäudeteile „sprechen die gleiche Architektursprache“, wie Pierre de Meuron es bei der Präsentation ausdrückte.

Nochmals Animation: Auf den Betonsilos soll eine Aussichtsplattform entstehen.  (Bild: MKM/Herzog und de Meuron)

Am stärksten heben sich auch zukünftig die Getreidesilos aus grauem Beton hervor. Sie stehen zwischen Alt und Neu, sollen teilentkernt als Übergang fungieren und zudem zukünftig eine Aussichtsplattform erhalten, zu der ein Aufzug hinauffährt. Die Fundamente sind gesetzt, der Grundstein ist gelegt, und Ende 2018 soll der Neubau fertig sein. Das ist mutig geplant, doch Pierre de Meuron zeigt sich zuversichtlich: Gutes Team, gute Leute vor Ort, das sei zu schaffen. Na dann: Hals- und Beinbruch!

„Nebenan“ im Museum Folkwang

In Essen, im wunderbaren großen Raum des Folkwang-Museums, ist nun Kunst von Gerhard Richter zu sehen, genauer gesagt: „Die Editionen“ (Ausstellungstitel). Erwarten könnte man mithin Mappenwerke, Drucke, Serigraphien und Ähnliches. Das alles gibt es natürlich auch, beginnend in den frühen 60er Jahren, doch zeichnet Gerhard Richter eben aus, daß er die Dinge oft nicht so läßt, wie sie zunächst sind; auch die eigenen „Editionen“ nicht.

Gerhard Richters Kerze. Es gibt sie in Essen auch mit Übermalungen zu sehen. (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Da hat es ihm mitunter gefallen, jedes (vervielfältigte) Bild einer Serie individuell mit Farbe nachzuarbeiten, von leichten Akzentuierungen (selten) bis zu flächigen Übermalungen (häufiger). Das macht die Arbeiten eigentlich zu Unikaten und läßt einen einmal mehr nachsinnen über die rätselhafte Kunst dieses Mannes, der auf unterschiedlichsten Wegen immer wieder nach Abbildern, Schemen, Ahnungen sucht, die in der formalen Entfernung vom Gegenstand zu größerer Wahrheit streben.

Man kommt ins Grübeln

Die Kerze fehlt nicht und nicht der Totenschädel, nicht die unscharf verwischten Fotos von Schäferhunden und Düsenjägern, nicht die streng komponierten Farbfelder und Farbschichtungen und nicht die Arbeiten, die nur noch Fläche und Haptik sind. Doch dann begegnet man plötzlich dem schlichten, auf den ersten Blick unspektakulären, nicht nachbearbeiteten Foto, das Richter 2014 von seiner Enkelin Ella machte, und kommt erneut ins Grübeln über den Facettenreichtum in diesem Oeuvre.

„Fuji“, 1996 (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Manches, was Gerhard Richter edierte, war groß, vieles aber auch klein, was zur Folge hat, daß diese bestens bestückte Ausstellung über die Jahrzehnte hinweg sehr viel mehr Positionen formuliert, als es beispielsweise 2012 die Richter-Retrospektive mit ihren vielen Großformaten in der Berliner Nationalgalerie tat, bevor diese für einen mehrjährigen Umbau geschlossen wurde. Wer sich Richter also in seiner Vielschichtigkeit annähern möchte, sollte nach Essen fahren.

„Strip“, 2013 (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Die Arbeiten übrigens stammen sämtlich aus der Sammlung des Essener Mediziners, Chemikers und Wella-Erben Thomas Olbricht, der dem Folkwang-Museum seit längerem verbunden ist und hier schon mehrere Ausstellungen bestückte. Olbricht kann in aller Bescheidenheit von sich sagen, daß er alle Editionen von Gerhard Richter besitzt.

„Win-Win-Situation“

„173 mitunter mehrteilige Editionen, 33 Unikate, insgesamt über 350 Arbeiten“, teilt das Museum Folkwang mit. Der „Sponsor“ der Veranstaltung könnte aus dem Bekanntenkreis Dagobert Ducks stammen: „Merck Finck Privatbankiers AG“. Und natürlich könnten die ihr Sponsorengeld auch im Geldspeicher lassen und Olbricht seine Bilder im Depot. Doch vom Letztgenannten ist bekannt, daß er sie gerne zeigt. Wenn nun viele Besucher nach Essen kommen, ist das also sicher eine „Win-Win-Situation“.

Übrigens: Kleinere Richter-Ausstellungen gibt es derzeit auch in Köln und Bonn zu sehen.

◾„Gerhard Richter: Die Editionen“, Museum Folkwang, Essen

  • Bis 30. Juli 2017
  • Geöffnet Sa, So, Di, Mi u. feiert. 10 – 18 Uhr, Do und Fr 10 – 20 Uhr
  • Eintritt 8 €
  • Begleitheft mit Abbildungen 6,50 €
  • Die Duisburger Küppersmühle zeigt noch bis 18. Juni „David Schnell – Fenster“
  • Geöffnet Mi 14-18 Uhr, Do – So und Feiertage 11-18 Uhr
  • Eintrittspreise: Wechselausstellungen: 6 €, gesamtes Haus: 9 €



Zur Not kann man auch am Gegner seine Freude haben – über solche und solche Fußballfans

In dieser „englischen“ Fußballwoche geht’s gleich zweimal rund in der Bundesliga: Heute (Dienstag, 4. April, 20 Uhr) trifft der BVB im heimischen Dortmunder Westfalenstadion * auf den Hamburger SV, am Samstag (8. April, 18:30 Uhr) geht’s zu den Bayern nach München. Anlass genug für diesen Beitrag: Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, schreibt über verschiedene Arten von Fußballfans:

Dortmunder Torjubel im Westfalenstadion beim 3:0-Sieg gegen Tottenham Hotspur. (Foto: Bernd Berke)

Dortmunder Torjubel im Westfalenstadion beim 3:0-Sieg gegen Tottenham Hotspur. (Foto: Bernd Berke)

Meine drei Söhne sind brav, sie sind ihrem Vater gefolgt und Fußballfans geworden. Und weil sie auch noch gut erzogen sind, haben sie die Vorliebe ihres Vaters übernommen. Sie sind Fans von Borussia Dortmund.

Zwei Dauerkarten haben wir und gehen in wechselnden Kombinationen ins Stadion. Und dabei stellen wir immer neu fest, was wir schon vorher wussten. Fan ist nicht gleich Fan. Wir merken es beim Absingen der Fan-Lieder. „Borussia, unser ganzes Leben, unser ganzer Stolz…“ ist ein Lied, das wir nicht mitsingen können. Der Fußball ist ein schöner Teil unseres Lebens. Wie genießen die Spiele im Stadion, haben Freude an den Fernsehübertragungen, aber unser ganzes Leben ist Borussia nicht. Und stolz sind wir auf das, was wir selber schaffen, ohne es freilich übermäßig nach außen zeigen zu wollen.

Sport ist doch nicht alles…

Fußball hat für uns einen Stellenwert, aber er dominiert uns nicht. Entsprechend gehen uns Fans, für die Fußball alles ist, gehörig auf die Nerven. Irgendwann saß so ein Fan in der Kneipe neben uns, brüllte rum, kommentierte alles (ohne viel Ahnung zu haben) und sprach uns immer wieder an. Bis es meinem jüngsten Sohn endgültig reichte. „Wir interessieren uns nur für Fußball, weil uns Gespräche über Baumärkte und Autos noch mehr langweilen“, sagte er dem Mann. An das erstaunte Gesicht mit dem offenen Mund erinnere ich mich gut. Man sah dem Mann deutlich an, wie sein Männerbild zusammenbrach.

Leute, die keine Ahnung vom Fußball haben, aber umso lauter rumbrüllen, sind schwer zu ertragen. Als ein Angriff unserer Borussia mal wegen Abseits abgepfiffen wurde, sprang der Mann neben uns auf. „Schieber!“, schrie er, „das war doch kein Abseits.“
„Setz dich“, sagten wir, „das war Abseits.“ Überrascht schaute er uns an. „Und ich dachte, ihr seid Borussenfans“, sagte er. „Sind wir“, antworteten wir, „aber Regel ist Regel. Also ist Abseits Abseits. Auch für uns.“

Als Juventus über die linke Seite kam

Dafür lieben wir jene Fans, die wirklich Ahnung haben. Bei einem Europapokalspiel gegen Juventus Turin saß mal ein junger Mann neben mir im Stadion, der wirklich was von Fußball verstand. Juventus griff über die rechte Seite an und dem Mann fiel auf, was mir auch auffiel. „Guck mal, was da gerade links passiert!“, rief er. „Unsere rennen alle nach rechts, die haben noch gar nicht gemerkt, dass die Gefahr gleich von der anderen Seite kommt.“ Tatsächlich liefen dort unbemerkt zwei Juve-Spieler in Stellung, als unsere Abwehrspieler sich endgültig rechts versammelt hatten, kam der präzise Flankenwechsel und zwei Juve-Spieler standen frei. Mit 1:3 haben wir das Spiel verloren. Mein Nachbar stand nach dem Schlusspfiff auf und gab mir zum Abschied die Hand. „Wir haben heute eine gute Mannschaft gesehen“, sagte er, „schade, dass es die falsche war.“ Ein Satz, der Fairness zeigte und vor allem Verständnis von der Sache.

Drei Jahre später standen sich übrigens die beiden Mannschaften wieder gegenüber, im Endspiel um die Champions League, und diesmal waren „wir“ besser. Längst hatte unsere Mannschaft dazu gelernt.

Mit einem Buch im Dortmunder Stadion

Ich sehe die Dinge gerne zusammen. Fußball und Kultur, Fußball und Religion. Einmal habe ich ein Fußballspiel wie einen Gottesdienst geschildert, und siehe da, es funktioniert. Viele der Riten sind wie aus der Kirche übernommen.

Einmal bin ich sehr früh ins Stadion gegangen, weil ich sonst keine Karte mehr bekommen hätte. Es war noch die Zeit, als man an den Schaltern neben dem Stadion Eintrittskarten kaufen konnte. Heute gibt es die Schalter gar nicht mehr, die Karten sind immer verkauft. Immerhin über 80.000 pro Spiel! Weil ich also früh im Stadion sein würde, steckte ich ein Buch ein, Stefan Austs „Baader-Meinhof-Komplex“, das ich spannend fand.

Ich las also, während die Spieler sich unten warm machten und plötzlich bemerkte ich die scheelen Blicke meiner Nachbarn. Was will der denn hier, schienen sie zu denken, hat der sich verlaufen? Jedenfalls sprachen sie nicht mit mir, wie man das sonst ganz selbstverständlich im Stadion tut. Bis plötzlich ein Verteidiger der gegnerischen Mannschaft, der einen Mordsschuss hat, auf unser Tor zulief und nicht angegriffen wurde. „Passt auf da“, schrie ich und sprang erregt auf, aber es half nichts. Der Spieler zog ab und es stand eins zu null für den Gegner. Ich setzte mich wieder. „Hab ich´s nicht gesagt?“, sprach ich meine Nachbarn an. Jetzt schauten sie mich noch erstaunter an. Einer, der Bücher liest im Stadion und trotzdem Ahnung hat. Fortan wurde ich in die Gespräche einbezogen.

Unsere Helden Hans Tilkowski und Aki Schmidt

Mein Freund seit Jugendzeit, der frühere Pressesprecher von Borussia, ist mir in diesem Punkt ähnlich. Er sieht die Dinge auch in Zusammenhängen. Gleich mehrere meiner Romane und Sachbücher, in denen Fußball eine Rolle spielt, hat er in einer Pressekonferenz im Stadion vorgestellt. Wenn Borussia ruft, das wissen wir beide, kommt die Presse. Die Aufmerksamkeit, die auf diese Weise erzeugt wurde, hat meinen Büchern gut getan.

Seit Jugend an, er noch früher als ich, sind wir ins vergleichsweise kleine Stadion „Rote Erde“ gegangen und haben unseren Helden, den Nationalspielern Hannes Tilkowski und Aki Schmidt zugejubelt. Später wurden sie unsere Freunde und wir redeten und reden mit ihnen gerne über alte Zeiten. Wir als kleine Jungs auf der Tribüne, unsere Helden unten auf dem Rasen. Wenn ich meinen Söhnen Anekdoten aus dieser Zeit erzähle, lachen sie. „Telefon, Papa, das letzte Jahrhundert hat wieder angerufen.“

Der Stürmer, der fast alles verstolperte

Spotten tun nicht nur sie, sondern wir alle gerne, das will ich gerne zugeben. Irgendwann und irgendwo muss man seinen Frust ja ablassen. Von Gewalt, von sinnlosem Krakeelen aber sind wir weit entfernt. Es ist ein paar Jahre her, dass Borussia gegen den Abstieg spielte. Einen Stürmer hatten wir damals, der beinahe jeden Ball verstolperte. Wenn er ihn verloren hatte, grätschte er hinterher und beförderte ihn bestenfalls ins Aus. „Kämpfen tut er aber“, kommentierten die Dortmunder Fans dann, immer in der Hoffnung, dass der Junge irgendwann besser würde. Wurde er aber nicht. Als er wieder mal den vierten oder fünften Angriff durch seine Stolperei unterbrochen hatte und wieder jemand kommentierte, dass er immerhin schnell sei und kämpfen würde, sprang ein Freund von mir erregt auf und schrie: „Was ist das hier? Ist das Leichtathletik oder Fußball?“

Bei einem späteren Spiel lag dieser Spieler verletzt auf dem Rasen und mein ältester Sohn kommentierte: „Ich glaube, es geht gut aus, Papa. Er kann nicht weiterspielen.“
Überhaupt lieben wir Humor. Unser früherer Klasseverteidiger Julio Cesar, brasilianischer Nationalspieler, hat in einem Spiel mal zwei Ecken hintereinander ins Tor geköpft und wurde dann, unter dem Jubel der Zuschauer, ausgewechselt, weil das Spiel längst entschieden war. Bei der nächsten Ecke aber sprangen wir trotzdem auf und riefen: „Julio, Julio.“

Ein verbotener Vereinsname

Den Namen unseres Erzrivalen Schalke nehmen wir übrigens nicht in den Mund, auch ich zögere jetzt, ihn hier zu schreiben. Als ich mal eine Delegation aus Schuldezernenten bei einer Stadionführung in Dortmund begleitete, habe ich ihnen vorher erklärt, dass sie den Namen im Stadion nicht erwähnen sollen. Wer unbedingt von unserem Erzrivalen reden wolle, müsse von Herne-West sprechen. Die Dezernenten haben das für einen Witz gehalten, aber als Aki Schmidt bei seiner Führung ebenfalls immer Herne-West sagte, wurde ihnen bewusst, dass das absolut ernst gemeint war. Selbst bei dem Revierderby wird der Name unseres Gegners im Stadion nicht erwähnt. „Und jetzt die Mannschaftsaufstellung der Blauen …“, ruft unser Stadionsprecher ins Mikrophon.

Fußball ist schön, er ist unterhaltsam. Für meine Söhne und mich kommt ein kleines Nebenergebnis hinzu. Wir sind, wenn zwei von uns zum Stadion fahren, für drei Stunden unter uns. Wir haben Zeit, über alles Mögliche zu reden, über Fußball natürlich, aber auch über alles andere, was uns bewegt: Politik, Bücher, Religion, unsere Pläne …

Nicht das Hobby versauen lassen

Warum sich also schlagen? Warum Gewalt im Stadion bis hin zum Niederschießen eines Fans, wie das vor ein paar Jahren in Italien geschah? Straßenschlachten der Hooligans wie kürzlich gegen Leipzig? Wir wollen Freude haben, an unserer Mannschaft, die seit Jahren oft einen wunderbaren Fußball spielt, zur Not aber auch an der gegnerischen Mannschaft, wenn sie einen guten Ball spielt.

In einem meiner Krimis wird ein Fußballer ermordet, der zu den gewalttätigen Fans, die sich auch noch rassistisch äußern, gesagt hat, dass sie zu Hause bleiben sollten, weil ihr Handeln nichts mit Fußball zu tun hat. Mein Kommissar macht sich auf die Suche nach Täter und als er ihn hat, ruft er seinen Sohn von Leipzig aus an. „Wann kommst du nach Hause?“, fragt der Sohn. „Heute bleibe ich noch in Leipzig und esse in Auerbachs Keller“, antwortet mein Kommissar. „Aber morgen fahre ich ganz früh los, dann bin ich rechtzeitig zum Spiel von Borussia im Stadion. Von solchen Dummköpfen lasse ich mir doch nicht mein Hobby versauen.“

Meine Söhne lachten, als sie es lasen. „Das war wieder ganz unser Papa“, sagten sie. „Diesmal in der Verkleidung seines Kommissars.“

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* Westfalenstadion lautet der richtige Name, im Kommerz-Sprech heißt der Fußballtempel „Signal-Iduna-Park“ (Anm. Bernd Berke)




„Essen außer Haus“ damals und heute – drei Dortmunder Museen tischen ein populäres Thema auf

Hoesch-Küche, um 1960. (© ThyssenKrupp Konzernarchiv / Hoesch-Archiv)

Hoesch-Küche, um 1960. (© ThyssenKrupp Konzernarchiv / Hoesch-Archiv)

Essen außer Haus – na und? Das machen wir doch alle ziemlich oft. Eben! Und früher war das noch ganz anders. Also haben wir hier ein populäres Alltagsthema im historischen Wandel. Folglich ist es museumsreif. Drei Dortmunder Häuser haben sich zusammengetan, um je eigene Aspekte darzustellen: das Hoesch-Museum, das Brauereimuseum und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK). Das zeitliche Spektrum der lokalen und regionalen Schlaglichter reicht ungefähr von 1880 bis in die Gegenwart.

Den Anfang macht jetzt das Hoesch-Museum. Der spätere Dortmunder Stahlriese Hoesch hatte 1871 mit gerade einmal 300 Arbeitern begonnen, zu Spitzenzeiten um 1966 beschäftigte man an drei Standorten in der Stadt fast 50.000 Arbeitskräfte. Heute sind es unter dem Konzerndach von ThyssenKrupp nur noch 1400. Doch hier und jetzt geht es weniger um den radikalen Strukturwandel, sondern um die Frage, wie so viele Menschen sich in den Fabriken ernährt haben. Es war ja die grundlegend veränderte Arbeitswelt mit ihren strikten Zeittakten, die das (nicht selten hastige) „Essen außer Haus“ mit sich brachte.

Schlichte Suppen aus dem „Henkelmann“

Museumsleiter Michael Dückershoff weiß beim Rundgang durch die kleine Ausstellung Spannendes zu berichten. Anfangs brachten die Hoesch-Arbeiter meist ihren Henkelmann mit, das waren (oft emaillierte) Blechbehälter, in denen sie meist sehr einfache Suppen transportierten. Selbst Butterbrot war damals noch zu teuer, von Fleischgerichten ganz zu schweigen. Häufig brachten auch Frauen und Kinder der Arbeiter die Henkelmänner zum Stahlwerk. Außerdem wurden so genannte Wärmewagen bereitgestellt, auf denen die Nahrung in nummerierten Fächern warm gehalten und zu den Produktionsstätten gefahren wurde.

Hoesch-Werksschänke, 1960er Jahre (© ThyssenKrupp Konzernarchiv/Hoesch-Archiv)

Großkantine: Hoesch-Werksschänke, 1960er Jahre (© ThyssenKrupp Konzernarchiv/Hoesch-Archiv)

Zur Jahrhundertwende, im Januar 1900, eröffnete die so genannte Werksschänke (zunächst unter dem Namen „Werksschenke“), in der massenhaft Mahlzeiten aus der Großküche kamen. Auch dies ein Zeichen des Wandels: In den frühen Jahren gab es täglich ein einziges Gericht, in den 1960er Jahren standen vier verschiedene zur Auswahl, darunter auch die Option „salzlose Diät“.

Bierverkauf gegen Schnapskonsum

Heute würde man solche Saalbetriebe „Kantinen“ nennen, damals bezeichnete dieser Begriff jene vielen Kioske, die sich übers Werksareal verteilten und bei denen man Essen, Tabakwaren und irgendwann auch Bier der Marke Kronen kaufen konnte. Zu früheren Zeiten waren die Werksdirektoren froh, wenn wenigstens nur Bier statt Schnaps getrunken wurde. Später wurden die Regeln – wie überall – ungleich strenger.

Zweifellos mussten in einem Stahlwerk („Heißbetrieb“) jede Menge Getränke her. Also fuhren auch Lieferwagen mit „Hüttentee“ (süßer Pfefferminzgeschmack) übers Gelände, zudem wurde etwa seit den 1930er Jahren Milch angeboten.

Ein edler Weinkeller für die Chefs

Für sich selbst richteten die Chefetagen 1920 einen recht edlen Weinkeller bei Hoesch ein, in dem rund 200 Sorten lagerten, darunter feinste Tröpfchen. Hier wurden denn auch wichtige Gäste bewirtet. Überdies galt der Weinkeller als „abhörsicher“, worauf die Bosse (wohl vor allem wegen Industriespionage) großen Wert legten.

Die klassenlose Gesellschaft wurde bei Hoesch nicht erfunden. Für lange Zeit hatten die Angestellten einen eigenen Speisesaal – getrennt von den Arbeitern.

Freilich konnten alle Beschäftigten in einem Großbetrieb wie Hoesch die Notzeiten nach den Weltkriegen etwas besser überstehen. Solche Unternehmen kauften zeitweise sogar eigene Bauernhöfe, um ihre Belegschaft zu versorgen. Auch so erklärt sich die außerordentliche Anhänglichkeit, mit der Arbeiter dem Werk lebenslang treu blieben.

Und jetzt? Ein paar Fotos lassen es ahnen: Die verbliebenen Mitarbeiter versorgen sich vielfach in den umliegenden Imbiss-Betrieben rings um den Borsigplatz mit Döner, Currywurst und Artverwandtem. Nichts Besonderes mehr.

Stimmen von Zeitzeugen sind gefragt

All dies wird erst in Erzählungen halbwegs lebendig, die Exponate auf der überschaubaren Ausstellungsfläche des Hoesch-Museums geben von allein nicht ganz so viel her. Texttafeln und historische Fotografien werden mit relativ wenigen Schaustücken ergänzt, die das Ganze mit etwas Aura anreichern.

Gut also, dass zur Schau auch ein 15minütiger Film gehört, in dem Zeitzeugen nähere Auskunft geben. Sehr willkommen wäre es den Machern, wenn sich weitere Leute meldeten, die aus eigener Anschauung von damals berichten können. Wie man sich denken kann, wird es höchste Zeit, solche Stimmen zu sammeln. Eine öffentliche Kostprobe wird es am 6. April (18:30 Uhr) im Hoesch-Museum geben, wenn sich ältere Augenzeugen zu einer Podiumsrunde versammeln.

Die Ära der prachtvollsten Restaurants

Wann, wenn nicht dann? Genau am Tag des deutschen Bieres (23. April) werden das Brauereimuseum und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte, ebenfalls mit zwei kleineren Ausstellungen, in den Reigen einsteigen. Im Brauereimuseum wird die regionale Geschichte der Speisegaststätten in den Blick genommen. Museumsleiter Heinrich Tappe erläutert, dass das Essen im Restaurant gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Paris aufgekommen ist und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in deutschen Großstädten üblich wurde – zuerst nicht für die breiten Massen, sondern für ein bürgerliches Publikum.

Alte Pracht: Innenansicht des Restaurants Unionbräu, um 1910. (© Stadtarchiv Dortmund)

Alte Pracht: Innenansicht des Restaurants Unionbräu, um 1910. (© Stadtarchiv Dortmund)

Die Leute mussten überhaupt erst lernen, was es hieß, „draußen“ zu essen und wie man sich dabei zu benehmen hatte. In seiner Ausstellung will Tappe u. a. zeigen, dass bereits in den Jahren zwischen 1890 und 1914 die prächtigsten Gaststätten entstanden sind, die später nie mehr übertroffen wurden. Weitere Leitlinie: Von den 1920er bis in die 1950er Jahre wird das Essen außer Haus (auch in Ausflugslokalen) immer selbstverständlicher, bis in den 1960ern mit Cevapcici, Pizza und mehr allmählich die Internationalisierung des Speisenangebots einsetzt.

Besucher dürfen eigene Objekte mitbringen

Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) wird man sich mit einer Studioschau begnügen. Die Fläche wird gastweise bespielt vom Deutschen Kochbuchmuseum, das seinen angestammten Ort im Westfalenpark aufgegeben hat und seither – durch missliche Umstände bedingt (statisch gefährdeter „Löwenhof“, in den man nun doch nicht einziehen kann) – immer noch nach einer dauerhaften Bleibe sucht; möglichst unter demselben Dach wie die Volkshochschule, die den „Löwenhof“ verlassen muss.

Es ist angerichtet: das Ausstellungsteam (von links: Michael Dückershoff vom Hoesch-Museum, Jens Stöcker vom MKK, Heinrich Tappe von Brauereimuseum und Isolde Parussel vom Kochbuchmuseum) an einem historischen Herd.

Es ist angerichtet: das Ausstellungsteam (von links: Michael Dückershoff vom Hoesch-Museum, Jens Stöcker vom MKK, Heinrich Tappe von Brauereimuseum und Isolde Parussel vom Kochbuchmuseum) an einem historischen Herd. (Foto: Katrin Pinetzki / Stadt Dortmund)

Im MKK kann Isolde Parussel, Leiterin des Kochbuchmuseums, also demnächst an die Existenz ihres derzeit heimatlosen Instituts erinnern. Hier soll die Perspektive noch einmal geweitet werden. Neben Kantinenessen und Schulspeisungen geht es dabei auch um neuere Entwicklungen wie Lieferdienste. Der Ansatz reicht über die bloße Präsentation von Exponaten hinaus: Im Rahmen der Ausstellung können und sollen Besucher(innen) von eigenen Erfahrungen berichten und passende Fotos oder Objekte einbringen.

Kooperation als Modellfall

MKK-Direktor Jens Stöcker deutete an, dass die jetzige Kooperation dreier Dortmunder Museen ein Modellfall sein könnte. Wenn es sich anbietet, kann man auch andere Themen gemeinsam anpacken. Von Fall zu Fall und je nach Sachlage könnten dabei auch das (seit Langem im Umbau befindliche) Naturkundemuseum oder das Westfälische Schulmuseum einbezogen werden.

So weit, so durchaus interessant. Wenn man denn Kritik an der dreifachen Schau „Essen außer Haus“ üben wollte, so allenfalls deshalb, weil man sich das Ganze größer angelegt wünschen würde. Mit mehr Vorbereitungszeit und mehr Ressourcen hätte man aus dem Thema wohl noch weitaus mehr herausholen können, es wäre noch schmackhafter geworden. Bundesweite Aufmerksamkeit wäre einem solchen Unterfangen gewiss gewesen. Schade. Aber es kann halt nicht immer ein Fünf-Gänge-Menü sein.

„Essen außer Haus. Vom Henkelmann zum Drehspieß.“ In diesen drei Dortmunder Museen:

Hoesch-Museum (Eberhardstraße 12) vom 2. April bis 9. Juli. https://www.dortmund.de/de/freizeit_und_kultur/museen/hoesch_museum/start_hoesch/index.html
Museum für Kunst und Kulturgeschichte (Hansastraße 3) 23. April bis 1. Oktober. www.mkk.dortmund.de
Brauerei-Museum (Steigerstraße 16) 23. April bis 31. Dezember 2017. www.brauereimuseum.dortmund.de

 




Haben Print-Medien Zukunft? Jubiläumsschrift des Dortmunder Instituts für Zeitungsforschung wägt Chancen und Risiken

„Die weitere technische Entwicklung zur drahtlos übermittelten Zeitung läßt vermuten, dass im Druckgewerbe in den nächsten Jahrzehnten mit revolutionären Entwicklungen zu rechnen ist.“ Der Satz stammt aus Zeiten, in denen wohl niemand an so etwas wie Internet und dessen Folgen für die Medienwelt dachte. Es war Kurt Koszyk, der bereits 1969 den Weitblick besaß und offensichtlich ahnte, dass den Print-Medien grundlegende Veränderungen bevorstehen.

Nachzulesen sind die Worte des Pressehistorikers nicht nur in seinem fast 50 Jahre alten Wörterbuch zur Publizistik, sondern auch in der kürzlich erschienenen Schrift „90 Jahre Institut für Zeitungsforschung“. Er selbst hat dieses Institut von 1957 bis 1977 geleitet.

Herausgegeben hat den Band die jetzige neue Leiterin Dr. Astrid Blome. Ihr Vorwort lässt durchaus erkennen, dass sie gewiss nicht nur einmal mit der Frage konfrontiert war, ob eine Stadt wie Dortmund ein solches Institut überhaupt benötigt. Das Heft liefert nun eine Reihe von Argumenten, weshalb die Stadt gut beraten ist, die Einrichtung auch weiterhin finanziell abzusichern. Doch das ist nicht alles, was die Veröffentlichung zu bieten hat. Die Autoren zeichnen ebenso die spannende Entstehungsgeschichte des Instituts nach, beschreiben Entwicklung und Besonderheiten und richten den Blick in die Zukunft.

Ein Glücksfall für die Stadt

Dass ausgerechnet Dortmund zur Heimat eines Instituts werden sollte, das für die Pressegeschichte immer noch eine Vorreiterrolle spielt, mag aus heutiger Perspektive überraschen, besaß die Stadt doch in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weder eine Universität noch hatte sie sich in Wissenschaft und Forschung einen Namen erworben. Es war der damalige Leiter der Stadt- und (Landes)bibliothek, Dr. Erich Schulz, der – wie man heute sagen würde – gut vernetzt war, um Förderer für die Bücherei zu gewinnen, und der zudem die Trends der Zeit im Blick hatte.

Als Erich Schulz von dem angesehenen Lehrer Karl d‘Ester, der zudem in Germanistik promoviert hatte, den Hinweis erhielt, doch Zeitungen aus dem Westfälischen zu kaufen und in den Bestand aufzunehmen, weil sie „ein kommendes Thema sind“, war das die Initialzündung für ein ganz neues Arbeitsgebiet der Bibliothek. Dann nahmen die Dinge ihren Lauf: Immer mehr Fachleute und auch schließlich die Zeitungsverleger wurden auf die Dortmunder Sammlung aufmerksam und es dauerte bis zur Geburtsstunde des Instituts nicht mehr lang.

Verdienste des Rundschau-Verlags

Apropos Verleger: Wie dem Buch zu entnehmen ist, sollten sie nicht die Förderer der Dortmunder Einrichtung bleiben. Heute lebt das Institut im Wesentlichen von der Unterstützung der Stadt. Wenig rühmlich ist nach Recherchen von Koszyk auch die Rolle der deutschen Zeitungsverleger nach Hitlers Machtergreifung. Ihr Interesse habe vornehmlich der Besitzstandswahrung unter dem NS-Regime und weniger der Pressefreiheit gegolten. Mit seiner Position hat der Historiker erheblichen Widerspruch geerntet; wohl zu Unrecht, wie aus den Erläuterungen des Buches zu schließen ist.

Zurück zum Institut: Verdient gemacht hat sich für einen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere ein Verlag, nämlich der der Westfälischen Rundschau. Er sprang finanziell in die Bresche, um die „versprengten Bestände“ wieder unter einem Dach zu vereinen. Das Ringen um Geld und Stellen sollte fortan dem Institut als wichtige Aufgabe bleiben. Und wohl alle Leiter brauchten so etwas wie Erfindergeist, um Fördermittel heranzuschaffen, mit denen sie den Ausbau der Einrichtung vorantrieben, den Bekanntheitsgrad steigerten und vor allem auch Ausstellungen finanzierten.

Reichhaltige Bestände

Während manche anderen Institute nicht überlebten, konnte sich Dortmund behaupten und hat aktuell mit 116.000 Mikrofilmrollen, über 62.000 Zeitungs- und Zeitschriftenbänden, einer Fachbibliothek mit knapp 65.000 Bänden, sowie zahlreichen Plakaten und Karikaturen einen Bestand, der das Institut national und international zu einem „zentralen Spieler im Feld“ werden lässt, wie es im Grußwort heißt, zumal andere Sammlungen wie an der FU Berlin, in Münster oder Bremen entweder aufgelöst wurden oder bald verschwinden werden.

Zum Bestreben des Instituts gehörte es auch von Beginn an, eine wissenschaftliche Expertise vorweisen zu können, was allerdings auch immer vom Stellenplan abhängig ist und war. Alle Leiter, von Schulz über Koszyk, Hans Bohrmann, Gabriele Toepser-Ziegert bis hin zu Astrid Blome, um nur einige Namen zu nennen, haben durch ihr Engagement stets dazu beigetragen, das wissenschaftliche Renommee zu festigen.

Journalistik-Studenten als Nutzer

Zugleich war der Einrichtung aber auch stets daran gelegen, ein größtmögliches Interesse am Pressewesen zu wecken. Denn Zeitungen bieten bekanntlich nicht nur Lesestoff zu den aktuellen Ereignissen ihrer Zeit, sondern sind mit ihren Inseraten, Anzeigenseiten und Beilagen auch immer ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft.

Hans Bohrmann, Leiter von 1977 bis 2003, veranschaulicht im Interview, dass es einiger Anstrengungen bedurfte, um neue Benutzer zu werben. Es gelang schließlich, Familienforscher ebenso zu gewinnen wie Studenten unterschiedlichster Fachrichtungen. Dortmunder Journalistik-Studenten waren es nicht per se, denn abgesehen von der räumlichen Entfernung zur Uni, galt ihr Interesse auch nicht nur Printprodukten, sondern allen Medien. Gleichwohl besteht in heutiger Zeit ein großes Bemühen zur Kooperation von Institut und Studiengang.

Beide Einrichtungen setzen sich auch mit einer entscheidenden Frage auseinander: ob Zeitung eigentlich noch Zukunft hat oder ob auch die Einrichtung, die heute in Nähe des Hauptbahnhofes untergebracht ist, bald auf dem Abstellgleis landet.

Strategische Fehler der WAZ-Gruppe

Wie sehr das Zeitungssterben in Dortmund selbst zu spüren ist, darauf kommt Hans Bohrmann zu sprechen. Er wirft der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) bzw. der WAZ-Gruppe strategische Fehler vor, die zum Aus für die gesamte WR- und für die Dortmunder WAZ-Redaktion geführt habe. Und er wartet mit einer erstaunlichen Zahl auf: „Wenn ich höre, dass die ,Ruhr Nachrichten‘ eine Druckauflage von 60.000 haben, dann wäre das für eine 600.000-Einwohner-Stdt zu wenig“.

Astrid Blome sieht trotz alledem für die Tagespresse deshalb eine Chance, weil dieses Medium wie kaum ein anderes Informationen ordnen und strukturieren könne. Zeitungen selbst bleiben ein Forschungsobjekt und bieten angesichts einer über 400-jährigen Geschichte noch umfangreichen Stoff für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Astrid Blome (Hrsg.): „90 Jahre Institut für Zeitungsforschung – Rückblicke und Ausblick“. Klartext-Verlag, 104 Seiten, 9,95 Euro.




„Gaffer“ gibt es doch schon lange – ein Beispiel von 1967

Über sogenannte Gaffer an Unfallstellen wird immer wieder empört berichtet, aber ist das ein neues Phänomen? An einem Beispiel aus dem Jahre 1967 soll das an dieser Stelle einmal genauer beleuchtet werden: Eine Lokomotive stürzte damals in Ennepetal aus den Gleisen und rollte den Bahndamm hinunter.

Die abgestürzte Lok liegt am Straßenrand, der Lokführer ist umgekommen. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Gegen 3 Uhr in der Nacht zum 21. Juni 1967 war eine E-Lok der Baureihe E 41 auf einem Nebengleis der Bergisch-Märkischen Strecke zwischen Schwelm und Hagen beim Rangieren gegen einen Prellbock geprallt. Die Lok sprang aus den Schienen und stürzte den Abhang hinunter. Der 41-jährige Lokführer versuchte sich durch einen Sprung aus dem Führerhaus zu retten, wurde jedoch durch die Lok erdrückt und getötet. Das tonnenschwere Fahrzeug blieb auf der Seite neben der Bundesstraße 7 liegen.

Noch in der Nacht verbreitete sich die Nachricht von dem spektakulären Unfall in der Stadt, und schon am Morgen waren Hunderte von Menschen zu der Unglückstelle gerannt oder mit ihren Autos dorthin gefahren, verfolgten die schwierigen Bergungsarbeiten und machten Fotos. Auf der Bundesstraße 7 bildeten sich in beiden Richtungen kilometerlange Staus, die auch in den folgenden Tagen anhielten, und die Polizei musste Verstärkung anfordern und regelnd eingreifen, damit überhaupt die Kräne der Spezialfirma an die zu bergende Lok herankamen.

Menschen scheinen in ihrer Psyche darauf trainiert zu sein, bei Ereignissen mit Blut und Horror fasziniert zuzuschauen. Das trifft nicht nur für Unglücke im Straßenverkehr zu. Auch öffentliche Hinrichtungen waren bis in die Neuzeit hinein ein ganz besonderer Anziehungspunkt für Menschen, die den Schauder erleben wollten und die für sich das Glück fühlten, nicht selbst betroffen zu sein.

Heute kommt noch hinzu, dass mit Kameras in Smartphones und Tablets das Geschehen sofort dokumentiert wird. Journalisten erheben dann oft empört und belehrend den Zeigefinger, dabei dient ihre eigene Arbeit kaum einem anderen Zweck, als ihren Kunden die Katastrophe ins Haus zu liefern. Besonders heuchlerisch wirken dann Aufrufe, doch bitte zur Identifizierung der möglichen Täter und zur Rekonstruktion des Tathergangs private Fotos und Videos zur Verfügung zu stellen. Und das hört man ausgerechnet von einer Behörde, die sonst das Filmen am Unglücksort verteufelt – irgendwie etwas weltfremd.




Ein kleines Museum mit Küchen und mehr als 700 Kochbüchern

Draußen sieht und riecht man den Frühling – Zeit für den Garten oder für einen Ausflug. Schöne Ziele gibt es im Ruhrgebiet, zum Beispiel das kleine Henriette-Davidis-Museum in Wetters Ortsteil Wengern – dort, wo die berühmte Köchin am 1. März 1801 geboren wurde. Gestorben ist sie übrigens am 14. April 1876 in Dortmund, und auf dem dortigen Ostfriedhof findet man auch noch ihr Grab.

Kochbücher sind auch in Zeiten von chefkoch.de noch sehr nützlich. (Foto Pöpsel)

Davidis war eine Pfarrerstochter, die im Elternhaus in Wengern und in verschiedenen fremden Haushalten das Kochen gelernt hatte und ihr Wissen in Buchform weitergeben wollte. Es gab zwar in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits neben privaten, mit der Hand geschriebenen Koch-Tagebüchern auch gedruckte Kochbücher, doch keines  war im deutschsprachigen Raum so folgenreich wie Davidis‘ „Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche“. Insgesamt kam es auf 21 Auflagen, es wurde in vielen Familien über Generationen hinweg weitergegeben, und der von Davidis geprägte Satzanfang „Man nehme…“ ist auch heutigen Köchen noch geläufig. Manche Rezepte allerdings kann man heute kaum noch benutzen, zum Beispiel die Anleitung, wie man einen Kapaun zubereitet.

Neben diesem Kochbuch schrieb Henriette auch ein Buch für die kleine Puppenköchin sowie Anleitungen zur Erziehung junger Mädchen. In einem kleinen Fachwerkhaus in Wengern, dem ehemaligen Mühlenhäuschen, gibt es seit 1994 das Henriette Davidis gewidmete Museum. Es geht zurück auf und wird heute noch geleitet von dem evangelischen Pfarrer Walter Methler.

Neben Küchen- und Haushaltsgeräten findet man in dem Haus auch etwa 700 verschiedene Ausgaben und Auflagen der Davidis-Werke, unter anderem eine in den USA erschienene Fassung, die für die dortigen deutschsprachigen Einwanderer gedruckt worden war.

Henriette-Davidis-Museum, Elbescheweg 1 in 58300 Wetter, Tel. 02335-61116. Geöffnet jeweils am 1. Sonntag im Monat von 15 bis 17 Uhr. Führungen zu anderer Zeit nach Absprache.

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Das Wirken von Henriette Davidis stand bzw. steht auch im Mittelpunkt des Deutschen Kochbuchmuseums in Dortmund, das allerdings zur Zeit wegen Umzugs und Erarbeitung eines neuen Konzepts geschlossen ist.




Mutmaßlicher Kindesmörder in Herne gefasst: Warum muss man den vollen Namen von Marcel H. kennen?

Zunächst einmal dies, das Allerwichtigste: Man kann nur sehr erleichtert sein, dass Marcel H. (19), der mutmaßliche Kindesmörder von Herne, gestern Abend festgenommen worden ist.

Er selbst hat dem Inhaber einer griechischen Imbissstube in Herne gesagt, er sei der seit drei Tagen Gesuchte und hat von dort aus selbst die Polizei angerufen.

Kann man ein solches Thema abstrakt bebildern? Ja, das ist vielleicht sogar das Beste. (BB)

Kann man ein solches Thema abstrakt bebildern? Ja, das ist für ein Kulturblog vielleicht sogar das Beste. (Foto: BB)

Im Ruhrgebiet war und ist es d a s Thema dieser Tage. Wohin man auch kommt, so gut wie überall wird darüber gesprochen. Als Vater kann ich – natürlich auch nur bis zu einem gewissen Grade – nachfühlen, was Eltern, Verwandte und Freunde des erstochenen neunjährigen Jungen durchmachen.

Trotz allem die Rechtstreue wahren

Ja, man kann sogar nachempfinden, dass nicht alle Regungen, die sich nun mehr oder weniger offen Luft verschaffen, den rechtsstaatlichen Prinzipien entsprechen. Doch gerade, wenn man sich etwa über antidemokratische Tendenzen in anderen Ländern empört, muss man auch in einem solchen Falle strikt rechtstreu vorgehen. Die Tat muss möglichst zweifelsfrei und gerichtsfest bewiesen werden. Erst dann kann die Strafe folgen.

Mit der Verhaftung sind längst nicht alle Fragen beantwortet. Die Polizei wird noch einige Zeit weiter ermitteln müssen. Nach dem jetzigen Stand gibt es zwei Opfer und Marcel H. wäre ein Doppelmörder.

Pressekonferenz mit neuen Erkenntnissen

Um 16 Uhr hat es heute eine Pressekonferenz in Dortmund gegeben, die auf mehreren Info-Kanälen live übertragen wurde und auf der verstörende Details bekannt wurden. Mehrere Ermittler sprachen von „Neuland“, das sie in ihrem bisherigen Berufsleben noch nicht betreten hätten.

Demnach hat Marcel H. inzwischen den Mord an dem 9-jährigen Jungen gestanden und auch zugegeben, einen 22-jährigen flüchtigen Bekannten in dessen Herner Wohnung erstochen zu haben. Dann hat er laut Geständnis dort Feuer gelegt, um Spuren zu verwischen. Bei seiner Vernehmung soll Marcel H. „eiskalt und emotionslos“ gewirkt haben, so Klaus-Peter Lipphaus, Leiter der zuständigen Bochumer Mordkommission.

Äußerst wirr und vergleichsweise läppisch klingen die vermeintlichen Beweggründe für die blutrünstigen Taten, die jeweils mit Dutzenden von Messerstichen ausgeführt wurden. Zum einen habe es eine Absage der Bundeswehr gegeben, hinzu kam offenbar der Umzug in eine Nachbarstadt, wo der computerspielsüchtige Marcel H. angeblich keinen Internetzugang gehabt hätte. Wie es hieß, wollte er sich deswegen zunächst das Leben nehmen, doch mehrere Suizid-Versuche seien misslungen…

Während der gesamten Pressekonferenz war übrigens abgekürzt von „Marcel H.“ die Rede. Warum ich das so betone, wird sich gleich zeigen.

Eine gierige Klick-Maschine

Ursprünglich ging es mir eigentlich um etwas anderes, nämlich um das abermals fragwürdige Verhalten mancher Medien in den letzten Tagen.

Gewiss, auch andere haben stellenweise zweifelhaft berichtet, doch habe ich ein Angebot etwas genauer beobachtet, weil das Medium eben mitten im Revier sitzt und somit besonders nah am Geschehen war: Ich meine den Online-Ableger der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ / Funke-Gruppe), www.derwesten.de

Dieser Auftritt hat kürzlich ein neues Erscheinungsbild erhalten, auch sind Konzept und Stoßrichtung geändert worden. Es handelt sich, wie ich finde, seither zu großen Teilen nicht mehr um eine herkömmliches journalistische Offerte mit (selbst)kritischer Balance. Sondern?  Um eine gellend boulevardeske, unentwegt nach Aufmerksamkeit gierende Klick-Maschine, die furchtbar gern jüngere (Werbe)-Kunden ansprechen möchte und die User daher munter duzt. Das kann einem schon unter normalen Umständen gehörig auf die Nerven gehen.

Infos auch für notorische Gaffer

Im Falle Marcel H. hat derwesten.de freilich mehrfach den Bogen überspannt. Sehr früh schon, nämlich bereits in den Morgenstunden am vergangenen Dienstag, hat man den vollen Namen des dringend Verdächtigen (der sich angeblich im Internet mit der Tat gebrüstet hatte) genannt. Hier geht es keineswegs um Mitleid mit dem mutmaßlichen Mörder, sondern um sein familiäres und sonstiges Umfeld. Besonders in Herne selbst gibt es wahrscheinlich viele, die mit dem Namen etwas anfangen können, etwaige Spinner und Idioten eingeschlossen.

Auch mögliche Gaffer und vielleicht auch Trittbrettfahrer wurden sozusagen bestens bedient. Man las in den vielfach aufgeregt-kurzatmigen Berichtsfetzen nicht nur den Straßennamen des Tatorts, sondern konnte auf Fotos auch Hausnummern erkennen und hätte sich vermutlich einiges erschließen können, um ungebeten „vor Ort“ aufzutauchen.

Dass es durchaus anders geht, belegt die gedruckte WAZ. Dort wird noch auf der heutigen Titelseite der Name des mutmaßlichen Täters abgekürzt – was der Berichterstattung übrigens keinerlei Abbruch tut und nichts von ihrer Brisanz nimmt.

Das Fahndungsfoto hätte genügt

Das von der Polizei herausgegebene Fahndungsfoto hätte vollauf genügt. Schließlich hatten die Beamten dringend davor gewarnt, den eventuell bewaffneten Kampfsportler Marcel H. anzusprechen oder gar auf eigene Faust stellen zu wollen. Sofort die Polizei anrufen, so lautete die richtige Anweisung. Wozu also der vollständige Name? Polemisch gefragt: Sollte man sich etwa als Passant seinen Ausweis zeigen lassen?

Bemerkenswert, dass derwesten.de am Dienstagnachmittag vorübergehend zurückruderte und den Namen wieder zu Marcel H. abkürzte; sei’s, dass ein mahnender Hinweis aus der Rechtsabteilung gekommen war, sei’s, dass jemand mit Weisungsbefugnis in der Redaktion ein Einsehen hatte.

Doch ach, die Zurückhaltung währte nicht lange. Kaum war klar, dass inzwischen auch andere Medien gleichfalls mit dem kompletten Namen herausrückten, stieg auch derwesten eilends wieder damit ein. Die Dämme waren nun einmal gebrochen. Geradezu genüsslich hieß es nun auch wieder, der mutmaßliche Täter werde „gejagt“.

Kläglich hilflose Wortwahl

Als er schließlich gefasst war, lautete die kläglich hilflose Formulierung, die Polizei habe ihn „geschnappt“. Leute, wir sind hier nicht bei einem harmlosen Spielchen wie „Spitz, pass auf!“ – „Geschnappt“, das kann man vielleicht mal bei einem x-beliebigen Taschendieb sagen, aber doch nicht bei einem mutmaßlichen Kindermörder. Da gibt es einige passendere Worte.

Der im Grunde schrecklich banale Vorgang, dass Marcel H. sich in einer Imbissbude gestellt hat, wird in einem Anreißer so aufbereitet, um nicht zu sagen „hochgehottet“: „So abgebrüht und dreist stellte … (voller Name) sich den Behörden„. Die dürren Mitteilungen, die dann folgen, rechtfertigen die vollmundige Ankündigung nicht.

Auch nach der besagten Pressekonferenz tönte man bei derwesten.de lauthals weiter. Zitat: „Eiskalt, aber er stach 120 Mal zu…“ Was das eingeschobene „Aber“ genau zu bedeuten hat, erschließt sich nicht. Und welch‘ eine Meisterleistung: die Stiche beider Mordtaten zu addieren und als summarische Horrorzahl zu präsentieren.

So sehr und mit allen technischen Mitteln (Texte, Fotos, Filme etc.) warf sich derwesten auf die Berichterstattung, so rundum wurde alles „gecovert“, dass man punktuell schon von Panikmache sprechen konnte. Der Informationsauftrag wurde gleichsam übererfüllt. Spürbar war die Konkurrenz mit der „Bild“-Zeitung, von der man sich im Kern des Ruhrgebiets keinesfalls übertrumpfen lassen wollte (und die – wen wundert’s? – auch ohne sonderliche Skrupel berichtete).

Nicht alles auf die Goldwaage, aber…

Übrigens, nur zum Beispiel: Auch der öffentlich-rechtliche WDR 2-Hörfunk hat nicht durchweg mit Maß und Ziel berichtet. Heute ließ man ohne Not und ohne jegliche Relativierung eine Hernerin im O-Ton zu Wort kommen, die ihr Kind seit Tagen nicht zur Schule geschickt und sich selbst in der Wohnung verbarrikadiert hatte. Und dann gleich wieder Musik…

Zurück zu derwesten.de: Ja klar, ich habe gut reden. In der allgemeinen Hektik kann man wohl nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Allerdings: Gedruckt stünde es für alle Zeiten da, online könnte man noch ein paar Kleinigkeiten korrigieren. Vor allem aber wäre es gut, wenn man merken würde, dass die Redaktion einen halbwegs verlässlichen Kompass hat.

Man kann allerdings neuerdings öfter den Eindruck bekommen, dass derwesten.de drauf und dran ist, den (auch nicht stets über jeden Zweifel erhabenen) journalistischen Ruf der WAZ in Mitleidenschaft zu ziehen.

 

 




Trotz des „Diaspora“-Geredes aus Köln – das Ruhrgebiet hat ein reiches literarisches Leben

Alles, was man im Leben braucht, sind Ignoranz und Selbstvertrauen, heißt es bei Mark Twain. Und davon hat Rainer Osnowski vom Festival lit.COLOGNE wohl mehr als genug.

Katja Lange-Müller auf Einladung des Literaturbüros Ruhr im Maschinenhaus Essen - Foto: G. Herholz

Katja Lange-Müller auf Einladung des Literaturbüros Ruhr im Maschinenhaus Essen (Foto: Gerd Herholz)

Anders lässt sich kaum erklären, warum er angesichts der Vorankündigungsrhetorik zur lit.RUHR (wir berichteten) in der Kölnischen Rundschau verlauten ließ:
„Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen ‚erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind‘. Das interessiere auch jene Verlage, ‚für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist‘.“

Kleine „Gegendarstellung“
Selbst bei bescheiden-grober Schätzung darf man getrost davon ausgehen, dass längs der Ruhr jährlich ca. 800 Literaturveranstaltungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene stattfinden, mit Autoren aus der Region, aus Deutschland, aus Europa und der ganzen Welt. Vielleicht sind es – mit all den Schullesungen – sogar wesentlich mehr. Hier wäre es tatsächlich einmal sinnvoll, vom „Land der 1000 (Lese-)Feuer“ zu sprechen.

Breite & Spitze zugleich
Ruhrgebietsweit gibt es Stadtbibliotheken und -büchereien, kleine Verlage, soziokulturelle Zentren, Literaturbüros, Buchhandlungen, Kneipen, Universitäten, Preisstifter, Festivals, Volkshochschulen, Archive, Schauspielhäuser, Auslandsgesellschaften, Kulturbüros und Kirchen, die eben nicht nur Lesung, Gespräch, Poetry Slam oder Rezitation anbieten, sondern sich das ganze Jahr über um ein vielfältiges literarisches Leben kümmern, um das literarische Gedächtnis ebenso wie um die Förderung junger Talente oder die Leseförderung.
Das glauben Sie nicht? Dann überfliegen Sie bitte einmal die unvollständige Liste unten und lassen sich beeindrucken. Gewisse Kölner aber schweigen besser für immer.

Abbas Khider (li.), Jochen Hippler & Gerd Herholz (Mitte) im Ringlokschuppen Ruhr (Foto: Literaturbüro Ruhr e.V.)

Literaturförderer und –vermittler im Ruhrgebiet

(alphabetisch nach Städten):


Bochum
Literarische Gesellschaft / Macondo (Zeitschrift & Veranstalter) / Blue Square der Universität Bochum / Bahnhof Langendreer / Literaturkarte Ruhr, Ruhruniversität Bochum / Goldkante (Bar)

Bottrop Verlag Henselowsky Boschmann

Dortmund Literaturhaus Dortmund / Stadt- und Landesbibliothek / Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt / jugendstil – Kinder- und Jugendliteraturzentrum NRW / subrosa-Hafenschänke / Melange, Literarische Gesellschaft zur Förderung der Kaffeehauskultur e.V. / Auslandsgesellschaft NRW e.V. / TarantaBabu – Verein zur Förderung der interkulturellen Lesekultur und Medienkompetenz e.V.

Duisburg Verein für Literatur und Kunst / Stadtbibliothek / Studiengang Literatur und Medienpraxis, Universität Duisburg-Essen / Forum Kalliope, Universität Duisburg-Essen / Lokal Harmonie, Ruhrort

Essen Buchmesse Ruhr / Centre Culturel Franco-Allemand / Katakombentheater  / Stadtbibliothek / Medienforum Bistum Essen / Literarische Gesellschaft Ruhr / Buchhandlung Proust / Schreibheft / Literatürk / Kulturwissenschaftliches Institut (KWI) / Exile Kulturkoordination / Das Debüt – Literaturblog & Lesungen im Café Livre / Klartext Verlag

Gelsenkirchen Consol Theater / Die Flora / Ruhrpoeten e.V. / Reviercast – Ton- und Videoarchiv zur Literatur des Ruhrgebiets

Gladbeck Literaturbüro Ruhr e.V. / Stadtbücherei / Martin Luther Forum Ruhr / Leuchtfeder e.V. – Förderung von Kunst und Kultur

Hamm Der Literarische Herbst

Hattingen Deutsches Aphorismus-Archiv (DAphA)

Herne Literaturhaus Herne-Ruhr / WortLautRuhr

Moers Moerser Gesellschaft zur Förderung des literarischen Lebens e.V. / Moerser Literaturpreis

Mülheim Ringlokschuppen Ruhr/ Theater an der Ruhr / Katholische Akademie Die Wolfsburg

Oberhausen Initiative Literaturhaus Oberhausen / Stadtbibliothek Oberhausen / Schloss Oberhausen / Gdanska / K 14

Recklinghausen Ruhrfestspiele

Schwerte Haus Villigst

Unna Westfälisches Literaturbüro




Journalist damals: Möblierter Herr mit mechanischer Schreibmaschine

„Wie war das Leben ehedem / als Journalist doch angenehm.“ Dieser soeben flugs erfundene, allerdings recht wilhelmbuschig oder nach Heinzelmännchen-Ballade klingende Reim stimmt natürlich inhaltlich nicht, aber ein paar Dinge waren damals doch besser. Oder halt anders.

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Jetzt erzähl ich euch mal was aus der Bleizeit, jedoch quasi impressionistisch, wie es mir gerade in den Sinn kommt:

Zeitungs-Volontär war ich mit knapp 20 Jahren, bereits vor dem Studium. Damals ging so etwas noch. Ich habe etwa 600 DM (Deutsche Mark) im Monat verdient, es gab jede Menge Abendtermine, lediglich 14 Tage Jahresurlaub und für allfällige Sonntagsarbeit noch keinerlei Freizeitausgleich.

Für die paar Kröten…

Mit anderen Worten: Für die paar Kröten hat man aber so richtig geschuftet – bei der „Westfälischen Rundschau“ (WR) damals letzten Endes für die Kassen der SPD, die WAZ-Gruppe ist erst später eingestiegen. In seinen frühen Zwanzigern hielt man Frondienste dieser Sorte noch klaglos aus; zumal man ja glaubte, den Job für alle kommenden Zeiten sicher zu haben.

Ich fand es sogar aufregend. Meine allererste Meldung mit Cicero-Zeile, meine allererste Reportage, meinen allerersten Gerichtsbericht, meine allererste Theaterkritik (zunächst lokalen Ausmaßes). Alles war noch so neu und frisch. Fotos durfte man ebenfalls machen und in abgedunkelten Hinterzimmern oder dito Toiletten selbst entwickeln. Toll.

Von Ort zu Ort

Man war als „Volo“ gehalten, alle paar Monate von Ort zu Ort zu wechseln (in meinem Falle waren das: Olpe, Ennepetal/Gevelsberg, Hamm, Ahlen mit Zwischenstationen in Dortmund und Wanne-Eickel – ich sag’s euch) und wohnte dort jeweils residenzpflichtig in möblierten Zimmern, die der Verlag angemietet hatte. Ja, ich bin als Jungspund in den frühen 70er Jahren tatsächlich noch ein „möblierter Herr“ gewesen. Schon damals hatte es etwas Vorgestriges.

Andererseits sind Journalisten zu jener Zeit von diversen Institutionen noch ein wenig hofiert und umgarnt worden, auch gab es prozentual und absolut ungleich mehr Zeitungsleser, die überdies noch etwas mehr Respekt hatten. Wir „Zeitungskerle“ (so mein altvorderer Kollege Charly P.) galten noch etwas, jedenfalls auf lokaler Ebene. Da gab’s vielleicht schon mal einen erzürnten Leserbrief, aber keine wüsten Beschimpfungen, erst recht keinen „Shitstorm“ oder gar Drohungen wie hie und da jetzt.

Klare Partei-Präferenzen

Der Deutsche Journalistenverband (DJV) hat kürzlich in seinem Newsletter aus einer Studie über die erschreckenden Erfahrungen zitiert, die viele Kollegen heute, in den Zeiten des „Lügenpresse“-Gegröles, damit machen müssen. Früher waren solche Zustände undenkbar.

Als WR-Redakteur hielt man es damals tunlichst eher mit den Sozialdemokraten. Ruhrnachrichten und Westfalenpost galten hingegen als CDU-nah. Wie hübsch die Präferenzen damals noch verteilt waren… Und damit es nur deutlich gesagt ist: Journalisten fungierten in dieser anscheinend klar gegliederten Welt zuweilen auch als nützliche Idioten, als Erfüllungsgehilfen der Polit-Darsteller ihrer jeweiligen Couleur. Manchmal ging es vollends unverblümt her: Ein WR-Lokalchef war zugleich SPD-Ratsherr – in der Nachbarstadt, so dass er wenigstens nicht über sich selbst berichten musste.

Zigaretten zur Selbstbedienung

Jedenfalls war es in den 70ern und bis in die frühen 80er hinein noch üblich, dass bei so manchen lokalen Pressekonferenzen Kästchen mit Zigaretten zur gefälligen Selbstbedienung auf dem Tisch standen. Geraucht wurde immer und zu jeder Gelegenheit. Der eine oder andere Kollege verließ den Termin nicht, ohne den notorischen „Journalisten-Rollgriff“ angewendet zu haben, sprich: Er nahm noch einige zusätzliche Zichten als Wegzehrung mit. Wie hatte Kurt Tucholsky in den 20er Jahren schon geschrieben: Journalismus sei ein Beruf, den man (nur) mit der Zigarette im Mundwinkel ausüben könne.

Grundnahrungsmittel Bier

Hinzu kam, bevor die Computer Einzug hielten und die Korrektoren eingespart wurden, als tägliches Grundnahrungsmittel mindestens das Bier. Gelegentlich ging es damit schon (oder erst?) mittags los, wenn andere Berufe schon ihren Grundpegel erreicht hatten. Die mit der mechanischen Schreibmaschine gehackten und per Kurier oder Regionalzug zur Zentrale geschickten Manuskripte wurden ja dort allesamt noch mehrfach überprüft. Was sollte also schon passieren? Noch Mitte der 80er Jahre gab es vereinzelt Ausstellungs-Vorbesichtigungen, zu denen stilvoll und kultiviert Cognac gereicht wurde, was allerdings auch mit der Disposition gewisser Museumsleiter zu tun hatte. Zum Wohle? Nun ja. Wie man’s nimmt.

In New York verwöhnt

Heute ziemlich undenkbar wäre auch ein Kulturtermin, der die seinerzeit noch zahlreicheren Regionalblätter von Nordrhein-Westfalen mit einem beachtlichen Tross nach New York führte und aus dem Etat des Düsseldorfer Kulturministeriums bestritten wurde. Einziger Anlass war ein bevorstehendes NRW-Kulturfestival im Big Apple, von dem unsere Leser eigentlich herzlich wenig hatten. Doch man verwöhnte uns geradezu korrumpierend mit Linienflug, Unterkunft in einem noblen Hotel und einem hochinteressanten Programm, das vom Besuch bei der New York Times bis zum eigens polizeilich geschützten Trip durch die seinerzeit so gefährliche Bronx reichte. Als das Land NRW noch glaubte, Geld freihändig ausstreuen zu können…

Auch hättet ihr gestaunt, wenn ihr gesehen hättet, was in der Vorweihnachtszeit an Firmen-Präsenten in unserer Wirtschaftsredaktion eingetroffen ist. Die Kollegen konnten die Gaben schwerlich zurückschicken, machten das Beste daraus und organisierten alljährlich eine Verlosung, zu der sich auch noch unsere betagten Rentner bemühten.

Aber ich verplaudere mich.

Verdichtung der Arbeit

Spätestens seit Anfang der 80er wurde die gesamte Zeitungsbranche mit Aufkommen der Computer recht zügig diszipliniert. Die Arbeit verdichtete sich zusehends, man schrieb nicht nur, sondern war nun auch gleichzeitig Layouter, Setzer, Korrektor und Schlussredakteur. Irgendwann war es so weit, dass man sich keine Mittagspausen mehr erlauben konnte, sondern nur noch hastig etwas nebenbei verschlang. Die Leute, die in den Beruf nachrückten, waren im Schnitt stromlinienförmiger als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen. Vorher gab es noch Typen. Typen…




Was im Revier sonst noch so geschieht… – Es war wieder mal einer dieser Donnerstage mit lauter neuen Ausstellungen

Wir erinnern uns: Das seit jeher von Kirchturmpolitik geplagte Ruhrgebiet hatte sich für 2010 zusammengerauft, um einmal gemeinsam als „Kulturhauptstadt Europas“ zu firmieren. Um das Thema einige Nummern kleiner aufzugreifen: Schon oft hätte man sich gewünscht, dass es eine Koordinationsstelle gäbe, die beispielsweise regionale Pressetermine miteinander abgleicht – und sei’s für den Anfang auch nur (ganz bescheiden) auf musealem Gebiet.

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte "Hiddensee", 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte „Hiddensee“, 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

Doch nein! Immer und immer wieder kommt es vor, dass zum allseits beliebtesten Vorbesichtigungs-Tag, dem Donnerstag, vier, fünf, sechs oder noch mehr Termine in mehr oder weniger unmittelbarer Nachbarschaft gleichzeitig anberaumt werden. So beispielsweise auch gestern, am 2. Februar.

Man sollte ab 11 bzw. 11.30 Uhr beileibe nicht nur die neue Ausstellung über Emil Schumacher in Hagen („Orte der Geborgenheit“) geneigt zur Kenntnis nehmen, sondern etwa auch eine Auswahl von Reisebildern des Landschaftsmalers Siegward Sprotte im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, die gleichfalls mit „Orten“ im Titel daherkommt („Reise doch – bleibe doch!“ – Orte der Inspiration). Hier hätte man sich also schon bei der Formulierung absprechen können. Zu spät…

Zwei weitere Termine liefen überdies praktisch parallel in derselben Stadt, nämlich in Dortmund: Das Künstlerhaus im Sunderweg präsentierte der Presse seine neue Schau „Ohne Netz und doppelten Boden – Über die Uneindeutigkeit von Bildern“, die DASA Arbeitswelt Ausstellung lud unterdessen zur „Alarmstufe Rot“ über Katastrophen und deren Bewältigung. Keine Kunst, aber ebenfalls ein museales Angebot.

Damit längst nicht genug: Zur gleichen Zeit bat „nebenan“, in der Landeshauptstadt Düsseldorf, die Kunstsammlung NRW/K 21 zur umfangreichen Retrospektive über den belgischen Künstler Marcel Broodthaers. Gewiss, Düsseldorf zählt nicht zum Ruhrgebiet, doch sollte man vor allem im Raum Duisburg und Essen ein Auge darauf haben, wann dort was geschieht. Sonst fahren die meisten Kulturschreiber dorthin und nicht in die Ruhr-„Provinz“.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner "Zick Zack" (2016), Acry auf Holz.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner „Zick Zack“ (2016), Acryl auf Holz.

Und damit habe ich noch nicht einmal alle Gelegenheiten aufgezählt, die sich gestern ergeben haben.

Klar, wenn ich jetzt für Ruhrgebietswerbung zuständig wäre, würde ich entgegnen, dass wir hier eben sooooo viele Kulturstätten haben, dass gelegentlich ein zeitliches Zusammentreffen kaum zu vermeiden ist. Das Argument lassen wir jetzt mal auf uns wirken.

Immerhin gibt es ja inzwischen den beachtlichen Kooperations-Verbund der Ruhrkunstmuseen, mit dem 20 Häuser in 15 Städten ihre Kräfte bündeln wollen. Hier erfolgen Absprachen mittlerweile auf kürzeren Dienstwegen als ehedem. Es möge weiterhin nützen. Und die Idee möge niemals auf bloße Einsparmöglichkeiten reduziert werden.

Es war zu hören, dass gestern auch bei personell halbwegs potenten Medien ob der Termin-Überschneidungen gestöhnt wurde. Nun aber wollen wir, die wir als Kulturblog erst recht kein halbes Dutzend kunstsinniger Journalistinnen und Journalisten gleichzeitig aufbieten können, wenigstens noch zu den Internet-Auftritten der oben genannten Häuser verlinken. Here we go:

Emil Schumacher Museum, Hagen: www.esmh.de
Gustav-Lübcke-Museum, Hamm: www.museum-hamm.de
Künstlerhaus Sunderweg, Dortmund: www.kh-do.de
DASA, Dortmund: www.dasa-dortmund.de
K21 in Düsseldorf: www.kunstsammlung.de




Großereignis, Oberhammer: Die viertägige „Ruhr Residenz“ der Berliner Philharmoniker

Sir Simon Rattle am Pult der Berliner Philharmoniker (Foto: Monika Rittershaus)

Gleich fällt er, der Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht. 2000 Menschen beobachten in der ausverkauften Philharmonie Essen gebannt, wie sich der Kopf des Riesen-Holzhammers hebt, den ein Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker jetzt hoch über sein Haupt schwingt. Dann saust das mehr als vier Kilo schwere Mordsding nieder, mit einem Dröhnen und Krachen, das die Eingeweide erschüttert und das Herz niederschmettert.

Gustav Mahlers 6. Sinfonie, apokalyptisch düster, verwehrt uns ein glückliches Ende, eine triumphale Apotheose, wie wir sie aus anderen Sinfonien des Komponisten kennen. Den Schlussjubel muss diesmal das Publikum übernehmen. Im gleichen Haus, in dem Gustav Mahler selbst im Mai 1906 die Uraufführung dieses monumentalen Werks dirigierte, bricht nun ein mit Bravorufen durchsetzter Beifallssturm los.

So feiern die Essener Musikfreunde das deutsche Vorzeige-Orchester und seinen Chefdirigenten Sir Simon Rattle, der diese Position nach nunmehr 15 Jahren aufgeben wird, um 2018 zum London Symphony Orchestra zu wechseln. Sein Nachfolger Kirill Petrenko wird die Arbeit erst im Jahr 2019 voll aufnehmen, zuvor aber schon als Gast präsent sein.

Für das Orchester ist dieser Abend der Abschluss einer viertägigen Tour de force, genannt „Ruhr Residenz“, die durch gemeinsame Bemühungen des Dortmunder Konzerthauses und der Philharmonie Essen Wirklichkeit wurde – sowie durch die Unterstützung einiger finanzkräftiger Sponsoren.

Im Gepäck hatten die Berliner ein wahres Mammut-Programm. Zweimal, in Dortmund und in Essen, führten sie György Ligetis vertrackt hintersinnige Oper „Le Grand Macabre“ in einer halbszenischen Fassung von Peter Sellars auf. Sie spielten zwei Mahler-Sinfonien und streuten, als sei das noch nicht kräfteraubend genug, Perlen ein wie György Ligetis Violinkonzert, sein berühmtes Orchesterstück „Atmosphères“ und Richard Wagners Vorspiel zu „Lohengrin“.

Edles Ensemble für Ligetis „Le Grand Macabre“

Der „große Makabre“ landet bei Regisseur Peter Sellars im Atomzeitalter. Hier sehen wir den Fürsten Gogo (Anthony Roth Costanzo, Mitte) und seine Getreuen (Foto: Monika Rittershaus)

Es dürfte lange, vermutlich sogar sehr lange dauern, bis man György Ligetis groteske Weltuntergangs-Oper in annähernd vergleichbarer musikalischer Brillanz zu hören bekommt. Keiner in dieser Sänger-Riege, dessen stimmliches Vermögen nicht das Staunen lehrt: Sei es der wirkmächtige Bariton von Pavlo Hunka, der dem Sensenmann (alias Nekrotzar) brutale Untertöne gibt, der gelenkige Tenor von Peter Hoare, der als Piet vom Fass halsbrecherische Intervallsprünge meistert, oder Frode Olsen, dessen Bass als Hof-Astrologe Astramadors wie von ständiger Übererregung vibriert. Sie seien stellvertretend für das Ensemble herausgehoben, in dem sich so edle Namen wie der von Anna Prohaska finden. Über allem irrlichtert zudem der Wahnsinns-Sopran von Audrey Luna, die sich zunächst als Venus in stratosphärische Höhen schwingt und als Geheimdienstchef „Gepopo“ so lange artistische Kapriolen in höchster Lage schlägt, bis man nicht mehr an die Kraft der Erdanziehung glaubt.

Der Rundfunkchor Berlin übt sich in Volkszorn gegen den Fürsten Gogo (Foto: Monika Rittershaus)

Der exzellente Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Gijs Leenaars) und die Berliner Philharmoniker steigen mit der gleichen packenden Spielfreude in das Geschehen ein, das auf einem absurden Theaterstück von Michel de Ghelderode basiert. Wenn der Volksaufstand gegen Fürst Gogo seinen Höhepunkt erreicht, skandieren Choristen und Musiker mit vereinter Kraft gegen den Machthaber. Wie schön, dass der angekündigte Weltuntergang am Ende doch entfällt, denn zum Glück hat sich der große Makabre mit Piet vom Fass und dem Hof-Astrologen kräftig besoffen. Der große Nekrotzar verpennt schlicht seinen Einsatz.

Warum die Inszenierung von Peter Sellars wiederbelebt wurde, über die György Ligeti bei der Aufführung 1997 bei den Salzburger Festspielen wenig erfreut war, bleibt freilich rätselhaft. Sellars macht aus Ligetis grotesker Anti-Anti-Oper kurzerhand ein Anti-Atomkraft-Stück. Fässer mit dem Warnzeichen für radioaktive Strahlung prägen die Bühne, Video-Sequenzen aus dem zerstörten Reaktor von Tschernobyl erheischen Betroffenheit. Damit stülpt Sellars dem Werk einen Bierernst über, der quer steht zu Ligetis skurrilem Humor: Der Komponist selbst sprach von einer „semantischen Subversion“ seines Werks.

Das sagenhafte Spiel der Patricia Kopatchinskaja

Die temperamentvolle Geigerin Patricia Kopatchinskaja präsentierte eine spektakuläre Lesart des Violinkonzerts von György Ligeti (Foto: Monika Rittershaus)

Umso spektakulärer gelingt die Aufführung von Ligetis Violinkonzert durch die moldawisch-österreichische Geigerin Patricia Kopatchinskaja im Konzerthaus Dortmund. In dem knapp halbstündigen, Saschko Gawriloff gewidmeten Werk dialogisiert die Geige mit einem Orchester von nur 25 Musikern. Der Komponist verwendet dabei exotische Instrumente wie die Okarina oder die asiatische Lotusflöte. Die Streichinstrumente sind teils verstimmt und erzeugen so neuartige Klangeffekte.

Es spottet jeder Beschreibung, wie die Kopatchinskaja den extrem virtuosen Solo-Part meistert. Wie üblich barfuß auftretend, wird sie auf der Bühne zu einem Irrwisch, der das Werk mit einer gleichermaßen nervösen wie furiosen Energie auflädt. Ihre Finger rasen über das Griffbrett, sind scheinbar überall zugleich. Man kann das gar nicht so schnell hören, wie die Geigerin das spielt. Wie um alles in der Welt schafft sie es, derart hoch komplexe Rhyhtmen in die Saiten zu fetzen? Fast lässt ihre lustvolle Vehemenz uns glauben, dass dieses Werk für sie geschrieben sei – und für sie allein.

Patricia Kopatchinskaja im musikalischen Wettstreit mit einem Geiger der Berliner Philharmoniker (Foto: Monika Rittershaus)

Wie eine Schauspielerin steigert sie sich in musiktheatralische Momente à la Mauricio Kagel hinein. Diese Frau kann alles gleichzeitig: Geige spielen und singen, Geige spielen und schauspielern, Geige spielen und eine Flut von Geräuschen und Lauten von sich geben. Weil Außergewöhnliches nach außergewöhnlichen Mitteln verlangt, möge die Ich-Form an dieser Stelle bitte verziehen werden: In meinem ganzen bisherigen Leben habe ich auf der Konzertbühne nichts Vergleichbares gesehen und gehört. Dabei geht es dieser Künstlerin ganz gewiss nicht um Showeffekte oder gar um Selbstdarstellung. Es ist sagenhaft.

Klangpracht für Mahler-Sinfonien

Auswendig dirigierte Sir Simon Rattle die Sinfonien Nr. 4 und Nr. 6 von Gustav Mahler (Foto: Monika Rittershaus)

Zwei Mahler-Sinfonien standen in diesen Tagen ebenfalls auf dem Programm: In Dortmund zunächst die 4. Sinfonie G-Dur, die im Schlussgesang von den „himmlischen Freuden“ kündet. Mag die merkwürdig schwammige Tempo-Gestaltung zunächst auch irritieren, ja den ersten beiden Sätzen gar eine klare Kontur verwehren, schmälert das den Musikgenuss doch erstaunlich wenig. Das liegt an der Klangpracht, die jede einzelne Instrumentengruppe dieses Orchesters zu entfalten weiß. Das österreichische Idiom, die Ländler- und Walzer-Anklänge taumeln uns zu verführerisch entgegen, um sich lange an Kritik aufzuhalten. Der ruhige Fluss des dritten Satzes führt dann vollends in andere Sphären. Die Berliner Philharmoniker fächern ihren Klang auf, bis eine Orgel aus der Ferne zu uns herüber zu klingen scheint. Jede harmonische Wendung rückt weiter von allem Irdischen ab. Erst die süße Beschwörung des „himmlischen Lebens“ durch die Sopranistin Camilla Tilling wird wieder vom scharfen Klang der Narrenschellen kommentiert, die wir bereits vom Beginn der Sinfonie kennen.

Einige Streicher der Berliner Philharmoniker in Aktion (Foto: Monika Rittershaus)

Den monumentalen Schlusspunkt setzt das Orchester mit der 6. Sinfonie a-Moll in der Philharmonie Essen. Mit scheinbar unerschöpflichen Kraftreserven werfen sie sich in die düsteren Märsche dieser Musik, stets vorangetrieben von der kleinen Trommel, die kaum einen Moment des Atemholens zulassen will. Immerzu! Immerzu! Ohne Rast und Ruh! So geht das voran in düsteren und grellen Farben, in einem zunehmend wilden Schlachtenlärm, der brachiale Züge annimmt.

Guter Geist der Kooperation

Aber die Berliner ermüden nicht und lärmen nicht. Bei ihnen führt das Getümmel von einer erregenden Klang-Eruption zur nächsten. Wenn der berühmte Hammer schließlich fällt, stampft er die Musik förmlich zu Brei. Sie stockt, zerfasert, versinkt endgültig ins Dunkel. Ende. Aus. Der Jubel ist grenzenlos.

Es war der Geist der Kooperation, der die kostspielige Ruhr Residenz der Berliner überhaupt erst möglich machte. Etwaige Konkurrenz im Alltag beiseite lassend, zogen die Leitungsteams des Konzerthaus’ Dortmund und der Philharmonie Essen an einem Strang, um das Großereignis wahr werden zu lassen. Gewonnen haben dabei alle, die beiden renommierten Häuser ebenso wie die Musikfreunde der Region.




Ruhrfestspiele: Intendant Frank Hoffmann nimmt Mitte 2018 Abschied von Recklinghausen

Furchtbar überraschend kam die Nachricht eigentlich nicht: Ruhrfestspiel-Chef Frank Hoffmann wird sich mit seiner 14. Spielzeit im Mai und Juni 2018 von Recklinghausen verabschieden. Nach so vielen Jahren kann man sich schon mal neu orientieren – erst recht auf kulturellem Gebiet.

Ruhrfestspiel-Intendant Frank Hoffmann. (Foto: © Ruhrfestspiele)

Ruhrfestspiel-Intendant Frank Hoffmann. (Foto: © Ruhrfestspiele)

Der gebürtige Luxemburger Hoffmann (Jahrgang 1954) ergreift die Gelegenheit zum Wechsel mit dieser Begründung: „Das Ende des Steinkohlebergbaus im Jahr 2018 bedeutet auch eine wichtige Zäsur in der Geschichte der Ruhrfestspiele. Deshalb ist es auch für mich persönlich der richtige Zeitpunkt, nach 14 großartigen Jahren einen Schnitt zu machen und zu neuen Horizonten aufzubrechen.“ Das klingt doch ebenso druckreif wie einigermaßen vollmundig.

Noch etwas mehr Pressestellen-Prosa gefällig? „Theater sind vielleicht austauschbar, aber ich werde den grünen Hügel in Recklinghausen mit seiner besonderen Magie und vor allem die Menschen im Ruhrgebiet vermissen. Sie sind einzigartig.“ Genau so etwas sagt man, um einen bevorstehenden Abschied vom Revier anzukündigen. Hoffmann weiß eben, was sich ziemt.

Besucherzahlen enorm gesteigert

Tatsächlich hat niemand die 1946/47 gegründeten Ruhrfestspiele länger geleitet als Frank Hoffmann, der außerdem (schon seit dessen Gründung 1996) Intendant des Théâtre National du Luxembourg ist. Kein anderer hat zudem die Besucherzahlen der Ruhrfestspiele derart nachhaltig gesteigert. Kein Wunder, dass sein Vertrag immer wieder verlängert wurde.

Angetreten im September 2004 nach einer krisenhaften Phase (in der sein Vorgänger Frank Castorf das Große Haus und die anderen Stätten gleichsam leergespielt hatte), hievte Hoffmann das Festival von 22.000 nach und nach auf über 55.000 Besucher. Inzwischen sind es rund 80.000, die pro Jahr nach Recklinghausen pilgern. Solche Bilanzen dürften mit den vorhandenen Mitteln kaum noch zu übertreffen sein.

Zentraler Spielort: das Festspielhaus. (Foto: Torsten Janfeld)

Zentraler Spielort: das Festspielhaus in Recklinghausen. (Foto: Torsten Janfeld)

Hoffmann setzte ganz bewusst auf eine Vielzahl von Uraufführungen und hielt dabei so manche Entdeckung bereit. Auch hat er renommierte Theater aus aller Welt zu Gastspielen geholt, die wichtigsten deutschsprachigen Bühnen zeigten hier ebenfalls bedeutende Inszenierungen. Immer wieder gastierten internationale (Film)-Stars wie etwa Cate Blanchett und Kevin Spacey bei den Ruhrfestspielen. Selbst eine nur stichwortartige Aufzählung der wichtigsten Produktionen würde jeden üblichen Textrahmen sprengen.

Hoffmanns eigene Inszenierungen galten indes meist nicht als künstlerische Höhepunkte der Spielzeiten. Seine Art des Zugriffs fand zumindest nicht den mehrheitlichen Beifall ästhetisch verwöhnter Rezensenten, sie wirkte mitunter etwas bieder und nicht allzu couragiert. Nach den in und um Recklinghausen schwer zu vermittelnden Egotrips eines Frank Castorf war das breite Publikum für solcherlei Theater allerdings dankbar. Warum auch sollten die Ruhrfestspiele mit der Ruhrtriennale in Sachen Avantgarde gleichziehen wollen? Besser ist es doch, in der Region zu einer vernünftigen „Arbeitsteilung“ der großen Festivals zu kommen.

Nehmt alles nur in allem, so wäre zu loben: Hoffmann hat mit seinem Team vielfach Gespür fürs Populäre, auch fürs Gängige bewiesen, ohne an der Qualität zu rütteln. Er war und ist ein „Ermöglicher“ von hohen Graden. Just das ist es, was einen Theatermann seines Zuschnitts auszeichnet. In diesem Sinne kann er seinen Prägestempel nun noch zwei weiteren Spielzeiten (2017 und 2018) aufdrücken.

Unterdessen hat sich Hoffmann bereit erklärt, auch an der Suche nach einem/einer Nachfolger(in) beratend mitzuwirken. Das bisherige Anforderungsprofil kennt er jedenfalls am allerbesten. Den Trägern des Festivals (zu je 50 Prozent Stadt Recklinghausen und Deutscher Gewerkschaftsbund) kann man bei der Neubesetzung des Postens jedenfalls nur eine glückliche Hand wünschen.

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www.ruhrfestspiele.de




Ein Rathaus kündet vom guten Leben bei Wein und Gesang

Rathäuser als Zentralen der kommunalen Politik können das unterschiedlichste Aussehen und die seltsamste Geschichte haben. Wenn es sehr gut kommt, dann wurden sie direkt als Rathaus gebaut wie das wunderschöne spätmittelalterliche Fachwerkhaus in der Altstadt von Hattingen oder das Rathaus von Michelstadt – angeblich das älteste seiner Art in Deutschland.

Rathaus Ennepetal, früher ein Wohnheim für junge Fabrikarbeiterinnen. (Foto HH Pöpsel)

Weniger schön finden die meisten Bürger ihre als Neubauten errichteten Rathaus-Betonschachteln, wie man sie in Lüdenscheid oder Essen findet. Wieder andere Rathäuser zogen in ein Gebäude, das ursprünglich für einen ganz anderen Zweck gebaut wurde. Zu dieser Art gehört auch die Stadtverwaltung in der Industrie-Kleinstadt Ennepetal am Südrand des Ruhrgebietes.

Die Stadt gab es bis 1949 noch gar nicht. Zwei Gemeinden – Milspe und Voerde – schlossen sich damals freiwillig zusammen. Sie waren schon zuvor als ein gemeinsames Amt Milspe-Voerde locker verbunden gewesen, und diese Amtsverwaltung residierte seit 1937 in einem großen Altbau, der schon Ende des 19. Jahrhunderts von einem Fabrikanten als Wohnheim für seine jungen Fabrikarbeiterinnen gebaut worden war. War schon die Beschäftigung von Frauen in dieser Größenordnung in einer Schraubenfabrik damals ungewöhnlich, so war es die fürsorgliche Unterbringung nicht minder.

Neckische Putten mit Weinreben am alten Rathaus. Prost. (Foto HH Pöpsel)

Als einige Jahrzehnte später das Gebäude für diesen Zweck nicht mehr gebraucht wurde, wechselte es den Besitzer, der es zu einem Hotel umbaute. Auf diese Weise kamen auch die Stuckelemente an die Vorderfront, die vom guten Leben bei Wein und Gesang berichten. Als dann später die Amtsverwaltung einzog, ließ man den Außenschmuck unangetastet, und so blieb es auch, als nach der Stadtgründung im April 1949 ganz folgerichtig das Rathaus der neuen Stadt dort eingerichtet wurde.

Auch heute noch dient es als Verwaltungsgebäude, und im Sitzungssaal tagen noch immer die Politiker – wenn auch nicht mehr bei Bier und Wein. Das gibt es nur noch nach Dienstschluss in der Kantine, und die liegt immerhin im Untergeschoss dieses seltsamen Rathauses.




„Datengrab“: Ruhrgebiets-Krimi rund um IT-Sicherheit

Das Fernsehteam Pegasus ist wieder da und Kameramann Klaus-Ulrich Mager bekleckert sich nicht nur nicht mit Ruhm, sondern er steht sogar auf der Liste der Verdächtigen eines Verbrechens, das man doch einfach nur dokumentarisch hat begleiten wollen.

Im ehemaligen Schrebergarten seiner Eltern wird eine skelettierte Leiche gefunden und Dortmunds eigenwillige Kommissarin Kasten will zunächst nicht ausschließen, dass die ehemaligen Besitzer die Leiche, welche als eine seit Jahren als vermisst gemeldete Studentin identifiziert wird, unter das Gartenhaus verbracht haben.

Eine Leiche im Schrebergarten

Erste Spuren führen an das renommierte Kopula-Institut der Uni Duisburg-Essen, das sich im Bereich der IT-Sicherheit einen Namen gemacht hat. Der Zufall will es, dass dort die Freundin von Magers Sohn Kalle als IT-Expertin ebenfalls an dieser Uni arbeitet und sich unfreiwillig im Nebenjob als Ermittlerin betätigt. Gesucht werden die Doktorandin Lea Bensdorf und der IT-Supporter Tim. Simone hackt sich in die Systeme des Kopula-Instituts und was sie dort in alten „Datengräbern“ zutage fördert, lässt schaudern – und schnell einen Zusammenhang mit der Leiche im Schrebergarten vermuten.

Mit „Datengrab“ bringt sich das Fernsehteam Pegasus bereits zum zehnten Mal in Stellung. Die Krimis stammen aus der Feder von Reinhard Junge, einige entstanden gemeinsam mit Leo P. Ard, einem anderen Urgestein des gepflegten Ruhrgebietskrimis. Für „Datengrab“ holte Junge sich nun aber Christiane Bogenstahl mit an Bord. Die Bochumerin IT-Expertin schrieb bereits Kurzkrimis und sorgt nun sozusagen für das „Reboot“ der Pegasus-Reihe.

Revier zwischen Unis und Zechen

Mit über 400 Seiten liefern die beiden schon einen ordentlichen Schmöker ab und schütten ein wahres Füllhorn an Themen aus. Es geht um Macht und Machtmißbrauch, Gier, Eitelkeit, Mobbing und IT-Sicherheit. Das alles im Umfeld des akademischen Ruhrgebiets, aber auch das Milieu des „alten“ Ruhrgebiets mit seinen Zechensiedlungen und Schrebergärten kommt nicht zu kurz. Und wer nicht aus dem Revier kommt, kennt spätestens nach Lektüre dieses Krimis eine der wichtigsten Alltagsregeln hier: „A 40 nur, wennste Zeit hass“.

Das Verbrechen wie auch Täter und Drahtzieher kennt man beinahe von Anfang an und weiß über ihre Motive Bescheid, nur die Zusammenhänge erschließen sich erst sukzessive. Die dennoch durchweg hoch gehaltene Spannung speist sich hauptsächlich aus den Wegen, die Kriminalpolizei und die auf eigene Faust ermittelnden Fernsehleute beschreiten müssen, um die fast schon mafiös anmutenden Strukturen des Kopula-Instituts zu durchschauen und die Bösewichte schlussendlich zur Strecke zu bringen.

Nur eine Marotte trübt den Genuss

Die bei aller Bedrängnis ihren Humor nicht verlierenden Charaktere sind in kurzen, knackigen Kapiteln gut herausgearbeitet, man fiebert gerne mit, mag vor allem Simone und Kalle und verabscheut den Institutsleiter. Die Autoren beschränken sich auf klare Sätze und fast wäre das Krimivergnügen ungetrübt gewesen, wenn nicht immer wieder Absätze irritieren würden, in denen z.B. für ein und diesselbe Person mehrere verschiedene Bezeichnungen gebraucht werden.

Als Leser(in) fragt man sich unwillkürlich, ob hier gerade der Einsteigerkurs „Kreatives Schreiben, Folge eins: Synonyme leicht gemacht“ läuft. Diese irgendwie albern anmutende Angewohnheit reißt aus dem gemütlichen Lesefluss raus, was umso ärgerlicher ist, da die Spannung eigentlich an keiner Stelle stockt und ein Wachmacher somit gar nicht vonnöten wäre.

Viel Spaß hingegen machen die gelegentlichen Cross-Over-Begegnungen mit den Protagonisten eines anderen Krimi-Kosmos, mit Kommissar Schüppe und den Mannen von Broadfacts-TV. Ob deren geistigen Vater Thomas Schweres uns wohl seinerseits in seinem neuen Krimi „Die Abbieger“ verrät, wie seine Charaktere die brummelige Kommissarin Kasten und das neue Pegasus 3.0. Team finden?

Bogenstahl & Junge: „Datengrab“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. 445 Seiten, € 12,00.