Berg & Klammern, Bus & Eile


Foto einer Zeichnung in einem Skizzenbuch, dahinter ein Tablett mit einer Kaffeetasse

Eisdielenzeichnungsambientefoto

Bisher: Herr Scherl, Held unserer Erzählung, will seit Tagen eine nötige social-media-Pause machen, er kommt aber nicht dazu, weil immer was dazwischen kommt (für dieses »zu – zwi« müßt man (=ich) mal was erfinden. Nà, heut nicht mehr).
Zu Anfang dieser Aufzeichnungen weilt er nach einem Arzt-(genauer: Ärztin-)besuch (nur was abholen, da muß man sich ja wegen jedem Mist selber materialisieren) wie immer in der Eisdiele seiner Wahl, wo er, wie immer, zeichner- und soziologische Studien betreibt.

Klar, Wohlstand usw usf, wie immer. Faules Künstlerpack – nix arbeiten, aber immer Pause machen und rauchen und immer Kaffee saufen. Oder noch Schlimmeres! Jaja… (ja – ich weiß, was »jaja« heißt, deswegen schreib ichs ja hin)

Bei der Doktorette haben sie sich wieder gefreut, weil ich da (wie immer) so fleißig die Aquarelle vom Doktorettenvadder anguck: Anfang-Mitte des Jahrhunderts (ja freilich des vergangenen, Mensch!), allesamt Bergmotive und teils gar nicht schlecht (und wenn ich das sag, dann wills was heißen). Und heut wars sogar eins, das ich noch nicht entdeckt hatte.

Ich wart also auf der Doktorettes Kaiser Wilhelm für die Überweisung und guck Aquarelle und es freuen sich: die Doktorette, vier (sic!) Doktorettenhelferinnen (Doktoreusen waren heut keine da, zu wenig Siechen bei dem schönen Wetter) und einer, bei dem ich noch nicht rausgekriegt hab, was er da treibt. Aber er macht die Ansagen auf dem AB und ist glaub der Olle von der Doktorette (und spricht wirklich, nuja – »angenehm«. Dachte immer, das sind gekaufte Intros, bis ich ihn neulich mal himself am Apparat hatte. Konnt erst gar nix sagen, so hab ich mich erschrocken). Wird also Büroleiter oder sowas sein und aufpassen, daß die Doktorette und die Doktoreusen und die Doktorettenhelferinnen alle alles richtig machen.

Brot noch, bin schon wieder unter Meldestufe »Obacht!«. Der Bäck hatte aber natürlich grad Feierabend bzw die Bäckerin (ja-doch, ich mach ja schon ganz genau: die Bäckereifachverkäuferin, wie man brav-bundesdeutsch ja sagen muß) die Kasse abgesperrt (das ersetzt heut auch Gott: »Ich kann nix tun, Kasse ist schon zu, tja!«) und die Eisdiele macht auch gleich dicht und kalt ists eh und ich muß noch zum andern Bäcker dackeln. Oder auch nicht. Gibts eben nix. Oder nur Wurscht. Haha! Künstler halt.

(…)

Jetzt aber zum Bus – husch husch!, damit er mir nicht wieder vorm Näschen wegfährt und ich ne halbe Stunde warten muß (auch wieder): gegenüber vom Dönershop und neben meiner einstigen Stammkneipe (aber das ficht mich ja nicht mehr).

Foto eines roten Schuhs im Schaufenster eines Schuhladens

»die roten in gelb bitte«

Guck ins Schuhladenschaufenster (kurz!): die roten in gelb bitte, in meiner Größe und zu nem Preis, den ich zahlen kann.
Ich hör die Schuhladenfachverkäuferin vor meinem inneren Auge ganz leis kichern (wenn man jemanden vor dem inneren Auge … na, wurscht (darf man ( =ich) das jetzt noch »Wurscht« nennen? (Auch wurscht)))((Irgendwann vergeß ich bestimmt mal, ne Klammer zuzumachen)(oder auf (?))(… naja … wobei … eigentlich ist mir bei denen die Spitze zu spitz: also nee (sprach ich, Fuchs (zu den Trauben)))

Und vielleicht nen Kalender: links ne Eisdielenzeichnung, rechts das Eisdielenzeichnungsambientefoto und hinten druff der Text dazu. Das wär doch was. Oder hinten das Eisdielenzeichnungsambientefoto und der Text. Und so, daß mans so oder so aufhängen kann. (Pin im Brägen: Drucker wegen nem Angebot fragen (und Werbung dafür machen)) Da darf der Text aber nicht zu lang … husch husch!

Quatscht mich einer an, mit irgendwas Grünem an den Klamotten, grünes Basecap, nen grünen Baumel um den Hals und was man halt noch so anhaben muß als junger Mensch, der sich von der uniformierten Masse abhebt. Daneben zwei andere mit dem gleichen Fummel, der aussagt, daß sie sich auch von der uniformierten Masse abheben.

Ich hab erst gar nicht verstanden, was der Knilch von mir will, weil er so geredet hat, wie man als junger Mensch so reden muß, wenn man sich von der uniformierten Masse abhebt.

Habs dann aber – trotz Bus & Eile! – aus ihm rausgekriegt (curiosity killed bekanntlich the cat): von Greenpeace sei (ah, daher der ganze grüne Plunder) er, beziehungsweise sie, und sie würden diese Woche und hier – und nestelt was herbei, das um seinen (ah, der Baumel) Hals hängt – sei sein Ausweis und …

»… und ihr wollt jetzt Geld von mir«, feix ich ihn an.
»Äh … ja«: er.
»… und das hab ich keins«, ich, immer noch guter Dinge.

Die anderen Knilche eilen ihm zur Hülf:
»Ja, aber«
»Nur noch«
»Greenpeace«
»Umwelt«

Ich: »Muß zum Bus. Hab eh kein Geld«, schon ein bisserl ungehalt’ner und geb Gas – Bus, halbe Stunde, gegenüber vom Dönermann (und neben meiner Stammkneipe, meiner einstigen (aber das ficht usw usf)).

»Wir brauchens auch erst in zwei Wochen«, knödelt Knilch zwo.

Ich seh den Bus abfahren. Und gleich dahinter den zweiten. Halbe Stunde, Dönershop, Stammkneipe (aber).

»Alter! Ich bin Künstler! Das, was ich im Monat hab, verfreßt ihr in einer Woche, mindestens. Und da fährt mein Bus!« und versenge alle drei mit meinem Flammenblick.

Ok – halbe Stunde. Ich guck die Preisliste vom Dönerladen an und frag mich, wieso ich die Preisliste vom Dönerladen anguck: Pommes Dreifuffzig, Döner Sechsfuffich, Bratwurschtn Fünfer. Nee, laß mal. Hab nochn halbes Butterbrot im Rucksack und da kommt eh der Bus.

Text, keine Korrekturen: zwanzig Minuten. Paßt doch. Und auf dem Heimweg pfeif ich mir an kleijnes Liedl.

(Aber Pause hab ich heut nicht gemacht (schon wieder (nicht)))

 

Anmerkung: das mit der halben Stunde und den keinen Korrekturen war natürlich, wie immer, nicht gelogen (damals).


Cover des Buchs "Öfter mal das Unbekannte" von Thomas Scherl
Buch »Öfter mal das Unbekannte – Geschichten und -chen« erscheint voraussichtlich im November 2025

Zu Bestellen beim Herrn Scherl über www.facebook.com/thomas.scherl.7





Wenn die Dinge immer schlechter werden: „Die Verkrempelung der Welt“

Der Titel dieses silbrig glitzernden Buches aus der ehrwürdigen edition suhrkamp ist ein Coup. Hätte der Band „Kritik der überflüssigen Dinge“ oder ähnlich betulich geheißen, hätte wohl kaum ein Hahn danach gekräht. So aber nennt er sich „Die Verkrempelung der Welt“. Da horcht man auf, da will man Näheres wissen.

Nicht alle Befunde des Autors Gabriel Yoran (umtriebiger, mehrfacher Startup-Gründer mit eher „links“ anmutendem geistigen Rüstzeug) sind brandneu, aber schon der Einstieg ist hübsch: Er dreht sich um einstmals bewährte Dinge wie Herdknebel (früher übliche Bedienknöpfe) und konventionell sinnreiche Duschschläuche. Heute muss oft für einfachste Verrichtungen ein komplizierter Touchscreen mit allerlei irrwitzig verzweigten Optionen herhalten.

Erstes Zwischenfazit: Um noch mehr Gewinn zu generieren, nehmen Konzerne ihren jeweils neuesten Produkten gute und vernünftige Eigenschaften weg, um diese hernach als Premium-Features deutlich zu teurer zu verkaufen. Anders gesagt: Statt vormals guter oder wenigstens passabler Sachen erhalten wir vielfach „Krempel“; es sei denn, wir bezahlen enorme Aufpreise.

Die früher prägende „Fortschritts-Erzählung“ des Immer-besser-Werdens, so Yoran weiter, sei kurzatmig geworden, überhaupt sei der bis dahin im Westen recht unerschütterliche Fortschrittsglaube mit dem 11. September 2001 (für Jüngere: Terroranschlag aufs World Trade Center) kollabiert. In diesem Zeitklima falle es gar nicht mehr so sehr auf, wenn Produkte sich permanent verschlechtern. Sollten wir uns etwa an all den Krempel gewöhnt haben?

In der verqueren kapitalistischen „Logik“ liegen zudem immer kürzere Verfallszeiten der Produkte. Früher hielten bessere Waschmaschinen 30 Jahre lang, heute sind es allenfalls 10 Jahre. Dieser mäßige Wert reicht inzwischen schon als erfülltes Kriterium fürs Warentest-Urteil „Sehr gut“. Nachhaltiges Wirtschaften sähe wahrlich anders aus. Als Gegenbeispiel wird das legendäre DDR-Handrührgerät RG 28 aus Suhl aufgeführt, das über Jahrzehnte hinweg unverändert zuverlässig blieb. Tempi passati.

Das Buch scheint nun den anfangs gesponnenen Faden etwas zu verlieren, es gerät mehr und mehr zum Grundkurs in Warenkunde, ohne die wir Konsumenten ziemlich aufgeschmissen seien. Vom kostspieligen und in rechtsextremen Ruch geratenen Sonderweg von Manufactum ist die Rede. Ein solcher Satz lockt ein Grinsen hervor: „Die Manufactum-Katalogprosa wimmelt nur so vor letzten sorbischen Muhmen, die dank des Versandhändlers wieder Bierdeckel handfilzen.“ Inzwischen ist die Edel-Klitsche an Otto verkauft worden – und der Manufactum-Gründer hat Zeit genug, höchst zweifelhafte Bücher auf den Markt zu werfen.

Der geschichtliche Rückgriff führt bis zum Deutschen Werkbund, in dem auch Künstler eine „Moral der Dinge“ etablieren wollten, und zu den Ursprüngen des zunehmend autoritären Funktionalismus, der sich in Gestalt von Adolf Loos zum Lehrsatz verstieg, jedes Ornament sei ein Verbrechen. In der Gegenwart wird die krempelhafte, unnötig Aufmerksamkeit fressende Computer- und Online-Kommunikation gegeißelt.

Schließlich verbeißt sich der Autor geradezu in ein Thema, das ihm wohl speziell am Herzen liegt: die Entwicklung der Kaffee-Zubereitung im Spannungsfeld zwischen Vollautomaten und Siebträger-Maschinen. Auch aus persönlichen Gründen fand ich ein Kapitel interessant, das davon handelt, welche Dinge in anderen Ländern womöglich besser sind als bei uns. Ein Beispiel: Türen und Fenster in Dänemark, die sich nach außen hin öffnen. Warum haben wir nicht die Wahl?

Eine aufs große Ganze zielende Schlussfolgerung steht in den letzten Sätzen, die bedeutsam, ja beinahe gravitätisch ausschwingen, als hätte ein Adorno das Wort:

„Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander, nach den legitimen Bedürfnissen.

Noch die progressivste Warenkunde wäre nur der Schein der Laterne – der Schlüssel liegt anderswo. Es ist nur sehr unbequem, dort zu suchen“. 

Gabriel Yoran: „Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)“. edition suhrkamp. 186 Seiten, 22 Euro.

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P. S.: Im werblichen Anhang des vorliegenden Bandes habe ich eine unverhoffte Wiederentdeckung gemacht. Dort wird eine Fortschreibung von Wolfgang Fritz Haugs „Kritik der Warenästhetik“ (1971) angepriesen, die wir zu Studentenzeiten in den 1970er Jahren zustimmend goutiert haben. Angefügt sind neue Erkenntnisse zur „Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus“. Das Buch erscheint für 19 Euro als Print on demand-Ausgabe. So ändern sich die Zeiten.




Hol dir, gönn dir!

 

Genau! Alles, und zwar jetzt. Sofort! (Foto: Bernd Berke)

Wie war das noch, vor soundsovielen Jahren, als im 68er-Umfeld der „Konsumterror“ lauthals angeprangert wurde?

Damals lösten gerade erst einige Supermärkte die bis dahin gängigen „Tante-Emma-Läden“ ab. Welche eine vergleichsweise beschauliche Verbraucherwelt das noch gewesen ist! Was hätte man bloß gesagt, hätte man kommen sehen, was wir heute haben – mit allseits in letzte Winkel und Ritzen dringendem Internet-Wahnwitz und obenauf gesetzter „Künstlicher Intelligenz“, die sich in alles hineinfrisst und sich alles einverleibt. Nun, da man gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht und wo es noch Restbestände von vermeintlicher Wirklichkeit gibt.

Allüberall wird man verbal, bildlich und medial verfolgt, gnadenlos, ohne Unterlass: „Hol dir“, „Gönn dir“, „Sichere dir“. Versäume nicht, zögere nicht, ergreife den Vorteil, sichere dir Premium, Premium Plus oder Pro. „Ergattere“ dies und jenes, schlage anderen ein Schnippchen, hol dir das Schnäppchen, den Schnapper. Exklusiv. Nur für Dich! Das große Gelingen. Eigentlich kein übles Wort, jedoch dem verbalen Missbrauch preisgegeben.

Immerzu ist Sale, Angebote und Preise sind mega, ja giga. Alles ist Hammer! Geiz ist geil, immer noch, obwohl dieser Spruch schon älter ist. Und ständig herrscht Beben. Mark(t)erschütternd. Schon morgen kann es zu spät sein, vielleicht hört die Gelegenheit schon gleich auf. Carpe diem! Yolo! Du lebst nur einmal. Hau rein. Deal!

Und wenn nicht? Dann Apokalypse. Dann Doomsday. Dann Untergang. Finale Finsternis. Und damit Tschüss, nech?!




Schlechtes Gewissen im Wohlstand – „Geld spielt keine Rolle“ von Anna Mayr

Nach ihrem bitteren Armutsbericht „Die Elenden“ (2020) legt Anna Mayr nun ein Buch über ihren und anderleuts (letztlich doch begrenzten) finanziellen Aufstieg vor: „Geld spielt keine Rolle“.

Der Titel ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Im Gegenteil. Geld spielt immer und überall eine Rolle, so lautet der unumstößliche Befund. Über Geld redet „man“ nicht? Oh, doch! Hier schon. Jedes einzelne Kapitel ist mit einem konkreten Geldbetrag überschrieben: „600 Euro für einen Umzug“. – „200 Euro für Falafel“. – „225 Euro für eine Katzentherapeutin“ – „149 Euro für einen Elektrogrill“. Und so weiter, aus etlichen Lebensbereichen. Das Buch enthält somit (bestürzend) viele und genaue Proben des bundesdeutschen Alltags.

Als Frau, die in ärmlichen Verhältnissen am Ostrand des Ruhrgebiets aufgewachsen ist, „genießt“ Anna Mayr street credibility. Ihre Mitteilungen fußen zuerst auf schmerzlichen Erfahrungen, seither auch auf vielen Lektüren und Gesprächen. Inzwischen geht es ihr finanziell ungleich besser und sie macht sich oft ein schlechtes Gewissen daraus. Immer noch wundert sie sich darüber, welche Dinge sie sich leisten und erlauben kann, doch schwindet das Staunen allmählich. Sie hadert und ringt gleichsam mit sich selbst, ob sie sich diesen Sinneswandel verzeihen kann. Bloße Reflexion und Wohlmeinen reichen ja nicht aus. Irgendwann steht man mit seinem Geld „auf der falschen Seite“.

Nicht Leistung, sondern glückliche Umstände

Schon der rasante Einstieg („Eat The Rich“) enthält steile Behauptungen, die allerdings einiges für sich haben: Erfolgreiche berufliche Laufbahnen und höheres Einkommen hätten gar nichts mit Leistung, sondern allemal mit Glück (sprich: Herkunft, Erbschaften, Beziehungen) zu tun. Die grundsätzliche Ungerechtigkeit hat demnach weitreichende Folgen, auch für den Seelenhaushalt. Zitat: „Je mehr Geld man den Leuten gibt, desto unempathischer werden sie, desto unsozialer verhalten sie sich (…) Reich zu sein erhöht die Wahrscheinlichkeit, schäbig zu sein…“ Wie lautet doch das derzeit medial dauerverwendete Modesätzchen: „Da hat sie einen Punkt.“ Und nicht nur diesen einen. „Geld verdirbt den Charakter“ – haben ja auch schon unsere Großeltern gesagt, sofern sie keine prallen Portemonnaies hatten.

Die Autorin Anna Mayr. (Foto: © Anna Tiessen)

Je nach Betrachtungswinkel ist ein Besuch beim Bundespresseball in Berliner Edelhotel Adlon ein Tief- oder Höhepunkt des Buches. Da lassen sich eben mancherlei Studien zum Gebaren der Wohlhabenden betreiben. Der Autorin wurde dabei reichlich unbehaglich zumute, was sich durchaus nachfühlen lässt. Der uralte Satz, dass Reichtum nicht glücklich mache, findet sich – in entschieden abgewandelter Form – auch bei ihr: „Viele reiche Leute sind nicht besonders glücklich. Weil sie immer denken, dass es noch nicht genug ist.“ Wer sich und das Seine missgünstig vergleicht, kann sich leicht benachteiligt vorkommen. Jeff Bezos, Elon Musk, Bernard Arnault und Konsorten seien einmal weitgehend ausgenommen von solcher Selbstquälerei. Aber wer weiß, ob nicht sogar sie auf die Besitztümer von ihresgleichen schielen. Aber ich schweife ab.

Ganz bewusst ohne finale Moral

Zurück zu irdischen Verhältnissen. Gar viele Phänomene und Situationen kommen einem bekannt vor. Da geht es etwa um (vielfach unsinnigen) Konsum als Trost und „Leistungsnachweis“, um die Gemengelage zwischen dem Kauf eines Brautkleids und den Fallstricken von Eheverträgen, ums komplizierte Verhältnis zwischen Haupt- und Zuverdienern, um die feinen Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten… Geld durchdringt eben alles und jedes. Mit mehr Geld nehmen so manche Sorgen und Leiden ab, da lebt es sich in aller Regel gesünder. Ohne genügend Geld wissen viele nicht aus noch ein und sterben folglich früher.

In einem Exkurs verteidigt Anna Mayr geradezu trotzig ihren vor Jahren neu entdeckten Hang zu vegetarischer und veganer Ernährung. Einst hat sie das Recht der weniger Begüterten auf Schnitzel verteidigt, heute hält sie das für einen gesundheitsschädlichen Fehler. Vorschriften will sie freilich niemandem machen. Aber zuraten möchte sie gern.

Sehr deutlich an die finanziellen Grenzen stößt die Autorin – mit den allermeisten anderen Menschen – beim tollkühnen Vorhaben, eine Immobilie in Berlin zu erwerben. Mit normalen Gehältern, selbst im relativen Komfortbereich, geht das einfach nicht mehr.

Und die Moral von der Geschicht‘? Gibt es nicht. Ganz bewusst und explizit verweigert Anna Mayr eine allgemein gültige Schlussfolgerung aus all ihren Beobachtungen. Mit unserem Verhältnis zum Geld müssen wir also selbst klarkommen. Doch sie hat dazu ein paar Fährten gelegt. Vertrackt genug: Wer sich dieses Buch kaufen kann, zählt schon mal nicht zu den ganz Bedürftigen. Auch kluge Denkanstöße sind käuflich.

Anna Mayr: „Geld spielt keine Rolle“. Hanser Berlin. 172 Seiten. 22 Euro.

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Nachbemerkung: Als einstiger Redakteur der Westfälischen Rundschau freue ich mich besonders über zwei Leute, die ihre journalistischen Anfänge in Lokalredaktionen dieser Zeitung hatten: Navid Kermani, heute hochgeachteter Publizist und u. a. Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, hat seinen Weg in der WR-Lokalredaktion Siegen begonnen. Und just Anna Mayr, jetzt vielzitierte Politik-Redakteurin der „Zeit“, ist aus der WR-Redaktion in Unna hervorgegangen.

 




Beispiel Dortmund: Mit Karstadt schwinden auch Erinnerungen

Ansicht des Dortmunder Karstadt-Kaufhauses – im August 2016. (Foto: Bernd Berke)

Betrübliche Nachricht: Mitte 2023 und Anfang 2024 sollen 52 Warenhäuser der Galeria Karstadt Kaufhof GmbH schließen; darunter am 31. Januar 2024 das Karstadt-Warenhaus in Dortmund, nachdem Jahre zuvor schon der örtliche Kaufhof aufgeben musste, von anderen Anbietern gar nicht mehr zu reden. Damit wird für viele alteingesessene Menschen in Dortmund auch eine (Kindheits)-Erinnerung verblassen.

Die Älteren kennen das Haus an der zentralen Innenstadt-Kreuzung Hansastraße/Westenhellweg noch als „Althoff“. So hieß das Haus bis in die frühen 1960er Jahre. Theodor Althoff hatte den Vorläufer im Jahr 1904 eröffnet – damals eine veritable Sensation. Das größte Kaufhaus in Westfalen (5000 Quadratmeter Verkaufsfläche) beschäftigte rund 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, als allererstes deutsches Warenhaus führte es auch Lebensmittel.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 1950er und 60er Jahren, blühte der gründlich umgestaltete Konsumtempel wieder auf. In jenen Jahrzehnten strömten vor allem samstags ungemein viele Menschen aus dem Sauerland und der sonstigen Umgebung nach Dortmund, das in Sachen Einkauf wirklich eine Metropole war. Der Westenhellweg, so bestätigten über Jahrzehnte hinweg immer wieder Passanten-Zählungen, zählte zu den besucherstärksten Meilen in ganz Deutschland – vor allem just wegen der Warenhäuser Karstadt, Kaufhof, Hertie oder Horten. Deren große Jahre sind bekanntlich längst vorbei.

Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, in denen Karstadt tatsächlich nahezu ein Vollsortiment vorgehalten hat. Eine Tierhandlung gehörte beispielsweise ebenso dazu wie eine Möbel-Etage – und zahllose Angebote mehr. Damals gab es noch Fahrstuhlführer, die alle Stockwerke abklapperten und auf den entsprechenden Höhen Worte wie „Damenoberbekleidung“ oder „Kurzwaren“ geradezu weihevoll aussprachen. Als Kinder mochten wir die Rolltreppen allerdings noch lieber, auf den Stufen konnte man schön Unsinn machen. Natürlich war die Spielzeugabteilung das Ziel unserer Sehnsüchte.

Gefühlt war Karstadt – neben der Reinoldikirche – stets das absolute Zentrum Dortmunds. Man möchte sich lieber gar nicht ausmalen, was künftig aus der City werden soll. Hoffentlich keine Ansammlung von Ramschläden, wie am angrenzenden Ostenhellweg schon vielfach üblich. Gefragt sind jetzt – mehr denn je – Leute mit Phantasie und Fortune, die die Stadtmitte neu und anders entwickeln. Natürlich nicht nur in Dortmund, sondern auch in allen anderen betroffenen Städten.

Gar nicht zu vergessen: Rund 160 Karstadt-Beschäftigte verlieren allein in Dortmund ihre Jobs, bundesweit dürften es nahezu 5000 sein. Ihnen kann man nur wünschen, dass sie bald anderweitige und möglichst mindestens gleichwertige Anstellungen finden.

Apropos. Die blanke Wut kann einen packen, denkt man ans Gebaren des österreichischen Milliardärs und Groß-Investors René Benko, der 2014 über seine Holding Signa den Warenhauskonzern übernommen hatte. Hernach verzichteten Gläubiger auf Abermillionen, die Karstadt und Kaufhof (später fusioniert zu „Galeria“) ihnen schuldeten. Vor allem aber wurden, wie so oft in derlei Fällen, immense Summen an Steuergeld für eine Rettung der Warenhauskette aufgewendet. Man kann es nachlesen: 680 Millionen Euro sollen es gewesen sein. Alles weitgehend vergebens verschleudert. Man wüsste gern, wieviel Benko eigentlich selbst investiert hat. Nicht wenige Beobachter glauben, dass es ihm von Anfang an nicht um die Warenhäuser als erfolgreiche Verkaufsstätten, sondern schlichtweg um die Top-Immobilien in Citylagen gegangen sei.

Insgesamt ist jetzt wohl das Ende von 52 Häusern besiegelt, 77 (vielfach in mittelgroßen Städten) sollen bleiben. Schließungs-Beispiele in NRW: Ende Januar 2024 wird neben Dortmund das Karstadt-Haus in Essen schließen, außerdem trifft es hier u.a. Düsseldorf (Schadowstraße), Krefeld, Mönchengladbach und Wuppertal. Bereits Ende Juni 2023 machen höchstwahrscheinlich folgende Filialen im Westen dicht: Duisburg, Gelsenkirchen, Hagen, Siegen, Leverkusen, Neuss und Paderborn.

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Da dies nun einmal (auch und vor allem) ein Kulturblog ist, gibt’s hier als Nachtrag noch eine historische Lese-Empfehlung zum Thema:

Emile Zola: „Das Paradies der Damen“ (aus dem Klappentext der Fischer-Taschenbuchausgabe: „Der erste Kaufhausroman der Weltliteratur… Einzigartiger Schauplatz dieses verführerischen Romans ist die elegante und schillernde Welt eines Pariser Kaufhauses aus dem 19. Jahrhundert. Tout Paris oder zumindest die Damen der Gesellschaft erliegen dem verlockenden Angebot einer rauschhaften Konsumwelt.“ – Es waren halt ganz andere Zeiten.)

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Nachtrag am 25. Mai 2023

Überraschende Wende: Karstadt in Dortmund soll jetzt doch erhalten bleiben. Das berichten u. a. Ruhrnachrichten und WDR.

 




Zwischen Yellow Press und Wahlplakat: Wie sich Hendrik Wüst in Szene setzt

Von etwas anderer Art als die im Beitrag erwähnten Fotos: Pressebild des jung-dynamischen Hendrik Wüst, heruntergeladen von der Seite cdu-nrw.de

Nein, ich will nicht behaupten oder auch nur argwöhnen, dass der NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst mit seiner nagelneuen schwarz-grünen Koalition schlechte Politik machen wird. Das wird man einfach abwarten müssen. Doch eins geht mir schon jetzt, ganz zu Beginn seiner Amtszeit, gehörig auf den Geist: seine (Selbst)-Inszenierung.

Wir erinnern uns daran, wie er sich in den letzten Wochen und Monaten hat öffentlich darstellen lassen. Entweder ähneln seine medialen Auftritte den Illustrations-Mustern der Yellow Press – oder es sind Bilder wie auf Wahlplakaten. Gar oft ist Wüst umfangen von lauter saftig-frischem Frühjahrsgrün. Gar herzig lachen er und seine Stellvertreterin Mona Neubaur (Grüne) immer und immer wieder für die versammelte Presse. Selbst ein so trockener Vorgang wie die schlichte Unterschrift unter den Koalitionsvertrag geriet so zur politischen Liebesgeschichte mit Happy End. Aber vielleicht gibt es ja eine zusätzliche Erklärung: So fröhlich kann man wohl nur sein, wenn die FDP nicht an einer Regierung beteiligt ist.

Tatsächlich hat Hendrik Wüst in der Wahlkampfphase auch das Mittel der Homestory eingesetzt, unter anderem in der einschlägig bekannten „Bunten“. Neben so einem Traumschwiegersohn wirkte denn auch der vergleichsweise etwas stachelige SPD-Widersacher Thomas Kutschaty beim kreuzbraven TV-„Duell“ chancenlos. Politische An- und Absichten, die sich eh nicht fundamental zu unterscheiden schienen, waren demgegenüber fast zweitrangig.

Etliche Blätter und besonders die WAZ bringen die schrecklich harmonischen Wüst-Fotos gern in großflächiger Aufmachung auf ihren Titelseiten. Ein perfekt arrangierter Gipfelpunkt findet sich als dpa-Foto auf der heutigen Seite eins der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: Hendrik Wüst in inniger familiärer Dreieinigkeit mit Frau und Töchterchen, darüber die Schlagzeile „Wüst verspricht eine ,lebenswerte Heimat'“. Schon im Landtags-Wahlkampf unterließ es Wüst nicht, höchstpersönlich für die Pressefotografen den Kinderwagen zu schieben, auch im Wahllokal ließ er sich gern so sehen. Wer weiß, wie viele Frauenstimmen ihm das eingebracht hat.

Ganz offenkundig hat Wüst einen Berater*innenstab, der die Gelegenheiten gezielt so vorbereitet – und ebenso offenkundig folgen die allermeisten Medien diesen sanften Vorgaben. Nichts bleibt bei Wüsts Auftritten dem Zufall überlassen. Da kommt einem im Nachhinein Armin Laschet, der zuweilen etwas unberaten durch die Gegend taperte, noch wie ein Ausbund an Authentizität vor, geradezu sympathisch in seinem grundehrlichen Scheitern.

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P. S.: Schade eigentlich, dass wir die besagten Fotos hier nicht bringen können, es liegen halt Urheberrechte darauf. Aber Ihr wisst sicherlich auch so, was gemeint ist.




In 10 Minuten geliefert – Wozu die Hetze?

10 Minuten Lieferzeit? Da muss selbst die Kartoffel grinsen. (Foto: Bernd Berke)

Ich hab’s nicht ausprobiert und möchte das sowieso nicht. Seit relativ kurzer Zeit sind auch in Revier-Breiten diese wahnwitzigen Lieferdienste unterwegs, die versprechen, einen online vorbestellten Supermarkt-Einkauf bereits binnen 10 oder 15 Minuten zu bringen. Warum? Wozu? Weshalb?

So rasen sie denn durch Bochum, Dortmund oder Essen – Gorillas, Flink und Konsorten. Wer noch einen Dienst gründen möchte: „fix“, „flugs“ oder „schnurstracks“ heißt wohl noch keiner, oder?

Dermaßen riskant sind manche dieser Radfahrer unterwegs, dass man das Fürchten lernen kann. Zumal in Gemengelagen mit den allgegenwärtigen E-Rollern bringen sie sich und andere in Gefahr – und alles nur, damit ein paar Hanseln (oder Greteln) in Windeseile ihr Zeug bekommen, ohne dass die ihren werten A… aus dem Haus bewegen müssen. Manche mögen sich dabei auch noch hip und urban vorkommen oder als Umwelthelden fühlen: Sie lassen ja ihr Auto stehen und ein Fahrrad herbeieilen…

Auf die Sekunde getaktet

Inzwischen gibt es eine Menge Reportagen und Selbsterlebensberichte zum Thema. Nicht wenige haben sich als Kuriere verdingt, um „hautnah“ davon erzählen zu können. Auch das tue ich mir (und der geneigten Leserschaft) nicht an. Man kann den Artikeln entnehmen, dass die Abläufe ungemein eng, ja quasi sekundengenau getaktet sind. Unschwer auszumalen, wie sehr die Zeit den Kurieren im Nacken sitzt. Ihre Wege kreuzen sich beispielsweise mit denen der Amazon-, DHL- oder Hermes-Fahrer, die drauf und dran sind, immer mehr „Same Day“-Aufträge abzuwickeln, oder jener Getränkedienste, deren zweistündige Lieferzeit vergleichsweise „gemütlich“ klingt (es aber nicht ist). Jetzt sind also 10 oder 15 Minuten das neue Maß. Was kommt noch? Echtzeit?

Etliche Lagerräume mussten gemietet werden, damit die Supermarkt-Dienste jeweils nah bei der Innenstadt-Kundschaft sind. Abfolge und Aufbau der Warenregale sind offenbar dermaßen ausgeklügelt, dass jeder Zugriff ohne Verzögerung erfolgen kann. Zack! Und schon geht’s ab auf die Strecke. Doch wehe, es läuft dabei etwas schief. Dann gerät die ganze Lieferkette ins Trudeln. Ob das ohne Gebrüll und Chefgehabe abgeht? Ob es Kunden gibt, die sich schon nach 12 oder 13 Minuten beschweren, wenn 10 Minuten angesagt sind? Und ob bereits Mitarbeiter den Aufstand geprobt haben? Man kann dies und das nachlesen.

Erwartungen züchten

Was sind das wohl für Kunden? Es mag ja sein, dass man in ganz gewissen, sehr eng umrissenen Situationen mal einen solchen Service gebrauchen kann; im Herbst vielleicht auch wieder aus Quarantäne-Gründen, wer weiß. In aller Regel aber ist die Hetze herzlich unnötig. Das bloße Angebot züchtet überdies ungute Erwartungshaltungen heran. Gar nicht auszuschließen, dass es auch üble Zeitgenoss*innen gibt, die einfach ihr Selbstgefühl steigern oder sogar mal wieder einen Migranten springen lassen wollen. Motto: „Warum? Weil ich es kann!“ Wie ich solche Leute nennen möchte, überlasse ich Eurer Phantasie.




Brief, Wolke und Apfel – Ikonen im Netz

Eines Tages werden sie vielleicht aufgebraucht sein, all die eingängigen Sinnbilder, Signale und Symbole.

Beißt man ein Stück aus einem Apfel heraus, erinnert er eventuell an… (Foto: Bernd Berke)

Heute weiß man gerade noch, was ein veritabler Brief ist, also kann man Mailprogramme mit einem Brief-Icon versehen. Schwieriger wird’s schon mit der Diskette, obwohl die eigentlich relativ neueren Datums gewesen ist. Dass sie nun noch auf zu speichernde Dateien verweist, ist schon ein rechter Anachronismus. Kinder kennen das Zeug schon gar nicht mehr.

Nehmen wir beispielsweise die Messenger-Dienste: Fast schon rührend gestrig der „klassische“ Telefonhörer, der für WhatsApp steht oder die Papier-„Schwalbe“, die im Namen von „Telegram“ lossegelt. Etwas dauerhafter dürften schon die verschieden stilisierten Sprechblasen von Signal, Threema, SMS und Facebook-Messenger sein. Wolken werden uns doch wohl vorerst erhalten bleiben.

Oder die Tiere, die für Browser stehen: der Fuchs von Firefox, der Löwe von Brave. Hoffen wir, dass man sich noch lange auf sie beziehen kann, ebenso auf das zwitschernde Vögelchen von Twitter, die Wölkchen diverser Cloud-Dienste, den angebissenen Apfel von Apple oder auch – nostalgischer Sonderfall – die Kompassnadel von Safari…

Je virtueller das Leben wird, umso mehr werden solche Lebewesen oder herkömmlichen Dinge an den Rand geraten oder vergessen sein. An welche sinnlichen Merkmale wird man sich dann noch halten können? Wird irgendwann alles nur noch durch Zahlenfolgen bzw. völlig abstrakte Darstellungen vergegenwärtigt? Oder wird es ein „Zurück zur Natur!“ geben?

Es deutet sich schon an, was womöglich bleiben wird: pure Farbkreise (Google Chrome) , aufwärts weisende Pfeile (Amazon) oder ein kapitaler Anfangsbuchstabe aus der mehr oder weniger hippen Designerschmiede (z. B. Netflix, Skype, PayPal, Word). Aber Vorsicht: Die Anzahl der Buchstaben ist endlich. Und beileibe nicht jede Gestaltung leuchtet unmittelbar ein.




Die WAZ schenkt kräftig ein: Gin und mehr mit Bergbau-Anmutung

Ein Ginflaschen-Verschluss anderer Provenienz – nicht bei WAZens zu erwerben. (Symbolfoto: Bernd Berke)

Wahrscheinlich haben die Trendsetter schon wieder eine andere Flüssigkeit ausgerufen, doch dem durchschnittlichen Genießer gilt wohl immer noch der Gin als d a s hochprozentige Getränk dieser Jahre. „Gib deinem Leben einen Gin!“ appelliert neuerdings eine Werbetafel im Supermarkt, wo dem Feuerwässerchen eine auffällige Extra-Präsentation zuteil wird.

Nicht nur in good old England, wo Gin immer schon besonders geschätzt wurde, weiß man, dass sogar die Queen sich in schöner Regelmäßigkeit ein paar Schlückchen gönnt. Nun ist der vermeintliche Hype auch im Marketing der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) angekommen. Frei nach Schiller: „Spät kommt er, doch er kommt…“ Diese leichten Verspätungen haben ja auch etwas sympathisch Schrulliges. Eile mit Weile – dem Zeitgeist gemächlich hinterdrein.

Mythos vom Kumpel in Ewigkeit

Doch was hat die WAZ mit dem Gin zu schaffen? Nun, ausweislich einer Eigenanzeige auf der heutigen Titelseite bietet das Blatt in seinem Shop „Mineur Gin“ an. Oh, là là! Französisch. Das klingt doch beim ersten Hinhören recht kultiviert und distinktiv. Mineur heißt Bergmann, kann jedoch auch „zweitrangig“ oder „minderjährig“ bedeuten, aber diese beiden Varianten kommen hier eher weniger infrage.

Zurück zum Mineur als Bergmann. Die WAZ wird gewiss bis in alle Ewigkeit den Mythos vom Kumpel pflegen, die Zechen gehören ja gleichsam zur DNA des Blattes. Und so prangen auf dem Flaschenetikett denn auch zwei Bergleute mit Helm und Hacke. Der Wahl- und Werbespruch dazu lautet „So ehrlich wie die Menschen im Ruhrgebiet“. Na gut, das ist ein bisschen dem Motto der Dortmunder Bergmann-Brauerei nachempfunden, deren Bier mit „Harte Arbeit, ehrlicher Lohn“ angepriesen wird. Sei’s drum.

Heimaterde, Kohlenjunge, Püttmann

Klickt man sich durch den WAZ-Shop, so findet man weitere – allesamt etwas krampfhafte – Ruhri-Anmutungen wie den „Gin Heimaterde“, den „Püttmann“ (Lakritzlikör mit demselben Kumpel-Bild wie beim „Mineur“), einen Kräuterlikör namens „Kohlenjunge“ und den „Mond von Wanne-Eickel“, eine im Profil halbmondförmige Buddel mit Apfel-/Birnen-Likör. Wohl bekomm’s.

Um ehrlich und beinahe sachlich nüchtern zu bleiben: Der „Mineur Gin“ hat 44,7% Vol. oder über 44 „Umdrehungen“, wie unverbesserliche Humoristen zu juxen pflegen. Hoffentlich stoßen nicht die Hacker damit an, die die Computersysteme der Funke-Gruppe (und somit auch der WAZ) bundesweit attackiert und für Wochen lahmgelegt haben. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, über die wir nicht scherzen sollten. Sagen wir’s halt mit Wilhelm Busch: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör.“




Es steht ’ne Waschmaschine vor der Tür – und: Der Ein-Mann-Schwertransport. Zwei kurze Geräte-Geschichten

Kultur is‘ ja leider auf Schwundstufe, also lasst uns mal eben über andere Sachen reden. Beispielsweise über Waschmaschinen. Vor einigen Tagen wurde eine bestellt, just am 16. Dezember sollte sie geliefert werden. Die bisherige war schlichtweg „hinüber“. Warum, das erfahrt ihr nachher.

Ein Gerät dieses Typs… (Foto: BB)

Prima: Die Neue sollte nicht nur zum Bestimmungsort getragen, sondern auch angeschlossen und eingerichtet werden. Der Rundum-sorglos-Service eines deutschen Versandhauses.

Das galt bis gestern.

Jetzt aber! 16. Dezember! Erster Tag im gehärteten Lockdown! Und schon soll auch auf diesem Gebiet so gut wie nichts mehr gehen. Kurz vor der Lieferung kommt die Mail, dass sie die über 75 Kilogramm schwere Maschine mitsamt der Verpackung lediglich v o r die Tür stellen werden (vielleicht bei schönstem Regenwetter). Anschluss? Nix da! Nicht in diesen Zeiten. Vielleicht nach dem 10. Januar. Oder 20. Februar. Oder 30. März. Oder 40. April.

„Alles muss man selber machen.“

Ansonsten wär’s halt vorerst nichts mit den heimischen Waschgängen, auch nicht mit dem 60-Grad-Programm, in dem beispielsweise die Stoffmasken mitlaufen. Wie bitte? Die Waschsalons hätten doch geöffnet? Ja, herrlich: „Mein wunderbarer Waschsalon“. Da kann man sich ja gleich in eine dichtbesetzte U-Bahn stellen und Aerosole einpfeifen. Immerhin: Die Masken lassen sich ja auch bügeln.

„Notfalls“ (es geht hier ja gar nicht um „Not“, das Wort wird viel zu oft missbraucht) müsste man die gute alte Handwäsche wiederentdecken – womöglich mit Waschbrett. Auf den Dingern kann man bekanntlich auch leidlich musikalische Rhythmen erzeugen. Womit wir denn doch wieder bei kulturellen Angelegenheiten wären. Irgendwie jedenfalls.

P. S. für zwischendurch: Es gibt natürlich weitaus Schlimmeres als solche Problemchen. Und der Lockdown ist offenkundig bitter nötig. Das musste gesagt werden.

Nun aber noch eine schlimmere Waschmaschinen-Story, die erklärt, warum die vorherige Maschine (brandneue „Testsiegerin“) bereits „hinüber“ war und die denn doch ein größeres Problem offenbart. Jener Online-Riese, den ich wohl nicht eigens nennen muss, lieferte sie mit einem einzigen Mitarbeiter (!) aus. Sonst kommen für derart schwere Gerätschaften immer zwei Leute, dieser arme Kerl musste jedoch allein ran. Zwar hatte er ein akkubetriebenes Stemmgerät, aber auch damit war es furchtbar schwer, die Maschine in den Waschkeller zu wuchten.

So ruckelte und titschte sie denn auf jeder einzelnen Treppenstufe derart auf, dass die Trommel danach offenbar eine extreme Unwucht hatte. Die Maschine „wanderte“ beim Schleudern heftig, stürzte schließlich „kopfüber“ vom Betonsockel und riss ihre Anschlüsse aus der Wand. Geradezu suizidal. Da nützte es auch nichts, dass eine Fachfirma den Schaden kostspielig beseitigte und die Maschine mit Hilfe einer Wasserwaage neu aufstellte. Resultat: nächste Wäsche, nächste „Wanderung“ – bis knapp vorm erneuten Absturz. Also abermals Retoure, also abermals Verdruss. Keinerlei Vorwürfe an den Mitarbeiter, aber an die frühkapitalistisch anmutende Personalplanung. Auch fragt man sich, was wohl mit diesem beschädigten Teil geschehen wird. Einfach auf den Sperr- oder Sondermüll damit? Bei diesem Anbieter keineswegs auszuschließen.

Nie wieder ein Großgerät über diese Firma, die einen einzigen Mann Waschmaschinen schleppen lässt, um Transportkosten zu sparen. Auch sonst wäre an Boykott zu denken. Nein, es wäre zu handeln.

 




Warum lag der Sportkatalog für den früheren Bochumer Intendanten in meinem Briefkasten?

Also, das wird mir jetzt wohl niemand erklären können. Ich selbst bin auch ziemlich ratlos.

Ein durchaus rätselhafter Adressaufkleber (Foto: Bernd Berke)

Der Reihe nach: Jetzt traf der höchst umfangreiche Verkaufskatalog einer Hagener Sportartikel-Firma bei mir ein. Bleischwer lag er im Briefkasten. Mit zahllosen Angeboten für Vereine und Schulen. Utensilien für alle denkbaren Sportarten. Medizinbälle, Sprossenwände, Trampoline, Rugby-Ausrüstungen, Schwimmhilfen, Billardtische, Tischtennisplatten, Laufhürden, Torgestänge. All das und noch tausendfach mehr. Krasse Sachen dabei.

So weit, so halbwegs normal. Nur: Diese Firma hat mir vorher noch nie etwas geschickt. Auch hatte ich dort noch gar nichts bestellt und habe das auch nicht vor. Wahrscheinlich hat einer dieser ruchlosen Adressenhändler meine Daten weiterverkauft. Möge ihn die Pestilenz…

Doch nein. Offenbar war ich persönlich gar nicht gemeint. Der namentlich Angeschriebene zählt vielmehr zur Theater-Prominenz. Der Katalog war – unter meiner Anschrift – an Elmar Goerden adressiert, den ehemaligen Bochumer Schauspiel-Intendanten (im Amt 2005-2010). Nun gut, ich habe ihn, zusammen mit einem Kollegen, im Jahr 2005 einmal interviewt und später ein paar seiner Inszenierungen besprochen. Seine damalige Theaterarbeit habe ich in recht guter Erinnerung behalten. Auf welche wundersame Weise er aber mit meiner Adresse verknüpft und unter dem Label Revierpassagen angeschrieben worden ist, erscheint mir völlig schleierhaft. Als Goerden in Bochum tätig war, hat es die Revierpassagen noch gar nicht gegeben.

Mal kurz die Suchmaschine angeworfen: Was hat Elmar Goerden in den letzten Jahren so gemacht? Nun, hauptsächlich hat er offenbar als Gastregisseur an verschiedenen Bühnen in Wien inszeniert – weitab vom Ruhrgebiet. Auch kein Ansatzpunkt.

Wenn ich mich recht entsinne, hat Goerden einmal kurz vor einer Laufbahn als Profi-Fußballer gestanden und ist dann doch ans Theater gegangen. Immerhin eine vage Verbindung zum Sport. Oder sollte er etwa Trainingsgeräte für „seine“ Schauspieler*innen benötigen? Zählte nicht mal Fechten zur Schauspielausbildung? Fragen über Fragen. Absurde Vermutungen, die in semantischen Sackgassen enden. Ein postalischer Irrläufer, fürwahr.

Und jetzt? Bin ich mal gespannt, wessen Post mich demnächst ereilt. Die für Leander Haußmann? Für Frank-Patrick Steckel? Für Matthias Hartmann? Wetten werden noch angenommen.




„Hören Sie bald von Ihnen“: Mailwechsel mit einem chinesischen Online-Shop

Leute, ich bin zum ersten Mal auf einen jener windigen China-Shops (Online-Firmen ohne Adresse, Impressum etc.) hereingefallen, die unter rasch wechselnden, „deutsch“ klingenden Namen antreten und – gegen Vorauskasse – äußerst minderwertige Ware liefern, so ca. acht Wochen nach Bestellung; wenn überhaupt.

Corpus Delicti (Foto: BB)

Hätte ich vorher z. B. im Bewertungsportal trustpilot.de nachgesehen, hätte ich gewusst, dass Waren und Geschäftsgebaren dieser Herrschaften zu satten 87 Prozent wahrhaft unterirdisch mit „ungenügend“ beurteilt werden. Auch ich habe inzwischen dort meine Meinung hinterlassen. Meinen stellenweise absurden Mailwechsel mit den Shop-Betreibern (die ich hier nicht benennen mag) möchte ich der Mitwelt trotzdem nicht vorenthalten:

Es begann mit meinem Retouren-Wunsch, ein paar Schuhe für etwas unter 50 Euro betreffend:

Guten Tag, ich möchte die Ware zur Bestellung (folgt Bestellnummer) zurücksenden und den Kaufpreis zurückerhalten. An welche Anschrift soll ich die Ware senden?

Mit freundlichen Grüßen Bernd Berke

Daraufhin der Shop:

„Sehr geehrter Kunde, Danke für Ihre E-Mail.
Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten, die Ihnen entstanden sind.
Können Sie uns sagen, warum Sie zurückkehren müssen?
Bitte hängen Sie die Artikel auf und machen Sie deutlich Fotos, um die von Ihnen genannten Probleme zu zeigen. Damit Ihr Problem rechtzeitig bestätigt und gelöst werden kann.
Hören Sie bald von Ihnen, vielen Dank.“

In der Tat hörten sie wieder von mir, nämlich dies:

Guten Tag, verschonen Sie mich doch bitte mit Ihrer Hinhaltetaktik. Auf Ihrer Homepage ist ausdrücklich eine Rücknahmegarantie vermerkt (siehe Screenshot) – bis zu 14 Tage nach Erhalt der Ware, ohne Angabe von Gründen. Aber ich nenne Ihnen sogar zwei Gründe:

Die Schuhe passen einfach nicht, sie sind zu klein. Außerdem sind sie von enttäuschend minderwertiger Qualität, sie riechen erbärmlich nach billigem Plastik. Beide Mängel lassen sich mit Fotos n i c h t darstellen.

Ich möchte die Schuhe zurückschicken und den Kaufpreis erstattet bekommen.

Also: Bitte jetzt die Adresse zur Rücksendung. Sonst können wir die Sache auch juristisch behandeln.

Gruß Bernd Berke

Nun wieder der Shop:

„Sehr geehrter Kunde,

Vielen Dank, dass Sie uns darauf hingewiesen haben.
Wir entschuldigen uns für die Probleme mit den von Ihnen gekauften Schuhen und für die Unannehmlichkeiten, die Ihnen entstanden sind.
Können Sie es behalten, weiterverkaufen oder verschenken? Wir möchten Ihnen 8 EUR als Entschädigung zurückerstatten. Was denken Sie? vielen Dank“

Weiterverkaufen oder verschenken soll ich sie also? Interessante Retouren-Variante. Sie verstehen offenbar nichts oder wollen jedenfalls nicht verstehen. Mit ihrer freundlichen „Begriffsstutzigkeit“ wollen sie einen anscheinend zermürben und von weiteren Schritten abhalten. Gar nicht so ungeschickt. Offenbar eine bereits vielfach erprobte Methode. Also muss man vielleicht etwas bestimmter auftreten? Hier also meine neuerliche Antwort, diesmal recht kurz:

8 Euro? Das ist ja wohl ein Witz. Retourenadresse jetzt und volle Rückerstattung – oder Ärger mit Anwalt! Gruß

Auch das hat nicht wirklich gefruchtet. Diese Mail erhielt ich nun:

„Sehr geehrter Kunde, Ich freue mich sehr über Ihren Brief. Bitte verzeihen Sie mir etwaige Unannliche.

Für erhaltene Artikel erhalten wir, dass Sie den Artikel behalten und behalten, ihn geschlossen haben oder Ihre Freunde zu geben. Wir können 12 Euro zurückerstatten oder Ihnen einen Gutschein von 12 Euro auss
Bargeldcoupons wahr Bargeld. Sie können in Zukunft andere Artikel auf unserer Website kaufen.

Wenn Sie eine Rücksendung zahlen müssen, müssen Sie die Rücksendung bezahlen und bezahlen, müssen Sie auch selbst Steuern zahlen. dass die Schuhe nicht beschädigt sind
Bitte senden Sie Sie den Artikel und eine Adresse Adresse: (von 14 Tagen nach Erhalt des Pakets):

An: (folgt eine ungemein komplizierte Anschrift in China. Rücksendung „natürlich“ auf meine eigenen Kosten. Und ich möchte wetten, dass sie einem die Ankunft der Ware niemals bestätigen werden).

Bitte geben Sie Sie uns die Tracking-Nummer und geben Sie Ihr PayPal-Konto ein

Bitte teilen Sie mich mir Ihre Wahl mit. Viele Dank.“

P. S.: Die fast 50 Euro habe ich inzwischen schon als schmerzliches „Lehrgeld“ verbucht. Aber der Mailwechsel macht allmählich Spaß. Fortsetzung folgt vielleicht. Mal sehen, zu welchen abenteuerlichen Vorschlägen sie sich noch hinreißen lassen?




Immerhin: Dortmunder Karstadt-Haus bleibt wohl doch geöffnet

Historische Fassade des Dortmunder Karstadt-Hauses (Aufnahme vom Oktober 2012: Bernd Berke)

Ein Hauch von Hoffnung – was das Revier anbelangt, zumindest für die Dortmunder Innenstadt und natürlich für die hiesigen Beschäftigten: Das Karstadt-Haus (Karree am Hansaplatz/Westenhellweg) soll nun offenbar doch nicht schließen. Damit wäre eine arge Schwächung der City vorerst abgewendet; jedenfalls zum Teil. Denn der Dortmund Kaufhof ist wohl nicht mehr zu retten.

Die geänderte Lage hat allenfalls emotional mit der lokalen Kaufhaus-Nostalgie zu tun, derzufolge Karstadt (ehedem: Althoff) einfach zu Dortmund gehört. Es dürfte hingegen an Nachverhandlungen mit den Vermietern liegen, aus denen sich offenbar Zugeständnisse ergeben haben. Vielleicht hat auch der vehemente Einsatz der Stadt seinen Teil beigetragen. Die Stadtspitze musste jedenfalls ein vitales Interesse am Erhalt einer möglichst attraktiven Mitte haben und hat dies auch unmissverständlich kundgetan.

Eigentlich ein starker Standort

Manche Beobachter hatten von Anfang an diese Möglichkeit gesehen und vermutet, dass die Schließungs-Ankündigung in diesem Sinne als (un)sanfte Drohung und Mahnung zu verstehen gewesen sei. Überdies haben ortskundige Fachleute darauf hingewiesen, dass die Karstadt-Ertragslage am Westenhellweg (eine der umsatzstärksten Einkaufsmeilen der gesamten Republik) deutlich über dem Durchschnitt liege. Auch war das Haus jüngst noch millionenschwer renoviert worden. Vor diesem Hintergrund klangen die Schließungspläne schon einigermaßen rätselhaft.

Ähnliche Hoffnungsschimmer gibt es jetzt für weitere fünf Karstadt/Kaufhof-Niederlassungen in Leverkusen, Chemnitz, Goslar, Potsdam und Nürnberg (Lorenzkirche). Hingegen bleibt es im Ruhrgebiet bei den Schließungsplänen für zwei Filialen am Konzern-Standort Essen sowie für Hamm und Witten. Bundesweit sind jetzt höchstwahrscheinlich 56 (statt bislang 62) Standorte betroffen.

Verdi weiß, was Modekäufer wünschen

Für neue, nicht ganz so große Unruhe hat unterdessen die Ankündigung der Modekette Esprit gesorgt, deutschlandweit 44 ihrer 94 Filialen aufzugeben. In Dortmund, wo man bereits vorher ein großes Modekaufhaus geschlossen hatte, soll die verbliebene Filiale in der Thier-Galerie offenbar weitermachen. Die weltbekannten Fashion-Experten der Gewerkschaft Verdi haben dem Esprit-Management vorgeworfen, alle modischen und sonstigen Trends verschlafen zu haben. Tatsächlich hat Esprit nicht bereitwillig jede Torheit der Saison mitgemacht, sondern eine Linie durchgehalten. Gegen Widersacher wie Corona und Zalando (beispielsweise) muss man aber erst einmal ankommen.

Übrigens: Als die aus fünf Gewerkschaften gebildete Vereinigung Verdi 2001 loslegte, hatte sie 2,8 Millionen Mitglieder, heute sind es rund 1,9 Millionen. Sollte man da etwa „Trends“ verpennt haben?

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(mit Infos aus Spiegel online, WAZ und Ruhrnachrichten)

 




Karstadt und Kaufhof: Schließungen würden Dortmund und Essen besonders hart treffen

Ernsthaft von Schließung bedroht: Teilansicht des Dortmunder Karstadt-Hauses. (Foto aus dem Jahre 2016: Bernd Berke)

Es wäre eine wirtschaftliche Katastrophe – nicht nur, aber mal wieder besonders fürs Ruhrgebiet. Wie heute zu hören ist, schließt Karstadt/Kaufhof („Galeria“) offenbar jeweils beide Häuser in Dortmund und Essen. Außerdem werden im Revier vermutlich die Warenhäuser in Hamm und Witten aufgegeben. Insgesamt sind demnach bundesweit 62 von 172 Filialen betroffen, darunter allein sechs in Berlin und vier in Hamburg.

Auch Städte wie Düsseldorf, Köln, Bremen, Frankfurt, Hannover, München und Nürnberg verlieren nach dieser Lesart einzelne Kaufhäuser. Sofern das alles zutrifft, kann man mit Fug und Recht sagen, dass sich damit das Gepräge zahlreicher Großstädte in dieser Republik verändern würde. Ganz zu schweigen von den vielen, vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die damit wohl arbeitslos werden. Laut Gewerkschaft Verdi sind es wahrscheinlich rund 6000.

Zentrale Anlaufstellen in der Innenstadt

Was das alles – beispielsweise – für die Dortmunder Innenstadt bedeuten könnte, lässt sich noch gar nicht ermessen. Es käme einem Kahlschlag gleich, der zahlreiche andere Händler mit in den Abgrund ziehen dürfte. Denn Karstadt und Kaufhof waren über viele Jahrzehnte hinweg d i e zentralen Anlaufadressen in der City. Ältere Dortmunder kennen Karstadt noch als Traditions-Kaufhaus „Althoff“. Lang ist’s her. Es ist kaum vorstellbar, dass das historische, sehr raumgreifende und voluminöse Karstadt-Haus am Hansaplatz anschließend wieder mit Leben erfüllt werden kann.

Im schlechtesten Falle erübrigen sich damit auch andere Bemühungen, die Innenstadt aufzuwerten. Denn mit den Kaufhäusern würden zwei Anziehungspunkte entfallen, die immerhin noch etliche Menschen etwa aus dem Sauerland in die Stadt gezogen haben; wenn auch bei weitem nicht mehr so viele wie früher einmal. Übrigens: Auch die erst wenige Jahre alte Shopping Mall „Thier Galerie“ mit rund 160 Geschäften dürfte die Folgen zu spüren bekommen. Es war frühzeitig abzusehen: Dieser Konsumtempel hat etliche Kunden von Karstadt und Kaufhof weggelockt. Aber das ist halt Wettbewerb.

Im Revier ist offenbar nicht genügend Geld vorhanden

Offenbar ist man in der Essener Zentrale von Karstadt/Kaufhof zu dem Schluss gelangt, dass großstädtische Revierbürger (mitsamt dem jeweiligen Umland) nicht genug konsumieren – jedenfalls nicht in den Kaufhäusern. Nun ja, die hiesige Kaufkraft ist auch nicht so hoch wie beispielsweise in Köln, Stuttgart oder München. Den Letzten („Ärmsten“) beißen mal wieder die Hunde oder dramatischer und wohl auch wahrhaftiger gesagt: die Höllenhunde des Kapitalismus.

Aber hätte es denn nicht eine Verkleinerung der Häuser getan – oder die Schließung einer Verkaufsstätte statt beider? Oder stimmt es gar, was auch gemunkelt wird: dass das Kaufhaus-Management die vermeintlich rigorosen Schließungspläne unwidersprochen durchsickern lässt, damit die Vermieter der Häuser nervös werden, um ihre gewohnten Einnahmen bangen und den Mietzins senken? Sie sollten die Sache wirklich noch einmal gründlich bereden. Mit einem kompletten Mietausfall wäre auch den Immobilienbesitzern nicht gedient. Und welche „Goldesel“ wollen sie dort denn anschließend ansiedeln? Nicht nur nebenbei: Über die Karstadt-Sporthäuser (auch in Dortmund ansässig) ist derweil das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Arge Probleme schon lange vor Corona

Dass der Kaufhaus-Konzern in Schieflage geraten ist, hat gewiss nicht nur mit den Folgen des Corona-Shutdowns zu tun. Schon in vielen Jahren zuvor gab es immer wieder arge Probleme, die dann auch zum Zusammenschluss von Karstadt und Kaufhof geführt haben. Dass schließlich auch noch die Pandemie sich ausbreitete, hat die Lage sicherlich noch deutlich verschlimmert. Da helfen weder Kurzarbeitergeld noch Mehrwertsteuersenkung. Wer die Digitalisierung und den Internet-Versandhandel dermaßen verpennt, der hat eben kaum etwas entgegenzusetzen, wenn Amazon sich überall breitmacht.




Mit Markenprodukten aus NRW: Bildband spürt der aufblühenden „Konsumlust“ der 1960er Jahre nach

Die Geschichte wird wahrlich nicht zum ersten Mal erzählt: wie „die“ Deutschen den Weltkrieg in jedem Sinne hinter sich ließen (nämlich auch nach Kräften zu verdrängen suchten); wie sie sich nach und nach dem Konsum zuwendeten; wie dabei Markenzeichen und folglich Werbung immer wichtiger wurden; wie das Land bunter und wohl zugleich oberflächlicher wurde. Das ganze „Wirtschaftswunder“-Programm eben.

Auch Ulrich Bienes Bildband „Konsumlust“ greift diesen Erzählfaden auf, knüpft ihn aber etwas anders. Gleich zwei Untertitel signalisieren, worum es geht: „Werbung, Wohlstand, Wirtschaftswunder“ und dann vor allem: „Die 1960er Jahre in Spiegel der NRW-Marken“. Heißt also: Hier wird die Geschichte regional aufgezogen, Firmen aus Nordrhein-Westfalen stehen im Vordergrund. Eigentlich kein Wunder, ist Biene doch hauptberuflich Pressesprecher der Veltins-Brauerei im hochsauerländischen Meschede. Er widmet denn auch dem Brauereiwesen im Lande ein ausführliches Kapitel. Apropos: In den 60ern waren die Gewichte noch ganz anders verteilt, rund die Hälfte aller NRW-Biermengen kam aus Dortmund, damals weltweit die zweitgrößte Bierstadt überhaupt. Auf heimelige Ruhrgebietstypologie getrimmte Werbung setzte seinerzeit den Revier-Komödianten Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier als glaubhafte Vertrauensfigur für die Dortmunder Union-Brauerei ein.

„…und Erwachsene ebenso“

Die 1960er waren jenes Jahrzehnt, in dem sich endgültig etliche Markenbezeichnungen vor die Sachen schoben, es war also beispielsweise nicht mehr so häufig von Papiertaschentüchern, sondern von Tempotüchern die Rede und seltener von Gummibärchen, dafür umso öfter von Haribo, bekanntlich eine schon lange vor dem Krieg begründete Traditionsmarke aus Bonn. Doch nun stellten sie sich neu und zeitgemäß auf: 1967 wurde der Goldbär als geschütztes Warenzeichen eingetragen. Und der alte Vorkriegsspruch „Haribo macht Kinder froh“ wurde zur Mitte der 1960er ergänzt um „…und Erwachsene ebenso“. Vielleicht ein Vorzeichen dafür, dass der Konsum die Generationen einander anglich, indem er viele Erwachsene infantilisierte? Nun, wir wollen nicht gar zu sehr spekulieren. Jedenfalls zeigt sich, dass Konsum mehr ist als bloßer Verbrauch.

Zahlreiche Anzeigenmotive aus vielen Branchen versammelt dieses Buch, die allemal den jeweiligen Zeitgeist repräsentieren und manche Erinnerung wachrufen. Was im Rückblick auffällt: In jenen Jahren wurde der Konsum noch weit überwiegend in deutscher Sprache angeregt oder auch schon recht agil angestachelt. Die damals zunehmend kaufkräftige Generation hatte es noch nicht so mit dem Englischen.

Einflüsse aus der Pop-Art

Anfangs noch im herzig-naiven Stil der 50er Jahre sich ergehend, wurde die Reklame im Laufe des Jahrzehnts zunehmend frech oder grell, gegen Ende der Dekade nahm sie beispielsweise auch Einflüsse aus Pop-Art und Comics auf, sehr deutlich zu sehen anhand der Duisburger Sinalco-Werbung, welche als markanter Ausschnitt die Titelseite des Bandes ziert. Sprite konterte just 1968 mit dem Kunstwort „frischwärts“, einer fast schon sprichwörtlichen Schöpfung. Fanta war jedoch, wie man hier ebenfalls erfährt, eine Kreation aus dem Kriegsjahr 1941, mit der man die damals in Deutschland nicht mehr lieferbare Coca-Cola und deren amerikanische Ableger „ersetzen“ wollte. Nicht nur Bücher, auch Limos haben ihre Schicksale.

Sogar der weithin als biederes Damengetränk verschriene Eierlikör Verpoorten („Ei, Ei, Ei…“) sollte damals mit psychedelischen „Hippie“-Annoncen neue, jüngere Käufer(innen)schichten gewinnen. Auch dies kommt einem heute fremd und fernliegend vor: dass Tabakwaren und hochprozentiger Schnaps mit größter Nonchalance angepriesen und fröhlich verharmlost wurden. Alkoholhaltige Leckereien der Firma Brandt (mit Kirschwasser, Williamsbirne, Himbeergeist etc.) hießen „Hicks-Pralinen“, gleichsam beschwipst schwankten sie mit diesem Werbeslogan herbei: „Lustig ist das Pralinenleben. Faria, faria hicks.“

Hicks-Pralinen und Dinett-Servierwagen

Noch in den Anfängen steckte hingegen die Produktpalette zur Körperpflege, zumal die Männerdüfte beschränkten sich noch weitgehend auf SIR (irish moos) und Tabac, Kölnisch Wasser (4711) dominierte den noch recht schmalen Markt. Ältere Jahrgänge erinnern sich gewiss noch an diesen arg begrenzten olfaktorischen Bestand.

Näher betrachtet wird auch die (ost)westfälische Möbelproduktion, die kürzlich noch dem NRW-Arbeits- und Gesundheitsminister Laumann bei seinen ersten Corona-Lockerungsübungen als überraschend „systemrelevant“ galt. Zu nennen wären etwa die Hersteller Interlübke und Poggenpohl sowie das Ekawerk. Von den ach so praktischen Dinett-Servierwagen der Firma Bremshey aus Solingen redet man hingegen heute wohl kaum noch, dieser Alltags-Mythos ist eher zum Nostalgie-Stoff geronnen.

Regionaler Stallgeruch mit Nostalgie

Noch mehr regionaler Stallgeruch mit Vintage-Charme gefällig? Bitte sehr, hier in Stichworten noch ein paar Beispiele, die im Buch mit ihrer Werbung aus den 60ern Revue passieren: Brandt Zwieback (damals Hagen), die 1962 eingeführten Trumpf Schogetten (ursprünglich Aachen, später Bergisch-Gladbach), Falke-Socken (Schmallenberg/Sauerland), Seidensticker-Hemden (Bielefeld), Pril und Persil (Henkel/Düsseldorf). Die ausgesprochen breitenwirksame Prilblumen-Kampagne gehörte dann freilich in die 70er Jahre. Hinzu kommen Automobile von Ford (Köln) und Opel (damals – ab 1962 – auch noch in Bochum), Kraftstoffe von Aral (gleichfalls Bochum) oder auch frühere Kindheits-Legenden wie Siku-Modellautos (Lüdenscheid), das Kettcar (von Kettler aus Ense-Parsit im Kreis Soest, das später einen Rockband-Namen prägte) oder Puky-Räder (Wülfrath).

Alle eben genannten Namen und Marken sind auch heute noch geläufig und erhältlich, aber kann sich jemand noch an Rokal-Modelleisenbahnen (aus Lobberich)  oder an Rondo-Waschmaschinen (aus Schwelm) erinnern? Mh. Gibt es eigentlich ein Fachgebiet namens Wirtschafts- und Konsum-Archäologie?

„Konsumlust – Werbung, Wohlstand, Wirtschaftswunder – Die 1960er Jahre im Spiegel der NRW-Marken“. Klartext-Verlag, Essen. 160 Seiten Großformat, zahlreiche farbige Abbildungen. 29,95 €.

 

 




A short introduction to the current Haushaltsgeräte-Verhöker-Slang

Früher hieß das mal „Weiße Ware“. Und heute? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Soso, Sie wollen sich also eine neue Waschmaschine, einen Trockner oder Kühlschrank anschaffen und haben nicht einmal Anglistik studiert? Das dürfte aber Probleme geben.

Denn dann verstehen Sie auch die neueste, zwölfseitige MediaMarkt-Werbebeilage nur völlig unzureichend, die einem heute u. a. aus diversen Funke-Printmedien entgegensegelt. Zwar haben Sie schon von Side By Side-Kühlschränken gehört oder besitzen gar einen, auch ist Ihnen sicherlich Crushed Ice ein Begriff, doch Sie wissen wahrscheinlich nicht so recht, was es mit dem Multiairflow-System und dem EcoSilenceDrive (™ von Bosch) auf sich hat. Tja.

Bevor Sie auch nur einen Stecker einstöpseln oder die neue Apparatur sogar fürwitzig in Gang setzen wollen, sollten Sie sich im Grundkurs erst einmal tunlichst hiermit vertraut machen: Steam Refresh, Home Connect, Baby Protect, WiFi Smart Control, AllergoWash, TwinDos, Easy Slide Ablage, Twin Cooling, SmartSeal, CroosWave Cordless und Self Cleaning Condenser (Trademark von Bosch). Bitte wiederholen. Alle zusammen!

In diesem Zusammenhang durchaus verwunderlich: Dass man vergessene Wäschestücke nachträglich flugs in die Maschine werfen kann, wird in (allerdings etwas dürftigem) Deutsch als „Nachlegefunktion“ bezeichnet, bei einem anderen Hersteller heißt das (in der weithin üblichen, vermeintlich ungemein schicken Wort-Zusammenziehung) bereits AddLoad. Im beinahe schon rührenden Restdeutsch kündet man uns hingegen nach alter Väter Sitte von Knitterschutz. Ja, da kommen einem fast die Tränen. Dass wir das noch erleben dürfen!

Doch weiter, weiter! Die Zukunft beim Schopfe packen! Wenn Sie den entsprechenden Grundkurs absolviert haben, dürfen Sie sich – nach entsprechender Zwischenprüfung – der höheren Schule des Haushaltsgeräte-Verhöker-Slangs zuwenden: Lauschen Sie hierzu dem surrenden Pro Smart Inverter Motor, ergötzen Sie sich an der Pet Hair Removal Funktion (solche gemixten Wortreihen ohne jeglichen Bindestrich gelten ebenfalls als supersmart). Sodann widmen Sie sich bitte mit gebührendem Staunen dem Active Fresh Blue Light, bevor wir mit InstaView Door-in-Door (™ von LG) einen Achttausender-Gipfel der Sprachkreationen erklimmen. Noch besser gefallen hat uns im vorliegenden Prospekt eigentlich nur der linguistisch tollkühne Moist Balance Crisper.

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P. S.: Hier soll keineswegs dem penetranten Eindeutschungswahn des (übrigens in Dortmund gegründeten und ansässigen) Vereins Deutsche Sprache das Wort geredet werden. Das ist das andere, politisch durchaus fragwürdige Extrem. Freilich: Die völlig besinnungslose Anglifizierung ist gleichfalls beknackt. Wobei noch zu sagen wäre: An eher harmlose Beispiele, wie sie auch im besagten Werbeauftritt vorkommen (AutoDry, AutoClean, Wolle finish, Stay Clean-Schublade, EcoSpeed, ActiveEco, QuickDrive, IQdrive, Sportswear, Everfresh, MultiZone, BioCool, CookControl, CoolStart, Special Powerline, WiFiConn@ct und erst recht Touchscreen Display) haben wir uns längst gewöhnt.

P.P.S.: Wir danken den ingenieurtechnisch und anglophon erfindungsreichen Firmen Bosch, Miele, Siemens, Bauknecht, Samsung, LG, beko und Bissell für ihre werblichen Bemühungen. Uns ist bewusst, dass die eine oder andere Fügung als geschütztes Warenzeichen = Trademark (™) daherkommt. In diesem Kontext und in sprachwägender Absicht trauen wir uns, sie zu nennen – in aller Ehrfurcht und Ergriffenheit, versteht sich.




„Revierfolklore“: Zechenära in Relikten, Reliquien und Retro-Moden

Wie eine verblassende Erinnerung ans alte Revier: Förderturm auf dem Gelände des Dortmunder LWL-Industriemuseums Zeche Zollern, durch eine verregnete Autoscheibe (stehendes Fahrzeug) aufgenommen. (Foto: Bernd Berke)

Fördertürme. Grubenlampen. Schlägel und Eisen. Grubenwagen. Sozusagen klassisches Ruhrgebiet in Reinkultur. Derlei Zeichen und Symbole gibt es in dieser verdichteten Form nirgendwo sonst im deutschsprachigen Raum. Einst standen diese Dinge für den Berufsstolz der Bergleute. Doch noch heute, wo all das kaum mehr eine wirtschaftliche oder soziale Basis hat, identifizieren sich viele Nachgeborene der damaligen Kumpel damit.

Regionalstolz oder Kommerz?

Was daran jetzt noch einigermaßen authentisch, was glaubhafte Signatur für Heimatstolz und was vielleicht eher kommerziell ist, versucht eine Ausstellung des LWL-Industriemuseums zu beleuchten. In Bochum (Zeche Hannover) war sie bereits zu sehen, jetzt ist sie in der Zentrale des Industriemuseums angelangt, der Zeche Zollern in Dortmund, deren grandioses Gebäude-Ensemble gleichsam das größte „Ausstellungsstück“ ist. Den thematischen Anstoß gab seinerzeit die Schließung der letzten Revier-Zeche Ende 2018 in Bottrop. Doch ist das Ganze keine Vergangenheits-Bewältigung, sondern ein Blick zurück nach vorn.

Badeentchen in Kumpel-Kluft und mit Fußball-Bezug, rechts daneben die Eieruhr, die das Steigerlied spielt. (Foto: Bernd Berke)

Grubenwagen an über 1000 Standorten 

Das Kind muss einen Namen haben – und er ist gut gewählt: „Revierfolklore“ heißt die Schau, die hie und da beinahe auszuufern droht, aber doch in der Fahrrinne bleibt. Sie versammelt Hunderte von Objekten von inzwischen nostalgischem Charakter. Etwas wehmütig, aber nicht frei von Humor und Ironie werden allerlei Relikte und Reliquien der Bergbau-Epoche besichtigt. Recht angenehm: Die Besucher(innen) werden nicht zu Erkenntnissen gedrängt, sie sollen anhand der Exponate möglichst selbst ihre Wahrheit(en) finden. Zur Vertiefung empfiehlt sich freilich das Katalogbuch.

Bergmännische Erinnerungsstücke der herkömmlichen Art. (Foto: Bernd Berke)

Besonders prägant hervorgehoben wird gleich eingangs ein Grubenwagen (andere Bezeichnungen: Förderwagen, Lore oder auch Hunt). Heute stehen solche Wagen (anderer Plural: Wägen) vielhundertfach in Vorgärten, Parks oder an ähnlichen Stätten, zumeist bunt bepflanzt und nicht selten regionalstolz beschriftet. Im Obergeschoss sind dazu ausgewählte Fotografien zu sehen, die der von der Materie offenbar geradezu besessene Martin Holtappels im ganzen Revier und darüber hinaus aufgenommen hat. Sie zeigen Grubenwagen jeder Sorte und Couleur an ihren heutigen Stellplätzen. Schier unglaubliche 1094 Standorte – auch auf dem Friedhof oder vor dem Baumarkt – hat der Fotograf bis gestern ausgemacht, sie sind auf einer interaktiven Karte im Internet zu finden. Nicht auszuschließen, dass es schon heute mehr sind. Jedenfalls haben die Fahrzeuge einen deutlichen Funktions- und Bedeutungswandel hinter sich.

Wenn die Historie allmählich entrückt ist

Zurück ins weitläufige Erdgeschoss, wo solche Bedeutungsverschiebungen zuhauf dokumentiert sind. Da sind etwa die zahllosen einschlägigen Anstecker, die ehedem tatsächlich von Bergleuten am Revers getragen wurden und Zugehörigkeit zum angesehenen, aber eben auch knochenharten Berufsstand markierten. Heute sind es just Sammlerstücke. Wohl kein bergbaufremder Mensch wird sie sich allen Ernstes anheften mögen; es wäre eine Art Anmaßung, wenn nicht gar Frevel.

In Hülle und Fülle vorhanden: bergmännische Abzeichen und Anstecker in einer Ausstellungs-Vitrine. (Foto: Bernd Berke)

Eines der wertvollsten Stücke stammt ebenfalls von ganz früher: die um 1884 angefertigte, großflächige Vereinsfahne des Knappen- und Unterstützungsvereins Glück auf Herbede (Witten), die aus konservatorischen Gründen nur bei gedämpftem Licht gezeigt werden darf. Dieses Exponat kommt einem wahrhaftig historisch und ehrwürdig vor, in dieser Weise ist uns das Ruhrgebiet von (vor)gestern entrückt. Man hat allenfalls eine vage „Ahnung“ davon. Wenn überhaupt.

Die kohlenschwarze Eieruhr plärrt das „Steigerlied“

Geradezu frappierend ist hingegen die Verwandlung früherer Bergmannskleidung, deren Stoffe recycelt und zu modischen Taschen oder Portemonnaies verarbeitet wurden – unter dem bezeichnenden Label „Zechenkind“. Darin kann man durchaus noch eine gewisse kreative  Sinnhaftigkeit erkennen. Etwas fragwürdiger ist dann schon jene kohlenschwarze Eieruhr, die bei Erreichen des eingestellten Zeitlimits – na, was wohl? – das allfällige „Steigerlied“ abschnurren lässt. Für Bayern, Schwaben und dergleichen Exoten seien die Anfangszeilen zitiert: Glückauf, Glückauf! Der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, und er hat sein helles Licht bei der Nacht, schon angezünd’t, schon angezünd’t…“ Es scheint so, als wäre in diese Falle das Grenzgelände zwischen (selbst)ironischer Aneignung des regionalen Erbes und purem Verkaufsgag überschritten. Auch bei Badeentchen in Kumpel-Kluft überwiegt der wohlfeile Jux. Damit verglichen, sind all die vielen T-Shirts, Tassenserien oder Schlüsselanhänger mit Reviermotiven noch ganz gut erträglich.

Fußball, Schlager, Kino und Kulinarik

Selbstverständlich ist auch dem Umfeld des Revier-Fußballs ein Kapitel gewidmet, schließlich huldigen die Fans aller hiesigen Lager gern dem „Ruhrpott“-Mythos. Jüngst haben die „Choreos“ zu den letzten BVB-Heimspielen gezeigt, welcher Wert hier auf (ursprüngliche oder nachträglich erlangte) Herkunft und Zugehörigkeit gelegt wird. Wobei die Silhouetten der Zechentürme neuerdings auch schon mal durch die Umrisse des „Dortmunder U“ ersetzt werden, also durch ein imposantes Kulturzentrum. Es darf als ein Zeichen des Strukturwandels gelten.

Etwas peinlich für Dortmund ist allerdings dieser Umstand: Die angereisten Exponate zum Fußball betreffen weit überwiegend den FC Schalke 04, auch Jürgen Klopps Dortmunder „Pöhler“-Kappe kann diesen Mangel bei weitem nicht aufwiegen. Zollern-Museumsleiterin Dr. Anne Kugler-Mühlhofer ruft daher die BVB-Anhänger auf, durch Einreichen tauglicher Exponate (als Leihgaben) zumindest ein nachträgliches Gleichgewicht herzustellen.

Neben einem stilisierten Zechenturm in der Ausstellung (von rechts): Dirk Zache, Direktor des gesamten LWL-Industriemuseums, Anne Kugler-Mühlhofer, Leiterin des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern und Alexander Muszeika, wissenschaftlicher Volontär. (Foto: Bernd Berke)

Seitenblicke gelten ferner dem mehr oder weniger reviertypischen Liedgut (vom Schlager bis zum Rap, mit teilweise irrwitzig anmutenden Fundstücken) sowie  dem regionalen Filmschaffen, z. B. zwischen Adolf Winkelmanns „Jede Menge Kohle“ (1981) und Peter Thorwarts „Was nicht passt, wird passend gemacht“ (2002). Und ganz klar: Bodenständige Comedy seit Tegtmeier sowie Duisburgs „Schimanski“ alias Götz George dürfen ebenso wenig fehlen wie die kulinarischen Grob- und Feinheiten der Currywurst mitsamt reichlicher Bier-Nachspülung. Wohl bekomm’s!

Eigentlich ist’s ja kein Wunder, dass man immer wieder auf die althergebrachten, ausgesprochen kraftvollen Symbole zurückgreift, denn man kann sich schwerlich vorstellen, dass strukturgewandelte, aber ziemlich gesichtslose Versicherungs- oder Universitätsbauten neueren Datums zur Identifikation einladen.

„Revierfolklore. Zwischen Heimatstolz und Kommerz“. 29. Februar bis 25. Oktober 2020. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, 44388 Dortmund, Grubenweg 5. Geöffnet Di bis So und an Feiertagen 10-18 Uhr. Katalogbuch 272 Seiten, 14,95 Euro.

Nächste Station ab November 2020: Waltrop, Museum Schiffshebewerk Henrichenburg.

www.lwl-industriemuseum.de

 




„Unboxing“-Videos: Wenn der Nerd die neuen Geräte auspackt

Screenshot aus einem Erklär-Video vom „Technikfaultier". Vorgeführt wird ein iPad von Apple.

Bildnis mit Gerät und Nutzer: Screenshot aus einem Erklär-Video vom sich selbst so nennenden „Technikfaultier“. Vorgeführt und gleichsam rezensiert wird hier das iPad 10.2 (2019) von Apple.

Ich muss ein Geständnis ablegen: Ich bin ein Fan von gut gemachten „Unboxing“-Videos.

Der Laie fragt entgeistert: Nanu? Nein, es hat nichts mit Boxen oder anderlei Körperverletzung zu schaffen, sondern ist ein eigenes, sehr weit verbreitetes Genre, zumal bei YouTube. Da treten zahllose Freaks und Nerds mit mehr oder minder ausgeprägten Spezialbegabungen an, um neue Geräte zu erklären. Stiftung Warentest 4.0, wenn man so will. Aber nicht ganz so stockseriös. Denn das käme beim wohl vorwiegend jüngeren Publikum auch nicht so gut an. Es wäre nicht „cool“ genug.

Und was hat es mit dem Wort „Unboxing“ auf sich? Nun, es steht schlicht und einfach fürs Auspacken neuer Ware (aus der Box/Schachtel holen), vor allem betrifft es technische Gerätschaften aus den Bereichen Computer, Smartphones oder Audio.

Gewiss, da gibt es Gähnstoff-Videos zum alsbaldigen Einschlafen, die das Entfernen jeder, aber auch wirklich jeder Umverpackung ausführlich im kaum bewegten Bild dokumentieren, bevor es dann schließlich bräsig zur Sache geht. Da wird halt rasch weggeklickt.

Die besseren YouTuber dieser Richtung gehen allerdings deutlich flotter und zielgerichtet zu Werke. Schließlich wollen sie möglichst einige Tausend Zugriffe ernten, um sodann von den Herstellern mit brandneuen Apparaten kostenfrei bemustert zu werden.

Nützliche Tipps – vorher oder nachher

Ist man drauf und dran, ein Gerät zu kaufen oder ist gar die Sendung schon unterwegs, kann man sich hier schon mal etwas schlauer machen, was Qualitäten, Mängel und Handhabung angeht. Häufig wird konkrete Vorfreude geweckt. Die gewiefteren „Influencer“ (verzeiht mir bitte dieses grippale Unwort) zeigen jedoch durchaus auch Schattenseiten der ausgepackten Ware, wenn auch zumeist freundlich-unterhaltsam verbrämt. Hin und wieder aber auch sehr freimütig.

Im Nachhinein, wenn man ein Teil schon erworben hat, gibt es hier noch manchen nützlichen Tipp. Wenn’s gut läuft, nimmt man dann noch rechtzeitig sein Widerrufsrecht wahr. Oder man lernt, mit den kleineren Mucken eines Geräts fertig zu werden. Oder man ist und bleibt angetan, nun aber quasi fundiert.

Man wird in diesen Filmen wohl nicht mehr versteckte werbliche Aussagen finden als – sagen wir mal – im Reise- oder Motorteil einer Tageszeitung (zwei besonders anfälligen Ressorts also). Es scheint weithin üblich zu sein, dass man ganz offen sagt, von der Industrie kostenlose „Rezensions-Exemplare“ bekommen zu haben. Gut so. Solche Transparenz hilft bei der Einschätzung.

Zwischen Warenfetischismus und persönlicher Eitelkeit

Mit der Zeit wird man den oder jenen Ratgeber (tatsächlich sind es auf diesem Gebiet meistens jüngere Männer) entdecken, dem man besonders vertraut. Einer, der mir schon durch seinen pfiffigen Spitznamen aufgefallen ist, zählt dazu. Er nennt sich „Technikfaultier“ und ist immer mal wieder für ein paar brauchbare Hinweise gut. Andere tun es ihm gleich. „Technikfaultier“ hat übrigens 226.000 Abonnenten bei YouTube (also mehr Dauernutzer als die meisten deutschen Tageszeitungen) – vom virtuellen „Laufpublikum“ ganz zu schweigen.

Viele Unboxing-Videos zeigen lediglich das besprochene Gerät, was sehr leicht in Warenfetischismus ausarten kann. In anderen Beiträgen lassen sich auch die Urheber blicken – oft nicht ganz uneitel (manche hören sich sehr gerne reden), gelegentlich auch mitsamt ihrer Wohnungseinrichtung oder anderen Accessoires. Es muss eben jeder selbst wissen, wie er sich und seine Lebensweise vor einem potenziellen Millionen-Publikum offenbart.

„YouTuber(in)“ als Berufswunsch bei Kindern

Wo wir schon mal so traulich beim Thema sind: Bereits unter Acht- bis Zehnjährigen kursiert derweil „YouTuber(in)“ als häufiger Berufswunsch. Tierärztin und Fußballspieler können damit noch halbwegs mithalten – aber dann wird es schon dünn. Nun gut, das gibt sich in ein paar Jährchen.

Ein anderer, jedoch verwandter Fall sind die unzähligen Erklärvideos im Netz, die einem auch noch die letzten Kniffe en détail beibringen sollen: beispielsweise, wie, womit und was man kochen oder grillen soll; beispielsweise, wie, wann und warum man Rasen mäht oder Flecken entfernt – und das sind nur die populärsten Beispiele. Es gibt da wahrhaft exotische „Lebenshilfe“, die einem in netzlosen Zeiten so nicht zur Verfügung gestanden hat. Ganz ehrlich: Es sind darunter womöglich unbedarfte, aber keineswegs die unsympathischsten Seiten im www.

 




„Zupacken Ehrensache“: Wie die Ruhris mit einem „Kumpeltaler“ geködert werden sollen

Leider nur eine sozusagen symbolische Behelfs-Illustration: Förderturm der Dortmunder Zeche Zollern II/IV, die seit vielen Jahren Zentrale des Westfälischen Industriemuseums ist. (Aufname vom 18. Mai 2016: Bernd Berke9

Leider nur eine sozusagen symbolische Behelfs-Illustration: Das Foto zeigt den Förderturm auf dem Gelände der Dortmunder Zeche Zollern II/IV, die seit 1979 Zentrale des Westfälischen LWL-Industriemuseums ist. (Aufnahme vom 18. Mai 2016: Bernd Berke)

Da will eine Braunschweiger Münzhandelsgesellschaft Silbertaler zu je 10 Euro verhökern und kommt uns mit lauter Revier-Klischees der längst abgetanen Sorte. Details gefällig? Bitte sehr, der Prospekt liegt uns vor:

Da sieht man gekreuzte Werkzeuge („Schlägel und Eisen“), dazu den mit schwarzrotgoldenem Unterstrich ergänzten Schriftzug „BERGBAU TRADITION im Ruhrgebiet“ (ohne Bindestrich), außerdem eine Lore mit der Aufschrift „Glückauf“, einen Bergmann mit Geleucht, weitere Bergleute bei der Arbeit. So wanzt man sich an Ruhris heran, so leicht wickelt man sie um den Finger. Denkt man in Braunschweiger Reklamestuben und anderswo.

Aber es kommt noch besser. Vom Flyer her schaut uns in schwer „authentischem“ Schwarzweiß an: ein kerniger Kumpel, der einem just kumpelhaft zuzuzwinkern scheint – aber nur ganz leicht angedeutet, denn gleich muss er sicherlich wieder zur Maloche auf Zeche. Und wenn die nun geschlossen wäre? Vielleicht ist es ja auch ein Schauspieler. Schade eigentlich, dass wir (wegen der Bildrechte) auf eine Wiedergabe der Illustration verzichten müssen.

Jedenfalls will der kräftige Kerl (bzw. seine Hintermänner) auch an unsere „Kohle“ ran, nämlich an je zehn Euro. Oder zwanzig. Oder dreißig. Mehr aber nicht, denn von diesen Münzen werden „max. 3 Exemplare pro Haushalt“ abgegeben, vorzugsweise und „einmalig günstig“ an „Bürger des Ruhrgebiets“. Limitierung also. Lässt mächtige Wertsteigerung für die Zukunft erhoffen, oder? Wer kann da Nein sagen? Denn wie heißt es so schön, in listiger Anknüpfung ans Arbeitsethos der Bergleute: „Hier ist zupacken Ehrensache. Noch heute sichern!“

Kurz noch einen Blick auf die Rückseite der Medaille: wiederum Schlägel und Eisen, Eichenblätter, in die Bildtiefe führende Bahngleise und eine Förderturm-Silhouette à la Zollverein. Weltkulturerbe, versteht sich. Alles furchtbar gediegen. Wie aus Zeiten, als noch echte Wertarbeit gezählt hat.

Stolz des Reviers im Spiegelglanz

Was man da käuflich erwerben soll, nennt sich ungelogen „Kumpeltaler“. Wir erfahren, das Ganze sei der „Stolz des Reviers“, und zwar „in echtem Silber!“ Wer’s nicht glaubt, dem wird zusätzlich versichert: „…höchste Qualität Spiegelglanz!“ Okay, und wie sieht’s mit dem Feingehalt aus? „333/1000″. Man schaue (unter dem Link) nach. Der Promille-Wert ist alles andere als üppig, er deutet eben nicht auf sonderliche Werthaltigkeit hin.

Natürlich heißt es im Werbefaltblatt außerdem „Schicht im Schacht im Ruhrgebiet“. Diese Formulierung hat sich halt durchgesetzt und ist quasi verpflichtend, auch wenn sie in diesem Falle damit ein bisschen arg spät dran sind. Die letzte Ruhrgebietszeche hat am 21. Dezember 2018 dicht gemacht. Auch schon wieder fast ein Jahr her.

Aber was soll uns diese Nüchternheit! Kehren wir lieber zur schwärmerischen Poesie zurück. Die Münzen, so die weitere Einlassung, seien eine „einzigartige Würdigung der großen Bergbautradition des Ruhrgebiets“. Hat ja auch sonst niemand gewürdigt. Da bedurfte es bestimmt erst dieser Münz-Edition. Laut Prospekt zollt sie „der Leistung der Bergleute Respekt.“ Denn was waren und sind die Kumpel, mal im Telegrammstil gesagt? „unermüdlich ++ unersetzlich ++ unvergessen“. Is‘ klar, woll? Was für ein Ruhrgebiets-Geschwurbel!




„Sei Teil unserer Bücherwelt!“ – Wie sich der Piper Verlag seine Rezensenten wünscht

Was Goethe wohl zu all dem gesagt hätte? Wahrscheinlich wieder sein berüchtigtes „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent." (Foto: Bernd Berke)

Was Goethe wohl zu all dem gesagt hätte? Wahrscheinlich doch wieder sein berüchtigtes „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“ (Foto: Bernd Berke)

Der Piper Verlag hat sicherlich seine langjährigen Verdienste. Doch jetzt, in Zeiten der Digitalisierung (*gähn*), bricht er offenbar zu neuen Ufern auf. Auch für Blogger(innen) zeigt sich das Münchner Haus neuerdings aufgeschlossen; allerdings nur unter gewissen Bedingungen, die auf der Piper-Homepage unter der nüchternen Zeile „Unsere Kriterien zur Zusammenarbeit“ dargelegt werden.

Zusammenarbeit also. Nicht etwa kritische Öffentlichkeit oder dergleichen Schmonzes von vorgestern. Und wohl auch kaum ein Gedanke an herkömmliche Rezensionen, die vielleicht mal weniger günstig ausfallen könnten. Gefragt ist allenfalls das, was manche neckisch „Rezis“ nennen – ganz so, als würden sie „Supi“ sagen.

Wohin die Reise bei Piper geht, lässt sich im weiteren Verlauf ahnen. Alle Zitate mit Hervorhebungen wie im Original:

  • „Dein Blog oder Youtube-Kanal existiert länger als ein Jahr und verfügt über ein gültiges Impressum.
  • Du schreibst und postest regelmäßig auf Deinen Kanälen.“

So weit sicherlich nachvollziehbar. Der Piper Verlag, seit März 2016 von der vormaligen FAZ-Literaturchefin Felicitas von Lovenberg geleitet, will sich halt nicht mit gar zu flüchtigen sozialmedialen Erscheinungen oder Phantomen plagen, die womöglich nur Rezensions-Exemplare einsacken wollen und dann ihre Portale löschen oder verwaisen lassen.

Am liebsten total virale Influencer?

Allerdings fällt hier schon auf, dass man es eben auch – und vielleicht ganz besonders? – auf YouTuber(innen) abgesehen hat. Wäre es denkbar, dass dem Hause Piper mittlerweile jene „Influencer“, die ein Buch ohne hochtrabendes Gelaber empfehlend in die Kamera halten, lieber sind als kritische Geister, die sich mit wirklichen Rezensionen abmühen? Hätten sie eventuell am allerliebsten hipstermäßige Leute mit der viralen Mega-Power eines Rezo, die ein Buch kurzerhand als „cool“ oder „geil“ bezeichnen?

Nun, ganz so hoch (bzw. eigentlich tief) liegt die Latte nicht. Wir lauschen weiter und erfahren etwas über die Mindestanforderungen:

  • „Dein Instagram Account hat mindestens 2.000 Follower, auf Facebook und Twitter folgen Dir mindestens 1.000 Fans und mindestens 5.000 Abonnenten schauen Deine Videos auf Youtube.“

Instagram, Facebook und Twitter scheinen also schon mal Pflicht zu sein, desgleichen YouTube. Aber das alles genügt noch nicht. Die jeweiligen Gefolgsleute müssen auch möglichst zahlreich und lebhaft reagieren, am besten trampeln und johlen, wenn das denn ginge:

  • „Damit wir sehen können, dass Deine Follower an Deinen Inhalten interessiert sind, ist uns auch eine gute Interaktionsrate wichtig.“

Damit wäre die intellektuelle Spreu vom kaufmännischen Weizen gesondert. Es würde einen schon interessieren, welche Verlags-Kontrollettis auf welche Weise die Interaktionsrate ermitteln und beurteilen. Überdies wäre es interessant zu erfahren, was nach ein oder zwei negativen Besprechungen geschähe. Dann wäre doch höchstwahrscheinlich Schluss mit lustig.

Aber selbst im Falle des Wohlverhaltens bleibt noch mehr zu tun, nämlich dies:

  • „Deine Besprechungen pflegst Du in die gängigen Online-Shops und Communities ein.“

Sprich: Die Empfehlungen soll man z. B. auch bei Amazon, Thalia usw. verbreiten – mit ganz, ganz vielen ***** Sternchen, versteht sich. Womit man dann endgültig ein verlängerter Arm oder besser ein nützliches Sprachrohr der Piper-Presse- und PR-Abteilung wäre. Wie lautet doch gleich die in eine rosarote Wolke gepackte, geradezu enthusiasmierende Überschrift auf der entsprechenden Web-Seite:

„Sei Teil unserer Bücherwelt!“

Nein, danke!




Auf falscher Spur unterwegs? – Ein paar völlig laienhafte Zeilen über Elektro-Autos

Nun gut, dise Vitrinen-Ansicht weist mich als hoffnungslosen Automobil-Nostalgiker aus. Aber eine Klimapreis werde ich damit nicht gewinnen. (Foto: Bernd Berke)

Ich geb’s zu: Diese private Vitrinen-Ansicht weist mich als hoffnungslosen Automobil-Nostalgiker aus. Einen Klimapreis werde ich damit nicht gewinnen. (Foto: Bernd Berke)

Dies vorweg: Von Technik habe ich wenig bis gar keine Ahnung, erst recht nicht von deren Feinheiten. Trotzdem stelle ich mir als Laie die Frage, ob „wir“ mit dem politisch forcierten E-Auto nicht auf der völlig falschen Spur unterwegs sind. Und nein: Wir reden hier weder über die gängige (Hoch)-Kultur noch über Laufkultur (von Motoren).

Wie ich überhaupt darauf komme? Hübsch der Reihe nach. Beispielsweise las ich dieser Tage u. a. online in der „Welt“, dass Audi (Slogan seit 1971: „Vorsprung durch Technik“) rund 7000 bereits ausgelieferte E-Fahrzeuge, die sogenannten E-Tron-Modelle, zurückrufen muss. Unter sehr ungünstigen Umständen (Strom-Betankung bei Regen) könne die Batterie feucht werden. Beim dann möglichen Kurzschluss könne sie sogar Feuer fangen. Oha! Wie schaut es denn wohl in dieser Hinsicht bei den anderen Marken aus?

…und wenn sie mal Feuer fangen?

Zweiter Vorfall, ähnlicher Sachverhalt, aber noch mehr zugespitzt. Neulich lief die regionale Nachricht, dass ein Elektro-Auto Feuer gefangen hatte. Als die Feuerwehr ohne detaillierte Vorab-Infos eintraf, konnte sie nicht wie gewohnt gleich zum Löschen schreiten, sondern musste offenbar besondere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, die wertvolle Zeit kosteten. In der kurzatmigen Nachricht wurde das zwar erwähnt, aber nicht weiter hinterfragt. Dabei wäre das nicht nur mal eben eine Nachfrage wert, sondern es dürfte sich dahinter ein weitaus größeres Thema verbergen, kann man doch vermuten, dass sich hier ein generelles Problem mit E-Autos auftut. Was, wenn wir erst zigtausend dieser Fahrzeuge auf den Straßen haben?

Drittens kann man vielfach nachlesen, dass die Öko-Bilanz der Elektro-Fortbewegung gar nicht so übermäßig günstig ausfällt. Die Herstellung der Akkus/Batterien verschlingt eine Menge an Ressourcen, die in die Gesamtrechnung mit einfließen müssten. Auch entstehen bei der Produktion etliche Schadstoffe. Klingt nicht gerade nach strikter Klima-„Neutralität“. Weitere Stichworte: Es gibt viel zu wenig Ladestationen und falls dann mal eine zur Verfügung steht, dauert das Laden ziemlich lang, die Reichweite des Fahrzeugs ist hingegen immer noch recht kurz. Kulturbeflissene mögen an dieser Stelle ein bildungshuberisches „Vita brevis, ars longa“ einflechten. Wir wollen sie nicht hindern.

In eine Technik geradezu verbissen

Doch zurück zum Thema: Wäre es möglich, dass sich Politik und Gesellschaft insgesamt spät, aber dann auf einmal doch panisch, vorschnell und gleichsam „alternativlos“ (furchtbares Totschlage-Wort) auf eine spezielle Technik festgelegt, ja geradezu darein verbissen haben, die einige gravierende Schwierigkeiten mit sich bringt? Wäre es ferner möglich, dass verstärkte Forschung (und entsprechender Einsatz von Finanzmitteln) auf anderen Gebieten weiter führt? Doch kaum denke ich dabei ganz naiv an Wasserstoffantrieb, lese ich akut, dass eine Wasserstoff-Tankstelle explodiert sei. Es ist wirklich kompliziert.

Ein Signal ist immerhin, dass sich manche Aktien-Investoren den Titeln zuwenden, die mit Wasserstoff und Brennzellentechnik Brennstoffzellentechnik arbeiten. Sobald sich damit Gewinn machen lässt, bekommt die Sache wohl ihre Eigendynamik. Wie man hört, leben wir nämlich immer noch in kapitalistischen Verhältnissen.

Es sieht freilich ganz so aus, als müsste noch sehr, sehr viel nachgedacht und zielgerichtet experimentiert werden. „Greta“ und die freitäglichen Klima-Katastrophen-Kohorten allein werden da mit ihren wohlfeilen Maximalforderungen (mögliches Motto: „Alles – und zwar sofort“) kaum Abhilfe schaffen können. Lindnersche Arroganz nach dem gegenläufigen Motto „Lasst mal die Experten ‚ran“ allerdings auch nicht.

P. S.: …und bei all dem haben wir noch gar kein Wort über Arbeitsplätze in der Autoindustrie verloren. Aber das interessiert ja eh nur noch die IG Metall und deren Mitglieder, oder?

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Im unten stehenden Kommentarbereich wird der Beitrag en détail schon korrigiert. Bei Facebook, wohin ich den Text verlinkt habe, gibt es – wie üblich – mehr Wortmeldungen.

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Mal sehen, vielleicht wird hieraus noch eine Serie. Arbeitstitel: „Sachen, von denen ich keinen Schimmer habe, über die ich aber trotzdem schreiben möchte“. Ich wäre in der Medienlandschaft beileibe nicht der Einzige, der nach dieser Parole verfährt.




DO wie Dortmund – auf der Suche nach einem griffigen Werbeslogan für die Stadt

Etwas schmucker als im letzten „Tatort": Dortmunder Innenstadt-Ansicht (Foto: Bernd Berke)

Etwas schmucker als im letzten „Tatort“: Dortmunder Innenstadt-Ansicht. (Foto: Bernd Berke)

Immer mal wieder suchen die Revierstädte nach knackigen Werbeslogans – und zahlen den Agenturen (gern aus München oder Düsseldorf) eine Menge Geld dafür. Wir sind von hier und machen es weitaus günstiger, zudem mit Methode (jaja, auch Wahnsinn hat mitunter Methode).

Nehmen wir als Beispiel Dortmund, das nun mal das Autokennzeichen DO hat. Von

DO-OF und DO-LL bis DO-SE

ergeben sich dabei manche hübschen Kombinationen. Aber darum geht es hier nicht. Und auch nicht DO-RT.

Vielmehr suchen wir nach Alliterationen und Anklängen. Lokal legendär wurde der ekstatische Ausruf „Froh in DO!“ Ein Lustschrei sondergleichen. Und nur noch vorortmäßig getoppt vom Gänsehaut-Spruch „Gerne in Derne“.

Seit dem letzten, so arg umstrittenen DO-„Tatort“ ahnen wir: Die Stadt braucht jetzt noch dringender einen knackigen Werbespruch, als bisher schon. Des Oberbürgermeisters Schelte verstehen wir somit als Auftrag zum sofortigen Gegensteuern.

Deshalb jetzt flugs zurück zum DO. Um auf solchen Wegen weiter fortzuschreiten, schlagen wir jetzt ein Wörterbuch (nein, nicht den DOden, was denkst DO denn?) auf und suchen nach Wörtern, die ebenfalls mit DO beginnen. Ihr seht, das One-Man-Brainstorming (OMB) nimmt allmählich Fahrt auf!

Aufgemerkt nun also! Da hätten wir beispielsweise:

Dobermann, Docht, Dock, Dodekaeder, Dogge, Dogma, Dohle, Doktor, Dokument, Dolce vita, Dolch, Dollar, Dollpunkt, Dolmetscher, Dolomiten, Dom, Domäne, Domestik, Domina, Dominikaner, Dominosteine, Dompteuse, Donner, Don Juan, Don Quixote, Doofheit, Doping, doppelt, Dorade, Dorado, Dorf, Dorn, Dorsch, dort, Dosis, Dossier, Dotter, Doyen, Dozent.

Von den jeweiligen Ableitungen (Domkapitel, Donnerwetter, Dokumentarfilm o. ä.) reden wir einstweilen nicht. Auch lassen wir Umlaut-Transkriptionen wie DOedel wohlweislich beiseite.

Im nächsten Schritt fragen wir uns, welche Worte für eine Stadtwerbung tauglich sein könnten. Okay, DOmina, DOlch und DOping nehmen wir gleich mal heraus, weil…

DOof wäre höchstens in der Umkehr tauglich: „DOrtmund – gar nicht so DOof!“ Aber am Ende machen sich die dusseligen Deppen von auswärts darüber lustig…

Mit DOgge und DObermann können wir auch nicht allzu viel anfangen, wir wollen die Kommune ja nicht als idealen Hunde-Standort darstellen, ebenso wenig als Fischzentrale, also scheiden die DOrade und der DOrsch gleichfalls aus. SchaDO eigentlich.

DOktor, DOzent und DOssier schenken wir der Dortmunder Uni für deren Eigenwerbung. DOm, DOgma und DOminikaner überlassen wir hingegen dem örtlichen Klerus, wobei es hier leider gar keinen DOm gibt.

DOlomiten? Liegen nicht gerade nahe. DOllar? Desgleichen. Oder wollen wir ein paar Amis hierher locken, etwa so: „DO’nt you want to spend your DOllars in DOrtmund?“

DOrf verbietet sich wohl von selbst. Das wollen wir den Düsseldorfern nicht streitig machen. DOmestik ist einfach zu unterwürfig. Das hat die einstige Freie Reichsstadt und Hansestadt nicht nötig.

DOdekaeder? Wat für’n Dingen?

DOcht? Hä? „Hast du einen unruhigen DOcht wie DOn Juan, so komm ruhig nach DOrtmund“ wäre wohl kein Slogan für die Ewigkeit, ja, nicht einmal für den Augenblick.

„DOrtmund, der DOyen unter den Städten“ klingt irgendwie auch nicht ganz stimmig und nicht sonderlich zukunftsträchtig. Wir sind doch nicht im betagten Trier! Sondern hier.

Blieben als positiv besetzte oder besetzbare Worte vielleicht: DOppelt („DOrtmund – DOppelt gut“) und DOlce vita (das dem Dortmunder Markenkern freilich nicht hundertprozentig entsprechen dürfte). „DOnnerwetter – DOrtmund!“ käme schon etwas besser hin, oder etwa nicht?

Mh. Überfliegen wir die Liste noch einmal. Haben wir etwas übersehen? Jaaaaah!

DOraDO, das ist es! Wegen des DO-DOppelten Anklangs und wegen der besonders positiven Bedeutung als Quasi-Paradies.

„DOrtmund – DOraDO für…“ (Beliebiges einsetzen).

Es ist vollbracht. Touristen und Investoren werden herbeiströmen.

Macht schlanke fünftausend. An wen dürfen wir die Rechnung schicken?

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Lesen Sie auch die nächsten Ruhrgebiets-Folgen:

DU in DUisburg, Amüsieren wie BOlle in BOchum, OBerwasser in OBerhausen, HAMm ist der HAMmer, HATtingen HAT’s, HERrliches HERne, WITziges WITten, MH! – Schlemmen in MülHeim, BOTanik in BOTtrop, GErne in GElsenkirchen (wahlweise: GEiles GElsenkirchen), UNglaubliches UNna und zum krönenden Abschluss: Lecker Essen in Essen. Da wärt ihr jetzt nie drauf gekommen, stimmt’s?




Thalia und die Mayersche wollen fusionieren – und stilisieren sich selbst als Bewahrer der Lesekultur

Es ist ein ziemlich gewichtiger Vorgang: Die größte deutsche Buchhandelskette Thalia (Hagen) und die Mayersche (Aachen), immerhin viertgrößter Anbieter auf dem deutschen Markt, wollen fusionieren.

Das Kartellamt muss noch zustimmen. Es sollte sich den Umfang und die Bedingungen des Zusammenschusses sehr genau ansehen. Denn hier entsteht doch wohl ein marktbeherrschendes Unternehmen; wenigstens, was den stationären Buchhandel angeht.

Speziell Thalia war zeitweise dafür bekannt und berüchtigt, mit kleineren Buchhandlungen sowie kleinen und mittleren Buchverlagen nicht gerade zimperlich umzuspringen und gelegentlich mit seiner (nun offenbar schwindenden) Marktmacht Druck auszuüben.

Inzwischen aber haben sich die Zeiten insofern geändert, als das einst so dominant auftretende Haus Thalia und die Mayersche sich ihrerseits vom Giganten Amazon bedroht sehen. Ihre geplante Fusion sei „ein Zeichen des Aufbruchs gegen die Marktmacht globaler Onlinehändler und für die innerstädtische Lesekultur“. Du meine Güte! Hätten wir doch nur früher bemerkt, dass die Globalisierungskritiker von Thalia den tapferen Kampf fürs Gute, Wahre und Schöne führen.

Das sattsam bekannte Amazon-Argument führen die beiden Ketten ebenso ins Feld wie den Umstand, dass es laut Statistik immer weniger Buchleser gibt. Vielleicht haben die zwei Unternehmen den Online-Buchhandel auch etwas verschlafen. Und wenn sie sagen, durch ihre Fusion entstehe „der bedeutendste familiengeführte Sortimentsbuchhändler in Europa“, so müssen uns angesichts der „Familie“ nicht Tränen der Rührung kommen.

Man schaue sich das Sortiment insbesondere von Thalia an, es ist einfach äußerst Bestseller-lastig und damit recht schmal, was die Anzahl der Titel angeht. Auch sind Bücher oft nur noch Nebensache. Längst hat man (auch bei der Mayerschen) den Eindruck, dass zahlreiche Chichis und Gimmicks einen gehörigen Anteil am Umsatz haben. Es ist schon recht seltsam, wenn solche Firmen sich nun als schützenswertes Kulturgut darstellen.




Frauen, die beim Wohnen warten

Gelegentlich liegen der regionalen Tageszeitung Möbelprospekte bei. Die interessieren mich nur sehr bedingt. Doch eins ist mir jetzt (mal wieder) aufgefallen: Man sieht darin besonders viele wartende Frauen.

Barfuß auf dem Sofa (1)

Barfuß auf dem Sofa (1)

Ihr wisst schon ungefähr, was ich meine, nicht wahr? Junge Frauen, die offenbar endlos Zeit haben, warten in diesen Musterwohnungen – auf was auch immer. Dass ein männliches Wesen nach seines Tages Mühen erscheine? Dass endlich das Leben anfange? Warten sie etwa auf den Postboten oder Handwerker? Wohl kaum. Das wäre denn doch zu profan.

Sie sollen ungemein entspannt wirken, aber es gelingt ihnen nur selten, diesen Eindruck glaubhaft zu vermitteln. Es sind ja auch zumeist preiswerte oder gar kostenlos posierende Statistinnen, die sich da lümmeln und rekeln oder auch selbstvergessen sinnend in unbestimmte Fernen blicken.

…und meistens sind sie barfuß

Auf dem Sofa: die wartende Frau. Auf dem Bett: die wartende Frau, etwas leichter bekleidet. Auch in der Küche hat sie nichts zu tun als zu warten. Hin und wieder nimmt sie eine Tasse Tee oder Kaffee zu sich, höchstens mal ein Stückchen Obst, das ist offenbar alles, was sie zum Dasein braucht. Hin und wieder tippen solche Frauen auf Tablets oder Smartphones herum. Und meistens sind sie barfuß.

Barfuß auf dem Sofa (2)

Barfuß auf dem Sofa (2)

Nur selten kommt ein Mann hinzu, oft übrigens in deutlicher Distanz auf dem breiten, breiten Sofa. Manchmal darf auch ein fröhliches Kind dabei sein. Und wenn eine Familie sich zeigt, dann fast immer idealtypisch mit einer Tochter und einem Sohn. Ansonsten, wie gesagt, bleibt die junge Frau für sich, als wenn just die Abwesenheit des Mannes erst wahre Muße ermögliche. Paradox nur, dass sie zugleich auf ihn wartet.

Domizile in weltbester Lage

Und wahrlich, sie wohnen nicht schlecht. Im mittleren Preissegment geht es schon los mit den maßlosen Übertreibungen: Allein ihre Küchen sind wohl um die 70 Quadratmeter groß, auch in den Bädern kann man großzügig umhergehen, ganz zu schweigen von den anderen Zimmern. Es sind stets weitläufige Wohnlandschaften mit einigen Metern Deckenhöhe.

Barfuß auf dem Sofa (3)

Barfuß auf dem Sofa (3)

Die Fensterblicke im Hintergrund (selbstverständlich Fotomontagen) suggerieren derweil allerbeste Wohnlagen, entweder mitten im Zentrum von Weltstädten oder direkt am Rande riesiger Parks und Waldungen, manchmal auch Mixturen aus beidem. Latifundien halt. Anwesen sondergleichen. Gerne auch mit unverstelltem Meer- oder Flussblick. Kurzum: eigentlich für Normalsterbliche unbezahlbar. Frei nach Kurt Tucholskys Diktum über die ideale Wohnlage: vorne Ostsee, hinten Ku’damm. Oder war’s umgekehrt?




„Familie Hauser“ als (un)heimlicher Internet-Hit: Viele Millionen Klicks für herzige Playmobil-Filmchen

Kürzlich war hier von der Spielzeugfirma Schleich die Rede, deren langer Arm in so manches Kinderzimmer reicht. Nun geht es um ein weiteres Universum, in dem sich wahrscheinlich noch weitaus mehr Kinder bewegen – um die Welt von Playmobil, genauer: um deren ebenso einfältige wie vielfältige Video-Präsenz bei YouTube, vornehmlich in Gestalt der „Familie Hauser“. Kein Vertun: Wir reden über einen Internet-Auftritt mit Abermillionen Klicks.

Playmobil-Familie „Hauser" mit beigefügtem Hund: links Michael und Anna, rechts Nicole und Lena. (Foto: Bernd Berke)

Playmobil-Familie „Hauser“ mit beigefügtem Hund: links Michael und Anna, rechts Nicole und Lena. (Foto: Bernd Berke)

Gewiss: Die hauptsächliche Zielgruppe sind Kinder so etwa zwischen 4 und 9 Jahren. Doch selbst aus der Perspektive von Sieben- oder Achtjährigen kommt manche Hauser-Geschichte schon so treuherzig und naiv daher, dass es zum Steinerweichen ist. Die dick aufgestrichene rote Marmelade bzw. der Ketchup, die besonders bei Verletzungen der Playmobil-Kinder zum Einsatz kommen, wirken schon fast wieder selbstironisch. Aber eine solche Ebene existiert hier nicht.

Komik durch ungelenke Bewegungen

Andere Szenarien sind (oft unfreiwillig) immens komisch; auf eine putzige, rührende Art, die auch mit den ungelenken Bewegungen der Playmobil-Figuren zu tun hat, welche nur notdürftig in Filmsprache überführt werden können. Auf ihre spezielle Weise üben diese harmlos vor sich hin ruckelnden Geschichtlein, in denen die Kinder immerzu freudig „Au, jaaaa!“ rufen, einen geheimen Sog aus. Mit einer einzigen wird man sich nicht begnügen wollen. Man verlangt, wie nicht nur Kinder es tun, nach Wiederholung und Fortsetzung. Oh wunderbar authentisch und arglos wirkende Amateurhaftigkeit, oh schlichte Herrlichkeit dieser einfachen, modisch ausgedrückt „unterkomplexen“ Welt! Aber nach einer halben Stunde ist es dann auch genug.

Unter den inzwischen 414 Hauser-Filmen (!) zu je fünf bis zehn Minuten sind einige veritable Viral-Kracher. Mehrere Hunderttausend Klicks haben sie praktisch alle eingesammelt. Spitzenreiter ist derzeit die gar simple Story der Hauser-Tochter Lena, die sich an einer Glasscherbe verletzt hat und anschließend liebevoll mit Mull und Pflaster versorgt wird. Dieses Nichts an Handlung hat über 6 Millionen Aufrufe generiert – kaum zu fassen, aber wahr!

Aus der Werkstatt einer schwäbischen Hausfrau

Es ist ja auch staunenswert, wie die Urheber, eine offenbar kreuzbrave Familie vom Bodensee, aus den Plastikfiguren von Playmobil (Kenner sagen „Playmo“) einen wahren Kosmos geschaffen haben. Da entstehen vor unseren Augen ganze Jahrmärkte oder Volksfeste, Kaufhäuser, Spaßbäder, Freizeitparks, Rudelguck-Areale, ein Zoo, ein Weihnachtsmarkt, eine Klinik, eine Bowlingbahn, ein Friseursalon und wohl hundert andere Schauplätze. Von Kita, Schule und Häusern der Nachbarschaft ganz zu schweigen.

Die Mutter der Familie leiht nicht nur der Playmobil-Hauptfigur Nicole Hauser ihre Stimme, sondern auch anderen Frauengestalten, zum Beispiel der Lehrerin, der Kindergärtnerin oder dieser und jener Verkäuferin. So herrscht alleweil derselbe bedächtige Duktus mit südwestdeutschem Einschlag vor. Sehr gemütlich. Und ziemlich unbedarft.

Derweil vertont der Familienvater nicht nur Nicoles Mann namens Michael, sondern auch dessen Schwager (praktischerweise ein Polizist, der jeden Kriminalfall im Handumdrehen aufklärt) und etliche weitere Männer bis hin zum Taschendieb („Manni Mütze“) oder Juwelenräuber. Die beiden Kinder spielen unterdessen die Kinder Lena und Anna sowie deren Freundinnen und Freunde in Grundschule und Kita. Mit anderen Worten: Die ganze Familie ist gehalten, sich von klein auf hingebungsvoll mit den Playmobil-Protagonisten zu identifizieren. Wie es im wirklichen Hause der „Hausers“ ausschaut, kann man sich ungefähr ausmalen.

Den Brotberuf auf Eis gelegt

Man fragt sich, ob diese Frau Hauser außer den vielen, vielen, teils recht aufwendig erstellten Playmo-Filmchen noch irgend einen „normalen“ Job erledigen kann, so aufopfernd und ausufernd detailfreudig sind diese Alltags-Drämchen gestaltet. Und tatsächlich: Im April 2017 erschien der Blog-Bericht eines Kölner Journalisten über „Frau Hauser“ (die bürgerlich natürlich anders heißt). Wir erfahren, dass die seinerzeit 37-Jährige ihren Beruf als Augenoptikerin ruhen lässt, während ihr 43-Jähriger Mann weiter als Informatiker tätig ist. Der gutmütige Mensch wird trotzdem ständig mit eingespannt.

Apropos Aufwand: Bei Gelegenheiten wie Karneval, Kirmes oder Schwimmbadbesuch bringt Mama Hauser dermaßen viele Figuren zum Einsatz vor der Kamera, dass sie entweder enorm viel Geld ausgegeben haben muss oder Unterstützung vom Hersteller erhält – in welcher Form auch immer. Vielleicht filmt sie mittlerweile gar im Auftrag oder wenigstens mit aktiver Billigung?

Kostenlose Werbung oder Auftragsarbeit?

Der Werbeeffekt für den Hersteller und überhaupt für den Spielwarenhandel dürfte nicht gering zu veranschlagen sein. Dennoch heißt es auf der Hauser-Website im „Disclaimer“ (Haftungsausschluss) wörtlich: „Dieser YouTube Kanal ist unabhängig. Playmobil ® ist eine Marke der geobra Brandstätter Stiftung & Co. KG, durch die die vorliegende Webseite weder gesponsert noch autorisiert oder unterstützt wird.“ Soso. Es fällt schwer, das in allen Punkten zu glauben.

Titelseite des YouTube-Kanals der „Familie Hauser". (Screenshot von https://www.youtube.com/channel/UCxLxvbyyN-Zl3yKFMaiuKug)

Titelseite des YouTube-Kanals der „Familie Hauser“. (Screenshot von https://www.youtube.com/channel/UCxLxvbyyN-Zl3yKFMaiuKug)

Jedenfalls gibt es einen eigenen YouTube-Kanal, den man längst auch (kostenlos) abonnieren kann, über 412.000 Leute beziehen nach heutigem Stand regelmäßig die deutschsprachige Version. Mehr noch: Familie Hauser erlebt ihre kleinen Abenteuer inzwischen u. a. auch auf Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Arabisch, Polnisch und Niederländisch. Bei Instagram, Facebook und Google+ ist man ebenfalls online.

Was da vor etwa drei Jahren als Hobby begonnen haben mag, klingt jetzt nach einer ziemlich großen Nummer. Kann es denn wirklich stimmen, dass die Bodensee-Familie ganz allein den vielfachen Übersetzungs-Aufwand betreibt und auch noch Muttersprachler(innen) engagiert?

An anderer Stelle heißt es, dass die Firma immerhin schon mal ein paar Gratis-Figuren zur Verfügung stellt. Das wäre aber auch das Mindeste. Denn mehr Klicks brächte wohl keine professionelle und hochbezahlte PR-Agentur zustande. Seit November 2016 kann man jene vierköpfige Familie Hauser denn auch als Playmobil-Set käuflich erwerben. Ein Schelm, wer daraus finanzielle Schlussfolgerungen ziehen will. Inzwischen machen die Hausers – jenseits ihrer Geschichten – ja auch schon mal werbliche Filme für Playmobil-Produkte, beispielsweise für die Ausstattung eines Baby-Zimmers.

Und was wird geschehen, wenn die Kinder eines Tages zu alt werden? Soll es dann trotzdem weitergehen? Übernehmen dann andere Leute, vielleicht gar Profis? Dann wäre vielleicht der Charme des Ganzen dahin. Ihr seht, wir machen uns Sorgen.

Bastel-Ideen erweitern den kleinen Kosmos

Einstweilen ist Aufhören jedoch kein Thema. Im Gegenteil: Mit den bloßen Geschichten ist es nicht getan. In speziellen Filmen (Motto: „Pimp your Playmobil“) zeigt uns diese Nicole Hauser außerdem, wie man mit viel kleinteiliger Bastelarbeit die Spielzeug-Welt Zug um Zug erweitern und verfeinern kann oder wie man eine komplette Luxusvilla neu ausstattet. Auch das kostet viel Zeit. Pfiffige Tüftel-Ideen kann man Frau Hauser dabei wahrlich nicht absprechen. Es gibt demnach kein Wesen oder Objekt, das nicht im Playmobil-Format nachgeahmt werden könnte – vom Haustier bis zum Handy, von jedwedem Küchengerät bis zu allen Einzelheiten des Mobiliars und des Hausstandes. Hie und da grenzt das Streben nach Vollständigkeit an Besessenheit.

Mit dem Inhalt der originalen, noch nicht durch Bastelei erweiterten Playmobil-Kartons werden ja allerlei Situationen des Alltags nachgestellt, die darauf hinauslaufen, dass mit jedem Set nur eine begrenzte Spielsituation entsteht und somit die Sammelwut immer aufs Neue angefacht wird. So gibt es in der Reihe „City Life“ wahrhaftig eine Lieferung, die nur aus einer Figur besteht, welche Scheine am Geldautomaten zieht, oder auch einen Mann, der am Kugelgrill steht und Würstchen zubereitet. Wie gut, dass phantasievolle Kinder solche beengenden Vorgaben bei weitem sprengen. Sie kombinieren alles mit allem und schaffen ein eigenes Dasein.

P.S.: Um komplizierte politische oder wirtschaftliche Vorgänge fassbarer zu machen, hat namentlich die FAZ-Sonntagszeitung sie häufig mit Playmobil-Figuren illustriert, so auch wieder am gestrigen Sonntag.

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Und wo bleibt der Ruhrgebiets-Bezug des Themas? Na, hier! Bis zum 23. September 2018 gibt es im Hammer Maximilian-Park eine umfangreiche Ausstellung mit zahllosen Playmobil-Figuren.




Tierische Rituale an der Börse: „Drei Wochen war der DAX so krank! Nun hüpft er wieder, Gott sei Dank!“

In letzter Zeit interessiere ich mich gelegentlich ebenso für den Wirtschaftsteil wie fürs Feuilleton. Mitunter erscheint, was da verhandelt wird, einfach handfester. Doch halt! Wolkig kommt es trotzdem daher. Und wer weiß, ob die ganze Chose nicht überhaupt eine Blase ist, die bald mal wieder zu platzen droht. Fachleute wissen auch nichts Genaues.

Was können sie denn dafür? Dachse vor ihrer Höhle. (Zeichnung von Walter Heubach, 1865-1923 / Wikimedia Public Domain / gemeinfrei). Link zur Lizenz: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heubach_badger.jpg)

Was können sie denn dafür? Dachse vor ihrer Höhle. (Zeichnung von Walter Heubach, 1865-1923 / Wikimedia Public Domain / gemeinfrei). Link zur Lizenz: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heubach_badger.jpg)

Nehmen wir mal den deutschen Aktienindex DAX, der aus 30 hervorstechenden Firmenwerten besteht. Der wird in der Berichterstattung geradewegs wie ein empfindsames Lebewesen behandelt, als sei er just ein Dachs. Bestimmt haben die Erfinder von Anfang an diese tierische Assoziation gehabt. Och, wie niedlich.

Und nun das Auf und Ab der täglichen Börsennachrichten: Häufig „drückt“ etwas auf den DAX, so dass er durchaus bedrückt wirken muss. Da muss man offenbar Mitleid haben. Doch gerade heute heißt es, den DAX lasse der abermals entflammte politische Streit um Zollschranken einstweilen kalt. Ach, der coole DAX! Zuweilen widersteht er ja auch tapfer den volatilen Fährnissen des Marktes. Mitunter vernimmt man die frohe Kunde, der DAX stehe wieder auf oder behaupte sich. Frei nach Wilhelm Busch: „Drei Wochen war der DAX so krank, nun hüpft er wieder – Gott sei Dank.“

Vor etwa einer Woche, am 1. Juli 2018, hatte das Tierchen übrigens einen runden Geburtstag, der DAX wurde 30 Jahre alt. Wie sagten wir früher: „Trau keinem über 30…!“ Inzwischen hat er ja auch ein paar Kinder in die Finanzwelt gesetzt: beispielsweise TecDAX, MDAX und SDAX. Der nächste Spross sollte dann vielleicht FrechDAX heißen.

Wenn man weiß, dass die hochheiligen Anleger/Shareholder/Investoren und Analysten, die den DAX nach oben oder unten treiben, zumeist positiv auf Personalkürzungen reagieren (welche wahrscheinlich den Gewinn des betreffenden Unternehmens steigern), möchte man bei all dem doppelt zornig werden. Der nur aus Zahlen und Phantasien der Gier bestehende DAX lebt also, die Mitarbeiter(innen) der Unternehmen sind hingegen eher leblose Materie.

Allabendlich hört man im Börsenbericht die immergleichen Beschwörungs-Formeln, etwa vom „technologieorientierten Nasdaq“. Überhaupt scheint das ganze Gemöhre einen hohen rituellen Anteil zu haben, ist es doch auch Kernpunkt der bei weitem umfassendsten Weltreligion, der Geldanbetung. Und führe uns in Versuchung!

Es ist sonnenklar: Die interessierten Kreise wollen einem das wirtschaftliche Geschehen als naturwüchsig verkaufen, als Vorgänge „mit menschlichem Antlitz“ – oder eben mit tierischen Attributen. Bulle und Bär sind seit langem Symboltiere der Börse, wobei bekanntlich der Bulle für die Hausse und der Bär für die Baisse steht. Was kann denn der arme Bär dafür? Und wieso lässt man den Dachs nicht in Ruhe?

Doch irgendwie stimmt die ach so fassliche Bildlichkeit ohnehin nicht mehr, seit Millionen Computer in Millisekunden Abermilliarden Dollars oder Euros bewegen und damit ganze Branchen oder Länder ins Wanken bringen können. Damit verglichen, sind die übelsten Wettbüro-Kaschemmen nur ein Klacks. Und wenn dann noch dieser Donald neue Zölle twittert, geraten Nikkei, Dow und DAX ins Straucheln. Weh und ach!

Und nun das Wetter.




Von der Schiefertafel zum Tablet, von der Langspielplatte zum Streaming: „Die Verwandlung der Dinge“

Wie die Dinge immerzu vergehen und sich wandeln! Ganz konkret und doch geradezu gespenstisch.

Auch dem kulturhistorisch bewanderten Sachbuchautor Bruno Preisendörfer (Jahrgang 1957) ist immer mal wieder Verwunderung und zuweilen gelinde Belustigung anzumerken, hervorgerufen durch all die heimlichen und unheimlichen Evolutionen unseres Alltags, zumal in der Spanne eines längeren Menschenlebens.

Preisendörfers Buch „Die Verwandlung der Dinge“ beschreibt zum Gutteil Sachen und Verhältnisse, die jüngere Menschen gar nicht mehr kennen oder die sie sich nicht einmal mehr vorstellen können. Hie und da mutet die Rückschau schon ziemlich vorsintflutlich an. Mag sein, dass man bald so etwas wie „Zeitgenössische Archäologie“ wird studieren können.

Der Autor unternimmt „Eine Zeitreise von 1950 bis morgen“ (Untertitel), wobei er sich mit der Zukunftsschau merklich zurückhält. Auch geht er mit Industrie-Kritik in Sachen Unterhaltungselektronik sehr sparsam um. In dieser Hinsicht könnte man sich ganz andere Ansätze vorstellen.

Am interessantesten werden seine Schilderungen immer dann, wenn er die Verwendung einstiger Gegenstände detailliert beschreibt. Manche Phänomene von „damals“ drohen einem ja selbst schon zu entgleiten: ihr Erscheinungsbild, ihre Haptik und Akustik, ihr Gebrauch mitsamt allerlei Tücken.

Wie war das denn noch mit Schiefertafel, Griffel und später Füllfederhalter – Jahrzehnte, bevor wird uns an PCs und Tablets gewöhnt haben? Wie lief das mit Langspielplatten, Tonbändern und Audio-Kassetten, bevor Walkmen, CDs, MP3-Player und schließlich das Streaming aufkamen? Wobei anzumerken wäre, dass die LPs bekanntlich seit Jahren eine kleine Renaissance erleben, auch so etwas gibt’s. Manchmal erobert die Nostalgie – im Namen des Authentischen – gewisse Marktnischen zurück. Fast völlig verschwunden sind hingegen die früher so allgegenwärtigen Telefonzellen, seit fast alle Leute mit Smartphones gesegnet sind.

Preisendörfers Phänomenologie ist streckenweise recht spannend und leidlich unterhaltsam zu lesen, allerdings steigt der Autor nur ganz selten und höchstens mal nebenher in Tiefenstrukturen technischer Entwicklungen ein, sondern verharrt weitgehend an der Oberfläche. Es zitiert sich ja auch so schön und süffig aus alten Gebrauchsanleitungen.

Im Überschwang des Gestrigen unterläuft dem Autor auch schon mal eine Geschmacklosigkeit, als es um die die Einführung des Farbfernsehens geht: „Die Farbära begann in Westdeutschland am 25. August 1967. Benno Ohnesorg lag am 2. Juni 1967 noch schwarz-weiß auf dem Straßenpflaster.“ Aber das ist gottlob die Ausnahme.

Was geneigte Leser allzeit zu schätzen wissen und was leider nicht selbstverständlich ist: Das Buch hat einen ordentlichen, gut durchgearbeiteten Anhang mit Quellenverzeichnis, launigem Glossar, Chronologie („Zeittreppe“) und Personenregister.

Speziell zu gerundeten Geburtstagen mit etwas höheren Ziffern und zu ähnlichen Anlässen dürfte dies ein ideales „Weißt-du-noch?“-Geschenk sein. Aber wer sagt, dass man auf solche Anlässe warten muss?

Bruno Preisendörfer: „Die Verwandlung der Dinge. Eine Zeitreise von 1950 bis morgen“. Verlag Galiani Berlin. 272 Seiten. 20 Euro.




Schleich spielen

Blick in einen Schleich-Pferdestall. (Foto: BB)

Blick in einen Schleich-Pferdestall. (Foto: BB)

Schon mal von Schleich gehört? Nein, nicht Scheich, sondern: Schleich. Und auch nicht Schleichwerbung, obwohl dies hier als solche missverstanden werden könnte.

Schleich also. Das ist eine 1935 in Stuttgart gegründete, heute am Hauptsitz Schwäbisch Gmünd angesiedelte Firma, die für gutes Geld Tierfiguren und menschenförmiges Zubehör (Reiter, Tierpfleger etc.) in ziemlich naturgetreuer Ausführung herstellt; außerdem Sächliches, das ebenso in diesen Kosmos gehört – vom weitläufigen Reiterhof über Heuballen bis hin zur Pferdestriegelbürste und zum Waschplatz.

Alles besteht aus robustem, widerstandsfähigem Hartgummi, das dem Prädikat „unkaputtbar“ recht nahe kommt. Das muss man ihnen lassen. Aber die Dinge haben halt auch ihren Preis. Einige gebrauchte Figuren besitzen mitunter gar Liebhaber- und Sammlerwert, beispielsweise ein Hufschmied.

Pferdeinvasion in den Kinderzimmern

Man glaubt gar nicht, wie viele Pferderassen es auch in Spielzeugform gibt. (Foto: BB)

Erstaunlich, wie viele Pferdesorten es auch in Spielzeugform gibt. (Foto: BB)

Es ist nicht auszuschließen, dass gewisse Teile der Republik mit Schleich geradezu überschwemmt worden sind. Weit überwiegend sind es wohl Mädchen so etwa zwischen 6 und 12 Jahren, die damit ebenso hingebungsvoll wie ausdauernd spielen. Wenn sie sich dazu verabreden, sagen sie nicht, dass sie mit ihren Pferden spielen wollen, sondern sie drücken sich ungefähr so aus: „Lass uns Schleich spielen…“ Etwas Besseres kann einer Firma gar nicht passieren, als diese Gleichstellung von Marke und Gegenstand: „Hast du mal ein Tempo-Tuch für mich?“

Man stelle sich eine Nachbarschaft vor, in der gleich mehrere Mädchen im Schleich-Alter sind. Addiert man sodann die Anzahl der vorhandenen Pferde, so kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es reichen ja nicht jeweils zwei oder drei Rösser, sondern die Kataloge verlocken beinahe unwiderstehlich dazu, einen umfangreichen, wenn nicht „kompletten“ Bestand anzustreben. Einige Pferderassen sind ja schon vorhanden, aber da fehlt ja noch der Knabstrupper… und, und, und.

Greift nur hinein ins volle Pferdeleben... (Foto: BB)

Greift nur hinein ins volle Pferdeleben… (Foto: BB)

Schwaben-Image, made in China

Untrügliches Zeichen des Kultverdachts: 2019 soll der erste Schleich-Kinofilm auf den Markt kommen. Schon jetzt gibt es zahlreiche einschlägige YouTube-Filmchen, die mit treuherzig animierten Streifen über Playmobil-Produkte (Insider sagen „Playmo“) konkurrieren, ich nenne nur das Stichwort „Familie Hauser“… Seelisch gefestigte Menschen mögen sich das mit einer Suchmaschine erschließen.

Der wirtschaftliche Hintergrund der Spielzeugwelt ist natürlich ungleich nüchterner: Gefertigt werden die Figuren (darunter auch viele Bauernhof- und Zootiere) längst vorwiegend in China, außerdem in Bosnien, Rumänien und Moldawien – immerhin offensichtlich bei anerkannter Einhaltung der Arbeits- und Sozialstandards. Das solide schwäbische Image der Firma Schleich wird zwar gepflegt, doch via Wikipedia erfährt man, dass sie zu 80% einem französischen Investor gehört. Auch Kapitalisten spielen eben gerne Schleich.

 




Der Roboter, dein Freund und Helfer – Abteilung „Neue Arbeitswelten“ in der Dortmunder DASA umgekrempelt

Die Drohne (bzw. der Lastencopter) mit dem schönen Namen "Papillon", entworfeb und erzeugt vom Remscheider Designbüro Reichert, ausgestellt in der Dortmunder DASA. (Foto: Bernd Berke)

Die Drohne (bzw. der Lastencopter) mit dem schönen Namen „Papillon“, entworfen und erzeugt vom Remscheider Designbüro Reichert, ausgestellt in der Dortmunder DASA. (Foto: Bernd Berke)

Hier auf dem Tisch liegt eine geradezu filigran wirkende, offenbar ungemein wendige Drohne als zukunftsträchtiges Transportmittel; dort drüben summt ein 3-D-Drucker, der wie von Zauberhand neue Gegenstände hervorbringt – von der Vase bis zur Porträtbüste des Erfinder-Genies Leonardo da Vinci. Beispielsweise. Sind das schon Boten, die die Zukunft ankündigen?

Bald werden solche Geräte wohl auch vermehrt in den Privatbereich vordringen. Es scheint fast so, als erwarte uns eine rundum schöne neue Welt, derer wir uns nur noch leichthändig bedienen müssen.

Doch gemach! Gar so unproblematisch verhält es sich denn doch nicht mit den künftigen „Neuen Arbeitswelten“. Werden da nicht viele Arbeitsplätze verschwinden, wird es nicht wieder einmal etliche Verlierer der Modernisierung geben? Und überhaupt: Wie wird sich das Menschenbild verändern?

Das Thema sollte einen jedenfalls interessieren. Einesteils aus generellem Interesse an den Zeitläuften – und überdies ganz besonders, wenn Kinder im näheren oder nächsten Umkreis leben, deren weitere Lebenswege einem sehr am Herzen liegen.

Vorläufer war schon 18 Jahre alt

Mithin hat sich die Dortmunder Arbeitswelt Ausstellung (DASA) ein (ge)wichtiges Thema ausgesucht. Sie hat es auch bisher schon behandelt, freilich auf dem Stand der Hannoverschen Weltausstellung Expo aus dem Jahre 2000. In Sachen Zukunftsschau ist das eine Ewigkeit. Jetzt aber ist der entsprechende Teil der Dauerausstellung nach gründlichem Umbau erst einmal wieder auf aktuellem Stand, sofern sich das überhaupt sagen lässt. Vielleicht gibt’s ja morgen schon wieder die nächste Kehrtwende, die einstweilen allenfalls in avancierten Forschungsstätten oder in der Science-Fiction-Literatur erwogen wird.

Schon das Ausstellungs-Design wirkt nun ungleich luftiger und leichter. Was bisher recht düster, ernst und erdenschwer daherkam, sieht jetzt allseits durchlässig und transparent aus. Eine zu solcher Offenheit passende Grundannahme der vom Zürcher Architekturbüro Holzer Kobler eingerichteten Abteilung lautet, dass wir die Zukunft, die ohnehin kommt, mit einiger Zuversicht in die Hände nehmen und gestalten sollen. Ende offen.

3-D-Drucker bei der Arbeit: Es entsteht eine Vase. (Hersteller Membino GmbH, Elmshorn / Foto: Bernd Berke)

3-D-Drucker bei der Arbeit: Hier entsteht eine Kunststoff-Vase. (Hersteller Membino GmbH, Elmshorn / Foto: Bernd Berke)

Die Visionen von (vor)gestern

Der Rundgang beginnt mit Zukunfts-Vorstellungen von gestern, genauer:  technischen und gesellschaftlichen Utopien, wie man sie sich in den letzten 150 Jahren ausphantasiert hat. Eine gar hübsche, teils frappierende, teils bizarre Galerie aus rund 200 Bildern ist dabei herausgekommen. Visionen sondergleichen. Die wenigsten sind so eingetroffen wie ehedem gedacht. Und doch müssen solche Zukunftsträume sein. Der Mensch möchte halt wissen, wo es langgeht. Auch wenn er oft pfeilgerade daneben zielt. Wenn’s nach manchen Vorhersagen gegangen wäre, so würden wir zum Beispiel allesamt unter Wasser leben oder – jeder mit eigenem Fluggerät – ständig durch die Lüfte schweben.

Bloß vorsichtig mit den Prognosen sein

In der DASA hat man drei Megatrends ausgemacht, die fraglos unsere Zukunft bestimmen werden: demographischer Wandel, Globalisierung, Digitalisierung. Große Schlag-Worte. Fragt sich „nur“ noch, wie sich diese Tendenzen auswirken werden. Auf dem prognostischen Glatteis bewegt sich die Ausstellung allerdings nur ganz vorsichtig, keinesfalls kühn. Man hat das Ganze „modular“ aufgebaut, so dass auf etwaige Trendwenden schnell mit neuen Objekten reagiert werden kann. Das ganze soll Labor-Charakter haben und den einen oder anderen Impuls setzen, aber bloß keinen festen Vorgaben folgen. So bleibt es hie und da auch ein wenig vage.

Die Technik und das menschliche Maß

Zwischendurch ertönen fiktive „Stimmen aus der Zukunft“, denen man – unter Akustik-Würfeln sitzend – entspannt als Hörstücken lauschen kann. Hauptsächlicher Themenstrang: Was wird die abermals entfesselte Technik der „Industrie 4.0“ mit dem Menschen machen? Außerdem tragen Schauspieler per Video individuelle Stellungnahmen zur Wertedebatte und zur Folgenabschätzung vor. Hier geht es eben nicht bloß um die Fortschreibung technischer Tendenzen, sondern mindestens ebenso sehr ums menschliche Maß. Wäre das schön, wenn die Wirtschaftslenker solchen Vorstellungen folgen würden!

Visionärer Bildschirm-Blick in eine Fabrik, in der Roboter der neuesten Generation zu Werke gehen. (DASA / Foto: Bernd Berke)

Visionärer Bildschirm-Blick in eine Fabrik, in der Roboter der neuesten Generation zu Werke gehen. (DASA / Robert Bosch GmbH / Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Die aus kubischen Grundformen entwickelte, farbenfrohe Ausstellungs-Architektur (Statements: „Die Zukunft wird bunter“ / „Die Zukunft wird femininer“) besteht aus vier Themen-Inseln, allesamt offenbar dicht am Puls der gegenwärtigen Zeit. Da kann man – vorerst in virtuellen Szenarien – Entwürfe von Industrie-Robotern der neuesten Generation besichtigen, die innig mit den Menschen interagieren, ja hie und da mit beinahe mit ihnen zusammenwachsen, sich ihnen jedenfalls sensorisch anbequemen. Der Roboter, dein Freund und Helfer. Ein fast schon wieder etwas gestrig-mechanisch anmutendes „Exo-Skelett“ (verleiht den Muskeln ungeahnte Zusatzkräfte) ist auf diesem Felde nur der Anfang.

Noch’n Anlauf zum „papierlosen Büro“

Da gibt es einen futuristischen Bildschirm-Arbeitsplatz aus lauter Displays, wie er gerade erst als Pilotprojekt auf den Weg gebracht wird. Aber bitte sehr, nehmen Sie schon mal Platz, hier nimmt erneut der Traum vom völlig papierlosen Büro Gestalt an. Ja, lachen Sie nur, Sie werden schon sehen! Für „digitale Nomaden“ gibt es derweil einen besonders robusten Laptop, der noch im entlegensten Winkel der Welt mit Sonnenenergie betrieben werden kann. Auch geht es um jene digitalen Mikrojobs, die für erbärmliche Cent-Beträge jederzeit und überall ausgeführt werden können – derzeit vorzugsweise in Indien, wo man von solchen Winz-Löhnen einigermaßen existieren kann.

Federleichte Flug- und Rolldrohne, made in Dortmund

DASA-Kurator Peter Busse mit der in Dortmund entwickelten Flug- und Rolldrohne "Bin:Go". (Foto: Andreas Wahlbrink/DASA)

DASA-Kurator Peter Busse mit der in Dortmund entwickelten Flug- und Rolldrohne „Bin:Go“. (Foto: Andreas Wahlbrink/DASA)

Ein staunenswertes Stück ist quasi „nebenan“ in Dortmund entwickelt worden, beim Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik: Diese ballförmige, federleichte Drohne namens „Bin:Go“ segelt nur bei Bedarf über Hindernisse hinweg, ansonsten rollt sie sanft daher und verletzt niemanden. Stellt man sich das massenhaft auf unseren Straßen und Plätzen vor, mutet es allerdings schon ein wenig gespenstisch an. Doch vorerst ist das Ding wohl vor allem zwischen Großregalen unterwegs. Das Runde muss eben ins Eckige.

Eine weitere Drohne, übrigens auch weitgehend aus dem 3-D-Drucker geschlüpft, ahmt mit ihren Strukturen den biologischen Knochen- und Sehnenbau nach, ihre Glieder sind innen wabenartig hohl, daher wiegt sie bei einiger Spannweite nur 30 Kilogramm, übt aber gleichwohl kräftigen Schub aus.

Der Avatar mit der gelben Hose

Das Ganze soll Laborcharakter haben. Und so können Besucher an interaktiven Zwischen-Stationen ihre Auffassungen einbringen und sich schließlich als Avatare mit bestimmten Haltungen zur Zukunft entwerfen. Welche Gesellschaft dabei herauskommen könnte, zeigt sich auf einem großen Bildschirm, der die Daten und Figuren kombiniert. Wer etwa beim Koordinaten-Resultat „H 8“ landet, gilt als optimistisch. Lustige Zuordnung: Wer bei der Befragung am Touchscreen Kulturinteresse bekundet, bekommt als Avatar sogleich eine gelbe Hose verpasst. Finde den Zusammenhang…

Wer rastet, der rostet. Kaum ist die Abteilung „Neue Arbeitswelten“ fertig umgekrempelt, kommt die nächste dran: „Helfen und Heilen“ zur Zukunft von Medizin und Pflege schließt jetzt für zwei Jahre und soll 2020 runderneuert wieder öffnen.

DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Dauerschau, Abteilung „Neue Arbeitswelten“. Geöffnet Mo-Fr 9-17, an Wochenenden und Feiertagen 10-18 Uhr. Standard-Ticket 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Tel.: 0231 / 9071-2479

www.dasa-dortmund.de

 




Mit den alten Symbolen im Netz unterwegs

Es scheint mir eine kleine Betrachtung wert zu sein, dass wir uns in der virtuellen Welt anhand von Bildern aus analogen Zeiten bewegen. Das Greifbare und das Fassbare stehen fürs buchstäblich Unbegreifliche. Bislang noch. Wie es später werden wird, weiß niemand. Auch und erst recht nicht die Zukunftsforscher.

Papierschwalbe (Telegram) und Telefonhörer (WhatsApp) als Zeichen zweier Messenger-Dienste. (Screenshot)

Papierschwalbe (Telegram) und Telefonhörer (WhatsApp) als Zeichen zweier Messenger-Dienste. (Screenshot)

Schauen wir uns mal einige Logos an: Das gängige Mailprogramm wird durch einen Briefumschlag veranschaulicht, ein Telefonhörer vorgestriger Bauart (warum nicht gleich eine Wählscheibe?) ist Markenzeichen für einen Messenger-Dienst, ein anderer wird mit einer Papierschwalbe wie aus Kinderzeiten bezeichnet. Ein Fuchs ringelt sich als Signal für einen der meistgenutzten Browser, ein stilisierter Karteikasten zeigt einen Cloud-Service an, andere Cloud-Anbieter wählen die nahe liegende Wolke.

Die Grundeinstellungen vieler Computer-Programme steuert man an, indem man auf vorsintflutlich anmutende Zahnräder klickt. Ein aufgespannter Schirm symbolisiert das Antivirenprogramm, eine Video-Bearbeitung kommt mit einer symbolischen Kamera aus lang zurückliegenden Zeiten und mit einer ganz gewöhnlichen Schere daher.

Ich weiß: Euch fallen noch viele, viele weitere Beispiele ein – allen voran jenes angebissene Obst, das einen Weltkonzern mitsamt seinen Produkten meint und oftmals parodiert wird, beispielsweise als Birne in Donald-Duck-Geschichten.

Jedenfalls wird es schon bald Generationen geben (sie formieren sich schon jetzt), die mit Briefumschlägen oder Zahnrädern kaum noch etwas anfangen können; die damit nichts Erlebtes mehr verbinden, sondern nur noch durch bloße Verknüpfungs-Konventionen auf die richtige Spur kommen, die also abstrakter denken (müssen) als ihre Vorfahren, man könnte auch sagen: unsinnlicher, leidenschaftsloser. Sicherlich könnte man diesen Befund auch im Sinne erhöhter Rationalität positiv wenden. Ob’s aber stimmig wäre?

Derweil naht schon längst Abhilfe, indem wir unsere Anweisungen über Mikrofonsysteme geben können. Mit altertümlichen Bildern müssen wir uns dabei nicht mehr aufhalten. Wir stammeln unsere unmittelbaren Bedürfnisse und Sofort-Befehle in die Apparatur hinein – und schon geschieht, was wir wollen; auf der jeweils begrenzten Programmebene, versteht sich. Wir sind hier schließlich nicht im Schlaraffenland.

Wenn man nicht damit aufgewachsen ist, kommt es einem aber recht gespenstisch vor, wie da mündliche Anweisungen aufs Schnellste erfüllt werden – Pannen und Unzulänglichkeiten einstweilen noch inbegriffen. Doch selbst wenn die Geräte alle Ansprüche „in Echtzeit“ erfüllen, die an sie herangetragen werden: Grundsätzlich ändert sich damit wenig an unserem irdischen Dasein – mal abgesehen von unserem Verhältnis zur erfassbaren Wirklichkeit.




Kann man in der Buchhandlung eigentlich noch Bücher kaufen?

Eine riesige Abteilung mit Spielzeug – von Kuscheltieren und Puppen bis zu „Star Wars“-Utensilien aller Art. Lego, Duplo und Playmobil. Kinderfiguren wie Prinzessin Lillifee und Conny. Schier tausend kleine Geschenke und Mitbringsel – vom Schlüsselanhänger bis zum neckischen Täschchen.

Die für Dortmunder Verhältnisse recht prachtvolle Krüger-Passage - hier hatte bis XXXX die größte Buchhandlung der Stadt ihren Sitz. (Foto: Bernd Berke)

Die für Dortmunder Verhältnisse recht prachtvolle Krüger-Passage – hier hatte früher die größte Buchhandlung der Stadt ihren Sitz. (Foto: Bernd Berke)

Und weiter: lustige Quietscheentchen vielerlei Art für die Badewanne. BVB-Devotionalien. Frühstücksbrettchen, Sets und Tassen mit witzig gemeinten Sprüchlein. Brett- und Kartenspiele… – Halt! Aufhören!

Preisfrage: In welcher Art von Geschäft befinden wir uns?

Leider in einer (immer noch so genannten) Buchhandlung, die einen im Erdgeschoss massiv mit aufgetürmter Mainstream-Ware aus den Bestsellerlisten und mit haufenweise preisreduziertem Ramsch empfängt. Alles muss ‚raus.

Gewiss, da findet man auch noch ein paar wirkliche und wahrhaftige Bücher. Zur Erinnerung: Das sind händisch blätterbare, bedruckte Papierseiten zwischen härteren oder weicheren Deckeln.

Was jedoch noch gar nichts über die Qualität der Inhalte besagt. Lebenshilfe jeder Sorte nimmt breiten Raum ein, beispielsweise ist ein raumgreifender Bereich nur der Fitness und dem Muskelaufbau gewidmet. Koch- und Reisebücher haben gehörig Platz, desgleichen breiten sich Psycho-, Beziehungs-, Esoterik- und Erotik-Ratgeber aus, alles vorzugsweise mit Promi-Faktor. Und wer Manga mag, kann sich in einer imposanten Regalwand bedienen. Übrigens haben sie neuerdings auch ihre DVD-Abteilung aufgelöst. Streaming hat auf ganzer Linie gesiegt. Und dabei bleibt der Buchhandel erst recht außen vor.

Große Teile des Ladens sind indes vollgestopft mit Merchandising-Schrott, „Gimmicks“ und sonstiger Marketing-Ware, die bestenfalls indirekt mit Lektüre zu tun haben. Das Ganze bewegt sich deutlich in Richtung werbeverseuchter Gemischtwarenhandlung mit Deko-Schwerpunkt.

Anspruchsvollere Literatur muss man derweil suchen, sie ist inzwischen offenbar eine Art Nischenprodukt. Die Beratung ist dementsprechend. Früher war mehr Fachkenntnis.

Und wir reden hier nicht von einer Klitsche. Es ist die mit Abstand größte Buchhandlung der Stadt, die selbstredend zu einer Kette gehört. In den letzten Jahren haben hier viele kleinere Mitbewerber schließen müssen. Selbst ein gar nicht so kleiner Konkurrent, den man früher überhaupt nicht wegdenken konnte und der repräsentativ in der elegantesten Passage der City residierte, ist ebenfalls vor Jahren verschwunden.

Das gesamte Buchhandels-Angebot ist (zumal für eine Stadt, die inzwischen wieder die 600.000-Einwohner-Grenze überschreitet) überhaupt sehr bescheiden, um nicht zu sagen beschämend; ähnlich wie die arg ausgedünnte Kinolandschaft. Besser scheint es um die Museen, das Theater und besonders ums Musikwesen bestellt zu sein.




Soziale Miniaturen (18): Herrscher im Supermarkt

Nikolaustag. Im Supermarkt sind heute alle Mitarbeiter gehalten, Nikolausmützen zu tragen. Man fragt sich, was geschieht, wenn jemand dieser Anweisung nicht Folge leistet.

Über das Gehabe mancher Machthaber können diese Nikoläuse nur lächeln. (Foto: Bernd Berke)

Über das Gehabe mancher Chefs können diese Nikoläuse nur milde lächeln. (Foto: BB)

Möglich, dass manche bei diesem Mummenschanz gern oder wenigstens achselzuckend mitspielen. Es kann aber auch sein, dass es einigen unangenehm ist oder dass es gar auf eine kleine Demütigung hinausläuft. Es wirkt ja auf den ersten Blick nicht gerade souverän, wenn jemand die tagtägliche Arbeit vor aller Kundschaft mit einer solchen Mütze zu verrichten hat. Müsste man darauf nicht Rücksicht nehmen?

Jetzt aber aufgemerkt! Auf einmal ist zwischen den Regalen eine weithin dröhnende Stimme zu vernehmen, die allseits einen guten Tag wünscht. Sie gehört einem Mann, der buchstäblich großspurig daherkommt. Sogleich bemerken auch Kunden, die ihn nicht kennen: Das ist der Chef. Das muss er sein. Und er ist es.

Eine Assistentin (?) folgt ihm diensteifrig auf Schritt und Tritt. Das Ganze wirkt wie ein Kontrollgang, der Konsequenzen haben könnte.

Sein “Guten Tag!” klingt zunächst einmal leutselig, doch kann man sich sehr gut vorstellen, wie diese offenbar befehlsgewohnte Stimme im Nu ins Bedrohliche umschlagen kann. Denn der Mann ist in seinem Supermarkt-Reich ein Herrscher, wie er im Buche steht. Auf diesem Level kann das Gehabe eines Machtmenschen freilich leicht ins Lächerliche kippen.

Von einer Nachbarin hatte ich einige Wochen zuvor dies gehört: Sie habe sich im besagten Supermarkt über angegammeltes Bio-Hackfleisch beschweren wollen, und zwar beim Geschäftsführer. Da kam also der Herr gravitätisch daher, stellte sich namentlich vor, bewegte seine Hand im großen Kreis und teilte erst einmal mit, dass ihm “dies alles hier” gehöre. Der Nachbarin hat das nicht übermäßig imponiert. Ihre Antwort: “Das mag ja sein, aber mir geht es jetzt um dieses Hackfleisch…” Gut gegeben.

Auf jeder einzelnen Plastiktüte seiner Supermärkte (jawoll, er hat in mehreren Läden die Hoheit) lässt sich der Machthaber fotografisch als alles überragender, behütender Patriarch abbilden. Er hält ein Herz in den Händen, und in diesem Herzen drängeln sich wie auf einem Wimmelbild nahezu 200 seiner Angestellten. Ich werde mich hüten, die Illustration hier zu verwenden und bleibe lieber unverfänglich.

Warum aber hatte ich vorhin das dumpfe Gefühl, dass sich bei seinem leibhaftigen Erscheinen diese oder jene Mitarbeiterin ein klein wenig geduckt hat? Es war sicherlich nur ein Hirngespinst. Vergesst es.




Der Nikolaus und die Phantasie, die wir so dringend brauchen

Gastautor Heinrich Peuckmann über den Nikolaus und seine bleibende Bedeutung:

In letzten Jahr habe ich nach vielen Jahren Pause anlässlich des Besuches meiner Nichte und ihrer beiden kleinen Töchter das Nikolauskostüm aus dem Schrank geholt. Während meine Frau und einer meiner Söhne unsere Gäste im Wohnzimmer begrüßten, hielt ich mich versteckt.

Nicht der Verfasser dieses Beitrags, wohl aber der Blogbetreiber Bernd Berke in früheren Jahren mit dem Nikolaus. (Foto: Berke / Privat)

Besuch vom Nikolaus vor etwas längerer Zeit. (Foto: B. Berke / Privat)

In einem passenden Moment schlich ich mich in den Keller, zog mir das Kostüm an, schaute in einen Spiegel und erkannte mich selbst nicht mehr. Kein Zweifel, das war er, der mir da im Spiegelbild entgegen lächelte, der Nikolaus mit seiner Knollennase. Über die Terrasse ging ich offen auf unser Haus zu, die beiden Mädchen entdeckten mich sofort und kamen auf die Tür zugelaufen.

Ein skeptischer Grundschüler

Die Kleinere hat mich zwar sofort erkannt, aber das machte nichts. Bevor der Nikolaus die Geschenke aus seinem Sack holte, haben beide brav ein Gedicht aufgesagt und natürlich nicht mit der Rute Bekanntschaft gemacht. Wo kämen wir da hin? Die bekam sanft einer meiner Söhne zu spüren, weil der seinen Vater im verflossenen Jahr geärgert hatte. Der Nikolaus hatte irgendwie davon erfahren.

Nachher, um die Zweifel der Kinder zu mehren, ging der Nikolaus für alle sichtbar an unserem Haus vorbei zur Nachbarstraße, drehte sich noch ein paarmal um und winkte ihnen zum Abschied zu. Was der Nikolaus nicht wusste, im Nachbarhaus packten gerade zwei Kinder ihre Stiefel aus, in die der Nikolaus etwas hineingelegt hatte, und der Größere, ein Grundschuljunge, erklärte selbstbewusst, den Nikolaus gäbe es gar nicht, es sei seine Oma gewesen, die die Stiefel gefüllt hätte. Hatte sie auch und wusste deshalb keine Antwort. Aber dann schaute sie zufällig aus dem Fenster und rief: „Aber da ist er ja, der Nikolaus. Kommt schnell, dann könnt ihr ihn noch sehen.“

Die Welt mit anderen Augen sehen

Die Kinder stürmten zum Fenster und tatsächlich, da stand ein kleiner dicker Nikolaus mit Knollennase vor ihnen auf der Straße. Und noch besser, er winkte ihnen sogar zu, jedenfalls glaubten sie das. Selbst der Skeptiker, der Grundschuljunge, staunte mit offenem Mund und winkte, zur Freude seiner Oma, zaghaft zurück.

Kindheit braucht Geheimnisse, an denen sich Phantasie entzündet. Gerade der uralte Mythos liefert sie und gibt Anstoß, die Welt anders zu sehen, als sie gerade erscheint. Kinder nehmen das mit ins Leben, haben Freude an weiteren Geheimnissen und empfinden es als Anstoß, die Welt mit Phantasie immer neu zu sehen.

Und nebenbei schult es die Sozialkompetenz. So können die Kinder sich besser in die Lage ihres Nächsten versetzen, können Probleme, Ängste und Freuden nachempfinden und rücksichtsvoll darauf eingehen. Eine Fähigkeit, die sie mitnehmen ins Erwachsenenleben und dann vielleicht noch mehr benötigen.

Wider das zweckrationalistische Menschenbild

Wie traurig, dass pseudoaufklärerische Eltern  diese Gelegenheit nicht nur verstreichen lassen, sondern ihren Kindern auch noch vermeintlich rationale Erklärungen geben, warum das alles Humbug sei. Sie merken nicht, wie sie dabei einem Menschenbild Vorschub leisten, das sowieso schon den größten Teil unseres Lebens beherrscht. Einem Menschenbild der Zweckmäßigkeit, der bloßen Tätigkeit zur Gewinnmaximierung, des klaren Kalküls. Ein Weltbild insgesamt, das alles unter den Vorbehalt der Berechnung und Berechenbarkeit stellt.

Phantasie, und das heißt allemal, sich eine Welt vorstellen zu können, die anders ist als jene, die uns gefangen nehmen will und die, wer weiß, vielleicht sogar Wirklichkeit werden könnte, stört da nur. Sie ist, man muss das deutlich sagen, systemkritisch. Nackte Fakten, angeblich unumstößlich, sollen unser Denken prägen und jenen, die davon bestens profitieren, ihre Gewinne sichern und ihre Gier stillen.

Börsenmakler missbrauchen den Begriff

Das Wort Phantasie taugt da nur noch in der Verwendung der Börsenmakler. Diese oder jene Aktie, verkündigten sie lauthals, lasse noch „Phantasie“ nach oben offen und meinen damit nichts anderes als weiteren Gewinn und Abzocke. Das arme Wort, angetan, sich neue, ganz andere Welten vorzustellen, kann sich gegen den Missbrauch nicht wehren. Unbarmherzig wird es in jene Welt eingebaut, gegen die es eigentlich steht. Ihm geht es da nicht besser als dem Nikolaus, der nicht als Beglücker der Kinder für ein barmherziges Leben stehen soll, sondern der im Kaufhaus Anreiz für Konsum schaffen muss, der zum Weihnachtsmann mutiert und ganz Konsumgeist wird.

Geheimnisse erleben, Phantasie entwickeln, wie wichtig in allen Zeiten. Und wie schnöde und gedankenlos kaputt gemacht für ein Weltbild, das viele Erwachsene nicht einmal durchschauen. Wie denn auch? Wie sollten sie genug Phantasie entwickeln, sich die Welt anders vorzustellen als sie gerade ist, wenn sie schon gedankenlos jene ihrer Kinder unterdrücken.

Unser Nikolaus war jedenfalls zufrieden mit seinem Auftritt. Er hat keine Kinder geängstigt, wie das oft als Argument gegen den Mythos verwendet wird, sondern er hat ihre Vorstellungen von Leben erweitert und Zweifel an der rein rationalen Zweckmäßigkeit gestreut. Unser Nikolaus soll, als er heimlich in den Keller zurückkehrte, laut gelacht haben. Aber ob das stimmt, muss man ihn am besten selber fragen.




„Experiment“: Dortmunder Schau stellt Fragen zur Kulturgeschichte der chemischen Erfindungen

Bloß keine Scheu vor Elementen und Molekülen! Diese Schau handelt zwar von Erfindungen in chemischen Laboren, doch als Besucher muss man keine einzige Formel parat haben. Schaden kann’s freilich auch nicht.

Fast schon auratische Exponate in der DASA-SChau: Potenzielle Wirkstoffe, die Paul Ehrlich um 1907 für seine Forschungen verwendete. (Foto: Bernd Berke)

Fast schon auratische Exponate in der DASA-Schau: Potenzielle Wirkstoffe, die Paul Ehrlich um 1907 für seine Forschungen verwendete. (Foto: Bernd Berke)

Die recht kurzweilige Zusammenstellung mit dem knappen Titel „Experiment“ entfaltet in der Dortmunder DASA (Arbeitswelt Ausstellung) eher lebens- und alltagsnahe Geschichten, um ausnahmsweise mal nicht von „Narrativen“ zu sprechen.

Verantwortlich zeichnet vorwiegend ein Team von Kulturgeschichtlern des Historischen Museums Basel, mit dem die DASA diesmal kooperiert. Und offenbar hat die sprichwörtliche Chemie zwischen Basel und Dortmund gestimmt.

Just in jener schweizerischen Stadt Basel mit ihren großen Pharma-Weltkonzernen (Novartis, Hoffmann-La Roche) wurde schon so manche chemische Innovation ausgetüftelt. Doch die Ausstellung sieht weitgehend von derlei örtlichen Begrenzungen ab und stellt Fragen von allgemeinem, wenn nicht globalem Interesse.

Am Anfang war die Steinkohle

Wenn man so will, hat das Ganze allerdings einen gewichtigen Ursprung auch im Ruhrgebiet. Ein großes Kohlestück (von Prosper Haniel in Bottrop) im Raum, in dem ein kurzer Einführungsfilm gezeigt wird, soll es beglaubigen. Denn aus den Teerprodukten der Steinkohle entwickelten sich die Anfänge der modernen Chemie – zunächst mit ungeahnt variantenreichen synthetischen Farbstoffen, hernach mit dem ganzen, ins schier Uferlose anwachsenden Arsenal zwischen Medikamenten, Kosmetik und Kunststoffen.

Die Ausstellung gliedert sich auf 800 Quadratmetern in vier Kapitel mit jeweils mehreren bedeutsamen „Erzählungen“, die sowohl eilig als auch etwas gründlicher nachvollzogen werden können. Ganz bewusst hat man Wert auf mehrere „Vertiefungs-Ebenen“ gelegt. Natürlich gibt es nicht nur Schautafeln und Objekte, sondern auch Touchscreens zur gefälligen Nutzung.

Innovation durch Planung oder Zufall?

Die Eingangsfrage lautet, ob Innovation sich eher der Planung oder dem Zufall verdanke. Die generelle Antwort lautet, wie man sich denken kann: sowohl als auch. Spätestens mit der Industrialisierung sind es allerdings nicht mehr nur einzelne Genies, die die großen Entdeckungen machen, sondern zunehmend gut ausgestattete Teams in großen Firmen.

Ungemein modern mutet etwa die Produktionsweise bei Bayer an, wo schon früh etliche Chemiker und Laboranten in einem Zentrallabor zusammenarbeiteten, dessen Struktur beinahe schon so offen war wie bei heutigen kalifornischen Internet-Riesen. In der Mitte des Labors erstreckte sich ein größerer Bereich, in dem sich die Mitarbeiter informell treffen und plaudern konnten. Insbesondere freitags muss dort eine sehr entspannte Atmosphäre geherrscht haben – offenbar beste Bedingungen z. B. für die Kreation von Aspirin (1897).

Laborproben von Paul Ehrlich und Alexander Fleming

Bei seiner Entdeckung des Wirkstoffs für Salvarsan (erstes Mittel gegen Syphilis) hatte Paul Ehrlich als „Einzelkämpfer“ ohne unmittelbaren Verwertungsdruck aus der Industrie noch erheblich mehr Mühe. Die Ausstellung kann auf ein paar echte Proben aus seinem Labor zurückgreifen, ebenso auf originale Schimmelkulturen des Penicillin-Entdeckers Sir Alexander Fleming. Kann man hier von auratischen Exponaten sprechen? Egal. Paul Ehrlich benötigte jedenfalls 606 aufwendige Versuche, bis Salvarsan reif für den Markt war.

Ein Zwischenfazit lautet, dass der glückhafte Zufall vor allem jene Forscher begünstigt hat, die ihn gleichsam mit wachem Sinn erwarteten und geistig darauf eingerichtet waren. Aus diesem Befund könnte die eine oder andere Lebensregel erwachsen.

Dem historischen Bewusstsein aufhelfen

Nicht zuletzt könnte die Ausstellung dem bislang nur mäßig ausgeprägten historischen Bewusstsein der Leute vom chemischen Fach aufhelfen. So präsentiert man in Dortmund auch Modelle und Apparaturen, die sozusagen im letzten Moment vor der Müllentsorgung gerettet wurden. Kam ehedem eine neue Technik auf, so warf man die alte eben ungerührt weg. Doch es hat sich herumgesprochen, dass auch der ruhelose Fortschritt seine Geschichte hat, die festgehalten und mit einer gewissen Skepsis betrachtet zu werden verdient.

Eine DASA-MItarbeiterin betrachtet Ausstellungsstücke in der Vitrine zur Erfindung des Tonbands. (Foto: DASA)

Eine DASA-Mitarbeiterin betrachtet Ausstellungsstücke in der Vitrine zur Erfindung des Tonbands und anderer Tonträger. (Foto: DASA)

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Rechten und Patenten. Auch das ist hier kein trockener Stoff. Die Frage, wem Innovationen eigentlich gehören, kann durchaus spannend sein; beispielsweise, wenn es um die Patentierung lebender Organismen geht – von der noch harmlosen Bierhefe bis zur (besonders für die Krankheit anfälligen) „Krebsmaus“. Damit rückt auch die ethische Frage nach Tierversuchen in den Blick. Zudem wird erwogen, wie man milliardenschwer entwickelte Medikamente den Menschen in armen Ländern der Erde zugänglich machen kann. Man ahnt schon: Die Ausstellung schneidet enorm viele Großthemen an.

Gesellschaftliche Bedürfnisse als Triebkraft

Weiter geht’s mit gesellschaftlichen Bedürfnissen als Innovationsmotor. Insofern kamen chemische Erfindungen wie Bakelit, Tonbänder, neue Klebstoffe oder auch eine spezielle Sonnenmilch oft gerade zur rechten Zeit. Obwohl es zuweilen auch machtvolle Innovations-Bremsen gegeben hat: Forschungen zur Antibaby-Pille liefen schon in den 1920er Jahren und zeitigten konkrete Ergebnisse, sie wurden jedoch moralisch verdammt und kamen erst in den 60er Jahren wieder zum Zuge, übrigens auch finanziell von Feministinnen gefördert. Die Zeit der „Pille für den Mann“ ist indes immer noch nicht gekommen, obwohl sie längst machbar ist.

Risiken und Nebenwirkungen

Die ohnehin schon einigermaßen kritisch ausgerichtete Schau widmet sich am Ende noch einmal eigens den „Risiken und Nebenwirkungen“ der Chemie. Horrible Stichworte sind hierbei FCKW (in Kühlschränken), das sich als Klimakiller erwies, das inzwischen ebenfalls geächtete, aber leider langlebige Pflanzengift DDT, das Medikament Contergan und der gefährliche Baustoff Asbest. Aus all dem hat man mit der Zeit Lehren gezogen. Inzwischen macht die Risikenabschätzung einen nicht geringen Teil der Entwicklungskosten aus. Es möge nützen.

Vor Jahresfrist kamen etwas über 20.000 Besucher zur Baseler Ausgabe der Ausstellung, was für ein historisches Museum achtbar ist. In Dortmund, wo man vor allem auch Schulen (ca. ab Klasse 7)  anspricht, rechnet man mit deutlich mehr Zuspruch. Die DASA hat sich schon mehrfach als Besuchermagnet erwiesen, so zuletzt mit einer inspirierenden Schau über Roboter, deren Unterhaltungswert diesmal nicht ganz erreicht wird. Zum Ausgleich sind die Lerneffekte jetzt womöglich größer.

„Experiment“. Eine Ausstellung über Erfindungen aus dem Chemie-Labor. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25 (Nähe Universität). Vom 10. November 2017 bis zum 15. Juli 2018. Mo bis Fr 9-17, Sa/So/Feiertage 10-18 Uhr. Eintritt: Erwachsene 8 (ermäßigt 5) Euro, Schulklassen pro Person 2 Euro.

Tel.: 0231 / 9071-2479. www.dasa-dortmund.de




Mein Onkel, der Tüftler, Daimler-Benz, Hotzenblitz und die Bereitschaft zur Innovation

Die deutsche Autoindustrie ist bekanntlich in Verruf und Verzug geraten. Euphemistisch ist von „Schummeleien“ die Rede, wo man wohl von Betrug reden müsste, von offenkundigen Kartellabsprachen mal ganz abgesehen.

Frühes deutsches Elektroauto: der Hotzenblitz "Buggy", produziert von 1993 bis 1996. (Foto von 2011: F. Rethagen/Wikipedia - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Frühes deutsches Elektroauto: Hotzenblitz „Buggy“, in Miniserie produziert von 1993 bis 1996. (Foto von 2011: F. Rethagen/Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Überdies drohen die bislang auf dem Weltmarkt so überaus präsenten deutschen Konzerne den technischen Anschluss zu verlieren, wenn es um Elektromobilität und andere, womöglich zukunftsträchtige Antriebe geht. Sollten die erfolgsverwöhnten Firmen etwa unbeweglich und innovationsfeindlich sein?

Verbesserungsvorschläge unterbreitet

Warum ich das Thema hier aufgreife? Nun, mein vor einigen Jahren verstorbener Onkel Josef (genannt „Jupp“), der übrigens ein grundanständiger Mensch gewesen ist, hat sich – neben seinem Beruf bei einer Versicherung – vielfach als Tüftler betätigt und sich immer mal wieder kleine Erfindungen ausgedacht. Leider wohnte er in Frankfurt/Main und man traf sich nur selten. Sonst hätte ich mir in dieser Hinsicht gerne mehr von ihm abgeschaut.

Wie auch immer. Als ich seinen Nachlass gesichtet habe, fand ich darunter auch ein paar Briefwechsel mit Firmen bzw. Institutionen (z. B. Patentstelle der Fraunhofer-Gesellschaft), denen er Ideen und Verbesserungsvorschläge angeboten hat. Jetzt habe ich diese Papiere beim Aufräumen noch einmal durchgesehen. Und ich fand den Inhalt aus aktuellem Blickwinkel stellenweise recht interessant.

Wenn der Mercedes-Stern aufleuchtet

So hat er im Juli 1998 der Daimler-Benz AG eine offenbar bis ins Detail durchdachte Neuerung unterbreitet, die das dritte Bremslicht betraf. Mit LED-Technik wollte er bewirken, dass dort bei jedem Bremsvorgang der Mercedes-Stern aufleuchtete. Zugegeben: keine grundlegend notwendige Erfindung fürs Automobil, vielleicht aber tatsächlich eine effektive Werbemaßnahme. Mein Onkel in seinem Schreiben an Daimler-Benz:

„Die dritte Bremsleuchte dient dann nicht mehr nur der Sicherheit, sie dient zugleich der Werbung für Ihre Fahrzeuge, ein m. E. nicht zu unterschätzender Aspekt. Denken Sie hierbei insbesondere an den Markt in den USA…“

Restriktive Betriebsvereinbarung

Bemerkenswert nun die Antwort von Daimler-Benz aus Stuttgart, versandt von der Abteilung „Vertriebsorganisation Deutschland“. Sie liegt mir hier vor. Es geht nicht um die Ablehnung an sich, sondern um die fadenscheinige Begründung.

Dem Dank „für die Einsendung Ihres o.g. Vorschlages“ folgt diese Ausführung:

„Leider können wir diesen jedoch zur weiteren Bearbeitung innerhalb des Betrieblichen Vorschlagswesens nicht annehmen, weil aufgrund einer zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite getroffenen Betriebsvereinbarung bestimmte Themen nicht behandelt werden dürfen. Dazu zählen insbesondere Themen, die die Grundsatzfragen der Unternehmenspolitik unseres Hauses betreffen.“

Nanu? Das klingt ja ganz schön geheimnisvoll. Oder sollten hier einfach die einflussreichen Betriebsräte einen Riegel vorgeschoben haben, damit nur Werksangehörige entsprechende Vorschlags-Prämien erhalten?

Was bleibt denn da noch übrig?

In einem weiteren Brief der Daimler-Benz AG wird es in selbiger Sache etwas konkreter. So werden von außerhalb des Hauses offenbar keine Verbesserungsvorschläge zu folgenden Themenbereichen angenommen, wir listen die Punkte mal auf:

Grundsätze der Geschäftspolitik
Öffentlichkeitsarbeit
Werbung
Ein- und Verkaufsmaßnahmen
Entwicklung eines neuen oder anderen Fahrzeugtyps
Änderung oder Ergänzung der Ausstattung unserer Fahrzeuge
stilistische Veränderungen
Neu- und Weiterentwicklungen

Der gute Stern... Post aus dem Hause Daimler-Benz (1998). (Repro: BB)

Der gute Stern… Post aus dem Hause Daimler-Benz (1998). (Repro: BB)

Oha! Jetzt frage ich mal in die Runde: Welche Themen bleiben da eigentlich noch übrig, die zulässig wären? Hat sich da eine Weltfirma etwa abgeschottet von möglichen externen Quellen der Neuerung? Wie sieht es in diesem Punkt wohl bei den anderen deutschen Autokonzernen aus, beispielsweise bei Volkswagen? Und gilt die strenge Regelung bei Daimler-Benz – auch fast 20 Jahre danach – immer noch in gleicher Weise? Mag ja sein, dass sich die Schwaben traditionsgemäß ohnehin für die besten aller Tüftler halten.

Den Fahrtwind mit einem Generator nutzen

Mein findiger Onkel hat sich natürlich nicht nur mit Werbemaßnahmen befasst, sondern beispielsweise auch mit Feinheiten wie neuartigen Bohrfuttern (Vorschlag für Black & Decker) und – jetzt kommt’s – schon relativ zeitig mit Energie sparender Fahrzeugtechnik.

So hat er der damals noch existierenden E-Auto-Schmiede Hotzenbitz (in Suhl/Thüringen) 1995 mit Planskizzen usw. dazu geraten, die Autos zusätzlich mit einem Windgenerator auszurüsten, der just den Fahrtwind nutzen sollte, um Extra-Energie zu erzeugen. Ob das technisch sofort umsetzbar gewesen wäre oder nicht – für mich als Laien klingt es jedenfalls nach einem Ansatz, den man vielleicht weiter hätte verfolgen können.

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P.S.: Sollte ich eines Tages ein Mercedes-Modell entdecken, bei dem der „gute Stern auf allen Straßen“ als Firmenlogo im dritten Bremslicht aufleuchtet, so weiß ich Bescheid und melde jetzt schon mal vorsorglich Protest an. Alle Rechte vorbehalten…




Eines Tages bringe ich die Technik um! – Doch manchmal gilt auch das euphorische Sprüchlein „Technik, die begeistert“

„Die“ Technik macht mich in letzter Zeit mal wieder wahnsinnig. Welch eine Verschwendung von Lebenszeit, sich auf all die Feinheiten (gar noch mit Hotlines) einzulassen – und am Ende funktioniert es doch oft nicht; nicht einmal mit versierter Hilfe von Nerds. Andererseits können manche Gerätschaften auch kleine Glücksmomente bescheren. Nun gut, reden wir in diesem Zusammenhang lieber nicht von Glück, sondern von einer gewissen temporären Zufriedenheit.

Dieser Internet-Stick ist... ach, lassen wir das! (Foto: Bernd Berke)

Dieser Internet-Stick ist… ach, lassen wir das! (Foto: Bernd Berke)

Der Reihe nach: Über die Folgen und Weiterungen von gleich drei Firmenofferten habe ich mich in letzten Zeit zeitraubend geärgert. Nein, diesmal ausnahmsweise nicht in erster Linie über die Telekom. Wohl aber über Tchibo Mobil (deren von Telefónica betriebener Internet-Stick so gar nicht ans Laufen kommen wollte), über 1 & 1 (deren Stick zwar funktioniert, aber – je nach Tarif –
recht bald sehr langsam im Netz umherstakst) – und vor allem über Sky. Fragt mal zum Beispiel Wirte, was sie von denen halten, schon mal so rein kostenmäßig…

Das schlankere Abo von Sky

Ihr wisst schon. Sky ist diese Klitsche, auf die man leider weitgehend angewiesen ist, wenn man Bundesliga und Champions League bzw. Europa League live im TV sehen möchte. Sie gerieren sich denn auch wie ein Monopolbetrieb, obwohl ihnen in der nächsten Liga-Saison mit dem Eurosport-Player erste, aber nur (vor allem auf Montags- und Freitagsspiele) begrenzte Konkurrenz erwächst. Dafür müsste der Player freilich auch mal ruckelfrei und ohne „Standbilder“ laufen.

Sky zeigt also nicht mehr alles, nimmt aber nicht weniger Geld fürs reduzierte Angebot. Ganz schön dreist. Als Privatkunde ist man etwas besser dran, als wenn man die Kickerei via Sky in der Kneipe zeigen wollte. Bisher hatte ich bei Sky ein ziemlich teures Abo, bei dem man zuerst ungewollte Programme buchen musste und den Sport erst danach oben drauf packen konnte.

Gut also, so dachten ich und viele andere, dass es nunmehr Sky Ticket gibt – deutlich günstiger, monatlich kündbar (Stichwort „Sommer- und Winterpause“, in denen man bislang weiter bezahlte, obwohl so gut wie kein Fußball gesendet wurde), nicht mit anderen Angeboten überfrachtet, auf die man gar nicht zugreifen möchte.

Also das Vollabo gekündigt und das schlankere „Sky Ticket“ („Supersport“) mit der Monatsoption gebucht. Die Folge waren zunächst einmal etliche ungefragte Werbeanrufe, mit denen ich zum Beibehalt des teuren Abos bewogen werden sollte. Sehr penetrant, das kann ich euch sagen. Nummern gesperrt – und es war Ruhe; von etlichen Briefchen mal abgesehen. Aber man kann ja knüllen.

„Problem 203“ mit der kleinen Box

Neben Sky Ticket habe ich eine Box bestellt, die dafür sorgen sollte, dass ich nicht nur auf dem Computer, sondern auch auf dem deutlich größeren TV-Bildschirm („Smart TV“) Fußball hätte schauen können. Doch weit gefehlt. Die Schritte dorthin wurden einem zwar als „easy“ schmackhaft gemacht. Doch im weiteren Verlauf schöpft man den Verdacht, dass man von dem preisgünstigeren Angebot abgehalten werden soll – durch eine Art Zermürbungstaktik.

Gewiss, man war alsbald via Box mit dem Netz verbunden. Doch die letzten Klicks ließen sich halt nicht vollenden. „Technisches Problem“ hieß die lapidare Rückmeldung kurz vor Schluss. Und ganz kryptisch: „Problem 203“. Schaut man da nach, so findet man, dass bis heute offenbar kein Mensch das Problem bewältigt hat. Die Diskussion in den einschlägigen Foren dreht sich immer wieder im Kreis – und nirgendwo findet sich bislang eine jubilierende Erfolgsmeldung. Mehrfaches Reset der Box nützt ebenso wenig wie Neustart des Routers und andere Maßnahmen. Eines Tages bringe ich die Technik um!

Auf dem Karussell des Schwachsinns

Wie bitte? Hotline anrufen? Haha, der Gag war jetzt echt gut.

Hab‘ ich natürlich gemacht. Leider sahen sich die Mitarbeiter außer Stande, meine Frage zu beantworten, dafür habe man Technik-Spezialisten. Moment, man verbinde mal eben. Hat natürlich nicht geklappt. „Da geht niemand ‚ran.“ Aha. Man werde mich aber für einen Rückruf notieren, der freilich nicht mehr heute erfolgen werde.

Zwei Tage später ereilte mich ein solcher Rückruf auf der Festnetz-Nummer. Ansage per Mail: Man habe mich leider nicht erreicht (ich habe tatsächlich nicht 48 Stunden angespannt vorm heimischen Telefon gehockt), ich solle doch vertrauensvoll die übliche Hotline anrufen (also jene, die keine Technik-Experten hat). Grrrrrrr!

Besagter Box liegt natürlich auch kein Retourenschein für etwaige Reklamationen bei, wie es bei vielen anderen Firmen üblich ist. Das Papierchen muss man erst einmal mühsam anfordern. Und vorher soll man im Falle einer Rückgabe noch die inzwischen sattsam bekannte Hotline anrufen… Da dreht sich was im Kreise. Und ich habe keine Lust mehr aufs Karussell des Schwachsinns.

Es gibt sie wirklich – die Erfolgserlebnisse

Seltsam. Kaum hatte ich den Text bis hierhin fertig und mich in eine wutschnaubende Stimmung hochgeschaukelt, kam mir noch eine rettende Idee in Form eines verlängerten Ethernet-Kabels fürs so genannte Smart TV. Kaum zu glauben: Seitdem funktioniert das Streaming; allerdings nicht über besagte Bullshit-Box. Hosianna!

Überhaupt gab’s zuletzt ein paar Erfolgserlebnisse bei der technischen Nach- und Aufrüstung. Es ist mir tatsächlich gelungen, per Smartphone einen kleinen Bluetooth-Lautsprecher anzusteuern und also Streamingdienste über eine akustisch passable, bestens transportable Box laufen zu lassen. Auf eine solche Kleinigkeit bin ich schon stolz.

Noch weitaus besser: Durch einen Zeitungsbericht wurde ich auf eine Möglichkeit aufmerksam, die ich bislang nicht kannte. Da lacht der Technik-Freak: Waaaaaas, du wusstest nicht, dass du deine alte HiFi-Anlage mit einem simplen Adapter Bluetooth-fähig machen kannst, so dass sie für kabellosen Datentransport taugt?

Hier seien die Marken genannt: In diesem Falle steuert ein recht winziges, UFO-artiges Etwas von Philips eine NAD-Anlage und Nubert-Boxen an – mit frappierendem Ergebnis. Via Smartphone, Tablet oder PC lässt sich nun die Musik aus dem Netz über die Anlage abspielen. Ein Zugewinn sondergleichen.

Mal eben 40 Millionen Musiktitel durchhören

Kurz und gut: Die geliebte alte HiFi-Anlage, zuletzt etwas ins Hintertreffen geraten, ist nun also auch wieder im Spiel. Das Musik-Streaming eines der führenden Anbieter – mit unfassbaren 40 Millionen Titeln angefüllt – läuft jetzt auch über den grundsoliden Verstärker und die nicht minder geschätzten Boxen. Das nenne ich wirklich mal „Technik, die begeistert“. Und das zu einem moderaten Preis. Könnt’s nicht immer so sein? Aber fragt mich bloß nicht, in welchem Leben ich die 40 Mio. Titel hören will. Okay, sie kommen ja auch nicht alle infrage.

Da gerät man fast in Versuchung, seine sorgsam gehäufte und gehegte Plattensammlung komplett aufzulösen. Aber einen solchen Fehler mache ich nicht noch einmal. Um 1982, als die CD massiv aufkam, habe ich mich von der Werbung in die Irre führen lassen und mich von einer recht beachtlichen LP-Sammlung getrennt. Noch heute könnte ich mich dafür schelten. Wie kann man einem Trend nur so bedingungslos und ohne Rückhalt folgen?

Postscriptum: Neuerdings wird wieder verschärft von der Verwendung des Adobe Flash Players abgeraten, der ein Einfallstor für allerlei Schadsoftware sei. Viele der größten und wichtigsten Anbieter (Streamingdienste, Browser etc.) könnten schon auf die weitaus bessere HTML5-Technik zurückgreifen. Also gut. Tool besorgt, Flash Player restlos deinstalliert. Alles gut – bis zum nächsten Aufruf des Telekom-Programmmanagers, der nach wie vor einen Flash Player verlangt, und zwar „alternativlos“. Da haben wir ihn wieder, den altvertrauten Ärger mit der Telekom. Alles andere hätte mich aber auch gewundert.

P.P.S.: …und dabei habe ich Euch noch gar nichts über die neuesten Fährnisse mit diesem Blog erzählt, der/das plötzlich von der Administratoren-Seite her gar nicht mehr erreichbar war, weil… *seufz*




Vernetzte Akteure der kulturbasierten Urbanität – ein paar Beispiele für den üblichen Subventions-Abgreifer-Jargon

Nein, man mag ihn manchmal wirklich nicht mehr hören, diesen immerwährenden, nur in Nuancen sich verändernden, angeblich kulturaffinen Subventions-Abgreifer-Jargon. Sollte er etwa spezifisch fürs Ruhrgebiet sein? Oder gibt es ihn so oder ähnlich überall?

Immer hübsch wolkig bleiben...

Immer hübsch wolkig bleiben…

Wenn man ordentlich Fördergeld abzapfen wollte, so müsste man in den Antrag vor allem einige Reizworte einstreuen. Von „Vernetzung“ müsste man schwafeln, über „Akteure“ der Szene psalmodieren. Selbstverständlich müsste auch „Urbanität“ raunend beschworen werden. Zusammensetzungen mit Inter- oder Trans- gehen sowieso immer. Interkulturell, transkulturell, international, transnational, intersexuell, transsexuell. Eigentlich egal. Multi geht natürlich auch. Und bunt sowieso.

Aber bloß nicht konkret werden. Lieber Nebelkerzen werfen. Immer in der umwölkten Schwebe lassen, was man eigentlich will und erstrebt (außer Fördergeld, hoho).

Den Mund so richtig voll nehmen

Vollends entfesselte Euphorie bricht sich Bahn, wenn erst einmal das Zauberwort „Kreativwirtschaft“ gefallen ist. Dann gibt es kein verbales Halten mehr. Dann ist quasi alles erlaubt. Dann darf man den Mund so voll nehmen, wie man will. Hauptsache, es klingt irgendwie cool und jung. Nach Zukunft fürs gebeutelte Ruhrgebiet. Und – naja – irgendwie auch nach „Kultur“, die sich nach solchem Verständnis nicht selten bei nett illuminierten Straßen-, Park- und Quartiersfesten mit anschließendem Feuerwerk manifestiert. Prösterchen!

Doch hören wir mal rein: Richtige Formulierungs-Könner sind beispielsweise beim Projektbündel unter dem Titel „Urbane Künste Ruhr“ am Werk. Wir zitieren ehrfürchtig: „Urbane Künste Ruhr rückt 2017 Utopien in den Fokus und verwandelt den urbanen Raum in eine temporäre Handlungsfläche…“ Fokus – urban – Handlungsfläche… Das klingt zwar schwammig, ist aber beherzt in die Textschublade gegriffen und großzügig ausgestreut. Auch wollen sie nach eigenem Bekunden „Handlungsstrategien für die Bevölkerung vor Ort“ entwickeln. „Vor Ort“ ist immer gut, „Handlungsstrategien“ sind es nicht minder. Fehlen eigentlich nur noch noch Textbausteine, wie sie auch im gar flotten Lokalteil der Zeitung beliebt sind: „Kiez“, „Quartier“, „total lokal“ oder das allgegenwärtige „Umsonst und draußen“. Da ächzt der Kenner.

Dieter Gorny, Großmeister der Zunft

Ein, wenn nicht d e r Großmeister aller eloquenten Subventionsempfänger und vielfach gekrönter König der „Kreativwirtschaft“ ist der umtriebige „Medienmanager, Lobbyist und Musiker“ (Wikipedia) Dieter Gorny, seines Zeichens u. a. Ex-„Viva“-Chef und künstlerischer Ko-Direktor der „Ruhr.2010“, vulgo der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010. Als solcher hat er sich auch nachdrücklich für die Loveparade in Duisburg eingesetzt.

Länger nichts mehr von Gorny (Jahrgang 1953) gehört? Wie man’s nimmt: Im März 2015 wurde er vom seinerzeitigen Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (einst selbst als öffentlich bestallter „Siggi Pop“ unterwegs) zum „Beauftragten für Kreative und Digitale Ökonomie“ erkoren. Damit haben wir nur einen Bruchteil der Ämter und Würden genannt. Nicht zu vergessen: Der Mann firmiert längst als Prof. Dieter Gorny. Früher hätte man solch einen Teufelskerl „Tausendsassa“ genannt. Oder „Hansdampf in allen Gassen“.

...und so undurchsichtig wie Milchglas. (Fotos (2): Bernd Berke)

…und so undurchsichtig wie Milchglas. (Fotos (2): Bernd Berke)

Wer sich mal kriminal über Gornys Treiben aufregen will, muss bei den geschätzten „Ruhrbaronen“ nur mal das Stichwort „Gorny“ eingeben und wird vielfach fündig. Die Barone, die gern schon mal die eine oder andere Kampagne reiten (z. B. mit Stoßrichtung auf Grüne oder Anthroposophen), haben in ihm einen ihrer Lieblingsgegner gefunden…

Selbsternannte Impulsgeber

Uns hingegen geht es natürlich ausschließlich um linguistische Belange. Im Gefolge von Ruhr.2010 wurde Gorny Geschäftsführer einer Institution mit dem geschwollenen Namen „European Centre for Creative Economy“ (ECCE), die auf dem Gelände am Kulturzentrum „Dortmunder U“ residiert.

Auch und vor allem im ECCE-Dunstkreis beherrscht man den erwähnten Subventions-Jargon aus dem Effeff, ja, man hat ihn wohl recht eigentlich mitgeprägt. So versteht man sich laut Homepage als „Impulsgeber für eine kulturbasierte Stadt- und Quartiersentwicklung“. Allein schon das Wort „kulturbasiert“ könnte einen auf die Palme bringen… Einen wirklichen Eigenwert scheint Kultur in solchem Kontext nicht mehr zu haben, sie wird halt für andere Zwecke in Dienst genommen.

Soeben erhalte ich eine einladende E-Mail von „Interkultur Ruhr“, in der lockend von „Partizipation im öffentlichen Raum“ geredet wird. Jaja, auch allerlei Teilhabe kommt immer gut. Im selben Text tauchen ebenfalls mal wieder „urbane Diskurse“ auf. Tja, auch diese Leute verstehen ihr Handwerk bzw. ihr verkleisterndes Sprachdesign, das sich nicht zuletzt aus pseudosoziologischem Funktionärssprech speist.

Auf zur Reparatur ganzer Stadtteile!

Am besten ist es, wenn man der jeweiligen Kommune bzw. der Stiftung oder dem Verband gleich die soziokulturelle Reparatur ganzer Stadtteile in Aussicht stellt. Wer fragt später schon danach, was daraus geworden ist? Es sind allemal Zeichen gesetzt und Impulse gegeben worden. Also Ruhe, ihr Zweifler! Da wird kein Geld verpulvert. Es wird nur verbraucht.

Damit wir uns nicht missverstehen: Es geht hier weniger um Qualität, Sinn oder Unsinn einzelner Vorhaben, es geht um den ranschmeißerischen Jargon, der sich mit automatisch einrastenden Schlüsselworten an Gremien und sonstige „Entscheider“ heranwanzt. Doch wo schon die Sprache verhunzt wird, wächst das Misstrauen in die Sache schnell.

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P.S.: Auch hier, wie schon im Falle des landläufigen Fußball-Jargons, mache ich mich anheischig, nach und nach weitere Beispiele zu sammeln.

Hatten wir schon „nachhaltig“ und „achtsam“? Oder ist das eine andere, sanftere Kategorie?




Hilfe, die Zukunft ist da! Unser Science-Fiction-Leben

Und, wonach greifen Sie nach dem Aufwachen zuerst? Nun gut, es gibt vielleicht ein Küsschen für den Menschen neben uns. Aber dann schnappt man sich dieses kleine flache Gerät, das, neben einem einstaubenden Rilke-Band, auf dem Nachttisch liegt. Hat es nicht gerade so vertraut gebrummt?

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen... (© Franz Ferdinand Photography) photo credit: Franz Ferdinand Photography <a href="http://www.flickr.com/photos/121184747@N06/21706059016">Science Fiction Treffen</a> via <a href="http://photopin.com">photopin</a> <a href="https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/">(license)</a>

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen… Vielsagender Moment beim Science-Fiction-Treffen im Technikmuseum Speyer. (© Franz Ferdinand Photography) Photo credit mit Links: Franz Ferdinand Photography Science Fiction Treffen via photopin (license)

Hallo, du mein Wecker voller Musik, mein Telefon, meine Verbindung zur Welt, mein Minikino, mein Alleswisser, mein Immerfürmichda-Dings! Guten Morgen! Magst du mal eben meinen Puls fühlen? Natürlich, das kannst du auch, mein süßes Roboterchen. Denn wir leben unter Bedingungen, die in der Rock’n’Roll-Ära noch pure Science-Fiction waren. Hilfe, die Zukunft ist da!

Es soll sie ja geben. Ein paar ältere Herrschaften, die sich der neuen Technik verweigern. Sie haben kein Smartphone, sie kennen kein Internet: „Brauch ich nicht, will ich nicht“, murren sie. Doch sie kennen ihre Fernbedienung und lassen gerne ganztägig den Fernseher laufen. Früher flimmerte da ein Testbild, jetzt ist immer Seifenoper. Blöd, aber faszinierend.

Genau so etwas hatten wir befürchtet, damals, als wir den Fortschritt noch mit Skepsis sahen. Aber zum Glück gibt es – zumindest in der westlichen Zivilisation von Angela Merkel und Monsieur Macron – keinen dämonischen Staatsapparat, der uns dumm hält, um uns für fiese Ziele zu benutzen, was Dichter, Denker und wir Gelegenheitsrevoluzzer stets geargwöhnt hatten. Es ist vielmehr die betörende Technik, diese geschäftstüchtige Circe des 21. Jahrhunderts, die uns mit ihrem Zauberkünsten und Lockgesängen in ihren Bann gezogen hat. Und wir wollen uns nicht mehr von ihr trennen.

Captain Kirk, bitte kommen!

Denn sie macht uns das Leben schon sehr bequem. Wir müssen nie mehr wieder nach einer Telefonzelle suchen, nach Münzen kramen und uns über zerfledderte Telefonbücher ärgern. Unser Smartphone kennt sowieso alle Nummern, stellt jederzeit und überall die Verbindung her. Selbst aus der Gletscherspalte können wir noch Mutti anrufen, denn das Mobilfunknetz umfasst entlegenste Winkel der Erde. Und Akkus halten auch immer länger.

Tatsächlich funktionieren unsere Handys heute reibungsloser als der Kommunikator, mit dem Captain Kirk in der Fantasie von 1966 Kontakt zu den Kollegen vom Raumschiff Enterprise aufnahm. Ein ziemlich klobiges Klappding war das – und doch vollkommen utopische Technik für Menschen, die allenfalls ein knarrendes Walkie-Talkie kannten.

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

1966, das muss man mal bedenken, war noch nicht einmal das Fax-Gerät erfunden, das sich die Enterprise-Macher ausgedacht hatten. Wer hätte damals geahnt, dass auch das Bildtelefon mit beliebiger Projektion – dolle Sache in der Sternenflotte – für uns alle bald schon eine Selbstverständlichkeit werden würde? Gerade so, wie Captain Kirk und sein geschätzter Halbvulkanier Mr. Spock (der mit den spitzen Ohren) die knurrenden Klingonen-Generäle vor dem Zusammenstoß auf ihren Schirmen sehen konnten, gucken wir heute der Schwiegermutter über Skype in die Augen. Und dank Highspeed Flatrate kostet das nichts extra.

Das Ende der Geheimnisse

Die ewige Verfügbarkeit kann auch ein Fluch sein. Es gibt keine Ausreden mehr. Vorbei die Zeit, als man tatsächlich in die Ferien verschwinden konnte – mit dem vagen Versprechen, nach einer Woche vielleicht einmal anzurufen („Aber verlass dich nicht drauf …“). Ständige Statusmeldungen – „Sind jetzt am Autobahnkreuz“, „Haben die Meiers getroffen“, „So sieht der Strand aus“ – gehören zum Unterwegs-Sein. Und es werden zeitnahe Antworten erwartet. Schließlich verpetzt mir meine What’sApp sofort, wann die Lieben meine Nachricht gesehen haben.

Diskretion war gestern. Finstere Mächte, geheime Dienste könnten jede meiner Mails und Messages theoretisch auch gesehen haben. Da nützen Anti-Viren-Programme nichts. Wir wissen alle, dass die gründliche Bespitzelung des Einzelnen technisch kein Problem mehr darstellt. Genau das hat George Orwell, der alte Pessimist, in seinem 1948 vollendeten, von der Zeit überholten Zukunftsroman „1984“ befürchtet.

„Big Brother is watching you“ – ja, ja, der wie auch immer geartete große Bruder kann/könnte alle Räume und Straßen beobachten, unsere Gespräche abhören, unsere Handys und Autos jederzeit orten. In den 1970er-Jahren wären wir ausgeflippt vor Entsetzen. Heute ist die Privatsphäre ein weniger streng gehütetes Revier.

Keine Angst vor Big Brother

Mit kindlichem Vergnügen geben wir der Öffentlichkeit bei Facebook preis, wo wir heute Abend essen gehen, was wir auf dem Teller haben, wie süß der Hund wieder guckt. Die virtuellen Friends verdrehen schon die Augen, treiben es aber ähnlich. Ich poste, also bin ich, das ist die Devise der Social-Media-Gesellschaft.

Während die Vorsichtigen wenigstens kurz überlegen, was sie da unauslöschbar in die Welt setzen, so begeben sich tollkühne oder auch dummdreiste Freiwillige in die Arenen der Reality-Shows, scheuen weder Dschungelprüfungen noch Wohnzimmerknäste und lassen sich vor der Kamera demütigen. Eigentlich nicht zu fassen: Orwells Begriff vom „Big Brother“ ist seit der Jahrtausendwende der Titel der erfolgreichsten Sendung mit voyeuristischem Konzept.

Verzeihen Sie, Mr. Orwell, der Sie die Menschheit mit dem gruseligen Großen Bruder vor dem faschistoiden Überwachungsstaat warnen wollten! Wir Science-Fiction-Wesen haben aus Ihrem düsteren Zukunftsbild einen Witz gemacht. „Wir amüsieren uns zu Tode“, ermahnte schon in den 1980er-Jahren der Medienwissenschaftler Neil Postman die Welt. Aber wir leben noch, trotzen dem Terror und der Klimakatastrophe und gucken jetzt Serien gleich staffelweise auf Netflix. Unsere Empfindlichkeiten haben sich offenbar erheblich verändert. Die nicht abschaltbaren Teleschirme in Orwells 1984er-Szenario können uns einfach nicht mehr schrecken.

Seltsame neue Welt

Natürlich regen wir uns zwischendurch mal ein bisschen auf – über Gentechnik, Leihmütter, eingefrorene Eizellen, Embryonen aus dem Reagenzglas und geklonte Tiere. Lauter Phänomene aus der klassischen Science-Fiction-Literatur, die mir nichts, dir nichts Wirklichkeit geworden sind.

Immer wieder gern zitiert wird in diesem Zusammenhang der 1932 entstandene Zukunftsroman „Schöne neue Welt“ des britischen Intellektuellen Aldous Huxley. Noch heute beschäftigen sich artige Abiturienten mit dem pädagogisch konstruierten Stoff über einen globalen Staat, der die Menschheit in Großlabors aufzieht und perfekt kontrolliert. Für Vergnügungen ist gesorgt, allzu starke, individuelle Gefühlsregungen sind hingegen unerwünscht und werden von der Obrigkeit gewaltsam unterdrückt.

Da allerdings irrten Huxley und andere Vordenker. Es ist alles noch viel raffinierter. Wir in der Zukunft Angelangten dürfen durchaus individuell fühlen und handeln. Das allumfassende Netz bietet uns nicht nur ständige Konsum-, Kommunikations- und Unterhaltungsmöglichkeiten. Nein, es nimmt auch unsere Wutausbrüche und Verschwörungstheorien offenherzig entgegen, Tag und Nacht.

Liebesschwüre und Hasstiraden werden genauso tolerant gespeichert und leidenschaftslos verbreitet wie Referate über die Erderwärmung. Und was das Beste ist: Das System hilft uns bei dem Referat. Wie eines dieser allwissenden Elektronengehirne aus der Science-Fiction-Literatur weiß es Antworten auf alle Fragen. Gefüttert vom Wissen zahlloser einander kontrollierender Individuen, entwickelt es zum Glück (noch) kein gemeines Eigenleben wie der Supercomputer HAL 9000 aus Stanley Kubricks 1968er-Werk „2001 – Odyssee im Weltraum“. Aber das kann ja noch kommen.

Wo bleibt das eigene Wissen?

Bisher lieben wir unser allwissendes Elektronengehirn und googeln uns durchs Leben, auch wenn uns hin und wieder ein Unbehagen beschleicht. Was ist, wenn der große Stecker mal gezogen wird? Wenn die iCloud, diese mysteriöse Datenwolke der weltbeherrschenden Firma Apple, vom Wind des Unberechenbaren verweht wird? Wenn die Systeme kollabieren? Dann, werte Mitmenschen, bleibt, was derzeit nicht mehr allzu heftig gefördert wird: das eigene Wissen. Wohl dem, der dann noch Meyers Taschenlexikon in 25 leider veralteten Bänden besitzt! Das sind bekanntlich nur wenige Menschen.

Die Vernichtung der privaten Bibliotheken musste keineswegs, wie in Ray Bradburys 1953 erschienenem Science-Fiction-Roman „Fahrenheit 451“, mit Gewalt betrieben werden. Junge Leute schleppen sich bei ihren globalen Umzügen nicht mehr mit 100 Bücherkisten ab. Große Bücherwände sind aus den Katalogen der Möbelhäuser verschwunden. Zwar kaufen kultivierte Damen gerne Literatur zum Verschenken. Auch sieht man im Urlaub Leute mit Krimis auf dem Liegestuhl. Aber auf Dauer ist das e-book nun mal praktischer.

Alles ist so praktisch. Wir können über das Smartphone zu Hause das Licht anmachen. Wir müssen uns keine Zahlen und Fakten mehr merken. Das Auto fährt bald von selbst. Und schon jetzt führt uns das Navigationssystem zu jedem Ziel, das wir uns vorher über Streetview schon mal angeguckt haben. Wir müssen nicht mal mehr mit dem Finger auf Tasten drücken. Die Technik reagiert auch auf unsere Stimme.

Science-Fiction ist Realität geworden. Es wird Zeit, den eingestaubten Rilke-Band vom Nachttisch zu nehmen und mal wieder einfach so auf knisterndem Papier ein Gedicht zu lesen: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre …“. Dann denken wir noch mal nach. Über uns und die Zukunft, in der wir angekommen sind.




TV-Nostalgie (37): Nachlese zur Internationalen Automobil-Ausstellung von 1963

Diesmal geht es nicht nur um eine mehr oder weniger wehmütige TV-Rückschau, sondern zugleich um Fahrzeug-Historie, und zwar anhand eines Berichts über die Frankfurter Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) von 1963. Der Beitrag des Hessischen Rundfunks (HR) ist ein gesellschaftliches Zeitdokument von gewissen Graden.

Screenshot aus dem erwähnten Film von der IAA 1963. (https://www.youtube.com/watch?v=OnssnUGnpdM)

„Haben…“ – Screenshot aus dem erwähnten Film von der IAA 1963. (https://www.youtube.com/watch?v=OnssnUGnpdM)

Der etwa halbstündige Film geriert sich als „kritische Nachlese“ zur Autoschau, hebt sich auch anfangs bewusst von euphorischen Werbesprüchen der Industrie ab, gibt sich stellenweise geradezu desillusioniert und moniert – beinahe schon im ökologischen Sinne – die irrsinnige Prospektflut auf der Messe.

Doch das täuscht. Die Distanz zu den Interessen der Autohersteller wird keineswegs rundum gewahrt. Nun gut: Der Jahrgang ’63 hatte ja auch einige besonders schöne Karossen zu bieten, die einen ästhetisch blenden konnten und deren Anblick heute noch erfreut, wenn man mal von allen negativen Begleiterscheinungen abstrahiert.

Eine versunkene Lebenswelt

Es ist eine versunkene Lebenswelt, der wir da begegnen. Allein schon diese teils noch ausgemergelten, teils aber auch schon wieder wirtschaftswunderlich rundlich gewordenen, strotzend „davongekommenen“ Leute der damals landläufigen Kriegs- und Nachkriegstypologie, die hier mit ihren noch bescheidenen Mobilitäts-Phantasien ans Mikro geholt werden! Einer von ihnen beklagt sich bitterlich, dass der Lackauftrag bei Skoda (damals rein tschechoslowakisch) nicht so solide sei wie bei Daimler-Benz. Ja, Donner-, Stein- und Hagelschlag! Am Ende hatte der Mann vielleicht recht…

Dazu ertönen damals gängige Reporter-Redewendungen  –  wie etwa „Schaubude der Motorisierung“ oder (beim Auftauchen einer jungen Frau) die Formel „diese charmante Dame“, welche natürlich ein furchtbar zeitgemäßes Kleid mit Leopardenmuster trägt. Hinzu kommen die einstweilen noch arg rudimentären Englisch-Kenntnisse der bemühten Fernsehmenschen („Du itt juuurself“).

Die Kunden waren noch zu sparsam

Der seinerzeit führende Autoexperte Fritz B. Busch interviewt zwischendurch den Chefingenieur der Adam Opel AG. Dieser barmt, der durchschnittliche Käufer sei noch nicht reif für avancierte Motorisierung. Deutlicher Hintergedanke: Die Kundschaft muss endlich dazu gebracht werden, nicht mehr so sparsam zu sein. Herrschaftszeiten!

Und noch ein Screenshot: Fritz B. Busch (re.) interviewt den Opel-Chefingenieur. Screenshot aus dem erwähnten Film von der IAA 1963. (https://www.youtube.com/watch?v=OnssnUGnpdM)

Und noch ein Screenshot von 1963: Fritz B. Busch (rechts) interviewt den damaligen Opel-Chefingenieur (https://www.youtube.com/watch?v=OnssnUGnpdM)

Gleich in zwei kurzen Blöcken spürt das TV-Team der mutmaßlichen Zukunft des Automobils nach und preist Neuerungen wie Servolenkung, heizbare Heckscheiben oder automatische Geschwindigkeitsregler.

Weit über Gebühr wird sodann ein mit gerade mal 10 Litern Wasser und Lauge gefüllter, potthässlicher Behälter gewürdigt, der als einhändig tragbare „Waschanlage“ taugen sollte. Der läppischen Vorführung haben allerdings massenhaft Männer gebannt zugesehen. Sie waren offenbar noch mit wenig zufrieden.

„Kleinrentnerin“ im dicken Benz

Doch vom technischen Fortschritt träumten sie schon. Freudig erregt vernahm man, dass es erste Münztankautomaten zur Selbstbedienung gebe, dass ein neuartiges Amphibienfahrzeug nicht nur für Landpartien, sondern auch für Ausflüge auf Flüsse und Seen geeignet war.

Als die Amphibienfahrzeuge zu Wasser gelassen wurden... (weiterer Screenshot aus dem erwähnten TV-Film).

Als die Amphibienfahrzeuge zu Wasser gelassen wurden… (weiterer Screenshot aus dem erwähnten TV-Film).

Eigens vermerkt wird in dem Fernsehbericht der nachgerade kommunismusverdächtige Umstand, dass bei heiß begehrten IAA-Probefahrten die „Kleinrentnerin“ auch mal für Minuten einen dicken Mercedes 600 fahren durfte – falls sie sich denn traute und überhaupt einen Führerschein hatte. Nur mal zum Kontext: Noch 1975, also zwölf Jahre später, mokierte man sich in der Sendung „Der 7. Sinn“ heftig über Frauen am Steuer…

Ein Vergleich mit dem Bericht über die Vorgängerschau 1961 zeigt, dass man anno ’63 ansonsten tatsächlich vergleichsweise nüchtern an die Materie herangehen wollte. Zwei Jahre zuvor ging es noch vollends industriefromm zu. Da wurde jedes neue Modell einzeln vorgestellt und stets brav mit PS- und Geschwindigkeitsangaben versehen. Über den Informationswert eines Autoquartetts reichte das kaum hinaus.

Auf der Zielgeraden verliert der vorher noch halbwegs bedachtsame Beitrag von 1963 dann aber doch jedes kritische Maß. Ein Vertreter der Autoindustrie lobt die Bevölkerung, die sich gar sehr am Besitz fahrbarer Untersätze erfreue; nur müssten jetzt aber endlich auch mehr Straßen gebaut werden. Eilfertig geht man ihm auf den Leim und bietet einen unsäglichen Professor auf, der die Asphaltierungs-Forderung wortreich untermauert, selbst mit dem nun so gar nicht nostalgiefähigen „Argument“, mehr Autobahnspuren dienten auch der Landesverteidigung. Wem der Herr wohl zwei Jahrzehnte vorher zu Diensten gewesen ist?

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Themen der vorherigen Folgen:
“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” mit Hans-Joachim Kulenkampff (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” mit Manfred Krug (5), “Der Kommissar” mit Erik Ode (6), “Beat Club” mit Uschi Nerke (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10).

Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20).

“Columbo” mit Peter Falk (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30).

“Lassie” (31), “Ein Platz für Tiere” mit Bernhard Grzimek (32), „Wetten, dass…?“ mit Frank Elstner (33), Fernsehkoch Clemens Wilmenrod (34), Talkshow „Je später der Abend“ (35), „Stromberg“ (36)

Und das meistens passende Motto:
“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Fidget Spinner – über den neuesten Hype für Kinder

Manche nennen sie Fidget Spinner, andere sagen Finger-Spinner dazu. Jedenfalls scheinen die handlichen Plastikrädchen bei Kindern und Teenagern zur Zeit das „ganz große Ding“ zu sein, sprich: ein Hype mit der Halbwertzeit von ca. 4 bis 12 Wochen. Drum muss ich mich mit dem Schreiben verdammt beeilen. Sonst ist die Chose schon wieder gelaufen.

Zwei Finger-Spinner mit kunterbunter LED-Illumination. (Foto: Bernd Berke)

Zwei Finger-Spinner mit kunterbunter LED-Illumination. (Foto: Bernd Berke)

Vor allem in den letzten beiden Tagen überschlugen sich die trendhörigen Medien und der Boulevard. Angeblich schieben die (überwiegend chinesischen) Fabriken, in denen die nette Nichtigkeit entsteht, Sonderschichten bis zum Gehtnichtmehr. Die Konjunktur muss genutzt werden, solange sie noch halbwegs heiß läuft. In etlichen Läden sind diese „Gadgets“ (so plappern die, die sich als Kenner gerieren) schon ausverkauft, händeringend ersehnt man Nachschub.

Andererseits habe ich gestern schon Finger-Spinner auf einem Flohmarkt gesehen, als einstweilen noch teure Ramschware auf dem Tapeziertisch. Aufstieg und Niedergang finden hier sozusagen gleichzeitig statt. Es ist Schrott-Kapitalismus in Reinkultur. Das Kaufen und das Wegwerfen rücken immer enger zusammen.

Den Zappel-Kreisel auf der Nase balancieren

Fidget Spinner bedeutet – frei übersetzt – ungefähr „Zappel-Kreisel“. In der Mitte sitzt ein kleines Kugellager, außen herum zwei bis drei Flügel, zuweilen auch in Batman-Form und mit ähnlichem Schnickschnack ausgestattet. Angeblich kann die Beschäftigung damit stresslösend wirken und die Konzentration fördern, was keineswegs ausgemacht ist. Vielleicht ist sogar das Gegenteil richtig. Allerdings sollen die Dinger schon autistischen Kindern und solchen mit Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) geholfen haben. Als Hersteller würde ich dieser Behauptung bestimmt nicht widersprechen.

Und was kann man mit den bereits bei Grundschüler(inne)n so begehrten Schwirrzeugs anfangen? Eigentlich herzlich wenig! Gewiss, man kann die Flügelrädchen langsam oder schnell drehen, man kann zwei bis fünfzehn Kunststückchen damit vollführen, sie beispielsweise auf Fingern, Knien, Stirn oder Nase balancieren, während sie sich rasend schnell drehen.

Vorführ-Videos mit den besten Tricks

Inzwischen finden sich zahllose Vorführ-Videos bei YouTube und auf anderen Kanälen, mit denen geschickte Spinner-Meister mit ihren Tricks Millionen Klicks erzeugen. Sie werfen die Rädchen hinterm Rücken hoch und fangen sie mit einem geübten Dreh vorne wieder auf, ohne dass die Rotation des Spinners aufhört. Zieht man die Mittelkappe ab und schiebt einen Stift ins Loch, lässt der Spinner auch das Schreibgerät kreiseln. Man kann sich vorstellen, dass Lehrer davon nicht begeistert sind – von wegen Konzentrationssteigerung!

Falls die Spinner (in einer besonders gefragten Variante) mit kleinen, knatschbunt flackernden LED-Leuchten ausgestattet sind, stellen sich dabei auch noch Regenbogen-Effekte ein, die sich freilich furchtbar schnell verbrauchen. Es ist die pure Oberfläche, fast ohne sonderlichen Gebrauchswert. Die Materialkosten bei der Herstellung sind wohl gering, die Kaufpreise hingegen (noch) nicht. Doch wartet nur ein Weilchen… Aber erzähl‘ das mal den Sechs- bis Neunjährigen! Die „müssen“ das haben. Sofort.

Derweil sieht man Kinder darum streiten, wer zuerst damit spielen darf, wer die „coolere“ Ausführung sein Eigen nennt und welcher Spinner sich am längsten dreht. Es fehlt nicht viel, dass Freundschaften daran zerbrechen, zumindest für einen Nachmittag. Läppischer geht’s nimmer. Oder sehen wir einen an sich harmlosen Spaß mal wieder zu kulturkritisch?

Zwei US-Schüler dürften ausgesorgt haben

„Fidget“ heißt – wie bereits angedeutet – zappeln oder hampeln und lässt ahnen, wie flüchtig und unkonzentriert das Ganze vor sich gehen kann. Obwohl: Man könnte sich auch vorstellen, dass die Dreherei etwas Meditatives annimmt. „To spin“ bedeutet ja auch nicht spinnen, sondern halt drehen und trudeln. Bis zur Trance.

Wie bitte? Ja, natürlich kommt der Hype aus den USA, woher denn sonst? Seit etwa einem Monat sind die Spinner auch bei uns zu kaufen – zu Preisen von etwa zwei bis 30 Euro pro Stück. Zu bedauern ist in diesem Zusammenhang Catherine D. Hettinger. Die US-Amerikanerin hat 1997 ein ganz ähnliches Spielzeug erfunden, konnte sich aber 2005 die kostenpflichtige Patent-Verlängerung nicht leisten. Und also profitieren jetzt zwei US-Schüler davon. Wahrscheinlich haben sie auf Jahrzehnte hinaus, wenn nicht fürs ganze Leben ausgesorgt…

Fragt sich jetzt nur noch, wie es die Kids hinkriegen, Spinner und Smartphone gleichzeitig zu bedienen. Aber das schaffen die schon!