„Essen außer Haus“ damals und heute – drei Dortmunder Museen tischen ein populäres Thema auf

Hoesch-Küche, um 1960. (© ThyssenKrupp Konzernarchiv / Hoesch-Archiv)

Hoesch-Küche, um 1960. (© ThyssenKrupp Konzernarchiv / Hoesch-Archiv)

Essen außer Haus – na und? Das machen wir doch alle ziemlich oft. Eben! Und früher war das noch ganz anders. Also haben wir hier ein populäres Alltagsthema im historischen Wandel. Folglich ist es museumsreif. Drei Dortmunder Häuser haben sich zusammengetan, um je eigene Aspekte darzustellen: das Hoesch-Museum, das Brauereimuseum und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK). Das zeitliche Spektrum der lokalen und regionalen Schlaglichter reicht ungefähr von 1880 bis in die Gegenwart.

Den Anfang macht jetzt das Hoesch-Museum. Der spätere Dortmunder Stahlriese Hoesch hatte 1871 mit gerade einmal 300 Arbeitern begonnen, zu Spitzenzeiten um 1966 beschäftigte man an drei Standorten in der Stadt fast 50.000 Arbeitskräfte. Heute sind es unter dem Konzerndach von ThyssenKrupp nur noch 1400. Doch hier und jetzt geht es weniger um den radikalen Strukturwandel, sondern um die Frage, wie so viele Menschen sich in den Fabriken ernährt haben. Es war ja die grundlegend veränderte Arbeitswelt mit ihren strikten Zeittakten, die das (nicht selten hastige) „Essen außer Haus“ mit sich brachte.

Schlichte Suppen aus dem „Henkelmann“

Museumsleiter Michael Dückershoff weiß beim Rundgang durch die kleine Ausstellung Spannendes zu berichten. Anfangs brachten die Hoesch-Arbeiter meist ihren Henkelmann mit, das waren (oft emaillierte) Blechbehälter, in denen sie meist sehr einfache Suppen transportierten. Selbst Butterbrot war damals noch zu teuer, von Fleischgerichten ganz zu schweigen. Häufig brachten auch Frauen und Kinder der Arbeiter die Henkelmänner zum Stahlwerk. Außerdem wurden so genannte Wärmewagen bereitgestellt, auf denen die Nahrung in nummerierten Fächern warm gehalten und zu den Produktionsstätten gefahren wurde.

Hoesch-Werksschänke, 1960er Jahre (© ThyssenKrupp Konzernarchiv/Hoesch-Archiv)

Großkantine: Hoesch-Werksschänke, 1960er Jahre (© ThyssenKrupp Konzernarchiv/Hoesch-Archiv)

Zur Jahrhundertwende, im Januar 1900, eröffnete die so genannte Werksschänke (zunächst unter dem Namen „Werksschenke“), in der massenhaft Mahlzeiten aus der Großküche kamen. Auch dies ein Zeichen des Wandels: In den frühen Jahren gab es täglich ein einziges Gericht, in den 1960er Jahren standen vier verschiedene zur Auswahl, darunter auch die Option „salzlose Diät“.

Bierverkauf gegen Schnapskonsum

Heute würde man solche Saalbetriebe „Kantinen“ nennen, damals bezeichnete dieser Begriff jene vielen Kioske, die sich übers Werksareal verteilten und bei denen man Essen, Tabakwaren und irgendwann auch Bier der Marke Kronen kaufen konnte. Zu früheren Zeiten waren die Werksdirektoren froh, wenn wenigstens nur Bier statt Schnaps getrunken wurde. Später wurden die Regeln – wie überall – ungleich strenger.

Zweifellos mussten in einem Stahlwerk („Heißbetrieb“) jede Menge Getränke her. Also fuhren auch Lieferwagen mit „Hüttentee“ (süßer Pfefferminzgeschmack) übers Gelände, zudem wurde etwa seit den 1930er Jahren Milch angeboten.

Ein edler Weinkeller für die Chefs

Für sich selbst richteten die Chefetagen 1920 einen recht edlen Weinkeller bei Hoesch ein, in dem rund 200 Sorten lagerten, darunter feinste Tröpfchen. Hier wurden denn auch wichtige Gäste bewirtet. Überdies galt der Weinkeller als „abhörsicher“, worauf die Bosse (wohl vor allem wegen Industriespionage) großen Wert legten.

Die klassenlose Gesellschaft wurde bei Hoesch nicht erfunden. Für lange Zeit hatten die Angestellten einen eigenen Speisesaal – getrennt von den Arbeitern.

Freilich konnten alle Beschäftigten in einem Großbetrieb wie Hoesch die Notzeiten nach den Weltkriegen etwas besser überstehen. Solche Unternehmen kauften zeitweise sogar eigene Bauernhöfe, um ihre Belegschaft zu versorgen. Auch so erklärt sich die außerordentliche Anhänglichkeit, mit der Arbeiter dem Werk lebenslang treu blieben.

Und jetzt? Ein paar Fotos lassen es ahnen: Die verbliebenen Mitarbeiter versorgen sich vielfach in den umliegenden Imbiss-Betrieben rings um den Borsigplatz mit Döner, Currywurst und Artverwandtem. Nichts Besonderes mehr.

Stimmen von Zeitzeugen sind gefragt

All dies wird erst in Erzählungen halbwegs lebendig, die Exponate auf der überschaubaren Ausstellungsfläche des Hoesch-Museums geben von allein nicht ganz so viel her. Texttafeln und historische Fotografien werden mit relativ wenigen Schaustücken ergänzt, die das Ganze mit etwas Aura anreichern.

Gut also, dass zur Schau auch ein 15minütiger Film gehört, in dem Zeitzeugen nähere Auskunft geben. Sehr willkommen wäre es den Machern, wenn sich weitere Leute meldeten, die aus eigener Anschauung von damals berichten können. Wie man sich denken kann, wird es höchste Zeit, solche Stimmen zu sammeln. Eine öffentliche Kostprobe wird es am 6. April (18:30 Uhr) im Hoesch-Museum geben, wenn sich ältere Augenzeugen zu einer Podiumsrunde versammeln.

Die Ära der prachtvollsten Restaurants

Wann, wenn nicht dann? Genau am Tag des deutschen Bieres (23. April) werden das Brauereimuseum und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte, ebenfalls mit zwei kleineren Ausstellungen, in den Reigen einsteigen. Im Brauereimuseum wird die regionale Geschichte der Speisegaststätten in den Blick genommen. Museumsleiter Heinrich Tappe erläutert, dass das Essen im Restaurant gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Paris aufgekommen ist und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in deutschen Großstädten üblich wurde – zuerst nicht für die breiten Massen, sondern für ein bürgerliches Publikum.

Alte Pracht: Innenansicht des Restaurants Unionbräu, um 1910. (© Stadtarchiv Dortmund)

Alte Pracht: Innenansicht des Restaurants Unionbräu, um 1910. (© Stadtarchiv Dortmund)

Die Leute mussten überhaupt erst lernen, was es hieß, „draußen“ zu essen und wie man sich dabei zu benehmen hatte. In seiner Ausstellung will Tappe u. a. zeigen, dass bereits in den Jahren zwischen 1890 und 1914 die prächtigsten Gaststätten entstanden sind, die später nie mehr übertroffen wurden. Weitere Leitlinie: Von den 1920er bis in die 1950er Jahre wird das Essen außer Haus (auch in Ausflugslokalen) immer selbstverständlicher, bis in den 1960ern mit Cevapcici, Pizza und mehr allmählich die Internationalisierung des Speisenangebots einsetzt.

Besucher dürfen eigene Objekte mitbringen

Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) wird man sich mit einer Studioschau begnügen. Die Fläche wird gastweise bespielt vom Deutschen Kochbuchmuseum, das seinen angestammten Ort im Westfalenpark aufgegeben hat und seither – durch missliche Umstände bedingt (statisch gefährdeter „Löwenhof“, in den man nun doch nicht einziehen kann) – immer noch nach einer dauerhaften Bleibe sucht; möglichst unter demselben Dach wie die Volkshochschule, die den „Löwenhof“ verlassen muss.

Es ist angerichtet: das Ausstellungsteam (von links: Michael Dückershoff vom Hoesch-Museum, Jens Stöcker vom MKK, Heinrich Tappe von Brauereimuseum und Isolde Parussel vom Kochbuchmuseum) an einem historischen Herd.

Es ist angerichtet: das Ausstellungsteam (von links: Michael Dückershoff vom Hoesch-Museum, Jens Stöcker vom MKK, Heinrich Tappe von Brauereimuseum und Isolde Parussel vom Kochbuchmuseum) an einem historischen Herd. (Foto: Katrin Pinetzki / Stadt Dortmund)

Im MKK kann Isolde Parussel, Leiterin des Kochbuchmuseums, also demnächst an die Existenz ihres derzeit heimatlosen Instituts erinnern. Hier soll die Perspektive noch einmal geweitet werden. Neben Kantinenessen und Schulspeisungen geht es dabei auch um neuere Entwicklungen wie Lieferdienste. Der Ansatz reicht über die bloße Präsentation von Exponaten hinaus: Im Rahmen der Ausstellung können und sollen Besucher(innen) von eigenen Erfahrungen berichten und passende Fotos oder Objekte einbringen.

Kooperation als Modellfall

MKK-Direktor Jens Stöcker deutete an, dass die jetzige Kooperation dreier Dortmunder Museen ein Modellfall sein könnte. Wenn es sich anbietet, kann man auch andere Themen gemeinsam anpacken. Von Fall zu Fall und je nach Sachlage könnten dabei auch das (seit Langem im Umbau befindliche) Naturkundemuseum oder das Westfälische Schulmuseum einbezogen werden.

So weit, so durchaus interessant. Wenn man denn Kritik an der dreifachen Schau „Essen außer Haus“ üben wollte, so allenfalls deshalb, weil man sich das Ganze größer angelegt wünschen würde. Mit mehr Vorbereitungszeit und mehr Ressourcen hätte man aus dem Thema wohl noch weitaus mehr herausholen können, es wäre noch schmackhafter geworden. Bundesweite Aufmerksamkeit wäre einem solchen Unterfangen gewiss gewesen. Schade. Aber es kann halt nicht immer ein Fünf-Gänge-Menü sein.

„Essen außer Haus. Vom Henkelmann zum Drehspieß.“ In diesen drei Dortmunder Museen:

Hoesch-Museum (Eberhardstraße 12) vom 2. April bis 9. Juli. https://www.dortmund.de/de/freizeit_und_kultur/museen/hoesch_museum/start_hoesch/index.html
Museum für Kunst und Kulturgeschichte (Hansastraße 3) 23. April bis 1. Oktober. www.mkk.dortmund.de
Brauerei-Museum (Steigerstraße 16) 23. April bis 31. Dezember 2017. www.brauereimuseum.dortmund.de

 




Haben Print-Medien Zukunft? Jubiläumsschrift des Dortmunder Instituts für Zeitungsforschung wägt Chancen und Risiken

„Die weitere technische Entwicklung zur drahtlos übermittelten Zeitung läßt vermuten, dass im Druckgewerbe in den nächsten Jahrzehnten mit revolutionären Entwicklungen zu rechnen ist.“ Der Satz stammt aus Zeiten, in denen wohl niemand an so etwas wie Internet und dessen Folgen für die Medienwelt dachte. Es war Kurt Koszyk, der bereits 1969 den Weitblick besaß und offensichtlich ahnte, dass den Print-Medien grundlegende Veränderungen bevorstehen.

Nachzulesen sind die Worte des Pressehistorikers nicht nur in seinem fast 50 Jahre alten Wörterbuch zur Publizistik, sondern auch in der kürzlich erschienenen Schrift „90 Jahre Institut für Zeitungsforschung“. Er selbst hat dieses Institut von 1957 bis 1977 geleitet.

Herausgegeben hat den Band die jetzige neue Leiterin Dr. Astrid Blome. Ihr Vorwort lässt durchaus erkennen, dass sie gewiss nicht nur einmal mit der Frage konfrontiert war, ob eine Stadt wie Dortmund ein solches Institut überhaupt benötigt. Das Heft liefert nun eine Reihe von Argumenten, weshalb die Stadt gut beraten ist, die Einrichtung auch weiterhin finanziell abzusichern. Doch das ist nicht alles, was die Veröffentlichung zu bieten hat. Die Autoren zeichnen ebenso die spannende Entstehungsgeschichte des Instituts nach, beschreiben Entwicklung und Besonderheiten und richten den Blick in die Zukunft.

Ein Glücksfall für die Stadt

Dass ausgerechnet Dortmund zur Heimat eines Instituts werden sollte, das für die Pressegeschichte immer noch eine Vorreiterrolle spielt, mag aus heutiger Perspektive überraschen, besaß die Stadt doch in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weder eine Universität noch hatte sie sich in Wissenschaft und Forschung einen Namen erworben. Es war der damalige Leiter der Stadt- und (Landes)bibliothek, Dr. Erich Schulz, der – wie man heute sagen würde – gut vernetzt war, um Förderer für die Bücherei zu gewinnen, und der zudem die Trends der Zeit im Blick hatte.

Als Erich Schulz von dem angesehenen Lehrer Karl d‘Ester, der zudem in Germanistik promoviert hatte, den Hinweis erhielt, doch Zeitungen aus dem Westfälischen zu kaufen und in den Bestand aufzunehmen, weil sie „ein kommendes Thema sind“, war das die Initialzündung für ein ganz neues Arbeitsgebiet der Bibliothek. Dann nahmen die Dinge ihren Lauf: Immer mehr Fachleute und auch schließlich die Zeitungsverleger wurden auf die Dortmunder Sammlung aufmerksam und es dauerte bis zur Geburtsstunde des Instituts nicht mehr lang.

Verdienste des Rundschau-Verlags

Apropos Verleger: Wie dem Buch zu entnehmen ist, sollten sie nicht die Förderer der Dortmunder Einrichtung bleiben. Heute lebt das Institut im Wesentlichen von der Unterstützung der Stadt. Wenig rühmlich ist nach Recherchen von Koszyk auch die Rolle der deutschen Zeitungsverleger nach Hitlers Machtergreifung. Ihr Interesse habe vornehmlich der Besitzstandswahrung unter dem NS-Regime und weniger der Pressefreiheit gegolten. Mit seiner Position hat der Historiker erheblichen Widerspruch geerntet; wohl zu Unrecht, wie aus den Erläuterungen des Buches zu schließen ist.

Zurück zum Institut: Verdient gemacht hat sich für einen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere ein Verlag, nämlich der der Westfälischen Rundschau. Er sprang finanziell in die Bresche, um die „versprengten Bestände“ wieder unter einem Dach zu vereinen. Das Ringen um Geld und Stellen sollte fortan dem Institut als wichtige Aufgabe bleiben. Und wohl alle Leiter brauchten so etwas wie Erfindergeist, um Fördermittel heranzuschaffen, mit denen sie den Ausbau der Einrichtung vorantrieben, den Bekanntheitsgrad steigerten und vor allem auch Ausstellungen finanzierten.

Reichhaltige Bestände

Während manche anderen Institute nicht überlebten, konnte sich Dortmund behaupten und hat aktuell mit 116.000 Mikrofilmrollen, über 62.000 Zeitungs- und Zeitschriftenbänden, einer Fachbibliothek mit knapp 65.000 Bänden, sowie zahlreichen Plakaten und Karikaturen einen Bestand, der das Institut national und international zu einem „zentralen Spieler im Feld“ werden lässt, wie es im Grußwort heißt, zumal andere Sammlungen wie an der FU Berlin, in Münster oder Bremen entweder aufgelöst wurden oder bald verschwinden werden.

Zum Bestreben des Instituts gehörte es auch von Beginn an, eine wissenschaftliche Expertise vorweisen zu können, was allerdings auch immer vom Stellenplan abhängig ist und war. Alle Leiter, von Schulz über Koszyk, Hans Bohrmann, Gabriele Toepser-Ziegert bis hin zu Astrid Blome, um nur einige Namen zu nennen, haben durch ihr Engagement stets dazu beigetragen, das wissenschaftliche Renommee zu festigen.

Journalistik-Studenten als Nutzer

Zugleich war der Einrichtung aber auch stets daran gelegen, ein größtmögliches Interesse am Pressewesen zu wecken. Denn Zeitungen bieten bekanntlich nicht nur Lesestoff zu den aktuellen Ereignissen ihrer Zeit, sondern sind mit ihren Inseraten, Anzeigenseiten und Beilagen auch immer ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft.

Hans Bohrmann, Leiter von 1977 bis 2003, veranschaulicht im Interview, dass es einiger Anstrengungen bedurfte, um neue Benutzer zu werben. Es gelang schließlich, Familienforscher ebenso zu gewinnen wie Studenten unterschiedlichster Fachrichtungen. Dortmunder Journalistik-Studenten waren es nicht per se, denn abgesehen von der räumlichen Entfernung zur Uni, galt ihr Interesse auch nicht nur Printprodukten, sondern allen Medien. Gleichwohl besteht in heutiger Zeit ein großes Bemühen zur Kooperation von Institut und Studiengang.

Beide Einrichtungen setzen sich auch mit einer entscheidenden Frage auseinander: ob Zeitung eigentlich noch Zukunft hat oder ob auch die Einrichtung, die heute in Nähe des Hauptbahnhofes untergebracht ist, bald auf dem Abstellgleis landet.

Strategische Fehler der WAZ-Gruppe

Wie sehr das Zeitungssterben in Dortmund selbst zu spüren ist, darauf kommt Hans Bohrmann zu sprechen. Er wirft der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) bzw. der WAZ-Gruppe strategische Fehler vor, die zum Aus für die gesamte WR- und für die Dortmunder WAZ-Redaktion geführt habe. Und er wartet mit einer erstaunlichen Zahl auf: „Wenn ich höre, dass die ,Ruhr Nachrichten‘ eine Druckauflage von 60.000 haben, dann wäre das für eine 600.000-Einwohner-Stdt zu wenig“.

Astrid Blome sieht trotz alledem für die Tagespresse deshalb eine Chance, weil dieses Medium wie kaum ein anderes Informationen ordnen und strukturieren könne. Zeitungen selbst bleiben ein Forschungsobjekt und bieten angesichts einer über 400-jährigen Geschichte noch umfangreichen Stoff für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Astrid Blome (Hrsg.): „90 Jahre Institut für Zeitungsforschung – Rückblicke und Ausblick“. Klartext-Verlag, 104 Seiten, 9,95 Euro.




TV-Nostalgie (35): Konversation mit Kitzel – „Je später der Abend“ war 1973 die erste deutsche Talkshow

Dicht beisammen: Moderator Reinhard Münchenhagen (links) 1977 mit den Schauspielern Klaus Kinski (Mi.) und Manfred Krug. Es redete praktisch nur Kinski... (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=IHYTE4wiPTg)

Dicht beisammen: Moderator Reinhard Münchenhagen (links) 1977 mit den Schauspielern Klaus Kinski (Mi.) und Manfred Krug. Es redete praktisch nur Kinski… (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=IHYTE4wiPTg)

Es war ein prägender Moment der deutschen Fernseh-Historie: Am 18. März 1973 wurde im WDR-Fernsehen (damals: 3. Programm) die erste Sendung ausgestrahlt, die hierzulande ausdrücklich als „Talkshow“ firmierte.

Zur Premiere wurde der unverfängliche Schriftzug „Unterhaltung mit Gästen“ eingeblendet. Gastgeber Dietmar Schönherr versuchte eingangs, dem geneigten Publikum (die Männer im Studio waren noch weitaus mehrheitlich Anzugträger) behutsam zu erklären, woran man mit dem aus den USA herrührenden Format überhaupt sei. Und er musste eingestehen, dass er selbst noch nicht so recht wusste, was eine Talkshow auf Deutsch bedeuten und wozu sie sich entwickeln könnte.

Bloß nicht zu bedächtig

Den US-Amerikanern, so erläuterte Schönherr weiter, gehe ein flottes Wort leichter von den Lippen, als den eher schwerfällig grübelnden Deutschen. Gegen derlei uralte Klischees wollte man also anreden, Schönherr sprach sogar explizit davon, dass man die deutsche Bedächtigkeit „zerstören“ wolle, was nicht zu seiner eher sanften Redeweise passen wollte. Das Konzept war ansonsten noch ziemlich offen, und gerade dieser Umstand sorgte anfangs oft für Spannung und Intensität.

„Je später der Abend“ hieß die Gesprächsrunde mit jeweils drei Gästen, der Titel war dem WDR-Fernsehdirektor Werner Höfer eingefallen. Zur besagten Premiere ließen sich der Dramatiker Franz Xaver Kroetz, der schillernde Staranwalt Rolf Bossi sowie die Krimiautorin Irene Rodrian einvernehmen. Die Atmosphäre war entspannt, doch auch recht gediegen. Zumindest der Auftakt hatte noch viel von dem, was man einst „Konversation“ nannte.

Jelinek und Hoeneß über die Ehe

Freilich war’s Konversation mit ungeahntem Kitzel. Man wollte erkennbar nicht kreuzbrav, sondern locker sein. Und irgendwie politisch bitteschön auch noch. In dieser Form heute nahezu undenkbar: Der Ablauf späterer Sendungen wurde gelegentlich aus dem Publikum heraus rebellierend oder maulend gestört. Lang ist’s her.

Noch in Schwarzweiß: Dietmar Schönherr 1973 in der Premierenausgabe der Talkshow. (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=03W879Zlmy4)

Noch in Schwarzweiß: Dietmar Schönherr 1973 in der Premierenausgabe der Talkshow. (WDR – Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=03W879Zlmy4)

Ich habe mir im Netz ein paar bemerkenswerte Ausschnitte angeschaut, so den Auftritt der noch längst nicht so berühmten Elfriede Jelinek, die extrem andere Ansichten über Ehe und Hausarbeit offenbarte, als ihr ebenso unbedarfter wie treuherzig konservativer Widerpart, der Bayern-Kicker Uli Hoeneß, der nebenher auch über seine Freundschaft mit dem CSU-Chef Franz Josef Strauß plauderte. Ach, wie herrlich…

Das getätschelte Knie

Noch spektakulärer verlief – erwartungsgemäß – das nervtötend egomanische Solo, das Klaus Kinski 1977 in dieser Talkshow hinlegte. Der ebenfalls eingeladene Manfred Krug kam angesichts dieser wüsten Suada praktisch nicht zu Wort. Legendär auch die zunächst seltsam verbittert wirkende Romy Schneider (1938-1982), deren Miene sich allerdings merklich aufhellte, als der virile Autor und Ex-Bankräuber Burkhard Driest neben ihr Platz nahm, den sie hinfort anhimmelte. Dass sie gar sein Knie tätschelte und dabei sagte „Sie gefallen mir, Sie gefallen mir sogar sehr“ – das gehört seit 1974 unverbrüchlich zur bundesdeutschen Medien-Folklore.

Schon der Vorspann sah ein bisschen nach Pop Art aus, rundum waberte Zeitgeist der 70er Jahre – von wallenden Haarlängen auch bei den Männern über exzessiven Zigarettenkonsum während der Sendungen bis hin zu damals typischem Mobiliar und Mode-Torheiten wie etwa Schlaghosen.

Man kann doch über alles reden

Vor allem aber war es die Zeit, in der man offen über alles und jedes zu reden begann, ja, es herrschte geradezu ein Zwang zur möglichst unverblümten Aussprache. Eigentlich kein Wunder, dass Inge Meysel, die vielfach als spießig geltende „Mutter der Nation“, gerade in diesem Umfeld über ihre Entjungferung parlierte. Ein erklärtes redaktionelles Ziel war es ja auch, dass Prominente bis zur seelischen Selbstentblößung gebracht werden sollten.

Doch für derlei provokante Attacken waren die Gesprächsleiter denn doch etwas zu souverän, zu kultiviert und zu human. Die Talkshow, die schon ab Silvester 1973 ins erste Programm übernommen wurde und den attraktiven Platz samstags um 22 Uhr bekam, hatte bis Juli 1978 drei Moderatoren, jeder ein eigenwilliger Charakter, doch samt und sonders auf beträchtlichem Niveau: Dem Miterfinder der Sendung, Dietmar Schönherr (der zuvor bereits u. a. mit „Raumpatrouillle“ und der Show „Wünsch dir was“ TV-Geschichte geschrieben hatte), folgte im Januar 1975 Hansjürgen Rosenbauer, ab Januar 1976 übernahm Reinhard Münchenhagen. Schönherr ging die Sache eher warmherzig an, Münchenhagen fasste verbal schon mal entschiedener zu und ließ sich nicht einmal von Kinski aus der Fassung bringen. Ach, wären doch noch Leute dieses Kalibers auf Sendung!

Einige Eindrücke von „Je später der Abend“ sind noch im Internet greifbar, eine DVD-Edition der besten Gesprächsrunden wäre wünschenswert. Ein gewisses Mindest-Interesse an den 70er Jahren vorausgesetzt, kann man den Gesprächen noch heute gespannt oder gar gebannt folgen. Fachfrage: Für welche Talkshow gilt das heutzutage noch?

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Mit diesem Beitrag greifen wir in loser Reihung eine altgediente Revierpassagen-Serie wieder auf.

Hier die Themen der vorherigen Folgen:
“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” mit Hans-Joachim Kulenkampff (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” mit Manfred Krug (5), “Der Kommissar” mit Erik Ode (6), “Beat Club” mit Uschi Nerke (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10).

Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20).

“Columbo” mit Peter Falk (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30).

“Lassie” (31), “Ein Platz für Tiere” mit Bernhard Grzimek (32), „Wetten, dass…?“ mit Frank Elstner (33), Fernsehkoch Clemens Wilmenrod (34)

Und das Motto bei all dem:
“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Blumiges im Übermaß: Die New Yorker Philharmoniker spielen Werke von Béla Bartók und Gustav Mahler in Essen

Alan Gilbert, Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, beim Konzert in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz).

Die Qual der Wahl ist zuweilen nicht gering für Musikfreunde im Revier. Zu berichten ist von einem Sonntag, an dem die Wiener Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund gastierten, während das New York Philharmonic Orchestra in Essen spielte. Zugleich brachte das Theater Dortmund eine  Neu-Inszenierung von Giuseppe Verdis „Otello“ heraus. Und das Essener Aalto-Theater zeigte Richard Wagners „Lohengrin“.

Die New Yorker, zuletzt im Mai 2013 in der Philharmonie Essen zu Gast, eröffneten den Abend mit einem der bedeutendsten Werke des Ungarn Béla Bartók. Die „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ aus dem Jahr 1936 erreicht eine hohe psychologische Dichte, bleibt aber zugleich abgründig und rätselhaft. Die Instrumentengruppen samt Klavier, Celesta und Schlagwerk musizieren auf ausgesprochen kammermusikalische Weise miteinander. Das ist kein Zufall, entstand das Werk doch im Auftrag des Schweizer Mäzens Paul Sacher, dessen Basler Kammerorchester das Stück auch zur Uraufführung brachte.

Unter der Leitung von Chefdirigent Alan Gilbert, dem ersten gebürtigen New Yorker auf dieser Position, entfalten die Musiker das eröffnende Andante tranquillo wie ein feines Gespinst. Im leisen Pianissimo-Gemurmel der Streicher tauchen verblüffende Farbmischungen auf, die uns den Einsatz einer Flöte oder einer Oboe vorgaukeln, obschon kein einziger Bläser auf dem Podium sitzt.

Die New Yorker glänzen auch in den folgenden drei Sätzen durch Fingerspitzengefühl: Sei es im rhythmisch durchpulsten Allegro, das Momente brodelnder Intensität erreicht, oder im ausgelassenen Finalsatz mit seinen bulgarischen Tanz-Rhythmen, durch den die Streicher so famos surren wie ein Schwarm zorniger Hornissen. Zum exquisiten Hör-Erlebnis gerät das Adagio, das mit seinen Paukenglissandi und Celesta-Klängen eine sonderbar verschwommene Atmosphäre schafft. Hin und wieder tropft ein Xylophon-Ton in diese traumgleiche Wolkigkeit hinein, prallt hart an unser Ohr, ohne die Nebel zu zerreißen.

Alan Gilbert, die Sopranistin Christina Landshamer und die New Yorker Philharmoniker. (Foto: Sven Lorenz)

Wie zwiespältig die „himmlischen Freuden“ sind, von denen Gustav Mahler in seiner vierten und vermeintlich lyrischsten Sinfonie kündet, erfassen Alan Gilbert und die New Yorker Philharmoniker indes nicht. Sie zeichnen ein nahezu ungebrochenes Idyll, das zwar feine kammermusikalische Differenzierung und scharfe Akzente kennt, aber wenig von den schwarzen Abgründen erzählt, an denen diese Musik auf gefährlich schmalem Grat entlang wandert. Stattdessen jede Menge Blumenwiese, oft mit so unbefangener Direktheit ausgemalt wie ein klangprächtiger Walzer von Tschaikowsky.

So ländlert und walzert Mahlers Vierte wunderbar schön, aber recht harmlos vor sich hin. Gilberts Entscheidung, den Bläsern keine Podeste zu geben, hatte zudem unglückliche Folgen für die Klangbalance. In dem Bemühen, gegen den Streicherapparat anzukommen, übertrieben die Hörner, bis ihre Soli überpräsent tönten. Trompeten und Posaunen wirkten hingegen wie entfernt. Der Sopran von Christina Landshamer gefiel durch mädchenhaft leuchtende Farben, war aber auch leise und wenig textverständlich.

Gustav Mahler persönlich stand diesem Orchester von 1909 bis 1911 als Chefdirigent vor. Unvergessen auch, mit welcher Emphase sich Leonard Bernstein an der Spitze der New Yorker Philharmoniker für Mahlers Sinfonien einsetzte. Der jüngste Abend in Essen wirft die Frage auf, was aus diesem Erbe geworden ist.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).

Informationen zum Spielplan der Philharmonie Essen: http://www.philharmonie-essen.de/konzerte/2017-4.htm)




„Gaffer“ gibt es doch schon lange – ein Beispiel von 1967

Über sogenannte Gaffer an Unfallstellen wird immer wieder empört berichtet, aber ist das ein neues Phänomen? An einem Beispiel aus dem Jahre 1967 soll das an dieser Stelle einmal genauer beleuchtet werden: Eine Lokomotive stürzte damals in Ennepetal aus den Gleisen und rollte den Bahndamm hinunter.

Die abgestürzte Lok liegt am Straßenrand, der Lokführer ist umgekommen. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Gegen 3 Uhr in der Nacht zum 21. Juni 1967 war eine E-Lok der Baureihe E 41 auf einem Nebengleis der Bergisch-Märkischen Strecke zwischen Schwelm und Hagen beim Rangieren gegen einen Prellbock geprallt. Die Lok sprang aus den Schienen und stürzte den Abhang hinunter. Der 41-jährige Lokführer versuchte sich durch einen Sprung aus dem Führerhaus zu retten, wurde jedoch durch die Lok erdrückt und getötet. Das tonnenschwere Fahrzeug blieb auf der Seite neben der Bundesstraße 7 liegen.

Noch in der Nacht verbreitete sich die Nachricht von dem spektakulären Unfall in der Stadt, und schon am Morgen waren Hunderte von Menschen zu der Unglückstelle gerannt oder mit ihren Autos dorthin gefahren, verfolgten die schwierigen Bergungsarbeiten und machten Fotos. Auf der Bundesstraße 7 bildeten sich in beiden Richtungen kilometerlange Staus, die auch in den folgenden Tagen anhielten, und die Polizei musste Verstärkung anfordern und regelnd eingreifen, damit überhaupt die Kräne der Spezialfirma an die zu bergende Lok herankamen.

Menschen scheinen in ihrer Psyche darauf trainiert zu sein, bei Ereignissen mit Blut und Horror fasziniert zuzuschauen. Das trifft nicht nur für Unglücke im Straßenverkehr zu. Auch öffentliche Hinrichtungen waren bis in die Neuzeit hinein ein ganz besonderer Anziehungspunkt für Menschen, die den Schauder erleben wollten und die für sich das Glück fühlten, nicht selbst betroffen zu sein.

Heute kommt noch hinzu, dass mit Kameras in Smartphones und Tablets das Geschehen sofort dokumentiert wird. Journalisten erheben dann oft empört und belehrend den Zeigefinger, dabei dient ihre eigene Arbeit kaum einem anderen Zweck, als ihren Kunden die Katastrophe ins Haus zu liefern. Besonders heuchlerisch wirken dann Aufrufe, doch bitte zur Identifizierung der möglichen Täter und zur Rekonstruktion des Tathergangs private Fotos und Videos zur Verfügung zu stellen. Und das hört man ausgerechnet von einer Behörde, die sonst das Filmen am Unglücksort verteufelt – irgendwie etwas weltfremd.




Verdorrter Wald, zutiefst gespaltene Welt: Carl Maria von Webers „Freischütz“ am Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und - im Hintegrund - Gregor Dalal als Kaspar in Webers "Freischütz" am Theater in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und – im Hintergrund – Gregor Dalal als Kaspar in Webers „Freischütz“. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Rotgraue narb‘ge Wurzeln strecken nach uns die Riesenfaust: Ein gewaltiger Baum beherrscht die Bühne des Theaters Münster. Er ist entwurzelt, hat im Fallen eine Bresche in einer Mauer geschlagen und zerteilt die Einheit des Raumes. Neblige Dunkelheit, der Schatten eines stattlichen Sechzehnenders taucht auf. Lautlos röhrt der Hirsch zur Ouvertüre.

Die Bühne von Christophe Ouvrard für Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ nimmt von Anfang an für sich ein. Die unheimlich ragenden Wurzeln des Baumriesen, das harte Licht von oben und hinten, das die Konturen gespenstisch belebt, der unfassbar tiefe, in Nichts mündende Raum. Ouvrard arbeitet mit szenischen Mitteln, die zum Naturalismus taugen könnten, aber sofort assoziativ gebrochen, mit symbolischer und metaphorischer Brisanz geladen werden: Natürlich erinnert der Baum an den deutschen Wald, der in Webers „Freischütz“ eine so große Rolle spielen soll. Aber er ist – vielleicht von einem Sturm des „wilden Heeres“ – gefällt und tot. Nur einmal sprießen aus der Baumleiche ein paar frische Zweige, grüne Blätter: O lass‘ Hoffnung …

Dieser verdorrte Wald ist schon lange kein Hort naturschwärmerischer Romantik mehr. Er ist der Ort des Unheimlichen, das die frühere Einheit der Welt zerschlagen hat. Auf der Drehbühne wird das sichtbar: Der Stamm teilt sie in zwei Hälften. In der einen steht die Welt in der Wolfsschlucht-Szene im wahrsten Sinn des Wortes Kopf: Agathes Jagdschlösschen, selbst kein anheimelnder Ort, sondern eine zerstörte Stätte mit letzten Resten von Wohnlichkeit, hat sich gedreht, das Sofa hängt an der Decke, die Lampenschirme des Leuchters werden zu Töpfen. Aus ihnen nimmt Kaspar die Zutaten des zaubrischen Suds, aus dem die Freikugeln gegossen werden.

Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß

Ouvrard fängt in szenischer Symbolik wesentliche Begriffe der Romantik ein. Die Welt ist zutiefst gespalten. Die eine Seite, die des alltäglichen Lebens, ist beschädigt, gestört, von Kräften „höh’rer Macht“ beeinflusst, denen sich die armen Menschen mit Regeln und Ritualen oder – wie Ännchen mit seinem Kettenhund Nero – mit beschwichtigendem Humor zu entziehen suchen. Die sich der „anderen Seite“ bewusst sind, wie Kaspar, versuchen, diese unfassbaren Kräfte zu nutzen, für sich zu bändigen – aber wir wissen, das gelingt nicht: Die siebente Kugel gehört immer dem Bösen, der sie nach seinem Willen lenkt. Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß.

Streng, alt, gespenstergleich: Die Brautjungfern im "Freischütz" in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Streng, alt, gespenstergleich: die Brautjungfern. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Wer den Baumstamm besteigt, mag von oben eine verbindenden Sicht der romantisch zwiespältigen Welt gewinnen. Agathe versucht es, aber es gelingt ihr nicht. Nur der Eremit, der von oben seine weisen Worte strömen lässt, ist eine integrierende Figur: Er und Samiel sind eins, das „Höh’re“ spricht aus ihm, gleich ob Gut oder Böse. In seinem schmutzigweißen Mantel, den kahlen Kopf noch vernarbt vom Teufelsgeweih Samiels, verkörpert er, was den Menschen als Antagonismus, aus der Perspektive einer jenseitigen Welt aber nur als unterschiedliche Aspekte einer Existenz erscheinen mag. Gut und Böse, nicht nur als moralische, sondern auch als prinzipielle Kategorien, heben sich auf – in diesem postmodernen Ansatz ist die Münsteraner Inszenierung von Webers Oper auf der Höhe der Zeit.

Die Regie von Carlos Wagner allerdings erreicht die konzeptuelle Dichte des Buhnenbilds nicht. Sicher: Er will uns klar machen, wie Max am Unerklärlichen scheitert, wie ihn in einer Gesellschaft klarer Vorgaben und eindeutiger Zusammenhänge die Logik des Handelns und seiner Folgen abhandenkommt, wie ihn des Zufalls Hand in die Verzweiflung, sogar zur Frage nach der Existenz Gottes führt.

Wenn der Chor langsam in seinem derben Tanz erstarrt, die Bewegungen fragmentiert wiederholt, dann bei „Durch die Wälder, durch die Auen …“ Paare bildet und langsam hinaustanzt, ist das ein Aufmerksamkeit weckender szenischer Vorgang – aber er wird nicht eingelöst, es resultiert nichts daraus. Wenn zu Beginn ein ausgeweideter Hirsch an den Baumwurzeln aufgehängt wird, denken wir sicher an das „männlich‘ Vergnügen“ der Jagd – aber wenn ein Landmetzger später Schinken und Braten vom Hirsch in die johlende Menge wirft, bringt das die Zuschauer nur zum Lachen.

Lustiges Schießen auf Bierdosen

Agathe ist als Figur spannend angelegt: Sie erscheint im fahlen Mondlicht wie eine Geisterbraut, als sei sie von Heinrich Marschners „Vampyr“ gebissen, aber sie erschöpft sich dann doch in der eher larmoyanten Rolle des schreckhaften „Bräutchens“. Ännchen gibt sich in Jagdhosen und Krawatte sehr männlich, veranstaltet ein lustiges Schießen auf Bierdosen, bleibt aber am Ende als unterhaltsame Opernsoubrette ohne dezidiertes Profil.

Max geriert sich als heillos verunsicherter Jägersjüngling, der in der Wolfsschlucht den Sudel aus Luchs- und Wiedehopfaugen saufen muss und die Freikugeln zuckend in eine Schüssel erbricht – aber die Konturen seines Charakters, sein Zugriff auf das „Andere“ bleiben verschwommen. Kaspar dagegen ist ein saft- und kraftvolles Mannsbild, und Gregor Dalal macht mit seinen darstellerischen Mitteln und seinem unmittelbar wirksamen Sprechen aus ihm eine lebensvolle Persönlichkeit. Carlos Wagners Regie traut dem Stück, aber sich selbst offenbar zu wenig zu: Das Ganze schließt zu offen.

Offene Wünsche auch auf der musikalischen Seite: Stefan Veselka schlägt mit dem Sinfonieorchester Münster ein gemessenes Tempo an, was der Entwicklung der melodischen Thematik und der Ausformung des Klangs zugutekommt. Die Hörner sind lobenswert, die Klarinette hat – mit einem eher hell-fragilen Ton – schöne solistische Momente. Im Lauf des Abends arbeitet Veselka immer wieder harmonische Tiefenstrukturen aus, bringt manche Holzbläserstimme zum Leuchten. Aber der Klang des Orchesters bleibt oft pauschal, der Aufbau innerer Spannung allzu diskret. Entschiedene Akzente, packender Zugriff könnten der Musik auf die Beine helfen.

Innige Agathe, leuchtend singender Max

Münster hat mit Mirko Roschkowski einen seine Partie anstandslos bewältigenden Max: Ohne Forcieren, ohne Gewalt lässt er seinen Tenor leuchten, steigert den Verzweiflungston in der Arie, bringt für die Wolfsschlucht den panischen Unterton in der Deklamation mit. Sara Rossi Daldoss ist eine sehr innig singende Agathe, bei der man manchmal Sorge um die Stütze und den klanglichen Kern der Stimme hat. Ihre zweite Arie nimmt sie weniger vom Legato her, bildet die Töne separiert, um sie mit verschiedenen Farben zu gestalten. Auch wenn so der große Bogen sehr fragil gespannt wird: Der Ausdruck überzeugt. Eva Bauchmüller als Ännchen gewinnt nach manch leichtgewichtigem Ton an Format, singt nach der Pause mit tadelloser Diktion und einem feinen, aber substanzreichem Klang.

Plamen Hidjov ist als Kuno von Statur und Stimme ein würdiger älterer Herr; Sebastian Campione spricht als Samiel die – ansonsten bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichenen – Dialoge ohne „teuflische“ Plattitüde. Als Eremit ist er weniger ein balsamisch strömender als ein schneidend präsenter Bass. Der Opernchor und Extrachor des Theaters Münster – Inna Batyuk hat ihn einstudiert – glänzt in der Eröffnung, fällt aber ausgerechnet im Jägerchor auseinander, weil die Sänger über die ganze Breite verteilt auf der Drehbühne marschieren müssen. Auch das ein Bild, das keinen Bedeutungs-Zusammenhang konstituiert – ebenso wie der finale Moment, als Kaspars Leiche in Brand gesetzt wird und als flackerndes Feuer auf dunkler Bühne die Oper abschließt.

Vorstellungen: 7. und 28. April, 3. und 30. Mai, 20. und 25. Juni, 1. und 13. Juli. Karten: (0251) 59 09-100. www.theater-muenster.com




Kathedrale, historische Fabriken, Jules Verne – zu Besuch in Dortmunds französischer Partnerstadt Amiens

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über einen Besuch in Dortmunds nordfranzösischer Partnerstadt Amiens:

Es ist ein kleines Schildchen unter Ortsschildern der Stadt Dortmund. Zusammen mit anderen kleinen Schildern zeigt es an, mit welchen Städten in der Welt Dortmund eine Partnerschaft betreibt. Wann immer ich in Dortmund einfahre, lese ich, was auf dem Schildchen steht: Amiens. Das ist ein kleines Schildchen, aber noch immer kein Bild in meinem Kopf.

Gewaltiges Bauwerk: Nordansicht der Kathedrale von Amiens, September 2011. (Foto: BjörnT - Public Domain / Wikimedia Commons)

Gewaltiges Bauwerk: Nordansicht der Kathedrale von Amiens, September 2011. (Foto: BjörnT – Public Domain / Wikimedia Commons)

„Du musst es mal gesehen haben“, sagt mein Freund Kurt Eichler, bis vor Kurzem Leiter des Dortmunder „U“. „Und wenn du da bist, geh unbedingt in das Jules-Verne-Haus! Das ist ein tolles Literaturhaus, das jedem Schriftsteller gefallen muss.“

Ja, ich muss mal dorthin. So eine Stadt kann doch kein Schild in meinem Kopf bleiben, sie muss endlich zu Bildern werden. Außerdem habe ich seit dem Jahr, als Dortmund und das ganze Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas waren, einen Freund in Amiens. Habe also einen besonderen Grund, einmal dorthin zu fahren. Jean Paul Dekiss ist es, der Schriftsteller, der Filmemacher, der Leiter des Jules-Verne-Hauses, mit dem zusammen ich mich auf Erkundungstour durchs Ruhrgebiet aufgemacht habe. Andere Schriftsteller waren dabei, Autorenfreunde aus Dortmund und Umgebung und dazu Schriftsteller aus Rostov und Leeds. Das sind andere Partnerstädte von Dortmund, die bis jetzt auch noch nicht zu Bildern in meinem Kopf geworden sind. Die es aber werden sollen.

Ein schönes Buch ist aus den Reportagen, die wir über unsere Erkundungstouren geschrieben haben, entstanden. „Blickwechsel“ heißt es. Blicke von außen, Blicke von innen über meine Heimat Ruhrgebiet.

Gigantische Kathedrale

Ich sollte also zuerst über das Jules-Verne-Haus schreiben, wenn ich über meinen Besuch in Amiens berichte, aber ich kann nichts anders, ich muss mit der Kathedrale anfangen. Vom Tisch im Restaurant „Le Quai“ aus kann ich sie sehen, in der Abenddämmerung. Die kleinen Häuser davor lassen sie noch größer, noch mächtiger erscheinen. Im Mittelalter, denke ich, waren alle Häuser von Amiens klein, kleiner noch als jene, die jetzt vor der Kathedrale stehen. Wie groß, wie mächtig muss sie damals auf den Besucher gewirkt haben?

Natürlich möchte ich hineingehen, die Höhe des Kirchenschiffs bewundern, 144 Fuß hoch, nach den 144 Ellen, die das neue Jerusalem nach Angaben in der Johannes-Apokalypse lang sein soll. Und das Gesicht von Johannes dem Täufer will ich sehen.

Biblische Geschichte voller Leidenschaft

Amiens ist einer von drei Orten, die beanspruchen, den Kopf von Johannes dem Täufer zu haben. Ich stehe vor ihm, mache ein Foto und denke an seinen Tod. Herodes Agrippa soll er kritisiert haben, den König, weil er seine Schwägerin Herodias geheiratet hat. Eine Schwägerin galt damals als Quasi-Blutsverwandte, so jemand heiratete man nicht. Herodias war es dann, die ihn mit ihrem Hass verfolgte, und als sich ihre Tochter Salome nach einem verführerischen Tanz ein Geschenk von Herodes Agrippa wünschen durfte, sah sie ihre Chance. Den Kopf von Johannes sollte sich die Tochter, die sonst alles hatte, wünschen. So steht es in der Bibel, aber vermutlich war alles ganz anders.

Herodes Agrippa drohte ein Krieg, und da wollte er, der es sich mit Johannes und seinen zahlreichen Anhängern verscherzt hatte, keine zwei Fronten haben. Also ließ er Johannes töten, um sich ganz auf seinen äußeren Kriegsgegner konzentrieren zu können.

Trotzdem, die Bibelgeschichte mit dem Tanz ist spannender. Sie ist voller Leidenschaft, voller Hass vor allem, sie bleibt den Menschen, die sie lesen, im Gedächtnis.

Traum von einer besseren Welt

Über solche Geschichten, gefüllt mit prallem Leben, reden wir auch bei unseren Diskussionen, Jean Paul Dekiss, meine neuen französischen Autorenfreunde Gilbert Desmée, Jean-Louis Rambour, Lilian Robin, Roland Thibeau, Jean-Luc Vigneux, meine Ruhrgebietsfreunde und ich. Wie soll moderne Literatur aussehen, welche Themen soll sie aufgreifen?

Quartier Saint Leu in Amiens, Aufnahme von 2005. (Foto: Emmanuel Legrand - Free Art License 1.3: http://artlibre.org/licence/lal/en/)

Quartier Saint Leu in Amiens, Aufnahme von 2005. (Foto: Emmanuel Legrand – Free Art License 1.3: http://artlibre.org/licence/lal/en/)

Soll die Arbeitswelt darin auftauchen, soll sie es nicht? Auf jeden Fall, stellen wir fest, besteht Literatur aus mehr als nur schön formulierten Sätzen. Literatur gestaltet wichtige Inhalte, sie erzählt einen Ausschnitt aus dem Leben, einen mit Leid und Freud gefüllten Ausschnitt. Literatur, so stelle vor allem ich es mir vor, ist immer auch kritisch, sie greift an, sie träumt von einer anderen, besseren Welt. Zur Leidenschaft, wie sie in der großen Bibelgeschichte ausgedrückt wird, kommt also auch die Sehnsucht. Die Arbeitswelt mit ihrem Druck, ihrer Ausbeutung und auch mit ihrer Freude, wenn etwas Schönes gestaltet wird, gehört dazu.

Lange reden wir darüber, das Thema immer neu umkreisend. Um dann unsere Diskussion zwischendurch zu unterbrechen und uns Beispiele vom Leben in der Arbeitswelt rund um Amiens anzusehen.

Zweierlei Fabrik-Modelle

Wir besuchen das Gelände von Jean-Baptiste Godin, der ein ehemaliger Arbeiter war. Er entwickelte ein genossenschaftliches Modell ab 1850, gründete eine Fabrik, die gusseiserne Öfen herstellte. Sein Modell war keine Philanthropie, sondern ein utopischer Gegenentwurf zur kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Die Arbeiter bekamen Anteile von der Fabrik, es wurden große Wohnhäuser mit überdachten Innenhöfen für sie gebaut, dazu Schulen für die Kinder.

Es war ein Gegenentwurf gegen das paternalistische System, das wir am folgenden Tag bei den Brüdern Saint sahen, die sich „Saint Frères“ nannten und die große Stoffe, Seile, Segel herstellten. Hier war alles auf Kontrolle abgestellt, auf effektive Ausbeutung der Arbeiter. Selbst die Wohnhäuser waren so gebaut, dass die Vorarbeiter ihre Untergebenen in deren Freizeit beobachten konnten. Sie sollten nicht nach Belieben in eine Kneipe gehen können, die Zeit nach der Arbeit diente allein dazu, dass sie sich für die Arbeit am nächsten Tag erholten.

Godins Modell ging 1969 unter. Klar, könnte man denken, idealistische Modelle haben auf lange Sicht keine Chance. Sie sind Wünsche, von denen man träumen kann, die sich aber nicht verwirklichen lassen.

Stimmt das wirklich? Nicht ganz, denn auch das Modell „Saint Frères“ ging in genau diesem Jahre unter.

Stoff für einen Kriminalroman

Heute wird auf dem Gelände Altkleidung sortiert, die in Frankreich verkauft wird oder in Afrika. Die Emmaus-Brüder machen das mit Ideen wie jene von Godin. Leute, die lange arbeitslos waren, arbeiten bei ihnen, niemand verdient mehr als das Dreifache von dem, was der einfache Arbeiter verdient. Wie weit entfernt ist das von unseren Bankern, die in einem Jahr so viel verdienen, wie ich es nicht in drei Leben verdienen werde. Und dabei verdiene ich nicht einmal wenig.

Ein Stoff für einen Roman ist das, denke ich. Und ich habe auch schon damit angefangen, ihn zu schreiben, einen Kriminalroman über die Machenschaften der Banker. Im Herbst dieses Jahres wird er erscheinen.

Heute Bestandteil des Jules-Verne-Museums: das Arbeitszimmer des welberühmten Schriftstellers in seinem Stadthaus in Amiens. (Foto: Achim Ebenau / Wikimedia Creative Commons - Linkz zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Heute Bestandteil des Jules-Verne-Museums: das Arbeitszimmer des weltberühmten Schriftstellers in seinem Stadthaus in Amiens. (Foto: Achim Ebenau / Wikimedia Creative Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Unverzichtbares Jules-Verne-Haus

Er folgt meiner Idee von Literatur. Pralle Geschichten will ich erzählen, Kritik an Fehlentwicklungen der Gesellschaft und der Arbeitswelt üben. Leidenschaften zeigen, Ärger, Wut. Den Traum von einer anderen, besseren Welt träumen. Jemandem wie Godin bin ich dabei nahe, der dies alles nicht nur geträumt, sondern realisiert hat für hundert Jahre. Für hundert Jahre immerhin!

Ja, und dann bin ich in Amiens auch noch ins Jules-Verne-Haus gegangen. Und weil es um Jules Verne geht, muss ich meine Erlebnisse in diesem Haus in besonderer Sprache schildern:

Bruder Jules

Stell dich ins Hoftor
dorthin, wo auch
Jules Verne stand
als die Schüsse fielen

Zwei Schüsse, einer
der das Holz des Tors
zersplitterte und einer
der sein Bein traf

So dass er nicht mehr
segeln konnte, nie mehr
er, der doch das Meer
so liebte

Ach Bruder, es war
mein Neffe
Bruder ach, es war
dein Sohn

Der Bruder schwieg
was konnte er auch anders
tun als schweigen, er,
den Jules so dringend brauchte

Er, den der Bruder
liebte, der Jules`
Texte las und
korrigierte

Ich brauch dich
Bruder und der Neffe
er geht in eine Anstalt
vierzig Jahre lang

Kein Wort nach
außen über ihn
kein Streit nach
innen zwischen uns

Ja, das ist Bruderliebe.
Drum stelle dich ins Tor
und denk an sie
an Jules und seinen Bruder

Und ihre Liebe füreinander, denk
aber auch an den Neffen, denke:
vierzig Jahre! Dann geh ins
Haus, in den Salon

Um dort zu lesen aus
dem Roman, deinem Roman
Jules wartet schon.
Mit strengem Blick hört er

dir zu, dort oben an der Wand
und streng dich an, denn
heute musst du ihm gefallen
ihm, Jules Verne.

Viele Bilder im Kopf

Nun kenne ich Amiens. Es ist nicht mehr ein kleines Schildchen unter dem Ortsschild von Dortmund. Es ist nicht mehr die nichtssagende Schrift, die ich lese, wenn ich in Dortmund einfahre. Ich habe viele Bilder von Amiens im Kopf, und ich weiß, ich werde dorthin zurückkehren. Werde zurückkehren zu seiner Kathedrale, zu Godin, zu Jean Paul Dekiss und meinen französischen Schriftstellerkollegen. Und zu Jules Verne, von dem ich hoffe, dass ihm der Ausschnitt aus meinem Roman gefallen hat.




Vergnügliche Kunst im musikalischen Zirkus: Artistische Rhythmus-Experimente in Gelsenkirchen

Das Artistische in der klassischen Musik ist erst in den überaus ernsten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Verruf geraten – und das auch vornehmlich in den Revieren kompositorischer Grübler und Grantler. Weder ein „Teufelsgeiger“ wie Niccolò Paganini noch eine Koloraturnachtigall wie Erna Sack scherten sich um „Material“. Sie führten einfach lustvoll vor, wie perfekt sie ihre mühelos scheinende Technik beherrschten.

Nerses Ohanyan. Foto: Neue Philharmonie Westfalen

Nerses Ohanyan. (Foto: Neue Philharmonie Westfalen)

Heute ist der Ingrimm der Kategorien zum Vergnügen des Publikums verblasst – und davon profitieren Musiker wie der 28-jährige Flötist Nerses Ohanyan. Im Musiktheater im Revier versetzte er die – leider viel zu wenigen – Zuhörer im Kleinen Haus in Staunen: Beatboxing heißt die Kunst, mit der er sein Flötenspiel aufpeppt. Eine eigentlich uralte Kunst, die vor allem im Hip Hop wiederbelebt wurde und sich in den letzten zwanzig Jahren weit verbreitet hat.

Die Musiker beziehen sich dabei weniger auf die amerikanischen und afrikanischen Ursprünge. Sie imitieren vielmehr die Geräusch-Percussion früherer Rhythmusmaschinen. Diese drum machines kamen seit den sechziger Jahren in der elektronischen und der Pop-Musik zum Einsatz.

Percussion mit Mund, Zunge, Rachen und Körper

Musiker wie Ohanyan entwickeln eine phänomenale Virtuosität und Präzision beim Nachahmen der rhythmischen Geräusche. Der aus dem armenischen Jerewan stammende Ex-Student der Essener Folkwang Universität der Künste spielt gleichzeitig Flöte dazu. Eine perfekte Kombination, findet Ohanyan: Seine Luft reicht für die Flöte und die Percussion, die er mit Mund, Zunge, Rachen und Körper erzeugt. Wie, das verrät der Künstler natürlich nicht.

So wird die Flöte zum rhythmusgestützten Melodie-Instrument, kann aber auch selbst perkussiv eingesetzt werden wie in der Zugabe, einer Bearbeitung von Mozarts berüchtigtem „Rondo alla turca“. Wie ein Virtuosenkonzert alten Zuschnitts kommt „Native Tongues“ daher, ein Konzert für Beatbox-Flöte und Streichorchester, geschrieben von dem Amerikaner Randall Woolfe – einem experimentierfreudigen Komponisten, der weder vor dem Populären noch vor der musikalischen Zirkusnummer zurückschreckt. 2010 uraufgeführt, zeigt sich das Stück beeinflusst von Hip Hop wie Minimal Music und vermittelt vor allem das Staunen über die phänomenale Konzentration, Präzision und Schnelligkeit, mit der Nerses Ohanyan seinen Part zum Besten gibt.

Mit Lust und Laune bei der Sache

Mit dem Rhythmus als Kategorie des Komponierens spielt auch das Eingangsstück des Konzerts, „Zoom and Zip“ von Elena Kats-Chernin. Die in ihrer Wahlheimat Australien gefeierte, vielseitige Komponistin lässt Celli und Kontrabass einen stampfenden, maschinellen Offbeat spielen, der im Zeitmaß vergrößert irgendwann zur Melodie wird, während die sich herausbildende Melodie der Violinen sich zu einem Rhythmus verdichtet. In der Mitte des Stücks lässt eine weit schweifende Elegie die Dynamik der Bewegung vorübergehend zur Ruhe kommen. Eine hübsche Studie, die an Kultorten der Neuen Musik wie Donaueschingen vermutlich für einen Eklat gesorgt hätte.

Enrico Calesso. Foto: Falk von Traubenberg/Mainfranken Theater Würzburg

Enrico Calesso. (Foto: Falk von Traubenberg/Mainfranken Theater Würzburg)

Die Streicher der Neuen Philharmonie Westfalen lassen sich auf diese unterhaltsamen und überraschenden Spielereien mit Lust und Laune ein. Gastdirigent Enrico Calesso, Generalmusikdirektor in Würzburg, zeigt bei seinem Debüt in Gelsenkirchen Humor und Temperament, fordert Präzision, aber auch animierten Schwung.

Haydn als Vorläufer

Den gibt der berührungsangstfreie Italiener auch einem „Vorläufer“-Werk der rhythmisch bestimmten Entdeckungen im Programm dieses Konzerts mit: Joseph Haydns D-Dur-Sinfonie mit der Nummer 86, eine der „Pariser“ Sinfonien, setzt rhythmische Figuren als kennzeichnendes und sogar strukturbildendes Element ein.

Der erste Satz beginnt mit einer harmlos wirkenden Auftakt-Figur aus drei Achteln, die sich dann als scharfes Dreier-Staccato durch den ganzen Satz ziehen und das „Allegro spiritoso“ energisch vorwärts drängen. Haydn spielt mit den Achtelfiguren auch in der Motivik und zeigt sich überdies in der Themen- und Tonarten-Entwicklung zu reizvollen Überraschungen aufgelegt. Mit Tonrepetitionen schafft auch das Menuett eine Beziehung zu seinen Nachbarsätzen; Violine und Fagott ergeben im Trio eine aparte Klang-Kombination.

Der letzte Satz ist mit einer einen Ton fünf Mal wiederholenden Figur rhythmisch befeuert und bekräftigt noch einmal Haydns Absicht, in dieser Sinfonie für das verwöhnte, aber auch wohl seine Hörgewohnheiten liebende Pariser Publikum eine qualitätsvolle, von Überraschungen und subtilem Humor geprägte Probe seines Könnens zu liefern.

Calesso signalisiert den Musikern eine scharfe, den rhythmischen Esprit betonende Artikulation und ein flottes Tempo, dem die Neue Philharmonie Westfalen geschmeidig folgt. Die kurzen, betonten Noten kommen auf dem Punkt – das Hör-Vergnügen lässt nicht auf sich warten.

 




Bei den Duisburger Akzenten inszeniert Michael Thalheimer Kleists „Penthesilea“ so puristisch wie blutig

Bisse und Küsse – Penthesilea (Constanze Becker) und Achill (Felix Rech) im Liebesspiel. (Foto: Birgit Hupfeld)

Langsam schiebt sich der Vorhang nach oben, langsam gibt er den Blick frei auf die große Schwärze, die sich matt erhellt und einen Bühnenboden offenbart, der schräg und steil in Dreiecksform nach oben ragt. Dort droben, in der Weite des Raumes, hockt ein Paar, verschlungen in blutiger Pietà-Pose. Es ist ein schaurig-schönes, schreckliches Bild, umfangen von Stille – weiter nichts. Es erzählt vom Ende des Achill in den Armen Penthesileas. Es demonstriert zudem die Wirkmacht des Purismus auf dem Theater. Dafür steht, wie wohl kaum ein anderer, der Regisseur Michael Thalheimer. Das karge Bühnenkonstrukt baute Olaf Altmann.

Sprachlicher Ausdruck, Gestik und Mimik beherrschen die Szene. Hier gilt’s der Konzentration auf das Wesentliche. Thalheimer hat „Penthesilea“, Heinrich von Kleists grausame Tragödie, 2015 im Schauspiel Frankfurt (Main) herausgebracht, unter Verwendung der originalen Blankverse. Der Text jedoch erfuhr Kürzungen, die Zahl der Personen ist auf drei geschrumpft. So dass sich alles Geschehen auf Penthesilea (und Achill) fokussieren kann. Was sonst noch fehlt, vermisst kein Mensch: Video, Ausstattungsplunder, aufgekratzte, wichtigtuerische Aktualisierung. Die Deutung war jetzt beim Theatertreffen der Duisburger „Akzente“ zu erleben – ein Glücksfall.

Das Eingangsbild der Inszenierung zeigt das Ende des Dramas, ist Symbol für den grausamen Tod Achills, zerfleischt von der Amazonenkönigin Penthesilea. Wir sehen zwei Kontrahenten, die sich bis aufs Blut bekämpften, denen auf dem Schlachtfeld um Troja nur ein winziges Zeitfenster der Liebe eröffnet wurde. Küsse fielen, aber auch Bisse – sie hatten einander zum Fressen gern. Tragisch nur, dass die Königin am Ende wahnhaft zur Kannibalin wird. Was Wunder, schrieb doch Kleist zu seinem Stück, darin liege „der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele“.

Constanze Becker (Penthesilea) und Josefin Platt (Frau) auf Distanz. Foto: Birgit Hupfeld

Constanze Becker (Penthesilea) und Josefin Platt (Frau) auf Distanz. (Foto: Birgit Hupfeld)

Aus diesem Zustand des Wahns leitet Michael Thalheimer rückblickend die Geschichte der Penthesilea ab, die sich, wie die Mutter es prophezeite, und gegen die Gesetze ihres Volkes, den Achill als Gegner und Opfer aussucht, als Erzeuger ihres Nachwuchses, um des Fortbestandes der Amazonen willen.

Liebe ist hier eigentlich nicht vorgesehen, sondern nur Nutzen: Nach der Zeugung muss der Mann das fremde Land wieder verlassen. Hier jedoch kommt alles anders. Im Kampf bleibt Achill der Sieger, doch Penthesileas Blick hemmt ihn, sie zu töten. Sie erliegt bloß einer Ohnmacht, später wird ihr suggeriert, sie sei die eigentliche Gewinnerin des Duells gewesen. Als der Schwindel aufliegt, schwört sie Rache. Zur finalen Schlacht indes kommt Achill, aus Liebe, nur mit leichter Waffe. Das hat die erwähnten blutigen Folgen. Wie sagt Penthesilea, bevor sie sich den Tod gibt? „So war es ein Versehen. Küsse, Bisse … wer recht von Herzen liebt, kann schon das Eine für das Andre greifen“.

Kleist selbst sah sein Stück, 1808 vollendet, als schwer aufführbar. Er nutzte die Elemente der Mauerschau und des Botenberichts, um von Schlachten zu erzählen, die auf der Bühne nicht zu zeigen waren. In Thalheimers Frankfurter Regie ist dafür vor allem die großartige Josefin Platt zuständig, deren Rolle als „Frau“ bezeichnet wird, die uns den Fortgang der Handlung erläutert, die zugleich Vertraute der Königin und Ratgeberin des Achill ist. Im weißen Gewand wirkt sie würdevoll und beherrscht, nur manchmal scheint sie die Last des Krieges und seiner Umstände niederzudrücken.

Das Anfangs- und Schlussbild, eine blutige Pietà. (Foto: Birgit Hupfeld)

Constanze Becker wiederum changiert als Penthesilea gekonnt zwischen Heldinnenpathos, wahnhafter Verwirrung und somnambuler Zurückhaltung. Ihr gegenüber demonstriert Felix Rech (Achill) kriegerische Kraft, bisweilen aber auch scheue Unterwürfigkeit. Der hohe Ton der Sprache, den das Paar in klarer Diktion zelebriert, hält beide von Lautstärke-Exzessen ab. Selbst Penthesileas Schreie der Verzweiflung sind stilisiert und lenken unser Augenmerk auf die innere Befindlichkeit. So oft auch im Text von Raserei die Rede ist, so oft gibt hier gespenstische Stille den Ton an. Und Thalheimer erweist sich einmal mehr als Meister der Psychologisierung.

Was dem Stück durchaus angemessen ist. Kleists Umgang mit Liebe, Schmerz und Tod, seine Darstellung von im Unterbewusstsein lodernden Leidenschaften, die sich den Weg auf die Ebene des Handelns bahnen, sowie Kleists Zeichnung zweier Liebender, die jegliche Staatsräson außer Acht lassen, war im preußischen Biedermeier des angehenden 19. Jahrhunderts ungeheuer modern.

Die Uraufführung der „Penthesilea“, die also bereits auf die Themen der Psychoanalyse verweist, fand denn auch erst 1876 statt. Aber sie hat bis heute ihre Kraft nicht verloren. Michael Thalheimers grandiose Regie diente dabei der Profilschärfung.




Als Amazonen bestrickend kickten: Doku zur Frühgeschichte des „Damenfußballs“ beim Dortmunder Frauenfilmfestival

Ach, du Schreck: Die jungen Frauen waren auf einmal keine daheim im Kämmerlein schmachtenden „Fußballbräute“ mehr. Sondern? „Amazonen“! Sie wagten es doch tatsächlich, selbst zu spielen, und zwar hin und wieder geradezu „bestrickend“. Sie servierten Flanken „wie aus der Luft gehäkelt“ und vollzogen rasant den Übergang „von der Haushalts- zur Ballführung“. Diese „Fußball-Suffragetten“ trugen allerdings „keine Blaustrümpfe, sondern Ringelstrümpfe“...

Wird im Film "Die schönste Nebensache der Welt" gezeigt: Teamfoto von Fortuna Dortmund aus der zweiten Hälfte der 50er Jahre, u. a. mit Anne Droste (ganz links), Christ Kleinhans (mit Ball) und rechts neben ihr Grete Eisleben. (Foto aus dem Provatbesitz von Christa Kleinhans)

Wird im Film „Die schönste Nebensache der Welt“ gezeigt: Teamfoto von Fortuna Dortmund aus der zweiten Hälfte der 50er Jahre, u. a. mit Anne Droste (ganz links), Christa Kleinhans (mit Ball) und rechts neben ihr Grete Eisleben. (Foto aus dem Privatbesitz von Christa Kleinhans)

Genug, genug! Das kann man ja nicht mehr mit anhören. Wer hat denn so einen Quatsch über Frauenfußball verzapft? Nun, es war der gängige Sound der frühen Jahre. Die oben kursiv gesetzten O-Ton-Zitate stammen samt und sonders aus einer Kino-Wochenschau vom März 1957, als eine (inoffizielle) deutsche Auswahl im Münchner Dante-Stadion vor sagenhaften 18.000 Zuschauer(inn)en gegen ein Frauenteam aus Holland antrat. Es war eine Begegnung, die nach dem Willen mächtiger männlicher Fußball-Funktionäre eigentlich gar nicht hätte stattfinden dürfen.

Der DFB verbot den Frauen das Balltreten

Fast genau 60 Jahre ist das nun her. Damals war das Match eine Sensation, gleichsam ein Spiel in der Grauzone, denn der von verknöcherten alten Herren geführte Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte 1955 höchst offiziell ein striktes Verbot des „Damenfußballs“ beschlossen. Kein Mitgliedsverein des DFB sollte eine Mädchen- oder Frauenabteilung haben dürfen, ja nicht einmal einen Platz für solch ungebührliches Treiben zur Verfügung stellen. Und kein Schiri sollte sich dafür hergeben. Die Stadt München, die den besagten Ländervergleich zugelassen hatte, bekam denn auch einen harschen Mahnbrief aus der DFB-Zentrale.

Woher ich das alles weiß? Aus dem Film „Die schönste Nebensache der Welt“. So heißt (nicht allzu originell) eine recht aufschlussreiche 56-Minuten-Doku zur Nachkriegsgeschichte des deutschen Frauenfußballs. Den bereits 2009 entstandenen Streifen von Tanja Bubbel präsentiert in Kürze das Internationale Frauenfilmfestival, das vom 4. bis zum 9. April in Dortmund (und nebenher in Köln) seinen 30. Geburtstag feiert. Es ist verdienstvoll, den Film ans Licht zu holen, der bislang zumeist im Archiv schlummerte. Warum zeigt ihn beispielsweise das WDR-Fernsehen nicht?

Pionierinnen von Fortuna Dortmund

Schon im Vorfeld des Festivals gibt es eine Voraufführung des Fußballfilms, und zwar just im Deutschen Fußballmuseum des DFB in Dortmund (Di., 28. März, 20 Uhr). Wenn man so will, leistet der Verband als Gastgeber gleichsam eine klitzekleine späte Abbitte für das unbegreifliche Verhalten seiner Altvorderen in den 50er und 60er Jahren. Dass auch höhere Chargen wie der Ex-DFB-Präsident Theo Zwanziger längst zu halbwegs selbstironischem Umgang mit dem Thema fähig sind, beweist der Anfang der Doku. Da kommentiert Zwanziger ziemlich trocken einen kurzen Diavortrag zum Damenfußball.

Der Film enthält etliche Originalaufnahmen, vorwiegend aus 50er bis 80er Jahren, und feiert gebührend die Pionierinnen des Sports mit ihren ausgesprochen haltbaren Mädels-Freundschaften. Denn natürlich ist dies auch eine Erzählung von kraftvoller Frauen-Solidarität, die sich nicht einschüchtern lässt.

Gewürzt mit Ruhrgebiets-Humor

Zwischendurch gibt es etliche elegante, aber auch ein paar unbeholfen wirkende Spielszenen zu sehen. Die Spielkultur musste sich ja auch erst langsam entwickeln. Und wer offiziell nicht einmal trainieren darf, muss schon besonderes Talent haben, um trotzdem gut zu sein. Außerdem: Bei den Herren wird oft genug auch nur gebolzt.

Der Film versammelt einige Zeitzeuginnen aus Ost und West (Ruhrgebiet, Potsdam) zu nachdenklichen Rückblicken. Im Mittelpunkt stehen dabei Veteraninnen des Clubs Fortuna Dortmund, wo ab 1955 Frauen Fußball spielten, und zwar offenbar ziemlich gekonnt. Gewürzt mit echtem Ruhrgebiets-Humor, erzählen sie aus jenen Jahren, als sie allesamt auch an (wie gesagt: verbotenen) Länderkämpfen vor erstaunlich großem Publikum teilnahmen, die legendäre Begegnung im Dante-Stadion inbegriffen.

Und wahrlich. Wenn man heute jeden 16jährigen Jungspund kennt, der irgendwo für viel Geld anheuert, so muss man erst recht diese Frauen beim Namen nennen: Christa Kleinhans, Renate Bress, Anne Droste, Inge Kwast und Grete Eisleben. Einige von ihnen kommen wohl auch zur Preview ins Fußballmuseum. Sie sind übrigens souverän genug, wegen „damals“ keine Verbitterung zu hegen, obwohl wegen ihrer Fußball-Leidenschaft auch schon mal Beziehungen und Ehen zu Bruch gegangen sind.

Ein Porzellan-Service für den EM-Titel

Welch ein bezeichnender Moment, wenn im weiteren Verlauf des Films die Bochumerin Petra Landers, die in den 80er Jahren mit Bergisch-Gladbach mehrfach die deutsche Meisterschaft errang, mit süßsäuerlicher Miene einen Teil ihrer DFB-Prämie zum Gewinn der Europameisterschaft 1989 aus dem Küchenschrank holt. Sie und ihre Mitspielerinnen bekamen – Tusch und Trommelwirbel – ein komplettes Porzellan-Service, immerhin Bone China der nicht ganz schäbigen Art… Wollen wir mal nachschauen, was Männerteams für vergleichbare Titel abgestaubt haben?

In den 50ern, aber auch noch in den 70ern ließen sich nicht alle Zuschauer von rein sportlichen Interessen leiten. Viele Männer kamen anfangs wohl, um hämisch abzulachen, um schlanke oder auch stämmige Beine bzw. wallende Brüste in knappen Trikots zu sehen oder um gar frivole Schlammschlachten auf durchgeweichten Plätzen zu erleben. Manche waren auch ganz einfach wild auf die Mädchen. Besonders Italiener waren den Dortmunder Blondinen zugetan, woran sie sich kichernd erinnern.

Lang, lang hat’s gedauert, bis dann endlich mal sachlich-fachlich über Frauenfußball geredet wurde. Erst 1970 gab der DFB halbherzig seinen Fundamental-Widerstand gegen Frauenfußball auf. Quasi in einem Gnadenakt ließ man sich zur Erlaubnis herbei. Schon beinahe (negativer) Kult ist übrigens ein ZDF-Sportstudio genau aus jener Zeit. Wim Thoelke kommentierte das Ansinnen der Frauen durchaus noch im Stil der eingangs erwähnten Wochenschau. Das hätte in seiner Drastik noch als Aufreger zu Tanja Bubbels Film gepasst.

Auch die DDR hat Frauenfußball reichlich spät zugelassen, dort ging es ebenfalls erst in den 70er Jahren voran. Was Sabine Seidel und Gisela Liedemann (ehedem Turbine Potsdam) zu berichten haben, klingt denn auch eher elegisch, aber ebenso unverstellt wie das, was man aus dem Revier vernimmt.

„Die Prinz hatte wohl ihre Periode“

Die Frauen sind indes auf ihre Art nicht zimperlich. Eine behauptet schlankweg, sie seien immer zäher gewesen als die Männer („Die wälzen sich immer gleich am Boden“). Und als der inzwischen nicht mehr ganz junge Dortmunder Damenzirkel ein Länderspiel besucht, heißt es über eine weniger gut aufgelegte Top-Spielerin auf dem Rasen: „Die Prinz hatte wohl heute ihre Periode…“ Das sollte sich ein Mann mal zu sagen trauen.

Apropos Mann. Einer prägt auch diesen Film mit – durch seine Stimme. Der Fußballkommentator Werner Hansch hat seine Meriten, hier aber ist sein salbungsvoll-samtpfötiger Tonfall nicht immer angebracht; zumal er auch schon mal treuherzig zwiespältige Sätze von sich gibt („Zum Glück gab es das DDR-Sportsystem“ – triefende Ironie oder nicht?), die am Schluss in der vermeintlich alle und alles versöhnenden Formel gipfeln, ob nun Männer oder Frauen anträten, Hauptsache sei doch, dass Deutschland gewinnt. Ach was.

Rund 120 Filme auf dem Programm

So. Schlusspfiff. Ein paar andere Filme laufen ja schließlich auch noch beim Internationalen Frauenfilmfestival. Um pauschal etwas genauer zu sein: rund 120 Produktionen aller denkbaren Sparten und Formate, dazu ein üppiges Begleitprogramm mit Diskussionen, Workshops und Performances.

Beim internationalen Spielfilmwettbewerb für Regisseurinnen geht es um einen Preis von 15.000 Euro, davon 10.000 als Vertriebsförderung für den Verleih und 5000 für die Regie. Zudem gibt’s gleich zehn kuratierte Filmreihen unter dem Gesamtmotto „In Control…of the situation / Alles unter Kontrolle“, das sicherlich nicht nur wörtlich zu nehmen ist, sondern angesichts der Weltlage auch schierer Hohn sein kann. Da lassen sich halt frauenbewegte und (nicht nur) Frauen bewegende Filme jeglicher Art unterbringen.

Eine Reihe handelt von Flucht und Migration, eine andere vom Rückzug ins Innenleben und daraus resultierenden Aufbrüchen, eine weitere von Aktivistinnen der Solidarität und des Widerstands. Kurzfilmnacht, Super-8-Filmtechnik und Bösartiges bis zum Splattermovie sind weitere Stichworte. Das mag einigermaßen unübersichtlich wirken. Also gilt es, sich vorab ein paar Schneisen durchs Programm zu schlagen. Ein bisschen Zeit ist ja noch.

Infos zum Festival (4. bis 9. April): www.frauenfilmfestival.eu
Tickets: www.westticket.de




„Lass mich nicht allein mit ihr“ – das auf Dauer schwer erträgliche Ego-Theater des Tex Rubinowitz

Tex Rubinowitz ist ein großer Bewunderer „kapriziösen Ego-Theaters“. Davon leben zu können, das wäre es doch. Den Rest der Zeit könnte er dann sicher auf der Couch verbringen, wo „alles den Serienfiguren passiert und nicht ihm“.

Um nichts anderes geht es in „Lass mich nicht allein mit ihr“, dem neuen Buch des Ingeborg-Bachmann-Preisträgers: um Thesen von und über Tex Rubinowitz. Wer jetzt stutzt und sich fragt: Wer will das denn lesen? Ist das nicht arg langweilig? Dem sei gesagt: Ja, es ist langweilig, jedenfalls über die Länge eines Romans. Wobei das Buch auch wohl nur in Ermangelung einer treffenderen Klassifizierung Roman genannt wurde.

Der Inhalt ist schnell erzählt: Es geht um die Befindlichkeiten des nicht mehr ganz so jungen Rubinowitz. Der gute Mann ist nicht nur Schriftsteller, er blickt auch auf ein ergiebiges Wirken als Zeichner, Cartoonist, Reisejournalist zurück. Wenn er nicht gerade ein Schriftsteller-Stipendium in London absitzt, lebt er in Wien.

Was ist schon Wirklichkeit?

Tex Rubinowitz ist ein Pseudonym, in Wirklichkeit heißt er ganz anders, aber was ist schon Wirklichkeit? Musikkritiken für den Spiegel schreibt er auch noch und dann war da noch ein Plagiatsskandal um seinen letzten Roman. Oder war es etwa nur eine geschickte Inszenierung? Wer von all dem bisher keine Kenntnis hatte, der weiß nun Bescheid. Darüber und über vieles andere mehr. Zusammenfassbar unter „alles, was Sie nie wissen wollten und nun doch gelesen haben“.

Unser Autor nun befindet sich in einer veritablen Schreibkrise und spielt zunächst alle Stufen des beliebten Gesellschaftsspiels Prokastrination durch. Da strickt man einen Plot um einen Schädel im Wald, klappt nicht so recht, dann philosophiert man ein bißchen über Abba und Pedro Almodóvar; nicht, dass noch einer denkt, man wäre nicht vielseitig interessiert. Schön wäre aber auch eine Liebesgeschichte mit Vorabendserien-Diva Anja Kruse, was den Autor ruckzuck zu seinem verstorbenen Kollegen Abdul bringt, der einen eigenartigen Tod starb, autoerotische Anekdoten inclusive.

Verwirrspiel um Identitäten

Und überhaupt dieser Abdul. Der hat Rubinowitz gestalkt, mehr noch, er hat alles dafür getan, wie Rubinowitz zu sein. Alles wusste er über ihn und plötzlich ist man sich gar nicht mehr sicher: Ist der Autor tatsächlich selber der Ich-Erzähler oder lässt er nicht vielmehr Abdul so tun, als wäre der Stalker der Autor, der hier von einem Gedankenstrang zum anderen mäandert?

So weit, so leider zäh das inszenierte Verwirrspiel um Identitäten. Bei aller Bemühtheit gelingt es Rubinowitz nicht, dieses Sujet um eine neue Variante zu erweitern. Wohlwollend könnte man sagen, das Thema des Romans ist die Suche nach einem Thema. Weniger wohlwollend könnte man es auch unter „regressive Luxusprobleme“ verschlagworten.

Was tut man nicht alles, um eine Schreibblockade zu rechtfertigen und vor allem, um sich selber in einem interessanten Licht darzustellen? Seine eigene Exzentrik möchte er vor allem in den imaginierten Begegnungen mit der Schauspielerin hervorheben, doch beim Leser reicht es so gerade eben zu Mitleid mit der zur Projektionsfläche mutierten Frau Kruse. Humorvoll wäre er gerne, albern trifft es eher.

Auf Sascha Lobos Deckel trinken

Weltgewandtheit und Bildung stehen noch auf der Liste der Dinge, die Rubinowitz zur Vervollständigung des Bildes braucht, das der Leser sich bitte von ihm machen soll. Dafür arbeitet er sich schnell noch an Daniel Kehlmann ab, das machen sie ja alle gerne, die so gerne DIE Stimme deutscher Gegenwartsliteratur wären. Nicht zu vergessen: Auf den Deckel von Sascha Lobo darf er trinken. Na prima. Glückwunsch dazu. Auch eine Leistung.

Einen Protagonisten aber gibt es, der Leistung erbringt: den Lektor. Geplagt, aber geduldig erklärt er dem um minimalistischen Aufwand bemühten Autor „Du hast nichts zu erzählen“. Letzen Endes seien es nur „eklektizistische Splitter“, die er da zustande brächte. Der Autor versteht das alles, er sieht es durchaus ein, alleine – er macht nichts draus. Aus Unlust? Aus Unvermögen? Aus purer Faulheit? Aus dem Wunsch heraus, der Literaturbetrieb wird es schon richten, es wird sich schon jemand finden, der auch das Abstruseste noch hochjazzt?

„Logik ist für Langweiler“

Richtiggehende Bewunderung zeigt der Schriftsteller für die Technik des unzuverlässigen Erzählens, da greift schließlich auch die Entschuldigung „Logik ist für Langeweiler“. Eine beliebte Rechtfertigung, arg simpel zwar, aber man kann es ja mal versuchen. Hätte der Lektor ihm besser mal gesagt, dass der Leser nicht gelangweilt werden will, statt „der Leser will nicht bevormundet und nicht verarscht werden“. Unzuverlässiges Erzählen verzeiht ein Leser, aber was Rubinowitz in seinem Buch macht, ist allenfalls ein schwadronierendes Spiel mit „alternativen Fakten“. Passt immerhin zum Zeitgeist und zum Fake-News-Gegröle.

Die eigentliche Tragik des Buches liegt aber vor allem in der Länge. Rubinowitz kann durchaus unterhaltend schreiben. Zunächst ist das Ganze wirklich noch witzig, man liest es gar nicht so ungern, es gibt spitz formulierte und fein beobachtete Gegenwartsbetrachtungen, die durchaus Spaß machen.

Zunächst amüsiert man sich auch noch über die Selbst-Rechtfertigungen, wenn er auf den Plagiatsskandal eingeht, der von ihm selber gelenkt gewesen sei. Die fraglichen Wikipedia-Einträge habe er unter noch einem Pseudonym selbst verfasst, auch die Berichterstattung darüber hat er selbst geleakt, Letztendlich hat er sich also nur selbst kopiert. Wir verstehen. Oder auch nicht. Ist irgendwann aber auch völlig gleichgültig. Denn spätestens nach der dritten Rechtfertigung, nach der vierten Phantasie einer Verabredung mit Anja Kruse ist man es leid.

Tex Rubinowitz: „Lass mich nicht allein mit ihr“. Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 €




Mozart in der Manege: Patricia Kopatchinskaja und Teodor Currentzis loten die Freiheit des Interpreten aus

Patricia Kopatchinskaja ist auf ihrem Instrument ebenso vielseitig wie technisch überragend (Copyright: Marco Borggreve)

Im Schauspiel gehört das längst zum Alltag: Regisseure setzen Faust „nach Goethe“ in Szene oder Hamlet „nach Shakespeare“. Stücke werden zu ungefähren Handlungsanweisungen, zu Steinbrüchen, aus denen man hie und da größere Brocken heraus schlägt, um dann wieder Fremdes in sie hinein zu montieren: Nietzsche, Freud, Dostojewski, egal.

Im Konzerthaus Dortmund war jetzt freilich eine Seltenheit zu erleben: ein Violinkonzert in D-Dur nach Wolfgang Amadeus Mozart. Vom Köchelverzeichnis möchten wir erst gar nicht anfangen. Die Freiheit des Interpreten bis an die Grenzen und darüber hinaus zu treiben, haben sich die Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der Dirigent Teodor Currentzis zusammen getan, der mit seinem 2004 gegründeten Originalklang-Ensemble „MusicAeterna“ in Dortmund gastierte.

„Bloß keine Klangschönheit!“, scheint die Kopatchinskaja sich selbst für ihre Interpretation ins Stammbuch geschrieben zu haben. Sie verpasst Mozarts galantem Stil eine Kratzbürsten-Ästhetik mit lachhaft spitzigen Staccati und einer gehörigen Portion Geräuschhaftigkeit. Wo sich Klangschönheit kaum vermeiden lässt, zumal in den Kantilenen des Andante, verhaucht sie ihren Ton bis zur Unkenntlichkeit. Sie staucht und dehnt Tempi, als wolle sie gegen die Verbindlichkeit des Metrums rebellieren.

Patricia Kopatchinskaja
(Foto: Marco Borggreve)

Für den Mut eigene, halb improvisierte Kadenzen zu spielen, mögen wir diese überragende Geigerin nicht im Geringsten tadeln. Auch nicht dafür, dass sie auf zeitgenössische Weise mit dem thematischen Material umgeht. Schließlich montierte Gidon Kremer schon in den 1970er Jahren eine Kadenz von Alfred Schnittke in Beethovens Violinkonzert hinein. Dabei blieb er freilich hoch seriös.

Die Kopatchinskaja aber versteigt sich zu Albernheiten, die im Saal Gekicher und Gelächter auslösen. Sie kaspert mit dem Solo-Oboisten herum und nimmt die Bordun-Töne im Schluss-Satz zum Anlass, eine Art Irish-Fiddler-Wettbewerb mit den Streichern des Orchesters zu eröffnen. Spiellaune schlägt um in Unfug.

Spätestens jetzt ist der Zirkus im Konzerthaus angekommen. Mozart selbst, keiner Albernheit abhold, hätte über derlei Clownerien womöglich herzlich gelacht. Das Publikum scheint sich mehrheitlich wie Bolle zu amüsieren. Ob Mozarts Werk damit gedient ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Teodor Currentzis, 1972 in Athen geboren, ist Künstlerischer Leiter der Staatsoper im russischen Perm. (Foto: Aleksey Gushchin)

Es ist am Ende Teodor Currentzis zu verdanken, dass aus diesem Konzertabend dann doch ein sehr gelungener wird. Das vermeintliche Enfant terrible der aktuellen Dirigentenszene zeigt sich in Dortmund als gewissenhafter Vertreter der historischen Aufführungspraxis, wie wir sie seit Nicolaus Harnoncourt, Sir Roger Norrington, Thomas Hengelbrock und vielen anderen kennen. Nicht viel unterscheidet Currentzis’ Interpretationen von Mozarts „kleiner“ g-Moll-Sinfonie (Nr. 25 KV 183) und Beethovens „Eroica“ an diesem Abend von den genannten Vorläufern. Charakteristisch ist ein Hang zur Überakzentuierung und zu extrem schnellen Tempi, die aus manchem Stück einen Sprint machen. Sechzehntel-Ketten der Streicher klingen unter seiner Leitung gerne hitzig erregt wie ein Fieberschauer.

Die Aura des Rebellen, der wie ein Sturmwind aus dem russischen Perm daher gefegt kommt, um die Klassik-Szene gehörig durcheinander zu wirbeln, mag von findigen Marketing-Strategen erfunden und gepflegt worden sein. Wo die Werbung einen Messias verspricht, erleben wir einen jungen, musikbesessenen Dirigenten, der sein Orchester zu erfrischend kontrast- und spannungsreichem Spiel animiert.

Größere Schockwirkungen bleiben aus: Weder gibt es einen Brachial-Mozart zu bestaunen noch einen Rüpel-Beethoven. Und das wilde und lautstarke Fußstampfen auf dem Podium scheint er sich mittlerweile weitgehend abgewöhnt zu haben. Begeisterter Beifall.

Informationen zum Programm des Dortmunder Konzerthauses: http://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/?layout=grid

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Innere Katastrophe, nach außen gekehrt: Duisburger „Madama Butterfly“ in den Ruinen von Nagasaki

Innere und äußere Katastrophe: Liana Aleksanyan in Juan Anton Rechis Inszenierung von Giacomo Puccinis "Madama Butterfly" an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Innere und äußere Katastrophe: Liana Aleksanyan in Juan Anton Rechis Inszenierung von Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. (Foto: Hans Jörg Michel)

Da mag die Melodie Puccinis noch so schwärmen, da mögen die Harmonien noch so schmeicheln: Das Duett im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ ist falsch, von Anfang an. Es stimmt höchstens für einen der Wirklichkeit enthobenen Augenblick.

Denn die verfließende Zeit sagt etwas anderes: Sie lässt offenbar werden, wie fundamental unterschiedlich die beiden Menschen denken und fühlen: Für Benjamin Franklin Pinkerton ist diese Liebesnacht mit der japanischen Bimba und ihren melancholischen Augen ein vorübergehendes, exotisch-erotisches Abenteuer mit einer geheimnisvoll fremden Kindfrau. Für Cio-Cio San dagegen ist die Nacht die Folge einer Lebensentscheidung: Sie ist jetzt für alle Zeit Ehefrau des Amerikaners, dessen Religion sie annimmt und sich damit in ihren existenziellen Tiefenschichten mit ihm verbindet.

Die Katastrophe ist vorhersehbar – und sie tritt in der Neuinszenierung von „Madama Butterfly“ an der Deutschen Oper am Rhein nicht als stilles, schmerzvolles, allmähliches Zerbrechen ins Leben des „kleinen Fräulein Schmetterling“, sondern als erdbebenhafter Aufruhr. Das verlassene Mädchen sitzt im Ehebett, als ein Flugzeug dröhnt, eine Detonation die Bühne erschüttert. Die Erinnerung an die Bombe von Nagasaki – dort spielt die Oper ja auch – drängt sich auf.

Eine Welt in Trümmern: Szene aus dem Finale von "Madama Butterfly" in Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Eine Welt in Trümmern: Szene aus dem Finale von „Madama Butterfly“ in Duisburg. (Foto: Hans Jörg Michel)

Wenn der Vorhang zum zweiten Akt sich öffnet, ist nichts mehr wie vorher. Die Welt liegt auf Alfons Flores‘ Bühne in Trümmern. „Madama B.F. Pinkerton“ hat sich ein Zelt aus der angesengten amerikanischen Flagge gebaut. Ein krude gezimmerter Hochstand dient als Ausguck, symbolisiert Warten und Sehnsucht. Eine Endzeitstimmung, die das Innere der Cio-Cio-San nach außen kehrt. Individuelles und Allgemeines durchdringen sich: Die japanische Tragödie wird weitergedacht, über die existenzielle Katastrophe eines einzelnen Menschen hinaus. Der Clash hat, was ja historisch entsetzliche Wirklichkeit geworden ist, umfassende Konsequenzen.

Bildgewaltige Tragödie einer Lebenswelt

Regisseur Juan Anton Rechi hat in Duisburg Puccinis lange ans Sentiment verratene Oper in beinahe wagnerischem Ausmaß zur Tragödie einer ganzen Lebenswelt erweitert, ohne ihren individuellen Kern zu entwerten. Rechi hat damit eine Arbeit geschaffen, die dem Rang der Deutschen Oper am Rhein endlich wieder einmal adäquat ist. Bildgewaltiges Theater, aber kein Bildertheater; ein bewegendes Schicksal, aber in einen umfassenden Horizont gestellt; gegenwärtige Brisanz, ohne ins Allgemein-Zeitlose zu driften oder das Stück für eine Idee zurechtzubiegen wie vor Jahren Calixto Bieito in seiner Green-Card-Butterfly an der Komischen Oper Berlin.

Rechi inszeniert seine Personen bewundernswert genau: Da ist der unbekümmerte Leutnant, für den das einzige „forever“ das Bekenntnis zu Amerika ist. Seine Begegnung mit der fremden Welt Japans – in Person Suzukis, später in der verlegenen Begrüßung der Familie Cio-Cio-Sans – zeigt ihn hilflos überfordert und gleichzeitig desinteressiert. Die Warnungen des Konsuls, dem Schmetterling nicht die zarten Flügel zu brechen und ein gutgläubiges Herz zu verwüsten, werden mit Whisky überspült. Der Offizier betritt die japanische Welt nie wirklich: Das „Liebesnest“ lässt er sich von Goro – messerscharf charakterisiert von Florian Simson – nur als Modell zeigen; die romantische Nacht findet in der repräsentativ-wuchtigen Säulenhalle des amerikanischen Konsulats statt.

Eduardo Aladrén zeigt in der leicht hingeworfenen Konversation mit dem Diplomaten Sharpless durchaus tenorale Tugenden: Er gewichtet die Worte, er nimmt den Ton zurück, sein angenehmes Timbre und die Eleganz der Formulierung machen den jungen, sympathischen Leichtfuß glaubwürdig. Aber bald fährt sich sein Tenor fest und er singt im Stil eines kruden Verismo, mit athletischen Höhen und furios-unflexibler Tongebung. „Addio fiorito asil“ gestaltet er, ganz im Sinne der Regie, als sentimentale Reminiszenz.

Prägnante Personenstudien und profunde Sänger

Auch Stefan Heidemann lässt sich von innen heraus auf das Konzept ein: Er gibt Sharpless ebenso noble wie hilflose Züge, ein Mann voll Verständnis für die fremde Kultur, aber auch unfähig, sich gegen die zupackende Gedankenlosigkeit Pinkertons durchzusetzen. Ein Mann ohne Schärfe, fürwahr, nicht aber ohne Format. Maria Kataeva singt mit metallisch schimmerndem, differenziert gebildetem Stimmklang eine sorgfältig artikulierende Suzuki, deren unauffällige Präsenz im Hintergrund ebenso viel szenisches Gewicht hat wie ihre pointierten Auftritte. Profiliert gestaltet Bruce Rankin den unermüdlich werbenden Fürsten Yamadori – ein Mann beständiger und ernsthafter Gefühle in einer knapp gehaltenen, aber wichtigen Szene im Zentrum des Stücks.

Maria Boiko macht aus dem undankbaren Kurzauftritt der Kate Pinkerton eine prägnante Studie: Sie stellt sich gemeinsam mit dem Konsul der Verantwortung, vor der Pinkerton flieht, glaubt aber, mit einer Perlenkette als Geschenk Butterflys Verzweiflung lindern zu können. Die Farbe ihres Kleides, ein samtenes Rot, wird durch Blau und Weiß ergänzt – in diesen Farben der amerikanischen Flagge schickt Butterfly auch ihr Kind in eine ungewisse Zukunft. Mercè Palomas Kostüme meiden den modischen Bühnen-Trash, sind liebevoll gestaltet und zeigen die japanische Gesellschaft als angepasst – selbst der stimmgewaltige Vertreter der Tradition, der Onkel Bonze (Lukasz Konieczny) trägt einen westlichen Anzug.

Nur Madama Butterfly hält an der traditionellen Kleidung fest. Das verwundert etwas, denn gerade sie reißt am radikalsten ihre japanischen Wurzeln aus. Mag sein, dass Rechi im Kostüm ein Symbol ihrer inneren Konstanz sieht – aber so ganz schlüssig vermittelt sich die Idee dahinter nicht. Mit Liana Aleksanyan hat die Rheinoper eine Sängerin, die den vokalen Facetten der Partie mit profunder Technik gerecht wird. Die Sängerin hat zwischen 2011 und 2013 viele Partien am Aalto-Theater gesungen und erst zu Jahresbeginn die „Butterfly“ an der Scala gegeben.

Sie ist keine leichte Stimme wie einst etwa Toti dal Monte und ihre Kolleginnen, die das Mädchenhafte der Figur betont haben: Aleksanyan nimmt die intensiv erfüllten Linien und Bögen, die klangvollen Legati, die auftrumpfenden dramatischen Momente aus dem Geist des Verismo, verrät sie aber nicht an vordergründig gestisches Singen, sondern kleidet sie in einen ausgeglichenen, strömenden Fluss des Klangs. Dafür bringt sie ein passendes Timbre und eine prachtvoll beherrschte Stütze mit, dramatische Entschiedenheit und Süße im Mezzoforte – und vor allem den Gestaltungswillen, der jede vokale Geste in den Dienst einer Aussage stellt.

Kein Schwelgen in den Melodiebögen

Auf diese Weise geistig durchdringen will auch der Dirigent Aziz Shokhakimov die Musik Puccinis. Schwelgen ist nicht angesagt – im Gegenteil: Der junge usbekische Kapellmeister, Preisträger des Bamberger Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbs, behandelt die Klangbögen Puccinis recht peripher. Das ist die einzige Schwäche in einem ansonsten fabelhaft überzeugenden Dirigat. Denn in Zusammenarbeit mit den bestens disponierten Duisburger Philharmonikern legt Shokhakimov frei, wie modern Puccini komponiert hat: Die scharfen Staccati des Beginns, die polyphonen Verwebungen der Eingangsszene nimmt er entschieden konturiert. In der Chorszene vor dem ersten Auftritt Butterflys – szenisch in ein zauberhaftes Schattenbild mit der dominierenden amerikanischen Flagge gefasst – beleuchtet er die impressionistische Klangerfindung Puccinis.

Der Szene zwischen Pinkerton und Sharpless entzieht er jegliche Wärme. Der Rhythmus gewinnt konstitutive Bedeutung, die Neben- und Mittelstimmen verdeutlichen, wie komplex Puccini harmonisch in die Tiefe denken konnte. Dabei lässt Shokhakimov die Poesie der Musik nicht zu kurz kommen – erwähnt sei nur die lange Entwicklung in der Nacht des Wartens auf den zurückgekehrten Pinkerton, in der sich Christoph Kurigs Chor – wie schon im ersten Akt – vorzüglich bewährt. Diese „Butterfly“ hat alles, um ein Schmuckstück im Repertoire der Deutschen Oper am Rhein zu werden.

Vorstellungen in Duisburg am 6. und 26. Mai und am 3. Juni.
Karten Tel.: (0203) 283 62 100. www.operamrhein.de




Voodoo aus der Dose – Wo soll das alles enden?

Puppe, Nadeln, Dose - Screenshot mit Komplett-Sets zur Arbeitswelt (links) und Liebe (rechts). (© Hersteller)

Puppe, Nadeln, Dose – Screenshot mit Komplett-Sets zur Arbeitswelt (links) und Liebe (rechts). (© Hersteller)

Mit Voodoo ist das so eine Sache. Obwohl wir bestimmt nicht abergläubisch sind, haben wir uns doch alle schon gefragt, was dran sein könnte am magischen Puppenstechen, das weit über Gebühr mit Voodoo assoziiert wird.

Piekst man eine derartige, sorgsam präparierte Puppe mit der Nadel, jault angeblich der Feind und Widersacher vor Schmerzen auf, zuckt der böse Chef zusammen oder es krümmt sich die untreue Gespielin. Üble Sache, das. Man mag es gar nicht ausprobieren. Oder etwa doch? Aber wenn es nun funktionierte und man hätte es übertrieben?

Mit den zehn Geboten stimmt es nicht so richtig überein. Außerdem braucht man vielleicht einen erfahrenen Voodoo-Priester oder Medizinmann. Geht meine Erinnerung fehl, oder haben früher brasilianische Fußballmannschaften wirklich auf solche Praktiken zurückgegriffen, um zum Exempel dem gegnerischen Mittelstürmer beizukommen? Damals, als die Brasilianer noch oberste Weltklasse waren. Und wissen wir, was sie heute hinter verschlossenen Türen beim FC Bayern München treiben?

Um mal so richtig schön in die Klischeekiste der Redewendungen zu greifen: Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich dieser Tage ein niederschwelliges Online-Angebot in Sachen Voodoo vorfand? Es gibt doch wahrhaftig „Voodoo aus der Dose“.  Bequem zum Mitnehmen, allzeit bereit, also praktisch „Voodoo to go“. Nix Priester, nix Versenkung – einfach Fun… Yippieeee!

Ohne mich auszukennen, wage ich zu behaupten: Mit profaner Fabrikware kann das doch wohl nichts werden. Voodoo im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit? Och nö. Da macht man sich das Figürchen doch lieber selbst zurecht und steckt es in ein geeignetes Behältnis. Nadeln werden sich auch noch finden. Oder noch weitaus lebensechter: schamanische Praktiken um gläubig verehrte Fetische. Back to the roots. Aber das ist wohl nichts, was sich weiße Europäer einfach so aneignen könnten.

Voodoo in der Dose, das ist (analog zum Pulverkaffee) der Instant-Zauber, den man immer zur Hand hat. Und damit man nicht etwa nur ein einziges Döschen samt Minipuppe und Nadeln kauft, sind die Dinger spezialisiert. Die eine Stoffpuppe ist zuständig für die „bucklige Verwandtschaft“, eine weitere kümmert sich um die Arbeitswelt, wiederum eine andere um (nicht mehr so sehr) geliebte Personen. Hinzu kommen Sets für allgemeine Angelegenheiten und für nichts Geringeres als den Weltfrieden. Wohin piekst man da eigentlich?

Weil es gar zu hübsch und spaßig ist, zitiere ich mal aus einer Werbung für die „Voodoo Dolls“, Unterabteilung Arbeitswelt:

„An die Arbeit, Voodoo-Puppe!
Imaginäre Strafen für Chefs, Kollegen, Kunden, sämtliche Mitarbeiter von Service-Hotlines und viele weitere nervige Berufsgruppen.
Lass Deiner Feindschaft freien Lauf und bedenke Dein nächstes Voodoo-Opfer zum Beispiel mit Gedächtnisschwund, einer überhöhten Handyrechnung (…) einer veritablen Hodenprellung oder mit Senk- Platt- und Spreizfüßen.“

Nett, nicht wahr? Und ist es nicht umsichtig, dass auch an sämtliche Mitarbeiter der Service-Hotlines gedacht wird?

Jetzt mal eben im Ernst. Die Voodoo-Religionen mit ihren vielfältigen Varianten haben sich in Westafrika entwickelt und sind zu Zeiten der Sklaverei in die Karibik (besonders Haiti) vorgedrungen. Sie haben auch in der Popkultur Spuren hinterlassen. Da gab und gibt es die Dortmunder Kultband „Phillip Boa & the Voodooclub“ oder einzelne Titel wie „Voodoo Chile“ von Jimi Hendrix.

Doch das meine ich weniger. Das vielleicht beste Beispiel ist vielmehr Dr. John („The Night Tripper“), der sich intensiv mit Voodo befasst und mit Titeln wie „I Walk on Guilded Splinters“ trancehafte, geheimnisvolle Stücke komponiert hat, die der innigen Kontemplation zuträglich sein mögen.

Und jetzt kommen wir tatsächlich noch zu einem Ruhrgebiets-Aspekt des Themas. Jawohl, denn das nicht weit vom Museum Folkwang gelegene Museum „Soul of Africa“ in Essen widmet sich auch dem Thema Voodoo. Das war mir neu.




Pionier des Rock’n’Roll: Zum Tod des Gitarristen Chuck Berry

Charles Edward Anderson, weltbekannnt als „Chuck“ Berry, hat uns alle verlassen. Zurück bleiben nicht zu zählende Fans in Trauer, aber auch dankbarer Freude – über einen 90 Jahre währenden Lebensweg, den „Chuck“ streckenweise mit seiner unvergleichlichen Musik veredelte.

Chuck Berry bei einem Konzert im Casino von Deauville (Frankreich) am 12. Juli 1987. (Foto: Roland Godefroy / Wikimedia Commons) - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Chuck Berry bei einem Konzert im Casino von Deauville (Frankreich) am 12. Juli 1987. (Foto: Roland Godefroy / Wikimedia Commons) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Er war ein wahrer Pionier des Rock’n’Roll, später seine lebende Ikone. „Chuck“ schien so unverwüstlich wie seine Musik – ewig jung. Der Sohn von Henry Berry, dem Diakon einer Baptistenkirche, und Martha Berry, einer Schulleiterin, begann an der Sumner High School in St. Louis mit dem Gesang und dem Gitarrespielen. Doch schon 1944 begann auch sein Lebensweg, sich zu krümmen: drei Jahre Jugendgefängnis wegen bewaffneten Raubüberfalls.

Auch Beatles und Stones waren seine Fans

1959 geriet er nochmal mit der Justiz über Kreuz. Dann glättete er das ramponierte Verhältnis. Inzwischen bewaffnete sich der rockende Jüngling lieber mit seiner Gitarre, die er im Laufe der Jahre zum führenden Instrument seines Genres machte.

Ob es die Beatles waren, die gestanden, ohne seinen Einfluss niemals Musiker geworden zu sein. Oder die Stones, deren Keith Richards sich als Chuck Berrys größter Fan outet. Die Namen der liebevoll gedenkenden Verehrer schmücken das „Who is Who“ der neueren Musikgeschichte.

Eric Clapton, Bruce Springsteen, Angus Young von AC/DC, ja selbst Simon and Garfunkel – sie alle verwiesen gern auf Chucks Vorbildfunktion, oder sie coverten gleich seine klassischen Stücke. Wie Motörhead oder Status Quo, die mehr als 40 Bühnenjahre lang ihre Konzerte mit „Bye Bye Johnny“ beendeten. Oder sie alle spielten Berry-Kompositionen wie „Rock and Roll Music“, „Carol“, „Johnny B. Goode“ oder „Roll over Beethoven“ live auf der Bühne.

Immer schlug der Gitarrero des Rock seit Karriere-Beginn eine Gibson. Sie war der Klang ganzer Musiker und-Liebhaber-Generationen, sie prägte das Verständnis der Musik. Chuck Berry, we will miss you. Bye bye Johnny.




Rutger Booß und seine ungebremste Seniorenbeschimpfung

Mit Dr. Rutger Booß, Gründer und damals auch noch amtierender Chef des Dortmunder Grafit-Verlags (führend im Regionalkrimi-Fach), hatte ich für einige Jahre ein kleines Ritual. Kurz vor Abreise von der Frankfurter Buchmesse habe ich jeweils noch auf einen Kaffee beim Grafit-Stand vorbeigeschaut. Es gehörte irgendwie dazu. Dortmunder müssen zusammenhalten, auch auf kulturellem Gebiet. Jetzt steht Rutger Booß, inzwischen 72, auf seine etwas älteren Tage unversehens auf Platz 9 der „Spiegel“-Bestsellerliste (Rubrik Taschenbücher / Sachbuch), und zwar mit einer als Rundumschlag angelegten Seniorenbeschimpfung. Diese Ausgangslage verlockt zum Lesen.

„Immer diese Senioren! 111 Gründe, warum sie uns in den Wahnsinn treiben“ heißt das naturgemäß (selbst)ironisch eingefärbte, aber nicht etwa durchweg unernst gemeinte Werk. Ich gebe freimütig zu: Diese allfälligen 50-, 99-, 100- oder halt 111-Gründe Bücher gehen mir allmählich auf den Geist. Meistes folgen sie einer Masche. Der Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf preist das Buch denn auch als „Stapeltitel“ an und hat massiv die Buchhandlungen damit geflutet.

Immer in Beige, immer drängeln

Schon klar: Die Senioren werden immer mehr und haben schon jetzt enormen Einfluss auf die Politik. Also muss man sie mal verbal verdreschen. Tatsächlich lässt Rutger Booß kein gutes Haar an seinen Generationsgenoss(inn)en. Hier müssen sich die bedauernswerten Durchschnitts-Senioren alles, aber auch alles zurechnen lassen, was irgendwo alte Menschen verzapfen – seien es nun „Eliten“ und Promis jeder Sorte, Einzelne aus der Menge oder die breite Mehrheit, die dümmlich bis kriminell agiert haben. Nun aber `ran an die Beispiele, Feixen hie und da garantiert:

Der Rentner, der gemeinhin in Beige herumtapert, sich rüpelhaft an der Supermarktkasse vordrängelt und dort umständlichst das Kleingeld abzählt oder zittrig Auto fährt, wird ausgiebig verspottet. Bejahrte Menschen hassen Kinderlärm, werfen aber selbst den Laubsauger an, wann immer sie wollen. Sie hocken ständig beim Arzt und klagen über ihre Wehwehchen, fallen auf dämliche Werbung und Nepper, Schlepper, Bauernfänger herein.

Alte Männer: geil, geizig und gierig

Ältere Polit-Darsteller von hohen Fürchterlichkeits-Graden (z. B. Berlusconi, Robert Mugabe, Erika Steinbach, Gauland, Trump) oder betagtere Sportfunktionäre (Blatter, Beckenbauer, Ecclestone) werden wortreich verdammt. Sie haben es ja allesamt verdient. Doch ich konnte bei der Lektüre nicht umhin, beim Thema Senioren gelegentlich (sozialpolitisch korrekt) auch an Altersarmut, Pflegebedürftige und Demenz zu denken. Solche kleinlichen Bedenken muss man entschlossen beiseite schieben, will man ein solches Buch schreiben. Dabei ist Rutger Booß doch eigentlich eher links gestrickt.

Autor Rutger Booß (Foto: Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf)

Autor Rutger Booß (Foto: Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf)

Doch im Buch mag er’s paukenschlagend pauschal. Senioren machen demnach eigentlich nur dummes Zeug. Sie kommen nicht mit dem Internet klar, verhindern durch ihre schiere Beharrungs-Masse Innovationen bei ARD und ZDF, verdingen sich als quasi untote Gestalten (Gunter Gabriel, Rainer Langhans etc.) im „Dschungelcamp“. Alte Männer sind in der Regel geil, geizig und gierig. Ergraute Schriftsteller wie Roth, Updike, Begley und Martin Walser stier(t)en geifernd jungen Mädchen nach.

„Landplagen“, wohin man auch schaut

Seniorenscharen, die überall die Wege versperren, bevölkern Kreuzfahrtschiffe auf Flüssen und Meeren. Und wenn sie erst auf ihre E-Bikes steigen, ist alles zu spät. Alte Herrschaften verfassen peinliche Memoiren, schreien ihren Unmut im Theater auf offener Szene heraus, besitzen offenbar immens viele Waffen, sind Mitglieder in lachhaft vorgestrigen Schützen- und Gesangsvereinen, sind Geisterfahrer, Rechthaber, Unfallflüchtige und Stalkerinnen. Sie alle sind – so ein Lieblingswort in diesem Buch – eine „Landplage“.

„Das alles und noch viel meheeeer“ wird auf mitunter fast penetrante Weise breitgetreten und ausgewalzt. Hat man einmal den eingefahrenen Duktus intus, reichen hernach vielfach die bloßen Kapitel-Überschriften zur Orientierung. Vieles ist ja richtig, doch gar manches ist auch wohlfeil.

Bei den bunten Seiten bedient

Quellen für die üblen Nachreden sind vorwiegend die vermischten Meldungen aus Tageszeitungen bzw. Online-Auftritten, hinzu kommen Wikipedia und Internet-Posts. Nicht jede Herleitung dürfte formal und inhaltlich einer kritischen Überprüfung standhalten. Egal. Man will sich ja in seiner polemischen Absicht nicht bremsen lassen. Auf den bunten Seiten ist ja alles schon so herrlich zugespitzt. Man muss sich nur umsichtig bedienen, die Stellensammlung ordnen und gut verrühren. Ich behaupte mal frech, dass der ebenso sympathische wie kluge Rutger Booß ein Buch deutlich unterhalb seines eigenen Niveaus geschrieben hat.

Apropos Zeitungen: Das muss ich jetzt auch noch loswerden. Booß, der im beschaulichen Herdecke lebt (wo schon Jürgen Klopp sein Domizil hatte), also in unmittelbarer Nachbarschaft von Dortmund, zitiert sehr häufig ausgerechnet die heimische WR = Westfälische Rundschau. Ich finde das ärgerlich, denn die seit Anfang 2013 redaktionslose Zeitung wird nur noch mit fremden Inhalten (WAZ, Ruhrnachrichten) am zombiehaften Leben erhalten und ist als „WR“ eigentlich gar nicht mehr so recht zitierfähig. Das Blatt ist keine Quelle mehr, sondern nur noch Abfüllstation.

Bleibt eine Frage: Wer ist eigentlich mit dem wohlig kollektiven „Wir“ („Warum sie u n s in den Wahnsinn treiben“) gemeint? Alle unter 80, 70, 65, 60? Alle Menschen, die guten Willens sind? Alle Junggebliebenen und solche, die es werden wollen? Da haben wir jetzt was zum Grübeln.

Rutger Booß: „Immer diese Senioren! 111 Gründe, warum sie uns in den Wahnsinn treiben“. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf. Taschenbuch, 272 Seiten. 9,99 €.




Selten satanisch, meistens aufklärerisch: Umberto Ecos kurzweilige Kolumnen zur „flüssigen Zeit“ der Gegenwart

Wenn prägende Gestalten der Geisteswelt verstummen, so mag man dennoch Denkart und Tonfall nicht missen. Es soll noch etwas bleiben, möglichst sogar bislang Unbekanntes aufscheinen. Also wird der Nachlass durchgesehen oder Fragmentarisches posthum herausgebracht. Im Falle von Umberto Eco (1932-2016) liegt nun ein Buch vor, das er – zumindest im italienischen Original – offenbar noch selbst besorgt hat.

Unter dem etwas kryptischen Titel „Pape Satàn“ (geht auf Dantes „Göttliche Komödie“ zurück, reflektiert wohl allerlei Teufeleien, hat aber laut Eco Interpreten scharenweise verzweifeln lassen) gibt es jetzt weitere „Streichholzbriefe“ zu lesen, jene kurzen Kolumnenbeiträge, für die Eco sich Stichworte just auf den leeren Innenseiten von Streichholzheftchen notiert hat.

Notizen auf Streichholzheftchen

Das Vorwort zur 2016 in Italien erschienen Zusammenstellung stammt noch von Eco selbst, also war er gewiss auch an der Textauswahl beteiligt. Insofern darf das Buch als eine Edition letzter Hand gelten, für die deutsche Ausgabe gilt dies freilich nur sehr bedingt.

In der Einleitung rechnet Eco vor, er habe ab 1985 (zunächst wöchentlich, dann alle 14 Tage) Kolumnen fürs Nachrichtenmagazin L’Espresso verfasst, macht über 400 in den Jahren 2000 bis 2015. Aus diesem neueren Fundus stammen also die vorliegenden Streiflichter, die sich kreuz und quer über die Themenfelder der unübersichtlichen Gegenwart bewegen. Es kann bei dieser Textsorte nicht um den ganz großen Wurf gehen, sondern eher um zugespitzte Denkanstöße. Gerade das garantiert Kurzweil.

Schwund des Verlässlichen

Eco konstatiert den Schwund alles Festen und Verlässlichen, Welt und Zeit hätten sich gleichsam verflüssigt, die Geschichte werde von lauter Jetzigem überschwemmt. Als eine Haupttriebkraft solcher Entwicklungen macht der Autor – nicht allzu überraschend – das Internet aus, das für ihn spürbar „Neuland“ bedeutet.

In Zeiten des Netzes wolle jeder gesehen und oder anderweitig wahrgenommen werden – egal wie. Auch kein sonderlich origineller Befund, möchte man meinen. Doch Vorsicht mit solchen Urteilen. Man sollte stets die Jahreszahl unter den einzelnen (nicht chronologisch geordneten) Beiträgen berücksichtigen. Anno 2000 oder 2002 war manches in der virtuellen Welt noch nicht so sichtbar wie heute. Und auch Schriftsteller vom Schlage eines Umberto Eco müssen sich erst einmal zurechtfinden. Dafür denken sie dann auch gründlicher als so mancher vorlaute „Netzaktivist“.

Rabiat gegen Handymanie

Vor dem Hintergrund eines von ihm behaupteten Generationenkriegs (Alt gegen Jung) kann Eco freilich auch schon mal ziemlich rabiat austeilen. 2015 hat er äußerst aggressiv gegen die allgegenwärtige Handymanie gewettert. Zitat: „Eigentlich müsste man diese hektischen Dauertelefonierer schon als Kinder töten, aber da nicht jeden Tag ein Herodes zu finden ist, empfiehlt es sich, sie wenigstens als Erwachsene zu bestrafen…“ Das klingt wirklich mal ziemlich satanisch…

Nicht ohne Entsetzen stellt Eco fest, dass das Netz so vieles mit sich reißt. Es verändert die Lyrik. Es verlagert alle Magie in die Technik. Es sorgt für permanente Sex-Aufstachelung. Und so weiter. Ein kritischer Umgang mit diesem krakenhaften Medium ist das Mindeste, was demnach anzuraten wäre. So schlägt Eco auch vor, dass Zeitungen regelmäßige Internet-Kritiken veröffentlichen sollen, um ganz allmählich die Spreu vom Weizen zu trennen. Hört sich nach dem Bohren sehr dicker Bretter an. Wahlweise auch nach einer Luftnummer. Aber man könnte es ja mal probieren.

Verschwörung und Verschleierung

Eco steht in bester aufklärerischer Tradition. Sehr zeitgemäß muten seine betont nüchternen Überlegungen zu Verschwörungstheorien an. Eine Erkenntnis: Natürlich gibt es tatsächlich etliche Verschwörungen, aber eben nicht die eine große Weltverschwörung, auf die alles zurückzuführen wäre. Was zu beweisen war.

Ähnlich nüchtern, pragmatisch und unaufgeregt (den Klischees zufolge fast so, als wäre er ein Engländer und kein Italiener) legt Eco beispielsweise dar, was vom Antisemitismus zu halten ist. Auch sinnt er über Verschleierung nach und kommt u. a. zu diesem speziellen Befund: „Versteht man unter Schleier jene Art von Kopftuch, bei der das Gesicht unbedeckt bleibt, dann mag ihn tragen, wer will (zumal er, wenn hier ein unbefangenes ästhetisches Urteil erlaubt ist, das Gesicht veredelt und alle Frauen wie Madonnen von Antonello da Messina aussehen lässt).“ Übrigens spricht sich Eco auch gegen das böswillige Karikieren jeglicher Religion aus…

Was Prosa von Poesie unterscheidet

In den Beiträgen, die summarisch mit „Über Schreiben und Lesen“ betitelt sind, befürwortet Eco kalligraphische Übungen, weil seit Erfindung des Kugelschreibers das hässliche Schreiben überhand genommen habe. Erfreut konstatiert er ein staunenswertes Interesse vieler junger Leute an Literatur und Philosophie (mit Massenpublikum bei Lesungen und Diskussionen), lässt sich über Sinn und Unsinn akademischer Festschriften aus und erläutert den Unterschied zwischen Prosa (erst die Dinge, dann die Worte) und Poesie (erst die Worte, dann die Dinge). Anhand dieser kurzen Aufzählung merkt man schon: Der schmale Band bietet reichlich Abwechslung.

Eins noch, eher nebenbei: Den Anmerkungen des Übersetzers Burkhart Kroeber lässt sich entnehmen, wie viel substanzielle, von Eco angeführte Literatur bisher nicht ins Deutsche übertragen worden ist – und das, wo die Deutschen doch als weltweit fleißigste literarische Übersetzer gelten.

Umberto Eco: „Pape Satàn“. Chroniken einer flüssigen Gesellschaft. Für die deutsche Ausgabe ausgewählt, übersetzt und eingerichtet von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag. 222 Seiten. 20 €.

 

 

 




Große Bekenntnismusik – das Quatuor Danel interpretiert Streichquartette von Weinberg und Schostakowitsch

Das belgische Quatuor Danel besticht durch äußerst subtiles Spiel. (Foto: Ant Clausen)

Im vergangenen Jahr feierte das belgische Quatuor Danel sein 25jähriges Bestehen. Längst ist es auf vielen Podien der Welt zu Gast, doch noch immer gilt dieses Streichquartett als Geheimtipp, zumindest in unseren Breiten. Das sollte sich dringend ändern: Marc Danel und Gilles Millet (1./2. Violine), Vlad Bogdanas (Bratsche) und Yovan Markovitch (Cello) sind in ihrem subtilen, expressiven und hoch konzentrierten Spiel ein fabelhaftes Ensemble. Das hat jetzt ihr Auftritt im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier (MiR), mit Werken von Mieczyslaw Weinberg und Dmitrij Schostakowitsch, aufs Eindrucksvollste bewiesen.

Der Abend gehört zum attraktiven, sehr umfangreichen Begleitprogramm, das sich um die Aufführung von Weinbergs Oper „Die Passagierin“ rankt. Das musikalische Drama um eine ehemalige KZ-Aufseherin, die auf einer Schiffsreise nach Südamerika einem ihrer ehemaligen Opfer begegnet, wurde im Januar von Gabriele Rech bewegend in Szene gesetzt.

Doch der Pole Weinberg, dessen Familie im Holocaust umkam, und der selbst schon 1939 in die Sowjetunion emigrierte, hat unendlich viel mehr komponiert als diese Oper, darunter allein 17 Streichquartette. Das Bestreben des MiR, dieses Œuvre zumindest ein wenig aufzufächern, ist dem Haus hoch anzurechnen.

Mit dem Quatuor Danel hat man vier Experten eingeladen, die sowohl alle Streichquartette von Schostakowitsch als auch von Weinberg eingespielt haben. Beide Komponisten verband eine innige Freundschaft, das Werk des jüngeren Polen verweist im übrigen nicht selten auf die Musik des Russen.

Doch von bloßer Apologetik kann keine Rede sein, das zeigt die Programmauswahl des Abends: Weinbergs 5. und 16. Quartett umrahmen das 10. von Schostakowitsch. Ähnlichkeiten sind natürlich unüberhörbar, aber jeder pflegt doch seine eigene „Sprache“. En détail kitzelt das Quatuor Danel die jeweilige Idiomatik so präzis wie lustvoll heraus.

Weinberg schrieb sein 5. Quartett 1945. Das fünfsätzige Werk kommt oft in karger Faktur daher, der Beginn etwa (Melodia) oder die „Improvisation“ wird überwiegend von der 1. Violine intoniert. Es ist eine ganz eigene, etwas verhangene lyrische Intimität, die so entsteht, ein bittersüßer Tonfall, der ohnehin wesentliches Merkmal von Weinbergs Musik ist. Marc Danel gestaltet diese Solostellen betörend schön und intensiv, seine Mitstreiter, vor allem Cellist Yovan Markovitch, steuern wunderbare Klangflächen oder delikate Gegenstimmen bei.

Andererseits können diese vier Streicher durchaus zupacken, das Scherzo des 5. Quartetts wird so an Schostakowitschs Sarkasmus herangerückt. Gleichwohl bleibt die Distanz: Bei Weinberg regiert eher der subtile Spott. Und die Interpretation des Quatuor Danel lässt mehr an die robusten Attacken Beethovens denken. Die vier Musiker legen dabei bisweilen einen geradezu stoischen Zugriff an den Tag – sehr wirkmächtig ist das, gar nicht mechanisch.

Noch intensiver gerät die Deutung von Weinbergs Streichquartett Nr. 16, komponiert 1981, zum Andenken seiner im KZ ermordeten Schwester. Fahle Klänge wechseln mit wild herausfahrenden, dissonanten Passagen, die mitunter wie ein Aufbäumen wirken. Die Elegie des 3. Satzes atmet Trauer und Schmerz, das Finale gleicht einem zärtlich ummantelten Totentanz. Neben dem jüdischen Idiom, das dieses Werk durchzieht, fällt zudem die Nähe zu Bartók auf.

Beide Weinberg-Stücke umschließen Schostakowitsch 10. Quartett, das der Russe seinem jüngeren Freund gewidmet hat. Es beginnt eher verhalten, das Staccato-Thema erfährt einige Varianten ohne wirkliche Entwicklung, und nur die gespenstisch enervierenden Repetitionen lassen Unruhe ahnen. Die bricht im Allegretto furios, energisch, mit schroffen Akzenten heraus, im scharfen Kontrast zur Klage des 3. Satzes mit seinen fahlen, wie weltverlorenen Klangmischungen. Das Finale greift auf vorherige Motive zurück, verliert zunehmend an Dichte, und wo eben noch Rausch, herrscht letztlich das karge Verlöschen.

So zelebriert das Quatuor Danel einen Abend mit facettenreicher Bekenntnismusik. Das ist so spannend wie herzergreifend, in keinem Falle aber sentimental. Ein außerordentliches Konzert.

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Nächstes Ereignis des Weinberg-Programms am MiR ist ein Gesprächskonzert mit dem Geiger Linus Roth und dem Pianisten José Gallardo am 26. März 2017 im Kleinen Haus (18 Uhr). Es erklingen wiederum Werke von Weinberg und Schostakowitsch. Info unter www.musiktheater-im-revier.de




Viele, liebe, beste, schöne, freundliche, herzliche Grüße: Die etwas unklare Rangordnung der Grußformeln

Handschriftlich wirkt es sowieso anders...

Handschriftlich wirkt es sowieso anders…

Gibt es eine Art Hierarchie der schriftlichen Grußformeln? Inwiefern liest sich und klingt die eine vielleicht eine Spur freundlicher als die andere? Und was geht wirklich zu Herzen?

Bevor wir zur Sache schreiten: „Moin“ läuft außer Konkurrenz und ist auf seine lakonische Art eh unübertrefflich. Gepriesen seien die Friesen. Allerdings kann man das Wörtchen nicht unter jede Korrespondenz setzen. Schade eigentlich.

Abkürzungen wirken eher achtlos

Eine sehr gängige, zuerst wohl von Frauen und heute allgemein verwendete Formel lautet „Liebe Grüße“. Sie hört sich immer ein wenig harmlos an. Man versichert treuherzig: „Ich bin ganz lieb und tu dir nichts zuleide.“ Die Abkürzung LG wirkt hingegen eher wie eine gar zu rasche Pflichtübung und könnte auch Leichtathletik-Gemeinschaft bedeuten.

„Mit freundlichen Grüßen“ oder die angeblich modernere Variante „Freundliche Grüße“ kommen am häufigsten vor, es handelt sich mithin um die schiere Üblichkeit und abgespeicherte Routine. Das schreibt sich einfach so hin. Gedankenlos. Man kann damit nichts falsch machen, gewinnt damit niemanden zum Freund oder schon gar nicht zum Feind. Es bleibt die schwer zu beantwortende Frage, ob die Einzahl („Mit freundlichem Gruß“) eine kaum spürbare Minderung darstellt. Die Abkürzung „MfG“ wiederum kommt achtlos daher.

Gibt es auch unschöne Grüße?

Ziemlich unentschieden im Mittelfeld der Zu- und Abneigungen bewegt sich die Floskel „Beste Grüße“, mir erscheint sie immer ein wenig wie eine Ausflucht. So richtig verbindlich ist sie nicht. Gibt es denn eigentlich auch zweit- und drittbeste Grüße? Und wie verhält es sich mit den schlechteren und schlechtesten Grüßen? Ähnliche Fragen nach weniger schönen, unschönen und hässlichen Grüßen könnte man auch angesichts der Wendung „Schöne Grüße“ stellen; wenn man denn ein pedantischer Misanthrop wäre und alles, aber auch alles mit dem Gift seines Zweifels…

Mit Umarmungs-Gestik kommen „Herzliche Grüße“ daher, man soll sich als Adressat just ins Herz geschlossen fühlen. Jedem Dahergelaufenen würde man solche Grüße wohl nicht entbieten wollen. Manche unterzeichnen ihre Schreiben einfach mit „herzlich“ oder sogar „herzlichst“, was oft ein wenig übertrieben anmutet. Und wenn man mit „in Liebe“ unterfertigt, schwebt man eh auf Wolken.

Die Menge macht es nicht allein

Wer „Viele Grüße“ sendet, will vielleicht mit der bloßen Menge überwältigen. Wobei die Zahl der „vielen“ Grüße ja sehr unbestimmt bleibt. Vielleicht sind es nur neun oder dreizehn Grüße, wer weiß. Aber wer wird denn heute noch altfränkisch formulieren „Es grüßt vieltausendmal…“?

Kleiner Exkurs: Ziemlich lau hört sich die (eher gesprochene als geschriebene) Formel „Grüß Dich!“ an. Ja, was denn sonst? Man grüßt, indem man sagt, dass man grüßt… Brieflich entspricht dem ungefähr „Es grüßt Sie…“ Da sind ja die weithin nur noch leicht ironisiert verwendeten „Grüß Gott“, „Gott zum Gruße“, „Grüezi“ oder „Servus“ noch prägnanter.

Im Revier darf’s auch „Glückauf“ sein

Vom möchtegernwitzigen, elend ausgelutschten „Grüß Gott, wenn du ’n siehst…“ sehen wir mal ganz ab, wohingegen gerade im Ruhrgebiet ein regional traditionssattes „Glückauf“ durchaus angebracht sein kann.

Wenn wir schon bei Regionen sind: „Mit freundlichen Grüßen aus der Hauptstadt Berlin“ ist womöglich eine Ich-zentrierte Anmaßung. Wie es ganz richtig in einem Internet-Ratgeber heißt, dürfte dabei ein Subtext mitschwingen: „Ich grüße dich, den Provinzheini, aus meiner glanzvollen Metropole.“ Mehr auf den Empfänger bezogen, könnte es hingegen auch heißen „Mit freundlichen Grüßen nach Hamburg“ oder gar „Mit freundlichen Grüßen ins sonnige Freiburg“. Andere Orte dürfen jederzeit sinngemäß eingesetzt werden.

Die so ziemlich unfreundlichste Variante, welche ausgesprochen harsch und unwirsch sich anhört, lautet schlichtweg: „Gruß“. So barsch wie ein militärischer Befehl, eher gebellt als gesagt. Wenn das unter einem Brief steht, hat man auch zuvor nichts allzu Freundliches gelesen; eher schon Dinge, die nachher mit der Rechtsschutzversicherung geregelt werden könnten.

Höfisch und höflich

Zu untersuchen bliebe beispielsweise, ob wir im Deutschen weniger Möglichkeiten zum fein differenzierten Grüßen haben als Länder, in denen Adel und Monarchie noch länger oder intensiver eine prägende Rolle spiel(t)en.

Nicht von ungefähr klingen höfisch und höflich verwandt. Tatsächlich gibt es noch jene wohlerzogenen Zeitgenossen, darunter auch ein mir bekannter Rechtsanwalt, die unter ihre Briefe/Mails ein gar zierliches „Höflich grüßt…“ ziselieren. Andere Rechtsvertreter dürfte er wohl „Mit kollegialem Gruß“ bedenken.

Was der Bundeskanzlerin zusteht

Wir erinnern uns leicht gequält an die früher noch viel gebräuchlichere Wertmarke „hochachtungsvoll“ (die bei weitem nicht immer für bare Münze zu nehmen war) und steigen nunmehr einige Stufen auf der gesellschaftlichen Leiter hinauf. Im Wikipedia-Artikel über Grußformeln, in dem es auch heißt, „hav“ sei eine gängige Abkürzung für „hochachtungsvoll“ gewesen, habe ich gefunden, dass unter einem Schreiben an den Bundespräsidenten (falls man ihm denn mal ein paar Zeilen schicken möchte) gefälligst „vollkommene Hochachtung“ zu stehen hat.

Der Bundeskanzlerin, dem Bundestagspräsidenten sowie dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts – Frauen bitte immer mitdenken – stünde derweil dienstgradmäßig „ganz ausgezeichnete Hochachtung“ zu. Bei einem Bundesminister oder Ministerpräsidenten ist es nur noch die „ausgezeichnete Hochachtung“, anderen hohen Amtsträgern käme „vorzügliche“ oder „besondere“ Hochachtung zu. Wäre man denn ein Spezi solcher Hochgestellten, könnte man bei eher privaten Angelegenheiten vielleicht „In (alter) Verbundenheit“ hinsetzen.

Schachspieler und Piloten

Ehedem standen derlei Feinheiten vor allem in so genannten „Briefstellern“, in denen man formvollendete Muster vorfand. Eine zunächst noch halbwegs ehrfürchtig, hernach mit viel Spott quittierte Kindheits- und Jugendlektüre hieß zu unserer Zeit „Der gute Ton“. Auch darin standen solche Sachen, die man heute kaum noch nachvollziehen kann, auch wenn immer mal wieder eine Renaissance des Benimms ausgerufen wird.

Apropos: Bei Wikipedia gilt als „veraltete Grußformel“ die folgende: „Mit größtem Respekt und bewundernder Hochachtung verbleibe ich in demütiger Hoffnung…“ Soll man sich heute so devot an ein rabiates Inkasso-Unternehmen oder an Schutzgeldeintreiber wenden? Schlechten Scherz beiseite.

Wie fast bei allen Themen, so öffnet sich auch hier bei näherem Hinsehen ein gar weites Feld, das jederzeit auf Buchstärke anwachsen könnte. Was ist beispielsweise mit speziellen Formen wie „Mit sozialistischem Gruß“, „Mit schachlichem Gruß“, „Glück ab, gut Land“ (Piloten) oder gar „vy 73“ (angeblich unter Funkamateuren üblich)?

Und wie sehen eigentlich zeitgemäße bzw. modische Grüße aus? Spontan fallen mir „Die Macht sei mit Dir“ oder „Keep calm and carry on“ ein. Den schmalen Rest mögt ihr Euch selbst ausmalen.

Und so verbleibe ich mit den besten Empfehlungen Euer

Bernd Berke

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P. S.: Ein Unternehmer (Kaffeebranche), bei dem ich vor Jahr und Tag mal überteuert zur Miete gewohnt habe, gab mir morgens immer seine – übrigens stets bissig erzkonservativen – Leserbriefe mit auf den Weg zur Zeitung. E-Mail hatte man damals noch nicht. Als Anrede (ein Thema für sich) an mich schrieb er immer „SGH Berke“, was „Sehr geehrter Herr“ heißen sollte, aber formell nahezu aufs Gegenteil hinauslief. So viel zum Thema: Kann man jemanden mit Gruß- und Anredeformeln düpieren?




Geballte Frauenkultur: Thea Dorn und Maria Schrader präsentieren Geschichten von Lucia Berlin auf der lit.COLOGNE

Frauen sind treue Leserinnen. Das sagt auch die Statistik: Sie kaufen und lesen ca. 15% mehr Bücher als Männer.

Der Trend war jüngst wieder auf der lit.COLOGNE zu beobachten, wobei man fairerweise sagen muss, dass hier die geballte Frauenkultur am Werke war: Thea Dorn vom Literarischen Quartett moderierte eine Lesung mit der Schauspielerin Maria Schrader, die Kurzgeschichten der amerikanischen Autorin Lucia Berlin (1936-2004) vorstellte.

Alibi-Männer in der Minderheit

Über 800 Zuschauer drängten sich im großen Saal der Flora am Kölner Zoo, wobei die mitgebrachten Alibi-Männer eindeutig in der Minderheit waren. So fotografierte der Herr schräg vor mir denn auch lieber die imposanten Kronleuchter und den malerischen Ausblick durch die bodentiefen Fenster zum Park als hingebungsvoll den vorgetragenen Texten zu lauschen. Aber wahrscheinlich tue ich ihm Unrecht, denn bestimmt war der Mann einfach nur besonders multitaskingfähig.

Die Kurzgeschichten hatten es auf jeden Fall in sich: Nicht von ungefähr ist Lucia Berlins Schreiben mit dem Raymond Carvers verglichen worden. Äußerst lakonisch, manchmal sogar grausam beschreibt sie Erlebnisse von Außenseiterinnen und verwandelt so auch ihr eigenes bewegtes Schicksal in Literatur. Die biographischen Anmerkungen von Thea Dorn erhellen dabei den Zusammenhang von Leben und Werk. Die Amerikanerin Lucia Berlin kam aus guten Hause, der Vater war Bergbauingenieur, die Mutter stammte aus einer reichen texanischen Familie, die jedoch ihr Vermögen beim Börsenkrach verlor und in der Folge eine große Anzahl Alkoholiker produzierte.

Schreiben, um dieses Leben zu ertragen

Als Kind zog Lucia Berlin wegen des Jobs des Vaters oft um, so lebte sie einige Jahre in Südamerika. Außerdem litt sie unter der Knochenkrankheit Skoliose, die sie zwang, ein schmerzendes Korsett zu tragen. Als Erwachsene war ihr Lebensglück allenfalls wechselhaft: Sie war dreimal verheiratet, alleinerziehende Mutter von vier Söhnen und zeitweise selbst Alkoholikerin. Erst spät bekam sie eine Stelle an einer Universität, zuvor schlug sie sich mit Gelegenheitsjobs mehr schlecht als recht durch.

Doch die ganze Zeit über schreib sie, wohl auch, um dieses Leben zu ertragen: In ihren Geschichten wechseln düstere Familienepisoden mit Schilderungen aus dem von Mobbing geprägten Schulalltag in Südamerika sowie vielen Szenen aus dem Milieu der sozial Benachteiligten und Kranken, das sie durch ihre Jobs in Krankenhäusern und Arztpraxen kannte. Die erschütterndste Geschichte aber fand ich in ihrer autobiographischen Schilderung der hemmungslosen Sucht einer Säuferin, die unbedingt an Stoff kommen muss, bevor die Kinder morgens aufwachen…

Erst 2015 wurde ihr Werk wiederentdeckt, durch einen Freund, der eine Auswahl ihrer Geschichten in einem Erzählband versammelte. Diese sind unter dem Titel „Was ich sonst noch verpasst habe“ im Arche-Verlag auf Deutsch erschienen.

Am Büchertisch im Foyer ist der Andrang nach der Lesung groß: Nicht nur Frauen, sondern auch Männer sind überzeugt worden und möchten das Buch unbedingt kaufen…

Die lit.COLOGNE dauert noch bis zum 18. März: www.lit-cologne.de




Ein kleines Museum mit Küchen und mehr als 700 Kochbüchern

Draußen sieht und riecht man den Frühling – Zeit für den Garten oder für einen Ausflug. Schöne Ziele gibt es im Ruhrgebiet, zum Beispiel das kleine Henriette-Davidis-Museum in Wetters Ortsteil Wengern – dort, wo die berühmte Köchin am 1. März 1801 geboren wurde. Gestorben ist sie übrigens am 14. April 1876 in Dortmund, und auf dem dortigen Ostfriedhof findet man auch noch ihr Grab.

Kochbücher sind auch in Zeiten von chefkoch.de noch sehr nützlich. (Foto Pöpsel)

Davidis war eine Pfarrerstochter, die im Elternhaus in Wengern und in verschiedenen fremden Haushalten das Kochen gelernt hatte und ihr Wissen in Buchform weitergeben wollte. Es gab zwar in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits neben privaten, mit der Hand geschriebenen Koch-Tagebüchern auch gedruckte Kochbücher, doch keines  war im deutschsprachigen Raum so folgenreich wie Davidis‘ „Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche“. Insgesamt kam es auf 21 Auflagen, es wurde in vielen Familien über Generationen hinweg weitergegeben, und der von Davidis geprägte Satzanfang „Man nehme…“ ist auch heutigen Köchen noch geläufig. Manche Rezepte allerdings kann man heute kaum noch benutzen, zum Beispiel die Anleitung, wie man einen Kapaun zubereitet.

Neben diesem Kochbuch schrieb Henriette auch ein Buch für die kleine Puppenköchin sowie Anleitungen zur Erziehung junger Mädchen. In einem kleinen Fachwerkhaus in Wengern, dem ehemaligen Mühlenhäuschen, gibt es seit 1994 das Henriette Davidis gewidmete Museum. Es geht zurück auf und wird heute noch geleitet von dem evangelischen Pfarrer Walter Methler.

Neben Küchen- und Haushaltsgeräten findet man in dem Haus auch etwa 700 verschiedene Ausgaben und Auflagen der Davidis-Werke, unter anderem eine in den USA erschienene Fassung, die für die dortigen deutschsprachigen Einwanderer gedruckt worden war.

Henriette-Davidis-Museum, Elbescheweg 1 in 58300 Wetter, Tel. 02335-61116. Geöffnet jeweils am 1. Sonntag im Monat von 15 bis 17 Uhr. Führungen zu anderer Zeit nach Absprache.

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Das Wirken von Henriette Davidis stand bzw. steht auch im Mittelpunkt des Deutschen Kochbuchmuseums in Dortmund, das allerdings zur Zeit wegen Umzugs und Erarbeitung eines neuen Konzepts geschlossen ist.




Mutmaßlicher Kindesmörder in Herne gefasst: Warum muss man den vollen Namen von Marcel H. kennen?

Zunächst einmal dies, das Allerwichtigste: Man kann nur sehr erleichtert sein, dass Marcel H. (19), der mutmaßliche Kindesmörder von Herne, gestern Abend festgenommen worden ist.

Er selbst hat dem Inhaber einer griechischen Imbissstube in Herne gesagt, er sei der seit drei Tagen Gesuchte und hat von dort aus selbst die Polizei angerufen.

Kann man ein solches Thema abstrakt bebildern? Ja, das ist vielleicht sogar das Beste. (BB)

Kann man ein solches Thema abstrakt bebildern? Ja, das ist für ein Kulturblog vielleicht sogar das Beste. (Foto: BB)

Im Ruhrgebiet war und ist es d a s Thema dieser Tage. Wohin man auch kommt, so gut wie überall wird darüber gesprochen. Als Vater kann ich – natürlich auch nur bis zu einem gewissen Grade – nachfühlen, was Eltern, Verwandte und Freunde des erstochenen neunjährigen Jungen durchmachen.

Trotz allem die Rechtstreue wahren

Ja, man kann sogar nachempfinden, dass nicht alle Regungen, die sich nun mehr oder weniger offen Luft verschaffen, den rechtsstaatlichen Prinzipien entsprechen. Doch gerade, wenn man sich etwa über antidemokratische Tendenzen in anderen Ländern empört, muss man auch in einem solchen Falle strikt rechtstreu vorgehen. Die Tat muss möglichst zweifelsfrei und gerichtsfest bewiesen werden. Erst dann kann die Strafe folgen.

Mit der Verhaftung sind längst nicht alle Fragen beantwortet. Die Polizei wird noch einige Zeit weiter ermitteln müssen. Nach dem jetzigen Stand gibt es zwei Opfer und Marcel H. wäre ein Doppelmörder.

Pressekonferenz mit neuen Erkenntnissen

Um 16 Uhr hat es heute eine Pressekonferenz in Dortmund gegeben, die auf mehreren Info-Kanälen live übertragen wurde und auf der verstörende Details bekannt wurden. Mehrere Ermittler sprachen von „Neuland“, das sie in ihrem bisherigen Berufsleben noch nicht betreten hätten.

Demnach hat Marcel H. inzwischen den Mord an dem 9-jährigen Jungen gestanden und auch zugegeben, einen 22-jährigen flüchtigen Bekannten in dessen Herner Wohnung erstochen zu haben. Dann hat er laut Geständnis dort Feuer gelegt, um Spuren zu verwischen. Bei seiner Vernehmung soll Marcel H. „eiskalt und emotionslos“ gewirkt haben, so Klaus-Peter Lipphaus, Leiter der zuständigen Bochumer Mordkommission.

Äußerst wirr und vergleichsweise läppisch klingen die vermeintlichen Beweggründe für die blutrünstigen Taten, die jeweils mit Dutzenden von Messerstichen ausgeführt wurden. Zum einen habe es eine Absage der Bundeswehr gegeben, hinzu kam offenbar der Umzug in eine Nachbarstadt, wo der computerspielsüchtige Marcel H. angeblich keinen Internetzugang gehabt hätte. Wie es hieß, wollte er sich deswegen zunächst das Leben nehmen, doch mehrere Suizid-Versuche seien misslungen…

Während der gesamten Pressekonferenz war übrigens abgekürzt von „Marcel H.“ die Rede. Warum ich das so betone, wird sich gleich zeigen.

Eine gierige Klick-Maschine

Ursprünglich ging es mir eigentlich um etwas anderes, nämlich um das abermals fragwürdige Verhalten mancher Medien in den letzten Tagen.

Gewiss, auch andere haben stellenweise zweifelhaft berichtet, doch habe ich ein Angebot etwas genauer beobachtet, weil das Medium eben mitten im Revier sitzt und somit besonders nah am Geschehen war: Ich meine den Online-Ableger der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ / Funke-Gruppe), www.derwesten.de

Dieser Auftritt hat kürzlich ein neues Erscheinungsbild erhalten, auch sind Konzept und Stoßrichtung geändert worden. Es handelt sich, wie ich finde, seither zu großen Teilen nicht mehr um eine herkömmliches journalistische Offerte mit (selbst)kritischer Balance. Sondern?  Um eine gellend boulevardeske, unentwegt nach Aufmerksamkeit gierende Klick-Maschine, die furchtbar gern jüngere (Werbe)-Kunden ansprechen möchte und die User daher munter duzt. Das kann einem schon unter normalen Umständen gehörig auf die Nerven gehen.

Infos auch für notorische Gaffer

Im Falle Marcel H. hat derwesten.de freilich mehrfach den Bogen überspannt. Sehr früh schon, nämlich bereits in den Morgenstunden am vergangenen Dienstag, hat man den vollen Namen des dringend Verdächtigen (der sich angeblich im Internet mit der Tat gebrüstet hatte) genannt. Hier geht es keineswegs um Mitleid mit dem mutmaßlichen Mörder, sondern um sein familiäres und sonstiges Umfeld. Besonders in Herne selbst gibt es wahrscheinlich viele, die mit dem Namen etwas anfangen können, etwaige Spinner und Idioten eingeschlossen.

Auch mögliche Gaffer und vielleicht auch Trittbrettfahrer wurden sozusagen bestens bedient. Man las in den vielfach aufgeregt-kurzatmigen Berichtsfetzen nicht nur den Straßennamen des Tatorts, sondern konnte auf Fotos auch Hausnummern erkennen und hätte sich vermutlich einiges erschließen können, um ungebeten „vor Ort“ aufzutauchen.

Dass es durchaus anders geht, belegt die gedruckte WAZ. Dort wird noch auf der heutigen Titelseite der Name des mutmaßlichen Täters abgekürzt – was der Berichterstattung übrigens keinerlei Abbruch tut und nichts von ihrer Brisanz nimmt.

Das Fahndungsfoto hätte genügt

Das von der Polizei herausgegebene Fahndungsfoto hätte vollauf genügt. Schließlich hatten die Beamten dringend davor gewarnt, den eventuell bewaffneten Kampfsportler Marcel H. anzusprechen oder gar auf eigene Faust stellen zu wollen. Sofort die Polizei anrufen, so lautete die richtige Anweisung. Wozu also der vollständige Name? Polemisch gefragt: Sollte man sich etwa als Passant seinen Ausweis zeigen lassen?

Bemerkenswert, dass derwesten.de am Dienstagnachmittag vorübergehend zurückruderte und den Namen wieder zu Marcel H. abkürzte; sei’s, dass ein mahnender Hinweis aus der Rechtsabteilung gekommen war, sei’s, dass jemand mit Weisungsbefugnis in der Redaktion ein Einsehen hatte.

Doch ach, die Zurückhaltung währte nicht lange. Kaum war klar, dass inzwischen auch andere Medien gleichfalls mit dem kompletten Namen herausrückten, stieg auch derwesten eilends wieder damit ein. Die Dämme waren nun einmal gebrochen. Geradezu genüsslich hieß es nun auch wieder, der mutmaßliche Täter werde „gejagt“.

Kläglich hilflose Wortwahl

Als er schließlich gefasst war, lautete die kläglich hilflose Formulierung, die Polizei habe ihn „geschnappt“. Leute, wir sind hier nicht bei einem harmlosen Spielchen wie „Spitz, pass auf!“ – „Geschnappt“, das kann man vielleicht mal bei einem x-beliebigen Taschendieb sagen, aber doch nicht bei einem mutmaßlichen Kindermörder. Da gibt es einige passendere Worte.

Der im Grunde schrecklich banale Vorgang, dass Marcel H. sich in einer Imbissbude gestellt hat, wird in einem Anreißer so aufbereitet, um nicht zu sagen „hochgehottet“: „So abgebrüht und dreist stellte … (voller Name) sich den Behörden„. Die dürren Mitteilungen, die dann folgen, rechtfertigen die vollmundige Ankündigung nicht.

Auch nach der besagten Pressekonferenz tönte man bei derwesten.de lauthals weiter. Zitat: „Eiskalt, aber er stach 120 Mal zu…“ Was das eingeschobene „Aber“ genau zu bedeuten hat, erschließt sich nicht. Und welch‘ eine Meisterleistung: die Stiche beider Mordtaten zu addieren und als summarische Horrorzahl zu präsentieren.

So sehr und mit allen technischen Mitteln (Texte, Fotos, Filme etc.) warf sich derwesten auf die Berichterstattung, so rundum wurde alles „gecovert“, dass man punktuell schon von Panikmache sprechen konnte. Der Informationsauftrag wurde gleichsam übererfüllt. Spürbar war die Konkurrenz mit der „Bild“-Zeitung, von der man sich im Kern des Ruhrgebiets keinesfalls übertrumpfen lassen wollte (und die – wen wundert’s? – auch ohne sonderliche Skrupel berichtete).

Nicht alles auf die Goldwaage, aber…

Übrigens, nur zum Beispiel: Auch der öffentlich-rechtliche WDR 2-Hörfunk hat nicht durchweg mit Maß und Ziel berichtet. Heute ließ man ohne Not und ohne jegliche Relativierung eine Hernerin im O-Ton zu Wort kommen, die ihr Kind seit Tagen nicht zur Schule geschickt und sich selbst in der Wohnung verbarrikadiert hatte. Und dann gleich wieder Musik…

Zurück zu derwesten.de: Ja klar, ich habe gut reden. In der allgemeinen Hektik kann man wohl nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Allerdings: Gedruckt stünde es für alle Zeiten da, online könnte man noch ein paar Kleinigkeiten korrigieren. Vor allem aber wäre es gut, wenn man merken würde, dass die Redaktion einen halbwegs verlässlichen Kompass hat.

Man kann allerdings neuerdings öfter den Eindruck bekommen, dass derwesten.de drauf und dran ist, den (auch nicht stets über jeden Zweifel erhabenen) journalistischen Ruf der WAZ in Mitleidenschaft zu ziehen.

 

 




Zwischen Abstraktion und „Was wäre wenn“: Gelsenkirchen stemmt „Tristan und Isolde“ mehr als achtbar

Liebeserkenntnis vor Schiffssegel: Szene aus dem 1. Akt „Tristan und Isolde“. (Foto: Karl Forster)

Bei „Tristan und Isolde“ sitzen wir in der ersten Reihe. Das ist mal eine ganz neue Erfahrung. Weil die Dynamik der Musik, sei es in Form des Orchesterklangs oder der sängerischen Gestaltungskraft, sich doch sehr unmittelbar entfaltet. Und weil der Blick für mimische Details, für Facetten der Bühnengestaltung, ein schärferer ist. So entpuppt sich der Platz hier, im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR), als keineswegs schlechtes Zugeständnis. Fast wähnen wir uns inmitten des Geschehens – still beobachtend, vor allem aber gepackt von der Sogkraft des oft ungezähmten wagnerschen Sehnsuchtstons.

Im Vorspiel entwickelt sich das langsam; unaufgelöste Dissonanzen, schwebende Harmonien gehen erst nach und nach in melodischen Fluss über. Schon hier stellt sich die Frage nach der Intensität, und für die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann gilt, dass sie sich etwas gemächlich einschwingt, das Farbspiel der Streicher dabei genussvoll auffächert, um schließlich zu hoher Expressivität zu gelangen.

Später dann, wenn sich dieses Drama der Liebe, des Verrats und der Todessehnsucht verdichtet, wenn die Musik in Ekstase gerät, gibt sich das Orchester diesem Taumel nahezu hemmungslos hin. Im 3. Akt hingegen, wo zunächst die dunkel-schroffen, ja schrundigen Töne herrschen, Ödnis und Leere illustrierend, bleibt die hypnotische Wirkung eher aus, wenn auch die Hirtenklage des Englisch Horns die Szenerie wirkmächtig unterstreicht.

Dennoch: Mitgerissen werden wir allemal. Am stärksten sogar vom Orchesterklang, aber auch von den Solisten. Hier darf das MiR durchaus stolz sein. Mit Torsten Kerl, ein Gelsenkirchener Junge, und der Britin Catherine Foster als Tristan und Isolde wurden international erfolgreiche Solisten verpflichtet, die nicht zuletzt in Bayreuth reüssieren. Beide singen bewegend, überwiegend klar in der Diktion, geschickt haushaltend mit ihren Kräften über die drei Akte hinweg, ohne Scheu, sich zu entäußern, aber auch in lyrisch zartem Ton. Kerl gestaltet mit seinem tief timbrierten Tenor die Mezzopianopartien allerdings ein wenig brüchig, unbestechlich dagegen die leidenschaftlichen Höhen seiner metallglänzenden Stimme. Lust und Schmerz, Eros und Thanatos liegen da ganz eng beieinander, gleißend hell sind bisweilen seine Fiebertöne im 3. Akt.

Selbstbefragung eines liebenden Paares im Spiegel. Torsten Kerl und Catherine Foster im 2. „Tristan“-Akt. (Foto: Karl Forster)

Foster wiederum wirkt insgesamt kontrollierter, in der tiefen Lage muss sie sich erst freisingen, sonst aber leuchtet diese Isolden-Stimme in schönstem Glanz. Nur am Ende, im berühmten Liebestod, bleibt sie uns manches an Transzendenz schuldig. Ja, wir sind geneigt zu sagen „Plötzlich geht alles ganz schnell“. Was wohl daher kommt, dass anderes ungemein statisch wirkt. Dies aber führt uns auf die Spur der Inszenierung, die MiR-Intendant Michael Schulz verantwortet. Sie ist offenbar geprägt von der Idee, dass Wagners Etikett „Handlung mit Musik“ nicht wirklich zutrifft. Weil das Changieren und Reflektieren seelischer Befindlichkeiten den dürren Fortgang des Geschehens bei weitem überstrahlt.

Zum anderen aber scheint sich die Regie der Überlegung „Was wären wenn…“ hinzugeben: Tristan und Isolde als rechtmäßiges Paar. Beide Ansätze haben Konsequenzen für die Bühnengestaltung und Personenführung – letzthin stehen diese Sichtweisen sich im Weg. Und sollen doch im Liebestod verschmelzen – Isolde, im weißen Gewand wie eine würdevolle Priesterin, Isolde aber auch, eine Frau, die verzweifelt und fast appellativ ihr „…wie er lächelt…Freunde…seht ihr es nicht?“ an uns richtet. Diesem Ende wohnt kein Zauber inne.

Wie auch die groß angelegte Liebesnacht-Szene des 2. Aktes ihre Wunderkraft verliert, weil eben hier der Regisseur das „Was wäre wenn…“ optisch ausreizt, indem er Tristan und Isolde in ein Haus schickt, dessen Zimmer sich labyrinthisch verzweigen. Kathrin-Susann Brose hat das Gebäude auf die Drehbühne gestellt – nicht der unendliche Raum einer Liebe bis zum Tod wird vermessen, sondern das Paar begegnet sich selbst als real Liebende. Und nebenan spielen die Kinderlein mit Plüschtieren.

Isolde als Fantasiebild des tödlich verwundeten Tristan. Szene aus dem 3. Akt. (Foto: Karl Forster)

Solcherart Umdeutung ist gewagt und wirkt auch nicht zwingend. Doch Schulz und seine Ausstatterin bevorzugen offenbar das (groß)-bürgerliche Milieu, davon zeugt auch der Raum im Schiffsbau des 1. Aktes mit seinen Kolonialstil-Intarsien, sehr detailverliebt eingerichtet.

Erst am Schluss, wenn der totverwundete Tristan auf einem riesigen, kunstvoll drapierten Stoff dahinsiecht, ist, als krasser Gegensatz, die totale Abstraktion erreicht. Folgerichtig gerinnt der Kampf zwischen Tristans Getreuen und dem Gefolge des betrogenen Königs Marke zu einem stilisierten Schattenspiel. Es ist im Grunde die stärkste Szene dieser Inszenierung.

Nicht zuletzt sei gesagt, dass neben Torsten Kerl und Catherine Foster das hauseigene Ensemble nebst Chor oft zu beeindrucken versteht. Almuth Herbst (Brangäne) als sanft sich sorgende Vertraute der Isolde, die in lyrischer Emphase sehr ausgeglichen singt, ist eine Entdeckung für die Rolle. Urban Malmberg (Kurwenal) aber gestaltet die Partie bisweilen gewollt kraftvoll, nicht ohne raue Untertöne. Und Phillip Ens’ König Marke hat oft Probleme mit der Fokussierung.

„Nehmt alles nur in allem“: Das MiR hat sich einer großen Herausforderung, das sind Wagneropern immer, mehr als achtbar gestellt. Die Karten für diesen „Tristan“ sind äußerst gefragt, für manche Vorstellung gibt’s nur noch freie Plätze unterm Dach.

Das Gelsenkirchener Haus ist in der Stadtgesellschaft und in der Politik wunderbar verankert, nicht zuletzt dank der interessanten Repertoireauswahl des Intendanten Michael Schulz. Wo sonst sitzt der Oberbürgermeister, wie hier Frank Baranowski, in jeder Premiere des Theaters? Es muss auch gar nicht die erste Reihe sein.

Infos: https://musiktheater-im-revier.de/Start/#!/de/




Der Vater der Luftschiffe: Vor 100 Jahren starb Ferdinand Graf von Zeppelin

Graf Zeppelin als Hauptmann und Adjudant des Königs von Württemberg auf einer Abbildung um 1870.

Graf Zeppelin als Hauptmann und Adjudant des Königs von Württemberg auf einer Abbildung um 1870.

Hin und wieder sieht man sie noch, die fliegenden Zigarren: Sie tragen Werbeaufschriften und schweben lautlos über dem Getümmel von Großstädten. Ihr eigentlicher Ruhm als Luftschiffe an der Schwelle des modernen Verkehrszeitalters ist verblasst. Auch ihr Entwickler, Graf Ferdinand Adolf Heinrich August von Zeppelin, ist 100 Jahre nach seinem Tod am 8. März 1917 in Berlin weitgehend vergessen. Noch in der Kinderzeit unserer Großväter war das anders: Zeppelin war damals ein Star. Das „Zeppelinbuch für die deutsche Jugend“ schwärmte 1909, das Luftschiff sei „ein in der ganzen Weltgeschichte unerhörtes Werk“.

So stimmte das freilich nicht: Vom Ballon der Gebrüder Montgolfier über Lenkballons bis hin zum motorgetriebenen Ballon des Leipzigers Friedrich Hermann Wölfert und den ersten Gleitfliegern und Flugzeugen gab es viele Versuche, die Luft zu erobern. Aber der württembergische Graf hatte wohl die richtige Idee zum passenden Zeitpunkt – und er war hartnäckig und ausdauernd, trotz vieler Rückschläge. „Man muss nur wollen, daran glauben, dann wird es gelingen“, war eine Richtschnur seines Handelns. Den „dümmsten aller Süddeutschen“ beschimpfte Kaiser Wilhelm II. den Luftfahrtpionier. Gegen Zeppelins „Wunderwaffe“ herrschte in Berlin Skepsis – obwohl das Berliner Kriegsministerium selbst seit 1886 eine Abteilung für „Luftschiffer“ unterhielt.

Ein Wunder schwebt über dem Bodensee

Als sich am Abend des 2. Juli 1900 eine riesige, 130 Meter lange Wurst über dem Bodensee bei Friedrichshafen in den Himmel hob, stand Zeppelin kurz vor seinem 62. Geburtstag. Geboren in Konstanz, aufgewachsen auf Schloss Girsberg im Schweizer Emmishofen, hatte er bis dahin einen für einen Adligen seiner Zeit typischen Lebensweg durchlaufen: Erst von Hauslehrern unterrichtet, nach dem Besuch des Polytechnikums Stuttgart Kriegsschule in Ludwigsburg. Als junger Leutnant Studium in Tübingen, u.a. Maschinenbau und Chemie. Militärlaufbahn bis zum General. Als Beobachter im amerikanischen Bürgerkrieg erlebte Zeppelin zum ersten Mal den militärischen Einsatz von Ballons und nahm selbst an einer Ballonfahrt teil – ein Erlebnis, das ihn tief geprägt hat.

Das "Zeppelinbuch für die deutsche Jugend" (ca. 1909) lässt den Kult erkennen, der damals um den Luftfahrtpionier entstand.

Das „Zeppelinbuch für die deutsche Jugend“ (ca. 1909) lässt den Kult erkennen, der damals um den Luftfahrtpionier entstand.

Erst nach seinem nicht ganz freiwilligen Abschied 1891 – Zeppelin hatte durch eine Denkschrift den Unwillen des Kaisers hervorgerufen – widmete er sich ganz seinen Visionen vom Luftschiffbau. Eine Kommission von Sachverständigen und das Berliner Kriegsministerium lehnten seine Projekte ab, in der Öffentlichkeit wurde Zeppelin verspottet. Trotzdem gelang es ihm, sich die Unterstützung des Vereins Deutscher Ingenieure zu sichern und 1898 die „Aktiengesellschaft zur Förderung der Luftschiffahrt“ zu gründen. Die Hälfte des Stammkapitals steuerte er aus seinem Privatvermögen bei.

Der Durchbruch kam mit einem Unglück

Finanzielle Schwierigkeiten, technische Probleme und Unfälle: Die nächsten Jahre waren für Zeppelin und sein Unternehmen hart. Letztlich brachte ein Unglück die Wende: Am 5. August 1908 musste der Prototyp LZ 4 in Echterdingen bei Stuttgart notlanden und wurde durch ein Gewitter zerstört. Das Luftschiff war auf einem Probeflug, von dem es abhing, ob die Reichsregierung die weitere Entwicklung der Zeppeline finanzieren würde. Noch am Unglücksort hielt ein Unbekannter eine offenbar flammende Rede, erste Geldspenden wurden gesammelt. Reichsweit lösen die Sympathie für den unbeirrbaren Grafen und die Begeisterung für die Luftfahrt eine Welle der Hilfsbereitschaft aus: Die „Zeppelinspende des deutschen Volkes“ erbrachte sechs Millionen Mark. Jetzt war es Zeppelin möglich, die „Luftschiffbau Zeppelin GmbH“ und die „Zeppelin-Stiftung“ zu gründen. Er kaufte bei Potsdam ein Gelände und begann mit dem Bau der fliegenden Zigarren.

Der jubelnde Empfang des "Graf Zelppelin" auf dem Luftschiffhafen in Berlin-Staaken im Juni 1930. Foto: Bundesarchiv, Bild 102-09992 / CC-BY-SA 3.0

Der jubelnde Empfang des „Graf Zelppelin“ auf dem Luftschiffhafen in Berlin-Staaken im Juni 1930. Foto: Bundesarchiv, Bild 102-09992 / Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Als Offizier hatte Zeppelin vor allem die militärische Nutzung im Visier, begonnen hat die Karriere des Flugfahrzeugs aber im zivilen Bereich: Die „Deutsche Luftschifffahrts AG“ beförderte bis 1914 auf 1588 Fahrten 34.028 Menschen unfallfrei durch die Lüfte. Die erste Fluggesellschaft der Welt bot der Oberschicht ein mondänes Vergnügen: Die Passagiere schwebten mit dem Komfort einer Erste-Klasse-Zugreise über die Landschaft.

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, nutzte das deutsche Heer zunächst drei Zeppeline als Aufklärer. Bald wurden Kriegsluftschiffe gebaut: In Friedrichshafen produzierten rund 17.000 Menschen 100 Luftschiffe, später auch Flugzeuge. Sie warfen Bomben auf Antwerpen, London und Edinburgh. Zeppelin träumte von einer Tausend-Kilo-Bombe, die über der britischen Hauptstadt abgeworfen den blutigen Krieg verkürzen solle. Der schwäbische Pietist wusste um die Ambivalenz des Bombenkriegs und lehnte zivile Opfer ab. Der Kaiser verhing ein Redeverbot.

Das Kriegsende erlebt Zeppelin, der an den Folgen eines operativen Eingriffs starb, nicht mehr – ebenso wenig den Aufstieg seiner Luftschiffe zu Verkehrsmitteln und das jähe Ende durch den Brand der LZ 129 in Lakehurst/USA 1937, bei dem 36 Menschen ums Leben kamen. Das Unglück markiert auch das Ende der großen Passagier-Zeppeline.

Reichhaltige Ausstellung in Friedrichshafen

Im Zeppelin Museum in Friedrichshafen am Bodensee sind Entwicklung, Höhepunkt und eine mögliche Zukunft der Zeppeline in einer reichhaltigen Ausstellung thematisiert. Mit der nach eigenen Angaben weltweit größten Sammlung zur Technik und Geschichte der Luftschifffahrt und mit einer Kunstsammlung bedeutender Künstler Süddeutschlands vom Mittelalter bis zur Neuzeit eröffnete  das Museum 1996 in der unverkennbaren Bauhaus Architektur im Hafenbahnhof von Friedrichshafen. Das Museum zieht heute jährlich über 250.000 Besucher an.

Mit der Ausstellung „Kult! Legenden, Stars und Bildikonen“ vom 2. Juni bis 15. Oktober 2017 hinterfragt das Zeppelin Museum (ausgehend vom Kult um die ersten Luftschiffe) kritisch die Entstehung, Verbreitung und Rezeption des Phänomens Kult. Der zweite Teil der Ausstellung setzt sich mit den unterschiedlichen Strategien der „Verkultung“ und „Entkultung“ in der Kunst auseinander. Mechanismen des Kults in Gesellschaft, Politik und Populärkultur werden reflektiert und machen deutlich, wie sehr das Phänomen „Kult“ heute relevant ist. Die Ausstellung wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes.

Info: www.zeppelin-museum.de




Trotz des „Diaspora“-Geredes aus Köln – das Ruhrgebiet hat ein reiches literarisches Leben

Alles, was man im Leben braucht, sind Ignoranz und Selbstvertrauen, heißt es bei Mark Twain. Und davon hat Rainer Osnowski vom Festival lit.COLOGNE wohl mehr als genug.

Katja Lange-Müller auf Einladung des Literaturbüros Ruhr im Maschinenhaus Essen - Foto: G. Herholz

Katja Lange-Müller auf Einladung des Literaturbüros Ruhr im Maschinenhaus Essen (Foto: Gerd Herholz)

Anders lässt sich kaum erklären, warum er angesichts der Vorankündigungsrhetorik zur lit.RUHR (wir berichteten) in der Kölnischen Rundschau verlauten ließ:
„Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen ‚erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind‘. Das interessiere auch jene Verlage, ‚für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist‘.“

Kleine „Gegendarstellung“
Selbst bei bescheiden-grober Schätzung darf man getrost davon ausgehen, dass längs der Ruhr jährlich ca. 800 Literaturveranstaltungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene stattfinden, mit Autoren aus der Region, aus Deutschland, aus Europa und der ganzen Welt. Vielleicht sind es – mit all den Schullesungen – sogar wesentlich mehr. Hier wäre es tatsächlich einmal sinnvoll, vom „Land der 1000 (Lese-)Feuer“ zu sprechen.

Breite & Spitze zugleich
Ruhrgebietsweit gibt es Stadtbibliotheken und -büchereien, kleine Verlage, soziokulturelle Zentren, Literaturbüros, Buchhandlungen, Kneipen, Universitäten, Preisstifter, Festivals, Volkshochschulen, Archive, Schauspielhäuser, Auslandsgesellschaften, Kulturbüros und Kirchen, die eben nicht nur Lesung, Gespräch, Poetry Slam oder Rezitation anbieten, sondern sich das ganze Jahr über um ein vielfältiges literarisches Leben kümmern, um das literarische Gedächtnis ebenso wie um die Förderung junger Talente oder die Leseförderung.
Das glauben Sie nicht? Dann überfliegen Sie bitte einmal die unvollständige Liste unten und lassen sich beeindrucken. Gewisse Kölner aber schweigen besser für immer.

Abbas Khider (li.), Jochen Hippler & Gerd Herholz (Mitte) im Ringlokschuppen Ruhr (Foto: Literaturbüro Ruhr e.V.)

Literaturförderer und –vermittler im Ruhrgebiet

(alphabetisch nach Städten):


Bochum
Literarische Gesellschaft / Macondo (Zeitschrift & Veranstalter) / Blue Square der Universität Bochum / Bahnhof Langendreer / Literaturkarte Ruhr, Ruhruniversität Bochum / Goldkante (Bar)

Bottrop Verlag Henselowsky Boschmann

Dortmund Literaturhaus Dortmund / Stadt- und Landesbibliothek / Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt / jugendstil – Kinder- und Jugendliteraturzentrum NRW / subrosa-Hafenschänke / Melange, Literarische Gesellschaft zur Förderung der Kaffeehauskultur e.V. / Auslandsgesellschaft NRW e.V. / TarantaBabu – Verein zur Förderung der interkulturellen Lesekultur und Medienkompetenz e.V.

Duisburg Verein für Literatur und Kunst / Stadtbibliothek / Studiengang Literatur und Medienpraxis, Universität Duisburg-Essen / Forum Kalliope, Universität Duisburg-Essen / Lokal Harmonie, Ruhrort

Essen Buchmesse Ruhr / Centre Culturel Franco-Allemand / Katakombentheater  / Stadtbibliothek / Medienforum Bistum Essen / Literarische Gesellschaft Ruhr / Buchhandlung Proust / Schreibheft / Literatürk / Kulturwissenschaftliches Institut (KWI) / Exile Kulturkoordination / Das Debüt – Literaturblog & Lesungen im Café Livre / Klartext Verlag

Gelsenkirchen Consol Theater / Die Flora / Ruhrpoeten e.V. / Reviercast – Ton- und Videoarchiv zur Literatur des Ruhrgebiets

Gladbeck Literaturbüro Ruhr e.V. / Stadtbücherei / Martin Luther Forum Ruhr / Leuchtfeder e.V. – Förderung von Kunst und Kultur

Hamm Der Literarische Herbst

Hattingen Deutsches Aphorismus-Archiv (DAphA)

Herne Literaturhaus Herne-Ruhr / WortLautRuhr

Moers Moerser Gesellschaft zur Förderung des literarischen Lebens e.V. / Moerser Literaturpreis

Mülheim Ringlokschuppen Ruhr/ Theater an der Ruhr / Katholische Akademie Die Wolfsburg

Oberhausen Initiative Literaturhaus Oberhausen / Stadtbibliothek Oberhausen / Schloss Oberhausen / Gdanska / K 14

Recklinghausen Ruhrfestspiele

Schwerte Haus Villigst

Unna Westfälisches Literaturbüro




Journalist damals: Möblierter Herr mit mechanischer Schreibmaschine

„Wie war das Leben ehedem / als Journalist doch angenehm.“ Dieser soeben flugs erfundene, allerdings recht wilhelmbuschig oder nach Heinzelmännchen-Ballade klingende Reim stimmt natürlich inhaltlich nicht, aber ein paar Dinge waren damals doch besser. Oder halt anders.

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Jetzt erzähl ich euch mal was aus der Bleizeit, jedoch quasi impressionistisch, wie es mir gerade in den Sinn kommt:

Zeitungs-Volontär war ich mit knapp 20 Jahren, bereits vor dem Studium. Damals ging so etwas noch. Ich habe etwa 600 DM (Deutsche Mark) im Monat verdient, es gab jede Menge Abendtermine, lediglich 14 Tage Jahresurlaub und für allfällige Sonntagsarbeit noch keinerlei Freizeitausgleich.

Für die paar Kröten…

Mit anderen Worten: Für die paar Kröten hat man aber so richtig geschuftet – bei der „Westfälischen Rundschau“ (WR) damals letzten Endes für die Kassen der SPD, die WAZ-Gruppe ist erst später eingestiegen. In seinen frühen Zwanzigern hielt man Frondienste dieser Sorte noch klaglos aus; zumal man ja glaubte, den Job für alle kommenden Zeiten sicher zu haben.

Ich fand es sogar aufregend. Meine allererste Meldung mit Cicero-Zeile, meine allererste Reportage, meinen allerersten Gerichtsbericht, meine allererste Theaterkritik (zunächst lokalen Ausmaßes). Alles war noch so neu und frisch. Fotos durfte man ebenfalls machen und in abgedunkelten Hinterzimmern oder dito Toiletten selbst entwickeln. Toll.

Von Ort zu Ort

Man war als „Volo“ gehalten, alle paar Monate von Ort zu Ort zu wechseln (in meinem Falle waren das: Olpe, Ennepetal/Gevelsberg, Hamm, Ahlen mit Zwischenstationen in Dortmund und Wanne-Eickel – ich sag’s euch) und wohnte dort jeweils residenzpflichtig in möblierten Zimmern, die der Verlag angemietet hatte. Ja, ich bin als Jungspund in den frühen 70er Jahren tatsächlich noch ein „möblierter Herr“ gewesen. Schon damals hatte es etwas Vorgestriges.

Andererseits sind Journalisten zu jener Zeit von diversen Institutionen noch ein wenig hofiert und umgarnt worden, auch gab es prozentual und absolut ungleich mehr Zeitungsleser, die überdies noch etwas mehr Respekt hatten. Wir „Zeitungskerle“ (so mein altvorderer Kollege Charly P.) galten noch etwas, jedenfalls auf lokaler Ebene. Da gab’s vielleicht schon mal einen erzürnten Leserbrief, aber keine wüsten Beschimpfungen, erst recht keinen „Shitstorm“ oder gar Drohungen wie hie und da jetzt.

Klare Partei-Präferenzen

Der Deutsche Journalistenverband (DJV) hat kürzlich in seinem Newsletter aus einer Studie über die erschreckenden Erfahrungen zitiert, die viele Kollegen heute, in den Zeiten des „Lügenpresse“-Gegröles, damit machen müssen. Früher waren solche Zustände undenkbar.

Als WR-Redakteur hielt man es damals tunlichst eher mit den Sozialdemokraten. Ruhrnachrichten und Westfalenpost galten hingegen als CDU-nah. Wie hübsch die Präferenzen damals noch verteilt waren… Und damit es nur deutlich gesagt ist: Journalisten fungierten in dieser anscheinend klar gegliederten Welt zuweilen auch als nützliche Idioten, als Erfüllungsgehilfen der Polit-Darsteller ihrer jeweiligen Couleur. Manchmal ging es vollends unverblümt her: Ein WR-Lokalchef war zugleich SPD-Ratsherr – in der Nachbarstadt, so dass er wenigstens nicht über sich selbst berichten musste.

Zigaretten zur Selbstbedienung

Jedenfalls war es in den 70ern und bis in die frühen 80er hinein noch üblich, dass bei so manchen lokalen Pressekonferenzen Kästchen mit Zigaretten zur gefälligen Selbstbedienung auf dem Tisch standen. Geraucht wurde immer und zu jeder Gelegenheit. Der eine oder andere Kollege verließ den Termin nicht, ohne den notorischen „Journalisten-Rollgriff“ angewendet zu haben, sprich: Er nahm noch einige zusätzliche Zichten als Wegzehrung mit. Wie hatte Kurt Tucholsky in den 20er Jahren schon geschrieben: Journalismus sei ein Beruf, den man (nur) mit der Zigarette im Mundwinkel ausüben könne.

Grundnahrungsmittel Bier

Hinzu kam, bevor die Computer Einzug hielten und die Korrektoren eingespart wurden, als tägliches Grundnahrungsmittel mindestens das Bier. Gelegentlich ging es damit schon (oder erst?) mittags los, wenn andere Berufe schon ihren Grundpegel erreicht hatten. Die mit der mechanischen Schreibmaschine gehackten und per Kurier oder Regionalzug zur Zentrale geschickten Manuskripte wurden ja dort allesamt noch mehrfach überprüft. Was sollte also schon passieren? Noch Mitte der 80er Jahre gab es vereinzelt Ausstellungs-Vorbesichtigungen, zu denen stilvoll und kultiviert Cognac gereicht wurde, was allerdings auch mit der Disposition gewisser Museumsleiter zu tun hatte. Zum Wohle? Nun ja. Wie man’s nimmt.

In New York verwöhnt

Heute ziemlich undenkbar wäre auch ein Kulturtermin, der die seinerzeit noch zahlreicheren Regionalblätter von Nordrhein-Westfalen mit einem beachtlichen Tross nach New York führte und aus dem Etat des Düsseldorfer Kulturministeriums bestritten wurde. Einziger Anlass war ein bevorstehendes NRW-Kulturfestival im Big Apple, von dem unsere Leser eigentlich herzlich wenig hatten. Doch man verwöhnte uns geradezu korrumpierend mit Linienflug, Unterkunft in einem noblen Hotel und einem hochinteressanten Programm, das vom Besuch bei der New York Times bis zum eigens polizeilich geschützten Trip durch die seinerzeit so gefährliche Bronx reichte. Als das Land NRW noch glaubte, Geld freihändig ausstreuen zu können…

Auch hättet ihr gestaunt, wenn ihr gesehen hättet, was in der Vorweihnachtszeit an Firmen-Präsenten in unserer Wirtschaftsredaktion eingetroffen ist. Die Kollegen konnten die Gaben schwerlich zurückschicken, machten das Beste daraus und organisierten alljährlich eine Verlosung, zu der sich auch noch unsere betagten Rentner bemühten.

Aber ich verplaudere mich.

Verdichtung der Arbeit

Spätestens seit Anfang der 80er wurde die gesamte Zeitungsbranche mit Aufkommen der Computer recht zügig diszipliniert. Die Arbeit verdichtete sich zusehends, man schrieb nicht nur, sondern war nun auch gleichzeitig Layouter, Setzer, Korrektor und Schlussredakteur. Irgendwann war es so weit, dass man sich keine Mittagspausen mehr erlauben konnte, sondern nur noch hastig etwas nebenbei verschlang. Die Leute, die in den Beruf nachrückten, waren im Schnitt stromlinienförmiger als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen. Vorher gab es noch Typen. Typen…




Was im Revier sonst noch so geschieht… – Es war wieder mal einer dieser Donnerstage mit lauter neuen Ausstellungen

Wir erinnern uns: Das seit jeher von Kirchturmpolitik geplagte Ruhrgebiet hatte sich für 2010 zusammengerauft, um einmal gemeinsam als „Kulturhauptstadt Europas“ zu firmieren. Um das Thema einige Nummern kleiner aufzugreifen: Schon oft hätte man sich gewünscht, dass es eine Koordinationsstelle gäbe, die beispielsweise regionale Pressetermine miteinander abgleicht – und sei’s für den Anfang auch nur (ganz bescheiden) auf musealem Gebiet.

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte "Hiddensee", 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte „Hiddensee“, 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

Doch nein! Immer und immer wieder kommt es vor, dass zum allseits beliebtesten Vorbesichtigungs-Tag, dem Donnerstag, vier, fünf, sechs oder noch mehr Termine in mehr oder weniger unmittelbarer Nachbarschaft gleichzeitig anberaumt werden. So beispielsweise auch gestern, am 2. Februar.

Man sollte ab 11 bzw. 11.30 Uhr beileibe nicht nur die neue Ausstellung über Emil Schumacher in Hagen („Orte der Geborgenheit“) geneigt zur Kenntnis nehmen, sondern etwa auch eine Auswahl von Reisebildern des Landschaftsmalers Siegward Sprotte im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, die gleichfalls mit „Orten“ im Titel daherkommt („Reise doch – bleibe doch!“ – Orte der Inspiration). Hier hätte man sich also schon bei der Formulierung absprechen können. Zu spät…

Zwei weitere Termine liefen überdies praktisch parallel in derselben Stadt, nämlich in Dortmund: Das Künstlerhaus im Sunderweg präsentierte der Presse seine neue Schau „Ohne Netz und doppelten Boden – Über die Uneindeutigkeit von Bildern“, die DASA Arbeitswelt Ausstellung lud unterdessen zur „Alarmstufe Rot“ über Katastrophen und deren Bewältigung. Keine Kunst, aber ebenfalls ein museales Angebot.

Damit längst nicht genug: Zur gleichen Zeit bat „nebenan“, in der Landeshauptstadt Düsseldorf, die Kunstsammlung NRW/K 21 zur umfangreichen Retrospektive über den belgischen Künstler Marcel Broodthaers. Gewiss, Düsseldorf zählt nicht zum Ruhrgebiet, doch sollte man vor allem im Raum Duisburg und Essen ein Auge darauf haben, wann dort was geschieht. Sonst fahren die meisten Kulturschreiber dorthin und nicht in die Ruhr-„Provinz“.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner "Zick Zack" (2016), Acry auf Holz.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner „Zick Zack“ (2016), Acryl auf Holz.

Und damit habe ich noch nicht einmal alle Gelegenheiten aufgezählt, die sich gestern ergeben haben.

Klar, wenn ich jetzt für Ruhrgebietswerbung zuständig wäre, würde ich entgegnen, dass wir hier eben sooooo viele Kulturstätten haben, dass gelegentlich ein zeitliches Zusammentreffen kaum zu vermeiden ist. Das Argument lassen wir jetzt mal auf uns wirken.

Immerhin gibt es ja inzwischen den beachtlichen Kooperations-Verbund der Ruhrkunstmuseen, mit dem 20 Häuser in 15 Städten ihre Kräfte bündeln wollen. Hier erfolgen Absprachen mittlerweile auf kürzeren Dienstwegen als ehedem. Es möge weiterhin nützen. Und die Idee möge niemals auf bloße Einsparmöglichkeiten reduziert werden.

Es war zu hören, dass gestern auch bei personell halbwegs potenten Medien ob der Termin-Überschneidungen gestöhnt wurde. Nun aber wollen wir, die wir als Kulturblog erst recht kein halbes Dutzend kunstsinniger Journalistinnen und Journalisten gleichzeitig aufbieten können, wenigstens noch zu den Internet-Auftritten der oben genannten Häuser verlinken. Here we go:

Emil Schumacher Museum, Hagen: www.esmh.de
Gustav-Lübcke-Museum, Hamm: www.museum-hamm.de
Künstlerhaus Sunderweg, Dortmund: www.kh-do.de
DASA, Dortmund: www.dasa-dortmund.de
K21 in Düsseldorf: www.kunstsammlung.de




Das Haus und die Geborgenheit im Werk von Emil Schumacher – eine Ausstellung, die so nur in Hagen möglich ist

Emil Schumacher: "Hama X", 1984, Öl auf Karton. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Emil Schumacher: „Hama X“, 1984, Öl auf Karton. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Über das reichhaltige Werk von Emil Schumacher (1912-1999) kann man immer wieder staunen. Stets aufs Neue finden sich ungeahnte Aspekte, Themen und Formen. Längst meint man, diesen Künstler als internationale Größe des Informel und der Abstraktion zu „kennen“. Tatsächlich kam er in seinem Spätwerk – wie verschlüsselt auch immer – aufs gegenständliche Repertoire früherer Zeiten zurück. Beispielsweise auf das Haus und sonstige Orte der Geborgenheit.

Solche Motive haben sein Sohn, der vormalige Bottroper Museumsdirektor Dr. Ulrich Schumacher, und Rouven Lotz, Leiter des Hagener Emil Schumacher Museums, im Werkzusammenhang so auffallend häufig vorgefunden, dass jetzt eine eigene Ausstellung daraus entstanden ist. Man muss diese Bilder gar nicht unbedingt, wie Rouven Lotz es unternimmt, mit dem in der Nachkriegszeit und leider auch jetzt wieder so virulenten Themenkomplex Flucht und Vertreibung in Bezug setzen, um ihnen zeitgemäße Bedeutsamkeit zuzusprechen.

Die Ausstellung umfasst rund 70 Bilder, überwiegend intimere, oft spontan skizzenhafte Arbeiten auf Papier. Zeitlich reicht der Bogen von den späten 1930er Jahren bis in die 1990er. Auch hierbei zahlt es sich wieder aus, dass der Künstlersohn Ulrich Schumacher etliche Arbeiten aus dem Kunstmarkt herausgehalten und verwahrt hat. Jetzt bilden sie zum großen Teil den Fundus des Schumacher Museums.

Aus dem Frühwerk: Emil Schumacher "Industriestraße I", 1946, Aquarell und Tusche auf Bütten. (© VG Bild-Kunst, Bonn, 2017/Emil Schumacher)

Aus dem Frühwerk: Emil Schumacher „Industriestraße I“, 1946, Aquarell und Tusche auf Bütten. (© VG Bild-Kunst, Bonn, 2017/Emil Schumacher)

Fast alle Bilder erstmals zu sehen

So kommt es auch, dass abermals bislang nie öffentlich gezeigte Bilder zum Vorschein kommen. In der neuen Ausstellung sind es rund 60 von 70, also beinahe alle. Man kann mit Fug und Recht von einer vielfältigen Premiere sprechen, wie sie so nur in Hagen möglich ist. Apropos: In diese Stadt und in das zu Beginn des 19. Jahrhunderts von seinem Urgroßvater errichtete Haus in der Bleichstraße ist Emil Schumacher von allen Reisen immer wieder zurückgekehrt. Lokale Verwurzelung und Weltgeltung sind keinesfalls Gegensätze.

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem KInderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. - Emil Schumacher: "Ulrich am Tisch" (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem Kinderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. – Emil Schumacher: „Ulrich am Tisch“ (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Der angenehm überschaubare und gehaltvolle Rundgang beginnt u. a. mit Porträts, die Emil Schumacher in der Nachkriegszeit von seinem Sohn Ulrich angefertigt hat, als der noch ein kleines Kind gewesen ist. Man merkt es Ulrich Schumacher wahrlich an, wie freudig bewegt er ist, wenn er diese Bilder heute betrachtet. Damals hat er das mitunter langwierige „Modellsitzen“ für den Vater nach eigenem Bekunden eher als Tortur empfunden. Signatur der ärmlichen Zeit: Auf einem Bild trägt der kleine Ulrich eine kurze Hose, die notdürftig aus einer alten Wehrmachtsdecke genäht worden war; auf einem anderen sieht man ihn in Erwartung des Essens, seine kindliche Ungeduld ist nur mühsam gebändigt.

Zum Wesen der Dinge vordringen

Mit den Sohnesbildern ist zugleich der Bereich des Familiären und Häuslichen aufgerufen, mithin auch der des Schutzes vor der stürmischen, zudringlichen Außenwelt, auf den man auch und gerade in finsteren Zeiten hofft. Anfangs noch im Stile der Neuen Sachlichkeit, dann in expressionistischer Weise, hat Emil Schumacher solche bergenden und einhegenden Räume oder Zonen dargestellt.

Interessant ist ein Vergleich zweier Darstellungen seiner Ateliers von 1938 und 1983. Auch diese Arbeitsstätten hat er als Schutzräume begriffen, in die einzig und allein seine Frau eintreten durfte. Jahrzehnte eines intensiven und ertragreichen Künstlerlebens liegen zwischen den beiden Fassungen. Immer mehr ist das innere, nicht sogleich sichtbare Wesen der Dinge in den Vordergrund gerückt.

Emil Schumacher: "G-35/1980" (1980), Gouache auf braunem Packpapier. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Emil Schumacher: „G-35/1980“ (1980), Gouache auf braunem Packpapier. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Anfangs sehen wir noch Bilder mit erzählender, ja anekdotischer Anmutung, später gerinnen sie zusehends zu einer ursprünglichen, archaischen Formensprache, die menschliche Urerfahrungen betrifft – wie nur je bildliche Entwürfe seit den vorzeitlichen Höhlenzeichnungen.

Die Grenzen der Interpretation

Vor den späteren, letztlich zeitenthobenen Bildern kann jeder Betrachter sozusagen seine Phantasie spazieren führen. Eben dies empfiehlt auch Rouven Lotz, der angesichts solcher Schöpfungen sehr wohl die Grenzen der kunstwissenschaftlichen Interpretation sieht. Die Schlussakkorde sind gleichzeitig der Übergang zu Teilen der Dauerausstellung. Hier zeigt sich, dass die Hausform auch in den großen Gemälden unversehens wieder auftaucht. Je nach Gusto könnte man den Rundgang auch an dieser Nahtstelle beginnen und sodann rückwärts durch die Zeiten schreiten.

Emil Schumacher im Jahr 1981. (Foto: Ralf Cohen, Kalrsruhe / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Emil Schumacher im Jahr 1981. (Foto: Ralf Cohen, Kalrsruhe / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Wüsste man nicht, wie sehr sich Emil Schumacher schon früh für Grundformen des Hauses und der Häuslichkeit interessiert hat, so würde man sie freilich auch nicht so leicht in den abstrakten Arbeiten entdecken. Hie und da mag dieses Wissen bei der Entschlüsselung des manchmal hermetisch erscheinenden Spätwerks helfen.

Andererseits kehren gerade in späteren Bildern figurative Elemente wieder. Das aber macht die Angelegenheit nicht unbedingt leichter. Im Gegenteil: Eigentlich ist sie ziemlich vertrackt. Denn der zur und durch Abstraktion gereifte Schumacher hat nicht mehr plan- und absichtsvoll den Vorsatz gefasst, Häuser auf Papier oder Leinwand zu bringen. Derlei Formen haben sich vielmehr aus dem gestischen Malprozess selbst ergeben, oft auch nur als vage Anklänge oder gar aus „Zufällen“ der Linienführung. Auf gesichertem Gelände befinden wir uns also nicht. Es ist schließlich Kunst, die ins Offene strebt.

Emil Schumacher: Orte der Geborgenheit. Emil Schumacher Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navi: Hochstraße 73). Vom 5. März bis zum 28. Mai 2017.  Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Katalog 80 Seiten, rund 90 Abb., im Museum 19,90 Euro (im Buchhandel 24,90 Euro). Internet: www.esmh.de