Vorfälle im Revier, die uns hoffentlich zu denken geben (523. Folge): Angesagte Ausstellungstitel, blickdichte Rollos

Hey, Hi und Hallo da draußen, hier ist wieder Euer quirliger Trendscout, zum Jahresbeginn besonders kregel zugange.

Bevor das Rollo runter saust, guckt Kater Freddy schnell nochmal aus dem Fenster. (Symbolfoto: BB)

Bevor das R o l l o runter saust, guckt Kater Freddy schnell noch einmal aus dem Fenster. (Symbolfoto: BB)

Eine heiße Mode bei Ausstellungstiteln ist zu vermelden, die (mangels vieler weiterer Möglichkeiten) freilich auch ganz schnell wieder vorüber sein kann. Zwei Titel nach demselben Strickmuster sind gerade im Ruhrgebiet plakatiert:

„Krieg. Macht. Sinn.“
(Essener RuhrMuseum)

und

„BILD MACHT RELIGION“
(Museum Bochum).

Ganz klar, man kann die jeweils drei Worte zusammenhängend lesen, sollte sie aber sogleich auflösen und einzeln wahrnehmen, um ein wenig ins Thema hineinzuschmecken. Im Grunde aber sind es bloße Signale, die von den Inhalten nicht allzu viel preisgeben, sondern nur Anspielungscharakter haben.

Nun gut, ein paar Varianten zu dieser Machart würden einem notfalls noch einfallen. Aber die Anzahl dürfte endlich und somit recht bald erschöpft sein. Schade ums schöne Narrativ. (Ha, das Wort hätten wir damit auch untergebracht!)

Ein neues Fass, ein anderes Fass

Machen wir also – nach dem unvergänglichen Monty-Python Motto „And now to something completely different“ – gleich das nächste Fass auf. Ein bodenloses Fass. Eines, dem die Krone ins Gesicht geschlagen wurde. Oder muss es Gischt heißen?

Kommt mal näher, ich will lieber flüstern. Pssssst!

Also, ich habe Folgendes hinter vorgehaltener Hand gehört: Rings um eine große Bildungs-Institution im Ruhrgebiet ging ein Spanner auf seine Streifzüge. Er war auf Anblicke junger Frauen aus, die er gelegentlich auf Video festgehalten haben soll. Wirklich nicht fein. Ganz und gar nicht fein.

Der penetrant wiederholte Vorfall hat nunmehr eine ziemlich kostspielige Nachrüstung zur Folge. Über 200 Fenster sollen nunmehr von einer örtlichen Firma mit blickdichten Rollos ausgestattet werden. Frage niemand nach dem Gesamtpreis. Und frage bitte auch niemand: Cui bono?“

 




Das Ruhrgebiet als Heimat – zwischen Grau und Grün, zwischen Solidarität und gelegentlicher Kulturferne

Der Dortmunder Phoenixsee mit Florianturm im Hintergrund. (Foto vom März 2016: Bernd Berke)

Ein weithin sichtbares Beispiel für den Strukturwandel im Ruhrgebiet: Teil des Dortmunder Phoenixsees mit Florianturm im Hintergrund. (Foto, März 2016: Bernd Berke)

Gastautor Heinrich Peuckmann über das Ruhrgebiet als Heimat:

Wenn auf der Kamener Zeche Monopol Kokskohle abgestochen wurde, rannte meine Mutter in den Garten und trug die zum Trocknen aufgehängte Wäsche ins Haus. Kurz darauf segelten nämlich Rußpartikel durch die Luft und wäre sie nicht schnell genug gewesen, hätte sie noch einmal waschen müssen.

Abends schimmerte der Himmel im Westen rosa und wir wussten, dies ist kein Abendrot wie an der Nordsee. Jetzt fließt bei Phoenix in Dortmund wieder flüssiger Stahl aus der Thomasbirne, dort, wo sich jetzt ein wunderbarer See erstreckt. Die Emscher, die in meiner Nähe entspringt, habe ich eines Tages lila gesehen. Giftig lila. Unglaublich, welche Abwässer in den armen Fluss gekippt worden sind. Und die wunderbaren Fußballspiele mit meinen Freunden fanden nie bei strahlendem Sonnenschein statt. Bei uns war es immer diesig.

Integration und Toleranz – sogar für Bayern

Das ist also meine Heimat und da kann ein normaler Mensch nur denken: weg hier, so schnell und so weit wie möglich. Aber ich bin immer noch hier. Was ist los mit mir? Liebe ich verstaubte Luft und eine zerstörte Umwelt? Nein, natürlich nicht. Denn diese Kindheitsbilder sind ja nur der eine Teil des Ruhrgebiets. Jener freilich, der außerhalb als einziges Bild zur Kenntnis genommen wurde und immer noch wird.

Aber das Ruhrgebiet ist mehr als das. Solidarität, oft beschworen, vor allem in den Sonntagsreden von Politikern, gibt es hier wirklich. Ich weiß, wenn ich irgendwann im Dreck liege, kommt jemand angelaufen, um mir zu helfen. Ob es mir nützt, ist eine andere Frage, aber versuchen wird er es.

Solidarität zeigt sich auch beim Umgang mit Migranten, mit den Türken etwa, die hier in großer Zahl leben. Bei uns gibt es keine „Ruhr-Pegida“, undenkbar, bis jetzt jedenfalls. Wir sind doch seit jeher Schmelztiegel. Als es losging mit Kohle und Stahl, sind die Arbeiter von überall hergekommen, aus Schlesien, Ostpreußen und – ja – aus Bayern. Bis heute gibt es hier Alpenvereine, Leute in krachledernen Hosen, die furchtbar schreien, was sie jodeln nennen, aber egal, wir ertragen das. Wie so vieles.

Das Stahlwerk abgerissen, der Phornixsee nur als Großbaustelle vorhanden: Aufnahme vom 18. September 2009. (Foto: Bernd Berke)

Nach dem Abriss des Stahlwerks war das Gelände des späteren Phoenixsees eine Großbaustelle. Aufnahme vom 18. September 2009, Blick vom Florianturm herab.. (Foto: Bernd Berke)

Geholfen bei der Integration hat übrigens der Fußball, was erklärt, weshalb er bei uns eine so wichtige Rolle spielt. Dieser oder jener kam aus Polen und katholisch war er auch noch, aber lass ihn in Ruhe. Der schwärmt für Borussia oder Schalke. Wenn ich heute türkischstämmige Jugendliche nach ihrem Lieblingsverein befrage, nennen sie einen aus dem Ruhrgebiet, dazu einen aus Istanbul. Was dann doch ein Problem aufzeigt. Halb geglückt die Integration, aber noch nicht ganz. Das bestätigt auch die wachsende Zahl an AfD-Wählern, auch wenn dahinter weniger Ausländerhass steckt als eine sich verschärfende soziale Situation. Während Dresden kaum Migranten hat, wir dagegen jede Menge, darunter auch welche, die unsere Freunde sind, ist das Problem bei uns mit deutlich weniger AfD-Wählern immer noch überschaubar.

 

Und wir können Ironie vertragen. Gut, wir verstehen sie nicht immer, das stimmt, aber wenn, dann können wir lachen. Sogar über uns selbst. Wer kann das schon? Dafür nehme ich sogar, schweren Herzens, die Kulturferne in Kauf. „Wat willze mit dat Buch?“

Anquatschen, wie wir das nennen, kann man im Ruhrgebiet jeden. Wir sind offen bis zur Treuherzigkeit. Und grün ist es geworden seit dem Ende von Kohle und Stahl. Oberhausen, eine Stadt mit Rekordverschuldung, gehört zu den grünsten Städten Deutschlands. Als ich eine Gruppe Schriftsteller durch Dortmund führte, habe ich zum Schluss gesagt, dass es einen Satz gibt, den wir nicht mehr hören wollen. „Das ist aber grün hier.“ Wir leben nicht mehr auf der Kohlenhalde, habe ich erklärt. Worauf eine Kollegin antwortete: „Dass es hier grün ist, wusste ich. Aber dass es sooo grün ist …“

Wie kommt es dann, dass ich in meinen Geschichten so gerne vom alten Ruhrgebiet berichte? Ich bin doch kein Nostalgiker, im Gegenteil, ich bin froh, wie schön der halb bewältigte Strukturwandel Teile des Ruhrgebiets gemacht hat. Das ist dann wohl Heimat, denke ich. Denn was sollte sie anders sein als die Erinnerung an eine geglückte Kindheit, selbst in Lärm und Staub?

 

 




„Ruhrgebietchen“: 36 Ansichten des Reviers

Laut Wikipedia ist das Ruhrgebiet mit 5,1 Millionen Einwohnern der größte Ballungsraum Deutschlands und der fünftgrößte Europas. Nun kommen gleich 36 Autoren daher, durchmessen mit ihren Beiträgen das Revier oder zumindest Teile von ihm. Ihr gemeinsamer Band, der im Verlag Henselowsky Boschmann erschienen ist, trägt den geradezu verniedlichenden Titel „Ruhrgebietchen“…

Da könnte man natürlich fragen, ob die Verfasser vielleicht doch die falsche Messlatte angelegt haben. Aber ihnen geht es weniger um Zahlen und Statistiken, sie erzählen vom Leben und Alltag der Menschen, von ihren Werten und Charakteren.

Überwiegend Sympathie für die Region

Mit dem Titel kommt wohl eher die Sympathie zum Ausdruck, die ein jeder, der an dem Buch mitgewirkt hat, für die Region empfindet, zumindest irgendwie. Und da man es nun mal mit dem Ruhrgebiet zu tun hat, kann ein solches Wohlwollen kaum davon abhalten, auch die Schattenseiten beim Namen zu nennen.

Denn offen und geradeheraus zu sein, gehörte lange Zeit zu den Merkmalen der Leute im Revier, wie es beispielsweise Einhard Schmidt-Kallert am Beispiel eines Bochumer Studenten herausstellt. Als besagter Erich sich 1968 (vollgesogen mit Rudi Dutschkes revolutionären Ideen) in die nächste Eckkneipe begab, wusste ihn einer der Stammgäste nach wenigen Sätzen zu erden.

In der Fremde vermisst man dann doch etwas

Dass es am und im Revier doch so manches zu bemängeln gibt und gab, daran lassen viele Autoren keinen Zweifel. Beispielsweise schreibt Heinrich Peuckmann über die Umweltschäden, die Kohle und Stahl zur Folge hatten. Die Emscher färbte sich lila, angesichts „des Zeugs“, das da hineingekippt wurde, und die Luft hing voller Rußpartikel. So schildert er Erinnerungen an seine Kindheit, in der solche Begleiterscheinungen aber wie selbstverständlich zum Leben dazugehörten. Wenn er heute schon mal mit seiner Heimat hadern sollte, dann sind es meist Situationen, in denen es allzu grobschlächtig oder prolohaft zugehe, so der Autor. Nimmt er Reißaus, merkt er jedoch andernorts schon sehr schnell, was ihm fehlt: beispielsweise die Treuherzigkeit der Menschen, die Solidarität untereinander oder die Fähigkeit zu Ironie und Selbstironie.

Immer noch Image-Defizite in Sachen Kultur 

Darüber hinaus hebt Peuckmann ein Charakteristikum des Reviers hervor, das, wie auch weitere Verfasser anmerken, in den Köpfen vieler Menschen kaum verhaftet ist: Die Region ist eine ausgeprägte Kulturlandschaft. Welche Vielfalt allein bei den Theatern im Ruhrgebiet besteht, hat Joachim Wittkowski, Gymnasiallehrer in Selm und Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Uni Bochum, brillant zusammengefasst. Überraschen mag an dem Aufsatz auch, dass viele Bühnen auf eine lange Geschichte zurückblicken. Das über Jahrzehnte vorhandene Bild vom Revier, in dem nur Malocher und Kulturbanausen leben, mag da überhaupt nicht mehr verfangen. Der Autor fordert dazu auf, Imagearbeit zu betreiben, damit die Stärken der Region deutlich werden. Die Chancen, die sich im Jahr 2010 geboten haben, als das Revier Kulturhauptstadt Europas war, seien nicht genutzt worden.

Love Parade, Schimanski und Zaimoglu

Mit der Tragödie der Love Parade, die Teil des Kulturhauptstadt-Programms war, setzt sich Gerd Herholz (ebenso wie Heinrich Peuckmann gelegentlich auch Autor der Revierpassagen) auseinander und bindet sie ein in die Geschichte der Stadt Duisburg und das Bild, das auch ein Kommissar Schimanski zu prägen wusste. Wie lobenswert sei es doch da, meint Herholz, dass der Schriftsteller Feridun Zaimoglu einen Roman in Duisburg spielen lässt und dazu vorher intensiv recherchierte, wie es dort denn eigentlich und wirklich zugeht.

Trinkhallen oder Buden gehören allerorten zum Ruhrgebiet. Margret Martin trägt eine Geschichte bei, die erst so gar ins Bild passen will. Die Hauptfigur, so viel sei verraten, lebt in direkter Nachbarschaft zu einer Bude und mag den Lärm nicht mehr ertragen, doch die Verfasserin bietet dem Leser eine Auflösung des Problems, die schmunzeln lässt.

Ernüchterung für Schalker und Borussen

Wer im Übrigen Schalke-Fan sein sollte und eine Antwort sucht, warum es 2001 nicht geklappt hat und auch sonst die Schale einfach nicht in die Arena will, der wird nach der Lektüre des Buches klüger sein. Herr Luca, so der Name des Autors, hat den Fußballgott befragt – persönlich. Aufmunterung oder Hoffnung für die königsblauen Fans sehen aber anders aus. Im Gegenzug wird sich auch mancher Borusse seine Gedanken machen, wenn er Udo Feists Anmerkungen zur BVB-Familie liest. Ernüchternd fällt seine Bilanz aus, zu sehr regierten Geld und Geschäft, als dass von echtem Glanz gesprochen werden könne.

Man musste schnell und billig bauen

Warum es in manchen Städten des Ruhrgebiets eher trist aussieht und oftmals auch schlichte Bauten das Bild bestimmen, erörtert Gerd Puls in seinem Aufsatz „Hammer und Schlegel, Spaten und Axt“. Arbeitssuchende aus der ganzen Republik landeten in den 50er und 60er Jahren im Revier, denn hier gab es Jobs. Die Leute unterzubringen, war eine Mammutaufgabe, die schnell, einfach und preiswert gelöst werden musste. Von allzu seligen Wirtschaftswunderjahren kann nach den Ausführungen des Autors kaum die Rede sein, gehörten doch Prügeleien und Schlägereien auch und gerade in Familien zum Alltag. Als Ursache vermutet er, dass die Männer die schrecklichen Erlebnisse auf den Schlachtfeldern nicht verarbeitet hatten.

„Urgesteine“ in den Kommunen

Zur Geschichte und Politik der Region liefern unter anderem Werner Boschmann und Thomas Rother wichtige Beiträge, indem sie so genannte „Urgesteine“ des kommunalen Geschehens portraitieren, die meist über Jahrzehnte in einer Stadt das Sagen hatten.

Klischees über das Ruhrgebiet werden Leser in dem Buch vergeblich suchen, und auch Pia Lüddeckes Geschichte über einen Taubenvater (oder Taubenvatta, um im Jargon zu bleiben) nimmt ein eher skurriles Ende.

Zusammenhalt ja, Metropole nein

Einige Autoren erzählen, wie sie, endlich flügge, das Revier verlassen haben und feststellen mussten, dass sie doch mit der neuen Heimat fremdelten und ihrem Herkunftsort verbunden blieben.

Mehr Zusammenhalt der Städte im Ruhrgebiet, das wünscht sich Sigi Domke, aber auch nicht zu viel: Städtehaufen ja, Metropole nein, eben doch ein Ruhrgebietchen.

„Ruhrgebietchen – was deine Kinder an dir lieben und was nicht“. Verlag Henselowsky Boschmann, 224 Seiten, 9,90 Euro.




In diesen Hallen wirken sie fast zierlich – Museum Küppersmühle zeigt Großformate von Emil Schumacher

„Atlanta I“ von 1987 aus der Sammlung Ströher. „Atlanta“ aus dem Bestand des Hagener Schumacher-Museums sieht fast genauso aus. (Bild: MKM, Sammlung Ströher/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018)

Jetzt hängen sie traulich nebeneinander, als ob es anders gar nicht sein könnte: „Atlanta“ und „Atlanta I“, zwei von dunkel aufglühendem Blau dominierte Hochformate aus dem Jahr 1987, je 170 x 125 Zentimeter groß. „Atlanta“ aber ist eine Leihgabe aus dem Hagener Schumacher-Museum, „Atlanta I“ Eigenbesitz des Museums Küppersmühle aus der Sammlung Ströher. Ein Diptychon mit Verfallsdatum, wenn man so will, doch liegt es noch in weiter Ferne: Am 10. März 2019 endet die Ausstellung „Emil Schumacher – Inspiration und Widerstand“ im Duisburger Museum Küppersmühle, die heute (Donnerstag, 15.11.2018) eröffnet wird.

Das verschlimmbesserte Documenta-Bild

Über Emil Schumacher, er hat ihn noch persönlich in seinem Atelier erlebt, weiß Museumsdirektor Walter Smerling Geschichten zu erzählen. Wie jene der Bilder für die Documenta III, 1964 in Kassel. Drei Großformate hatte Schumacher für die Kunstschau gemalt, jedes um die sieben Quadratmeter groß, ein blaues, ein rotes und ein weißes. Mit dem roten war er aber nicht ganz zufrieden, und als er es nach der Documenta wieder im Atelier hatte, besserte er nach. Jedenfalls versuchte er es. Es wurde jedoch, in des Künstlers eigenen Worten, ein Verschlimmbessern, irreparabel schließlich. Schumacher vernichtete das Bild, hob aber den Keilrahmen auf. 1991 schuf er auf dem alten Keilrahmen ein neues Werk, „Palmarum“, Öl und kleine Pflanzenteile, nunmehr dominiert von leuchtendem Gelb. Es hängt jetzt als Leihgabe aus Hagen in der Duisburger Küppersmühle.

Eine späte Arbeit: „Gorim II“ von 1996. (Bild: Emil Schumacher Museum, Hagen, VG Bild-Kunst, Bonn 2018/Ralf Cohen, Karlsruhe)

Dezentral gesammelt

Das blaue Documenta-Bild, die Geschichte ist noch nicht zuendeerzählt, hängt auch hier, das weiße hingegen blieb im Westfälischen Landesmuseum in Münster, da nicht transportfähig. Der Katalog jedoch bildet es ab.

Alles in allem ist die Geschichte dieses Triptychons, das nicht mehr zusammenkommen konnte, auch typisch für die an sich reiche Kunstmuseenlandschaft des Ruhrgebiets (inklusive Münster in diesem Fall), wo in besseren Zeiten recht dezentral gesammelt wurde.

Mehr als die Hälfte kommt aus Hagen

Nun also Schumacher in Duisburg, 80 Arbeiten, Gemälde überwiegend, davon 44 aus Hagen und 16 aus der Sammlung Ströher, der Rest aus weiteren Museen und aus Privatbesitz. Da könnte man sich natürlich fragen, warum so viel Aufwand betrieben wurde. Das moderne Hagener Museum vermag die Bilder ebenso gut zu präsentieren wie die Küppersmühle, ist groß und regelmäßig geöffnet, so daß eine punktuell veranstaltete Werkschau wirklich nicht zwingend nötig wäre. Doch natürlich fragen wir das nicht, sondern freuen uns, daß die Hagener Werke noch etwas Gesellschaft bekommen. Und daß die Küppersmühle Besucher anlocken wird, die nicht nach Hagen reisen würden.

Penibel strukturiert

Die Schau ist sehr penibel nach Werkgruppen und Arbeitsschwerpunkten aufgebaut, beginnt mit dem jungen Schumacher der frühen 50er Jahre, zeigt dessen Weg in die Abstraktion, den er in wenigen Jahren hinter sich brachte. Seine Bilder wurden größer, Schumacher experimentierte mit Materialien wie Stein und verklebten Stoffresten, tauschte die Leinwand gegen Holz und später gegen Zimmertüren.

Als Malgrund dient eine Zimmertür. „Petros“ von 1976, Steincollage und Acryl auf Holz (Bild: Privatsammlung Münster/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018/Ralf Cohen, Karlsruhe)

Auf Zimmertüren gemalt

Walter Smerling erzählt, wie das kam: In den 60er Jahren hatte Emil Schumacher zunehmend auf Holzplatten gemalt. Als seine Bilder für eine Ausstellung in die USA verschifft werden sollten, waren sie deshalb viel zu schwer. Auf der Suche nach leichten, steifen Maluntergründen entdeckte Schumacher die Zimmertür, schlichtes Baumarktmodell, die ihre Unverformbarkeit einer Wabenstruktur aus Pappe im Türblattinneren verdankt. Einige dieser Türen, hoch und quer, hängen als Maluntergründe in der Ausstellung (die Petros-Bilder, mit Stein und Acryl), konservatorisch offenbar unproblematisch.

Widerstand des Materials

In späteren Jahren, als er einmal mit seiner Arbeit unzufrieden war, hat Schumacher eine solche Malgrundtür übrigens mit dem Hammer traktiert. Die Verletzungen ließen die Wabenstruktur sichtbar werden, was wiederum seinen Reiz hatte. Und selbst diese Aktion ist in gewisser Weise typisch für Schumachers Radikalität beim Umgang mit dem Stofflichen. Das Wort Widerstand im Ausstellungstitel, sei auch in diesem Sinne gemeint, sagt Walter Smerling: Widerstand gegen die Beschränkung des künstlerischen Strebens ebenso wie Widerstand des Materials gegen die Intention des Künstlers.

Auch Hagen lohnt den Besuch

Auch Schumachers größte Bilder wirken in dieser Ausstellung zierlich. Diese Räume sind für Größeres gebaut worden, wie etwa für Anselm Kiefers wandfüllende Historienbilder im Obergeschoß. Lediglich ein (kleinerer) Raum zeigt eingerahmte Papierarbeiten, Mappenwerke wie die „Genesis“ fehlen ganz. Wer so etwas sehen möchte, muß weiterhin nach Hagen reisen.

Die große Freiheit

So, das soll es mal gewesen sein. Leben und Werk Emil Schumachers von Grund auf zu erzählen, scheint mir an dieser Stelle nicht nötig zu sein, so bekannt wie der Mann bei uns ist. Man wird in Duisburg nicht unbedingt Neues entdecken; doch die Einladung, einmal mehr sich hineinzubegeben in die große Freiheit dieser Werke, die nichts weniger als Leere ist, lohnt allemal den Besuch der Ausstellung.

  • „Emil Schumacher – Inspiration und Widerstand“
  • 15.11.2018 bis 10.3.2019
  • Geöffnet Mi 14-18 Uhr, Do-So 11-18 Uhr, Feiertage 11-18 Uhr
  • MKM Museum Küppersmühle für moderne Kunst, Duisburg, Philosophenweg 55
  • Eintritt: Wechselausstellungen 6 €, Gesamtes Haus 9 €
  • www.museum-kueppersmuehle.de

 




Von „Alka Seltzer“ bis „Schapusiak“ – Spitznamen, mit denen Fußballspieler ins Ruhrgebiet eingemeindet werden

Gastautor Heinrich Peuckmann über einfallsreiche Spitznamen im Ruhrgebiets-Fußball:

Borussia Dortmund hat wieder einen Knipser, und was für einen! Sechs Tore in 80 Minuten, das hat selbst „kleines dickes Müller“ (wie ihn sein Trainer „Tschik“ Cajkovski nannte) nicht geschafft, Bayern Münchens unvergessener Torjäger.

Da hängt es... und der Erwerb soll sich bitteschön auch gelohnt haben. (Foto: BB / © Trikot: Borussia Dortmund)

Manche nennen ihn der Einfachheit halber „Alka Seltzer“…  (Foto: Bernd Berke / © Trikot: Borussia Dortmund / Puma)

Aber der Name, Mensch der Name. Wie soll man sich das merken? „Alkacär“. Aber in so einem Fall sind wir Dortmunder Fußballfans findig und vor allem erfahren. „Dieser Alka Seltzer, hasse gesehen, hat wieder zugeschlagen“. Klar, Alka Seltzer spült das von der letzten Schreckenssaison vernebelte Gehirn wieder frei. Wir haben wieder Spaß, am Spiel und auch an unserer Wortschöpfung, die nicht die erste ist, die uns gelang.

Da gab es mal den aus der französischen Schweiz stammenden Stephane Chapuisat, auch so ein Knipser, aber noch schwerer auszusprechen. „Schapüisa“, wer kann sich schon derart die Zunge verbiegen? Vor allem, wo wir doch im Ruhrgebiet immer Fußballnamen hatten, die uns leicht und locker von der Zunge gingen. Beispielsweise Leo Konopczynki, SV Sodingen, B-Nationalspieler, oder der Altborusse Hans Cieslarczyk (WM-Teilnehmer).

Und jetzt so was, „Schapüisa“. Aber auch damals wussten wir uns schon zu helfen. Irgendwann rief es einer nach einem Tor: „Hasse gesehen, Schapusiak hat wieder zugeschlagen. Is gut, ey.“ Jau, das war er, wirklich gut. Und die Abkürzung hatten wir auch schnell drauf: Schappi. „Schappi wird Papi“ dichtete mal eine Zeitung. Und wenn sie erst mal solche Namen haben, unsere Stars, dann sind sie eingemeindet, dann gehören sie zu uns. Lange nach Schapusiak nun Alka Seltzer.

Zappel, Appel, Rübe, Ente

Überhaupt, die Spitznamen im Fußball. In Kamen spielte mal bei der örtlichen Westfalia „Zappel“ Lepke, und schon der Name reicht, um zu wissen, wie das aussah. Nervös hat er uns beim Zugucken gemacht, schrecklich nervös mit all seiner Ruderei mit den Armen. „Rübe“ Michalsky war schon fast eine liebevolle Bezeichnung angesichts seiner Birne, die jeder, aber wirklich jeder unter tausend Fußballerköppen sofort herausfinden würde, wenn er nur den Spitznamen kannte, aber nicht „Rübe“ selber.

Oder „Appel“ Maidorn vom VfL Kamen, dessen Wangen schon vor dem Anpfiff glühten wie Granatäpfel. „Appel“ war ein ungefördertes Talent, heute würde er sicher in der ersten oder zweiten Bundesliga spielen. Und egal, wie groß das Stadion sein würde, in dem „Appel“ seine Fußballkünste gezeigt hätte, egal von welchem Platz aus, man hätte ihn sofort unter all den Spielern entdeckt.

Und erst mal der unvergessene „Ente“ Lippens, grandios, wie er mit seinen nach außen gestellten Füßen durchs Westfalenstadion watschelte und seine Gegner schwindelig spielte. Sein Lieblingsgegner war übrigens der „Terrier“ Berti Vogts, den er nicht nur austrickste, sondern auf den er wartete, bis Berti sich wieder aufgerichtet hatte, einzig zu dem Zweck, um ihn noch mal auszutricksen.

Lange vor seiner Dortmunder Zeit hat sich Lippens bei Schwarz-Weiß Essen vorgestellt, wollte einen Profivertrag, aber Trainer Witzler schickte ihn nach dem Probetraining mit der Bemerkung weg: „Hau ab, du kannst ja nicht mal richtig laufen.“ Laufen vielleicht nicht, aber Fußballspielen.

 




Von Rahn bis Reus – Was wären die deutschen WM-Teams ohne Fußballspieler aus dem Ruhrgebiet?

Gastautor Heinrich Peuckmann über die unverkennbar wichtige Rolle von Kickern aus dem Revier:

Hat Jogi Löw für die morgen beginnende WM Fußballer aus dem Ruhrgebiet übersehen? Wenn es nach meinem jüngsten Sohn Niklas (Theologe an der Ruhruniversität Bochum) ginge, wäre da unbedingt Andreas Luthe zu nennen.

Essener Denkmal für den Fußballer Helmut Rahn, der von 1951 bis 1959 für Rotweiß Essen spielte und 1954 den deutschen Siegtreffer im WM-Endspiel erzielte. (Foto: Sebastian Ritter / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)

Essener Denkmal für den Fußballer Helmut Rahn (1929-2003), der von 1951 bis 1959 für Rot-Weiss Essen spielte und 1954 den deutschen Siegtreffer im WM-Endspiel erzielte. (Foto: Sebastian Ritter / Wikimedia – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)

Luthe ist Ersatztorwart beim Zweitligisten VfL Bochum, der mit seinen Paraden so manche Partie entschieden hat, einige freilich auch zugunsten des Gegners. Wenn bei einer Fußballübertragung ein Torwart einen Fehler macht, ruft mein Sohn: „Luthe! Die sollten sich den Luthe holen.“

„Die sollten Andreas Luthe holen!“

Zuletzt war das beim Finale der Champions League der Fall, als Karius von Liverpool das Spiel ganz alleine entschied, allerdings für Real Madrid. Da schlug Niklas wieder Liverpools Trainer Klopp vor, den Luthe zu holen. Aber mein Sohn trinkt auch das Bochumer Fiege-Bier, und wer Fiege trinkt, der darf auch Luthe gut finden.

Aus dem Ruhrgebiet ist diesmal Marco Reus von Borussia Dortmund dabei, und dem haben wohl alle Fans im Revier die Berufung gegönnt, war er doch bei Großturnieren stets verletzt. EM, WM, egal was kam, Reus lief an Krücken. Aber diesmal ist er fit, die Fans im Revier staunen. Zuletzt haben sie gewitzelt, dass Löw ihn in den Testspielen besser nicht aufstellen sollte, damit bloß nichts passiert. Aber Löw hat nicht auf die Fans gehört, hat Reus (ein echter Dortmunder Junge übrigens) spielen lassen und der hat tatsächlich das Spielfeld verlassen, ohne zu humpeln. Es gibt in diesen harten Zeiten auch noch gute Nachrichten.

Weigl und Götze – leider nicht dabei

Hätte Löw noch andere Spieler aus dem Revier mit nach Russland nehmen sollen? Den Julian Weigl vom BVB vielleicht. Weigl ist ein Abräumer vor der Verteidigung, er läuft die Lücken zu, unterbindet wunderbar die Angriffe des Gegners und sorgt für Stabilität. Leider war er lange verletzt und fehlte Borussia. Bis auf den 8. Tabellenplatz rutschte der BVB zwischenzeitlich ab, dann kam Weigl zurück und es reichte gerade noch für die Qualifikation zur Champions League. Ein paar schöne Abende im kommenden Herbst bedeutet das. Mindestens. Fünfmal hat Weigl für die Nationalmannschaft gespielt, vielleicht ist er, wenn es bei der Borussia in der nächsten Saison (hoffentlich!) wieder besser läuft, bald wieder dabei.

Das könnte auch für Mario Götze gelten, Schütze des entscheidenden Tores bei der letzten WM. Sein Schuh, mit dem er das Tor zum 1:0-Siege gegen Argentinien im Endspiel erzielte, steht nun in einer Vitrine im Dortmunder Fußballmuseum. Wer sagt eigentlich, dass die Zeit der Reliquienverehrung vorbei ist? Götze hat sich damit in die Reihe der anderen WM-Finaltorschützen eingereiht: Helmut Rahn 1954, Gerd Müller 1974, Andreas Brehme 1990.

Entscheidende Finaltore von Revierjungs

Helmut Rahn, dies nebenbei, war auch ein echter Ruhrgebietsjunge, was man nicht zuletzt an seiner Liebe zum Bier erkennen konnte. Rahn stammte nämlich aus Essen und hat die längste Zeit für Rot-Weiss gespielt, das mit ihm den Meistertitel gewann und Pokalsieger wurde. Heute dümpelt der Verein in der vierten Liga rum. Wer die B1 durch Essen fährt, kann an den Brücken ablesen, wie präsent der Helmut noch immer ist. Der unsterbliche Kommentar von Herbert Zimmermann ist nämlich dort zu lesen. Erste Brücke bei der Einfahrt: „Rahn müsste schießen“, zweite Brücke: „Rahn schießt auch“, dritte Brücke bei der Ausfahrt: „Tor, Tor, Tor!“

Mario Götze war auch lange verletzt und hat nicht mehr rechtzeitig zu seiner alten Form gefunden. Schade. Für Borussia und die Nationalmannschaft. Götze ist ein eher langsamer Spieler, er war das von Jugend an. Umso wichtiger war daher für ihn die Ballbehandlung und die ist Klasse. Wie er den Ball stoppt, ihn fast blind weiterleitet, wie er auf engstem Raum den Gegner austricksen kann, eine Augenweide! Aber dafür muss er in Form sein und das war er lange nicht. Erst zuletzt blitzte in einigen Spielen sein Können auf. Leider nicht in jedem.

Keine Chance für Fährmann bei Jogi Löw

Auf Schalke, wie man im Revier sagt, spielt ein guter Torwart. Fährmann heißt er und der hätte, das sagen selbst wir „Feinde“ aus Dortmund, längst mal eine Chance bei Löw verdient. In den berühmten Derbys hat er die Spieler von Borussia so manches Mal zur Verzweiflung gebracht. So gut wie Trapp, dritter Torwart im Löw-Team, ist er auch. Aber merkwürdig, Fährmann bekam nie eine Chance. Aber vielleicht ergeht es ihm ja wie dem Dortmunder Torwart Roman Weidenfeller, der auch jahrelang großartig hielt und von  Löw penetrant übersehen wurde, so dass Trainer-Idol Klopp schon witzelte, Weidenfeller sei der weltbeste Torhüter ohne Länderspiel. Das änderte sich erst kurz vor der WM 2014, als er überraschend doch berufen wurde, im reifen Alter von 34 Jahren noch zur WM mitgenommen wurde und es auf insgesamt 5 Länderspielen brachte.

Mit dabei ist noch Leon Goretzka, wie Reus ein richtiger Ruhrgebietsjunge, der aus Bochum stammt. Bis Ende dieser Saison spielte er für Schalke, nun wechselt er nach München. Dort spielt Manuel Neuer, trotz monatelanger Verletzung wieder Torwart Nummer 1 bei Löw. Neuer kommt auch aus dem Revier, aus Gelsenkirchen-Buer. Er ist der beste Torhüter der Welt, ein Junge von uns, aber seit er nach München gewechselt ist, mögen ihn auf Schalke nicht mehr viele.

Gelsenkirchen liegt nicht in der Türkei

Ja, und dann kommen noch andere Spieler aus dem Ruhrgebiet, die nun in ausländischen Spitzenclubs spielen. Julian Draxler, Mesut Özil und Ilkay Gündogan, alle aus Schalke, Verzeihung aus Gelsenkirchen. Auch wenn Özil und Gündogan zuletzt vielleicht gemeint haben, Gelsenkirchen liege in der Türkei und werde von Erdogan regiert.

Allein mit den Ruhrgebietsjungen könnte man also eine halbe Topmannschaft bilden. Nur fällt das leider nicht auf. Die Jungs verlassen uns. Warum eigentlich? Im Ruhrgebiet ist es doch „klasse“. Trotzdem, bei so viel „Ruhrgebiet“ im Löw-Team sind die Chancen auf den fünften WM-Titel riesig. Zweimal haben unsere Jungs schon die WM entschieden, Rahn und Götze. Deshalb stellt sich nicht die Frage, ob Deutschland wieder Weltmeister wird. Nein, einzig die Frage, wer von unseren Ruhrgebietsjungen das entscheidende Tor schießt, muss noch beantwortet werden.




Nicht nur zum Ende der Zechen-Ära eine Erinnerung wert: August Siegel, Bergmann und Gewerkschafts-Pionier

Gastautor Horst Delkus erinnert – nicht zuletzt aus Anlass der bald endenden Zechen-Ära im Ruhrgebiet – an den Bergmann und Gewerkschafter August Siegel (1856-1936), einen Pionier der Arbeiterbewegung des Reviers:

Die Heilige Barbara – Schutzpatronin der Bergleute – muss mit dem Kopf geschüttelt haben, als sie erfuhr, wie die katholische Geistlichkeit gegen den neu gegründeten Verband der Bergarbeiter hetzte: Gewerkschaftlich organisierte Bergarbeiter, hieß es da von der Kanzel herab, seien Mordbuben, der Auswurf der Menschheit.

August Siegel - Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Deutsches Bergbau-Museum / montan.dok / Sammlung Delkus)

August Siegel – Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Sammlung Delkus)

Ein Pfaffe hatte sogar das Bündnis des Bergarbeiterverbandes mit der Hölle entdeckt. „Wo die ‚Bergarbeiterzeitung‘ auf dem Tische liegt“, predigte er den Frauen der Bergarbeiter, „da sitzt der Teufel unterm Tisch.“ Und die ‚Tremonia‘, die katholische Zentrums-Zeitung des einflußreichen Dortmunder Verlegers Lambert Lensing, mahnte: „Wehe unserem Arbeiterstande, wenn er sich in die Hände der Sozialdemokratie begibt.“

Panikmache anno 1889. Denn die organisierte Sozialdemokratie war damals im Ruhrgebiet noch eine Sekte; ihre heimlichen Hauptstädte hießen Leipzig, Hamburg oder Berlin. Auf den Bergarbeiterstreik im Mai hat sie wahrscheinlich nicht mehr Einfluß gehabt, als die Apo 70 Jahre später auf die Septemberstreiks 1969. „Sie ist mit dem Ausbruch desselben gerade so überrascht worden, wie die übrige Welt“, schrieb einer, der es wissen mußte: August Bebel.

Er galt als bester Agitator der Gründungszeit

Einfluss im Bergarbeitermilieu des Ruhrgebiets hatten um 1889 vor allem drei Sozialdemokraten: die mit dem Nimbus der „Kaiserdelegierten“ versehenen Bergleute Ludwig Schröder, Friedrich Bunte und August Siegel. Ein zeitgenössischer Chronist über diese „Volksverführer und Hetzer“: „Schröder, der Älteste, wird als ‚mehr erfahren‘, ‚offen‘ und ‚gutmütig‘ im Gegensatz zu dem hinterhältigeren Bunte geschildert. Siegel scheint der geistig Beweglichste zu sein. Er scheint auch für weit greifende Organisationspläne und für die eigentlichen Lohnkämpfe mehr eingenommen als die zwei anderen.“

Alle drei waren an der Gründung und am Aufbau der Bergarbeitergewerkschaft maßgeblich beteiligt. In der Phalanx der Gewerkschaftsführer aber sind sie – im Gegensatz zu Hue, Sachse, Husemann und Schmidt – in Vergessenheit geraten. Immerhin ist einer von ihnen im Internationalen Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens von 1932 noch mit einer Kurzbiographie vertreten: August Siegel. In ihm, heißt es da, „verkörpert sich ein Stück Geschichte des Verbandes der Bergarbeiter, war er doch in der Gründungszeit sein bester Agitator“.

Mit elf Jahren täglich zwölf Stunden auf der Kohlehalde

Geboren wurde August Siegel am 1.April 1856 in Zwickau. Sein Vater war Bergmann, starb jedoch fünf Monate vor Augusts Geburt. Die Witwenrente reichte für die neunköpfige Familie nicht aus. August besuchte die Armenschule, unternahm Bettelstreifzüge aufs Land. Über seine Kindheit schrieb er später: „Bei den Bauern konnte ich manchen Überfluss entdecken, der mich dazu zwang, Vergleiche anzustellen mit der furchtbaren Not, die bei uns zu Hause herrschte. Warum ist es so? Warum kann sich nicht jeder satt essen, wenn er Hunger hat? Das waren meine ersten philosophischen Gedanken.“

Zwölf Stunden täglich arbeitete er bereits mit elf Jahren täglich auf der Kohlenhalde. Als ein älterer Bruder beim Rangieren der Kohlenwaggons schwer verunglückte, stand für seine Mutter fest: Mein Sohn soll kein Bergmann werden! Er wurde Sandformer in einer Chemnitzer Maschinenfabrik. Hier ergaben sich die ersten Kontakte zu Sozialdemokraten. Mit 16 Jahren trat er der Partei bei. Nach dem Chemnitzer Metallarbeiterstreik 1872 folgte Siegel seiner älteren Schwester von Sachsen nach Westfalen. In Dortmund und Umgebung fand er Arbeit auf verschiedenen Zechen.

„Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden…“

Siegel in seinen Erinnerungen: „Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden, ist kaum zu beschreiben. Warum, wird man fragen, haben die Leute die betreffende Zeche nicht verlassen und auf einer anderen Grube gearbeitet? Das ist leichter gesagt als getan. Viele von der Belegschaft waren Kleinhauseigentümer und hatten ohnehin schon einen weiten Weg zur Arbeitsstelle. Bei einem Arbeitswechsel mußten sie noch weiter laufen. Zumal fanden sie das, was sie auf der einen Zeche verlassen hatten, auf der anderen getreulich wieder.“ Streiks ohne eine Organisation im Rücken erschienen wenig aussichtsreich.

Als Vorsitzender eines nichtkonfessionellen freien Knappenvereins arbeitete Siegel bald mit anderen Dortmunder Bergarbeiterführern zusammen und agitierte mit seiner kräftigen Stimme die Bergleute auf zahllosen Versammlungen. In seinen Lebenserinnerungen, 1921 als Serie für die Jugendzeitschrift des Bergarbeiterverbandes verfasst, schreibt er später: „Wie oft wunderte ich mich in jenen Tagen, wenn die bürgerlichen Zeitungen schrieben, daß die sozialdemokratischen Agitatoren von den Schweißtropfen der Arbeiter lebten. Nicht einen Pfennig bekamen wir. Fahr- und Zehrgeld, wie alles, was wir sonst noch ausgeben mußten, ging aus unserer Tasche. Hin und wieder verspielten wir noch dazu eine Schicht. Das hielt uns aber nicht ab, unserem Ziel treu zu bleiben. Unsere Arbeit war auch keineswegs umsonst. Es kam etwas mehr Leben in die ruhig dahinbrütenden Knappen.“

Streikführer für wenige Minuten zur Audienz beim Kaiser

Alle in Deutschland existierenden Bergarbeitervereine erhielten für den 2.Juni 1889 eine Einladung zu einem Delegiertentag der Knappenvereine nach Dortmund-Dorstfeld. Zentraler Tagesordnungspunkt: Wie die miserable Lage der Bergarbeiter in Deutschland zu beseitigen sei.

Doch wegen des Massenstreiks im Mai, bei dem rund 100.000 Bergarbeiter die Arbeit niederlegten, wurde die Versammlung verschoben. Während dieses Streiks schickten die Dortmunder Bergarbeiter Bunte, Schröder und Siegel zum Kaiser nach Berlin, um ihm die Forderungen der streikenden Ruhrkumpels vorzubringen: Wiedereinführung der Acht-Stunden-Schicht, Lohnerhöhungen und Abschaffung der Schikanen auf den Zechen. Als die drei zur Kaiser-Visite aufbrachen, bröckelte der Streik rasch ab. Die Audienz dauerte nur wenige Minuten und gipfelte in der Drohung Wilhelms II., alles über den Haufen schießen zu lassen, falls der Streik unter den Einfluß der Sozialdemokratie geriete.

Nach erfolglosem Streik auf die Schwarze Liste gesetzt

Nach diesem erfolglosen Streik wurden Siegel und die anderen Streikführer gemaßregelt. Sie kamen auf die Schwarze Liste. Mit Hilfe von Spendengeldern aus der Parteikasse konnten sie sich jedoch eine bescheidene Existenz aufbauen. August Siegel wurde Flaschenbierhändler und später hauptamtlicher Agitator des Bergarbeiterverbandes, den 200 Zechendelegierte und Knappenvereinsvertreter am 18.August 1889 in Dorstfeld gegründet hatten. Einige Klagen wegen „indirekter Aufreizung zum Ungehorsam“ und Beleidigung (unter anderem hatte er die Knappschaftsältesten in einer Bergarbeiterversammlung unfähige „Strohköpfe“ genannt und ihnen vorgehalten, sie würden ihre Stellung nur zum eigenen Vorteil ausnutzen) brachten ihm mehrere Gefängnisstrafen ein.

Der alte Friedrich Engels hilft dem nach London geflüchteten Siegel

Anfang Januar 1892 sollte Siegel eine neunmonatige Haftstrafe im Zuchthaus Siegburg, einer ehemaligen Irrenanstalt, antreten. Fünf weitere Anklagen standen noch aus. Ludwig Schröder riet seinem Freund zur Flucht. Am 12.Januar 1892 machte sich Siegel aus Dorstfeld davon. Erste Station seines Asyls: London. Hier halfen dem mittlerweile steckbrieflich Gesuchten Friedrich Engels und Julius Motteler bei der Übersiedlung nach Schottland, wo Siegel im Bergbau Arbeit fand und bald seine Familie nachreisen lassen konnte.

Beim alten Engels hat Siegel einen guten Eindruck gemacht: „Das ist doch mal wieder ein deutscher Arbeiter, mit dem man sich vor allen anderen Nationen sehen lassen kann.“ Er empfahl Siegel eindringlich die englische Sprache zu lernen und „täglich, wenn nicht stündlich“ Kontakt zu den schottischen Arbeitern zu halten.

Als Mitglied der Bergarbeitergewerkschaft und der sozialistischen Independent Labour Party (ILP) beteiligte sich August Siegel an zahlreichen Streiks der britischen Bergarbeiterbewegung. Auch hier wurde er als Streikführer gemaßregelt. Als deutscher Asylant verlor er während des Ersten Weltkrieges seinen Arbeitsplatz. Bald folgte die Ausweisung als „lastiger Ausländer“.

Ausweisung und Rückkehr ins Ruhrgebiet

Im Januar 1919 kehrte Siegel ins Ruhrgebiet zurück. In Bochum, in der Hautpverwaltung des Bergarbeiterverbandes, arbeitete der humorvolle Graubart noch bis zu seiner Pensionierung 1929. Er starb im Alter von 80 Jahren am 5.Oktober 1936.

Geprägt durch die Aufbruchstimmung der frühen Sozialdemokratie sowie etlicher Arbeitskämpfe verkörperte August Siegel die Gründergeneration der heutigen Gewerkschaften. Sein Leben umfaßt eine Periode der Arbeiterbewegung, die vom Sozialistengesetz, dem ersten Massenstreik 1889 und den ersten stabilen Gewerkschaftsorganisationen bis zur kampflosen Zerschlagung der Gewerkschaften durch den Faschismus reicht. Ein Gewerkschaftsbeamter, ein Apparatschik ist August Siegel nie geworden. Weil die Gewerkschaft als Organisation erst mit ihm aufgebaut wurde und weil für ihn die Sache selbst wichtiger war als die eigene Karriere.

Durch und durch Sozialist und Idealist

Bernhardine Gierig, 88 Jahre alt, hatte Siegel in den zwanziger Jahren über ihren Vater persönlich kennengelernt. Tief beeindruckt erzählt sie heute noch: „Siegel war ein richtiger Mensch. Er machte kein Theater daraus, daß er gelitten hat für die Bewegung; er wollte keinen Profit aus der Sache schlagen. Er war sozialistisch gesonnen durch und durch. Ein wirklicher Idealist.“

Die Heilige Barbara wird an diesem Pionier der Bergarbeiterbewegung sicher ihre helle Freude gehabt haben.




(Fast) alles über „Kunst & Kohle“: 17 Museen in 13 Revier-Städten stemmen Mammutprojekt zum Ende der Zechen-Ära

Schwarz. Schwarz. Schwarz. Es ist, in mancherlei Schattierungen bis hin zu diversen Grauwerten, der beherrschende „Farb“-Ton dieses wahrlich ausgedehnten Ausstellungsreigens.

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation "Die Trinkenden" im Museum Ostwall im Dortmunder "U". (Foto: Bernd Berke)

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation „Die Trinkenden“ im Museum Ostwall im Dortmunder „U“. (Foto: Bernd Berke)

Hie und da erscheint die Finsternis schon im Titel: Schlichtweg „Schwarz“ lautet er im Bochumer „Museum unter Tage“, „Reichtum: Schwarz ist Gold“ heißt es derweil im Duisburger Lehmbruck-Museum. Anderwärts dominiert das Schwarz jedenfalls die verwendeten Materialien oder wird durch vielfältige Kontraste und sozusagen durch Legierungen anverwandelt. Wirklich kein Wunder, denn es geht ja im gesamten Revier um „Kunst & Kohle“.

Der Ausstellungssommer 2018 hat durchaus fordernden Charakter. Kulturbeflissene müssen sozusagen alles geben (bekommen dafür aber auch etliches geboten): In den letzten Tagen eröffneten eine raumgreifende Schau zur Geschichte des Steinkohle-Bergbaus in Essen und ein fünffach aufgefächertes Friedens-Projekt in Münster. Wir berichteten jeweils. Hier und jetzt aber geht es um eine weitere Unternehmung, die sich aufs Ende des deutschen Bergbaus bezieht und insgesamt alles andere von den Dimensionen her in den Schatten stellt: Gleich 17 Ausstellungshäuser in 13 Städten des Ruhrgebiets vereinen ihre Kräfte just zum revierweiten Ereignis „Kunst & Kohle“, das an den meisten Orten bis zum 16. September dauert.

Hilfreiches Netzwerk der RuhrKunstMuseen

Ohne das gemeinsame Netzwerk jener 20 „RuhrKunstMuseen“, die seit 2008 – damals im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010 – zunehmend kooperieren, wäre der Kraftakt so nicht möglich gewesen. Auf diese Strukturen ließ sich aufbauen, als es darum ging, das weitläufige Themenfeld in aller Vielfalt, Breite und Tiefe darzustellen. Das Ganze soll natürlich auch touristisch beworben werden. Die nicht nur insgeheime Hoffnung: Wer für die Kunst ins Revier kommt, wird hier vielleicht auch ein bisschen „Kohle“ ausgeben.

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Einige Museumsdirektor(innn)en des Reviers und Vertreterinnen der Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Direktor(inn)en diverser Kunstmuseen des Ruhrgebiets und Vertreterinnen der beteiligten Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Sprachspielchen beiseite. Schon seit 2011 liefen die Vorarbeiten zu „Kunst & Kohle“, bereits seit 2007 sah man ja das epochale Datum der letzten Zechenschließungen in Bottrop und Ibbenbüren unweigerlich kommen. Also kann man jetzt (inklusive museumseigener Mittel) auf einen stolzen Etat von 2,5 Millionen Euro zurückgreifen und Arbeiten von rund 150 Künstler(inne)n auf insgesamt 20000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeigen.

Hauptförderer ist mit 750.000 Euro einmal mehr die RAG-Stiftung, die vor allem gegründet wurde, um die enormen „Ewigkeitskosten“ (Grundwasserschutz etc.) nach dem Ende des Bergbaus zu tragen, welche jährlich rund 220 Millionen Euro ausmachen dürften. Das Stiftungsvermögen liegt allerdings auch, wie es in vornehmer Diskretion hieß, im „niedrigen zweistelligen Milliardenbereich“, so dass auch noch dies und das für Kultur und Bildung übrig bleibt. Außerdem sind bei „Kunst & Kohle“ u. a. die Kunst Stiftung NRW und die Brost Stiftung mit an Bord.

Im Bottroper Josef Albers Museum ausgestellt: Bernd und Hilla Becher "Fördertürme" (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur - Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Im Bottroper Josef Albers Museum: Bernd und Hilla Becher „Fördertürme“ (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, Courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Wie bekommt man das in den Griff?

Das sind fürwahr imponierende Zahlen und Fakten. Doch wie bekommt man das gesamte, nahezu monströse Unterfangen als Besucher (oder Berichterstatter) „in den Griff“? Wie kann man sich welche Schneisen schlagen?

Wie zu hören war, schicken sich mehrere Regional-Zeitungen an, mit all den einzelnen Ausstellungen gleichsam in Serie zu gehen und so auch das von Journalisten gefürchtete „Sommerloch“ Stück für Stück zu füllen. Glückauf dazu! Wir bringen hingegen einen schier endlosen „Riemen“, der dennoch nur Hinweise und Stichworte enthalten kann…

Die einstige Bergbaustadt Hamm ist leider nicht dabei

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge "Drawing for Mine", Kohlezeichnung (1991) (© William Kentridge)

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge „Drawing for Mine“, Kohlezeichnung (1991). (© William Kentridge)

Einstweilen muss ich freimütig bekennen, nicht etwa alle 17 Ausstellungen gesehen zu haben. Das kann – außer dem federführenden Koordinator Prof. Ferdinand Ullrich (vormals Leiter der Kunsthalle Recklinghausen) – bisher wohl niemand von sich behaupten. Es ist ja auch schön, die Auswahl unter so vielen Optionen zu haben. Zur Erschließung größerer Bereiche werden (kostenlose!) Bustouren angeboten, die jeweils zu drei Ausstellungen führen. Ich habe fürs Erste eine westfälische Route im östlichen Ruhrgebiet vorgezogen – mit den Stationen Herne, Dortmund und Unna.

Apropos Ost-Revier: Hamm, früher eine ausgesprochene Bergbaustadt mit mehreren großen Zechen (Sachsen, Radbod, Heinrich Robert) ist aus unerfindlichen Gründen nicht am Projekt beteiligt. Freilich war das dortige Gustav-Lübcke-Museum in den letzten Jahren auch nicht mit personeller Kontinuität gesegnet. In Hagen, dessen zwei Kunstmuseen auch nicht mitmachen, hat man’s eh weniger mit der Steinkohle gehabt. Sonst aber sind praktisch alle Ecken und Enden der Region mit von der Partie.

Spektakuläre Verhüllung des Herner Schlosses mit Jutesäcken

Nun geht’s aber auf die Tour:

In Herne ist das größte und spektakulärste Kunst-Signal schon aus einiger Entfernung sichtbar. Dort hat der aus Ghana stammende Ibrahim Mahama, der auch schon die letzte documenta bereicherte, große Teile des Schlosses Strünkede unter dem bezeichnenden Titel „Coal Market“ mit Jutesäcken verhüllt. Anders als Christo, ist es ihm nicht in erster Linie um die ästhetische oder gar ästhetisierende Wirkung zu tun, seine Arbeit ist vor allem mit gesellschaftlicher und politischer Bedeutung aufgeladen.

Die in Asien gefertigten, überwiegend in Afrika verwendeten, nunmehr zerschnittenen und sodann in vielen Arbeitsstunden von freiwilligen Helfern miteinander vernähten Jutesäcke sind sichtlich gebrauchte Exemplare, sie riechen buchstäblich noch nach dem Schmutz und nach der Knochenarbeit auf den Transportwegen durch Afrika und auf interkontinentalen Strecken. In etlichen Säcken wurde tatsächlich Kohle transportiert (etwa von Afrika nach Europa), in anderen beispielsweise Lebensmittel. Wenn ein eher herrschaftliches Gebäude wie das Schloss damit verhüllt wird, ist dies eine nachdrückliche, auch provokante Erinnerung an globale Kapitalströme und weltweiten Warenverkehr, in dem vielen Ländern hauptsächlich die Drecksarbeit bleibt.

Trotzdem freut man sich in Herne über den ungewohnten Anblick. Das Schloss ist nämlich beliebte Kulisse für viele Hochzeiten. Es soll Brautpaare geben, die es kaum noch erwarten können, hier und möglichst bald zu heiraten, denn so besonders wird das alte Gemäuer später wahrscheinlich nie wieder aussehen…

Die Verwandlung von Holz durch Feuer

Weiter zur zweiten Station in Herne: In den Flottmann-Werken wurde einst der Abbauhammer erfunden und produziert, mit dem die Massenproduktion in den Revierzechen recht eigentlich begonnen hat. Heute sind von den vielen Werksgebäuden „nur“ noch die Flottmannhallen übrig. Dort stellt jetzt der englische Bildhauer und Zeichner David Nash seine Arbeiten aus, die gerade in dieser lichten Ausstellungshalle wunderbar zur Geltung kommen. Sie fügen sich derart gut zum Generalthema Kohle, dass man meinen könnte, es seien eigens hierfür ausgeführte Auftragsarbeiten. Doch das ist nicht der Fall.

Blick in die Ausstellung mit Arbeiten von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Nash ist vorwiegend Holzbildhauer, doch seine in Herne präsentierten Skulpturen haben gleichwohl die Anmutung von Steinkohle-Produkten. Er rückt dem Holz mit Kettensägen,  Bunsenbrennern, zuweilen auch mit Flammenwerfern zuleibe und lässt es allseits gezielt verkohlen. Vorzugsweise sind die Skulpturen nicht zusammengefügt, sondern aus einem großen Stück herausgearbeitet. Aus all dem ergibt sich ein anregendes Wechselspiel zwischen natürlichen Oberflächen (Risse und Sprünge im Holz) sowie geometrischen Figurationen. Hier und in Nashs Zeichnungen wird man gewahr, wie vielfältig die Valeurs zwischen Schwarz, Grau und Weiß sind.

Auf nach Dortmund, durch den üblichen Nachmittagsstau. Hier geht es ins Museum Ostwall im Dortmunder „U“, sechste Etage. Edwin Jacobs, Direktor des Hauses, ist zugleich Sprecher des eingangs erwähnten Verbundes der RuhrKunstMuseen.

Bergmännische Laienkunst im Kontrast zu professionellen Positionen

Bergbau gilt gemeinhin als Männersache, doch hier haben sich drei Kuratorinnen Aspekten des Themas gewidmet: Regina Selter (stellv. Direktorin), Karoline Sieg und Caro Delsing. Sie haben nicht nur ermittelt und in einer Karte visualisiert, dass es in der Hoch(ofen)zeit der 50er/60er Jahre in Dortmund 15 fördernde Zechen gegeben hat. Sie haben zudem die Geschichte des Museums erforscht und herausgefunden, dass Leonie Reygers, die Gründungsdirektorin nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Faible für naive Kunst und Laienkunst hatte. Demgemäß richtete sie einen entsprechenden Sammlungsschwerpunkt ein. Naive Kunst aus Paris zeigte sie schon 1952 unter dem heute treuherzig klingenden Titel „Maler des einfältigen Herzens“.

All das war Anlass genug, um im ersten Teil der Ausstellung die Bilder einiger naiver Künstler aus der Ostwall-Sammlung und vor allem Beispiele fürs Schaffen bergmännischer Laienkünstler zu versammeln. Gewiss, manche von ihnen haben zu einem eigenen Stil und eigenen Ausdrucksformen gefunden. Dennoch deutet schon die drangvoll enge „Petersburger Hängung“ darauf hin, dass die künstlerische Wertschätzung für diese Arbeiten insgesamt auch ihre Grenzen hat. Es sind teilweise etwas unbedarfte Idyllen. Doch ein paar Bilder künden auch von Ängsten und Alpträumen der Arbeitswelt.

Wenn Dinge des Bergbaus zu abstrakten Mustern geraten

Es geht ein deutlicher Riss durch diese Dortmunder Ausstellung, der auch gar nicht gekittet werden soll. Getrennt durch einen Kreativbereich, in dem Besucher sich einschlägig betätigen können, folgen als Teil zwei einige gegenwärtige künstlerische Positionen, die denn doch völlig andere, ungleich reflektiertere Zugänge zum Thema Kohle eröffnen – freilich sozusagen „von außen“ her, aus der Perspektive des professionellen Kunstbetriebs und lange nach der eigentlichen Zechenzeit.

Abstrakte Wirkung: Andreas Gursky "Hamm, Bergwerk Ost" (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 - Courtesy Sprüth Magers)

Abstrakte Wirkung aufgehängter Bergmannskleidung in der Waschkaue: Andreas Gursky „Hamm, Bergwerk Ost“ (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 – Courtesy Sprüth Magers)

Das Spektrum reicht hier von Andreas Gurskys Fotografie „Hamm, Bergwerk Ost“, der die aufgehängte Bergmannskleidung in der Waschkaue zu einer geradezu abstrakten Komposition verwandelt, beispielsweise bis zum Bochumer Künstler Marcus Kiel, der textile Hinterlassenschaften von Bergmännern zu einer – ebenfalls abstrakt wirkenden – Wandinstallation von gehöriger Größe zusammengefügt hat. Es sind dies originelle Bergbau-„Denkmäler“ besonderen Zuschnitts – und von besonderer Güte. Fron und Schweiß der bergmännischen Maloche haben sie allerdings weit hinter sich gelassen.

Die „Heilige Barbara“ als Modepuppe

Bemerkenswert z. B. auch die Arbeiten zweier Frauen: Die Modedesignerin und Künstlerin Eva Gronbach hat eine gesichtslose Frauenfigur mit leichtem Sommerkleid auf einen Haufen mit grober Bergmannskleidung postiert. Bei näherem Hinsehen merkt man, dass auch die Frauenmode aus recycelter Bergmannskluft gewonnen wurde. Überdies erweist sich die Figur als Anspielung auf die „Heilige Barbara“, die Schutzpatronin der Bergleute. Hier stellt sich recht deutlich die Frage nach einer Zukunft jenseits des Bergbaus, auf die auch die gesamte Ausstellungs-Serie zu gewissen Teilen abhebt. Nicht nur ein mehr oder weniger wehmütiger Abschied von der Kohle soll gefeiert werden, sondern man will erklärtermaßen auch Grüße in die heraufdämmernde Zukunft aussenden. Wohl auch darauf spielt der lokale Dortmunder Ausstellungstitel „Schichtwechsel“ an.

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit "Was vergeht, was bleibt, was entsteht". (Foto: Bernd Berke)

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit „Was vergeht, was bleibt, was entsteht“. (Foto: Bernd Berke)

Der zweite Frauenname folgt sogleich: Alicja Kwade fasziniert mit ihrer Installation „Die Trinkenden“, in der höchst konventionelle Porzellan-Nymphen („weißes Gold“) am Fuß einer Kohlehalde („schwarzes Gold“) knien. Daraus erwächst eine durchaus rätselhafte Spannung. Wer mehr von dieser Künstlerin sehen will, hat dazu reichlich Gelegenheit: Das Kunstmuseum in Gelsenkirchen widmet ihr im „Kunst & Kohle“-Kontext eine Einzelausstellung.

Überhaupt finden sich Querbezüge zwischen den Museen. Einen losen Anknüpfungspunkt gibt es etwa nach Oberhausen, wo in der Ludwiggalerie Bergbau- und Kumpel-Figuren im Comic das Spezialgebiet sind. Auch in Dortmund sieht man eine Arbeit in diesem Geiste: Stephanie Brysch, also eine weitere Frau, hat ihre Collage „Unter Tage“ aus Comic-Figuren erstellt, die sich allesamt unter die Erdoberfläche begeben.

In Dortmund drei Kuratorinnen, in Unna drei Künstlerinnen

Nun aber noch etwas weiter ostwärts nach Unna. Dort befindet sich das weit und breit einmalige Zentrum für internationale Lichtkunst mit etlichen „Ikonen“ des Metiers. Und siehe da: Hier sind drei Künstlerinnen mit ihren Licht-Installationen gar unter sich. Bergbau als Männersache? Das gilt längst nicht mehr, wenn es um die ästhetischen Hinterlassenschaften und die weiteren Aussichten geht.

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers' Neon-Installation "Mein Berg" (2015) (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers‘ Neon-Installation „Mijn Berg“ (Mein Berg,  2015). (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Das Lichtkunst-Museum ist thematisch von vornherein prädestiniert, geht es doch zum Rundgang durch die ehemalige Linden-Brauerei einige Meter abwärts in den früheren Gärkeller; wenn man so will: unter Tage. Alle drei Installationen der meditativen Ausstellung „Down here – Up there“ (Hier unten, dort oben) spielen mit wechselnden Effekten von Licht und Dunkelheit.

Die Niederländerin Diana Ramaekers hat rot gefärbten Neonröhren montiert, deren Licht langsam entsteht und verlischt, immer und immer wieder – ein geheimnisvoller Energiefluss in der Dunkelheit. Nicola Schrudde hat ihren vielschichtigen Raum unter dem Titel „Schwarzdichte“ mit keramischen Plastiken und Videoloops so gestaltet, dass man nur allmählich und schemenhaft erkennt, was sich da begibt. Offenbar werden Kräfte der Natur beschworen, die in der Zukunft des Ruhrgebiets wieder mehr hervortreten sollen.

Schließlich Dorette Sturms raumfüllende „Breathing Cloud“, eine atmende Wolke also, die stets an- und abschwillt. Sehr sanftmütig kommt einem das vor – wie eine milde Verheißung. Man mag an die einst so schwarzen Wolken denken, die „damals“ über dem Revier hingen. Nun füllen sie sich offenbar mit neuem Leben. Und die Schwärze ist geschwunden.

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„Kunst & Kohle“: je nach Stadt ab 2., 3., 5. oder 6. Mai (Ausnahme: Küppersmühle in Duisburg erst ab 8. Juni). In den meisten Museen bis zum 16. September (Ausnahmen: Dortmunder „U“ nur bis 12. August, Museum Folkwang Essen nur bis 5. August).

Die beteiligten Museen (nach Städte-Alphabet) und ihre Themen:

Kunstmuseum (Bochum): Andreas Golinski „In den Tiefen der Erinnerung“
Museum Unter Tage (Bochum):
„Schwarz“
Josef Albers Museum (Bottrop):
Bernd und Hilla Becher – Bergwerke
Museum Ostwall im „U“ (Dortmund): „
Schichtwechsel“ – von der (bergmännischen) Laienkunst zur Gegenwartskunst
Lehmbruck-Museum (Duisburg): „
Reichtum: Schwarz ist Gold“
Museum DKM (Duisburg): „
Die schwarze Seite“
Museum Küppersmühle (Duisburg):
Hommage an Jannis Kounellis
Museum Folkwang (Essen):
Hermann Kätelhön – Ideallandschaft: Ruhrgebiet
Kunstmuseum (Gelsenkirchen):
Alicja Kwade
Flottmann-Hallen (Herne):
David Nash
Emschertal-Museum / Schloss Strünkede (Herne): „
Coal Market“ – Verhüllung durch Ibrahim Mahama
Skulpturenmuseum Glaskasten (Marl): „
The Battle of Coal“
Kunstmuseum (Mülheim/Ruhr):
Helga Griffiths „Die Essenz der Kohle“
Ludwiggalerie im Schloss (Oberhausen): „
Glück auf! Comics und Cartoons“
Kunsthalle (Recklinghausen):
Gert & Uwe Tobias
Zentrum für Internationale Lichtkunst (Unna): „
Down here – up there“
Märkisches Museum (Witten):
Vom Auf- und Abstieg

25 Euro (ermäßigt 15 Euro) kostet ein Kombi-Ticket, das auch zum mehrmaligen Besuch aller Ausstellungen über den gesamten Zeitraum berechtigt. Erhältlich in allen teilnehmenden Museen und unter der Ticket-Hotline der Ruhr Tourismus GmbH: 01806/18 16 50.

Kostenlose Bustouren, jeweils zu drei beteiligten Museen (ca. fünfeinhalb Stunden lang). Termine im Ausstellungs-Booklet: Anmeldungen unter buchungen@ruhrkunstmuseen.com oder telefonisch: 0203/93 55 54 723

Massiver Katalog in 17 Bänden im Wienand-Verlag, begrenzte Auflage der Gesamt-Publikation im großen Schuber, ansonsten in Einzelexemplaren für die beteiligten Museen erhältlich. Zur ersten Orientierung gibt es zudem ein Gratis-Booklet mit knappen Infos zu allen Ausstellungen.

Alle weiteren Informationen unter:

www.ruhrkunstmuseen.com/kunst-kohle.html




Hömma, Dingenskirchen, ey! Und schon wieder liegt ein Asterix-Band auf Ruhrdeutsch vor

So ganz neu ist die Masche ja nun nicht mehr. In der losen Reihe „Asterix auf Ruhrdeutsch“ liegt jetzt bereits der vierte Band vor. Und? Wie isser?

Asterix® - Obelix® - Idefix® / © 2018 Les Éditions Albert René

Die Titelseite des neuen Bandes (Asterix® – Obelix® – Idefix® / © 2018 Les Éditions Albert René)

In praktisch jedem deutschen und nachbarlich artverwandten Zungenschlag (CH / Ö) sind Abenteuer der unbeugsamen Gallier Asterix und Obelix inzwischen greifbar – von Alemannisch und Badisch bis Westfälisch und Wienerisch. Wenn ich richtig gezählt habe, sind 31 Dialekte und Mundarten auf dem Markt.

Kabarettist und Comedian Hennes Bender (von Haus aus Bochumer) hat den neuen Band ziemlich stilsicher in die gar nicht so einheitliche Mundart des Reviers übertragen. Das Werk trägt den trefflichen Titel – äh, ich komm‘ gleich drauf, öööhm, ach ja: „Dingenskirchen“. Wobei es ja eigentlich „Dingenskiachen“ heißen müsste. Heiß‘ ja au Doatmund, woll?

Abba getz ma ährlich: Der Zwang, jedes Wort und jeden Satz auf möglichst kerniges Ruhrdeutsch zu trimmen, strapaziert auf Dauer das Gemüt. Ja hömma, kannze von ausgeh’n.

Die geradezu visionäre, damals auf Pariser Bauwut bezogene Originalgeschichte von Albert Uderzo und René Goscinny hieß seinerzeit auf Deutsch „Die Trabantenstadt“. In der Revier-Version verteidigen die schier unbesiegbaren Ruhris (alias Gallier) mit List und Tücke, aber auch mit kräftigen Hieben ihre liebliche grüne Naturidylle gegen die Römer, die hier einen lukrativen Freizeitpark hinwuchten und überhaupt allerhand Bausünden mitsamt Wohnghettos sowie kommerzieller Touristenmeile anhäufen wollen.

Man mag sich freihändig aussuchen, für wen die Römer in diesem Falle stehen könnten. Internationales Großkapital? Dessen Ableger in der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf? Mh. Mal drüber schlafen. Auf jeden Fall gilt unverbrüchlich: „Voll panne, die Römers…“

Der Architekt und Planer, der in Cäsars Namen antritt, nennt sich Gentrifikatius, Cäsar selbst faselt „Lass uns Rom wieder großartig machen!“ Kommt einem irgendwie bekannt vor… Doch natürlich haben sie und die allzeit tumben römischen Legionen keine Chance, das Ruhrgebiet mit ihrem neoliberalen „Dingenskirchen“-Projekt (verlogener Slogan: „Leben wie Gott im Pott“) zu versauen. Kaum haben die Tagelöhner, die für die Römer schuften, einige Bäume für den ersten Bauabschnitt gefällt, so stehen diese anderntags wieder in voller Pracht da – dank Zaubersamen vom Magier Miraculix. Und man denke nur: Nachher wollen die Malocher auch noch einen Tarifvertrag mit Mindestlohn samt XXXV-Stunden-Woche haben. Boah, glaubsse, ey! Unerhört. Oder im O-Ton: „Alaahm! Die Werktätigen mucken auf!“

Auszug aus Seite 7 von "Asterix - Dingenskirchen" (Asterix® - Obelix® - Idefix® / © 2018 Les Éditions Albert René)

Auszug aus Seite 7 von „Asterix – Dingenskirchen“ (Asterix® – Obelix® – Idefix® / © 2018 Les Éditions Albert René)

Es folgen ein paar zufällig eingesammelte Kostproben aus den Sprechblassen. Stellt euch das alles in Versalien, also in durchgehenden Großbuchstaben vor; wie denn überhaupt Graphik und Schriftbild den Wortlaut entscheidend mitprägen. Klar, es ist ja schließlich ein Comic. Und da tönt es im Soundtrack beispielsweise so:

„Mein lieba Herr Gesangsverein! Getz wird hia abba ma sowwat von maloocht!“

„Machi nämmi auh! Wirsse schon sehn, ey!“

„Kumma, watti noh inna Buxe hab!“

„Dat hamma gleih. Die Dingers bitte einmal inne Löchers pfeffern!“

„Kommt ma alle lecka bei mich bei!“

Im Glossar am Ende werden schließlich noch einige Kernwörter erklärt, zum Exempel Butze, Fitsch, Fott, Hulle, Kasalla, Kawenzmann, Kusselkopp, pölen, Spacko und Tinte am Füller. Weiße Bescheid.

Zwischendurch bringt Hennes Bender auch kleine Anspielungen auf Revier-Dönekes unter. So baut er etwa den legendären Dialog eines Schiris mit dem Fußball-Original Willi „Ente“ Lippens in die Story ein: „Ich verwarne Ihnen!“ – „Ich danke Sie!“ Hübsch auch manche Überleitungen, die den Fortgang der Erzählung zeitlich gliedern: „Derweil indess währntdessen“, „Watt späta“…

Das alles macht streckenweise richtig Spass (kurz gesprochen, nicht etwa Spaaaaß), erschöpft sich aber auch irgendwann. Mit 48 Seiten isses dann auch ers‘ mal widder genuch. Vorsichtige Frage: Isses möchlich, datt sich soche Frei-Schnauze-Comics übbahaupt ein wenig verbraucht haben? Nee? Na, dann ehmt nich‘. Kerlokiste.

„Dingenskirchen“ (Asterix auf Ruhrdeutsch, übbasetzt von Hennes Bender -ursprünglicher Titel „Die Trabantenstadt“). Egmont Comic Collection, 48 Seiten, fester Einband, 12 Euro.




Ein Herz für die Sammlung und eine Absage an Blockbuster – Peter Gorschlüter wird neuer Direktor des Folkwang-Museums

Peter Gorschlüter (geb. 1974 in Mainz) wird der neue Direktor des Essener Folkwang-Museums. Bis er kommt, dauert es allerdings noch etwas. Sein Vertrag mit dem Museum für moderne Kunst (MMK) in Frankfurt endet erst Mitte 2018. Gorschlüters anschließender Essener Vertrag soll über acht Jahre laufen, und man darf gespannt sein, ob er es hier so lange aushält.

Peter Gorschlüter wird zum 1. Juli Direktor des Essener Folkwang-Museums.(Foto: rp)

Gorschlüters Vorgänger waren schneller wieder weg; Hubertus Gassner zog es 2006 nach nur vier Jahren in die Hamburger Kunsthalle, Hartwig Fischer, wiewohl erster Chef im neuen Chipperfield-Gebäude, verließ Essen nach sechs Jahren in Richtung Dresden (dann London), Tobia Bezzola wechselte jetzt nach fünf Jahren gen Lugano, um sich dort dem Aufbau des Museo d’arte della Svizzera italiana zu widmen.

Überstürzter Abschied

Zwar war in den letzten Jahren manchmal zu hören, daß es Tobia Bezzola in Essen nicht wirklich gut gefiele, trotzdem kam sein vorzeitiger Abgang etwas überraschend, zumal seine Leistungsbilanz sich sehen lassen kann. Man denke etwa an die Ausstellung des Fotografen Thomas Struth, an die deutschlandweit erste Präsentation der edlen zeitgenössischen Sammlung François Pinaults oder die Lagerfeld-Schau. Auch die Entscheidung der Krupp-Stiftung, fünf Jahre lang freien Eintritt in die Folkwang-Sammlung zu finanzieren, fiel in Bezzolas Amtszeit. Die Absage der Balthus-Ausstellung wegen des vehement erhobenen Pädophilie-Vorwurfs gegen Künstler und Werk im Jahr 2013 wiederum kann sicherlich nicht als Ausdruck persönlichen Scheiterns des Museumsdirektors gesehen werden.

Andrea Bezzolas Ausstellungen hatten Strahlkraft

Bezzola weiß um die Bedeutung großer Veranstaltungen für ein großes Haus, um deren Strahlkraft und Attraktivität. Es muß ja nicht gleich ein „Blockbuster“ sein wie vor 17 Jahren die Turner-Schau. Die wäre heutzutage, ohne potente Sponsoren und angesichts immer höherer Versicherungsprämien, sowieso nicht mehr vorstellbar.

Gorschlüter jedoch hält von Blockbustern wenig, er nennt sie nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen möchte er andere Formen der Museumsarbeit erschließen, die er im Pressegspräch kurz umriß. So strebt er „Interdisziplinäre Ausstellungsformate“ an, die Kunst etwa mit Mode, Musik oder Theater verbinden sollen. Mit „gemeinsamen Themenschwerpunkten“ möchte er unterschiedliche Teile der Sammlung neu präsentieren, „Vergangenheit und Zukunft“ oder „Utopie und Dystopie“ wären vorstellbare Überschriften. Auch zahlreiche Aspekte des Riesenthemas „Großstadt“ böten sich an.

Kooperieren und kartographieren

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt, so Gorschlüter, könnten Kooperationen mit Künstlern aus anderen Disziplinen sein. In Liverpool zum Beispiel, einer seiner früheren Wirkungsstätten, arbeitete der neue Folkwang-Chef mit Carol Ann Duffy zusammen, der Hofdichterin der Queen immerhin.

Die Sammlung möchte Gorschlüter „neu kartographieren“, aufs Neue sozusagen fragen nach den Beziehungen zu anderen Kulturen, zu bisher unberücksichtigten Impulsen. Dies sei ein lohnender Ansatz auch für eine gewachsene Sammlung.

Schließlich geht es Gorschlüter um den Dialog des Museums mit der Stadtgesellschaft. Das Museum solle sich durchaus stärker in Richtung Innenstadt bewegen, gerne auch performativ.

100 Jahre Folkwang – ein trauriger Tag für Hagener

Das konkreteste Projekt der vor ihm liegenden Amtszeit indes ist definitiv für das Jahr 2022 vorgesehen. Da wird das Essener Folkwang-Museum nämlich 100 Jahre alt. „Ich denke daran, das Museum dann in die Stadt zu bringen“, sagt Gorschlüter.

Sollen sie feiern, die Essener, es sei ihnen gegönnt. Weiter östlich im Revier wird das Fest gemischte Gefühle auslösen, markiert es doch den Verlust der einzigartigen Osthaus-Sammlung für die Stadt Hagen. Tröstlich ist da lediglich das Wissen, daß das Essener Folkwang-Museum mit der Osthaus-Sammlung gut umgegangen ist und dies, da sind wir ganz sicher, auch in Zukunft tun wird. Gorschlüter zeigt sich der Osthaus-Tradition bewußt und strebt (auch) deshalb eine enge Kooperation mit dem Fotoarchiv Marburg an, wo im Jahre 1933, was aber kaum einer weiß, das Fotoarchiv von Karl-Ernst-Osthaus verblieb.

Gern auf Augenhöhe mit Ludwig und MoMA

Tja. Um mal kurz persönlich zu werden: Ich hätte nichts gegen einige Ausstellungen, die bundesweit oder auch in den Nachbarländern wahrgenommen würden und Folkwang zumindest zeitweise auf Augenhöhe mit Ludwig in Köln oder Gropius in Berlin brächten (oder MoMA in New York oder Centre Pompidou in Paris usw.).

Es wäre schon sehr schön, wenn man Finanzierungsmöglichkeiten fände, um die eine oder andere große, „wandernde“ Schau nach Essen zu holen; es wäre auch sehr gut für die Wahrnehmung all dessen, was Folkwang überdies zu bieten hat, allem voran natürlich die eigene Sammlung. Die starke Fokussierung der Museumsarbeit auf den Eigenbestand, die in den programmatischen Äußerungen Gorschlüters anklang, kann hingegen zu einem Bedeutungsverlust des Hauses führen.

Kuratoren gesucht

Doch man soll nicht unken. Der neue Mann muß sich noch etwas sortieren für seinen neuen Job, „ein halbes Jahr Findung – die Zeit braucht es“ sagt er selbst. Und dann schauen wir mal.

Wichtig ist natürlich auch, daß bald neue Leute für die beiden anderen Vakanzen im Folkwang-Museum gefunden werden. Nach dem Weggang von Florian Ebner wird ein neuer Kurator für die fotografische Sammlung gesucht, ebenso einer für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.




Fakir Baykurt – sozialkritischer Poet des türkischen Dorflebens und langjähriger Revier-Bürger

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den türkisch-deutschen Autor Fakir Baykurt, der auch viele Jahre im Ruhrgebiet gelebt hat:

In Deutschland einem Schriftsteller zu unterstellen, dass er ein sozialkritischer Dorfautor wäre, käme einer literarischen Vernichtung gleich. Als provinziell, gar hinterwäldlerisch würde man ihn einordnen und die Unterstellung, dass er einem rührseligen Heimatbegriff folgt, läge nicht fern.

Fakir Baykurts Roman "Die Rache der Schlangen in einer Ausgabe des Verlags Horst Erdmann (Herrenalb), erschienen 1964.

Fakir Baykurts Roman „Die Rache der Schlangen“ in einer Ausgabe des Verlags Horst Erdmann (Herrenalb), erschienen 1964.

In der überwiegend ländlich strukturierten Türkei war und ist das anders. Fakir Baykurt, 1929 in einem Dorf namens Akcaköy geboren und 1999, vor fast 20 Jahren, in Essen gestorben, gilt neben dem inzwischen ebenfalls verstorbenen Nobelpreiskandidaten Yasar Kemal („Mehmet, mein Falke“) als der große sozialkritische Dorfautor der türkischen Gegenwartsliteratur.

Bergkamen, Duisburg und Essen

1979, als schon bekannter Autor mit gut zwanzig veröffentlichten Romanen, siedelte er nach Deutschland über und wohnte eine Zeitlang auch in Bergkamen, ganz in meiner Nähe. Zur Bergkamener Kulturverwaltung fand er schnell Kontakt und auf diesem Wege lernte auch ich Fakir Baykurt kennen. Während der achtziger Jahre habe ich oft mit ihm zusammengearbeitet, auch noch, als er längst in Duisburg wohnte.

Baykurt stammte aus einer armen Bauernfamilie. Sein Vater starb früh, seine Mutter brachte mit erzieherischer Strenge, aber mit noch mehr Herzlichkeit ihre sechs kleinen Kinder (zwei weitere starben früh) durch.

Nach dem Militärputsch von 1971 verhaftet

So arm die Familie auch war, seine Mutter schaffte es trotzdem, ihren wissbegierigen Sohn Fakir studieren zu lassen. An einem Lehrerinstitut machte er seine Ausbildung und lernte reformpädagogische Ansätze kennen, die er ab 1949 in dörflichen Schulen umsetzte. Natürlich gab es angesichts der traditionell denkenden Bauern die zu erwartenden Probleme. Später schloss er ein weitergehendes Studium an, das ihn sogar an die amerikanische Universität in Bloomington führte.

Gymnasiallehrer ist er geworden, schnell auch Vorsitzender der türkischen Lehrergewerkschaft. Nach dem Militärputsch 1971 wurde auch Baykurt wie viele Künstler, Intellektuelle und vor allem Gewerkschafter verhaftet und eingesperrt. Baykurt berichtet darüber in seiner Erzählung „Die Jahre mit meiner Mutter“ und  schildert darin den Besuch seiner Mutter im Gefangenenlager. Vor allem entwickelt er geradezu genüsslich, wie sie sich durch entschiedenes Auftreten bei den Wachen Respekt verschaffte, um ihren Sohn zu sehen und unbelauscht mit ihm sprechen zu können.

Inzwischen hat die gegenwärtige Türkei bei der Verfolgung von Schriftstellern und Journalisten wieder einen unrühmlichen Spitzenplatz erlangt.

Die Mutter lies sich seine Texte vorlesen – und war voll des Lobes

Baykurt war zur Zeit seiner Verfolgung bereits ein bekannter Autor. Regelmäßig veröffentlichte er Romane, die das Landleben in der Türkei darstellen, das er durch seine Herkunft so gut kannte. Seine kritischen Texte brachten ihm den Ruf ein, Kommunist zu sein, was wiederum seine Mutter erschreckte. Sie selbst konnte nicht lesen, deshalb ließ sie sich den Roman „Die Rache der Schlangen“ von Fakir bei einem seiner Besuche zu Hause vorlesen. Noch während Fakir las, unterbrach sie ihn wütend. „Was soll daran kommunistisch sein? So ist es doch in unseren Dörfern, genauso! Du hast nur geschrieben, was hier passiert.“ Ihrem Sohn Fakir hat dieses Lob besonders gut getan.

Von nun an verteidigte die Mutter ihn, wenn Nachbarn oder Verwandte meckerten: „Dein Sohn konnte wieder nicht den Mund halten.“ Im Gegenteil, danach gewann sie, die einfache Frau vom Lande, erst recht Interesse an Fakirs Romanen. Im Dorfladen, in dem sie immer einkaufte, wurde sie von jungen Mädchen, die zur Mittelschule gingen, bedient. Von denen ließ sie sich den Roman „Die Sense“ vorlesen, stolz darauf, was ihr kleiner Fakir erreicht hatte. Mit der Zeit wuchs dessen Ansehen auch unter den anderen Dorfbewohnern, bis er schließlich zu den bekanntesten türkischen Autoren gehörte und die Kritik an ihm verstummte.

Das Problem mit den schlechten Übersetzungen

Warum er nach Deutschland auswanderte, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, er folgte einem seiner Kinder. Baykurt war ein kommunikativer Mann, der schnell Anschluss gewann. Das war schon in Bergkamen so, das war in Duisburg, wo er ebenfalls als Lehrer arbeitete, sich aber vor allem mit den Problemen türkischer Migranten beschäftigte, nicht anders. Auch eine deutsch-türkische Autorengruppe gründete er in Duisburg, um den türkischen Kollegen Hilfe auf dem deutschen Literaturmarkt zu geben. Nach seinem Tod 1999 bekam diese Autorengruppe seinen Namen. Baykurt selbst hatte nicht unbedingt Hilfe nötig, dazu war er viel zu bekannt, aber den einen oder anderen Hinweis konnte er doch gut gebrauchen.

In dieser Zeit habe ich, wenn ich eine Anthologie mit Erzählungen herausgab, immer dafür gesorgt, dass Fakir Baykurt, wenn es nur eben thematisch passte, darin vertreten war. Seine Erzählungen waren ein schönes Zeichn für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Autoren und darüber hinaus für gelingendes Zusammenleben überhaupt.

Es gab nur jedes Mal ein großes Problem, denn Fakir hatte für seine neuen Erzählungen Übersetzer, die selbst der deutschen Sprache nur bedingt mächtig waren. So bekam ich von ihm Texte zugeschickt, bei denen ich mir beim ersten Lesen stets die Haare raufte. Es waren thematisch immer gute, spannende, auch humorvolle Geschichten, so viel sah ich sofort, aber was die einzelnen Sätze bedeuten sollten, erschloss sich mir bestenfalls nach mehrfachem Lesen. Und auch dann nicht immer.

Von der Frau, die unbedingt einen Garten haben wollte

Also setzte ich mich hin und übertrug seine Sätze so, wie ich glaubte, dass sie gemeint waren. Dann schickte ich die korrigierte Geschichte an Fakir zurück und bat ihn zu prüfen, ob ich alles richtig verstanden hätte. Von Fakir kam dann stets ein Dankschreiben zurück mit der Frage, ob ich nicht sein Übersetzer werden wollte. Ja, unsere Zusammenarbeit in jener Zeit hatte auch ihre komischen Seiten.

Die gemeinsame Arbeit war aber auch anregend, denn sie half mir, die türkische Mentalität der Migranten in meinem Umfeld besser zu verstehen. In einer Geschichte zum Beispiel erzählt Fakir von einer türkischen Frau in Oberhausen, die so gerne einen Garten gehabt hätte, weil sie sich ein Leben ohne das Wühlen in der Erde nicht vorstellen konnte. Aber ihr wenig durchsetzungsfähiger Mann schaffte es nicht, ihr einen Garten im Kleingärtnerverein zu besorgen.

Also griff die Frau zur Selbsthilfe, räumte ein Zimmer ihrer Wohnung leer (das Sonnenzimmer), füllte Kisten mit Erde und begann, dort Gemüse zu ziehen: Steckrüben, Gurken, Knoblauch. Sie war in ihrem Zimmer erfolgreicher als andere türkische Frauen in ihren Gärten…

Bis eines Tages die Polizei vor der Tür stand. Der Mieter in der Wohnung darunter hatte sich darüber beschwert, dass seiner Familie laufend Wasser auf den Kopf tropfte. Das Gemüse musste ja regelmäßig gegossen werden, die Kisten weichten durch oder es lief etwas daneben. Sie mussten also verschwinden. Aber jetzt wurde die Leidenschaft der armen Frau auch im Umfeld bekannt. Viele, auch ein Pfarrer, mischten sich ein, bis die begnadete Gärtnerin endlich ihren Garten in der Brache an der Autobahn erhielt. Eine humorvolle Geschichte, prall gefüllt mit Leben – wie alle Texte von Fakir Baykurt. Er ist ein Autor, der bei uns unbedingt wiederentdeckt werden müsste.




Fördertürme als prägende Bauten einer ganzen Region – Rolf Arno Spechts Fotoband „Kathedralen im Revier“

Wie schon hie und da gesagt: Im Revier wird heuer allerorten der Zechen-Vergangenheit gedacht, denn die hier so lange prägende Ära der Steinkohle endet im Dezember 2018 mit Schließung der allerletzten Schachtanlagen.

Der Zusammenschluss der RuhrKunstMuseen wird ebenso seinen Ausstellungs-Reigen beisteuern, wie beispielsweise das Ruhr Museum (Essen) und das Deutsche Bergbaumuseum (Bochum), die mit einer gemeinsamen Schau groß ins Geschehen einsteigen. Überdies gibt es einschlägige Film- und TV-Dokus, literarische Aufarbeitungen und Sachbücher zum Themenkreis. Womit wir sicherlich noch nicht alle Sparten genannt haben. Wird vielleicht auch irgendwo eine Zechenoper aufgeführt?

Im Essener Klartext Verlag, der seit einigen Jahren zur Funke Mediengruppe gehört, ist jetzt ein Bildband erschienen, der die Fördertürme in den Mittelpunkt stellt, sein nicht gar zu origineller, jedoch treffender Titel lautet „Kathedralen im Revier“. Tatsächlich ist der sakrale Bezug nicht so weit hergeholt, die imposanten Industrie-Ensembles können es an Wucht und Pathos mit so manchem Kirchenbau aufnehmen. Übrigens gibt es auch eine Art heimliches Pathos der Sachlichkeit.

Manche Motive zeigen sich so nur sehr selten

An Begleittexten wird bis zum Punkt der Kargheit gespart. Ein knappes Grußwort und ein ebenso kurzes Vorwort sowie ein paar Zwischenrufe müssen reichen. Die Bilder des 1969 in Marl geborenen Fotografen Rolf Arno Specht, im gesamten Ruhrgebiet zwischen Duisburg/Dinslaken im Westen und Hamm/Ahlen im Nordosten entstanden, sprechen ja auch weitgehend für sich. Der Mann muss sich wahrlich intensiv und extensiv mit seinem Thema befasst haben. Bestimmte Motive hat er nach eigenem Bekunden auf diese Weise bestenfalls einmal im Jahr aufnehmen können, als Wetter, Lichtverhältnisse und Perspektiven exakt seinen Vorstellungen entsprachen.

Für die relativ wenigen Untertage-Fotos hat Specht – wegen der Explosionsgefahr – keine womöglich Funken auslösende Digital-Ausrüstung verwenden können, auch Belichtungsmesser und Autofokus waren nicht erlaubt. Althergebrachte fotografische Tugenden und Fähigkeiten waren also unabdingbar.

Bauten im dichten Nebel und bei Sonnenuntergang

Der Band beginnt mit einer ganzen Reihe von Aufnahmen im ungemein dichten Nebel, welcher an den einst alltäglichen Smog gemahnt, der oft durchs ganze Ruhrgebiet waberte. Nur schemenhaft tauchen die imposanten Bauwerke zunächst auf; ganz so, als müssten sie erst noch einmal behutsam ans Tageslicht geholt werden und als müsse man der Erinnerung vorsichtig aufhelfen. Oder ist just schon das Gegenteil der Fall: Entschwinden die Gebäude etwa schon in die Gefilde des Vergessens? Doch hoffentlich nicht.

Des weiteren sieht man Bilder zur Einbettung der Zechengerüste in (Stadt)-Landschaften, aus denen sie gleichsam erwachsen und über die sie sich – zuweilen geradezu majestätisch – erheben.

Eine weitere Reihe zeigt Fördergerüste im Licht von Sonnenuntergängen bzw. Sonnenaufgängen, dabei kommt etwas beinahe Überirdisches oder Magisches ins Spiel. Schließlich folgen noch einige Luftbilder, die abermals die herausragenden Plätze der Fördertürme in den diversen Stadtlandschaften markieren. Tatsächlich sind es architektonische „Auftritte“, wie man sie sonst von Sakralbauten kennt.

Imposante Signaturen von Heimat und Identität

Man erfährt noch einmal ein- und nachdrücklich, wie sehr diese Bauten das Bild der ganzen Region bestimmt haben, so dass sie natürlich unbedingt denkmalwürdig sind; vielleicht nicht jedes einzelne Ensemble, aber doch etliche von ihnen. Und ja: Das alles hat mit Begriffen wie Heimat und Identität zu tun. Vieles andere ist im Revier ja mittlerweile so ähnlich wie in anderen Gegenden. Aber eine Zechenlandschaft haben sie in München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt eben nicht, ja noch nicht einmal im nahen und mental doch so fernen Düsseldorf.

Der Erhalt der Gebäude und möglichst vielfältiges neues Leben an diesen einstigen Stätten härtester Arbeit sind wichtige Aufgaben der Revierstädte und der Ruhrkohle AG (RAG), die über ihre millionenschwere Stiftung ja auch mancherlei technische „Ewigkeitskosten“ zu tragen hat, damit das von Bergsenkungen durchzogene Revier nicht „absäuft“.

Einige Gerüste wanderten von Stadt zu Stadt

Das Buch schließt mit einer schnellen „Bestandsaufnahme“ über alle noch existierenden Fördertürme – insgesamt 125, wenn ich richtig mitgezählt habe. Diesen Überblick hätte man sich noch ein wenig ausführlicher gewünscht.

Doch auch so lernt man im Schlussteil, dass im Gefolge des Bergbau-„Wanderzirkus'“ dieses oder jenes Fördergerüst schließlich noch den Ort gewechselt hat. So stand etwa das Wahrzeichen des Deutschen Bergbaumuseums Bochum einst an der Dortmunder Zeche Germania, während wiederum die heute an der Dortmunder Zeche Zollern II/IV“ aufragenden Türme früher zu Schachtanlagen in Gelsenkirchen bzw. Herne gehört haben. Aus heutiger Sicht nicht zu fassen: Die gesamte Zollern-Anlage, heute Zentrale des Westfälischen Industriemuseums, sollte ursprünglich komplett abgerissen werden. Deshalb fehlen die Original-Fördergerüste, denn der Akt der Barbarei hatte schon begonnen.

Rolf Arno Specht: „Kathedralen im Revier. Zechenlandschaft Ruhrgebiet“. Klartext Verlag, Essen. 176 Seiten Bildbandformat, Hardcover, durchgehend farbig. 24,95 Euro.




Glanz und Elend der Zechen-Ära im Revier – die wehmütige WDR-Dokumentation „Der lange Abschied von der Kohle“

Zahllose Veranstaltungen im Ruhrgebiet werden sich 2018 mit dem Ende der Steinkohle-Ära befassen. Mit der letzten Schicht auf der Bottroper Zeche Prosper-Haniel wird im Dezember nicht nur die Förderung im Ruhrgebiet, sondern zugleich in ganz Deutschland enden.

Drei von vielen: Die Bergleute Bernd Blosze, Matthias Ehmke und Ilhan Yaldiz (von links) zwei Wochen vor Schließung "ihrer" Zeche Auguste Victoria in Marl. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Drei von vielen: die Bergleute Bernd Blosze, Matthias Ehmke und Ilhan Yaldiz (von links) in der Waschkaue – zwei Wochen vor Schließung „ihrer“ Zeche Auguste Victoria in Marl. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Größtes Erinnerungs-Projekt dürfte die gemeinsame Ausstellung des Essener Ruhrmuseums und des Deutschen Bergbaumuseums in Bochum sein. Für einen gewichtigen Jahresauftakt zum Thema sorgt jetzt schon einmal der 90-minütige Dokumentarfilm „Der lange Abschied von der Kohle“ (WDR, 5. Januar 2018, 20.15 Uhr und in der Mediathek).

Werner Kubny und Petra Neunkirchen haben für diesen Film Bergleute durch die letzten Monate vor der Schließung der Zeche Auguste Victoria in Marl (bis zum 18. Dezember 2015) begleitet und diesen Stoff mit etlichen Gesprächen und Geschichten zum Ruhrbergbau angereichert.

Obwohl man es seit Jahrzehnten immer deutlicher kommen sah: Fürs Ruhrgebiet ist das politisch gewollte, endgültige Aus für die Steinkohle wahrhaftig ein historischer Moment und allemal ein Anlass zum Innehalten. Naturgemäß kommen dabei – auch in dieser Dokumentation – Wehmut und eine gewisse Nostalgie auf. Übrigens: Warum läuft ein solcher Film eigentlich nicht zur besten oder wenigstens zur zweitbesten Zeit im bundesweiten ARD-Hauptprogramm?

Dieser großartige Zusammenhalt unter Bergleuten

Ein Leitgedanke bzw. leitendes Gefühl des gesamten Films ist der ungeheure Zusammenhalt unter den Bergleuten – ganz gleich, woher sie kamen. Ein paar türkische Kollegen legen davon Zeugnis ab. Bessere Integration geht schwerlich. Nicht nur „auf Zeche“ selbst, auch in der Nachbarschaft der Kolonie (und in mancherlei Arbeitskämpfen) hielt man unverbrüchlich zusammen. Und man war stolz auf seine Arbeit. Selbst die letzten Lehrlinge in Marl, die sich demnächst andere Jobs suchen müssen, sind bereits von diesem Gemeinschaftsgeist ergriffen und bedauern, dass das alles ein Ende haben wird.

Unter Tage musste sich einer hundertprozentig auf den anderen verlassen können. Das schweißte wohl dermaßen zusammen, dass einer im Rückblick sogar meint: „Das kannste mit dem schönsten Mädchen im Bett nich‘ erleben…“ Über fortschreitende Entsolidarisierung, Ellenbogen-Mentalität und Mobbing in anderen Bereichen der Wirtschaft mag man da am liebsten gar nicht nachdenken. Man sollte es aber!

Als das Revier noch die Triebkraft des Wachstums war

1956, im Jahr der größten Steinkohleförderung, waren im Ruhrgebiet noch 148 (!) Zechen in Betrieb, in denen fast 500.000 Menschen arbeiteten, die für damalige Verhältnisse relativ gut entlohnt wurden. Damals war das Revier mit seinen Berg- und Stahlwerken der stärkste Motor fürs bundesdeutsche „Wirtschaftswunder“. Aus der Keimzelle „Montanunion“ entstand auch der politische und wirtschaftliche Zusammenschluss (west)europäischer Staaten, zuerst als EWG, dann als EG, schließlich als EU.

Gewaltige Anlage, von oben betrachtet: Zeche Auguste Victoria in Marl, Schacht 8. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Gewaltige Anlage, von oben betrachtet: Zeche Auguste Victoria in Marl, Schacht 8. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Schon bald aber, noch in den späten 50er Jahren, wurden im Revier die ersten Feierschichten gefahren und es kam vereinzelt zu Zechenschließungen. Die erste ganz große Krise, die letztlich zur Gründung des Einheitskonzerns RAG (Ruhrkohle AG) führte, erfasste den Bergbau um 1966.

All diese Entwicklungen werden in der WDR-Doku gesprächsweise und mit historischen Filmausschnitten aufbereitet. Gelegentlich mit breit ausladender, feierlicher Musik unterlegt (Komponist Rainer Quade / Bochumer Sinfoniker), hat der Film einige seiner stärksten Momente, wenn die Kamera einfach nur in die Gesichter der Bergleute blickt.

Man möchte pathetisch werden – aber das passt nicht

Man könnte mit einigem Pathos darüber reden und sie als „Helden der Arbeit“ preisen, doch das wäre diesen Menschen nicht angemessen. Sie sind allesamt bodenständig und erdverbunden geblieben, wie es ihr knochenharter Beruf nun einmal mit sich bringt. Sie stehen für das, was das Ruhrgebiet einmal ausgemacht hat. Selbst der hippe DJ aus Gelsenkirchen findet, dass man die alten Zechenbauten als Stätten der Identifikation erhalten solle. Durch Eltern und Großeltern haben viele noch eine Ahnung vom einstigen Revier. Es war schmutzig, aber es war die Heimat.

Dass Kubny und Neunkirchen sich nur durchs westliche und mittlere Ruhrgebiet um Essen, Gelsenkirchen, Bottrop, Duisburg, Herne, Dorsten und Marl bewegen, dass sie das (nord)östliche Revier um Bochum, Dortmund, Lünen, Hamm und Ahlen gänzlich außen vor lassen – geschenkt. Dass sie nicht einmal die Dortmunder Jugendstil-Zeche Zollern mit dem Westfälischen Industriemuseum aufgesucht haben – auch geschenkt. Dass sie als einzigen kumpeltauglichen Fußballverein nur Schalke 04 gelten lassen – ebenfalls zähneknirschend geschenkt. Das müssen sie mit ihrem Gewissen ausmachen.

Der Dreck, die Mühsal, die Unglücke

Sie entschädigen mit grandiosen Aufnahmen der gewaltigen Industrieanlagen, die teilweise dem Verfall preisgegeben sind, teilweise aber auch mit neuem, oft kulturträchtigem Leben gefüllt werden. Andernorts holt sich das Grün die Brachen zurück. Neben solcher Industrie-Ästhetik werden freilich auch die Schattenseiten des einst so dreckig verrußten Reviers nicht verschwiegen. Ein kurzes Kapitel handelt vom schweren Leben der Ruhrgebiets-Frauen, die die Wäsche nur unter größten Mühen sauber bekamen – ohne Maschinenhilfe, dafür aber mit vielen quirligen Kindern auf engstem Wohnraum. Und die Blagen hatten, wie man früher so sagte, mächtig Kohldampf.

Von Staublunge, Unfällen und Unglücken ganz zu schweigen. Einer erinnert sich, sichtlich bewegt, wie er mit den Jahren nach und nach neun Kollegen und Freunde für immer verloren hat. Hier ist nur noch Schweigen angebracht.




Knochenbrecher und geile Gans – Die im Revier gemachte Zeitschrift „Ruhrgebeef“ feiert das Fleisch mit jeder Faser

Lange keine Zeitschrift mehr gesehen, die mit so viel Wumm aufgetreten ist: „GANS. SCHÖN. LECKER.“ rufen einem die Versalien auf dem Cover der weihnachtlichen Ausgabe lauthals zu. Darüber prangt das Titelfoto einer kross gebratenen Gans in denkbar fleischiger Weise.

Titelseite der Zeitschrift "Ruhrgebeef", Ausgabe 5. (© Überblick Medien GmbH & Co. KG, Bochum)

Titelseite der Zeitschrift „Ruhrgebeef“, Ausgabe 5. (© Überblick Medien GmbH & Co. KG, Bochum)

Ja, entgegen allen Trends zum vegetarischen oder gar veganen Essen zelebriert diese Illustrierte das Fleisch mit virilem, manchmal geradezu beißwütigem Gestus. Die Postille erscheint im Revier und nennt sich wortspielerisch „Ruhrgebeef“.

Saftiger Braten in Nahaufnahmen

Im besagten Stil geht es auch im Heftinneren weiter beherzt zur Sache. Immer und immer wieder sieht man saftige Fleischstücke von jedwedem Getier, bevorzugt in Großaufnahmen, die jede Faser erkennen lassen und zuweilen beinahe schockierend wirken.

Ein Veganer dürfte beim bloßen Anblick schnell in Schnappatmung verfallen. Fehlen nur noch kernige Sprüche wie „Wir wollen sein ein einzig Volk von Metzgern“. Oder auch „Das Schlachten ist des Ruhris Lust“. Naja, jetzt geht meine Phantasie durch. Aber die haben angefangen!

Die „Ruhrgebeef“-Macher lassen es ja auch verbal nicht an Entschiedenheit fehlen. Die empfehlende Vorstellung einer Geflügelschere wird mit der nur bedingt empfindsamen Überschrift „Der Knochenbrecher“ versehen. Die Titelgeschichte über Gänse bekommt diese Zeile, abermals in brüllenden Großbuchstaben, diesmal mit frivolem Beiklang: „DIE GEILE GANS AUSM KRANZ“. Gemeint ist das Hattinger Landhaus-Restaurant „Kranz im Katzenstein“. Illustriert ist das wiederum sehr detailfreudig mit Fleisch-Nahansichten, die überhaupt das ganze Blatt dominierend durchziehen. Und nicht jedes dieser Bilder ist geeignet, den Appetit anzuregen.

Ratschläge vom „Fleischflüsterer“

Die nächsten Storys befassen sich mit den Gans-Zerlegungstipps von Christoph Grabowski, eines Fleisch-Sommeliers (es muss nicht immer „Metzger“ heißen) aus Castrop-Rauxel, der zuweilen auch bewundernd „Fleischflüsterer“ genannt wird. Unter dem Motto „Wild geworden“ geht’s ferner um Schwarz- und Rotwild. Einige Seiten zuvor musste „Beef Bacon“ gegen „Pork Bacon“, also Rind gegen Schwein, zum „Duell“ antreten. Großer Sport.

Außerdem wandelt man über etliche Seiten mit arg wiederholungsträchtiger Fotoauswahl auf den rauchigen Spuren des Bochumer Grill-Weltmeisters Oliver Sievers, der den Titel in Limerick (Irland) geholt hat und nach eigenem Bekunden daheim zehn verschiedene Grills hat. Der Mann verwendet übrigens auch schon mal Gemüse als Grillgut, was einem im Kontext von „Ruhrgebeef“ seltsam fremd vorkommt.

Besonderer Mix für die Männlichkeit

Ein Abstecher nach Dortmund verströmt einen speziellen Duft von Männlichkeit und (prothesenhafter?) Potenz. Folgender Themenmix (nein, nicht Thermomix, Sie haben falsch gelesen) wird da angerichtet: In einer „Tuningschmiede“, in der halt Autos tiefergelegt und aufgemotzt werden, gibt es auch knackige Burger. Fleisch und Motoren, das ist eine Kombi, wie sie die „Ruhrgebeef“-Macher Macher wohl besonders schätzen.

Direkt danach sind wir zu Gast bei einem Duisburger Wurstmetzger, außerdem bei einem Metzger aus Essen, es folgen u. a. ein Testbericht über Waygu-Rinder, um die inzwischen weit über Japan hinaus ein Kult entstanden sein soll, ein längeres Stück über den „Steak-Patriarchen“ Eugen Block sowie eine Hymne auf den „Schinkenhimmel“ am Essener Großmarkt. Vom münsterländischen Iberico-Schweinezüchter gar nicht erst zu reden.

Themenfeld wohl noch lange nicht abgegrast

Puh! Doch damit noch nicht genug. Ein Besuch im Grillzentrum der Dortmunder Firma S & E lässt erneut ahnen, dass (auch) auf diesem Felde redaktionelle Berichte und Werbung nicht immer in wünschenswerter Deutlichkeit getrennt werden (können). Mehrfach wird man Inserate von Gastro-Betrieben finden, denen auch ein Beitrag gewidmet ist.

Sodann wird noch dem Whisky als Fleischbegleiter gehuldigt (ein edles Destillat kommt gar aus dem Sauerland), und es werden einige der besten Pommesbuden im Ruhrgebiet genannt – Stichwort „Currywurst“. Keine ganz taufrische Idee. Unter dem sportiven Begriff „Trainingslager“ werden uns schließlich noch ein paar Rezepte schmackhaft gemacht.

Angesichts des einschlägigen Themenspektrums, das ja auch in dieser fünften Nummer schon wieder so manches abdeckt, fragt man sich, was die Redaktion des Überblick-Verlags (Bochum) eigentlich in den nächsten Ausgaben präsentieren will. Aber wir zweifeln natürlich nicht daran, dass das Team um Chefredakteur Tom Thelen auch weiterhin noch jede Menge Fleischiges aus der Region anrichten und servieren wird.

„Ruhrgebeef“ (hier: Ausgabe 5). Zeitschrift. 6,50 Euro.




Bochumer Ausstellung „Umbrüche“: Wie Fotokünstler den stetigen Wandel des Ruhrgebiets gesehen haben

Das Ruhrgebiet kann man auf sehr verschiedene Arten betrachten – auch und gerade mit künstlerisch inspiriertem Sinn. Diese an sich nicht allzu überraschende Weisheit wird jetzt in einer Bochumer Fotografie-Ausstellung sehr entschieden bekräftigt. „Umbrüche“ heißt die anregende Schau im „Museum unter Tage“ („MuT“), das im allseits durchgrünten Ambiente des Schlossparks von Bochum-Weitmar gelegen ist.

Rudolf Holtappel: "Die letzte Schicht", Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Rudolf Holtappel: „Die letzte Schicht“, Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Der Titel lässt ahnen, dass es abermals um den Wandel der Industrielandschaft geht, der sich schon seit etlichen Jahrzehnten vollzieht. Dennoch ist es keine regionalgeschichtliche Themen- und Überblicksausstellung, sondern eine genuin künstlerische, die just unterschiedliche ästhetische Positionen markiert.

Anlass zum Innehalten

Gewichtiger Anlass zum Innehalten: 2018 wird mit Prosper Haniel in Bottrop die letzte aktive Zeche des gesamten Ruhrgebiets den Betrieb einstellen. Da lohnt sich erst recht der Blick zurück, der womöglich auch Perspektiven für die Zukunft eröffnet. Denn die Frage, wie man den viel beschworenen Strukturwandel gestalten soll, ist ja immer noch nicht hinreichend beantwortet. Wie denn auch? Es ist eine bleibende Aufgabe.

Den Schwerpunkt und den Auftakt des Ausstellungs-Rundgangs bildet ein famoses Konvolut mit rund 110 Fotografien von Rudolf Holtappel. Selbst Ruhrgebietsbewohner, hat der als Reportage-, Theater- und Unternehmensfotograf tätige Holtappel Wesen und Wandel dieser Region besonders in den 60er und 70er Jahren festgehalten. Trotz weltweiter beruflicher Reisen sind die vorwiegend in Duisburg und Oberhausen entstandenen Revier-Bilder der Kern seines Lebenswerks.

Weit entfernt von Revier-Klischees

Tatsächlich formieren sich geradezu monströse Industrieanlagen in seinen Aufnahmen zu „Landschaften“ ganz eigener Art, die sich übermächtig in ursprünglich agrarisch genutzte Areale gefräst haben. Diese Fotografien sind freilich weit entfernt von Ruhrgebiets-Klischees. Mit den Begriffen Wirklichkeit und zumal Wahrheit soll man bekanntlich vorsichtig sein, doch hier leuchten Momente auf, die dem Ideal einer wahrhaftigen Essenz wohl sehr nahekommen.

In Bochum sind ausschließlich eigenhändige Abzüge Holtappels zu sehen, nach weniger guten Erfahrungen mit Profi-Laboren („Das sind nicht mehr meine Bilder!“) hat er seinerzeit den ganzen Herstellungsprozess an sich gezogen. Und siehe da: Auch anhand seiner relativ kleinformatigen Abzüge (er wollte die Betrachter nicht mit schierer Größe überwältigen), die vorwiegend für den Druck und nicht für Museumswände gedacht waren, kann man dennoch der Textur der Dinge und den feinsten Nuancen von Grautönen nachspüren. Nie und nimmer könnte man solche ästhetischen Valeurs mit Digitalfotografie erzielen.

Verwurzelung und ungebrochene Vitalität

Der Fotokünstler hat nicht nur Industrieanlagen und den damals noch so rußigen Himmel auf Bilder gebannt, sondern auch einprägsame Momente des Ruhrgebiets-Lebens – von Bergarbeiterstreiks gegen die ersten Zechenschließungen in den 1960er Jahren bis hin zu Kleingarten-Refugien und prallen Kneipenszenen, die von Verwurzelung und unverfälschter Vitalität künden.

Rudolf Holtappel ist 2013 mit 90 Jahren in Duisburg gestorben. Seine Witwe Herta hat der Bochumer Stiftung „Situation Kunst“ (zu der das Museum unter Tage gehört) etwa 150 Ruhrgebiets-Fotografien als Schenkung überlassen. Von den Arbeiten, die nun zu sehen sind, ist die Hälfte noch nie öffentlich gezeigt worden.

Bernd und HIlla Becher: "Hochofen", Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Bernd und Hilla Becher: „Hochofen“, Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Gespür für kulturhistorischen Wert

Wie grundlegend anders erscheinen Revier-Ansichten im Oeuvre von Bernd und Hilla Becher! Fast schon steril und blutleer muten ihre Aufnahmen der Oberhausener Gutehoffnungshütte seit Mitte der 60er Jahre an. Doch es ist eben eine andere, ebenso schlüssige Herangehensweise.

Als monumentale Denkmäler ihrer selbst erscheinen hier die gigantischen Industriebauten. Spuren von Alltag und Arbeit scheinen sich verloren zu haben. Schon früh entwickelten die Bechers offenkundig ein weit vorausschauendes Gespür für den kulturhistorischen Wert solcher Anlagen, den sie möglichst „objektiv“ dokumentieren wollten. Wenn man weiß, dass die Gutehoffnungshütte bereits damals von Schließung bedroht war, so könnte die fotografische Serie auch den (hilflosen) Gestus eines Rettungsversuchs haben.

Verletzungen der Stadtlandschaft

Bis hierher hat man Schwarzweiß-Aufnahmen gesehen, jetzt beginnt die Farbzeit, allerdings in verhaltenen Tönen: In den 80er Jahren hat sich der in Dülken/Niederrhein geborene Joachim Brohm (Jahrgang 1955) fotografisch im Revier umgetan. In nahezu verblichen wirkenden Farben hat er vor allem schmerzliche „Verletzungen“ in Randzonen der Stadtlandschaften aufgesucht.

Joachim Brohm: "Ruhr", Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Joachim Brohm: „Ruhr“, Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Es sind bestürzende Hinterlassenschaften der Industrie und brachialer Umgestaltung: veritable Wüsteneien und öde Orte der Tristesse, in denen kaum noch etwas zu geschehen scheint. Eine ganze Region, so der Eindruck, ist gleichsam entleert worden und liegt brach. Darüber ist man heute noch nicht überall hinweg.

Bis zum Rand der Abstraktion

Jitka Hanzlová, 1982 ohne jegliche deutsche Sprachkenntnis aus der Tschechoslowakei ins Ruhrgebiet „verweht“, wie sie sagt, setzt die beinahe abstrakten Schlussakzente der Ausstellung. Fast schon Hassliebe sei es, was sie ans Ruhrgebiet binde, sie könne nur sehr subjektiv ans Sichtbare herangehen. Mit ihrer zuweilen radikal ausschnitthaften Sichtweise begibt sie sich an unscheinbare Stellen, die unter ihrem besonderen Blick freilich mit rätselvoller Magie aufgeladen werden. Ob es ein böser oder guter Zauber sei, verraten diese Bilder gewiss nicht.

„Umbrüche: Industrie – Landschaft – Wandel“. Museum unter Tage („Situation Kunst“, Schlossstr. 13, Bochum, Parkgelände Haus Weitmar). Geöffnet Mi-Fr 14-18 Uhr, Sa/So/Feiertage 12-18 Uhr. In Bochum noch bis zum 25. März 2018 (anschließend im Willy-Brandt-Haus, Berlin: 5. April bis 27. Mai 2018). Vierteiliger Katalog im Schuber 32 Euro.

Infos: www.situation-kunst.de

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Wenn Vater von der Zeche kam, sagte er nur „Na, Sohnemann“ – Kindheit im Revier, geprägt von Liebe und Begrenztheit

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, mit einer Kindheitserinnerung aus dem Revier von damals:

Da ist ein Bild, ganz tief in mir gespeichert, das mich nicht loslässt mein Leben lang. Ich bin noch Kind, nicht mal zehn Jahre alt. Die Schule ist aus, wir spielen Fußball auf dem großen, freien Platz, dem Kamener Schützenhof, direkt vor unserer Haustür.

Wie aus einer anderen Zeit: in einer Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Zeugnis einer anderen Zeit: in Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Wir wollen Tilkowski werden, Fritz Walter oder dieser neue, dieser Uwe Seeler. Wir spielen selbstvergessen, eingetaucht in eine Welt, die ganz uns gehört und niemand sonst. Und wenn wir im Spiel auch erbitterte Gegner sind, sind doch vor allem eines, nämlich Freunde, teilweise bis heute.

Fußballbilder in Tüten vom Kiosk

Wenn die Glocken der Pauluskirche mit dem schiefen Turm dreimal läuten, schaue ich hinüber zum Ende des Platzes, von dem aus man die Geschäftsstraße unserer Stadt erreichen kann. Die alte Politz hat dort an der Ecke ihr Kiosk. Sprudel können wir dort kaufen, wenn wir völlig verschwitzt sind und vor allem die Tüten mit den Fußballbildern. „Die Politz“, sagt meine Oma, „ist deine Sparkasse.“

Gleich, um kurz nach drei, das weiß ich, wird mein Vater dort auftauchen. Er ist Bergmann und kommt immer gegen drei Uhr von Zeche Heeren mit dem Bus nach Hause. Wenn ich ihn dann sehe, unterbreche ich mein Spiel, laufe hin zu ihm und merke, wie er lächelt, wenn er mich entdeckt. „Na, Sohnemann“, sagt er, wenn ich ihn erreiche und streichelt mir über den Kopf. Immer nur dies, „Na, Sohnemann“, dazu das Streicheln mit der Hand und sein Lächeln. Sonst nichts. Ein paar Schritte gehe ich neben ihm her, fasse ihn an der Hand, dann renne ich zurück zum Fußball, wo meine Freunde, deren Väter auch Bergleute sind, auf mich warten.

Ein tief erschöpfter Mann

Meine Mutter, das weiß ich, wartet schon mit dem Essen auf ihn, Gemüse, Kartoffeln aus dem Garten hinter unserem Haus, wir haben nicht viel Geld für Lebensmittel. Und anschließend, wenn er gegessen hat, raucht er Zigaretten in der Küche, zwei, drei. Immer zu viel. Er sitzt dann weit vorgebeugt auf seinem Stuhl, raucht und stöhnt zwischendurch leise. Ein tief erschöpfter Mann, für den die Arbeit vor Kohle viel zu schwer ist. Kaufmann hatte er gelernt, aber keine Arbeit gefunden, bis er dann dahin gekommen war, wohin alle Väter meiner Freunde im Ruhrgebiet gekommen waren. In den Pütt oder ins Loch, wie meine Mutter immer sagte.

Dieses Bild begleitet mich, mein Vater, wenn er von der Zeche kommt, wenn ich ihn begrüße und er nach Hause geht. Und unser selbstvergessenes Spiel mit meinen Freunden. Eine Kindheit, geprägt von Liebe und Begrenztheit.

„Wer so eine große Zahnlücke hat…“

Manchmal, wenn ich durch unser Haus lief, hielt meine Oma mich fest.
„Mach mal den Mund auf“, sagte sie und schaute auf die Zahnlücke zwischen meinen Schneidezähnen.
„Du kommst noch mal weit rum in der Welt“, sagte sie dann.
„Warum komme ich weit rum, Oma?“
„Wer so eine große Zahnlücke hat, der kommt weit rum“, antwortete sie.

Zwei Bäume aus jener Zeit stehen noch

Was das eine mit dem anderen zu tun hat, habe ich damals nicht verstanden und weiß es bis heute nicht, aber meine Oma hat recht gehabt. Ich bin in vielen Ländern gewesen und habe dort teilweise sogar Vorträge über deutsche Literatur und Lesungen gehalten, in Ländern, die sie sich nicht vorstellen konnte.

Den Platz meiner Kindheit gibt es noch, er sieht ganz anders aus als zu meiner Zeit. Vierstöckige Gebäude, Flachdach, unten Geschäftsräume, darin inzwischen viele Leerstände, darüber Wohnungen. Zwei Bäume stehen noch aus meiner Kindheit, zwei Bäume. Eine Platane, die zum Schulhof unserer Schule gehörte, die direkt neben dem Schützenhof lag, und eine Kastanie, die im Garten des Pfarrhauses, der Schule gegenüber stand. Ich habe ein Gedicht über diese letzten Zeugen meiner Kindheit geschrieben.

In diesem Bild lebt die Liebe meiner Eltern fort, die mir Kraft gab, große Schritte zu gehen und die Enge, die mich umgab, zu überwinden. Doch da ist auch die Trauer, dass sie, meine Mutter und mein Vater, die eine Begrenztheit, die geographische, nur sehr spät und auch das nur ein wenig, überwinden konnten. In dem anderen, in ihrer Liebe, aber waren sie grenzenlos.




Festival als Fetisch – Versuch über das Scheitern regionaler Literaturpolitik am Beispiel der Kölner lit.RUHR

Von 2017 bis 2019 leisten sich fünf Ruhr-Stiftungen für eine halbe Million Euro jährlich den Aufbau einer Außenstelle der lit.COLOGNE. Mit dieser Filialisierung verpasst die selbsternannte Metropole Ruhr erneut die Chance zu zeigen, was sie aus eigenen Kräften zu leisten imstande wäre. Statt eigensinnige Ansätze der Literaturförderung zu wagen und aus dem sich totlaufenden Event- und Kampagnenkarussell auszusteigen, wird Kölner Literatrubel dreist kopiert. Darin könnte auch eine Chance für selbstbewusste Literaturprojekte abseits des Rummels liegen.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(v. r. n. l.): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Vorstandsmitglied Stiftung Zollverein), Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung), Eva Schuderer (Programm lit.RUHR), Bettina Böttinger (Moderatorin), Thomas Kempf (Vorstandsmitglied der Krupp-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Viel zu lange haben es sowohl Kulturpolitik als auch Unternehmen und Stiftungen längs der Ruhr versäumt, Literaturförderung beherzt so zu unterstützen, dass sich mehr gute Ideen bis zur Projekt- oder Bühnenreife hätten entwickeln lassen.

An Konzepten wie dem zum Europäischen Literaturhaus Ruhr, zum Literaturnetz Ruhr, zur Stadtschreiber-Residenz oder zur Fortführung des Schulschreiber-Modellversuches herrschte kein Mangel. Viele klopften damit als bittstellende Buch- und Bettelmönche an die Türen der Internationalen Bauausstellung Emscherpark, der Kulturhauptstadt-Macher, der RAG-Stiftung oder des Regionalverbandes Ruhr.

Konzepte leichthin abkupfern

Doch hiesige Geldgeber scheinen guten Ideen, die aus der Region kommen, abgrundtief zu misstrauen. Sie fürchten schlicht jenes dräuende Mittelmaß, das ihnen aus der eigenen Arbeit so wohl vertraut ist. Niemand wollte Interesse daran bekunden, behutsam Qualität aufzubauen, konnte man doch leichthin Kulturtourismus-Konzepte anderswo abkupfern – zuletzt ging es so zum Shoppen auf nach Köln.

Mit dem Ankauf des hochglänzenden lit.COLOGNE-Ablegers lit.RUHR – so hoffte wohl eine dezent agierende „Elite“ – bekäme man über den Hintereingang doch noch Zutritt ins austauschbare Event- und Marketingbusiness großer Vorbild-Metropolen wie Berlin, London, New York. Dass angesichts solch öden Kopisten-Coups wirklich schöpferischer und inspirierender Austausch im öffentlichen Leben des Ruhrgebiets nicht vermisst wird, zeigt bereits, wie ruiniert jede Debattenkultur hierzulande ist.

(Ach, Ruhrgebiet, du sick apple. Gestern Abend ging ich durch Essens Kettwiger Straße und dachte: Wer es hier nicht schafft, schafft es nirgendwo. Bin ich wirklich der Einzige ohne Bierflasche in der Hand?)

Simulation statt Stimulation

Um Missverständnissen vorzubeugen: Über die lit.RUHR und deren Glamour-Mäntelchen ist zu sprechen. Infrage steht aber ebenso eine ideenlose Literaturpolitik, die lebendiges literarisches Leben weder gestalten kann noch fördern will. Statt genau dieses Leben zu stimulieren, wird es immer nur simuliert.

Infrage steht die Arroganz reicher Ruhr-Stiftungen, die besser zu wissen wähnen, was das literaturinteressierte Publikum wünscht. Infrage steht ihre als „gut gemeint“ deklarierte, aber schlecht gemachte Modernisierung von oben, vom grünen Sponsor-Tisch aus. Infrage steht mit diesen Stiftungen und deren Vorständen, Kuratorien, Juristen aus Wirtschaft und Politik eine eitle Literaturförderung nach Gutsherrenart, die sich qua Kultur vor allem dem Standortkonkurrenz-Denken und der Politikrepräsentation verpflichtet fühlt (zu dieser Mentalität s. auch FAZ).

Pressekonferenz lit.RUHR
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Mit beschränkter Haftung

Zurück zunächst aber zur geschäftstüchtigen lit.COLOGNE-GmbH (und dem ihr eng verbundenen gemeinnützigen lit e.V.). Hochprofessionell hat man in Köln Denkfaulheit und Geltungssucht an der Ruhr genutzt, um einen Marken-Klon namens lit.RUHR zu platzieren und sich dabei exorbitant subventionieren zu lassen. Allerdings darf man dies Verein und GmbH nicht ernsthaft vorwerfen.

Die lit.COLOGNE hat so eine zweite Abspielstätte gefunden, hat allen Fensterreden zum Trotz aber über die Eigenart des Ruhrgebiets bisher nicht wirklich nachgedacht. Schade, dass mit der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Brost-Stiftung, der RAG-Stiftung, der innogy Stiftung sowie der Stiftung Mercator gleich fünf Stiftungen der Versuchung nicht widerstanden, an der lit.COLOGNE anzudocken.

Sehr gekonnt gepanschter Wein in gebrauchtem Schlauch

Kaum etwas an der lit.RUHR überrascht, die meisten Schauspieler, Moderatoren, Musiker und – nicht zu vergessen – Autoren waren längst zu Gast an der Ruhr. Zugegeben, Literaturveranstalter kochen überall nur mit Wasser und selbstverständlich werden auch der lit.RUHR gute Abende gelingen.
Schließlich hat er Hochkonjunktur, dieser im deutschen Sprachraum sich überbietende Eventzirkus: vom ‚internationalen literaturfestival berlin‘ über ‚Harbour Front‘ in Hamburg und „Leipzig liest“/“Zürich liest“ bis hin zur Frankfurter Buchmesse, zum Erlanger Poetenfest oder all den Crime-Festivals landauf landab. Viele dieser Festivals sind zum Erfolg verdammt, auch ökonomisch. Und wo Erfolg sich nicht einstellen will, redet man ihn über PR-Arbeit herbei.

Heinz Strunk: Kommt zur lit.Ruhr und war letztes Jahr Gast der Reihe"ausgebootet" im Katakombentheater Essen; Copyright-Foto: Jörg Briese

Heinz Strunk: Kommt zur lit.Ruhr und war letztes Jahr Gast der Reihe“ausgebootet“ im Katakombentheater Essen; Copyright-Foto: Jörg Briese

Gut aufgestellt? Schlecht nachgestellt!

Angesichts dieser Festivalitis und Überfülle nähme die lit.RUHR den Mund allerdings sehr voll, wenn sie irgendein „Alleinstellungsmerkmal“ auch nur ansatzweise behaupten wollte. Beileibe nicht nur die IKIBU Duisburg, die Internationale Kinderbuchausstellung, stellt seit Jahrzehnten Kinder- wie Jugendbuchautoren aus aller Welt vor und kämpfte immer mal wieder ums Überleben. Auch Jugendstil, das Dortmunder Kinder-und Jugendliteraturzentrum NRW, unterstützt vehement das Engagement für „kreative Literaturvermittlung und Leseförderung“.

Nun also liest auch die lit.kid.RUHR den Jüngeren was vor, das ist sehr lieb, aber beileibe nichts Unerhörtes, zumal trotz Förderung durch die Brost-Stiftung nicht einmal dies kostenlos zu sein scheint. Und in Gelsenkirchen durfte eine Jungautoren-WG aus Studenten des Literaturinstituts Leipzig sogar fünf Wochen lang das Ruhrgebiet erkunden und beschreiben. Schön für die Transitreisenden, doch auch nur wunderbar kalter Kaffee. Die Katholische Akademie in Mülheim hat so etwas unter dem Projekttitel „Metropolenpilger“ bewerkstelligt – und auch sie war damit nicht die Erste oder Einzige.

"Morgenstund hat Gift im Mund" -Sophie Rois las auf Einladung des Literaturbüros im Ringlokschuppen gallige Texte Dorothy Parkers; Fotot: © Jörg Briese

„Morgenstund hat Gift im Mund“: Sophie Rois las auf Einladung des Literaturbüros im Ringlokschuppen gallige Texte Dorothy Parkers; Foto: © Jörg Briese

Permanente Revolution

Ende August 2017 gingen die lit.COLOGNE SPEZIAL und die lit.RUHR gleich mit zwei zum Verwechseln ähnlichen Pressemitteilungen/Programmvorstellungen in Köln und Essen ins Festival-Windhundrennen. Wer es vom 3. bis zum 15. Oktober 2017 nicht schaffen sollte, Zadie Smith, Donna Leon, Sven Regener, Ulla Hahn oder Uwe Timm in Köln zu erleben, kann sie vom 4. bis 8. Oktober im Ruhrgebiet sehen und hören. Nicht nur jene Fans wird das freuen, die an der Ruhr bereits bei einem der vielen Auftritte dieser Autoren dabei waren.

Allein Zadie Smith war im Revier nie zu Gast, jeder aber kennt Donna Leon, die einst sogar in der Stadtbücherei Gladbeck las, später trat sie mehrmals bei „Mord am Hellweg“ auf. Auch Robert Menasse kommt zur lit.RUHR. Bei seinen drei Auftritten für das Literaturbüro Ruhr war er immer ein sehr kluger, liebenswerter Gast; etwa als er seinen Essayband „Permanente Revolution der Begriffe“ im Essener Grillo-Theater vorstellte.

Anteasern und wiederkäuen

Apropos Revolution in Permanenz: In der Tat wenig Lust auf die lit.RUHR macht einer der Video-‚Teaser‘ auf Youtube. Mariele Millowitsch nuschelt da vor Kölner Lärmkulisse so über die lit.RUHR hinweg, als ob diese längst gelaufen wäre. Sprachlich ergiebiger dürfte dagegen die Eröffnungsgala der lit.RUHR werden. Neben Iris Berben, Christoph Maria Herbst, Bettina Böttinger, Max Mutzke sind sogar zwei Literaten zu hören, einer davon Wladimir Kaminer, auch ihn kennen viele von seinen Lesungen im Ruhrgebiet.

Die Eintrittspreise für einen Platz bei der Eröffnungsgala liegen zwischen 24 und 56 Euro. Nicht auszudenken, wie hoch sie lägen, wenn nicht fünf Ruhrstiftungen die lit.RUHR mit 500.000 Euro gesponsert hätten. Wofür gibt man diese Summe plus der Einnahmen durchs Ticketing wohl aus? Die Honorarkosten des diesjährigen Programms scheinen eine solch hohe Summe kaum herzugeben, zumal durch Mehrfachauftritte in Köln und an der Ruhr sowie die Sponsoren einiges an Fahrt-und Hotelkosten eingespart werden dürfte. Doch sicher werden viele Tausender auch in die Werbung und die Infrastruktur gehen müssen, um im Ruhrgebiet einen Hype um die lit.RUHR erstmals zu entfachen.

Ziemlich versteckt: Landschaftspark Duisburg-Nord, das 2010-Publikum der Grass-Lesung des Literaturbüros Ruhr. Foto: © Jörg Briese

Schelte und Ignoranz

Dabei sollte mit der lit.RUHR alles ganz anders werden. Wie meinte in der WAZ Essen die „Vorsitzende der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Stiftung Zollverein und seit langem ein Fan der lit.Cologne“, wie also sprach Dr. Anne Rauhut, die die spannende Vielfalt der Lesungen und Literaturgespräche vor Ort nicht zu kennen scheint und also die lit.COLOGNE ins Revier lockte: Vieles sei „zu versteckt und relativ weit weg von den Menschen“, findet Rauhut.

Ein Lesefest wie die lit.RUHR, so Rauhut weiter, sei eine „gute Mischung aus Anspruch und Unterhaltung“, eine große Bühne, auf der Fußball und Musik genauso Platz haben wie Tolstoi und Tucholsky. ‚Man muss die Hemmschwellen niedriger legen‘, meint Rauhut.“ Gratulation, Letzteres scheint nun gelungen. Fehlen auf der Bühne eigentlich nur noch Carmen Nebel und ein Pony. Aber wer weiß?

Fehlgriff Stadtschreiber Ruhr, Glücksgriff Gila Lustiger

Nun aber wirklich Schluss mit der Kritik an der lit.RUHR, ihrem Marketing-Sprech, ihrem rasenden Event-Stillstand. All das hat die Ruhr-Stiftungen nicht davon abgehalten, die lit.COLOGNE auch noch zu Beratern des frisch installierten Stadtschreiber Ruhr-Projekts zu machen. Die gute Nachricht war: Gila Lustiger wird erste Stadtschreiberin Ruhr; die schlechte: Die Kölner „lit.Cologne berät“ – so die WAZ – beim Stadtschreiber-Projekt die Essener Brost-Stiftung.

Jens Dirksen, Kultur-Chef der WAZ, war in seinem Print-Artikel so freundlich zu erwähnen, dass das Literaturbüro und die Literarische Gesellschaft Ruhr seit Jahren eine Stadtschreiber-Residenz fordern. Niemand hat allerdings hingehört. Nun machen Brostens dabei erneut diskret-gemeinsame Sache mit der lit.COLOGNE.

Bodo Hombach formulierte erläuternd: „Im Ruhrgebiet ist eine reiche menschliche, kulturelle und historische Schatzsuche möglich.“ Was mag das sein, eine ‚menschliche Schatzsuche‘? Das Gegenteil einer ‚unmenschlichen Schatzsuche‘? Hombach möchte wahrscheinlich sagen, dass es auch an der Ruhr großartige Menschen zu entdecken gäbe, wenn man denn hinsähe. Da hat er allerdings recht.

„Wir müssen draußen bleiben“

Doch auch beim Stadtschreiber-Projekt hat man davon abgesehen, Autoren, Kritiker, Literaturwissenschaftler oder Literaturveranstalter aus der Region einzubeziehen. Wiederum borgt man sich das, was man für Kompetenz hält, aus der karnevalesk schillernden Ruhrmetropole Köln (die so gerne wie Berlin wäre).

Von Balance und dem rechten Maß kann nirgendwo mehr die Rede sein: hier der Tribut der Stiftungen für die lit.COLOGNE, dort die Missachtung der Literaturförderer vor Ort. Sprach nicht der Philosoph Odo Marquard einst von Inkompetenzkompensationskompetenz?

„Mehr Licht“ forderte völlig vergeblich Günter Grass bei seinen 2010er-Lesungen fürs Literaturbüro Ruhr in Bochum und Duisburg.

Kampagne – von „campagne“: „Feldzug“

Konfuse Kulturpolitik im Ruhrgebiet hat ohne Not kapituliert, sich selbst entmündigt und große Teile konzeptioneller Eigenständigkeit aus der Hand gegeben. Obszön ist das, im ursprünglichen Sinn des Wortes, beschämend für alle Beteiligten.

Woher kommt sie, diese Dominanz des Herumprotzens mit dem Fetisch ‚Festival‘, mit dem Irrglauben an dessen zwingenden Erfolg und überragende Außenwirkung? Als ob es im Ruhrgebiet nicht bereits ernüchternde Erfahrungen mit Kampagnenpolitik, deren bösen Folgen oder deren Verpuffen gegeben hätte. Überfällig, dies endlich zu evaluieren; nur bitte nicht weiter von jenen, die solche Kampagnen selbst inszeniert haben.

Statt Literatur zu lesen, darüber in Muße nachzudenken und sich in Gesprächen öffentlich auszutauschen, werden mit der Festivalisierung der Stadtpolitik Kunst und Kultur weiterhin vor den Karren von Marketing und Politik gespannt. Dabei vernachlässigt man gern auch die äußerst unterschiedlichen strukturellen Rahmenbedingungen Kölns und des Ruhrgebiets.

Das Ruhrgebiet ist Flächen- und Splitterstadt, es fehlt an großen Sendern, Verlagen, es fehlt trotz guter Journalisten an einem international ausstrahlenden Feuilleton und all jenen Medienmenschen, Kritikern, Autoren, die in Köln dafür sorgen, dass die lit.COLOGNE mediale Schaufenster ins Bundesweite hat. Immerhin: Für die lit.RUHR hat man wichtige  ‚Medienpartner‘ wie WDR und Funke-Medien gewonnen, dies dürfte zumindest garantieren, dass unabhängige Eventkritik nicht stattfindet.

2014: US-Autor Stewart O’Nan als Gast von lit….. äh… des Literaturbüros Ruhr; Foto: © Jörg Briese

Ruhrgebiets-Bashing

Wobei neben der Eventkritik auch Diskursanalyse bitter nötig wäre. Michel Foucault hatte einst über sie nachgedacht, jene unausgesprochenen Regeln, die beeinflussen, was wie wann von wem zur Sprache gebracht werden kann und was nicht. Vielleicht ließe sich so erklären, warum Rainer Osnowski von der lit.COLOGNE im Rahmen seiner Vorankündigungsrhetorik in der Kölnischen Rundschau verlauten ließ: „Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen „erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind“. Das interessiere auch jene Verlage, „für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist‘.“

Wer austeilt, sollte auch einstecken können: Alles, was man im Leben braucht, sind Ignoranz und Selbstvertrauen, heißt es bei Mark Twain – und davon hat Osnowski anscheinend reichlich. Bös missglückte ihm aus enger Kölner Perspektive die Werbung für die lit.RUHR gleich zu Beginn. Um die lit.RUHR aufzuwerten, griff er zur Entwertung des literarischen Lebens an der Ruhr.

Mit osnowskischer Geringschätzung und Erlöserpose treten Missionare auf, nicht aber Förderer der Literatur, die doch Kenner und Könner der Sprache sein sollten. Zwischen Duisburg und Dortmund würde man noch mehr Osmose durch internationalen Austausch der Künste und Künstler durchaus begrüßen, auf die lit.RUHR aber und Großformate ohne Format könnte man gut und gern verzichten.

Keine Fixierung auf die lit.RUHR, sondern Eigensinn ganzjährig stärken

In diesen Zeiten der postdemokratischen Kultur- als Symbolpolitik kann allen Literaturliebhabern an der Ruhr in heiterer Verlassenheit nur geraten werden, ihre eigenen und eigensinnigen Projekte weiter voranzutreiben (viele davon habe ich für die ‚Revierpassagen‘ recherchiert). Und: Warum sollte man sich beim Tanz ums goldene Festival-Kalb überhaupt abstrampeln? Kraft und Fantasie kostet das und mit jeder Überdosis Organisation verkümmert schnell die Lust am Lesen.

Nervtötend ist zurzeit deshalb auch die Dauerfrage, warum denn die ‚literarische Szene‘ an der Ruhr (was soll das sein?) nicht selbst ein ‚hochkarätiges‘ (drunter geht’s nicht) Festival auf die Beine gestellt habe. Ganz einfach: Viele investieren hierzulande all ihr beharrliches Engagement, manchmal auch einen Teil ihres Geldes in die eigenen Projekte der Literatur- und Leseförderung, des Zeitschriftenmachens oder internationalen Austauschs – damit haben sie mehr als genug zu tun. Niemand von ihnen könnte nebenbei auch noch die ‚Szene‘ dauerhaft vernetzen oder ein Festival organisieren. Und vor allem: Kaum jemand will das. Warum auch? Siehe oben.

Heinz Helle & Hubert Winkels zu Gast bei „Über Leben! Von der Hoffnung auf Zukunft“ – September 2017, Medienforum Bistum Essen

Kleine Volte: Hoch lebe die lit.RUHR!

Die lit.RUHR kommt so sicher wie das Amen im Essener Dom und für vier Tage im Jahr wird sie ihr ganz eigenes Publikum finden: Und? Mögen doch „Hannelore Hoger, Richie Müller und die Gummi-Ente“ (Programmbeilage der lit.RUHR) im schadstoffarmen Diesel des Sponsors Mercedes zu ihrem Auftritt „Fetisch“ (7.10., Zollverein) fahren, ihre „literarische Expedition in die Welt des Fetischismus“ starten und danach erschöpft ins Kissen der Hotel-Suite des Sponsors Sheraton sinken. Wieder ein – sagen wir mal – bunter Rezitationsabend, den man nicht selbst veranstalten musste (Verzeihung, verehrte Frau Hoger).

„Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, daß der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, daß es Zeit wird.“ So heißt es in Paul Celans Gedicht „Corona“. Man darf das UNIFORMAT „FESTIVAL“ getrost der lit.RUHR und ihren Gönnern überlassen und … abhaken.

An der Zeit wäre es allerdings, im Ruhrgebiet die Förder-Balance nicht noch weiter zu verlieren und ideell wie finanziell endlich Initiativen zu ermutigen, deren nachgewiesene Kompetenz es verdient hätte. Aber dafür werden Sachverstand, Mut und Geld bei den Stiftungen wohl nicht ausreichen – von Kommunen und RVR ganz zu schweigen.

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Gerd Herholz, der Autor des Beitrags, ist langjähriger Wissenschaftlicher Leiter des in Gladbeck angesiedelten Literaturbüros Ruhr. (Anm. d. Red.)




Gedenktag von großem Gewicht: Im nächsten Jahr werden wir an die 1918 ausgerufene Weimarer Republik erinnert

Gedenktage gibt es ja mittlerweile in Unmengen, und dank Wikipedia kann man sich für jeden Tag des Jahres ein Gedenken aussuchen. Allerdings sind diese Anlässe nicht alle in ihrer Bedeutung gleichwertig, und deshalb ist ihre historische und faktische Einordnung auch die Aufgabe guten Journalismus‘.

Grabmal der beiden 1920 im Kapp-Putsch erschossenen Männer aus Ennepetal. (Foto Pöpsel)

In diesem Jahr sind besonders drei historische Ereignisse hervorzuheben, weil sie nachhaltige Auswirkungen hatten. Das ist zum einen Martin Luthers Anti-Papst-Handlung vor 500 Jahren, die inzwischen fast bis zum Überdruss erörtert wurde.

Das Zweite Ereignis von Bedeutung war vor hundert Jahren, im Sommer 1917, der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg und damit die Wende zur endgültigen Niederlage der deutschen Reichswehr.

Als Drittes muss man die Oktoberrevolution 1917 in Russland nennen, die letztlich in der mörderischen Stalin-Diktatur endete und in deren Folge später die DDR entstand – ein erst 1989 überwundener undemokratischer Polizeistaat.

Und wo bleibt das Positive? Das kommt bestimmt im nächsten Jahr, denn dann können wir den Beginn der ersten echten Demokratie auf deutschem Boden vor einhundert Jahren feiern, die von den Sozialdemokraten am 9. November 1918 ausgerufene Republik, die später wegen des Tagungsortes des Parlaments „Weimarer Republik“ genannt wurde.

Die SPD bereitet sich auf Bundesebene bereits auf das Jubiläum vor – schließlich spielte sie damals die Hauptrolle, und ihr Vertreter Friedrich Ebert wurde der erste Reichspräsident.

Auch auf regionaler Ebene gibt es historische Forschungen, zum Beispiel über das Wirken der Arbeiter- und Soldatenräte, die sich im Laufe der Novemberrevolution bildeten und die Anfang 1919 gewaltsam ausgeschaltet wurden.

In Großstädten wie Dortmund bestimmten die Räte wochenlang das öffentliche Wirken, in Kleingemeinden findet man nur Randnotizen über ihre Arbeit. Im Protokollbuch der Gemeindevertretung Milspe zum Beispiel, heute Teil der Stadt Ennepetal, gibt es nur einmal eine Eintragung vom 18. November 1918, als neben den Gemeindevertretern auch der spätere Reichstagsabgeordnete Walter Öttinghaus „als Arbeiter- und Soldatenrat“ das Sitzungsprotokoll mit unterschrieb.

Die neue demokratische Republik war natürlich gefährdet, und als im März 1920 mit dem Kapp-Putsch der Angriff von rechts begann, gab es auch im Ruhrgebiet zahlreiche Tote. Zwei junge Männer aus Milspe, Max Fuchs und Artur Klee, wurden bei Kämpfen mit den Putschisten am Bahnhof in Remscheid erschossen. Die Gemeindevertretung ließ sie in einem Ehrengrab bestatten, und als Rechtsnachfolgerin hat sich auch die Stadt Ennepetal zur weiteren Grabpflege verpflichtet – als sichtbares Zeichen für eine Demokratie, die mit der Ausrufung der Republik in Berlin vor beinahe 100 Jahren begann und die mit der NS-Diktatur schon 1933 ihr Ende fand.




Vernetzte Akteure der kulturbasierten Urbanität – ein paar Beispiele für den üblichen Subventions-Abgreifer-Jargon

Nein, man mag ihn manchmal wirklich nicht mehr hören, diesen immerwährenden, nur in Nuancen sich verändernden, angeblich kulturaffinen Subventions-Abgreifer-Jargon. Sollte er etwa spezifisch fürs Ruhrgebiet sein? Oder gibt es ihn so oder ähnlich überall?

Immer hübsch wolkig bleiben...

Immer hübsch wolkig bleiben…

Wenn man ordentlich Fördergeld abzapfen wollte, so müsste man in den Antrag vor allem einige Reizworte einstreuen. Von „Vernetzung“ müsste man schwafeln, über „Akteure“ der Szene psalmodieren. Selbstverständlich müsste auch „Urbanität“ raunend beschworen werden. Zusammensetzungen mit Inter- oder Trans- gehen sowieso immer. Interkulturell, transkulturell, international, transnational, intersexuell, transsexuell. Eigentlich egal. Multi geht natürlich auch. Und bunt sowieso.

Aber bloß nicht konkret werden. Lieber Nebelkerzen werfen. Immer in der umwölkten Schwebe lassen, was man eigentlich will und erstrebt (außer Fördergeld, hoho).

Den Mund so richtig voll nehmen

Vollends entfesselte Euphorie bricht sich Bahn, wenn erst einmal das Zauberwort „Kreativwirtschaft“ gefallen ist. Dann gibt es kein verbales Halten mehr. Dann ist quasi alles erlaubt. Dann darf man den Mund so voll nehmen, wie man will. Hauptsache, es klingt irgendwie cool und jung. Nach Zukunft fürs gebeutelte Ruhrgebiet. Und – naja – irgendwie auch nach „Kultur“, die sich nach solchem Verständnis nicht selten bei nett illuminierten Straßen-, Park- und Quartiersfesten mit anschließendem Feuerwerk manifestiert. Prösterchen!

Doch hören wir mal rein: Richtige Formulierungs-Könner sind beispielsweise beim Projektbündel unter dem Titel „Urbane Künste Ruhr“ am Werk. Wir zitieren ehrfürchtig: „Urbane Künste Ruhr rückt 2017 Utopien in den Fokus und verwandelt den urbanen Raum in eine temporäre Handlungsfläche…“ Fokus – urban – Handlungsfläche… Das klingt zwar schwammig, ist aber beherzt in die Textschublade gegriffen und großzügig ausgestreut. Auch wollen sie nach eigenem Bekunden „Handlungsstrategien für die Bevölkerung vor Ort“ entwickeln. „Vor Ort“ ist immer gut, „Handlungsstrategien“ sind es nicht minder. Fehlen eigentlich nur noch noch Textbausteine, wie sie auch im gar flotten Lokalteil der Zeitung beliebt sind: „Kiez“, „Quartier“, „total lokal“ oder das allgegenwärtige „Umsonst und draußen“. Da ächzt der Kenner.

Dieter Gorny, Großmeister der Zunft

Ein, wenn nicht d e r Großmeister aller eloquenten Subventionsempfänger und vielfach gekrönter König der „Kreativwirtschaft“ ist der umtriebige „Medienmanager, Lobbyist und Musiker“ (Wikipedia) Dieter Gorny, seines Zeichens u. a. Ex-„Viva“-Chef und künstlerischer Ko-Direktor der „Ruhr.2010“, vulgo der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010. Als solcher hat er sich auch nachdrücklich für die Loveparade in Duisburg eingesetzt.

Länger nichts mehr von Gorny (Jahrgang 1953) gehört? Wie man’s nimmt: Im März 2015 wurde er vom seinerzeitigen Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (einst selbst als öffentlich bestallter „Siggi Pop“ unterwegs) zum „Beauftragten für Kreative und Digitale Ökonomie“ erkoren. Damit haben wir nur einen Bruchteil der Ämter und Würden genannt. Nicht zu vergessen: Der Mann firmiert längst als Prof. Dieter Gorny. Früher hätte man solch einen Teufelskerl „Tausendsassa“ genannt. Oder „Hansdampf in allen Gassen“.

...und so undurchsichtig wie Milchglas. (Fotos (2): Bernd Berke)

…und so undurchsichtig wie Milchglas. (Fotos (2): Bernd Berke)

Wer sich mal kriminal über Gornys Treiben aufregen will, muss bei den geschätzten „Ruhrbaronen“ nur mal das Stichwort „Gorny“ eingeben und wird vielfach fündig. Die Barone, die gern schon mal die eine oder andere Kampagne reiten (z. B. mit Stoßrichtung auf Grüne oder Anthroposophen), haben in ihm einen ihrer Lieblingsgegner gefunden…

Selbsternannte Impulsgeber

Uns hingegen geht es natürlich ausschließlich um linguistische Belange. Im Gefolge von Ruhr.2010 wurde Gorny Geschäftsführer einer Institution mit dem geschwollenen Namen „European Centre for Creative Economy“ (ECCE), die auf dem Gelände am Kulturzentrum „Dortmunder U“ residiert.

Auch und vor allem im ECCE-Dunstkreis beherrscht man den erwähnten Subventions-Jargon aus dem Effeff, ja, man hat ihn wohl recht eigentlich mitgeprägt. So versteht man sich laut Homepage als „Impulsgeber für eine kulturbasierte Stadt- und Quartiersentwicklung“. Allein schon das Wort „kulturbasiert“ könnte einen auf die Palme bringen… Einen wirklichen Eigenwert scheint Kultur in solchem Kontext nicht mehr zu haben, sie wird halt für andere Zwecke in Dienst genommen.

Soeben erhalte ich eine einladende E-Mail von „Interkultur Ruhr“, in der lockend von „Partizipation im öffentlichen Raum“ geredet wird. Jaja, auch allerlei Teilhabe kommt immer gut. Im selben Text tauchen ebenfalls mal wieder „urbane Diskurse“ auf. Tja, auch diese Leute verstehen ihr Handwerk bzw. ihr verkleisterndes Sprachdesign, das sich nicht zuletzt aus pseudosoziologischem Funktionärssprech speist.

Auf zur Reparatur ganzer Stadtteile!

Am besten ist es, wenn man der jeweiligen Kommune bzw. der Stiftung oder dem Verband gleich die soziokulturelle Reparatur ganzer Stadtteile in Aussicht stellt. Wer fragt später schon danach, was daraus geworden ist? Es sind allemal Zeichen gesetzt und Impulse gegeben worden. Also Ruhe, ihr Zweifler! Da wird kein Geld verpulvert. Es wird nur verbraucht.

Damit wir uns nicht missverstehen: Es geht hier weniger um Qualität, Sinn oder Unsinn einzelner Vorhaben, es geht um den ranschmeißerischen Jargon, der sich mit automatisch einrastenden Schlüsselworten an Gremien und sonstige „Entscheider“ heranwanzt. Doch wo schon die Sprache verhunzt wird, wächst das Misstrauen in die Sache schnell.

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P.S.: Auch hier, wie schon im Falle des landläufigen Fußball-Jargons, mache ich mich anheischig, nach und nach weitere Beispiele zu sammeln.

Hatten wir schon „nachhaltig“ und „achtsam“? Oder ist das eine andere, sanftere Kategorie?




Die Hauruck-Metropole gibt sich die Ehre: „Stadt der Städte“ – eine neue Image-Kampagne fürs Ruhrgebiet

Da wird der steinreiche Chinese aber staunen und womöglich gleich ein paar Dutzend Milliönchen im „Pott“ investieren. Denn siehe da: Das Ruhrgebiet hat eine neue Werbekampagne mit dem fulminanten Slogan „Stadt der Städte“. Da staunt auch ihr, nicht wahr?

Blick von oben: Bildmotiv der neuen Revier-Kampagne. (© Regionalverband Ruhr/Kai-Uwe Gundlach)

Blick von oben: Bildmotiv der neuen Revier-Kampagne. (© Regionalverband Ruhr/Kai-Uwe Gundlach)

Natürlich haben sich böse, böse Menschen im Netz gleich darüber lustig gemacht. Nun gut: „Stadt der Städte“ hört sich ja auch mal wieder – wie das bei Revierkampagnen öfter mal der Fall ist – etwas geschwollen an; ganz so, als gebe es nichts Größeres auf Erden.

Tja, wer kann sich schon mit uns vergleichen? Frech bis anmaßend tritt die im Auftrag des Regionalverbands Ruhr (RVR) entstandene Kampagne auf und fordert Metropolen wie New York ausdrücklich heraus. Da möchte man am liebsten mit Frank Goosens lakonischem Klassiker „Woanders is‘ auch scheiße“ dagegenhalten. Runterkommen statt abheben.

Formel des Wunschdenkens

Mit sanfter Gewalt sollen die 53 Kommunen in ein begriffliches Korsett gezwängt werden, auch das ist ein altbekannter Impuls. Die Formel „Fünf Mio. Menschen, 53 Städte, 1 Metropole.“ steht – trotz stimmiger Zahlen in den ersten beiden Teilaussagen – irgendwie windschief in der Landschaft, sie zeugt von Wunschdenken. Selbst die WAZ, als publizistischer Platzhirsch sonst für jede Hauruck-Vereinigung des Ruhrgebiets zu haben, sieht sich in der heutigen Ausgabe zu einem „Pro & Contra“ zweier Redakteure genötigt, bei dem zumindest ein wenig Skepsis durchschimmert.

Vor Jahr und Tag wollte das Blatt partout der ganzen Gegend den Namen „Ruhrstadt“ aufdrängen – vergebens. Welcher Bewohner, der bei Trost und kein RVR-Funktionär ist, würde im Alltag von der „Ruhrstadt“ oder auch nur von der „Metropole Ruhr“ reden? Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Übergreifende Projekte wie Emscher-Renaturierung und Fahrrad-Autobahn sind selbstverständlich manche Anstrengung wert. Aber Gemeinsamkeiten müssen erst einmal wachsen und nicht herbeigefaselt werden. Und wir reden hier längst nicht mehr von Stahl- und Bergbaugeschichte.

Zehn Millionen Euro im Werbetopf

Satte zehn Millionen Euro, die vorerst in drei Jahren verpulvert werden sollen, kostet der neue Kampagnen-Spaß, der die Region als besonders innovativ und dynamisch darstellen soll. Über den Auftrag durften sich zwei Werbeagenturen aus Essen und Hamburg freuen. Das Wort „Werbefuzzis“ verkneifen wir uns. Für die eine oder andere Flasche Champagner dürfte es jedenfalls gereicht haben. Nur für Fernsehspots langt das Geld nicht. Statt dessen will man die frohe Botschaft vom modernen Revier vorwiegend in Zeitungsanzeigen und im Internet verbreiten. Gemeine Frage: Was könnte man mit zehn Millionen Euro sonst noch anfangen?

Der Slogan „Stadt der Städte“ (siehe P.S. im Nachspann) zielt, wie schon angedeutet, besonders auf potente Investoren aus aller Welt. Global tritt man als „City of Cities“ auf. Was sie wohl in New York, Shanghai, Tokyo, Bombay oder Rio dazu sagen werden? Und ob sich Investoren durch Slogans locken lassen oder ob sie auf handfeste Kennzahlen achten werden? Mal sehen.

Starkes Stück und kochender Pott

Wir erinnern uns: Es ist beileibe nicht die erste Image-Kampagne fürs Ruhrgebiet. 1985 hieß es „Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland“, ab 1998 folgte „Der Pott kocht“. Zwischendurch gab es auch schon mal völlige Rohrkrepierer. Es wäre interessant zu erfahren, was all diese Bemühungen in den Köpfen tatsächlich bewirkt haben. Ja, is klar, das kann man nicht messen.

Apropos Kampagne. Jüngst hat die WAZ mal wieder in ein solches Horn gestoßen und sie wird wohl nicht ruhen, bis die Sache so oder so durch ist. Nachdem das Weltereignis in diversen anderen deutschen Städten keine Chance hatte, will die Zeitung darauf dringen, Olympische Spiele ins Revier zu holen. Abgesehen davon, dass es oft reichlich dubiose Wege sind, auf denen man an solche Veranstaltungen gelangt (ich will nichts gesagt haben), blendet man auch sonst alle möglichen Begleiterscheinungen (von Doping bis Terror) aus und malt lieber schon jetzt die schönsten Bilder etwa von neuen Verkehrswegen, auf denen nicht nur die Jugend der Welt durchs Ruhrgebiet gleiten soll.

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P.S.: Durch einen mit entsprechenden Links versehenen Newsletter des Journalistenbüros correctiv.org werde ich gerade darauf aufmerksam, dass „Stadt der Städte“ nicht einmal neu ist. Der wahrlich nicht ganz unbekannte Werbemann Michael Schirner hat den Slogan 1996 ausgerechnet für die WAZ verwendet (© Schirner Zang Institute of Art and Media GmbH), auch die WAZ selbst erinnert daran. Gutes kommt eben wieder…




Das Wort „Heimat“ ruft immer wieder Zweifel hervor

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über sein Verständnis von „Heimat“:

Wie lange hat es gedauert, bis ich zum Begriff „Heimat“ ein auch nur halbwegs unbelastetes Verhältnis gefunden habe!

Schwer erträgliche Heimattümelei an einem Souvenirstand in Bayern. (Foto: Bernd Berke)

Schwer erträgliche Heimattümelei an einem Souvenirstand in Bayern. (Foto: Bernd Berke)

Heimat, das war etwas, mit dem distanziert und kritisch umzugehen ist. Heimat, damit verband ich untrennbar den röhrenden Hirschen und die Trachtengruppe, Latent-Faschistoides oder den Hort dumpfer Aggression gegen alles Unbekannte und Fremde. Die Theaterstücke von Ödön von Horváth oder Marieluise Fleißer, Fassbinders „Katzelmacher“ oder Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ (unlängst mal wieder auf DVD angeschaut) schienen mir der richtige Weg zu sein, Heimat ins Bild zu setzen.

Nur durch eine skeptische Sicht und niemals durch unreflektierte Inanspruchnahme schien mir dieser eigentlich verlockende Begriff – der ja so viel von Zugehörigkeit zu vermitteln schien – handhabbar und erlaubt zu sein. Wo ich irgendwo eine sogenannte Volksbelustigung betrachtete – sei es ein Schützenfest oder ein andere traditionelle oder folkloristische Lustbarkeit – schien es mir, als müsste dahinter unvermeidbar Unheil lauern, das diese „heile Welt“ zerstören würde: die erschreckenden Abgründe dieser da so fröhlich feiernden Menschen würden in Kürze zu Tage treten.

Zerbrochene Bierzeltbänke

Und so geschah es denn auch nicht selten im jungen deutschen Film der 60er/70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wenn sich einer der Regisseure – Meister im Zertrümmern brav bürgerlicher Gemütlichkeit – solcherart Themen annahm. Zum Schluss hockte nur noch einer der trinkfesten Biedermänner desillusioniert neben den zerbrochenen Bierzeltbänken, sinnlos ins Leere stierend – und hinter ihm auf einer Weide würde ein flügellahmer Vogel versuchen, in den Himmel aufzusteigen. Alles andere als solche bissigen Einblicke, ob im Buch, im TV oder auf der Leinwand, konnte nur verlogene Idylle sein, wenn nicht Kitsch.

Impression aus der Dortmunder Innenstadt: ein Stück Ruhrgebiet - aber "Heimat"? (Foto: Bernd Berke)

Impression aus der Dortmunder City: ein Stück Ruhrgebiet – aber „Heimat“? (Foto: Bernd Berke)

Auf das Ruhrgebiet konnte ich den Begriff Heimat überhaupt nicht übertragen. Die noch von Kohle und Stahl demolierte Landschaft bot sich mir als das Gegenteil einer anheimelnden Flucht- und Rückzugsmöglichkeit dar. Im Ruhrgebiet konntest Du Dich nicht entspannt zurücklehnen und gefällig bis selbstgefällig betrachten, wie wohlgetan die Umgebung sich ausbreitet, in der du aufwachsen bist und lebtest.

Verzwickt im Ruhrgebiet

Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass man im Ruhrgebiet vor allem „Vorsicht“ walten lassen muss, allzu große Vertrauensseligkeit eher schädlich sein konnte. Und die weitverbreitete Ansicht, dass die Menschen hier geradeheraus sind und immer „sagen, was Sache ist“, konnte mir zeitweise Unbehagen einflößen. Denn was ist, wenn Du selbst nicht zu dieser zupackend-sympathischen Spezies gehörst, eher verträumt bist, verzwickt? Ich habe das Ruhrgebiet früher (heute bin ich etwas altersmilde geworden) nicht unbedingt als Heimat begriffen, sondern als Zuhause, mit dem man zurechtkommen muss. Mal recht, mal schlecht.

Also eher heimatlos (wie einstmals Freddy Quinn in besagtem Song) als heimattümelnd (wie später Karl Moik im Schrammel-TV).

Nachbemerkung.
Ausnahme: Die Heimat-Saga von Edgar Reitz konnte ich akzeptieren. Die hatte aber auch nix mit dem Ruhrgebiet zu tun.




Vom Alltag einer Arbeiterfamilie zwischen Ruhrgebiet und Sauerland – Martin Beckers Roman „Marschmusik“

Sowohl der Buchtitel „Marschmusik“ als auch das Sujet, nämlich die Geschichte einer Arbeiterfamilie, sind auf den ersten Blick wohl nicht zugkräftig genug, um Leser für einen Roman zu gewinnen.

Marschmusik von Martin Becker

Was hat schon der Alltag von Menschen zu bieten, die erst vom Bergbau und später von anderer Industrie lebten? Eine solche Frage ist zweifellos berechtigt, doch wer einmal mit dem Buch von Martin Becker begonnen hat, der legt es so schnell nicht wieder aus der Hand. Denn der Autor beherrscht die Kunst des Erzählens. Auch wenn er im klassischen Sinn keine Spannungsbögen aufbaut, sorgt er für echten Lesegenuss.

Beckers Hauptdarsteller sind die Mitglieder seiner fünfköpfigen Familie, wobei man in der wichtigsten Nebenrolle noch einen Mann namens Hartmann erwähnen sollte, einen im wahrsten Sinne „Kumpel“ des Vaters. Nachdem die beiden anfangs durch Dick und Dünn gegangen sind, treten aber dann doch die Eigenwilligkeiten Hartmanns immer stärker hervor und schließlich landet er auf der schiefen Bahn.

Doch damit ist das Kapitel dieser Männerfreundschaft noch lange nicht beendet, denn Hartmann findet wieder auf den rechten Weg zurück – zumindest so einigermaßen. Er meldet sich auch wieder bei der Familie des Erzählers. Begeisterung sieht allerdings anders aus.

Ohne nostalgische Verklärung

Dem Verfasser gelingt es nicht nur, ein sehr klares Profil von den Menschen zu zeichnen, die ihn seit der Kindheit umgeben haben, auch die Beschreibungen über die Schufterei in den Tiefen des Bergwerks sind anschaulich, präzise und lebendig. Dabei verfällt Becker keineswegs in Nostalgie und seine Texte sind auch weit davon entfernt, die Bergbau-Ära als die gute alte Zeit zu klassifizieren. Schon die Mühsal der Arbeit spricht dagegen. Dass die Jahre aber durchaus ihre Vorzüge hatten (wirtschaftliche Sicherheit, Zusammenhalt untereinander), schildert Becker ebenfalls.

Ob es nun der Vater schon früh vorhergesehen hat oder die Plackerei ihm doch zu viel war, jedenfalls zieht die Familie nach einigen Jahren in ein Städtchen, das sowohl am Rande des Sauerlands als auch des Ruhrgebiets liegt und einen sicheren Arbeitsplatz zu bieten hat. Hier kauft man sich schließlich auch ein Haus und schlägt Wurzeln, wobei der Erzähler ein vielschichtiges Portrait von seinem Vater vorlegt.

Der Vater ist, wie wohl viele Männer aus der Arbeiterschaft in den 70er und 80er Jahren, zwar ein knorriger und äußerst distanzierter Mensch, der tagein tagaus in einem Metallbetrieb schuftet und keine wirklichen Freunde hat. Doch es lassen sich auch andere Seiten erkennen. Dazu gehört beispielsweise die liebevolle Sorge um die Neugeborenen in der Familie oder ein lockerer Umgang mit dem Sohn, als dieser ins Jugendalter kommt.

Kleinbürgerliche Enge

Der in Plettenberg (Sauerland) aufgewachsene Autor selbst hatte sich derweil schon als Kind in den Kopf gesetzt, ein berühmter Musiker werden zu wollen. Er schließt sich einem Orchester an, das die Art von Musik spielt, die nun im Buchtitel steht. Mit feiner Ironie blickt der Verfasser auf sein eigenes Schaffen zurück und mit ebenso hintersinnigem Humor beschreibt er auch das Leben seiner Eltern und die kleinbürgerliche Enge, die ein Wohnort in dem kleinen Städtchen so mit sich bringt. Ein Einzelfall sei der Ort keineswegs betont der Autor, davon gebe es überall viele.

Martin Becker beobachtet sehr genau, was um ihn herum passiert, damals und heute. Mal schildert er die Fährnisse des Alltags, so wie sich in der Vergangenheit ereignet haben, dann wieder beschreibt er, wie es in heutiger Zeit bei Besuchen im Elternhaus zugeht und blickt dabei zurück in jene längst vergangenen Jahre. Mittlerweile ist der Vater verstorben, die Mutter lebt nun allein. Eines hat sie sich nie abgewöhnt oder auch nicht abgewöhnen wollen. Sie raucht – aus Leidenschaft.

Martin Becker: „Marschmusik“. Roman. Luchterhand, 288 Seiten, 18 Euro.




„Die Abbieger“ – Thomas Schweres hat den Ruhrgebiets-Krimi zur Stauschau geschrieben

„Und nun die Stauschau. Wir melden alles ab 7 Kilometern“. Keine Seltenheit, diese Ansage. Als Autofahrer ist man da schon dankbar, wenn man auf der A 2 im Stau steht. Muss man sich nicht die ganzen (trotz der Beschränkung auf 7 km immer noch epischen) Verkehrsnachrichten anhören. Kein Geheimnis, dass dies schon fast der Normalzustand auf den Straßen des Ruhrgebiets ist. Bringt wohl so ziemlich jeden Autofahrer an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Klaus-Werner Lippermann, der Anti-Held in Thomas Schweres‘ neuem Krimi „Die Abbieger“, kann es nicht mehr ertragen. Alles war so schön in seinem Leben. Mama Elfriede wusch zuverlässig seine weißen Socken und sorgte auch sonst im gemeinsam bewohnten Zechenhaus für Ordnung. Den Feierabend verbrachte er im Schrebergarten mit den preisgekrönten Kaninchen Molly und Whitey und solange man ihn dort in Ruhe ließ, ließ er auch die anderen in Ruhe.

Ein Kaninchenmörder geht um

Ihm doch egal, wieso Familie Yüksel soviel Strom für ihr Gewächshaus braucht, dass sie dort Tag und Nacht in die Pedale der aufgestellten Trimmräder treten. Umweltfreundlich ist diese Stromerzeugung ja und der Rest ging ihn auch nichts an. Nur diese dauernden Staus auf der A 40, die er nach Verlagerung seines Arbeitsplatzes in Kauf nehmen muss – unzumutbar ist das. Wieviel Lebenszeit diese unfähige Behörde Strassen.NRW ihm raubt!

Doch dann ändert sich alles. Ein Kaninchenmörder geht um, auch Molly und Whitey fallen ihm zum Opfer. Klausi sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben und heiraten will er auch nicht, da kann Elfriede noch so verzweifelt kuppeln. Stattdessen schmiedet er Rachepläne, während er zur Untätigkeit verdammt am Steuer seines getreuen VW Jetta sitzt.

Verlorene Lebenszeit auf der A 40

Ganz genau hat er es sich ausgerechnet: 352 Stunden waren es noch zu Lebzeiten von Molly und Whitey selig, die er unfreiwillig auf der im Volksmund Ruhrschleichweg genannten A 40 verbracht hat. 14 Tage und 16 Stunden, die er nicht mit seinen geliebten Karnickeln hat verbringen können. Und Schuld daran war – ganz genau – Straßen.NRW. Diese Fehlplanungen. Baustellen, die eingerichtet, aber nicht bearbeitet werden. Diese unsinnigen Zuflussregelungsampeln, die nur Rückstaus verursachen und dann noch die Radarfallen und Geschwindigkeitsbegrenzungen, die nur der Befüllung der Stadtsäckel dienen. Und da die A 40 jede Menge Städte durchschneidet, gibt es entsprechend viele davon.

Klausi ist es leid, er braucht einen Befreiungsschlag. Genug ist genug. Zunächst einmal weiht er seinen besten, weil einzigen Freund Alfred Kruppel ein, einen bierseligen Schrotti, der genau an der A 40 wohnt. Kruppel ist Feuer und Flamme und beginnt sofort mit der logistischen Planung…

Wo der Manager Möhrchen knabbert

Die beiden entführen Dr. Weissfeld, den Chef von Strassen.NRW. Soll der jetzt mal sehen, wie das so ist mit den Murmeltiertagen im Stau. Sie halten ihn mit einer säurebefüllten grünen Wasserpistole in Schach, so dass dem armen, nur mit rudimentären Fahrkünsten begabten Manager nichts anderes übrig bleibt, als tagsüber Klausi und Kruppel durch die Staus zu chauffieren und nachts im alten Kaninchenstall an Möhren zu knabbern.

Die Forderung der Erpresser geht beim schon alarmierten Kommissar Schüppe ein: läppische 55.000 Öcken will man haben. Das Geld ist für Kruppel, Klausi ist da eher idealistisch unterwegs, auf sein Konto gehen die restlichen Forderungen, die es durchaus in sich haben: Man verlangt die Aufklärung der Kaninchenmorde und die Auflösung der Staus durch diverse von Klausi höchstselbst ausgearbeitete Maßnahmen. Alles muss in der Presse verkündet und als Verdienst des ausgedachten TuS-V (Tierfreunde und Staugegner – vereinigt) deklariert werden. Schnell gewinnt der TUS-V eine beachtliche Fangemeinde, das halbe Ruhrgebiet will in den Verein eintreten.

Schüppe und seinen Mannen ist klar, sie müssen handeln und diesen Fall aufklären, bevor das Ganze vollends außer Kontrolle gerät. Auch der Spürnase Tom Balzack, dem kriminalistisch begabten Reporter ist schnell klar, dass hinter den erstaunlichen Zeitungsmeldungen – die er durchaus erfreut begrüßt – mehr stecken muss. Undenkbar, dass Strassen.NRW plötzlich Einsicht zeigt. Balzack kann sich ja vieles vorstellen, aber das nun wirklich nicht.

Es droht die Autobahnmaut als Standgebühr

Unschwer vorstellen kann man sich hingegen, dass Thomas Schweres mit dem Thema seines schon vierten Krimis um den knorrigen Kommissar Schüppe und den umtriebigen Balzack einen Nerv trifft. Nicht nur Klausi hat wohl das Gefühl, dass die Politik den „Straßenbau als Ersatzdisziplinierungsmöglichkeit“ entdeckt hat und dass die drohende „Autobahnmaut im Ruhrgebiet wohl eher so eine Standgebühr“ sein wird. Man glaubt sofort, dass ein Verein wie der TuS-V schnell begeisterte Anhänger finden würde. Thomas Schweres hat wahrscheinlich in seinem Hauptberuf als oft genug nicht rasen könnender Reporter im Ruhrpott viel Zeit im Dauerstau verbracht.

Schweres benutzt für seine „Stellvertreter-Rache“ das Genre des Krimis, aber „Die Abbieger“ unterscheiden sich erheblich von ihren Vorgängern. Nicht nur, dass man Täter und Motive von Anfang an kennt und eher ihre Verstrickungen sowie die Aufklärungsversuche verfolgt, als mitzurätseln, auch der Stil ist ein anderer. Waren die Vorgänger noch eher Thriller als Krimi, so lesen sich „Die Abbieger“ in weiten Teilen als Satire. Wäre das Buch ein Tatort, dann wäre es mehr Tatort Münster als Tatort Dortmund. Spannung kommt so natürlich selten auf, aber die Lektüre ist kurzweilig und wirklich witzig.

Machte Schweres sonst gerne ein großes Fass auf und brach das kriminelle Weltgeschehen auf das Ruhrgebiet runter, bleibt er diesmal ganz in seinem Revier. Mehr als sonst leben „Die Abbieger“ vom Ruhrgebiet-Kolorit, schon das vorgeschaltete Personenregister ist voller gewollter Klischees. Der heimliche Star des Buches ist Mutter Elfriede, die als echte Ruhrpott-Zechenmutter daherkommt, eine Kreuzung aus Tana Schanzara und Else Stratmann.

Thomas Schweres: „Die Abbieger“. Grafit Verlag, Dortmund. 282 Seiten, 11,00 €.




Weil der WDR hohe finanzielle Hürden setzt: Ruhrgebiets-Hörspiele können nicht im Buchhandel verkauft werden

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über eine neue Edition mit Ruhrgebiets-Hörspielen, die allerdings einen Schönheitsfehler hat:

Für mich ist es ein Rücksturz in meine literarische Vergangenheit: „Die Sonne ist nicht mehr dieselbe. Ruhrgebiets-Hörspiele 1960 bis 1990“. So lautet der Titel einer facettenreichen Dokumentation (die beiliegende DVD umfasst nicht weniger als 39 Hörspiele), die jetzt von der Literaturkommission Westfalen veröffentlicht worden ist.

Ruhrgebietsspezifische Hörspiele gab es natürlich von jeher im Programm des Westdeutschen Rundfunks, richtig Fahrt hat diese Sparte allerdings erst aufgenommen, als der aus Bottropstammende Frank Hübner Anfang der 1980er Jahre die Ruhrgebiets-Redaktion beim WDR übernahm.

Heimatdönekes, sofern es sie gegeben hatte, waren passé. Wir, Autoren und Autorinnen aus dem Revier, befassten uns mit gegenwärtigen Themen, orientiert an ambitionierten literarischen Qualitätskriterien. Klingende Autorennamen versammelten sich da: Michael Klaus, Jürgen Lodemann, Monika Littau oder Rolf Dennemann.

Ich für meinen Teil habe versucht, mit Formen der Konkreten Poesie den Ruhrgebiets-Slang zum Tanzen zu bringen. Aufbruchstimmung allenthalben, die im zweijährigen Gruppen-Projekt „Blackbox B 1“ gipfelte.

All das kann man in der neuen Doku nachlesen und -hören, wenn, ja wenn es so leicht wäre, an diese empfehlenswerte Veröffentlichung heran zu kommen. Man muss sich bemühen: Aus urheberrechtlichen Gründen kann die Edition nicht im Buchhandel erscheinen.

Der Bezug ist nur möglich über die Literaturkommission für Westfalen, Salzstraße 38 / Erbdrostenhof, 48133 Münster. Warum das? Der WDR hatte vor den regulären Verkauf der Edition so hohe finanzielle Hürden gesetzt, dass die Herausgeber darauf verzichten mussten. Kein Ruhmesblatt für den WDR!




Trotz des „Diaspora“-Geredes aus Köln – das Ruhrgebiet hat ein reiches literarisches Leben

Alles, was man im Leben braucht, sind Ignoranz und Selbstvertrauen, heißt es bei Mark Twain. Und davon hat Rainer Osnowski vom Festival lit.COLOGNE wohl mehr als genug.

Katja Lange-Müller auf Einladung des Literaturbüros Ruhr im Maschinenhaus Essen - Foto: G. Herholz

Katja Lange-Müller auf Einladung des Literaturbüros Ruhr im Maschinenhaus Essen (Foto: Gerd Herholz)

Anders lässt sich kaum erklären, warum er angesichts der Vorankündigungsrhetorik zur lit.RUHR (wir berichteten) in der Kölnischen Rundschau verlauten ließ:
„Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen ‚erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind‘. Das interessiere auch jene Verlage, ‚für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist‘.“

Kleine „Gegendarstellung“
Selbst bei bescheiden-grober Schätzung darf man getrost davon ausgehen, dass längs der Ruhr jährlich ca. 800 Literaturveranstaltungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene stattfinden, mit Autoren aus der Region, aus Deutschland, aus Europa und der ganzen Welt. Vielleicht sind es – mit all den Schullesungen – sogar wesentlich mehr. Hier wäre es tatsächlich einmal sinnvoll, vom „Land der 1000 (Lese-)Feuer“ zu sprechen.

Breite & Spitze zugleich
Ruhrgebietsweit gibt es Stadtbibliotheken und -büchereien, kleine Verlage, soziokulturelle Zentren, Literaturbüros, Buchhandlungen, Kneipen, Universitäten, Preisstifter, Festivals, Volkshochschulen, Archive, Schauspielhäuser, Auslandsgesellschaften, Kulturbüros und Kirchen, die eben nicht nur Lesung, Gespräch, Poetry Slam oder Rezitation anbieten, sondern sich das ganze Jahr über um ein vielfältiges literarisches Leben kümmern, um das literarische Gedächtnis ebenso wie um die Förderung junger Talente oder die Leseförderung.
Das glauben Sie nicht? Dann überfliegen Sie bitte einmal die unvollständige Liste unten und lassen sich beeindrucken. Gewisse Kölner aber schweigen besser für immer.

Abbas Khider (li.), Jochen Hippler & Gerd Herholz (Mitte) im Ringlokschuppen Ruhr (Foto: Literaturbüro Ruhr e.V.)

Literaturförderer und –vermittler im Ruhrgebiet

(alphabetisch nach Städten):


Bochum
Literarische Gesellschaft / Macondo (Zeitschrift & Veranstalter) / Blue Square der Universität Bochum / Bahnhof Langendreer / Literaturkarte Ruhr, Ruhruniversität Bochum / Goldkante (Bar)

Bottrop Verlag Henselowsky Boschmann

Dortmund Literaturhaus Dortmund / Stadt- und Landesbibliothek / Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt / jugendstil – Kinder- und Jugendliteraturzentrum NRW / subrosa-Hafenschänke / Melange, Literarische Gesellschaft zur Förderung der Kaffeehauskultur e.V. / Auslandsgesellschaft NRW e.V. / TarantaBabu – Verein zur Förderung der interkulturellen Lesekultur und Medienkompetenz e.V.

Duisburg Verein für Literatur und Kunst / Stadtbibliothek / Studiengang Literatur und Medienpraxis, Universität Duisburg-Essen / Forum Kalliope, Universität Duisburg-Essen / Lokal Harmonie, Ruhrort

Essen Buchmesse Ruhr / Centre Culturel Franco-Allemand / Katakombentheater  / Stadtbibliothek / Medienforum Bistum Essen / Literarische Gesellschaft Ruhr / Buchhandlung Proust / Schreibheft / Literatürk / Kulturwissenschaftliches Institut (KWI) / Exile Kulturkoordination / Das Debüt – Literaturblog & Lesungen im Café Livre / Klartext Verlag

Gelsenkirchen Consol Theater / Die Flora / Ruhrpoeten e.V. / Reviercast – Ton- und Videoarchiv zur Literatur des Ruhrgebiets

Gladbeck Literaturbüro Ruhr e.V. / Stadtbücherei / Martin Luther Forum Ruhr / Leuchtfeder e.V. – Förderung von Kunst und Kultur

Hamm Der Literarische Herbst

Hattingen Deutsches Aphorismus-Archiv (DAphA)

Herne Literaturhaus Herne-Ruhr / WortLautRuhr

Moers Moerser Gesellschaft zur Förderung des literarischen Lebens e.V. / Moerser Literaturpreis

Mülheim Ringlokschuppen Ruhr/ Theater an der Ruhr / Katholische Akademie Die Wolfsburg

Oberhausen Initiative Literaturhaus Oberhausen / Stadtbibliothek Oberhausen / Schloss Oberhausen / Gdanska / K 14

Recklinghausen Ruhrfestspiele

Schwerte Haus Villigst

Unna Westfälisches Literaturbüro




Was im Revier sonst noch so geschieht… – Es war wieder mal einer dieser Donnerstage mit lauter neuen Ausstellungen

Wir erinnern uns: Das seit jeher von Kirchturmpolitik geplagte Ruhrgebiet hatte sich für 2010 zusammengerauft, um einmal gemeinsam als „Kulturhauptstadt Europas“ zu firmieren. Um das Thema einige Nummern kleiner aufzugreifen: Schon oft hätte man sich gewünscht, dass es eine Koordinationsstelle gäbe, die beispielsweise regionale Pressetermine miteinander abgleicht – und sei’s für den Anfang auch nur (ganz bescheiden) auf musealem Gebiet.

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte "Hiddensee", 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte „Hiddensee“, 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

Doch nein! Immer und immer wieder kommt es vor, dass zum allseits beliebtesten Vorbesichtigungs-Tag, dem Donnerstag, vier, fünf, sechs oder noch mehr Termine in mehr oder weniger unmittelbarer Nachbarschaft gleichzeitig anberaumt werden. So beispielsweise auch gestern, am 2. Februar.

Man sollte ab 11 bzw. 11.30 Uhr beileibe nicht nur die neue Ausstellung über Emil Schumacher in Hagen („Orte der Geborgenheit“) geneigt zur Kenntnis nehmen, sondern etwa auch eine Auswahl von Reisebildern des Landschaftsmalers Siegward Sprotte im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, die gleichfalls mit „Orten“ im Titel daherkommt („Reise doch – bleibe doch!“ – Orte der Inspiration). Hier hätte man sich also schon bei der Formulierung absprechen können. Zu spät…

Zwei weitere Termine liefen überdies praktisch parallel in derselben Stadt, nämlich in Dortmund: Das Künstlerhaus im Sunderweg präsentierte der Presse seine neue Schau „Ohne Netz und doppelten Boden – Über die Uneindeutigkeit von Bildern“, die DASA Arbeitswelt Ausstellung lud unterdessen zur „Alarmstufe Rot“ über Katastrophen und deren Bewältigung. Keine Kunst, aber ebenfalls ein museales Angebot.

Damit längst nicht genug: Zur gleichen Zeit bat „nebenan“, in der Landeshauptstadt Düsseldorf, die Kunstsammlung NRW/K 21 zur umfangreichen Retrospektive über den belgischen Künstler Marcel Broodthaers. Gewiss, Düsseldorf zählt nicht zum Ruhrgebiet, doch sollte man vor allem im Raum Duisburg und Essen ein Auge darauf haben, wann dort was geschieht. Sonst fahren die meisten Kulturschreiber dorthin und nicht in die Ruhr-„Provinz“.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner "Zick Zack" (2016), Acry auf Holz.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner „Zick Zack“ (2016), Acryl auf Holz.

Und damit habe ich noch nicht einmal alle Gelegenheiten aufgezählt, die sich gestern ergeben haben.

Klar, wenn ich jetzt für Ruhrgebietswerbung zuständig wäre, würde ich entgegnen, dass wir hier eben sooooo viele Kulturstätten haben, dass gelegentlich ein zeitliches Zusammentreffen kaum zu vermeiden ist. Das Argument lassen wir jetzt mal auf uns wirken.

Immerhin gibt es ja inzwischen den beachtlichen Kooperations-Verbund der Ruhrkunstmuseen, mit dem 20 Häuser in 15 Städten ihre Kräfte bündeln wollen. Hier erfolgen Absprachen mittlerweile auf kürzeren Dienstwegen als ehedem. Es möge weiterhin nützen. Und die Idee möge niemals auf bloße Einsparmöglichkeiten reduziert werden.

Es war zu hören, dass gestern auch bei personell halbwegs potenten Medien ob der Termin-Überschneidungen gestöhnt wurde. Nun aber wollen wir, die wir als Kulturblog erst recht kein halbes Dutzend kunstsinniger Journalistinnen und Journalisten gleichzeitig aufbieten können, wenigstens noch zu den Internet-Auftritten der oben genannten Häuser verlinken. Here we go:

Emil Schumacher Museum, Hagen: www.esmh.de
Gustav-Lübcke-Museum, Hamm: www.museum-hamm.de
Künstlerhaus Sunderweg, Dortmund: www.kh-do.de
DASA, Dortmund: www.dasa-dortmund.de
K21 in Düsseldorf: www.kunstsammlung.de




Anmerkungen zur neuen WAZ-Beilage „Lust aufs Wochenende“

Es ist wahrlich kein neues Phänomen, dass viele Chefredakteure ihre Schwierigkeiten mit Kulturrezensionen haben. Vorab häppchenweise Appetit machen – okay. Das lassen sie schon mal gern durchgehen. Doch all das nachträgliche Kritisieren erscheint ihnen überflüssig. Die Leute werden schon selbst merken, ob es ihnen gefallen hat. Das könnte jetzt auch eine ziemlich populistische Denkfigur sein, oder?

Ausriss aus dem Titelseitenkopf der neuen Beilage (© WAZ)

Ausriss aus dem Titelseitenkopf der neuen Beilage (© WAZ)

Nach diesem unbedarften Gusto ist jetzt auch eine neue Beilage gefertigt, die heute erstmals in der WAZ erschienen ist. Sie heißt „Lust aufs Wochenende“, kommt donnerstags (mit 8 Seiten) und samstags heraus. Am Donnerstag besteht die Neuheit zu großen Teilen aus einem Terminkalender, der mit ein paar Texten garniert wird. Erleben, entdecken, genießen – so heißen die Leitwörter. Mann, sind die gut drauf! Immer jung und flott. Ein bisschen Kulinarik, ein bisschen Pop, Lifestyle und Events – fertig ist die bonbonbunte Mischung.

Von den Autor(inn)en hat man als Leser des WAZ-Mantelteils bislang noch nicht viel gehört, sie zählen nicht zur Kerntruppe des Blattes. Vergebens habe ich heute nach einem speziellen Impressum gesucht. Hab‘ ich’s übersehen? Gern hätte ich jedenfalls gewusst, wo die Funke-Gruppe diese Beilage produzieren lässt. Vielleicht erfährt man’s ja noch nachträglich.

Schauen wir mal etwas genauer hin: Bislang sind donnerstags in der WAZ stets einige Kinokritiken erschienen, weit überwiegend von erfahrenen und sachkundigen Mitarbeitern verfasst. Daran konnte man sich schon ganz gut orientieren. Und jetzt? Hat man diese Rezensionen offensichtlich gestrichen.

Statt dessen gibt’s praktisch nur noch kurzatmige Zehn-Zeilen-Vorstellungen neuer Filme, natürlich mit Sternchen-Wertung von 1 bis 5. Damit man sofort sieht, woran man ist und keine Zeit verschwenden muss. Richtig geraten: Kinocharts werden natürlich auch abgedruckt. Man muss ja unbedingt wissen, ob man zur großen Mehrheit gehört. Diese ganze Hit-oder-Niete-Top-oder-Flop-Denke. Ihr wisst schon, was ich meine.

Ein einziger Kino-Text ist in der Premierenausgabe ein ganz klein wenig länger geraten. Doch natürlich hat er empfehlenden Charakter, wenn man dabei von „Charakter“ sprechen kann. Mit Kritik hat man hier so gut wie nichts im Sinn. Schon gar nicht mit nachvollziehbaren Begründungen oder mit abwägendem Für und Wider. Fazit: Als kritische Instanz (hahaha! Der war gut…) ist diese neue Beilage ein Totalausfall.

Diese Donnerstags-Beilage u. a. in Großbuchstaben mit dem Slogan „MEHR KINO“ anzukündigen, ist jedenfalls ein schlechter Witz. Dass es dabei eh nicht um Arthouse-Filme, sondern um „die spannendsten Blockbuster und Familienfilme“ geht, dürfte wohl klar sein.

Damit nicht genug. Auf vier luftig layouteten Spalten wendet man sich in aller Kürze auch neuen Büchern zu. Kostprobe der heutigen drei „Bewertungen“ gefällig? Wortwörtlich: „Ein nahezu perfekter Roman“ (Julian Barnes), „Ein großer Roman von einem wahrlich meisterhaften Autoren“ (James Lee Burke) und „gelingt es in ihrem Debütroman großartig…“ (Noemi Schneider). Alles bestens also. Kein lästiges Gemecker. Mit dem ungefilterten Pressematerial der Verlage und werblichen Klappentexten ließe sich die Trommel kaum penetranter rühren. Überdies darf man gespannt sein, ob die WAZ-Kulturredaktion dieselben Bücher auch noch einmal aufgreift. Man kann ohnehin nur hoffen, dass sich dort noch weiterhin das eine oder andere Gegengewicht bemerkbar macht.

Schon am Mittwoch hatte die WAZ Reklame in eigener Sache betrieben. „Die WAZ macht Lust aufs Wochenende“, hieß es da im Anreißer auf der Titelseite und man dachte schon, es ginge gleich los. Doch wir, die wir das Wochenende bislang immer so verschmäht haben, mussten uns noch einen Tag gedulden, bevor uns die Zeitung endlich Lust darauf machte. Ein weiterer Hieb wird dann am kommenden Samstag folgen, die Ausgabe soll sich in Erscheinungsbild und Themenstruktur deutlicher von den Wochentagen abheben, soll sozusagen „wochenendiger“ werden und dabei offenbar Anleihen bei den Sonntagszeitungen nehmen. Man wird sehen.




Der ewige Zwiespalt: Gehört die Stadt Dortmund eher zu Westfalen oder zum Ruhrgebiet?

Vor einigen Tagen gab es ein mächtiges Rumoren im Ruhrgebiet. Oder war’s eher ein klägliches Jammern und Jaulen? Thomas Westphal, Chef der Dortmunder Wirtschaftsförderung, hatte es offenbar gewagt, am gelingenden Strukturwandel des Ruhrgebiets zu zweifeln.

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, rechts die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, vorn die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Der übrigens in Lübeck geborene und also des hiesigen Stallgeruchs ermangelnde, jedoch namentlich für Westfalen prädestinierte Westphal belobhudelte (etwas penetrant pro domo) die von ihm mitverantwortete Entwicklung in Dortmund, das er als digitales Zentrum für Westfalen ausschilderte. Laut WAZ fuhr er in diesem distanzierenden Sinne fort: „…obgleich wir öffentlich immer gerne zum Bestandteil des niedergehenden Ruhrgebiets gemacht werden, sind wir in Wirklichkeit ein Motor der westfälischen Boomregion.“

Das böse Wort vom Niedergang

Oha! Niedergehendes Ruhrgebiet. Bei diesen Reizworten bekamen sie beim Regionalverband Ruhr (RVR), der es sich allzeit angelegen sein lässt, das Revier in günstigem Licht darzustellen, Anfälle von Schnappatmung: Und das uns! Und das vom Wirtschaftsförderer der größten Ruhrgebiets-Kommune, der noch dazu vorher selbst beim RVR gearbeitet hat. Roland Mitschke (Bochum), CDU-Fraktionschef im so genannten Ruhrparlament, sprach deshalb von „Mangel an nachlaufender Loyalität“. Eine hübsche Formulierung, fürwahr.

Besonders aus den Reihen der Ruhrgebiets-CDU wurde vom Dortmunder OB Ullrich Sierau (SPD) nicht nur sofortige, „öffentlich sichtbare Distanzierung“ von den garstigen Worten gefordert, sondern gleich auch noch Westphals Amtsverzicht. Kleine Münze wird da halt nicht ausgezahlt.

Der Westen ist nur eine Richtung

Gewiss, Westphals Sätze waren in der Tat unglücklich zugespitzt. Doch nun mal halb lang. Man schaue sich die Lage von Dortmund auf einer handelsüblichen Landkarte an. Im Westen geht die Stadt zwar ins Ruhrgebiet über, jedoch im Süden ins Sauerland, nordwärts in die Ausläufer des Münsterlandes, östlich nach Unna und ins Vorfeld der Soester Börde. An drei Seiten ist also nicht so sehr die industrielle, sondern vornehmlich eine ländliche Umgebung prägend. Das unterscheidet die Stadt sehr wohl von Gemeinden, die in drangvoller Enge mitten im Pott liegen. Und das wiederum hat Einfluss aufs lokale Bewusstsein.

Nicht zuletzt aus Imagegründen ist es daher langjährig geübte Dortmunder Praxis, sich weniger als Revierkommune zu gerieren, sondern in erster Linie als „Westfalenmetropole“, was sich freilich etwas geschwollen anhört. Hätte man gewisse Gebäudeensembles nach dem Krieg nicht abgerissen, so wäre der historische Zusammenhang vielleicht noch sinnfälliger. So aber hat der übliche sozialdemokatische Betonwust der „autogerechten Stadt“ auf hässliche Weise die Oberhand gewonnen. So richtig westfälisch sieht das nicht mehr aus. Auf dem Gebiet sammelt Münster eindeutig mehr Punkte.

Trotzdem: Immer wieder hat sich die vormalige Freie Reichsstadt und Hansestadt Dortmund gern westfälisch bespiegelt. Namen wie die Westfalenhalle, Westfalenstadion oder Westfälische Rundschau (*1946 †2013) und viele andere künden davon. Richtig, andererseits erscheinen in der Stadt die Ruhrnachrichten. Aber die gehören schon zu den Ausnahmen von der Regel.

Absetzbewegungen

Immer mal wieder hat es auch Absetzbewegungen vom Ruhrgebiet gegeben, um 2007/2008 drohte der damalige Dortmunder Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer (SPD) gar brüsk mit dem Austritt aus dem Regionalverband Ruhr (RVR). Der Zwiespalt bewegte ihn auch noch im Herbst 2015. Da referierte der Ex-OB gemeinsam mit dem einstigen NRW-Städtebauminister Christoph Zöpel über das Thema „Heimat Dortmund – Großstadt in Westfalen oder Metropole Ruhr?“

Niemals hat man sich in Dortmund so mit dem „Pott“ als Ganzes identifiziert wie etwa in Essen, wo sie zwar weniger Einwohner haben als in Dortmund, sich aber gleichwohl als Revier-Kapitale sehen. Auch die Phantasien von einer künftigen „Ruhrstadt“ fielen in Dortmund am wenigsten auf fruchtbaren Boden.

Anzeichen eines „Niedergangs“ gibt es indessen nicht nur im mittleren und westlichen Revier. Da nützt alle geflissentliche Berufung auf Westfalen nichts: Auch Dortmund hat arge Probleme, die eben nicht mit landsmannschaftlich getönter Symbolpolitik zu bewältigen sind.




Et hätt noch immer jot jejange: Die eitle „lit.COLOGNE“ und ihr Festival-Ableger „lit.RUHR“ (Update)

Nur mal so als Beispiel: Wilhelm Genazino am 23. Oktober 2015 bei einer Lesung des Literaturbüros Ruhr in der Duisburger Stadtbibliothek. (Foto: Jörg Briese)

Eines von Hunderten Beispielen für eine Veranstaltung ohne Kölner Entwicklungshilfe: Wilhelm Genazino am 23. Oktober 2015 bei einer Lesung des Literaturbüros Ruhr in der Duisburger Stadtbibliothek. (Foto: Jörg Briese)

Verwundert rieben sich manche am 27. Januar die Augen, als die WAZ auf ihrer „Kultur & Freizeit“-Seite titelte: „Die ‚lit.COLOGNE‘ kommt als ‚lit.RUHR‘ ins Revier“. Vom 4. bis zum 8. Oktober soll es 2017 losgehen, mit 75 Lesungen in Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund.

Muttis Mini im Pott

Wie praktisch: Jovial kürte Rainer Osnowski, lit.COLOGNE-Geschäftsführer, das nur 60, 70 Kilometer entfernte Ruhrgebiet zum Gewinner des Rennens um einen heiß begehrten „Ableger der ‚lit.COLOGNE‘“, an dem auch andere Regionen großes Interesse gezeigt hätten. Er sei beeindruckt „vom unbedingten Willen und vom absoluten Wohlwollen der Reviervertreter“, so Osnowski in der Kölnischen Rundschau. („Reviervertreter“? Wohl eher Zahlmeister aus der Region!) Das Programm werde allerdings erst am 31. August auf der Zeche Zollverein vorgestellt.

Kesse Ankündigungsrhetorik, die in der Kölnischen Rundschau noch selbstbewusster klang als in der WAZ. Die lit.COLOGNE bleibe zwar „die Mutter aller Festivals“, stellte Osnowski dort klar, allerdings eine mit Nachwuchs. Im Oktober beginne „in Essens Philharmonie die fünftägige lit.RUHR mit 40 Veranstaltungen für Erwachsene und 35 für Kinder“.

Alles Gute kommt von oben?

Stolz gab Osnowski bekannt, dass fünf Ruhr-Stiftungen das 500.000 Euro schwere Budget des neuen lit.RUHR-Festivals absichern: die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die Brost-Stiftung, die RAG-Stiftung, die innogy-Stiftung und die Mercator-Stiftung. In der WAZ war am selben Tage noch von sechs Stiftungen die Rede, dazu von einem Landesministerium und fünf Unternehmen, die als Premium-Unterstützer fungieren. Die Funke Mediengruppe und der WDR 5 wurden als Medienpartner genannt.
In der Pressemitteilung der lit.RUHR selbst heißt es, das neue Festival werde „veranstaltet von dem gemeinnützigen Verein lit e.V.  Die Initiatoren des Festivals verantworten auch das Internationale Literaturfestival lit.COLOGNE“ – das allerdings cool über eine GmbH geführt wird.
So oder so: Was soll da – so gepudert & gepampert – noch schiefgehen? Alles too smart to fail.

In Duisburg! Unglaublich! Roger Willemsen (im Bühnengespräch mit Gerd Herholz). Wir vermissen ihn & seine intellektuelle Brillanz – nicht nur in Köln! (Foto: Jörg Briese)

Zu spät! Die ahnungslose Auster-isierung des Ruhrgebiets

Traudl Bünger, Programm-Macherin der lit.COLOGNE, versprach in der WAZ tapfer, dass man an der Ruhr keine kleine Kopie der lit.COLOGNE implantieren wolle, dass vielmehr das Ziel sei, „das Festival an die Besonderheiten des Reviers anzupassen“. Gebetsmühlenartig heruntergeklappert kennt man solche Sprüche bereits von jedem neuen TRIENNALE-Chef. Zum Verwechseln ähnlich schwärmte dann auch Bünger schicklich vom „Schmelztiegel Ruhrgebiet“ – so als ob Berlin, Frankfurt oder der Großraum Köln selbst keine Melting Pots wären.

Osnowski ließ da in der Kölner Berichterstattung Plumperes hören: Da die lit.RUHR vor der lit.COLOGNE SPEZIAL und der Frankfurter Buchmesse stattfinde, erhoffe er sich, Autoren wie Paul Auster zum Beispiel sowohl in Köln als auch in Essen auftreten zu lassen.

Finanziell wie organisatorisch wäre dies ganz sicher ein Vorteil für das erfolgreiche Literatur-Business aus und in Köln. Paul Auster könnte in Köln logieren, der Renault-Limousinenservice führe ihn an die Ruhr und … nähme ihn nach der Lesung gleich wieder mit: zu Interviews mit dem Kölner WDR oder dem Deutschlandfunk. Und die Ruhris hätten Auster immerhin auch einmal gesehen…

Was allerdings nicht das erste Mal wäre: Paul Auster, Don DeLillo oder Siri Hustvedt waren bereits in den 90er-Jahren im Grillo-Theater anregende Gäste des Essener Schreibhefts. So wie später auch Stewart O’Nan, Louis Begley u.v.a. Gäste des Literaturbüros Ruhr e.V.  waren. Aber woher soll man das bei der lit.COLOGNE wissen? Es gibt den rasant Heranwachsenden ja erst seit März 2001.

Literaturdiaspora Ruhr – Missionare aus Colonia

Osnowski in der Kölnischen Rundschau munter weiter: „Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen ‚erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind“. Das interessiere auch jene Verlage, „für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist.“

Alain Mabanckou (Paris) und Angela Spizig (aus Köln, achherrje!) lachen sich kaputt – beim Abend des Litbüros Ruhr im Centre Culturel in Essen. (Foto: Jörg Briese)

Ja sicher, jedem Jeck jefällt sing Mötz. Aber solches Gerede darf endgültig als hoch subventioniertes, gründlich misslungenes Revier-Marketing aus Olle-Kamelle-Kölle bezeichnet werden. Sollte Osnowski wirklich nicht wissen, dass Literaturveranstalter im Revier wie die Buchhandlung Proust, das Schreibheft, die beiden Literaturbüros, das Deutsch-Französische Kulturzentrum, das Literaturhaus Herne-Ruhr, das Literaturhaus Dortmund, die (deutsch-türkische) Buchmesse Ruhr, die Literatürk, der Verein für Literatur und Kunst in Duisburg, die Exile Kulturkoordination seit Jahrzehnten mit allen guten Verlagen in Deutschland kooperieren und mit vielen internationalen sowieso? Na gut, Salman Rushdie war noch nicht hier, Goethe kann nicht mehr kommen, aber sonst? Some of the best are yet to come – auch ganz ohne lit.COLOGNE.

Wenn die Kölner übers vermeintliche Kuckucksnest Ruhrgebiet weiter so hinwegfliegen, wie sie zurzeit darüber hinwegplappern, helfen auch keine 500.000 Euro, von denen Osnowski ganz bescheiden meinte: „Damit können wir aber gut arbeiten: Wir fangen ja gerade erst an.“

Kleinmut und Mittelmaß

Unterm Strich bleibt aber auch eine andere Fehlleistung festzuhalten. Im Ruhrgebiet haben es sowohl Stiftungen, Unternehmen als auch öffentliche Kultur- bzw. Literaturpolitik in Kommunen oder beim RVR jahrzehntelang versäumt, die regionale Literaturförderung beherzter und intelligent so auszustatten, dass sich hier mehr gute Ideen bis zur Bühnenreife hätten entwickeln lassen. An Konzepten wie dem zum Europäischen Literaturhaus Ruhr oder zum Literaturnetz Ruhr (wichtiger Literaturveranstalter) ist hierzulande niemand interessiert.

Geldgeber an der Ruhr misstrauen Ideen und Programm-Machern, die aus der Region kommen, sowieso. Vielleicht, weil ihnen selbst Mittelmaß so vertraut ist? Warum zum Teufel in der Region Innovatives behutsam aufbauen, wenn man erfolgreichen Mainstream für den Kulturtourismus viel einfacher abkupfern kann? Also ab nach Köln oder anderswo zum Shoppen und eingereiht ins austauschbare Event- und Marketingbusiness der großen Festivals. Und dann demnächst noch dreist von „Alleinstellungsmerkmal“ schwafeln.
Dass allerdings die geschäftstüchtige lit.COLOGNE diese Geistlosigkeit und Marketinggeilheit an der Ruhr nutzt, um an neue Töpfe zu kommen, darf man ihr nun wahrlich nicht vorwerfen.

„Mangel an Großstadtsubstanz“

Dies alles erinnert sehr an Erik Regers Reportage „Ruhrprovinz“ aus „Die Weltbühne“ von 1928: „Eine chaotische Landschaft, in der Handelskammern, Gewerkschaften, Industriellenverbände, Bürgervereine, Pressechefs und Kulturdirektoren am gleichen Strang ziehen, um den düstern Alltag zu verschönern und das barbarische Konglomerat der Einwohner mit Kultur zu beglücken“ (…) Der Mangel an Großstadtsubstanz verursacht jene innere Unsicherheit, die in fieberhaftem Betätigungsdrang einen Ausgleich sucht.“

Und weiter: Im Ruhrgebiet sei man „aus Mangel an eigenen Ideen darauf angewiesen (…), Berlin zu kopieren. Nichts erscheint erstrebenswerter als die Imitation der Weltstadt-Mondänität.“




„Zeit-Räume Ruhr“: Orte der Erinnerung im Revier gesucht

Jetzt mal Butter bei die Fische: An welchen Ort im Ruhrgebiet erinnern Sie sich besonders intensiv, ob nun gern oder ungern?

Das Plakat zum Projekt "Zeit-Räume Ruhr": Zechenkumpel wird zum... IT-Experten, Hipster oder was auch immer. (© Zeit-Räume Ruhr / Gestaltung: Freiwild Kommunikation)

Das Plakat zum Projekt „Zeit-Räume Ruhr“: Zechenkumpel wird zum… IT-Experten, Hipster oder was auch immer. (© Zeit-Räume Ruhr / Gestaltung: Freiwild Kommunikation)

Wenn Ihnen dazu jetzt oder demnächst etwas einfällt und Sie vielleicht auch noch eigene Fotos vom besagten Ort beisteuern können, dann sollten Sie vielleicht an einem neuen Projekt mitwirken. Es heißt „Zeit-Räume Ruhr“ und soll revierweit ortsbezogene Erinnerungen sammeln, später dann sichten und werten.

Texte und Bilder einfach hochladen

Es ist ganz simpel: Texte und Bilder bis zum 31. Dezember 2017 auf der Internetseite www.zeit-raeume.ruhr hochladen – und schon ist man dabei, wenn denn der Beitrag Netiquette und Gesetze nicht verletzt. Ansonsten gilt selbstverständlich: „Eine Zensur findet nicht statt“.

Treibende Kräfte sind das Ruhr Museum auf dem Gelände der Essener Kulturwelterbe-Zeche Zollverein, der Regionalverband Ruhr (RVR) und das zur Ruhr-Uni Bochum (RUB) gehörige Institut für Soziale Bewegungen. Wie in derlei Fällen landesüblich, soll es im Gefolge der Internetseite einen Fachkongress und eine Buchpublikation geben.

Bisher noch sehr übersichtlich

Und wie schaut’s jetzt auf der Seite aus? Bisher noch sehr übersichtlich. Gewiss, erst heute ist die Aktion auf einer Pressekonferenz in Essen vorgestellt worden, also kann sich seither nicht allzu viel getan haben. Die benannten Orte kann man einstweilen noch an zwei Händen abzählen. Abwarten.

Was bisher (Stand 18. Januar, 18 Uhr) zu finden ist, entspricht im Wesentlichen den Glaubensbekenntnissen des Regionalverbandes, dass nämlich der Strukturwandel an der Ruhr auf dem besten Wege sei. So gilt etwa das „Dortmunder U“ ebenso als Ort des geglückten Umschwungs wie auch die einstige Hertener Zeche „Schlägel und Eisen“. Um es zuzuspitzen: Man erinnert sich ans kohlenschwarze Gestern und freut sich am bunteren Heute. Wenn die allerersten Äußerungen nicht als bloße Anreize im redaktionellen Auftrage entstanden sind, sollte es mich wundern. Künftig kann es eigentlich nur interessanter werden.

Rivalität der Städte

Überdies träumt man beim RVR immer noch von einer Vernetzung der ganzen Region, der manche am liebsten den Kunstbegriff „Ruhrstadt“ und entsprechende Verwaltungsstrukturen überstülpen würden. Sie sind noch allemal am Rivalitäts- und Kirchturmdenken der einzelnen Städte gescheitert, was man bedauern mag. Doch mal ehrlich: Wenn ich „meine“ Erinnerungsorte aussuche, so liegen sie weit überwiegend in Dortmund und eben nicht in Bottrop, Herne, Oberhausen oder Gelsenkirchen. Unter veränderten Vorzeichen wird es den meisten ähnlich gehen. Isso, woll?

Nach Möglichkeit sollen es beim „Zeit-Räume“-Projekt kollektive Erinnerungsorte sein und wohl weniger Locations wie die eigene Schule (obwohl sich da manche Erinnerungen bündeln) oder der Arbeitsplatz – es sei denn, es handele sich um eine Zeche bzw. ein Stahlwerk. Denn von den einstigen Verhältnissen geht man immer noch aus. Auch das Plakat hebt auf die Kumpel-Zeiten ab.

Wandel der Ansichten

Einigermaßen spannend und anregend könnte die allmählich anwachsende Sammlung werden, wenn sich zu bestimmten Orten viele, womöglich konträre Erinnerungen „anlagern“ und sich dabei auch verschiedene zeitliche Perspektiven ergeben. Die Siebzigjährige erinnert sich halt anders als ein 25jähriger. Genau diesen Wandel der Ansichten soll das Projekt ja auch spiegeln. Derselbe Ort kann eben auf ganz unterschiedliche Weise Erinnerungen prägen.

Es wäre außerdem gut, wenn tatsächlich nicht nur die üblichen Sehenswürdigkeiten und „Landmarken“, sondern auch verborgene oder vergessene Ecken des Reviers auf der bislang noch so spärlich gefüllten Landkarte der Homepage auftauchten.

Steilvorlage vom Schalke-Fan

Übrigens sind die „Orte“ nicht nur wortwörtlich zu verstehen. Im Anfangsbestand der Netzseite finden sich auch überörtliche Themen wie „Flucht/Vertreibung“ (aus dem Osten ins Ruhrgebiet) und „Kohlenkrise/Zechensterben“, die nur beispielhaft in Bochum verankert werden. Einer nennt gar Herbert Grönemeyers Schallplatte „4630 Bochum“ als seinen liebsten Erinnerungsort. Wenn man auf der Scheibe mal keinen Drehwurm kriegt!

Ein anderer Revierbewohner gibt schon mal mit Schalker Kindheitserinnerungen an die Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn eine Steilvorlage. Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, dass Dortmunder mit „Rote Erde“ oder Westfalenstadion kontern und sich das Ganze ein bisschen hochschaukelt.

Um die Leute zu animieren, haben die Projektemacher schon mal vorab ein paar Orte vorgeschlagen: An den Phoenixsee (Dortmund) dürften sich freilich nur neuere Erinnerungen ergeben, ans Bochumer Schauspielhaus schon deutlich tiefer reichende. Und ans Bochumer Kneipenviertel Bermuda3eck? Nun ja. Was heißt hier Erinnerungen? Jedenfalls nicht an gestern Abend…

www.zeit-raeume.ruhr

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Nachtrag, 19. Januar, 10:30 Uhr: Inzwischen sind schon über 20 Erinnerungsorte verzeichnet. Es scheint zu werden…




Galaxie Schrebergarten in Sicht: Raumschiff Geierabend auf „Planet Pott“ gelandet

Dortmund, wir haben kein Problem. Die Premiere ist geschafft. Das inzwischen 25 Jahre alte Raumschiff Geierabend begibt sich diesmal auf die „Mission Planet Pott“, so das diesjährige Motto des Geierabend-Teams unter der bewährten Regie von Günter Rückert. Direkt hinter der Galaxie Schrebergarten landet das Ensemble auf Zeche Zollern für einen furiosen Auftakt im Astronauten-Look.

"Der Steiger" Martin Kaysh im Raumfahrer-Outfit. (© StandOut)

„Der Steiger“ Martin Kaysh im Raumfahrer-Outfit. (© StandOut)

Der Geierabend ist aus dem alternativen Ruhrgebiets-Karneval nicht mehr wegzudenken, genau wie sein moderierender „Steiger“ Martin Kaysh, auch wenn dieser direkt zu Beginn mit seinem Abgang droht – kann man doch auf der Route der SPD-Kultur so viel mehr Öcken anstrengungslos mit ein paar Vorträgen einsacken.

Einstweilen aber führt Kaysh, mittlerweile sogar Ehrenhauer auf Auguste Victoria, gewohnt spitzzüngig souverän durch den Abend. Von seinen punktgenau sitzenden Seitenhieben bleiben weder das „Rum-Geluthere auffem Weg zum Kirchentach“ noch das NRW-Abitur oder die Fußballer, die so viel verdienen, dass sie sich jedes Jahr einen eigenen Phoenixsee kaufen könnten, verschont.

Aus Rashid wird ganz fix der Ralle

Im Programm sind es dann doch eher nicht so die unbekannten Weiten, die das Raumschiff Geierabend erkundet. Auch wenn es einen Abstecher „wacker na Rakka“ gibt, bleibt man doch eher auf der Südtribüne und anderen bewährten Locations aussem Pott und umliegenden Dörfern wie dem sauerländischen Schnöttentrop. Dessen Bauernschaft sorgt mit seiner pragmatischen Lösung der Integrationsfrage für den ersten Höhepunkt des Abends. Schon auf dem fliegenden Teppich wird aus Rashid Alfonso der Ralle und die Scheherazade muss sich wohl an den Kosenamen Resi gewöhnen. Geht doch. Läuft in Schnöttentrop.

Szenenbild aus dem "Promi-Himmel" (ç StandOut)

Szenenbild aus dem „Promi-Himmel“ (© StandOut)

Andere Nummern hingegen laufen eher langatmig. So zeigt sich bei der Präsentation der AfD-Wahlkampf-Geschenke schnell, dass diesem Trupp mit normalen Kalauern nicht beizukommen ist. Das Lustigste an diesem Sketch ist noch der blinkende Schriftzug, dem mit schöner Regelmäßigkeit das R und das T abhanden kommt und so aus der selbsternannten Alternative eine alte Naive macht.

Diagnose Bademantel

Gleichermaßen einfallslos in die olle Kamellenkiste greifend präsentieren sich das Wahlbüro inne Kneipe oder die wirklich trutschigen Tannen im Dialog mit den Piss-Bäumen der Nordstadt. Auch die im Vorjahr gefeierte You-Tuberin Fiffi kann aus dem inhaltsbefreiten Geschwurbel der gutverdienenden Jugendkanäle nichts Humoriges zaubern. Bei diesen Nummern könnte die eine oder andere Umlaufbahn durchaus abgekürzt werden oder wie der Steiger es sagen würde: „Manchmal ist Bademantel schon die ganze Diagnose“.

Immer am Ball: die Zwei vonne Südtribüne (Franziska Mense-Moritz, Hans Martin Eickmann). (© StandOut)

Immer am Ball: die Zwei vonne Südtribüne (Franziska Mense-Moritz, Hans Martin Eickmann). (© StandOut)

Zeit, das Publikum aufzuwecken mit dem Pannekopp des Tages. Zur Wahl für den schwersten und unbeliebtesten Karnevalsorden der Welt steht – tadaaa! – Frauke Petry. Erstaunlicherweise hat auch diese Dame sich um das Revier verdient gemacht: Mit der Erfindung der mobilen No-Go-Area, welche die Dame selbst in Bergkamen verortete, die aber in Wirklichkeit immer da ist, wo Frau Petry ist.

Erwartungsgemäß gewann sie eindeutig, wohl auch, weil ihr „Gegner“ NRW-Verkehrsminister Michael Groschek für den wundersam durch Aufkleber wiederauferstandenen RRX (Rhein-Ruhr-Express) nicht ganz so starke Geber-Qualitäten aufweist. Es darf befürchtet werden, dass die Frau(ke) es bis in die Endauswahl schafft und schmerzbefreit anreist, um den Preis anzunehmen. Doch man gibt sich zuversichtlich: „Mit der werden wir auch noch feddich“.

„Make Bottrop great again“

Während die Panneköppin des Abends eher hämische Reaktionen auslöste, rief die ihren Kummer ersäufende Freiheitsstatue Begeisterungsstürme hervor. Die Arme wurde von einem Ganzkörper-Doppelkinn und dessen Politik ausse Unterbuxe vom Sockel gerissen und auch sonst will sie niemand haben. Bis auf den Moviepark, in dem sie ihr Dasein als Bergarbeiter-Mantra (Auffe Zeche, aumPütt, auffe Schicht, im Streb, am Malochen usw.) aufsagende 450-Euro-Jobberin fristet. „Make Bottrop great again“. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass das jüngste Ensemble-Mitglied Sandra Schmitz dem Publikum hier mal ganz genau zeigt, wo der Mottek kreist.

Die Freiheitsstatue kann sich nur noch besaufen. (© StandOut)

Wennn dieser Donald (Martin F. Risse) auftaucht, will sich die Freiheitsstatue (Sandra Schmitz) nur noch besaufen. (© StandOut)

Als eine der wenigen Neuerungen gönnt man sich im Jahr des silbernen Dienstjubiläums eine Saalwette. Wetteinsatz: eine „24Stunden-Chaos-und-Konfetti-Blitztour“ durch alle 53 Orte des Ruhrgebiets – wenn in dieser Session wirklich Besucher aus jeder Stadt des Ruhrgebiets kommen. Zur Premiere wurde Gelsenkirchen kontrolliert. Schalker werden in Dortmund als Publikumsopfer ja immer gerne genommen. Die königsblauen Gäste nahmen es sportlich und trösteten sich mit dem zu ihren Ehren schnell laminierten Spontangedicht.

Ruhries in der Notaufnahme

Publikumslieblinge sind am Premierenabend Murat Kayi, der wirklichkeitsnah als ambitionierter Trainer des Tus Krackel gegen die Trägheit seiner Kevins und deren Pokemon-Jagdfieber kämpft und die bei jedem Auftritt bejubelte großartige Franziska Mense-Moritz, die im übrigen auch für die aufwändigen Kostüme verantwortlich zeichnet. Ihre wandelnde Raucherecke mit Helmut-Schmidt-Gedächtnis-Fotto hat diesmal Bandscheibe. Macht aber nix, so hat sie wenigstens die Gelegenheit, das Treiben schräger Ruhries in der Notaufnahme zu studieren.

Und wer es aus der Notaufnahme nicht mehr hinaus schafft, kann sich das Promi-Catchen im Himmel begucken. Mit dieser Nummer endet das gut dreistündige Programm, das gesamte Ensemble schwingt noch einmal seine untoten Knochen und singt (zur Melodie von „Knockin‘ on Heavens Door“) „Gott iss datt ganz egal, wer kommt“. Ja, nee, iss klar.

Enormer Aufwand

„Fleiß kannsse vortäuschen, aber faul musse schon sein“ – die Weisheit der zwei „Stehplatz-Paselacken vonne Südtribüne“ hat sich bis zum Geierabend-Team noch nicht herumgesprochen. Es ist ein enormer Aufwand, der für das dreizehnköpfige Ensemble betrieben wird, um nicht nur den Karneval auf’s Korn zu nehmen.

Nicht alles dabei ist witzig, manches kommt eher als magere Astronautenkost daher. Man merkt schon, dass derzeit die Realität oft genug die höchste Form der Groteske ist und Satire gar nicht mehr überzeichnen kann, weil es absurder kaum noch geht. Schade auch, dass das eigentlich dankbare Motto von der „Mission Planet Pott“ im Laufe des Abends immer seltener aufgegriffen wird. Alles in allem aber bleibt der Geierabend ein in diesen „Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen“-Zeiten ein dringend benötigtes Korrektiv im Revier – und ein großer Spaß.

Auf der Dortmunder Zeche Zollern ist noch bis Ende Februar Geierabend. Tickets und weitere Informationen über Geierabend.de




Unprätentiös und zupackend – Neues Buch würdigt „Starke Frauen im Revier“

„Wenn man einmal Feminismus hatte, dann geht das nie wieder ganz wech. Aber ich komm prima damit zurecht.“ – Nie wird Gerburg Jahnke müde, das zu betonen. Ganz prima kommt Frau Jahnke daher sicher auch mit einer Kurz-Biographien-Sammlung zurecht, die „Starke Frauen im Revier“ porträtiert, darunter selbstredend auch Gerburg Jahnke.

starkefrauen Doch um ein feministisches Manifest in diesem Sinne geht es den Autorinnen des Bandes nicht. Mit Kategorisierungen und Schubladendenken haben sich die Frauen im Ruhrgebiet noch nie lange aufgehalten. Sie sind eben – wie schon der Untertitel des Buches besagt – alles, nur nicht zimperlich. Sie machen einfach. Genau wie Sabine Durdel-Hoffmann und Antia Brockmann, die Initiatorinnen und Autorinnen des Buches. Ihnen geht es darum, das Bild der vielen starken Frauen im Ruhrgebiet ins rechte Licht zu rücken.

Als Mythos hat sich im und über das Ruhrgebiet das Bild des hart malochenden Kumpels verankert. Die Würdigung der Rolle, die viele Frauen im Ruhrgebiet gespielt haben und noch spielen, kam dabei oftmals zu kurz. Es ist die erklärte Intention des Buches, den in der öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigten Frauen eine Plattform zu geben.

Der Band würdigt Lebensleistungen ganz unterschiedlicher Frauen aus den verschiedensten Bereichen. Als Vorbilder taugen sie alle, denn eines eint sie: Sie sind unprätentiös, unsentimental, zupackend, aber dennoch gefühlig. Womit doch wenigstens ein Klischee bestätigt wäre. Sind ja auch nicht alle Klischees schlecht. Und gerade dieses sieht man als Ruhrgebietsfrau doch gerne bestätigt. Zumal die Autorinnen im Vorwort auch explizit betonen, dass die Auswahl für alle Frauen des Ruhrgebiets steht „auch für die, die nicht berücksichtigt wurden. Für Prominente ebenso wie für Heldinnen des Alltags“.

Vorgestellt werden die Frauen nach Themenbereichen. Angefangen mit den Großmüttern der Industrialisierung über die Sportverrückten und die Frauen des Glaubens bis zu den Theken-Regentinnen wird ein breites Spektrum abgedeckt. Manche Frauen sind einem schon ganz gut bekannt, die Frauen der Krupp-Dynastie etwa oder eben die Schauspielerinnen und Kabarettistinnen wie die eingangs erwähnte Frau Jahnke, der wir ja nicht nur Ladies Night oder die Missfits verdanken, sondern auch einen beherzten Einsatz für den Erhalt ruhrgebietstypischer Kleinkunsttheater.

Am spannendsten sind die Abschnitte über die Frauen, die sich um Kunst und Museen verdient gemacht haben und die Abschnitte über die Frauen des Glaubens im Kapitel „Die Kirche ist eine Frau“. Gerade hier habe zumindest ich einiges zum allerersten Mal gelesen und fand es hochinteressant und anregend. Da hätte man gerne noch mehr erfahren, aber das hätte vermutlich den Rahmen gesprengt. Aber immerhin – man hat erste Informationen. Richtig interessant sind auch viele der eingefügten Fotos, die auch abseits der Texte neue Einsichten vermitteln.

Die beiden Autorinnen kommen aus der Verlagswelt (Lektorin, Übersetzerin), beide sind gebürtig im Ruhrgebiet und leben auch heute noch hauptsächlich im Revier.

Anita Brockmann/Sabine Durdel Hoffmann: „Starke Frauen im Revier“. Elisabeth Sandmann Verlag, München, 151 Seiten, € 19,95.

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Anm. d. Red.: Der Band „Starke Frauen im Revier“ hat – außer thematischen Anklängen – nichts zu tun mit dem gleichnamigen Schwerpunkt in der Dauerausstellung des Ruhrmuseums auf der Essener Zeche Zollverein. Die Themenführung im Museum heißt nur zufällig genauso.




WDR-Film „Wildes Ruhrgebiet“: Wie Pflanzen und Tiere frühere Industrieflächen erobern

Die bundesweit größte Wanderfalken-Kolonie hat sich im Ruhrgebiet angesiedelt. Diese Raubvögel, die auch auf Tauben aus sind, mögen halt hohe Schlote, aus denen kein Rauch mehr kommt.

Derlei erstaunliche Eroberung aufgegebener Industrie-Areale ist beileibe kein Einzelfall. Etliche Tierarten haben – um nicht einmal zu kalauern – ihr Revier im Revier gefunden; zumindest für eine gewisse Zeit, häufig auch dauerhaft. Das Ruhrgebiet als „Platz für Tiere“ – wenn Bernhard Grzimek das geahnt hätte…

Zwischen rostendem Stahl: Rotfüchse haben sich mitten im früheren Hüttenwerk (Landschaftspark Duisburg Nord) angesiedelt. Hier finden sie bessere  Schlupfwinkel als im Wald. (Foto: © WDR/Light & Shadow GmbH)

Zwischen rostendem Stahl: Rotfüchse haben sich mitten im früheren Hüttenwerk (Landschaftspark Duisburg Nord) angesiedelt. Hier finden sie bessere Schlupfwinkel als im Wald. (Foto: © WDR/Light & Shadow GmbH)

Da sind beispielsweise die Füchse, die sich im stillgelegten Duisburger Stahlwerk sicherer fühlen können als in vermeintlich „freier Natur“. Unterdessen haben Steinmarder – sonst Felsenbewohner – eine aufgelassene Gießereihalle für sich entdeckt. Da ist der Flussregenpfeifer, der riesige Brachflächen zu erobern weiß, die durch den Abriss von Industriebauten entstanden sind. Anders, als es sein Name vermuten lässt, braucht er nicht zwingend ein Gewässer.

Findig waren auch die Kreuzkröten, die vor der Industrialisierung in den Auenlandschaften der Ruhr gelebt haben und sich nun auf Kohlehalden verlegt haben. Wenn diese in absehbarer Zeit vollends begrünt sein werden, müssen sich die Tiere allerdings wieder auf Wanderschaft begeben.

Der (hauptsächlich von einem NDR-Team um den Regisseur Christian Baumeister erstellte) WDR-Fernsehfilm „Wildes Ruhrgebiet“ (morgen, 13. Dezember, 20.15 Uhr; bis zum 20. Dezember außerdem in der Mediathek) zeigt in teilweise hinreißenden Bildern frappierende Kontraste zwischen rostenden Industriekolossen, öden Brachlandschaften und einer quasi unverwüstlichen Natur, die sich Räume in dieser geschundenen Landschaft zurückerobert. Das hat schon seinen ganz eigenen Reiz, den man in anderen Gegenden nicht kennt.

Pflanzliche Pioniere wie Birken und tierische Neuland-Eroberer wie eben Füchse und Marder machen den Anfang, alsbald folgen andere Arten und es entstehen ungeahnte Biotope. Das geht dann etwa nach und nach so vor sich: Pflanzen überwuchern alte Gleisanlagen, es folgen Insekten, die sich an den Pflanzen gütlich tun, sodann wollen Igel die Insekten vertilgen und locken schließlich Tiere an, die ihrerseits Igel fressen.

Sprachlich ist der 45 Minuten lange TV-Beitrag zuweilen redundant, hin und wieder auch etwas volltönend geraten („Das Comeback der charismatischen Vögel“). Doch der in Dortmund geborene Sprecher Dietmar Bär, der schon bessere Texte hatte, verhütet immerhin Schlimmeres.

Auch wenn man von der einen oder anderen Wiederkehr bzw. Neuansiedlung schon gehört hat, bleibt der Film lehrreich. Er kündet von den nie versiegenden Selbstheilungskräften der Natur, die sich sogar noch auf vergifteten Böden festkrallt, und sei’s in Gestalt der Ödlandschrecke. Mit grausig gestimmter Phantasie vermag man sich demnach vorzustellen, wie es nach einer Katastrophe oder Apokalypse aussehen könnte.

Doch denken wir lieber ans Positive. Selbst Bergsenkungsseen, die ja eigentlich aus Schädigungen der Natur hervorgegangen sind, haben sich (etwa in der Dortmunder Hallerey) zu beschaulichen kleinen Paradiesen entwickelt, in denen nicht nur Lachmöwen ein ideales Brutgebiet vorfinden.

Ganz zu schweigen vom grandiosen Projekt einer Renaturierung der einstigen Fluss-Kloake Emscher, die sich über weite Strecken schon wieder als lieblicher Bach durch diese Region schlängelt und eine entsprechende Flora und Fauna nach sich zieht. Nicht oft können Filme mit so vielen sinnfälligen Hoffnungszeichen aufwarten.




Buchtipps zum Fest: Peter Rühmkorf, Christa Wolf, Wembley-Tor, Krimi und Architektur

Ist da draußen noch jemand auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken in Buchform? Hier ein paar empfehlende Hinweise in verschiedenen Geschmacksnoten:

Zunächst die so genannte Hochliteratur, wie es sich konservativ-feuilletonistisch gehört:

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Rühmkorfs funkelnde Lyrik

Das ist wahrlich kein Geheimnis mehr: Der 1929 in Dortmund geborene, später freilich aus hanseatischer Überzeugung in Hamburg ansässige Peter Rühmkorf gehört zu den wichtigsten Lyrikern der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Insofern ist eine Gesamtausgabe seiner Gedichte ein besonderes, vielfach funkelndes Juwel der Sprachkunst. Rühmkorfs Tod im Jahr 2008 bedeutet einen immensen Verlust für die Literatur, der immer noch schmerzt.

Er war (ähnlich wie der mit ihm befreundete Robert Gernhardt) einer, der die Überlieferung von Reim und Metrik wach und lebendig gehalten hat – und er hat die althergebrachten Formen mit neuen Inhalten reich gefüllt. Im souveränen Spiel mit gebundenen und freien Versen kommt ihm im hiesigen Sprachraum wohl keiner aus seiner Generation gleich.

Die von Bernd Rauschenbach sorgfältig edierte Ausgabe „Sämtliche Gedichte“ enthält alle Lyrikbände von 1956 bis 2008 und (in Auswahl) ganz frühe Schöpfungen, die ab 1947 im Selbstverlag erschienen sind.

Dies ist ein Buch, das einen Ehrenplatz im Regal verdient und das man als Vademecum stets griffbereit halten sollte. Hier wird ein wesentlicher Teil des Lebenswerks ausgebreitet; hier kann man Sprachfeinheiten geradezu genießerisch schlürfen und wird überdies noch mit luziden Erkenntnissen belohnt. Rühmkorf hat ja nicht nur die ewigen Themen Liebe und Tod bedichtet, sondern war auch ein eminent politischer Kopf mit links geschärften Sinnen. Legendär wurde diese lyrische Essenz: „Bleib erschütterbar – und widersteh.“

Für den unverwechselbaren Klang (in Rühmkorfscher Diktion „einmalig / wie wir alle!“), in dem auch Alltagssprache aufgehoben ist, nur mal ein Beispiel, das Rühmkorf selbst als Bagatelle bezeichnet hat:

Abschiede, leicht gemacht

Denen, die vor Gier nach Ewigkeit entbrennen,
geb ich mich geniert
als sterblich zu erkennen.

Lieber als verhaunen Bällen nachzusinnen,
zieh ich vor,
nochmal von vorne zu beginnen.

Allerdings, statt bieder vor mich hinzuwerkeln,
scheint mir lustiger,
freischaffend loszuferkeln.

Dies als Kunstgesetz gesamt gesehen:
Ein Gedicht, das auf sich hält,
das läßt sich gehen.

Und je tiefer ich empfinde, um so seichter
schmiere ich mich aus,
dann fällt der Abschied leichter.

Da haben wir es also mal wieder: das Leichte, das so schwer zu machen ist. In der Nachfolge von Heine, Benn und Ringelnatz (unter anderen) hat Rühmkorf beileibe nicht nur höheren Jux getrieben, sondern auch die Vergänglichkeit besungen wie nur je einer seit barocken Zeiten. Doch auch die Fährnisse zwischen Geilheit und Vögeln wusste er in sprühend wohlgesetzte Worte zu fassen. Der Mann, der sich zuweilen als (erotischer) Filou gefiel, war intellektuell ein Ausbund an Unbestechlichkeit. An seinem lyrischen Zuspruch konnte und kann man sich nicht nur ergötzen, sondern aufrichten.

Noch ein Zitat, ein vermeintlich unscheinbares, das aber zu denken gibt. Aus dem Gedicht „Zum Jahreswechsel“:

Diese Welt kann doch nicht so gemeint sein
Wie sie aussieht, oder?

Peter Rühmkorf: „Sämtliche Gedichte“ (Hrsg.: Bernd Rauschenbach). Rowohlt Verlag. 621 Seiten. 39,95 €

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Briefe von Christa Wolf

Nun zu einer literarischen Protagonistin, ja Repräsentantin aus dem östlichen Teil Deutschlands, die im selben Jahr geboren wurde wie Rühmkorf: Christa Wolf (1929-2011), Autorin von Büchern wie „Kindheitsmuster“, „Der geteilte Himmel“, „Nachdenken über Christa T.“, „Kassandra“, „Kein Ort. Nirgends“ und „Störfall“, hat auch umfangreiche Konvolute von Briefen hinterlassen, um die es hier geht.

Insgesamt enthält die vorliegende Auswahl der „Briefe 1952-2011“ genau 483 Schriftstücke, die sich an rund 300 Adressaten richten. Abgedruckt sind nur die Briefe von Christa Wolf, nicht aber die Schreiben ihrer Briefpartner. So wirkt das Ganze gelegentlich etwas monologisch, man muss sich einiges hinzu denken. Immerhin sind rund 90 Prozent der abgedruckten Briefe bislang noch nicht veröffentlicht worden. Auch das gibt dieser Sammlung, bei aller wohlweislichen Beschränkung im Einzelnen, einiges Gewicht.

Der Obertitel lautet „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten“ und könnte als Zitat auch etwas sarkastisch gemeint sein. Denn gar so bequem kann es nicht immer gewesen sein für Christa Wolf. Vielfach ereilte sie der Vorwurf, dem SED-Staat doch etwas zu sehr auf den Leim gegangen zu sein.

Über sehr lange Zeit hinweg ist sie zumindest von naiver Gutgläubigkeit gewesen. Spätestens im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung aus der DDR (1976) hat auch sie Farbe bekannt. Freilich hielt sie damals immer noch Erich Honecker für eine ansprechbare Instanz: „Sehr geehrter Genosse“ lautete ihre Anrede, und sie bat ihn brieflich darum, inhaftierte Autoren zu begnadigen. Hat sie damit das Menschenmögliche versucht, oder hat sie gar zu sehr laviert? Darüber könnte man noch heute lange streiten. Doch allmählich verblassen die Meinungskämpfe jener Tage.

In der ausgewählten Korrespondenz (insgesamt hat Christa Wolf wohl um die 15.000 Briefe verfasst) tauscht sie sich nicht nur mit Schriftstellern (u. a. Grass, Frisch, Sarah Kirsch, mit der sie sich später heillos überworfen hat) aus, sondern auch mit „ganz normalen“ Lesern. Dafür hat sie viel Geduld aufgebracht. Nur ganz selten wurde sie zornig, so etwa, als sie den Schülerinnen eines Deutsch-Leistungskurses barsch deren absolute Unkenntnis ihres Werkes vorwarf und sich über „absurde“ und „verletzende“ Fragen beschwerte. Wie gesagt, das war eine Ausnahme.

Man muss wissen, dass Christa Wolf wegen der Stasi-Briefzensur häufig nicht offen schreiben konnte, sondern ihre Botschaften und Anliegen allenfalls sprachlich verschlüsselt übermitteln konnte, was der verbalen Kunstfertigkeit mitunter zuträglich war. Besonders ehrlich klingen manche der Briefe, die sie seinerzeit nicht abgeschickt hat, die aber erhalten geblieben sind. Dass Wolfs Werke und Briefe zudem von grundsätzlicher Sprachskepsis durchzogen sind, lässt dieses Zitat aus „Nachdenken über Christa T.“ ahnen: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“.

Christa Wolf: „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011“. Suhrkamp Verlag. 1040 Seiten, 38 €

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Ein einziges Tor

Dass über eine Mannschaft oder ein Turnier ganze Bücher entstehen, mag angehen. Aber über ein einziges Tor?

Ganz klar, es gibt aus deutscher Sicht nur einen Treffer, der buchfüllend ist: das wohl für alle Ewigkeiten umstrittene 3:2 beim Endspiel der Fußball-WM 1966. Bekanntlich wurde das Tor für England gegeben, obwohl der Latten-Abpraller mutmaßlich vor der Linie aufschlug. So jedenfalls die deutsche Lesart.

Dass man diesen fußballhistorischen Moment in tausend Facetten ausbreiten und anreichern kann, beweist Manuel Neukirchner, Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, mit dem Band „Wembley 1966“, der vor allem von der vielfältigen und großzügigen Bebilderung lebt.

Das 50 Jahre zurück liegende Ereignis spiegelt natürlich auch längst den damaligen Zeitgeist wider, so dass das Match über das rein Fußballerische hinaus interessant ist. Also war es auch dem Deutschen Fußballmuseum eine Sonderausstellung wert. Hier haben wir das Begleitbuch dazu.

Wie simpel die Sache damals im Grunde gewesen ist, formuliert treffsicher der damals beteiligte (und vom 4:2-Endergebnis für England tief enttäuschte) Mittelstürmer Uwe Seeler im Interview für den vorliegenden Band: „Für die Engländer war er drin, für uns Deutsche nicht. So einfach ist das.“

Man darf ergänzen: einfach kompliziert. So, dass man ganze Bücher darüber machen kann… Und somit hätten wir auch ein passendes Geschenk für altgediente Fußballfans.

Manuel Neukirchner: „Wembley 1966. Der Mythos in Momentaufnahmen“. Deutsches Fußballmuseum, Dortmund/Klartext Verlag, Essen. 160 Seiten, großformatiger Bildband (Broschur) mit zahlreichen Abbildungen (Farbe und schwarzweiß). 14,95 Euro.

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Ruhrgebietskrimi

Wer für Ruhrgebietskrimis zu haben ist, freut sich vielleicht über dieses etwas kleinere Geschenk: „Am Boden“ von Lucie Flebbe dreht sich zunächst u.a. um den riskanten Kletter-Trendsport „Roofing“.

Ein Student wird verdächtigt, einem Freund bei einer Klettertour einen Stoß versetzt zu haben – mit tödlichen Folgen. Lucie Flebbes schon mehrfach erprobte Privatdetektivin Lila Ziegler und ihr Partner Ben Danner wollen den Fall aufklären – ein Unterfangen mit ungeahnten Weiterungen. Alsbald geht es auch um häusliche Gewalt (Lila zeigt ihren eigenen Vater an), und schließlich kommt es zu einem spektakulären Showdown im Bochumer Opel-Werk. Merke abermals: Aufgegebene Industrie-Standorte des Reviers (vgl. auch Phoenix West und ähnliche Locations in Dortmunder „Tatort“-Folgen) eignen sich oft bestens als Krimischauplätze.

Lucie Flebbe: „Am Boden“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. Paperback, 251 Seiten, 11 Euro (als E-Book 9,99 €)

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Architektur der Region

So. Und nun hätten wir noch etwas für die an Kunst und Architektur Interessierten.

Christoph Rauhut und Niels Lehmann stemmen ein wahrhaft ambitioniertes Projekt. Seit einigen Jahren widmen sie sich eingehend der Architektur des Expressionismus, ein Band über herausragende Beispiele in Berlin und Brandenburg hatte den Anfang einer groß angelegten Reihe gemacht. Jetzt liegt ein weiterer Band vor, der sich den einschlägigen Baubeständen an Rhein und Ruhr zuwendet.

Zur ersten Orientierung schaue man am besten gleich ganz hinten nach, nämlich im reichhaltigen Gebäuderegister, das nicht nur Geschäfts-, Büro und Industriebauten auflistet, sondern auch öffentliche Gebäude, Sakralbauten und Wohnhäuser.

Auch wenn so vieles im Krieg zerstört worden ist, so gibt es doch auch in NRW noch eine imponierende Fülle von oftmals monumentaler expressionistischer Architektur (manches freilich nur noch in fragmentarischer Form), wobei gerade im Ruhrgebiet jede Stadt ihr eigenes Profil ausgebildet hat.

Die Textbeiträge in diesem Band (jeweils auf Deutsch und Englisch) sind sehr überschaubar, es handelt sich zwar um ein Ergebnis, nicht aber um die Wiedergabe einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung. Den weit überwiegenden Teil des Buches machen Fotografien und Lagepläne aus. Das darf sicherlich auch als Ermunterung verstanden werden, sich das eine oder andere der insgesamt 155 Gebäude einmal selbst anzusehen.

Um nicht ins Uferlose zu geraten, hier nur ganz wenige Beispiele aus dem Ruhrgebiet: Bogestra-Verwaltung (Bochum), Hans-Sachs-Haus (Gelsenkirchen), Union-Brauerei/Dortmunder „U“, Hauptpost (Essen), Polizeipräsidium (Oberhausen), Volkshochschule (Gladbeck), Gebäudeensemble Hauptfriedhof (Dortmund).

Im Vorwort heißt es, die vorgestellten Bauten (vorwiegend aus den 1920er Jahren) ließen samt und sonders künstlerischen Gestaltungswillen erkennen und stünden einer auch damals schon drohenden Banalisierung des Metiers entgegen. Und wie sieht’s damit heute aus? Eine Frage, bei der man unwillkürlich seufzt.

Christoph Rauhut/Niels Lehmann: „Fragments of Metropolis – Rhein & Ruhr. Das expressionistische Erbe“. Hirmer Verlag. 256 Seiten (Format 15,5 x 24,5 cm). 156 Farbabbildungen, 30 Pläne und Karten. 29,90 Euro.




Heftige Jugendzeit im Ruhrgebiet – Goosen-Verfilmung „Radio Heimat“ im Kino

Vier hart pubertierende Freunde. Das Ruhrgebiet. Die 80er Jahre. Das ist – ganz grob zusammengefasst – der Inhalt von „Radio Heimat“. Mehr muss man eigentlich gar nicht darüber wissen, viel mehr passiert auch nicht. Aber – es reichte erstaunlicherweise, um einen feinen, kleinen Film mit viel Gefühl, viel Heimatliebe und ein bißchen Nostalgie zu produzieren.

Szene aus "Radio Heimat" (© Concorde)

Szene aus „Radio Heimat“ (© Concorde)

Der Film basiert in weiten Teilen auf dem gleichnamigen (2010 und jetzt wieder neu erschienenen) Kurzgeschichtenband von Ruhrgebietschronist Frank Goosen. Wer das Buch kennt, wird sich berechtigt fragen, wie man das verfilmen kann, wo doch die Kurzgeschichten allenfalls Schnittpunkte haben, aber keinen wirklichen durchgehenden Handlungsstrang. Um daraus einen Film zu machen, bediente man sich zweier Kunstgriffe: Man verlagerte die Handlung komplett in die zur Zeit so angesagten 80erJahre (zuzüglich einiger Rückblenden in die 60er) und strickte geschickt den Coming-of-age Handlungsstrang aus Goosens Roman „Mein Ich und sein Leben“ drum herum.

Ja, natürlich, es ist eine ziemliche Gemengelage dabei herausgekommen, gerade in der ersten Hälfte geht es mal hierhin, mal dorthin, dann wird ein Faden fallen gelassen und nicht wieder aufgenommen, nicht alles passt zueinander – aber das stört kein bißchen. Denn der Film bereitet einfach Spaß. Vor allem, weil er einfach richtig gut gemacht ist. Es wird oft – zu Recht – gemeckert, dass deutsche Produktionen es einfach nicht drauf haben, diese Detailtreue, das Vermitteln eines Zeitgefühls, die Wiederauferstehung vergangener Epochen vermitteln zu können wie z.B. die dafür so gelobten Mad Men oder Downton Abbey.

„Radio Heimat“ aber hat es geschafft. Genau so war es, wenn man in den 80ern im Ruhrgebiet jung war. Die Wohnzimmer waren so trutschig, die Partykeller so ranzig wie im Film, die Klamotten so geschmacklos und das Ruhrgebiet sah genau so aus. Der Location Zollverein und guter Bildbearbeitung sei Dank.

Nostalgisch verklärt sitzt man im Kinosessel und ist einfach nur dankbar dafür, dass es Regisseur Matthias Kutschmann und seiner Crew gelungen ist, dem Gefühl unserer Jugend ehrlich, berührend und dennoch unverklärt ein filmisches Denkmal zu setzen. Nebenbei ist man auch dankbar dafür, dass nicht alles die 80er überlebt hat. Die Neue Deutsche Welle zum Beispiel oder das unfassbar eklige Trendgetränk Wodka mit Wick Blau. Wie konnten wir nur? Wirklich wahr: Damals war auch scheiße.

Cover der Buchvorlage (© Randomhouse)

Cover der Buchvorlage (© Randomhouse)

Wer jetzt meint, na ja gut, ist eben ein Heimatfilm für sentimentale Früher-war-alles-besser-Kinogänger. Nein! Wir haben das Experiment gewagt und unseren Sohn mitgenommen, der heute exakt so alt ist wie ich im Jahr 1983, dem Jahr der Handlung. Und auch ihm hat es gefallen. Er fand es witzig und er fand es spannend zu sehen, wie es damals so war in dem Revier, in dem er heute seine Jugend verlebt.

Das ist überhaupt so ein Phänomen, gerade hier im Ruhrgebiet, das einen selten harten Strukturwandel durchlebt hat und immer noch durchlebt: Die Jugend interessiert sich sehr dafür, wo ihre Wurzeln sind, wie es früher hier so war. Mit dem Bergbau und den tausend Feuern in der Nacht. Und diese berechtigte Neugier bedient der Film „Radio Heimat“ perfekt.

Darüberhinaus gibt es auch noch besagte zusammengestückelte Handlung. Und auch wenn diese zwischenzeitlich mäandert, die Geschichte von Frank, Mücke, Spüli und Pommes, die erwachsen werden (wollen), ist einfach schön erzählt. Zärtlich und den Protagonisten bei allen zugehörigen Peinlichkeiten ihre Würde lassend.

Die jungen Darsteller um Maximilian Mundt und David Hugo Schmitz sind denn auch die wahren Stars des Films. Das will was heißen, wenn man Jungschauspieler gegen jede Menge Ruhrpott-Prominenz wie Uwe Lyko, besser bekannt als Herbert Knebel, Peter Lohmeyer und viele andere mehr in kleinen oder größeren Rollen anspielen.

Der Film Radio Heimat läuft seit dem 17. November bundesweit und weiterhin fast noch in allen Ruhrgebietsstädten:

Im östlichen Revier u. a. in Dortmund (Camera, Cinestar, Schauburg), Bochum (Bofimax, Casablanca, Union), Unna (Filmcenter), Lünen (Cineworld), Witten (Die Burg), Hagen (Cinestar) und Hamm (Cineplex).
Außerdem u. a. in Essen (CinemaxX, Eulenspiegel), Gelsenkirchen (Apollo, Schauburg), Herne (Filmwelt), Mülheim (CinemaxX, Filmpassage), Recklinghausen (Cineworld), Oberhausen (Cinestar, Lichtburg)




„Und der Köter hört dich ohne meckern zu“

Wenn man durch die Fußgängerzone einer beliebigen Stadt im Ruhrgebiet schlendert, dann hört man – oft ganz unfreiwillig – die seltsamsten oder lustigsten Wortwechsel. Gerade der Dialekt der Ruhrpottsprache mit seinen eigenen Wortschöpfungen macht viel Spaß. Und manchmal kommt sogar Philosophisches dabei heraus.

Ein Hund mault selten. (Foto Pöpsel)

Ein Hund mault selten. (Foto: Pöpsel)

Neulich sah ich zwei ältere Frauen im Gespräch, die eine mit einem Dackel an der Leine. Gerade hatte sie ihrer Bekannten erzählt, dass ihr Partner ausgezogen und das Leben in der Wohnung so still geworden sei. Tröstend erfuhr sie von ihrem Gegenüber, für die häusliche Zufriedenheit brauche man doch keinen Mann. Alleinsein sei viel schöner: „Da kannsse maulen oder nich maulen, wie de willss, und der Köter hört dich ohne meckern zu.“

Ähnlich lakonisch erlebten wir einen Dortmunder im Urlaub, der in einer offenen Telefonzelle stand und seinem Freund oder Verwandten zufrieden vom Aufenthalt in der Fremde berichtete. Das Wichtigste fasste er in zwei kurzen Sätzen zusammen. „Iss schön hier. Wir sind ja widda in datselbe Hotel, woll?“ Am besten sieht es da aus wie zuhause, dann kann gar nichts schiefgehen.




„Schwarze Kohle, rotes Licht“ – Schwere Jungs erinnern sich an ihr früheres Revier

Kriminelle Vergangenheit im Ruhrgebiet: der Typ, den alle nur "Coca" nennen. (Screenshot aus der besprochenen WDR-Sendung)

Kriminelle Vergangenheit im Ruhrgebiet: der Typ, den alle nur „Coca“ nennen. (Screenshot aus der besprochenen WDR-Sendung)

Wer sich diesen Titel ausgedacht hat, müsste eigentlich kräftig in die Klischeekasse einzahlen: Der TV-Film „Schwarze Kohle, rotes Licht“ (WDR) handelt von kriminellen Umtrieben im Ruhrgebiet, unter besonderer Berücksichtigung des Rotlicht-Milieus. Kein läppisches Thema.

Der fürs Dreiviertelstunden-Raster (quasi eine Schulstunde) gezimmerte, bereits ausgestrahlte Beitrag von Peter F. Müller setzte mit Archivaufnahmen in der „Wirtschaftswunder“-Zeit der späten 1950er und frühen 60er Jahre an und hangelte sich bis in die 80er. Stellenweise im raunenden Tonfall, suchte man das Böse in der „Parallelwelt“ des Reviers zu beschwören. Ähnliche Filme könnte man, mit anders gelagerter Folklore, wohl über alle deutschen Metropolen anfertigen. Aber hier hatte der Zungenschlag eindeutig „Pott“-Färbung. Und der Film behauptet stark, in Sachen Kriminalität sei das Ruhrgebiet damals bundesweit „ganz vorn“ gewesen.

Luden in Luxuskarossen

Das Spektrum reichte vom Doppel- und Serienmord über Betrug und Steuerhinterziehung im ganz großen Stil bis hin zu lukrativen Puffs und illegalen Spielcasinos. Genüsslich wurden „Luden“ (Zuhälter) gezeigt, die mit ihrem Rolls Royce oder ähnlich extravaganten Karossen vorfuhren und Hof hielten. Fernsehmacher gieren halt nach solchen Bildern.

Reichlich kamen ehemalige Spitzbuben (putziges Wort von früher) mit Rocker-Attitüde zu Wort, die etliche Jahre Knast abgesessen haben, nun aber geradezu altersweise zurückblicken. In ihre ruhigeren Jahre gekommen, zeigen diese kernigen Typen geradezu sympathisch abgeklärte Züge. Die schweren Jungs (noch so ein Ausdruck von damals) haben so manches erlebt, denen macht niemand was vor. Und sie haben einen speziellen Humor…

Ganoven mit und ohne Stil

Natürlich verrieten sie den TV-Leuten nicht, wie und wovon sie heute so leben. Nicht, dass da noch die Falschen zuschauen! Das war vielleicht der Deal: Ihr erzählt uns ein paar derbe Schwänke und wir stellen keine zudringlichen Fragen. So konnten sich die Herren auch rühmen, einst – wenn’s drauf ankam – im feinen Zwirn aufgetreten zu sein, während heutige Zuhälter oft in Trainingskluft auftauchten. Merke: Den Jungspunden ermangelt es ganz einfach an Stil und Qualität.

Trotzdem: Die trockenen Statements der einstigen Ruhri-Szenegrößen wie „Coca“ und Klaus „Hüpper“ Wagner (der vorher „auf Zeche“ malocht hatte) waren bereits das Stärkste an diesem ansonsten etwas dürftigen Film. Der Stoff wurde nicht durchdrungen, es gab praktisch keinerlei Erkenntnisse über pure Fakten und Phänomene hinaus. Dass manche Kerle sich als schrankenlos freiheitsliebende „Hippie-Rocker“ verstanden und in ihren Gangs Ersatzfamilien gesucht haben, war einer der wenigen, allerdings recht mageren gesellschaftlichen Vertiefungs-Ansätze, die jedoch nicht weiter verfolgt wurden.

Raffinierte kriminelle Geschäftsmodelle nötigen im Nachhinein selbst der Polizei Respekt ab: „Der hätte auch eine große Firma leiten können“, sagt ein Ex-Beamter über einen Delinquenten.

Erschröckliches Panoptikum

Bei Nennung von Verbrecher-Namen wie Alfred Lecki, Petras Dominas und Erhard Goldbach klang – gleichsam in negativ getönter Nostalgie – etwas aus zeitlicher Ferne nach. Doch gar zu atemlos wurden diese Fälle abgehandelt, als dass sie übers reine Geschehen hinaus hätten ergiebig werden können.

Das erschröckliche Panoptikum des Verbrechens erschöpfte sich weitgehend in bloßer und blasser Chronologie, in braver, auch sprachlich ziemlich unbedarfter Nacherzählung einiger spektakulärer Kriminalfälle. „Analytisch“ erhob sich das kaum über die Tiefebene von Eduard Zimmermanns berüchtigter Sendung „Aktenzeichen XY…ungelöst“, die denn auch in Wort und Bild zitiert wurde; ebenso pflichtschuldigst, wie man auch an den legendären Duisburger „Tatort“-Kommissar Schimanski erinnerte. Man wollte eben nichts auslassen – und versäumte dabei das Wesentliche.

Revierspezifisch waren übrigens die buchstäblich engen Beschränkungen, denen die Polizeiarbeit unterlag. Jenseits der im Ruhrgebiet allgegenwärtigen Stadtgrenzen durften sie in der Regel nicht ermitteln, wie Ex-Polizisten zähneknirschend verrieten. Die Ganoven kriegten das natürlich spitz – und machten daraus ein Katz- und Maus-Spiel.




Projekt „Ruhr Bühnen“: Elf Theater „unter einem Dach“ – leider nur die Etablierten

Von unserem Gastautor Werner Streletz (Schriftsteller und Journalist in Bochum):

„Nachhaltigkeit“ hatten sich die Macher des Kulturhauptstadtjahres 2010 auf die Fahnen geschrieben. „Ruhr 2010“ sollte nicht nur ein zwölfmonatiges Feuerwerk abbrennen, sondern auch langfristig Wirkung zeigen. Die Kunstmuseen an der Ruhr arbeiten schon geraume Zeit zusammen, jetzt folgen die Theater.

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

„Ruhr Bühnen“ ist das Zusammenwirken von nicht weniger als elf Bühnen des Ruhrgebiets betitelt – vom kleinen Schlosstheater in Moers bis zum Schauspielhaus Bochum. Den ersten Schwerpunkt dieses neuen Kulturnetzwerkes, das finanziell gut ausgestattet ist (fast zwei Mio. Euro in drei Jahren) und das jetzt im Theater Oberhausen vorgestellt wurde, bildet das gemeinsame Marketing, also die vereinigte Werbetrommel. Inhaltlich wird anschließend ein erster Versuch im Herbst 2017 gestartet, wenn bei einer Theaterreise durchs Ruhrgebiet jeweils Inszenierungen der beteiligten Bühnen besucht werden können.

Durch „Ruhr Bühnen“ soll das eigenständige Profil des jeweiligen Theaters allerdings nicht im Geringsten angekratzt werden. Deren Autonomie bleibt ungeschmälert erhalten.

Derzeit sind im Übrigen nur die etablierten kommunalen Bühnen des Reviers unter dem neuen Dach versammelt. Und wie sieht es mit der freien Szene aus, in Bochum zum Beispiel mit dem Prinz Regent Theater oder dem Rottstr5-Theater? Eine einzelne Off-Bühne hätte wohl keine Chance, bei den „Ruhr Bühnen“ mitzumachen und damit vom Geldregen zu profitieren, so ist während der Pressekonferenz zum Projekt „Ruhr Bühnen“ zu erfahren. Nur bei einem Zusammenschluss von mehreren freien Theatern bestünde die Möglichkeit einer Mitgliedschaft. Kurzum: Freie Fahrt (bisher leider nur) für die Etablierten!

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Info

Zu den „Ruhr Bühnen“ gehören folgende Häuser:
Schauspielhaus Bochum, Theater Dortmund, Deutsche Oper am Rhein im Theater Duisburg, PACT Zollverein in Essen, Theater und Philharmonie (Tup) Essen, Musiktheater im Revier (Gelsenkirchen), Theater Hagen, Schlosstheater Moers, Ringlokschuppen Mülheim, Theater an der Ruhr in Mülheim, Theater Oberhausen.





Bedauernswerte Promis leiden an Provinzstädten – und erst recht am Ruhrgebiet

…und ich dachte schon: Alle Achtung, diesmal mokieren sie sich nicht übers Ruhrgebiet. Doch weit gefehlt.

Die FAZ-Sonntagszeitung (FAS) lässt seit jeher kaum eine Gelegenheit aus, den „Pott“ unentwegt hochwitzig zu brandmarken. Darin konkurrieren sie gelegentlich im weniger edlen Wettstreit mit der „Süddeutschen Zeitung“. Wahrscheinlich zahlen diese Metropolen-Fuzzis (drastischere Bezeichnungen auf Anfrage) gern so hohe Mieten und Kaufpreise, wenn sie sich anschließend nur aufs hohe Ross setzen können.

Hand aufs Herz: Einen solchen Städteanblick kann man doch einem Model oder Sternchen nicht zumuten! (Foto, vom Dortmunder Florianturm herab: Bernd Berke)

Hand aufs Herz: Einen solchen Städteanblick kann man doch einem Model oder Sternchen nicht zumuten! (Innenstadt-Foto, vom Dortmunder Florianturm herab: Bernd Berke)

So auch diesmal in einer Kolumne, die ich von Zeit zu Zeit recht gern lese. „Herzblatt“ heißt sie, befindet sich im FAS-Zeitungsbuch „Leben“, wird zumeist von Jörg Thomann geschrieben und greift aberwitzige Fehlleistungen der „gelben“ Klatschpresse auf. Was „Bunte“, „Frau im Spiegel“, „Das Neue Blatt“, „In“, „Gala“, „Closer“ und Konsorten so abliefern, spottet oft jeder journalistischen Beschreibung. Da wird zuweilen so dreist geflunkert und manipuliert, dass es nur so seine Art hat. Nicht selten ist’s zum Brüllen komisch.

Diesmal knöpft sich Thomann Beziehungsgeschichten von Fußballstars vor. Bei André Schürrles „Liebes-Aus“ (wie es in derlei Blättern stets heißt) wird gemutmaßt, dass seine Ex-Partnerin mit dem Wechsel von London nach Wolfsburg nicht einverstanden gewesen sein könnte. Aus der Weltstadt in die tiefste Provinz – da schmollen halt die verwöhnten Models, die in aller Regel an der Seite prominenter Kicker auftreten. Klar. Möglich wär’s.

An der Stelle dachte ich: Die werden doch jetzt nicht den Supergag verschenken, dass Schürrle just von Wolfsburg nach Dortmund gewechselt ist? Nur ruhig Blut. Thomann nimmt lediglich einen kleinen rhetorischen Umweg. Er erwähnt die Soap-Darstellerin Sila Sahin, die mal mit dem vormaligen BVB-Spieler Ilkay Gündogan liiert war und jüngst einen Spieler von Hannover 96 geheiratet hat, aber lieber weiter in der phantastischen Weltstadt Berlin wohnen will.

Zitat Sila Sahin: „Ich war ein Jahr in Dortmund. Und das war nicht so eine schöne Erfahrung…“ Das muss als Begründung reichen. Worauf Jörg Thomann zusammenfasst: „Wolfsburg, Dortmund, Hannover: Wer erzählt die Geschichten junger Fußballspieler, die mit ihren kreuzunglücklichen Partnerinnen in deutschen Provinzstädten festhängen?“ Ja, wer erzählt die?

Merke: (Promi)-Beziehungen nehmen naturgemäß nur einen glamourösen und somit glücklichen Ausgang, wenn sie in Berlin, Hamburg, München oder bestenfalls noch Frankfurt oder Düsseldorf sich entfalten dürfen. Von London, Paris, Madrid oder Barcelona ganz zu schweigen. Wollen Paparazzi etwa in Bochum oder Gelsenkirchen auf der Lauer liegen? Sagt selbst!

Damit hat FAS-Thomann für diesmal sicherlich sein Pulver in Richtung Revier und sonstiger Graumaus-Städte verschossen, oder? Keineswegs. Er legt noch mal genüsslich nach. Häufig höre man Bezeichnungen wie „Wahl-Pariser oder Wahl-Berliner, Wahl-Wanne-Eickeler eher nicht so.“ Mensch, Jörg. Das war ein Volltreffer! Womit des Schenkelklopfens über die doofen Menschen, die freiwillig im Ruhrgebiet leben, kein Ende mehr sein dürfte.




Zum Tod von Götz George: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen! – Wiedersehen mit „Schimanskis“ erstem Fall

Und schon wieder so eine zutiefst betrübliche Nachricht: Der Menschendarsteller Götz George ist, wie jetzt bekannt wird, bereits am 19. Juni mit 77 Jahren gestorben. Gewiss: Er hat auf der Theaterbühne, im Kino und im Fernsehen viele, viele Rollen eindrucksvoll verkörpert. Doch nicht nur uns im Revier bleibt er naturgemäß vor allem als „Schimanski“ in Erinnerung. Daher hier noch einmal der Rückblick auf seinen allerersten „Tatort“-Fall, wie er in den Revierpassagen am 22. Juli 2013 geschildert wurde:

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Von Zeit zu Zeit liebe ich ein Wiedersehen solcher Art. Darum habe ich mir jetzt den allerersten Schimanski-„Tatort“ noch einmal angeschaut. Untertitel: „Duisburg-Ruhrort“. Erstausstrahlung: 28. Juni 1981. Damalige Zuschauerzahl: 15,38 Millionen.

Wenn ich mich recht entsinne, durfte ich den Film schon damals zur Erstausstrahlung rezensieren. Ich lese lieber nicht nach, was ich da geschrieben habe. So viel Wiedersehen muss denn doch nicht unbedingt sein.

Anlass der erneuten (leider nächtlichen) Sendung im WDR-Programm war natürlich der 75. Geburtstag von Götz George (23. Juli). Der Darsteller, der mit den Jahren zusehends die Statur eines – auch ohne viele Worte – allseits Respekt gebietenden Titanen angenommen hat, taucht dieser Tage häufiger auf; vor allem in der Rolle seines Vaters, des in die NS-Zeit verstrickten Schauspielers Heinrich George (arte, 22. Juli 2013, 20.15 Uhr und ARD, 24. Juli, 21.45 Uhr).

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Als Kommissar Horst Schimanski dürfte Götz George das Ruhrgebiets-Image mindestens ebenso geprägt haben wie etliche Jahre zuvor Jürgen von Manger; und wahrscheinlich nachhaltiger, als selbst Herbert Grönemeyer, Herbert Knebel (alias Uwe Lyko) oder auch Frank Goosen dies vermocht haben. Da darf man also entschiedene Prägekraft konstatieren – und allein das ist schon eine Leistung für sich.

Der damalige Auftakt-Fall, der sich um Binnenschiffer und Waffenschmuggel drehte, soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden. Doch die – seinerzeit ungewohnte – Machart des Krimis kann sich heute noch sehen lassen. Wie da gleich in der ersten Sequenz der Charakter der Hauptfigur zwischen Flüchen, Suff, Hafenmilieu und Pferdewetten anklingt, das ist schon verdammt gut und punktgenau gemacht. Von wegen „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“. Hier ist Dienst auch Schnaps. Und Bier. Und die eine oder andere Bettbekanntschaft. Im Verlauf einer solchen erfuhren wir auch, dass Schimi schon damals tätowiert war. Heute würde er damit einen faden Durchschnitt repräsentieren.

Regisseur Hajo Gies zeigte in fahlen, gleichsam längst abgeblätterten Farben ein wahrlich tristes Ruhrgebiet, stets Grau in Grau und nieselig. Und hinter jeder Straßenecke lauerte das Verbrechen. Das Bürgertum lebte sozusagen auf einem anderen Stern. Dafür war „Derrick“ zuständig. Schon „Normalos“ waren in den Schimanski-Filmen eine eher exotische Seltenheit.

In einem weiteren Punkt waren die Schimanski-Folgen geradezu Avantgarde: Lange vor dem Aufkommen von Begriffen wie „Prekariat“ und „Migration“ konnte man in diesen Filmen entsprechende sozialen Verhältnisse besichtigen. Wobei wir beides nicht miteinander vermengen wollen.

Herrlich übrigens die schon in der ersten Folge angerissene Kontrastzeichnung zwischen dem durchaus prügelfreudigen Weiberhelden Schimanski und dem eher feinsinnig veranlagten Thanner (Eberhard Feik), der gleich in einer der frühesten Szenen mit distinguierten Französisch-Kenntnissen glänzte.

Bei aller polternden „Raubeinigkeit“ (ein Wort, das seither quasi für ihn reserviert zu sein scheint) ist Schimanski freilich auch praktizierender Melancholiker. Und am Ende steht ohnehin immer die Erkenntnis: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen!