Horváth in der Kühlkammer – Karin Henkel serviert die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in Bochum eiskalt

Kälte, Grusel, Fleischerhaken: Szene aus Karin Henkels Bochumer „Wiener Wald“-Inszenierung. Foto: Lalo Jodlbauer

Diese Menschen haben keine Seele. Wie Untote geistern sie durch die grau-triste Szene, erweckt aus langer Kältekammererstarrung, ins Leben gezerrt inmitten eines Schlachthauses. Ihre Bewegungen sind mechanisch, die Mimik gleicht fratzenhafter Grimasse, die Sprache dieser Zombies ist gestelzt, künstlich. Manchmal wirkt das, als redeten Puppen, die zuvor mit einem Schlüssel hinterrücks aufgezogen wurden.

Dass mit solcher kalten Bildmacht Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ zu einer frostigen Gruselnummer mutieren kann, dass dieses Volksstück, ins verstörend Abstrakte gewendet, wie ein aus dem Ruder gelaufenes Laborexperiment aussieht, zeigt uns Karin Henkel im Bochumer Schauspielhaus. Von Gemütlichkeit ist das alles meilenweit entfernt, und „a scheene Leich“ gibt’s auch nicht.

Doch immerhin ein schönes Fräulein. Das anfangs am Fleischerhaken baumelt, überhaupt oft bloß als Objekt behandelt wird, von oben herab gegängelt, und nur zeitweise die Kraft zur Selbstbehauptung aufbringt, um der Anerkennung willen. Das zur Projektionsfläche männlicher Begierden wird, aufgespalten in acht gleichaussehende Lolitas, die aus der Kühltruhe schlüpfen und elfensanft über die karge Bühne trippeln.

Marianne (Marina Galic), von Oskar (Mourad Baaiz) im Schlachthaus beäugt. Foto: Lalo Jodlbauer

Dieses Fräulein, die Marianne in Horváths Stück, Tochter des abgehalfterten Zauberkönigs, Zwangsverlobte des Fleischers Oskar, schon bald jedoch Geliebte des Hallodris Alfred, der kein Geld hat, aber ihr ein Kind macht und sie aus der Armut heraus in einen Stripclub vermittelt, diese Marianne (Marina Galic) scheint noch ein Herz zu haben. Andere hingegen, mit all ihren zappelnden Bewegungen, repetierenden Sprüchen oder wüsten Rennereien, sind bloß von innerer Mechanik angetrieben. Die Regie transformiert Horváths Totentanz in eine Choreographie lebender Leichen. Und hinten schimmert ein skelettierter Schädel auf, mit furchterregenden Augenhöhlen. Und auf dem nackten Bühnenboden liegen noch einige Fleischstücke herum: Der Mensch ist wohl auch nur ein Tier.

Thilo Reuther hat diese Endzeitoptik erdacht, Lars Wittershagen steuert Fragmente wabernder Elektroklänge bei. Das „Wiener Wald“-Personal, biestig, rechthaberisch,  dumm und arrogant in seiner Art, nutzt diesen Rahmen zu lustvollem wie stereotypem Spiel. Bizarre Verrenkungen, hyperventilierender Aktionismus oder verrätselte Prozessionen sind inbegriffen.

Karin Henkels Konzept, der Gefühlskälte der Menschen einen eisigen Mantel umzulegen, geht über weite Strecken auf. Manche Längen stören indes: Die Szene im Nachtclub etwa, mit schier endlosem Conférencier-Gequatsche, gerät ärgerlich zäh. Und das roboterhafte Wiederholen ganzer Sätze wirkt nicht gerade zwingend. Weit problematischer aber ist, dass die Fokussierung auf alles Abstrakte, Mechanische und Grausige im Umgang mit Horváths Figuren sich unbefriedigend eindimensional präsentiert.

Abwärts: Die Untoten in bizarrer Umklammerung. Foto: Lalo Jodlbauer

So gibt Gina Haller als Alfreds Großmutter, die dessen Kind am offenen Fenster erfrieren lässt, lediglich die keifende, alte Hex’. Alfred, das ist Ulvi Teke, ein motorisch gestörtes Muttersöhnchen, dessen Gefühlswelt sich hinter lasch geplapperten Sätzen verbirgt. Besser ins Bild passt Thomas Anzenhofer, hier der Rittmeister mit knorriger Befehlsdiktion, die alte k.u.k.-Herrlichkeit repräsentierend. Noch detaillierter, schärfer, ja beängstigender gelingt Marius Huth die Zeichnung des Faschisten Erich samt seiner militärischen Exerzitien-Huberei und Parolen-Ergüsse, für den das Schießen nicht zuletzt viel mit Potenz zu tun hat.

Dass wiederum Karin Moog als Trafikantin Valerie, mit Vogelnestfrisur und überschminkten Lippen, schrill und arrogant durch die Szene geistert, nimmt ihr jede emotionale Tiefe. Dazu gesellt sich Zauberkönig Bernd Rademacher, schlunzig, herrisch, aber nicht glaubhaft leidend an Mariannes Schicksal.

Schließlich Oskar: Mourad  Baaiz steht im Gefüge des Bizarren am Rand, ganz ohne Dämonie („Marianne, Du wirst meiner Liebe nicht entgehen“). Inmitten aller pendelt sie haltlos, geschubst und benutzt. Marina Galic gibt diesem Fräulein Intensität, weckt in uns Empathie, die es im Kreis der Untoten nicht gibt. Es scheint, als habe sie nur einen Kälteschlaf gepflegt, um als einziger Mensch in diese eisige Welt geworfen zu werden.

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Bruckner unter Spannung, Mahler weltabgewandt – Herbert Blomstedt und Christian Gerhaher setzen in Essen Maßstäbe

Herbert Blomstedt, der jung gebliebene Senior unter den Dirigenten. Foto: Martin Lengemann

Zuallererst muss vom Dirigenten die Rede sein. Von Herbert Blomstedt, der mit 92 Jahren noch immer am Pult steht, hoch aufgerichtet, mit kleinen, gleichwohl intensiven Bewegungen sowie punktgenauen Einsätzen. Der nichts von Strenge hat, vielmehr natürliche Autorität ausstrahlt. Der also ein Orchester verlässlich zu führen versteht. Dem Manier, Theatralik oder gar Egozentrik völlig fremd sind.

Blomstedts Auftritt in der Philharmonie Essen ist außerordentlich, ein kostbares Geschenk, das sich, zur Eröffnung der neuen Saison (2019/20), als Paukenschlag erweist. Weil der Dirigent, gehüllt in eine Aura väterlicher Güte, dem Gustav Mahler Jugendorchester betörende Klangschönheit entlockt, es atmen lässt und so der Musik, den fünf Rückert-Liedern Mahlers, zudem Anton Bruckners 6. Sinfonie, teils Größe verleiht, teils fragile Intimität zuordnet. Blomstedt formt mit Bedacht, das junge Ensemble spielt mit Liebe, in höchster Konzentration und außerordentlich präzise. Ein Glücksfall.

Als wäre dies alles nicht genug, gesellt sich Christian Gerhaher, bester Bariton seiner Generation, dessen Stimme sich auf jede Gefühlsnuance von Mahler einlässt, zu den Interpreten. Todesfahl kann das klingen oder kantig und harsch, bisweilen bittersüß. Manche Ansätze tragen etwas von Sprechen in sich – dem Kunstlied wird gewissermaßen ein kerniger Realismus übergestülpt. Anderes gewinnt nahezu opernhafte Kraft, wenn der Solist die dynamische Entäußerung sucht. Und seine Registerwechsel können gespenstische Wirkmacht entfalten.

Mahler hat die Lieder eher sparsam instrumentiert, in transparentem Satz, bisweilen asketisch klar. Gleichwohl hören wir, vom Orchester luzide aufbereitet, den typischen, mal schlichten, mal resignativen oder schmerzhaften Mahlerton. Der Komponist wendet sich ganz nach innen, feiert die Ruhe, die sich indes zu bestürzender Leere ausweiten kann. Dies alles kulminiert im 5. Lied, dem berühmten „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, eine stille Abkehr von irdischen Mühen hin zum Eremitendasein, letztlich zur erlösenden Transzendenz. Das „Ewig, ewig…“ aus dem „Lied von der Erde“ lässt grüßen.

Bariton Christian Gerhaher kostet bei Malers Rückert-Lieder jede emotionale Nuance aus. Foto: Sony Classic/Jim Rakete

Christian Gerhaher, der hier den Fluss der Zeit gleichermaßen einfriert, damit eine Stimmung herbeizaubert, die zwischen grenzenloser Traurigkeit und wärmender Friedfertigkeit pendelt, wählt als Zugabe das kurze „Urlicht“ aus Mahlers Auferstehungssinfonie. Jede Phrase davon ist sorgfältig, ja geradezu skrupulös gestaltet, mündend in die leidenschaftliche Aufwallung „Ich bin von Gott…“. Ein Bekenntnis, das nicht zuletzt auf den durch und durch religiösen Anton Bruckner verweist, dessen 6. Sinfonie ebenfalls vom weltlichen Mühen und Plagen weiß, von Leere wie von der Inbrunst des Glaubens.

Bruckner bedient sich freilich anderer musikalischer Mittel, schon die opulente Besetzung steht in harschem Kontrast zum spärlichen Mahler-Klang. Zudem das Orchester an diesem Abend mit einem massigen Streicherkorpus aufwartet, der über alle Maßen glänzt und funkelt, schroffe Markierungen setzt oder feurig glüht; der den (nervösen) Puls der vier Sätze vorgibt, andererseits die lyrischen Themen schwelgerisch aussingt. Darüber türmen sich bisweilen die Blechbläser in faszinierenden Schichtungen. Holzbläser, bisweilen auch Horn und Trompete, steuern kantige Einwürfe bei. Jedes Solo ertönt mit gewissermaßen offenem Visier. Brüche tun sich auf und gehörige Spannungsfelder.

Herbert Blomstedt setzt eher auf dezente Tempi, um eben jene Spannung zu transportieren. Doch fällt er damit nicht in musikalische Blockbildung. Wichtig ist ihm der stete musikalische Fluss, die organische Entwicklung. Mag auch der gottesfürchtige Bruckner stets mitgedacht werden, zelebrieren Dirigent und Orchester gleichwohl kein Hochamt. Hymnische Höhepunkte ergeben sich aus dem Vorherigen. Prachtvoll sind sie trotzdem.

Am Ende Jubel, jede Menge Glücksgefühle. Das Orchester der Jungen und der Senior unter den Dirigenten geben allen Grund dazu. Die Saison hat gerade erst begonnen, und schon ist ein erster Höhepunkt zu vermelden. So schnell kann das gehen.




„Everything that happened and would happen“ – bei der Triennale zeigt Heiner Goebbels ein Theater der Versatzstücke

Licht und Schatten, hell und dunkel. Szene aus Heiner Goebbels‘ neuer Produktion. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale

Heiner Goebbels gibt sich generös. Er wolle es gar nicht erst versuchen, mit seiner neuen Arbeit eine Botschaft zu vermitteln. Vielmehr habe er einen Raum mit Bildern, Worten und Geräuschen geschaffen, der das Publikum zu freier Imagination und Reflektion einladen soll. Doch das hehre Ansinnen erzeugt nur Ratlosigkeit: Goebbels’ Gesamtkunstwerk namens „Everything that happened and would happen“ entpuppt sich als kryptische theatralische Installation, als ein ziemlich beziehungsloses Konglomerat aus Musik, Licht, Performance, Sprache, Objekten und Filmen.

Die Produktion wurde 2018 in Manchester erstmals herausgebracht, nun hat die Ruhrtriennale das Werk als Deutsche Erstaufführung ins Programm genommen. Goebbels gibt in Bochums Jahrhunderthalle erneut den Sucher nach ungewöhnlichen Formen des Theatralischen, sieht die leere Spielfläche als Experimentallabor, wie er es schon während seiner Triennale-Intendanz (2012-2014) oft getan hat. Herausgekommen ist diesmal eine arge Zumutung fürs Publikum, eine Aufführung, die vor allem die große Verstörung in sich trägt.

Schon der Titel allein, ins Deutsche übersetzt „Alles was geschehen ist und geschehen würde“, scheint erschaffen aus dem Nebel des Unkonkreten. Etwas Kontur gewinnt diese Sentenz erst mit dem Blick auf die Textquelle, die Goebbels zum Ausgangspunkt seiner Produktion macht, Patrik Ouredniks Roman „Europeana – Eine kurze Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“. Darin vermeidet der tschechische Autor allerdings jegliche Ansätze der linearen Geschichtsschreibung, setzt vielmehr Fakten neben Anekdoten, springt von der Pariser Weltausstellung (1900) zum Leben der Soldaten in den Schützengräben, listet Meinungen zum Berliner Holocaust-Mahnmal auf, oder beschreibt wie in einem Ritual, dass jemand zu irgendeinem Thema gerade irgendetwas sagt.

Tanz der Requisiten. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale

Es ist ein wild zusammengewürfelter, überkomplexer Text, aus dem Goebbels verschiedene Passagen lesen lässt, das Ganze mit rätselhaften Bildern kombiniert. Angereichert wird diese Flut optischer Reize bisweilen mit „No comment“-Einspielungen des Senders Euronews. Kommentarlos flimmern aktuelle Szenen aus allen Winkeln der Welt vor unseren Augen, Szenen von Menschen in der Masse, die demonstriert, die versunken ist in religiösen oder volkstümlichen Ritualen. Auf der Spielfläche werden unterdessen diverse Kisten, Kästen, Säulen, Rohre oder riesige, meist zerfetzte Tücher in undurchschaubarer Choreographie bewegt. Derweil diverse Musiker, mit ihrem Instrumentarium im Raum verteilt auf kleine Inseln der Klangerzeugung, eine hochdifferenzierte Geräusch-Kulisse auffächern.

Am Ende nur Nebel, Rauch und Zerstörung. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale

So entfaltet sich vor uns ein Theater ohne Schauspieler oder Sänger, in einer Atmosphäre, die die Bühne als Werkstätte begreift, wo Arbeiter Requisiten zu immer neuen, üppigen Tableaus formen. Heiner Goebbels mag dem Publikum jegliche Assoziationsfreiheit gestatten, doch liegt der Gedanke an eine Dystopie wohl nicht ganz fern. Schon weil sich die Musik am Ende in einen schier unerträglich lauten Klangflächenschrei hineinsteigert. Und weil das Schlussbild einer verwüsteten Fläche gleichkommt, nichts von friedvoller Idylle hat.

Goebbels’ Generosität, formuliert im Programmheft zu dieser Produktion,  ist ein Trick. Sein Theater der Versatzstücke stiftet vor allem Verwirrung. Und während wir noch rätseln, ist alles bereitet fürs große Katastrophenszenario. Kein Wunder, dass manche dies mit kräftigen Buhrufen quittieren. Im Theater, so scheint’s, ist die Hoffnung und das Gute und Schöne endgültig ausgesperrt.

Weitere Aufführung am heutigen 26. August, 21 Uhr (ausverkauft)




Er ist allein – Hamlets traurige Einsamkeit, von Johan Simons in Bochum so kühl wie tiefgründig inszeniert

Hamlet (Sandra Hüller) ganz allein in seiner Not. Foto: JU Bochum

„Er ist allein“! Das ist der Schlüsselsatz. Wie ein Mantra wird er durchs gesamte Drama getragen, ernst, fast maschinenhaft ausgesprochen.

Vor allem fehlt jegliches Pathos. Wie eben im ganzen Stück zwar der hehre Ton und der flapsige Ton, der schnoddrige Ton und der inbrünstige Ton sich ausbreiten, Schwulst oder Manierismus aber gänzlich ausbleiben. Kühl wirkt das bisweilen, klingt nach Verlorenheit und Einsamkeit. Ja, er ist allein, Shakespeares „Hamlet“ in Johan Simons’ Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus.

Der Blick auf den rechteckigen, weiß getünchten Bühnenboden, darauf die Figuren sich oft in Grüppchen formieren, in einer Art minimalistischer Choreographie, zeugt ebenfalls von Kälte, Abstraktion, Reduktion. Zumal diese weit aufgerissene Bühne, von Johannes Schütz erdacht, nichts weiter birgt als einige Eisenkugelfelder im Hintergrund und eine Art Riesenmobile im Zentrum. Ein wuchtiges Gestänge hält vorn einen großen, weißen Ballon, hinten ein gewaltiges Bronzeblech. Sonst ist da nichts. Und wenn in diesem „Nichts“ die Beteiligten des Dramas zu Beginn nebeneinander Aufstellung nehmen, dann wirken sie allesamt wie Verlorene, Alleingelassene. Jeder mit seiner Tat, seinem Fühlen, seinem Gewissen.

Simons, der schon in seiner „Penthesilea“-Deutung auf äußerste Verknappung setzte – als Zweipersonendrama hinter einem blendend weißen Lichtstreifen –,  reduziert auch den „Hamlet“ auf eine wie unter dem Mikroskop zu beobachtende Folge von Personenkonstellationen. Oft unterstreicht Stille das zuvor Gesagte, illustrieren abgezirkelte Zeichen das Gesprochene. Dazu Mieko Suzukis wabernde, flirrende, rauschende elektronische Klänge, allemal unheimlich wirkend, aber auch fremd wie vom anderen Planeten. „Hamlet“ in Bochum – ein Drama unter Laborbedingungen.

Wundersame Zeichen: Ophelia (Gina Haller), Hamlets alter Ego im hellen Licht. Foto: JU Bochum

Den Schluss daraus zu ziehen, hier herrsche die gefühlsarme Askese, hier dominiere nahezu klinische Sterilität, käme jedoch einem verengten Blickwinkel gleich. Simons’ Inszenierung erwächst vielmehr aus dem Geist der Einsamkeit, des Zweifels. Nicht spektakuläre Action setzt das Publikum unter Spannung, sondern das Bemühen der Figuren, mittels Maskerade ihre Schwäche und Schuld zu kaschieren. Einzig Hamlet spricht die Wahrheit aus, die er in der Theater-auf-dem-Theater-Szene nachstellt: wie seinem Vater Gift ins Ohr geträufelt wurde, von dessen eigenem Bruder. In diesem „Spiel“ indes wird alle Distanz abgestreift, herrschen Raserei und Hysterie.

Sandra Hüller ist Hamlet. Sie gibt sich sanft, fast schüchtern, ist umflort von düsteren Gedanken, scheut andererseits nicht zurück vor messerscharfen Erkenntnissen, formuliert aus dem Geist der Logik. Nur dann schlägt ihre Stimme ins Monströse um, wenn der gemeuchelte Vater aus ihr, aus Hamlet spricht. Hüller spielt dezent, erlaubt sich kaum emotionale Entäußerung. Dieser Hamlet wägt ab, zögert, kalkuliert und berechnet, wann es Zeit ist, seinen Onkel, Claudius, den Vatermörder, zu töten. Stefan Hunstein verleiht diesem Emporkömmling wackelige Würde, will dem angeblich wunderlich gewordenen Hamlet helfen, wird dabei aber zum tragischen Herrscher, der die Jugend nicht versteht. Der die tiefe Trauer des Vaterlosen nicht sieht, dessen Alleinsein, und ihn deshalb zum Verrückten erklärt.

Hamlets Mutter Gertrud mag ähnlich denken, doch Mercy Dorcas Otieno glänzt mit standhaftem Selbstbewusstsein. Beider Begegnung ist von unwirklicher Art: pendelnd zwischen Hass, Sorge und wilder Kabbelei. So wird Hamlets erstes Opfer, aus einer Unachtsamkeit heraus, der königliche Berater Polonius. In Gestalt von Bernd Rademacher entpuppt er sich freilich als Intrigenschmied, der von oben herab und arrogant seine Weisheiten von sich gibt, wenn auch gern in freundlichsten Tonfall gehüllt. Derart aalglatt verbietet er kurzerhand seiner Tochter Ophelia den Umgang mit Hamlet.

Totengräbers Stunde im Reich der Abstraktion – Jing Xiang rollt metallene Kugeln, Symbole für längst verblichene Schädel. Foto: JU Bochum

Die sich freilich, verkörpert durch die so wunderbar verspielte wie ernste, mitunter etwas zu burschikose Gina Haller, zunächst wenig sagen lässt, an Hamlets Seite vielmehr wie dessen alter Ego auftritt. Es ist eine seltsame Liebe, die beide verbindet, die letzthin in Zweifel und Distanz, in Ophelias Wahn und Tod mündet. Wie am Ende ohnehin die Stunde der Totengräber kommt: der somnambulen Ann Göbel, die Hamlets Alleinsein als einzige erkennt sowie der draufgängerischen Jing Xiang. Der helle Bühnenboden wird zum Duellplatz von Hamlet und Ophelias rachegetriebenem Bruder Laertes (Dominik Dos-Reis), die sich wechselseitig mit vergiftetem Degen umbringen. Zugleich ist diese Stätte Gertruds und Claudius’ Grab.

Auch dieses letzte Bild ist trotz aller bedeutungsvollen Tragik von kühler Eleganz. Johan Simons’ Inszenierung zeigt ein Labor verlorener Seelen. Sein Verzicht auf Drastik ist zugleich ein Gewinn an Ausdruckstiefe und Größe.

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(„Hamlet“ wird in der Spielzeit 2019/20 wieder aufgenommen. Die nächsten Vorstellungen gibt es am 17., 20. und 24. Oktober. www.schauspielhausbochum.de)




Ernst, streng und abgeklärt: Evgeny Kissin mit reinem Beethoven-Programm beim Klavier-Festival Ruhr

Konzentration und abgeklärter Zugriff: Evgeny Kissin interpretiert Beethoven. Foto: Sven Lorenz

Evgeny Kissin galt als Wunderkind. Er selbst hat diese Bezeichnung freilich abgelehnt. Sie roch ihm zu sehr nach Drill, vordergründiger Brillanz. Und doch: Wenn ein 12Jähriger beide Chopin-Klavierkonzerte hintereinander öffentlich aufführt, wenn er damit nicht nur, ja, brilliert, sondern zugleich Zeugnis beseelter Musikalität ablegt, wenn ihm dazu technisch fast alles gelingt, kann die Bezeichnung Wunderkind nicht ganz abwegig sein.

Allerdings ist schon mancher junge Stern am Pianistenhimmel schneller als gedacht verglüht. Nicht aber Kissin: Der Russe ging seinen Weg so kontrolliert wie konzentriert, behutsam erarbeitete er sich zunächst das romantische Repertoire, gewann Schritt für Schritt an Ausdruckskraft und technischer Souveränität. Die Entwicklung mündete schließlich in der meisterhaften Beherrschung der Klangwelten eines Konzertflügels.

So fand er schnell sein Publikum in den berühmten Sälen der Welt, eroberte sich geradezu eine Fangemeinde zumeist russischsprachiger Natur. Kissin bezauberte, überwältigte, riss die Menschen schon nach den ersten Stücken von den Sitzen. Legendär sind seine Zugabenblöcke, ausufernd, kaum enden wollend, getragen von wahren Anfeuerungen aus dem Auditorium. Nun, bei aller Seriosität, ein bisschen Zirkus durfte es bei Kissin schon sein.

Ernster Blick, seriöse Aura: Kissin am Klavier. Foto: Sven Lorenz

All dies Beschriebene ist ein Blick zurück. Tritt der Pianist heute auf, umgibt ihn eine Aura von unbedingter Ernsthaftigkeit, künstlerischer Reife bis hin zur Abgeklärtheit, nicht zuletzt von Strenge. Der nunmehr 47Jährige hat alles Jungenhafte hinter sich gelassen, verlangt vom Publikum mehr als nur berauschten Taumel, verknappt die Zugaben. Entsprechend mag sich das alte Kissin-Feeling auch während seines diesjährigen Klavierfestival-Auftritts nicht mehr einstellen. Dabei spielt  freilich die Programmauswahl eine Rolle: Der Russe konzentriert sich allein auf Sonaten und Variationen Ludwig van Beethovens.

Lange hat Kissin gebraucht für die Annäherung an den Komponisten. „Beethoven fand ich viele Jahre sehr schwer“, bekannte der Pianist in einem Interview. Kein Wunder, dass er nun, in Essens Philharmonie, mit gehörigem Respekt vor dem Klassiktitanen ans Werk geht, Überzeichnungen ebenso meidet wie die große Geste. Gleichwohl wird es ein spannungsreicher Abend, bereichert durch traumschön poetische Momente. Im Wechselspiel von Klang und Motorik stößt Kissin eine Tür auf,  die den Blick freigibt auf die musikalische Romantik und Moderne.

Seien es die gravitätisch schreitenden Einleitungsakkorde der „Pathétique“ oder die sanften Arpeggien, die am Beginn der „Sturm“-Sonate aufleuchten – die Verdichtung der Klänge erinnert an nahezu impressionistische Farbspiele. Abrupte Stimmungswechsel, ausgelöst durch dynamische Eruptionen oder motorisches Hämmern, reißen uns jedoch schnell los von allem Schwelgen. Beethovens Werk ist eben geprägt von drangvoller Nervosität, nicht selten auch von energiegeladener Wucht.

Am Ende gibt’s Blumen für den Solisten und drei Zugaben fürs Publikum. Foto: Sven Lorenz

Gefordert ist ein ebenso sensibler wie kraftvoller Interpret. Der zudem das Virtuose beherrscht, ohne damit sinnfrei glänzen zu wollen. Dafür ist Kissin die richtige Adresse. Wie er die sich immer mehr verquirlenden Eroica-Variationen meistert, wie er manch improvisatorische Passage auskostet und die finale Fuge (Beethovens Verneigung vor Bach) ausdrucksvoll gestaltet, zeugt von großer Klasse.

Dabei entpuppt sich der Pianist als ökonomischer Gestalter, der auch in den teuflisch schweren Momenten der Waldstein-Sonate nie den Überblick verliert. Sauber und klar konturiert erklingen die pochenden Staccati zu Beginn, ohne Hast perlen die Figurationen. Das Adagio bekommt eine nahezu grüblerische Note, die sich auflöst im poetischen Thema des Finales. Und so sehr Kissin all die Sprünge, Trillerketten oder wuchtigen Ausbrüche dieses Rondos beherrscht, so geschmeidig, ja fast elegant formt er die Sonate als Ganzes.

Ein ungewöhnliches Hörerlebnis in einem außerordentlichen Konzert. Und am Ende gibt es dann doch den großen Jubel im ausverkauften Saal. Freilich ohne die sonst schon ritualisierte frenetische Ausgelassenheit. Kissin wiederum belässt es bei drei Zugaben. Die Abende mit ihm haben sich gewandelt. Sie sind toll, vor allem aber anspruchsvoll. Auf der Stuhlkante haben wir einst jedenfalls öfter gesessen.




Eisiges Kammerspiel mit einem Hauch Poesie – Roberto Ciullis „Othello“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen

Desdemona (Dagmar Geppert) liebt Othello (Jubril Sulaimon). Der jedoch hegt Zweifel ob ihrer Treue. Foto: Franziska Götzen

Nein, ganz ohne Verdi geht es dann doch nicht. In Roberto Ciullis „Othello“-Inszenierung, die das Shakespeare-Drama zu einem hoch verdichteten, eisigen Kammerspiel einer besseren Gesellschaft stilisiert, sorgt wenigstens Desdemonas „Ave Maria“ aus Verdis gleichnamiger Oper für Wärme und Trost, für bebendes Leidenskolorit und innigen Erlösungston.

Zu sehen war die Produktion jetzt noch einmal, nach ihrer Premiere am Mülheimer Theater an der Ruhr (September 2018), bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Zu Ehren eines großen Bühnenmagiers, dessen Deutungen oft voller Poesie sind, sich aber mit Gesellschaftskritik nicht zurückhalten.

Ciulli lässt am Beginn des Dramas Desdemonas Vater auftreten. Ein feiner älterer Herr mit Fliege, der polternd sein Kind verstößt, weil es Othello, einen Schwarzen, heiratete, im Bann von dessen Hexenmeister-Künsten. Klaus Herzog spielt diesen kaltherzigen Papa, als hochnäsigen Vertreter einer gehobenen Mittelschicht, die allerdings geradezu mafiose Züge trägt. Zu ihm gesellt sich ein aalglatter Cassio, in weißem Anzug, ständig rauchend und von Fabio Menéndez in übler Machomanier gezeichnet.

Der fieseste Schmierlappen aber ist ohne Zweifel Jago, ein Intrigant im Nadelstreif, der mit einer Floskel wie „Ich sehe schwarz“ dem Alltagsrassismus dicht auf den Fersen ist, der zum anderen eine virtuose Perfidie an den Tag legt, die bei seinen Abtritten stets in einem dahingeheuchelten „Ich empfehle mich“ gipfelt. Steffen Reuber mag in dieser Rolle nicht die große, gottabgewandte Dämonie umhüllen, doch sein sorgsam eingefädelter Plan, Othello das Monster der Eifersucht einzupflanzen, lässt das Publikum allemal frösteln.

Jagos Gattin, trotz kleidender Eleganz schon etwas abgewrackt wirkend, darf Petra von der Beek vor allem als willfährige Gehilfin spielen, eiskalt bis in die hochtoupierten Haarspitzen. Bevor sie am Ende die große Intrige aufdecken kann, wird ihr Mann sie erwürgen. Eine Tat, nicht zuletzt begangen aus einer lang gepflegten Hassliebe heraus.

Bring mir Beweise! Othello und der fiese Intrigant Jago (Steffen Reuber). Foto: Franziska Götzen

Für Othello aber hat von diesen zwielichtigen Gestalten keiner etwas übrig. Die Anfeindungen sind von gewaltiger Wirkmacht, denn die Hauptrolle ist mit einem Schwarzen besetzt. Jubril Sulaimon, vor Nigerias Militärdiktatur Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland geflohen, in der Tasche ein Schauspielexamen seiner Heimat, fand 1992 ein erstes Engagement in Essen, wirkte an mehreren Bühnen des Ruhrgebiets, und tritt nun also als Othello im Mülheimer Theater auf. Hier gibt er nicht den strahlenden Helden, vielmehr einen Menschen, der zumeist defensiv reagiert, in seinem Eifersuchtsschmerz jedoch zu großen Ausbrüchen fähig ist. Dann entfalten seine Worte vom bevorstehenden Urchaos, von einer Rache, die alle verschlingen werde, eine ungeheure Macht. Mitunter fällt er ins muttersprachliche Idiom, wenn er dem Zorn noch mehr Gewicht verleihen will.

Und Desdemona? Sie mag Othello wirklich lieben, in aller Unschuld, und in Cassio nicht mehr als einen Freund sehen. Doch Dagmar Geppert staffiert ihre Rolle mit beinahe gelangweilter Distanz aus, mit wenig Empathie. Tiefe Empfindung erwächst allein in Verbindung mit eben jener Verdi-Musik, die diesem Drama im Konversationston eine ganz eigene Färbung verleiht. Allerdings kann sie die gekünstelte Lounge-Atmosphäre von Ciullis Inszenierung nicht wirksam aufbrechen.

Die Poesie des Todes: Am Ende wird Othello mit diesem Tuch Desdemona erdrosseln. Foto: Franziska Götzen

Zum kunstvoll Kalten gehört ein rotes Sofa, das vorn den sonst ziemlich leeren Raum dominiert, den Gralf Edzard Habben gestaltet hat. Hinten befindet sich ein Punchingsack, starkes Symbol aus dem Boxermilieu, in dem es Mann gegen Mann geht, und nicht intrigant hintenherum. Erst zuletzt, mit Desdemonas und Emilias Tod, findet Ciulli einen bildgewaltigen Hauch von Poesie. Ein riesiges weißes Tuch bahnt sich, vom Gebläse getrieben, den Weg. Othello wird es, ebenso wie seine einst geliebte Frau, um sich schlingen – und sie damit erdrosseln.

Der fahle Beifall am Schluss, sich allmählich steigernd, er mag vielleicht großer Betroffenheit geschuldet sein.

„Othello“ ist am Mülheimer Theater an der Ruhr noch einmal zu sehen, am 15. Juni (19.30 Uhr).




Farben, Tänze und Etüden: Die Pianistin Beatrice Rana interpretiert in Essen Werke von Chopin, Ravel und Strawinsky

Die junge italienische Pianistin Beatrice Rana gab ein sehr eindrucksvolles Debüt in der Essener Philharmonie. (Foto: Marie Staggat)

Mit der jungen italienischen Pianistin Beatrice Rana erobert eine Neue Sachlichkeit die Konzertpodien. Der Befund gilt ihrer Außendarstellung, die so gar nichts von Gehabe hat.

Die Künstlerin wirkt ernst und konzentriert, doch münzt sie das nicht um in körperliche Akrobatik oder introvertiertes Abkapseln. Weder müssen die Hände unsichtbaren Girlanden nachspüren, noch spinnt Rana einen Kokon zum Zwecke des Abtauchens in einen Zustand der Trance. Stattdessen Schnörkellosigkeit, uneitles Interpretieren, Virtuosität wie naturgegeben. Und natürlich Emotion, Gestaltungskraft, kluge Gewichtung musikalischer Proportionen.

Jetzt hat Beatrice Rana in der Philharmonie Essen debütiert. Als leidenschaftliche Musikerin, die das Material beherrscht, ohne dabei eine das Spiel hemmende Dauerkontrolle zu benötigen. Die am Beginn, mit den 12 Etüden op. 25 von Frédéric Chopin, nichts überhitzt, sowieso jeden Kitsch meidet, den Komponisten vielmehr aus den Salonmusikklischees heraushebt.

Souverän fließt ihr alles technisch Vertrackte aus den Fingern, sodass sich der Fokus ganz auf den Gehalt dieser „Übungsstücke“ richten kann. Rana entdeckt hier die geradezu orchestrale Wucht mancher Passagen, lässt Diskantfigurationen bisweilen aufschimmern, als sei Chopin ein früher Wegbereiter des Impressionismus, und illustriert nicht selten den Revolutionston des polnischen Komponisten, dessen Land immer wieder, oft vergebens, gegen Okkupanten rebellierte.

Rana muss sich allerdings in ihre Interpretation erst einschwingen. Am Beginn steht viel gleichförmiger Fluss und wenig Kontur. Doch stets schwebt über allem eine sehnige Spannung, herausgekitzelt durch dynamische Variabilität. Der motivisch-thematische Verlauf wird schnell klarer und unschön manierierte Rubati bleiben außen vor. Manche Zuspitzung aus der Abteilung Attacke verweist direkt auf Liszt, andererseits haben wir die Schlusswendungen einiger Etüden, pendelnd zwischen Lakonik und melancholischer Subtilität, selten so berührend ausformuliert gehört.

Gleichwohl ist Chopins Musik nicht von transzendenter Natur. Um in diese Sphären vorzurücken, bedarf es etwa der Miroirs eines Maurice Ravel. Interpretiert von einer Solistin, die im rechten Moment die Zeit anzuhalten vermag. Beatrice Rana zeigt sich hier von ihrer sensiblen Seite, mit Sinn für die Klangfarbe. Wie mäandernde Gebilde stehen diese „Spiegelungen“ im Raum, tönende Reflexionen diffuser Bilder wie „Nachtfalter“ oder „Traurige Vögel“. Griffiger im doppelten Sinne ist hingegen das mit spanischem Kolorit ausgezierte Stück „Alborada del gracioso“, jenes „Morgenständchen eines Narren“, das markante Akkorde mit den rezitativischen Linien des andalusischen Cante jondo mischt. Aus diesem Ineinandergreifen schöpft die Solistin die Spannung dieser Miniatur, ohne jedoch in einen auftrumpfenden Machismo abzugleiten.

Beatrice Ranas programmatischer Weg führt vom polnischen Emigranten Chopin im mondänen Paris über Ravel, der annähernd sein ganzes Leben in der französischen Metropole verbrachte, hin zum Russen Igor Strawinsky, der eben dort 1910 seinen „Feuervogel“ in die Welt setzte. Und über allem schwebt, in mehr oder weniger erfahrbarer Intensität, das Flair des Impressionismus. In Strawinskys Suite, von Guido Agosti für Klavier gesetzt, zeugt die Berceuse von jener Macht der zarten Andeutung. Doch Rana lässt es zunächst ordentlich krachen: Der „Danse infernale“ entpuppt sich unter ihren Händen als wahrhafter Höllenritt, wenn auch auf Kosten einer verwischten musikalischen Struktur. Fast majestätisch gelingt der Pianistin hingegen das machtvolle Finale.

 

 




Steinbruch und Hölle: Yannick Nézet-Séguin dirigiert in Dortmund Werke von Mahler und Schostakowitsch

Gern gesehener Gast im Dortmunder Konzerthaus: Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin am Pult des Rotterdam Philharmonic Orchestra. Foto: Hans van der Woerd

Am Beginn stand der fast manische Tatendrang, die hemdsärmelige Attitüde, eine Leidenschaft zudem, die sich in gewaltiger Körperlichkeit ausdrückte. Das war im Jahr 2008, als der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin erstmalig im Dortmunder Konzerthaus gastierte und wirkte, als sei das Agieren am Pult Schwerstarbeit, um eine wuchtige Orchestermaschinerie in Gang zu setzen und unter Dampf zu halten.

Schnell, in seiner unverwechselbaren Mischung aus Dynamik und Charme, wurde der Musiker zu Publikums Liebling. Unter den Fittichen von Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa hat Yannick, wie er im Stile der Dortmunder Kumpelmentalität gern genannt wird, indes eine ziemlich spannende Entwicklung vollzogen: vom jungenhaften musikalischen Bilderstürmer zu einem ernsteren, ja abgeklärteren Orchestermotivator. Natürlich lodert da noch das alte Feuer, gleichzeitig jedoch hat sich sein Blick für Details geschärft, setzt er mehr auf Transparenz denn auf vordergründige Knalleffekte.

Nézet-Séguin kam 2008 mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra, dessen Chef er damals gerade geworden war. Im Gepäck hatte er Musik von Händel, Beethoven, Ravel und Strawinsky – eine über drei Jahrhunderte gespannte Mixtur ohne strengen dramaturgischen Überbau. Nun aber sind Dirigent und Orchester nach Dortmund zurückgekehrt, um die sinfonischen, spätromantischen Muskeln spielen zu lassen. Mit Gustav Mahlers „Totenfeier“ und Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie („Babi Yar“) zieht das Düstere, Melancholische, Sarkastische ins Konzerthaus ein, zudem eine gewisse monströse Übersteigerung. Mahler, der große Weltenzimmerer, trifft auf Schostakowitsch, den politisch verstrickten Meister des Kommentierens aus dem Geiste der Musik.

Gleichwohl fehlt bei diesem Programm die klare Verklammerung. Richtig ist zwar, dass der Russe den tönenden Kosmos des aus Böhmen stammenden Österreichers überaus schätzte, doch zu verschieden sind eigentlich beider Sprachen. Mahlers Naturlaute, Durchbrüche, Raumklänge, derbe Folklore und seine Hinwendung zum Transzendenten sind etwas anderes als Schostakowitschs rhythmische Bruitismen, gefahrvolle dunkle Streicherlinien oder die markigen Schreie in gleißend hoher Lage. Darüberhinaus ist mit „Totenfeier“ nichts anderes gemeint als eine Frühfassung des ersten Satzes der „Auferstehungssinfonie“.

Großer Applaus für eine tolle Interpretation von Schostakowitschs groß besetzter 13. Sinfonie. Foto: Konzerthaus Dortmund

Wir befinden uns also in Mahlers Steinbruch, etwa 20 Minuten lang, um dann in die Konzertpause entlassen zu werden. Was folgt, umschreiben wir mutig mit dem Begriff Schostakowitschs Hölle: „Babi Yar“ erzählt von (russischem) Antisemitismus, vom Witz, der den Mächtigen ein Dorn im Auge ist, von Armut und (Kriegs)-Angst, schließlich von unfähigen Karrieristen. Jewgeni Jewtuschenko, kritischer und von der Obrigkeit drangsalierter Kopf zu Sowjetzeiten, verfasste die lyrischen Texte. Der Komponist schrieb dazu ein massiges Werk in fünf Sätzen, für Bass-Männerchor, solistischem Bass und Orchester. „Babi Yar“, der Kopfsatz, reflektiert das Massaker in der gleichnamigen Schlucht nahe Kiew, bei dem 1941 etwa 34 000 jüdische Menschen von der Gestapo und ukrainischen Kollaborateuren ermordet wurden.

Schostakowitsch wusste, was er hier komponiert hatte. Vor allem sein Leben unter Stalins Herrschaft war geprägt von Ängsten, materieller Not, vom Zwang, sich zumindest in gewissem Umfang anzupassen. In der „Babi Yar“-Sinfonie spiegeln sich diese Nöte, mithin Schostakowitschs Hölle, beinahe exemplarisch wieder. Entsprechend emotional aufgeladen gerät die Interpretation des Werks im Konzerthaus, mit dem fulminanten (Männer)-Chor des Bayerischen Rundfunks und dem Bassisten Mikhail Petrenko. Schnell finden sie den richtigen Ton, in markiger, wuchtiger, äußerst plastischer Artikulation, pendelnd zwischen Grabesstimmung, Melancholie und beißendem Spott (in teils idyllischer Tarnung).

Mikhail Petrenko, ein markiger Bass von Format. Foto: Alexandra Bodrova

Das Rotterdamer Orchester wiederum lässt das Schlagwerk nach russischer Revolution klingen, unterfüttert vom Furcht transportierenden, nervösen Raunen der (tiefen) Streicher, lässt die Bläser schreien oder elegisch klagen, findet dabei dennoch zu einem ziemlich transparenten Klangbild. Yannick Nézet-Séguin hält alle Fäden des musikalischen Verlaufs gut zusammen, mit Übersicht und Energie. Mikhail Petrenkos Stimme ist in der Tiefe so schwarz wie in hoher Lage geschmeidig. Und der Chor singt mit großer Kraft und feinem rhythmischen Gespür. Die Aufführung ist ein beeindruckendes Erlebnis, hinter dem Mahlers „Totenfeier“ klar zurückfällt. Sperrig und etwas spröde in seiner Formsprache, fehlt in diesem Sinfoniesatz-Vorläufer zudem die Farbe der tiefen Harfen, die perkussive Wucht und die räumliche Dimension der Klangexplosionen. Vielleicht wäre die Verzahnung beider Komponisten besser gelungen mit den unsagbar traurigen Kindertotenliedern zu Beginn.

 




Denn alle Lust will Heiterkeit: In Bochum inszeniert Herbert Fritsch de Sades wilde Fantasien nicht ohne Ironie

Blicke aus dem Abgrund - Ensembleszene. Foto: Birgit Hupfeld

Blicke aus dem Abgrund – Ensembleszene. Foto: Birgit Hupfeld

Nun hat das Schauspiel Bochum also sein erstes Skandälchen. Nach kraftvollem Aufbruch unter dem neuen Intendanten Johan Simons, in Form einer hochintellektuellen, bildmächtigen, exzellent gespielten „Jüdin von Toledo“ (Feuchtwanger) oder der auf ein Zweipersonenscharmützel zentrierten „Penthesilea“ (Kleist), schleicht plötzlich ein Stück herbei, das von Lust und Laster und Gottlosigkeit redet. Dabei klingt der Titel recht harmlos: „Die Philosophie im Boudoir“.

Doch hier geht’s um einen Stoff des Marquis de Sade, des selbsternannten Propheten sexueller Ausschweifungen, eines Libertin im Gefolge der französischen Revolution, dessen Fantasie manche Grenze überschritten hat. Und dann wird das Ganze, in Bochums großem Haus, auch noch von Herbert Fritsch inszeniert, dem Propagandisten des choreographischen Rausches, des Hyperventilierens, des kindlich-kindischen Umhertollens, des ungehinderten Tobens. Also verließen zur Premiere die Gäste scharenweise den Saal, knallten Türen und echauffierten sich – so zumindest ist es Teilen der Presse zu entnehmen.

Penetrant unkeusches Sinnieren über Körperöffnungen

Solcherart lautstarkes Aufbegehren hat indes schon oft genug zu einem „succès de scandale“ geführt, zum aus dem Eklat gewachsenen Erfolg. Hinzu kommt, dass Fritsch mit seiner in Berlin längst Kult gewordenen Produktion „Murmel, Murmel“ auch in Bochum punktete; viele Vorstellungen sind ausverkauft.

Svetlana Belesova,
Jele BrüŸckner und
Anna Drexler (v.l.) im Rausch. Foto: Birgit Hupfeld

Doch bei de Sade liegen die Dinge offenbar anders. Die inflationäre Nutzung des F-Wortes, das penetrant unkeusche Sinnieren über Körperöffnungen, das Beschreiben von Stellungsanordnungen und zügellosen Handlungen haben manchen Theaterbesucher hinausgetrieben. Da nutzte auch die beste philosophische Herleitung nichts – so verstandene allumfassende Aufklärung überschritt wohl jede Vernunftgrenze. Die Folge: Karten fürs „Boudoir“ gibt es noch reichlich.

Diesmal knallen keine Türen

Nun also hinein in die dritte Vorstellung, ins immerhin noch ganz anständig gefüllte Parkett. Viel Jugend sitzt da, nicht wenige haben sich ihr Ticket erst an der Abendkasse besorgt. Und nur zwei ältere Paare, zumindest in unserem Umfeld, verlassen das Haus vorzeitig. Türen knallen keine. Oft ist es sehr still, mitunter wird gelacht im Publikum und am Ende gibt’s beherzten Applaus. Das Skandälchen ist noch weiter in sich zusammengeschrumpft.

Was haben wir auch erwartet? Orgien auf offener Szene, abstoßendes Blut-und-Hoden-Theater? Wildes Geschrei und pikant-detaillierte Einblicke, möglichst noch per Video vergrößert? Nichts von alledem, kein Plaisir dem Voyeur. Stattdessen eine Mischung aus Varieté, Grusel, Trash, Kasperlbude, Slapstick und Karikatur. Die Regie nimmt de Sade ernst und bricht ihm doch manchen Zacken aus der libertären Krone. Mit den Mitteln der Pose, der Überzeichnung, der Repetition oder mimischen Entäußerung.

Philosophische Ergüsse, hehre Religion – und ein bisschen Kitsch

Die philosophischen Ergüsse setzen den Denkapparat in Bewegung, die ausgeklügelte szenische Aktion, verbunden mit den wilden Kostümen Victoria Behrs und dem farbsatten Lichtdesign Bernd Felders, bleiben wohl noch lang im Gedächtnis haften. Dazu die musikalische Untermalung des Pianisten Otto Beatus mit dem zweiten Choral aus Bachs Johannes-Passion und Claydermans „Ballade pour Adeline“ – Kitsch und hehre Religion dem Atheisten und Ästheten de Sade zu Leid.

Karge, aber farbsatte Ausstattung. Nur ein wuchtiger Kubus dient als Requisite. Foto: Birgit Hupfeld

Die Handlung dieses Thesen- und Beischlaf-Stückes ist denkbar simpel. Im Lustschloss der Madame de Saint-Ange wird die Klosterschülerin Eugénie in die scheinbar endlosen Weiten sexueller Praktiken eingeführt. Sie erweist sich schnell als äußerst gelehrig. So entwickelt sich ein lustvoller Reigen, der erst durch das Erscheinen von Eugénies Mutter jäh gestört wird.

Unterfüttert hat der Marquis de Sade dies mit flammenden Reden auf die Herrschaft der grenzenlosen Fantasie sowie spitzzüngigen Debatten über Tugend, Verbrechen und Religion. Zwischendurch wird die eine oder andere besonders perverse Geschichte eingestreut – sei es die von der Unzucht im Irrenhaus oder die von abstrusen Gelüsten eines finsteren Fürsten. Starker Tobak allenthalben, gewiss auch ein wenig länglich. Doch die Regie setzt überwiegend  auf Tempo, vor allem auf die kraftvolle Aktion des sechsköpfigen Ensembles.

Lüsterne Griffe in dichtem Gedränge. Foto: Birgit Hupfeld

Aufmarsch einer Zombiehorde

Das gruppiert sich in Form kleiner Tableaus, lässt die Glieder zucken und die Gesichter grimassieren. Sie wirken, zusammen mit ihren Stecknadelkopfpupillen, wie der Aufmarsch einer Zombiehorde. Oder wie Ausgeburten der Hölle, die sich bühnenmittig und feuerrot vor uns auftut. Bisweilen erwächst aus diesem Inferno ein massiger Kubus – mal als Podest dienend, mal als Klotz, hinter dem sich Unheil verbirgt, oder als Fläche für allerlei Schweinigeleien.

So jongliert Herbert Fritsch mit de Sades Groteske und setzt sie zugleich, untermalt von elektronisch verzerrten Klängen, unter Spannung. Das Ensemble spielt sich entsprechend die Seele aus dem Leib. Wir sehen ein äußerst homogenes Kollektiv statt solistischer Virtuosität, eine Gruppe, die einzelne Rollen im Rotationsverfahren besetzt. Alle seien sie genannt: Svetlana Belesova, Jele Brückner, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, Ulvi Teke, Jing Xian sowie Julia Myllykangas als Artistin mit einem stummen, verrätselten Prolog und Epilog.

Trotz kleiner kritischer Einwände: Herbert Fritschs Bild- und Bewegungsvokabular gleicht einer faszinierenden Komposition, so skurril wie durchdacht, wiedererkennbar, doch nie vorhersehbar. Er reiht sich ein in die Gruppe von Regisseuren, deren Handschrift unnachahmlich ist: Fritsch, der Schöpfer des ausgeklügelten Hyperventilierens; Robert Wilson, der Prophet des akribisch ausgeformten, gezirkelt kühlen Gesamtkunstwerks; Christoph Marthaler, Anwalt traumverlorener Seelen, die durch trostlose Räume wie in Trance dahingleiten. Keine schlechte Gesellschaft.

Weitere Termine: 31. Dezember 2018 (16 Uhr und 20 Uhr – mit anschließender Silvesterparty); 4., 5., 12., 25. und 26. Januar 2019, 2., 9. und 16. Februar 2019.

Infos: https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/189/die-philosophie-im-boudoir




Die Bewältigung einer Überwältigung – Wagner und Mahler an einem Abend mit dem Mariinsky Orchester und Valery Gergiev

Dirigent Valery Gergiev inmitten seines Orchesters. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Der Mann ist wahnsinnig. Setzt zwei Stücke für einen Konzertabend an, die für sich allein schon wie gewaltige Monolithe im Raum stehen. Platziert den ersten Aufzug aus Richard Wagners „Die Walküre“ neben Gustav Mahlers sechste Sinfonie.

Beide Male geht es um Leben und Tod, insgesamt bald zweieinhalb Stunden lang, geht es also wieder einmal ums Ganze. Das scheint dem Manne am Pult, dem Dirigenten Valery Gergiev, gerade das rechte Maß. Mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg ist er nach Essen gekommen, in die Philharmonie. Es wird ein Abend, der insgesamt beeindruckt, im Einzelnen aber manche Schwäche offenbart. Kein Wunder.

Gergiev wirkt als Dirigent immer ein wenig archaisch. Wie er dasteht mit seinem Zahnstochertaktstock, wenig Körperlichkeit zeigt, nur ab und an einen Einsatz aus den Armen rüttelnd. Manchmal raunt er in sich hinein, zischt oder bläst hörbar die Luft durch die Backen. Von ihm geht eine gewisse Zuchtmeister-Aura aus, die letzthin auch bedeutet, dass seine Disziplin die des Orchesters sein muss. Musizierende „Indianer“ zeigen eben keine Schwächen, sei ein Konzert auch noch so lang. Doch Heldentum ist das eine, die physische Belastbarkeit eines Instrumentalisten die andere Seite der Medaille. Und dann kann schon Mal etwas aus dem Ruder laufen.

So wie im „Walküre“-Aufzug. Der ruppige Streicherbeginn, die Sturm- und Gewittermusik, von höchster Not kündend, wirkt ein wenig holprig und nicht wirklich tief schwarz. Überhaupt scheint Gergiev in erster Linie in Strukturen zu denken, was die zunehmende musikalische Raserei bisweilen ausbremst. Andererseits gönnt sich der Dirigent die feine psychologische Ausdeutung des personellen Beziehungsgeflechts und agiert betont sängerfreundlich. Die wiederum danken es mit klarster Diktion und einem unaufdringlichen Spiel, das die Spannung allein durch Blickkontakte hält.

Anja Kampe (Sieglinde) und Mikhail Vekua (Siegmund), einander noch fremd, im 1. Aufzug von Wagners „Walküre“. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Denn dieser Teil aus Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ handelt nicht zuletzt vom Wiedererkennen. Siegmund flieht vor Feinden und Wetter in Sieglindes Heim. Beide ahnen zunächst, erlangen zunehmend Gewissheit, dass sie einst als Zwillingspaar auseinandergerissen wurden. Die Freude über das Wiedersehen steigert sich zur inzestuösen Liebesbeziehung. Wenn da nur nicht der widerliche Hunding wäre, Sieglindes Gatte durch Zwangsheirat und Siegmunds Todfeind.

Dies alles untermalt Wagner mit rauschhafter Glut und  sehrendem Melos, das sich förmlich beißt mit der archaischen, dunklen Akkordik des Hunding-Motivs. Lyrische Episoden, die von Liebe künden, stehen neben exzessiver Leidenschaft, neben Parlando- und Belcanto-Elementen. Ja, ausdrucksstark und schön darf hier gesungen werden, oder, im Falle Hundings, arg bedrohlich. Das löst Mikhail Petrenko in großer Finsternis ein, wie andererseits die wunderbare Anja Kampe eine Sieglinde gibt, die jugendliche Unbekümmertheit ausstrahlen kann wie auch  die weit gefächerte Emphase. Ihr Sopran ist gut fundiert, blüht herrlich auf, schillert in verführerischen Farben. Nur schade, dass Mikhail Vekua (Siegmund) sich vor allem mit den deutschen Vokalen arg müht. Der Tenor verfügt über jede Menge Metall und Kraft, sucht aber oft sein Heil in der gekünstelten Exaltation, im Affekt.

Sei’s drum: Nach einer guten Stunde dieses emotionalen Aufbegehrens hat das Publikum – und das Orchester – eine Pause redlich verdient. Einige wollen sich das Schwelgen in Wagners Leitmotiven auch nicht zerstören lassen und verzichten auf Mahlers 6. Das ist durchaus nachvollziehbar. Denn es folgen weitere 75 Minuten wild hämmernde Rhythmik, Destruktion und Endzeitstimmung, nur kurz unterbrochen von einer vermeintlichen Idylle, die alsbald schon ins Dramatische abgleitet. Ja, Mahler wollte mit seiner Musik eine Welt zimmern, doch vom puren Paradies war dabei nie die Rede. Schon Schönberg erkannte in der 3. Sinfonie die nackte Seele eines Menschen, „wie eine geheimnisvolle, wilde Landschaft“, mit „grauenerregenden Untiefen“ und „idyllischen Ruheplätzen“.

Am Ende großer Applaus. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Und so ist auch die Nr. 6 ein in musikalische Tableaus gegossener Daseinskampf, der indes in der Katastrophe endet. Zwei wuchtige Hammerschläge im Finale besiegeln das Desaster eines imaginären Helden, zugleich stehen sie für den Zerfall tönender Struktur. Es ist ein Schlagen und ein Toben, Aufjaulen und Zerbröseln im Orchester, dass wir den Wagner vom Beginn des Konzerts nur noch einer fernen Vergangenheit zuordnen wollen.

Fast stoisch allerdings steht Valery Gergiev das alles durch, legt auch hier Strukturen frei, nimmt dem Ganzen jedoch die letzte Entäußerung. Das Orchester gerät konditionell und in puncto Genauigkeit ohnehin an seine Grenzen. Mahlers Raumklangeffekte wollen sich nicht einstellen. Und den wenigen, von Herdenglocken durchtränkten Idyllen, fehlt die Nähe zur Transzendenz, zur Erhabenheit.

Am Ende (natürlich) jede Menge Applaus, doch ein wenig darf sich das Publikum auch selbst feiern. Für die Bewältigung einer Überwältigung.

 

 

 




Was soll uns der Saurier? Christoph Marthaler wagt sich bei der Ruhrtriennale an das Universum von Charles Ives

Berührende Momente und Rätselhaftes: Plötzlich schwebt ein Dino ein. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Berührende Momente und Rätselhaftes: Plötzlich schwebt ein Dino ein. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Am Beginn steht die Erschaffung der Welt. Es klingt ein Klopfen, Zischeln und Hämmern im vielfach geteilten, polyrhythmisch arbeitenden Schlagzeug, als befänden wir uns in einem Maschinenraum. Das an- und abschwellende Werkeln stammt aus Charles Ives’ unvollendeter „Universe Symphony“, die nicht weniger als die Schöpfungsgeschichte, des Menschen Erdendasein und sein Streben nach Erlösung und Erleuchtung umfasst.

Für Christoph Marthaler, den Regisseur der Langsamkeit und Verstörung, sowie für die Ausstatterin Anna Viebrock, die Schöpferin muffiger, verblichener, seelische Leere spiegelnder Interieurs, war Ives’ monumentaler Ansatz reichlich Inspiration, das musikalische Fragment zu einem Gesamtkunstwerk auszuweiten. Entstanden ist eine in ihrer riesenhaften Dimension teils faszinierende, verrätselte, teils langatmige, dramaturgisch äußerst gespreizte Triennale-„Kreation“.

Marthalers Personal rennt und tänzelt, schreit oder schaut stumm. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Sie ist in Bochums Jahrhunderthalle zu erleben, gewissermaßen in einem Maschinenraum vergangener Zeiten. Dort kommt das perkussive Tüfteln langsam zum Ende, aus der Ferne zeichnet ein Orchester feine Ornamente, bis plötzlich eine lärmende Marschkappelle alle Kontemplation ruppig zerstört. Und das elfköpfige Marthaler-Personal, das von einem Zollbeamten nach und nach in die Arena eingelassen wird, quittiert die Klangüberwältigung mit einem säuerlichen „Naja“.

Marthalers Menschen, die diese Welt bevölkern, die musikalisch angereichert ist mit Ives’ Kosmos aus Märschen, Songs, Hymnen und geschichteten polytonalen Orchestereruptionen, wirken wie verlorene Gestalten. Die Utopie des amerikanischen Komponisten von einer seligmachenden Transzendenz wird hier zur Dystopie, in der die Erdenbewohner rennen und kriechen, schreien und flüstern, sich balgen.

Dieses Bewegungsvokabular ist hinreichend bekannt, auch die Langsamkeit und Wiederholungszwänge oder die teils rührenden Versuche, etwas Schönes zu bewerkstelligen. Wenn sich etwa Tanzpaare zu trostvollen Streichquartettklängen finden, aber außer Verrenkungen und Erstarrung nichts zustande bringen.

Einzug der Marsch-Kapelle. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Allenthalben Verstörung, aber auch Faszination: Erstmals wird die Jahrhunderthalle in ihrer vollen Länge und gehörigen Tiefe genutzt und scheint so geradezu prädestiniert für Ives’ (teils verborgene) Klanginseln. Die Akustik jedenfalls wirkt ausgezeichnet, entfaltet sehr präsent die Schichtungen der Musik oder wunderbar knallig die Wucht der Märsche.

Schwieriger wird’s bei der Ausstattung. Die Halle selbst, mit ihren wuchtigen Verstrebungen und der industriellen Patina, ist ja Bühne genug. Da erscheinen Anna Viebrocks riesenlange Festtafel, die ollen Kirchenbänke oder eine kitschverdächtige Brücke doch arg verloren. Besser wirken die Kostüme des Ensembles (auch von Viebrock), irgendwie auf amerikanisch getrimmt, teils wie aus dem Second-Hand-Laden, garantiert völlig unmodern.

Christoph Marthaler, Regisseur der Langsamkeit und der Verstörung. Foto: Edi Szekely

Hier das Offensichtliche, dort manches Rätsel. Was soll uns bloß der Dinosaurier mitten im Spiel? Oder der Mann mit der Tuba, der immer zu spät kommt und nicht mal weiß, zu welchem Orchester er gehört? Dazu viel Gebrabbel und manche Agitation. Das angestrebte Gesamtkunstwerk entpuppt sich als Pasticcio, zerfällt in zähe Inseln.

Am Ende sanfte Streicherharmonie, ein fragendes Fünftonmotiv der Trompete und schnatternde Antwortversuche einiger Holzbläser. Zu Ives’ „The Unanswered Question“ legt Marthalers Personal, das sich zuvor die Seele aus dem Leib gespielt hat, den Kopf auf die Schulter und blickt – ins Nichts.

Der Applaus für die famosen Bochumer Symphoniker unter Titus Engel, für die trefflichen Schlagwerkformationen aus NRW-Musikhochschulen, für Mimen und das Regieteam ist herzlich. Enthusiasmus aber hört sich anders an.

https://www.ruhrtriennale.de

(Der Artikel ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen).

 

 




Das nahezu Unmögliche wagen mit Girl Crazy und Lulu – Barbara Hannigan dirigiert in Dortmund und singt dazu

Barbara Hannigan dirigiert stets ohne Taktstock. Foto: Pascal Amos Rest

Sie dirigiert ohne Taktstock, ihre Arme reichen weit in den Raum hinein, in ständiger, oft rotierender Bewegung, als drehe sie an einem großen, imaginären Klangrad. Ein wenig hemdsärmelig wirkt das bisweilen, doch überwiegt der Eindruck des steten Fließens im Fortgang der Musik, gespeist aus tänzerischer Körpersprache.

Wenn Barbara Hannigan, exzellente Sopranistin und seit 2010 auch Dirigentin, sich der tönenden Emotionalität hingibt, wird ihre Zeichengebung entsprechend ausladender. Gezielte Einsätze für bestimmte Instrumentengruppen müssen dann der Wirkmacht des Ganzen weichen. Der Sinn für Details ist gleichwohl ausgeprägt, wie auch Hannigan bei stark rhythmisierten Passagen verbindlicher führt, mit kleinteiligerer Gestik.

Im Konzerthaus Dortmund hat nun die kanadische Künstlerin mit der Wunderstimme fürs moderne Fach, mit Sinn fürs Wagnis, ohne klassische Dirigierausbildung für sich das Pult zu erobern, das große Staunen entfacht. Weil Barbara Hannigan den Takt vorgibt und gleichzeitig singt, und dies mit einer kessen Selbstverständlichkeit, die an Chuzpe grenzt. Und weil sie, im Falle von George Gershwins „Girl Crazy“-Suite, reichlich Showtalent beweist, um das Publikum von den Stühlen zu holen. Wobei dringend hinzugefügt werden muss, dass das niederländische Orchester namens Ludwig, ein Klangkörper von gehöriger Qualität, daran beherzt mitwirkt.

„Ludwig”, erst 2012 gegründet, hat in seinem Bestreben, mit außergewöhnlichen Programmen, ja ausgefeilten Konzepten den konzertanten Routinebetrieb aufzubrechen, in Hannigan eine risikofreudige Mitstreiterin gefunden. Und so erklingt in Dortmund zunächst „Syrinx“ für Flöte solo von Claude Debussy, Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ in der Streichorchesterfassung sowie die „Lulu“-Suite Alban Bergs, ehe Gershwins vertraute Songs aufblitzen. Freilich: Alle Werke blicken auf Frauengestalten und deren Geschichten in verschiedenster Couleur, wobei es nicht um Nacherzählung, sondern um die Darstellung emotionaler Befindlichkeiten geht. Und am Ende wissen wir, „Girl Crazy“ ist eines von Hannigans markanten Markenzeichen. Ja, ein wenig verrückt wirkt dieser Abend.

Dabei beginnt alles sehr sanft, geschmeidig, wohltuend ruhig. Ingrid Geerlings gestaltet wunderschön, mit langem Atem und in feiner Differenzierung Debussys Flötenstück um die Nymphe Syrinx, die vor den Nachstellungen Pans flieht, sich in ein Schilfrohr verwandeln lässt, das Pan wiederum zur Flöte formt. Die Musik fließt frei, gewinnt an Dringlichkeit, um sich allmählich zu verlieren. Ganz dunkel ist der Saal, um die mythische Wirkung des Klangs zu verstärken. Magisch, bei aufkeimender Helligkeit, gelingt sodann der nahtlose Übergang zu Schönbergs „Verklärter Nacht“.

Singen und dirigieren zugleich: Barbara Hannigan gibt alles. Foto: Pascal Amos Rest

Auch hier sanfter Beginn, mit einer absteigenden Figur, die indes ziemlich finster wirkt. Abrupte dynamische Wechsel, zunehmendes Tempo, bisweilen aggressiv flirrende Tremoli und harsche Klänge geben dem Stück enorme Dramatik. Dann plötzlich lichtet sich die Szenerie, feine Silberfäden ertönen, eine zunehmend (ungebremste) emphatische Stimmung gewinnt die Oberhand.

Schönberg komponierte pure Emotion, noch weit entfernt von seinen 12-Ton-Konstrukten, im Sinne des Dichters Richard Dehmel. Dessen Versvorlage schildert die Beichte einer Frau, die ihrem Geliebten gesteht, von einem Fremden schwanger zu sein. Ihre Angst schwindet indes, als der Geliebte versichert, das Kind wie sein eigenes aufziehen zu wollen. Das Orchester wiederum kann diesen Schwebezustand zwischen Bangen und Hoffen stark umsetzen, wenn auch mit kleinen rhythmischen Schwächen. „Ludwig” schwelgt in satten und fahlen Streicherfarben, der letzte Zauber der Verklärung aber bleibt uns das Ensemble schuldig.

Umso wuchtiger, von elementarer Kraft, tritt es uns, erweitert um Bläser, Harfe und Schlagwerk, mit Bergs „Lulu“-Suite entgegen. Das fünfteilige Extrakt aus der gleichnamigen Oper atmet sowohl hymnische, dekadente Sinnlichkeit als auch die Düsternis des katastrophischen Finales (Lulu wird von Jack the Ripper erstochen). Inmitten das Lied der Lulu, von Barbara Hannigan mit elastischer, höhensicherer Stimme gesungen.

Doch sogleich wird evident, dass singen und dirigieren eine nahezu unmögliche Kombination ist. Die Bewegungen der Frau am Pult wirken unschlüssig in ihrer Mischung aus Orchesterleitung und Rollencharakterisierung. Mit zumindest einer gravierenden Folge: „Ludwig” ist zu laut, die dynamische Balance stimmt nicht. Das gilt auch für die Gershwins-Songs, obwohl Hannigan sich inzwischen mit Mikroport verstärkt hat. Das Ensemble ist einfach zu pompös besetzt. Bergs Suite kommt im übrigen etwas pauschal daher, manche motivische Facette bleibt unterbelichtet, die Eruptionen überwältigen nicht, sind vielmehr demonstrativ wuchtig.

Aber letzthin läuft sowieso alles auf die Gershwin-Show hinaus, mit dem finalen Hit „I got rhythm“. Dann stilisiert sich die singende Dirigentin zur triumphierenden Hollywood-Ikone, die Hand zum Himmel gestreckt. Fixe Rhythmik, Lautstärke und Pose – das hat noch immer gereicht, das Publikum aus der Reserve zu locken.

Ungeachtet dessen ist Barbara Hannigan eine nicht unbedeutende Symbolfigur für die stärker als zuvor ins Bewusstsein rückende Tatsache, dass viele Frauen entschlossen und mit Erfolg Kurs nehmen auf das Pult vor dem Orchester. In Wuppertal ist Julia Jones Chefin, Joana Mallwitz wird Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg, Mirga Grazinyté-Tyla hat jüngst im Konzerthaus Dortmund mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra eine außergewöhnliche „Pastorale“ dirigiert. Um nur eine klitzekleine Auswahl zu nennen.




Spannende Seelenschau bei Kerzenschein – Händels „Giulio Cesare in Egitto“ konzertant in der Essener Philharmonie

Das ausgezeichnete Ensemble Accademia Bizantina hat sich auf die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts spezialisiert. Foto: Giulia Papetti

„Alte Musik bei Kerzenschein“ ist ein über die Jahre gewachsenes und beliebtes Konzertformat der Essener Philharmonie, das vor allem den Kompositionen des Barock ein Podium bietet. Dass Werke zwischen Gregorianik und Renaissance eine eher kleine Rolle in der Programmgestaltung spielen, mag bedauerlich sein. Doch die meisten Spezialensembles, die besonders in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, widmen sich eben vornehmlich der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts.

Wenn dann große Namen wie etwa Cecilia Bartoli, Magdalena Kožená oder Joyce DiDonato sich als Ausgräberinnen barocker Raritäten präsentieren, ist der Zuspruch des Publikums gewiss. Die Sängerinnen, und viele andere mehr, haben gewissermaßen den zweiten Hype um die Barockmusik ausgelöst – nach der ersten großen Welle, die den Pionieren der Originalklangbewegung zu danken ist, wie etwa den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, Christopher Hogwood oder Trevor Pinnock.

In Essens Philharmonie hat nun die „Kerzenschein“-Reihe mit einer der schon seinerzeit beliebtesten Händel-Opern begonnen, dem „Giulio Cesare in Egitto“. Die konzertante Aufführung, in italienischer Sprache mit deutscher Übertitelung, ganz ohne trendige Regieeinsprengsel, geschickt komprimiert auf drei Stunden Spieldauer, entpuppt sich als äußerst spannende, musikalisch ziemlich hochkarätige Angelegenheit.

Die Gesangskunst und mimische, teils auch körperbetonte Gewandtheit der Solisten illustriert disparateste Seelenzustände aufs Feinste. Und die Accademia Bizantina unter Leitung von Ottavio Dantone musiziert auf historischem Instrumentarium so gefühlvoll wie zupackend. Nur gelegentlich vermissen wir den kernigen Impuls, die vorwärtsdrängende Dramatik. Andererseits verfügt das Ensemble über einen sehr homogenen Klang, gibt sich elastisch in der Phrasierung.

Impulsiv in der Rolle des Caesar: Der Countertenor Lawrence Zazzo. Foto: Justin Hyer

Händels Oper, 1724 in London uraufgeführt, erzählt von Julius Caesar, der in Ägypten ein Reich und das Herz der Königin Cleopatra gewinnt. Das können auch ihr intriganter Bruder Tolomeo und dessen willfähriger Lakai Achilla nicht verhindern.

Caesar will den besiegten Feind Pompeo eigentlich großmütig begnadigen, der allerdings von Tolomeo bereits gemeuchelt wurde. Pompeos Frau Cornelia und beider Sohn Sesto schwören blutige Rache. Über drei Akte spannt sich ein dichtes Geflecht aus Drohungen, Kampf, Todessehnsucht – und Liebesschwüren. Händels Figuren sind alles andere als schematisch geformte Charaktere, vielmehr menschliche Wesen mit Stärken und Schwächen.

Entsprechend entgeht die Musik des barocken Meisters jedweder Gleichförmigkeit, keine Arie ist wie die andere, es herrscht die fantasievollste Vielfalt. Sei es, dass Soloinstrumente die menschliche Stimme unterstützen, sei es, dass Rezitative und Arien zu größeren Szenen ausgeweitet werden.

Verzichtet hat Händel hingegen auf den Einsatz von Chören und einkomponierten Exotismen. Würde dieser „Caesar“ auf der Bühne szenisch reduziert gegeben, ohne Ausstattungspomp und Massenaufzüge von Statisten, hätte er als ein solches Kammerspiel durchaus seinen Reiz. Dafür ist die konzertante Essener Aufführung, in der es auf die Agilität der Stimmen, Mimik und Gestik ankommt, jedenfalls kein schlechtes Beispiel.

Emöke Paráth singt die Cleopatra gleichermaßen kokett, stolz und melancholisch. Foto: TUP

Dabei wirkt der Countertenor Lawrence Zazzo in der Titelrolle fast schon zu impulsiv. Andererseits gibt er aufs Schönste den verliebten Schmeichler und findet wunderbar verschattete Töne als ein Zweifler, der weiß, dass auch ein Mächtiger sterblich ist.

Die Sopranistin Emöke Baráth entpuppt sich als so kokette, stolze wie charmante Cleopatra, deren Auftrittsarie einen Hauch von Chanson versprüht. Mit großer Leichtigkeit meistert sich die Koloraturen. Und als Gefangene ihres tyrannischen Bruders Tolomeo formt sie ein ergreifendes Lamento. Den Erzschurken singt Filippo Mineccia, ebenfalls ein Counter, mit überbordender Energie. Ihm zur Seite, mit markantem Bariton, Riccardo Novaro (Achilla).

Auch das Racheduo Sesto/Cornelia ist mit Julie Boulianne/Delphine Galou stark besetzt. Boulianne besticht mit furiosem Mezzo, während Galous Alt zwar ein wenig zu fein klingt, ihre sanften Arien aber durchaus berühren. Mitreißend hingegen die Gestaltung der Rezitative, voller Emotionen. Alles im übrigen zur Begeisterung des Publikums, das jede große Arie lustvoll beklatscht.




Romantischer Zauberklang und impressionistische Fehlfarben – der russische Pianist Arcadi Volodos zu Gast in Essen

Arcadi Volodos, Meister des Klangs und Virtuose. Foto: Marco Borggreve

Arcadi Volodos sahen und hörten wir zuerst im Jahr 2001. Damals eröffnete der russische Pianist die groß angelegte Reihe „The Next Generation“, die der Dortmunder Verleger und Kunstliebhaber Bodo Harenberg ins Leben gerufen hatte. Es war ein gleichermaßen aufregendes wie denkwürdiges Konzert.

Denn da präsentierte sich ein kraftvoll zupackender Virtuose, ein flinker Fingerakrobat, dessen Raserei am Klavier das Publikum taumeln ließ. Volodos, zu jener Zeit 28 Jahre jung, war schon kein gänzlich Unbekannter mehr, doch sein künstlerischer Reifeprozess sollte erst noch folgen. Ja, der Russe zählte gewiss zu jener Generation, die das 21. Jahrhundert pianistisch prägen würden.

Doch Volodos, den findige PR-Strategen sofort als neuen Horowitz anpriesen, war von Beginn an mehr denn ein kraftstrotzender Tastenlöwe. Sein subtiler Klangsinn bestach mindestens genauso, und sein Dortmunder Konzert bestand ja nicht nur aus Liszt’schem Furor, sondern etwa auch aus der Annäherung an Brahms’ Tiefsinn. Fortan jedenfalls wollte Volodos weg vom Effekt, hin zur reflektierenden Deutung.

Wir erlebten den russischen Pianisten dann oft, nicht zuletzt als Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und jetzt wieder in der Essener Philharmonie, in der Reihe „Piano solo“. Er wirkt gelassen, die Musik fließt ihm wie von selbst aus den Fingern, und die vor allem leisen Zauberklänge, die er seinem Instrument entlockt, sind von enormer Sogkraft. Im Saal ist es auffallend still, wenn Volodos im diffusen Dämmerlicht die Melodien modelliert, wenn sich nahezu impressionistische Momente auftun, und das bei Werken von Robert Schumann, Johannes Brahms und Franz Schubert.

So offenkundig also des Solisten Stärke in klangvoller Gestaltungsmacht liegt, so ohrenfällig offenbart sich zugleich seine Schwäche. Volodos kann ein Legato derart verdichten, dass jegliche Trennschärfe verloren geht. In Schumanns „Papillons“ erscheinen diese aparten Charakterstücke als teils martialisch aufgeplusterte Gebilde, exaltiert in ihrer Art, künstlich dramatisiert durch seltsame Tempoverzögerungen. Der kindlich naive Geist, den Schumanns Miniaturen oft prägen, ist vertrieben. Stattdessen spricht hier bereits der ernste, vergrübelte Brahms.

Bei dessen Klavierstücken op. 76 ist Volodos in seinem Element. Der Pianist wühlt sich ins dichte Klanggeflecht dieser Musik hinein, gibt den je vier Capriccios und Intermezzi ihr eigenes dramatisches Gewand, mal extrovertiert, mal ganz intim klingend. Volodos erzählt und reflektiert, hier tatsächlich ohne seinem Hang nachzugeben, sich allzu lang auf Inseln des Klangs zu verlieren. Dann nämlich entstehen jene pointillistisch-impressionistischen Effekte, die im Gefüge der musikalischen Romantik wie Fremdkörper wirken.

Frei davon ist auch Volodos’ Deutung von Schuberts später A-Dur-Sonate nicht. Die oft schlicht gewebten Melodien, ihre vielbeschworenen „himmlischen Längen“ können sich bisweilen nicht in aller Ruhe ausbreiten, wirken klanglich überfrachtet. Nur in zweiten Satz gelingt es dem Interpreten, das stille, kleine Thema als traurige Weise aufklingen zu lassen, im schärfsten Kontrast zur abrupt folgenden, wie improvisiert dahingeworfenen Raserei, kulminierend in hämmernden Schmerzakkorden. Welch’ ein Albtraum!

Am Ende aber, im Rahmen der sechs (!) Zugaben, besinnt sich Arcadi Volodos seiner spieltechnischen Wurzeln. Ernesto Lecuonas „Malagueña“, in des Pianisten Arrangement, sprüht und funkelt, grollt und lodert flammenhell. Zirzensik auf höchstem Niveau – Jubel!

 




Wuchtige Bilder statt Zauber und Geheimnis – Krzysztof Warlikowski deutet „Pelléas et Mélisande“ bei der Triennale

Pelléas (Phillip Addis) und Mélisande (Barbara Hannigan) an der Bar, in Tristesse vereint. Foto: Ben van Duin

Draußen das gewohnte Bild des Bretterbudendorfes – einfache Bauten für Kneipe und Kunst. Hier ein Raum voller Schrott, die Hinterlassenschaften unserer Lebensart. Dort eine vergitterte Werkstatt, alle Elemente akribisch angeordnet. Doch Obacht: Das Neue, das hier geschaffen wird, sind Waffen, also Werkzeuge der Zerstörung.

„The Good, the Bad and the Ugly“ heißt diese Ansiedlung vor der Bochumer Jahrhunderthalle, wieder errichtet vom Atelier Joep van Lieshout zu Johan Simons‘ drittem und letztem Ruhrtriennale-Jahr. Auf Zerfall und Gewalt trifft der Betrachter, van Lieshout proklamierte zum Festivalbeginn das Ende von allem. Um allerdings aus dieser Art Apokalypse einen kreativen Neubeginn abzuleiten. Doch ist dem zu trauen? Drinnen jedenfalls ist es mit dem Optimismus nicht weit her. Zum Finale von Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ beherrschen Tod und Agonie die Szene.

König Arkels Versuch der Aufmunterung, sein Verweis auf die Zukunft, Mélisandes gerade geborene Tochter im Blick, geht ins Leere. Wie überhaupt diese Aufführung in der Jahrhunderthalle geprägt ist von tiefer Tristesse, vom Zerfall einer Familie, von Eifersucht und Wahn. Was fehlt, sind Zauber und Geheimnis, da muss die Regie passen. Nur die Musik spricht davon, mit ätherisch anmutenden Klanggespinsten, prächtig kolorierten Passagen oder durch den bisweilen entrückten Gesang der Mélisande.

Golaud (Leigh Melrose), zerfressen von Eifersucht. Foto: Ben van Duin

Regisseur Krzysztof Warlikowski hingegen setzt auf Spannung, jede Menge Filmbildmacht und teils rohe Gewalt. Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak hat ihm dazu eine zweiteilige Bühne konstruiert, die ebenfalls ein Draußen und Drinnen kennt, einhergehend mit verschiedenen Zeitbezügen. Hier ein großbürgerlicher Raum mit Holzvertäfelungen und einer riesigen, im Halbrund geschwungenen Treppe, dort eine neonhelle Bar, mit Hockern, Tischen, Stühlen, dahinter lauter Waschbecken. Am Tresen und im Waschraum trifft sich das Prekariat der Gegenwart, im vornehmen Haus die königliche Familie nebst Dienerschaft. Lauter einsame Menschen in zerrütteten Verhältnissen, trotz Standesunterschied. Wer mag da an eine schöne Zukunft denken.

Golaud jedenfalls, Enkel des Königs Arkel, hat es hinausgetrieben aus der Schweigsamkeit und Enge des Schlosses, hin zu jener bunten Bar, an der bereits Mélisande hockt. Sie, vom Leben gezeichnet, Kette rauchend, mit langsamen Bewegungen wie von einer Süchtigen. Mag sein, dass sie als Prostituierte arbeitet. Er, zunächst still, ein kraftvoller Typ, mit schwarzem Bart und Haar, alles unter Kontrolle. Sein Jähzorn entlädt sich erst später. Da sitzen sie, wie die verlorenen Gestalten in Edward Hoppers Gemälde „Nighthawks“. Dann nimmt die Geschichte ihren Lauf, und hauchte Mélisande gerade noch ihr waidwundes „Fass mich nicht an!“ in den Raum, verlustiert sie sich auch schon mit Golaud an den Waschtischen.

Das birgt natürlich auch Geheimnis, wirkt aber wie ein schlechter Film. Regisseur Warlikowski setzt noch eins drauf, zeigt Horror-Szenen von Schafen, die geschlachtet werden (Andrzej Wajda: Pilatus und andere) sowie eine Sequenz aus Hitchcocks „Die Vögel“. Die Stoßrichtung ist klar: Mélisande, das Opferlamm, Mélisande, das verängstigte junge Mädchen, vom großen schwarzen Vogel attackiert. Das ist eben niemand anderes als der aufbrausende, bald von Eifersucht zerfressene Golaud.

Er nämlich heiratet seine Eroberung, bringt sie zum Schloss, wo sie auf den scheuen Pelléas trifft. Schnell entwickelt sich eine Seelenverwandtschaft zwischen diesen beiden Wunderlichen. Die Liebe, die daraus erwächst, ist eine keusche zwar, doch der wilde Golaud wittert Ehebruch, demütigt und schlägt seine Frau, ersticht schließlich seinen Halbbruder Pelléas. Am Ende gar stirbt Mélisande an der Geburt ihrer Tochter. Was bleibt, ist Erstarrung.

Mélisande ganz mondän, wie eine Filmdiva. Foto: Ben van Duin

Die Regie findet dazu teils starke, teils blasse Bilder. Als Brunnen, an dem sich Pelléas und Mélisande treffen, muss der Waschraum der Bar herhalten. Die mächtige Treppe wiederum dient als Gewölbe, davor ein schwindelerregender Abgrund sich auftun soll. Beides konstruierte Szenarien ohne große Wirkmacht.

Weit spannender aber wird es, wenn Warlikowski den Blick auf seine Hauptpersonen fokussiert. Allen voran Leigh Melrose als Golaud und Barbara Hannigan als Mélisande. Dann nämlich, wenn dieses ungleiche Paar sich mit Stimmkraft und Spielfreude aufs Äußerste einbringt, entwickelt die Inszenierung ungeheure Sogkraft, wirkt Debussys Musik wie ein schweres Opiat.

Der Bariton von Melrose kann sich so bedrohlich schwarz färben wie seine Gestalt finster ist. Phillip Addis (Pelléas) hingegen geht als Sanftmut in Person durchs Leben, ebenfalls ein Bariton, aber heller timbriert, in den Höhen etwas überreizt. Er ist Opfer wie auch Mélisande, der Hannigan teils leuchtende Farben verleiht, teils sanft dahinschmelzende Leidenstöne. Sie gibt sich mondän im hochherrschaftlichen Ambiente, steht herausfordernd da wie eine stilisierte Freiheitsstatue (in Glitzerkleid, mit Feuerzeug), und bleibt doch zerbrechlich bis zum letzten Atemzug. Und ob all dieses Elends flüchtet sich selbst der gute König Arkel, dem Franz-Josef Selig teils strenge, teils wehmütige Basssolidität verleiht, an die Bar.

Dass aber Debussys Oper in ihrem sanften Fluss, durchsetzt mit mancher Raserei, uns wie ein Narkotikum umringt, in großer Transparenz aufklingend, so schmerzvoll wie schön, ist zuerst den Bochumer Symphonikern zu danken. Sie spielen unter Leitung von Sylvain Cambreling in Bestform, bieten wundersame Farben, eine fein abgestufte Dynamik vom ätherisch Zarten bis hin zum überwältigenden Rausch. Das Ensemble, durch Mikroports leicht verstärkt, fügt sich akustisch prima ein, nur selten kommt es zur Übersteuerung.

Der Beifall ist groß, wenn auch nicht enthusiastisch. Die Regie will nichts weniger als das ganz große Kino, darin die Welt am Abgrund steht. Lust auf kreativen Neubeginn macht das eher nicht.

 

 

 

 




Renaissance und Moderne auf Augenhöhe – Das Chorwerk Ruhr zelebriert bei der Ruhrtriennale die Schönheit des Klangs

Das ChorWerk Ruhr unter Leitung von Florian Helgath mit Axel Portal (Bratsche), Dirk Rothbrust (Schlagzeug) und Sebastian Breuing (Celesta). (Foto: Pedro Malinowski)

Zwischen der Musik des spanischen Renaissance-Meisters Tomás Luis de Victoria und den Werken eines John Cage oder Morton Feldman liegen vier Jahrhunderte. Doch bei aller historischen Distanz sticht ein gemeinsames Merkmal heraus: die Fokussierung auf das Phänomen des Klangs. Auf dessen Spuren hat sich nun, in der Maschinenhalle der Dortmunder Zeche Zollern, das ChorWerk Ruhr begeben; wie stets höchst professionell, intonationsstark, sensibel und äußerst differenziert. „Memoria“ ist das Konzert überschrieben, das im Rahmen der Triennale zu hören war.

Um in Klang geronnene Erinnerungen also geht es, bei de Victoria in Form eines Requiems auf den Tod der habsburgischen Kaiserin Maria (1603). Feldmans „Christian Wolff in Cambridge“ wiederum bezieht sich auf eine zwiefache Begegnung mit seinem Freund (eben Wolff) am exakt gleichen Ort, allerdings im Abstand von 15 Jahren – Feldman konstruierte daraus ein Werk, das ausgedehnte Klangfolgen wiederholt, mit nur leichten Varianten.

Cages „Four2“ mag nicht ganz ins „Memoria“-Raster passen, ist aber ebenfalls ein Stück für Chor a cappella, das zuerst aufs Erleben ruhiger, meditativ anmutender Klangflächen zielt. Der Höreffekt ist verblüffend: vermeintlich alte und neue Musik begegnen sich auf Augenhöhe.

Was nicht heißen soll, dass hier nur statische Tongebilde gewissermaßen zum Aushorchen einladen. Vielmehr liegt in all der Ruhe viel Bewegung, ein steter Fluss charakterisiert die Werke, oder, auf die Moderne bezogen, der kontinuierliche Fortgang.

Das exzellente ChorWerk Ruhr, unter Florian Helgaths umsichtiger Leitung, kostet jede Nuance aus, zelebriert die Schönheit des Klangs und manchmal sogar, bei Feldman und Cage, die tönende Stille. Das Requiem de Victorias andererseits besticht durch seine Wechsel von polyphoner Leuchtkraft und gregorianischer Schlichtheit, darüber die große Melancholie schwebt.

Arbeitet der spanische Altmeister naturgemäß mit einem vorgegebenen Text, setzen die Amerikaner lediglich auf einzelne Buchstabenlaute, oder noch puristischer, auf gesummte Vokalisen. Wie Feldman in „Rothko Chapel“, sein Versuch, mit Stimm- und Instrumentalfarben die großen, satten Farbflächen des Malers Mark Rothko in Klang zu verwandeln. Zum Chor gesellt sich dabei das dunkle Raunen der Bratsche oder die sonnenhell blinkende Celesta. Faszinierend auch die irisierenden Sopranhöhen, die sich aufs Feinste mit den Obertönen der Röhrenglocken mischen. Das mutet bisweilen ein wenig sakral an, ist indes alles andere als pathetisch. Feldmans Werk schreitet sanft, kennt aber auch den energischen Puls, am Ende gar melodisches Aufblühen.

Natürlich bedarf es in dem Riesenraum, der etwa zur Hälfte fürs Konzert genutzt wird, ein wenig der elektronisch-technischen Unterstützung. So wird das Klangerlebnis kompakter, die Atmosphäre der Kontemplation nahezu greifbar.

Ein spannender, bewegender Abend. Auch wenn draußen, von irgendwo her, stampfende, monotone Beats sich einmischen wollen – sie haben keine Chance gegen die tönende Schönheit im Innern.




Ein neuer Opernchef, der nicht Regie führt – Heribert Germeshausen wird 2018 Intendant in Dortmund

Heribert Germeshausen tritt sein Amt als Intendant der Oper Dortmund mit der Saison 2018/19 an. (Foto: Annemone Taake)

Heribert Germeshausen redet schnell. Er wirkt freundlich, energisch, als ein Mensch voller Tatendrang, versehen mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein. Gleichzeitig strahlt der 46Jährige eine nahezu jungenhafte Neugier aus. Wie einer, der sich mit Lust großen Herausforderungen stellt. Dazu hat er jetzt alle Gelegenheit: Germeshausen wird ab der Spielzeit 2018/19 neuer Intendant der Dortmunder Oper. Er erhält, so hat es der Rat der Stadt beschlossen, zunächst einen Fünfjahresvertrag und löst damit Jens-Daniel Herzog ab, der nach Nürnberg wechselt.

Germeshausen also ist bei seinem ersten öffentlichen Auftritt, flankiert von Oberbürgermeister Ullrich Sierau und Kulturdezernent Jörg Stüdemann, kaum zu bremsen. Die neuen Impulse, mit denen er das Musiktheater weiter nach vorn bringen will, seien einerseits struktureller, zum anderen inhaltlicher Art, führt er aus. Dabei sei ihm die Größe des Hauses (mit mehr als 1100 Plätzen) durchaus bewusst. Soll wohl heißen, es bedarf mancher Kraftanstrengung, diesen Raum regelmäßig zu füllen.

Derzeit ist Germeshausen noch Operndirektor in Heidelberg, in einem feinen, aber weit kleineren Theater. Doch es gebe auch Parallelen: Beide Städte hätten in ihrem Umfeld nicht wenig Konkurrenz. Und deshalb gelte es, demnächst also in Dortmund, einen möglichst unverwechselbaren Spielplan zu gestalten.

Darüberhinaus will der neue Mann das Haus noch stärker in der Stadtgesellschaft verwurzeln. „Viele Menschen haben keinen natürlichen Zugang zur Oper“, sagt Germeshausen. Es ist einer von wenigen Standardsätzen, die er bemüht. Allerdings verbindet er diese Erkenntnis mit dem gewiss ehrgeizigen Ziel, ein Publikum anzulocken, das die vielfältige Struktur der Bevölkerung widerspiegelt. Dabei sollen auch neue partizipative Projekte helfen – durch Teilhabe zu mehr Genuss, mag dies übersetzt heißen. Oder doch nur das etwas abgedroschene Oper für alle?

Germeshausen, 1971 in Bad Kreuznach geboren, studierte Jura und Betriebswirtschaft, begann seine Laufbahn als Dramaturg am Theater Koblenz. Später wechselte er in gleicher Funktion nach Bonn; als Opernchef wirkte er in Dessau und zuletzt eben in Heidelberg. Das Dortmunder Haus, so erzählt er, habe er oft besucht, als Christine Mielitz dort noch Intendantin war. Damals allerdings war die Oper, mit Blick auf die Auslastungszahlen, nicht in bester Verfassung. Nun aber will der neue Intendant auf die Konsolidierungsarbeit von Jens-Daniel Herzog weiter aufbauen.

Blick auf das Dortmunder Opernhaus. Foto: Theater Dortmund

Inhaltlich lässt sich Germeshausen wenig in die Karten schauen. Er strebt, wie bisher, acht neue Produktionen pro Saison an, ohne die populären Gattungen Operette und Musical zu vernachlässigen. Die Kooperation der Jungen Oper mit der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg und der Oper Bonn wird fortgesetzt. Insgesamt will Germeshausen seinen Spielplan individuell auf das Dortmunder Haus zuschneiden, mit einem „sehr speziellen Zyklus“, wie er kryptisch hinzufügt. In Heidelberg hat er sich vor allem mit kaum gespielten Barockopern einen Namen gemacht, dieses Projekt sei aber nicht auf das Musiktheater in der Westfalenmetropole übertragbar.

Fest steht, dass der neue Opernchef nicht selbst inszeniert. Und er versichert, die Dortmunder Wagner-Tradition fortzuführen. Zuletzt erklangen „Der fliegende Holländer“, „Tristan und Isolde“ sowie „Tannhäuser“. Will Heribert Germeshausen vielleicht gar einen neuen „Ring“ herausbringen? Wir sind gespannt.

 

 




Bei den Duisburger Akzenten inszeniert Michael Thalheimer Kleists „Penthesilea“ so puristisch wie blutig

Bisse und Küsse – Penthesilea (Constanze Becker) und Achill (Felix Rech) im Liebesspiel. (Foto: Birgit Hupfeld)

Langsam schiebt sich der Vorhang nach oben, langsam gibt er den Blick frei auf die große Schwärze, die sich matt erhellt und einen Bühnenboden offenbart, der schräg und steil in Dreiecksform nach oben ragt. Dort droben, in der Weite des Raumes, hockt ein Paar, verschlungen in blutiger Pietà-Pose. Es ist ein schaurig-schönes, schreckliches Bild, umfangen von Stille – weiter nichts. Es erzählt vom Ende des Achill in den Armen Penthesileas. Es demonstriert zudem die Wirkmacht des Purismus auf dem Theater. Dafür steht, wie wohl kaum ein anderer, der Regisseur Michael Thalheimer. Das karge Bühnenkonstrukt baute Olaf Altmann.

Sprachlicher Ausdruck, Gestik und Mimik beherrschen die Szene. Hier gilt’s der Konzentration auf das Wesentliche. Thalheimer hat „Penthesilea“, Heinrich von Kleists grausame Tragödie, 2015 im Schauspiel Frankfurt (Main) herausgebracht, unter Verwendung der originalen Blankverse. Der Text jedoch erfuhr Kürzungen, die Zahl der Personen ist auf drei geschrumpft. So dass sich alles Geschehen auf Penthesilea (und Achill) fokussieren kann. Was sonst noch fehlt, vermisst kein Mensch: Video, Ausstattungsplunder, aufgekratzte, wichtigtuerische Aktualisierung. Die Deutung war jetzt beim Theatertreffen der Duisburger „Akzente“ zu erleben – ein Glücksfall.

Das Eingangsbild der Inszenierung zeigt das Ende des Dramas, ist Symbol für den grausamen Tod Achills, zerfleischt von der Amazonenkönigin Penthesilea. Wir sehen zwei Kontrahenten, die sich bis aufs Blut bekämpften, denen auf dem Schlachtfeld um Troja nur ein winziges Zeitfenster der Liebe eröffnet wurde. Küsse fielen, aber auch Bisse – sie hatten einander zum Fressen gern. Tragisch nur, dass die Königin am Ende wahnhaft zur Kannibalin wird. Was Wunder, schrieb doch Kleist zu seinem Stück, darin liege „der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele“.

Constanze Becker (Penthesilea) und Josefin Platt (Frau) auf Distanz. Foto: Birgit Hupfeld

Constanze Becker (Penthesilea) und Josefin Platt (Frau) auf Distanz. (Foto: Birgit Hupfeld)

Aus diesem Zustand des Wahns leitet Michael Thalheimer rückblickend die Geschichte der Penthesilea ab, die sich, wie die Mutter es prophezeite, und gegen die Gesetze ihres Volkes, den Achill als Gegner und Opfer aussucht, als Erzeuger ihres Nachwuchses, um des Fortbestandes der Amazonen willen.

Liebe ist hier eigentlich nicht vorgesehen, sondern nur Nutzen: Nach der Zeugung muss der Mann das fremde Land wieder verlassen. Hier jedoch kommt alles anders. Im Kampf bleibt Achill der Sieger, doch Penthesileas Blick hemmt ihn, sie zu töten. Sie erliegt bloß einer Ohnmacht, später wird ihr suggeriert, sie sei die eigentliche Gewinnerin des Duells gewesen. Als der Schwindel aufliegt, schwört sie Rache. Zur finalen Schlacht indes kommt Achill, aus Liebe, nur mit leichter Waffe. Das hat die erwähnten blutigen Folgen. Wie sagt Penthesilea, bevor sie sich den Tod gibt? „So war es ein Versehen. Küsse, Bisse … wer recht von Herzen liebt, kann schon das Eine für das Andre greifen“.

Kleist selbst sah sein Stück, 1808 vollendet, als schwer aufführbar. Er nutzte die Elemente der Mauerschau und des Botenberichts, um von Schlachten zu erzählen, die auf der Bühne nicht zu zeigen waren. In Thalheimers Frankfurter Regie ist dafür vor allem die großartige Josefin Platt zuständig, deren Rolle als „Frau“ bezeichnet wird, die uns den Fortgang der Handlung erläutert, die zugleich Vertraute der Königin und Ratgeberin des Achill ist. Im weißen Gewand wirkt sie würdevoll und beherrscht, nur manchmal scheint sie die Last des Krieges und seiner Umstände niederzudrücken.

Das Anfangs- und Schlussbild, eine blutige Pietà. (Foto: Birgit Hupfeld)

Constanze Becker wiederum changiert als Penthesilea gekonnt zwischen Heldinnenpathos, wahnhafter Verwirrung und somnambuler Zurückhaltung. Ihr gegenüber demonstriert Felix Rech (Achill) kriegerische Kraft, bisweilen aber auch scheue Unterwürfigkeit. Der hohe Ton der Sprache, den das Paar in klarer Diktion zelebriert, hält beide von Lautstärke-Exzessen ab. Selbst Penthesileas Schreie der Verzweiflung sind stilisiert und lenken unser Augenmerk auf die innere Befindlichkeit. So oft auch im Text von Raserei die Rede ist, so oft gibt hier gespenstische Stille den Ton an. Und Thalheimer erweist sich einmal mehr als Meister der Psychologisierung.

Was dem Stück durchaus angemessen ist. Kleists Umgang mit Liebe, Schmerz und Tod, seine Darstellung von im Unterbewusstsein lodernden Leidenschaften, die sich den Weg auf die Ebene des Handelns bahnen, sowie Kleists Zeichnung zweier Liebender, die jegliche Staatsräson außer Acht lassen, war im preußischen Biedermeier des angehenden 19. Jahrhunderts ungeheuer modern.

Die Uraufführung der „Penthesilea“, die also bereits auf die Themen der Psychoanalyse verweist, fand denn auch erst 1876 statt. Aber sie hat bis heute ihre Kraft nicht verloren. Michael Thalheimers grandiose Regie diente dabei der Profilschärfung.




Große Bekenntnismusik – das Quatuor Danel interpretiert Streichquartette von Weinberg und Schostakowitsch

Das belgische Quatuor Danel besticht durch äußerst subtiles Spiel. (Foto: Ant Clausen)

Im vergangenen Jahr feierte das belgische Quatuor Danel sein 25jähriges Bestehen. Längst ist es auf vielen Podien der Welt zu Gast, doch noch immer gilt dieses Streichquartett als Geheimtipp, zumindest in unseren Breiten. Das sollte sich dringend ändern: Marc Danel und Gilles Millet (1./2. Violine), Vlad Bogdanas (Bratsche) und Yovan Markovitch (Cello) sind in ihrem subtilen, expressiven und hoch konzentrierten Spiel ein fabelhaftes Ensemble. Das hat jetzt ihr Auftritt im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier (MiR), mit Werken von Mieczyslaw Weinberg und Dmitrij Schostakowitsch, aufs Eindrucksvollste bewiesen.

Der Abend gehört zum attraktiven, sehr umfangreichen Begleitprogramm, das sich um die Aufführung von Weinbergs Oper „Die Passagierin“ rankt. Das musikalische Drama um eine ehemalige KZ-Aufseherin, die auf einer Schiffsreise nach Südamerika einem ihrer ehemaligen Opfer begegnet, wurde im Januar von Gabriele Rech bewegend in Szene gesetzt.

Doch der Pole Weinberg, dessen Familie im Holocaust umkam, und der selbst schon 1939 in die Sowjetunion emigrierte, hat unendlich viel mehr komponiert als diese Oper, darunter allein 17 Streichquartette. Das Bestreben des MiR, dieses Œuvre zumindest ein wenig aufzufächern, ist dem Haus hoch anzurechnen.

Mit dem Quatuor Danel hat man vier Experten eingeladen, die sowohl alle Streichquartette von Schostakowitsch als auch von Weinberg eingespielt haben. Beide Komponisten verband eine innige Freundschaft, das Werk des jüngeren Polen verweist im übrigen nicht selten auf die Musik des Russen.

Doch von bloßer Apologetik kann keine Rede sein, das zeigt die Programmauswahl des Abends: Weinbergs 5. und 16. Quartett umrahmen das 10. von Schostakowitsch. Ähnlichkeiten sind natürlich unüberhörbar, aber jeder pflegt doch seine eigene „Sprache“. En détail kitzelt das Quatuor Danel die jeweilige Idiomatik so präzis wie lustvoll heraus.

Weinberg schrieb sein 5. Quartett 1945. Das fünfsätzige Werk kommt oft in karger Faktur daher, der Beginn etwa (Melodia) oder die „Improvisation“ wird überwiegend von der 1. Violine intoniert. Es ist eine ganz eigene, etwas verhangene lyrische Intimität, die so entsteht, ein bittersüßer Tonfall, der ohnehin wesentliches Merkmal von Weinbergs Musik ist. Marc Danel gestaltet diese Solostellen betörend schön und intensiv, seine Mitstreiter, vor allem Cellist Yovan Markovitch, steuern wunderbare Klangflächen oder delikate Gegenstimmen bei.

Andererseits können diese vier Streicher durchaus zupacken, das Scherzo des 5. Quartetts wird so an Schostakowitschs Sarkasmus herangerückt. Gleichwohl bleibt die Distanz: Bei Weinberg regiert eher der subtile Spott. Und die Interpretation des Quatuor Danel lässt mehr an die robusten Attacken Beethovens denken. Die vier Musiker legen dabei bisweilen einen geradezu stoischen Zugriff an den Tag – sehr wirkmächtig ist das, gar nicht mechanisch.

Noch intensiver gerät die Deutung von Weinbergs Streichquartett Nr. 16, komponiert 1981, zum Andenken seiner im KZ ermordeten Schwester. Fahle Klänge wechseln mit wild herausfahrenden, dissonanten Passagen, die mitunter wie ein Aufbäumen wirken. Die Elegie des 3. Satzes atmet Trauer und Schmerz, das Finale gleicht einem zärtlich ummantelten Totentanz. Neben dem jüdischen Idiom, das dieses Werk durchzieht, fällt zudem die Nähe zu Bartók auf.

Beide Weinberg-Stücke umschließen Schostakowitsch 10. Quartett, das der Russe seinem jüngeren Freund gewidmet hat. Es beginnt eher verhalten, das Staccato-Thema erfährt einige Varianten ohne wirkliche Entwicklung, und nur die gespenstisch enervierenden Repetitionen lassen Unruhe ahnen. Die bricht im Allegretto furios, energisch, mit schroffen Akzenten heraus, im scharfen Kontrast zur Klage des 3. Satzes mit seinen fahlen, wie weltverlorenen Klangmischungen. Das Finale greift auf vorherige Motive zurück, verliert zunehmend an Dichte, und wo eben noch Rausch, herrscht letztlich das karge Verlöschen.

So zelebriert das Quatuor Danel einen Abend mit facettenreicher Bekenntnismusik. Das ist so spannend wie herzergreifend, in keinem Falle aber sentimental. Ein außerordentliches Konzert.

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Nächstes Ereignis des Weinberg-Programms am MiR ist ein Gesprächskonzert mit dem Geiger Linus Roth und dem Pianisten José Gallardo am 26. März 2017 im Kleinen Haus (18 Uhr). Es erklingen wiederum Werke von Weinberg und Schostakowitsch. Info unter www.musiktheater-im-revier.de




Zwischen Abstraktion und „Was wäre wenn“: Gelsenkirchen stemmt „Tristan und Isolde“ mehr als achtbar

Liebeserkenntnis vor Schiffssegel: Szene aus dem 1. Akt „Tristan und Isolde“. (Foto: Karl Forster)

Bei „Tristan und Isolde“ sitzen wir in der ersten Reihe. Das ist mal eine ganz neue Erfahrung. Weil die Dynamik der Musik, sei es in Form des Orchesterklangs oder der sängerischen Gestaltungskraft, sich doch sehr unmittelbar entfaltet. Und weil der Blick für mimische Details, für Facetten der Bühnengestaltung, ein schärferer ist. So entpuppt sich der Platz hier, im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR), als keineswegs schlechtes Zugeständnis. Fast wähnen wir uns inmitten des Geschehens – still beobachtend, vor allem aber gepackt von der Sogkraft des oft ungezähmten wagnerschen Sehnsuchtstons.

Im Vorspiel entwickelt sich das langsam; unaufgelöste Dissonanzen, schwebende Harmonien gehen erst nach und nach in melodischen Fluss über. Schon hier stellt sich die Frage nach der Intensität, und für die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann gilt, dass sie sich etwas gemächlich einschwingt, das Farbspiel der Streicher dabei genussvoll auffächert, um schließlich zu hoher Expressivität zu gelangen.

Später dann, wenn sich dieses Drama der Liebe, des Verrats und der Todessehnsucht verdichtet, wenn die Musik in Ekstase gerät, gibt sich das Orchester diesem Taumel nahezu hemmungslos hin. Im 3. Akt hingegen, wo zunächst die dunkel-schroffen, ja schrundigen Töne herrschen, Ödnis und Leere illustrierend, bleibt die hypnotische Wirkung eher aus, wenn auch die Hirtenklage des Englisch Horns die Szenerie wirkmächtig unterstreicht.

Dennoch: Mitgerissen werden wir allemal. Am stärksten sogar vom Orchesterklang, aber auch von den Solisten. Hier darf das MiR durchaus stolz sein. Mit Torsten Kerl, ein Gelsenkirchener Junge, und der Britin Catherine Foster als Tristan und Isolde wurden international erfolgreiche Solisten verpflichtet, die nicht zuletzt in Bayreuth reüssieren. Beide singen bewegend, überwiegend klar in der Diktion, geschickt haushaltend mit ihren Kräften über die drei Akte hinweg, ohne Scheu, sich zu entäußern, aber auch in lyrisch zartem Ton. Kerl gestaltet mit seinem tief timbrierten Tenor die Mezzopianopartien allerdings ein wenig brüchig, unbestechlich dagegen die leidenschaftlichen Höhen seiner metallglänzenden Stimme. Lust und Schmerz, Eros und Thanatos liegen da ganz eng beieinander, gleißend hell sind bisweilen seine Fiebertöne im 3. Akt.

Selbstbefragung eines liebenden Paares im Spiegel. Torsten Kerl und Catherine Foster im 2. „Tristan“-Akt. (Foto: Karl Forster)

Foster wiederum wirkt insgesamt kontrollierter, in der tiefen Lage muss sie sich erst freisingen, sonst aber leuchtet diese Isolden-Stimme in schönstem Glanz. Nur am Ende, im berühmten Liebestod, bleibt sie uns manches an Transzendenz schuldig. Ja, wir sind geneigt zu sagen „Plötzlich geht alles ganz schnell“. Was wohl daher kommt, dass anderes ungemein statisch wirkt. Dies aber führt uns auf die Spur der Inszenierung, die MiR-Intendant Michael Schulz verantwortet. Sie ist offenbar geprägt von der Idee, dass Wagners Etikett „Handlung mit Musik“ nicht wirklich zutrifft. Weil das Changieren und Reflektieren seelischer Befindlichkeiten den dürren Fortgang des Geschehens bei weitem überstrahlt.

Zum anderen aber scheint sich die Regie der Überlegung „Was wären wenn…“ hinzugeben: Tristan und Isolde als rechtmäßiges Paar. Beide Ansätze haben Konsequenzen für die Bühnengestaltung und Personenführung – letzthin stehen diese Sichtweisen sich im Weg. Und sollen doch im Liebestod verschmelzen – Isolde, im weißen Gewand wie eine würdevolle Priesterin, Isolde aber auch, eine Frau, die verzweifelt und fast appellativ ihr „…wie er lächelt…Freunde…seht ihr es nicht?“ an uns richtet. Diesem Ende wohnt kein Zauber inne.

Wie auch die groß angelegte Liebesnacht-Szene des 2. Aktes ihre Wunderkraft verliert, weil eben hier der Regisseur das „Was wäre wenn…“ optisch ausreizt, indem er Tristan und Isolde in ein Haus schickt, dessen Zimmer sich labyrinthisch verzweigen. Kathrin-Susann Brose hat das Gebäude auf die Drehbühne gestellt – nicht der unendliche Raum einer Liebe bis zum Tod wird vermessen, sondern das Paar begegnet sich selbst als real Liebende. Und nebenan spielen die Kinderlein mit Plüschtieren.

Isolde als Fantasiebild des tödlich verwundeten Tristan. Szene aus dem 3. Akt. (Foto: Karl Forster)

Solcherart Umdeutung ist gewagt und wirkt auch nicht zwingend. Doch Schulz und seine Ausstatterin bevorzugen offenbar das (groß)-bürgerliche Milieu, davon zeugt auch der Raum im Schiffsbau des 1. Aktes mit seinen Kolonialstil-Intarsien, sehr detailverliebt eingerichtet.

Erst am Schluss, wenn der totverwundete Tristan auf einem riesigen, kunstvoll drapierten Stoff dahinsiecht, ist, als krasser Gegensatz, die totale Abstraktion erreicht. Folgerichtig gerinnt der Kampf zwischen Tristans Getreuen und dem Gefolge des betrogenen Königs Marke zu einem stilisierten Schattenspiel. Es ist im Grunde die stärkste Szene dieser Inszenierung.

Nicht zuletzt sei gesagt, dass neben Torsten Kerl und Catherine Foster das hauseigene Ensemble nebst Chor oft zu beeindrucken versteht. Almuth Herbst (Brangäne) als sanft sich sorgende Vertraute der Isolde, die in lyrischer Emphase sehr ausgeglichen singt, ist eine Entdeckung für die Rolle. Urban Malmberg (Kurwenal) aber gestaltet die Partie bisweilen gewollt kraftvoll, nicht ohne raue Untertöne. Und Phillip Ens’ König Marke hat oft Probleme mit der Fokussierung.

„Nehmt alles nur in allem“: Das MiR hat sich einer großen Herausforderung, das sind Wagneropern immer, mehr als achtbar gestellt. Die Karten für diesen „Tristan“ sind äußerst gefragt, für manche Vorstellung gibt’s nur noch freie Plätze unterm Dach.

Das Gelsenkirchener Haus ist in der Stadtgesellschaft und in der Politik wunderbar verankert, nicht zuletzt dank der interessanten Repertoireauswahl des Intendanten Michael Schulz. Wo sonst sitzt der Oberbürgermeister, wie hier Frank Baranowski, in jeder Premiere des Theaters? Es muss auch gar nicht die erste Reihe sein.

Infos: https://musiktheater-im-revier.de/Start/#!/de/




Ein warmer, tragender Klang: Der Kammermusiksaal des Musikforums Bochum ist ein Glücksfall

Das „Viktoria Quartett“ mit Philipp Willerding-Bach, Jiwon Kim, Aliaksandr Senazhenski und Esiona Stefani (v.l.n.r.). (Foto: Christoph Fein)

Streichquartett-Abende sind immer einen Besuch wert. Darf sich das geneigte Publikum doch gewissermaßen auf einem Olymp der Kunst wähnen. Hier wird die reine Vierstimmigkeit zelebriert, geht es mithin um nicht weniger als die Königsgattung der Kammermusik.

Kein Komponist, der was auf sich hielt oder hält, der nicht für Streichquartett schrieb oder schreibt. Von Haydn und Vorläufern bis hin zu Wolfgang Rihm und Jüngeren – kaum ein Kanon kommt ohne Werke für die Kombination von zwei Geigen, Bratsche und Cello aus.

Was Wunder: Der große Goethe hat dazu, ganz im Geiste der Aufklärung, seinen Segen gegeben. „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“ Da ist es zudem wenig verwunderlich, dass bis heute immer wieder neue Streichquartett-Ensembles sich der Herausforderung des rationalen musikalischen Gesprächs stellen wollen.

Bei den Bochumer Symphonikern haben sich im Laufe der Zeit zwei entsprechende Formationen gebildet. Zunächst „Bermuda4“ und später, genauer gesagt vor etwa drei Jahren, das „Viktoria Quartett“. Beide haben für diese Saison eine eigene Reihe eingerichtet. Allein, aktuell gestaltet ausschließlich das „Viktoria Quartett“ die Konzerte, „Bermuda4“ befindet sich in einer Phase der Neuorientierung. Selbstreflexionen dieser Art sind beileibe nichts Ungewöhnliches, auch berühmte Ensembles sind davor nicht gefeit. Über Binnenspannungen im Quartettbetrieb wurden schon Bücher geschrieben – und es bleibt nur der Wunsch, dass sich am Ende alles wieder aufs Beste einrenkt.

Nun also: Das „Viktoria Quartett“ hat den dritten Abend der Reihe übernommen, das wohl kurzfristig zusammengestellte Programm weist Prokofjews 1. (op. 50) und Beethovens 4. Quartett (aus op. 18) aus. Für uns ist es im übrigen die erste Gelegenheit, den Kammermusiksaal des neuen Bochumer Musikforums zu testen. Und es sei gesagt: Das Hörerlebnis ist außerordentlich.

Der Klang umfängt das Publikum mit angenehmer Wärme, wer die Augen schließt, mag kaum glauben, dass alle Töne doch von vorn kommen. Dazu verhelfen die reflektierenden Flächen der Seitenwände, wie andererseits zwei raumhohe schwere Vorhänge die prinzipiell trockene Akustik abmildern. Gleichwohl wird jede noch so filigrane Klangnuance bis in die hinterste Reihe getragen. Selbst das leiseste Pianissimo findet in kristalliner Klarheit jedes Ohr. Andererseits: Dissonante Schärfen, wie sie Prokofjew oft genug vorschreibt, versagen sich in hoher Lage jedes Klirren. Diese kleine Schuhschachtel, maximal auf 325 Plätze ausgerichtet, ist für Kammermusiker ein Glücksfall.

Gleichzeitig jedoch eine Herausforderung. Wo nichts ungehört bleibt, ist Präzision gefragt. Das fängt bei der Intonation an, ist in Sachen Tongebung von Bedeutung, betrifft nicht zuletzt die Kunst des Zusammenspiels. Der rationale Diskurs ist das eine, das konzentrierte Hören aufeinander die andere Seite der musikalischen Medaille. Wie schön, dass sich das „Viktoria Quartett“ als Organismus präsentiert, dessen Solisten nie in den Vordergrund drängen. Interessant ist vielmehr, dass kaum eine Führungsrolle auszumachen ist. Esiona Stefani (1. Violine), Jiwon Kim (2. Violine), Aliaksandr Senazhenski (Viola) und Philipp Willerding-Bach (Violoncello) verstehen einander ziemlich gut, intonieren äußerst sauber, nur hier und da fehlt es an präziser Tonfokussierung.

Bei Prokofjew gelingt die Balance zwischen akzentuierter Motorik und stimmungsvollem Legato-Ton überzeugend. Das Spiel des Quartetts ist energiegeladen, zielt aber vor allem auf die expressive Ausgestaltung des Finales, einem Lamento von erheblicher Dramatik. Beethovens Werk wiederum hätte insgesamt mehr Biss verdient, andererseits wird die Modernität des Stückes (frühe Anklänge an die Romantik) fein herausgearbeitet. Ja, der Besuch dieses Konzerts hat sich gelohnt.

 




Gewagt, gewonnen: Die Essener Philharmoniker glänzen mit Josef Suks Trauersinfonie „Asrael“

Das Böhmische Streichquartett mit Josef Sue, 2. Violine (2.v.l.). Eine Zeichnung von Hugo Boettinger (1907).

Das Böhmische Streichquartett mit Josef Suk, 2. Violine (2.v.l.). Eine Zeichnung von Hugo Boettinger (1907).

Es gibt sie zuhauf, die Kleinmeister unter den Komponisten. Nicht einmal unbekannt und zu ihren Zeiten oft durchaus beliebt, konnten sie letztlich nicht heraustreten aus dem Schatten der Großen. Bei Josef Suk (1874-1935) aber ist das anders, komplizierter.

Der Tscheche ist ein Meister seines Fachs, doch umfassende Popularität war und ist seinem Werk bis heute nicht vergönnt. Mancher kennt ihn wohl als Schwiegersohn Antonín Dvořáks, Zeitgenossen schätzten Suk als hervorragenden Geiger – im Böhmischen Streichquartett spielte er die 2. Violine. Doch „Asrael“, Suks Sinfonie für großes Orchester, einer dieser Monolithen der Musikgeschichte, ist eine absolute Repertoire-Rarität. Es gibt einige CD-Einspielungen, das Werk im Konzert zu erleben, ist jedoch kaum einmal möglich.

Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, ist gern auf außergewöhnlichen Repertoire-Pfaden unterwegs. Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, ist gern auf außergewöhnlichen Repertoire-Pfaden unterwegs. Foto: Hamza Saad

Doch Tomáš Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, unermüdlich darin, die slawische (tschechische, böhmische) Musik in Oper und Konzertbetrieb als „neue Farbe“ zu verankern, ist das Wagnis eingegangen, „Asrael“ ins Programm zu nehmen. Gekoppelt mit Dvořáks beliebtem Cellokonzert, wird dieser Abend zum Erlebnis. Das Publikum hat den gewaltigen sinfonischen Brocken Suks mit heftigem, wenn auch kurzem Beifall aufgenommen. Das ist für Werk und Interpreten ein mordsmäßiger Erfolg – das fünfsätzige Stück durchzieht eine überaus komplexe Polyphonie, klingt modern trotz seiner Verankerung in der sinfonischen Tradition des 19. Jahrhunderts, entpuppt sich zudem als gewaltige Trauermusik.

Die abgrundtiefe Schwärze dieser Sinfonie, das bis zur Hysterie reichende Wüten der Welt, Todesmotiv und Trauermarsch, Hymnus und wild dreinfahrende Rhythmen, schließlich ein erlösender Choral, von Vogelstimmen geprägt und im Pianissimo entschwindend – all dies ist auf einen brutalen Schicksalsschlag in Suks Leben zurückzuführen. Denn nicht nur starb 1904 sein Schwiegervater Dvořák, sondern einige Monate später auch Suks Frau Otylka. „Asrael“, benannt nach dem Todesengel sowohl der mohammedanischen als auch der jüdischen Mythologie, geriet zum Requiem, das sich der Komponist in betäubender Trauer abringen musste.

"Der Todesengel". Gemälde von Evelyn de Morgan ()

„Der Todesengel“. Gemälde von Evelyn de Morgan (1881).

Über eine Stunde währt dieses gewaltige Lamento, nur von wenigen lichten Momenten aufgehellt. Doch so kompakt die emotionale Seite des Stückes wirkt, so übersichtlich ist die formale Gliederung. Suks Bekenntnismusik kreist nicht um sich selbst, hat also gewissermaßen Hand und Fuß. Mag auch die eine oder andere Steigerung das Plakative streifen, ist der Sinfonie doch ein ganz eigener Ton zu bescheinigen. Mit Mahler, wie oft geschrieben, hat das wenig zu tun, Dvořáks Sprache wiederum spiegelt sich lediglich in einigen Zitaten (aus dem Requiem, aus „Rusalka“). Und doch: „Asrael“ ist trotz aller Originalität kein Schlüsselwerk der Musikgeschichte.

Aber wie dem auch sei: Der Einsatz der Essener Philharmoniker für das Stück, die emotionale Hingabe des Orchesters, die Durchhörbarkeit des polyphonen Geflechts und das packend dramatische Spiel sind aller Ehren wert. Da ist nichts dem Zufall überlassen, eins greift ins andere, plötzliche dynamische oder rhythmische Wechsel sind sauber ausgearbeitet. Suks Sinfonie hat offensichtlich das Orchester zur Glanzleistung motiviert.

Zu berichten ist jedoch auch über einen glanzvoll musizierenden jungen Cellisten namens Narek Nakhnazaryan, der 2011 den Tschaikowski-Wettbewerb gewann und damit den Grundstein für seine Karriere legte. Hierzulande eher wenig bekannt, aber auf internationalem Konzertparkett schon sehr gefragt, überzeugt der armenische Künstler mit technischer Reife und blitzsauberer Intonation. Dvořáks Cellokonzert geht er zunächst ziemlich robust an – da scheint der Stil seines Mentors Rostropowitsch aufzublitzen.

Der Cellist Narek Hakhnazaryan. Foto: Marco Borggreve

Der Cellist Narek Hakhnazaryan. Foto: Marco Borggreve

Nakhnazaryan pflegt aber auch die expressive Lyrik und die zarten Nuancen. Der Ton seines Cellos mag nicht riesengroß sein, entwickelt jedoch beeindruckenden Ausdruck. Die dramatische Fallhöhe des Stücks loten Orchester und Solist gekonnt aus. Wie ein Draufgänger wirkt der Cellist, der sich gleichwohl Grenzen setzt. Überschwang ist nicht alles, auf die Feinheiten kommt es an. Davon hat Nakhnazaryan eine Menge zu bieten – wie entrückt scheint er dann in die Musik einzutauchen.

Eine große Kadenz, zum Beweis seiner außergewöhnlichen Virtuosität, bleibt ihm mit diesem Werk indes verwehrt. Doch die Zugabe, das Lamentatio des zeitgenössischen italienischen Komponisten Giovanni Sollima, eröffnet dem Solisten alle Möglichkeiten. Doppelgriffe formen eine Trauermelodie, von Vokalisen des Cellisten unterstützt, sie geht über in furiose Raserei und mündet in eine Art Tangorhythmus.

Danach großer Jubel. Es ist der Beifall eines Publikums, das den Weg Tomáš Netopils in Richtung des slawischen Repertoires beherzt mitgeht. Die Philharmonie in Essen war jedenfalls bei diesem 3. Sinfoniekonzert prall gefüllt. Dass Netopil, der vor drei Jahren in die großen Fußstapfen eines Stefan Soltesz trat, inzwischen einen Vertrag hat, der bis 2023 reicht, ist das richtige Signal. Und, mit Verlaub: Die Essener Philharmoniker sind als Konzertorchester noch besser geworden.

 

 




Das neue Zuhause der Bochumer Symphoniker ist ein spektakuläres Bau-Ensemble

Blick auf die Außenseite des Musikforums. In dem länglichen Gebäude findet sich der große Saal. Foto: -n

Blick auf die Außenseite des Musikforums. In dem länglichen Gebäude findet sich der große Saal. Foto: -n

Das Erstaunen ist groß, schon der erste Eindruck nimmt uns gefangen. Denn dieses dreiteilige Bauensemble, wie es sich aneinanderschmiegt im Herzen der Bochumer Innenstadt, ganz nah am Bermuda3Eck, ist so außergewöhnlich wie wohl einzigartig. Weil hier das geneigte Publikum den großen Konzertsaal links oder den multifunktionalen Kammermusiksaal rechts durch eine mittig gelegene Kirche erreicht. Willkommen also im nigelnagelneuen Anneliese Brost Musikforum Ruhr, der ersten eigenen Spielstätte der Bochumer Symphoniker.

Die Kombination mit der Kirche, St. Marien, ist ein Coup. Bereits 2002 wurde sie profaniert, sie dämmerte vor sich hin, verkam, es drohte der Abriss. Doch die nun realisierte Lösung, durchgesetzt nach zähem Ringen, entpuppt sich als der pure Glücksfall. Die Bauten strahlen Harmonie aus, in ihrer Länge bilden sie, parallel zur Viktoriastraße, eine Linie, denn die neuen Gebäude reichen nicht höher als die Traufe des einstmaligen Gotteshauses. Nur der Kirchturm überragt alles. In seinem Innern hängt noch eine der alten Gussstahlglocken, auf b gestimmt. Ein herrlich warm klingender Pausengong – die Blicke wandern anerkennend nach oben.

Die Kirchenglocke als Pausengong. Foto: -n

Die Kirchenglocke als Pausengong. Foto: -n

Dabei gibt sich der Kirchenraum selbst in strahlendem Weiß, und mancher mag damit im ersten Moment Kälte assoziieren. Doch weit gefehlt: Das helle Licht blendet an keiner Stelle, die kirschbaumfarbenen Möbel von Garderobe, Bar und Kartenverkaufsstand fangen das Weiß geschickt auf. Große Türen links und rechts führen schließlich über ein Zwischenfoyer zur jeweiligen Spielstätte. Und auch hier: ein Gefühl von Wärme und Behaglichkeit macht sich breit.

Der große Saal: Prinzip Schuhschachtel, aber durch einige Rundungen ist die Kastenform geschickt aufgelockert. Exakt 964 Menschen finden hier Platz, auf cremefarbenen Sitzen im Parkett und Hochparkett, auf zwei Emporen sowie auf zwei Galerien, die sich links und rechts längs des Raumes befinden. Wieder dominiert das Holz der amerikanischen Kirsche den Blick, oben fallen fünf helle, geschwungene Akustiksegel ebenso auf wie eine luftig konstruierte Mikadodecke, über der sich indes noch allerlei Technik verbirgt. Nett wirken einige „Gardinen“ an den Saalwänden, sie dienen allerdings der Akustik und versagen sich damit jeder ästhetischen Debatte.

Zum kleinen Saal sei gesagt, dass er maximal 324 Plätze fasst, aber auch in mehrere kompakte Raummodule umgewandelt werden kann. Hier soll vor allem die Bochumer Musikschule eine weitere Wirkungsstätte finden, die mit mehr als 10.000 Studierenden eine der größten Deutschlands ist. Die Bochumer Symphoniker wiederum geben hier Kammermusikabende oder Kinder-, Jugend- und Familienkonzerte. Nicht zuletzt ist der Kirchenraum selbst Spielstätte, etwa für kleine Jazzkonzerte oder Lesungen.

Steven Sloane, seit 1994 Chef der Bochumer Symphoniker. Auch sein beharrlicher Einsatz war Garant für die Realisierung der neuen Spielstätte. Foto: Christopher Fein

Steven Sloane, seit 1994 Chef der Bochumer Symphoniker. Auch sein beharrlicher Einsatz war Garant für die Realisierung der neuen Spielstätte. Foto: Christopher Fein

So ist es also geschafft. Die Bochumer Symphoniker, die 2019 ihren 100. Geburtstag feiern können, haben endlich ein eigenes Zuhause. Und es ist nur gut, dass sich dieses Heim mitten in der Stadt befindet. Die zeitweilig ernsthaft diskutierte Alternative, ein Neubau nahe der Jahrhunderthalle, wirkt rückblickend geradezu bizarr. Hier ins Zentrum gehört dieses „Musikforum“, das den Namen der einstigen Verlegerin Anneliese Brost trägt, deren Stiftung das Haus mitfinanziert hat. Wozu zu sagen ist: Ohne die unermüdliche Kärrnerarbeit von Steven Sloane – Chef des Orchesters seit 1994 und bis mindestens 2020 – und ohne das breite finanzielle Engagement von mehr als 20 000 Spendern, zumeist Bochumer Bürgern, wäre das Projekt wohl kaum geglückt.

Das Haus mit Leben zu füllen, über den euphorischen Beginn der Eröffnungswoche hinaus, ist nun die nächste Herausforderung. Immerhin: Der Run auf die Abos dieser Saison ist groß. Und nach 17 Jahren einer teils hitzigen, teils sich im Kreis drehenden Debatte über Pläne, Standorte, Kosten und Nutzen scheint alles Kommende eine Kleinigkeit. Nun gilt’s der Kunst.




Nichts als Überraschungen: Das Scala-Orchester mit starkem Auftritt im Konzerthaus Dortmund

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Scala-Orchester. Foto: Petra Coddington

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Orchestra Filarmonica Della Scala. Foto: Petra Coddington

Impressionen eines Konzertes, die, so dahingewürfelt, seltsam klingen mögen. Doch gemach: Die Symbolkraft und Besonderheit der Beobachtungen wird sich alsbald erschließen. Also halten wir fest, dass Daniil Trifonov jetzt Vollbart trägt, dass die Zugabe dieses spannenden Nachmittages ein zeitgenössisches Stück ist – der Komponist sitzt im Saal – und dass Schumanns Musik teils wie von Fieber geschüttelt, teils ungewohnt introvertiert klingt.

Wir hätten das so nicht erwartet, bei diesem Gastspiel des Mailänder Orchestra Filarmonica Della Scala in Dortmunds Konzerthaus, am Pult der Chefdirigent, Riccardo Chailly. Andererseits gehört es ja zur Philosophie der Dortmunder Veranstalter, dem Publikum immer aufs Neue scheinbar Bekanntes im veränderten Klanggewand zu präsentieren. „Raus aus deinen Hörgewohnheiten“ ist das Motto. Nun, in diesem Konzert mit Schumanns „Manfred“-Ouvertüre, dem Klavierkonzert und seiner 2. Sinfonie ist das auf Eindrucksvollste gelungen. Nichts als Überraschungen, wohin sich Aug’ und Ohr auch wenden.

Beginnen wir mit dem Solisten. Der 25jährige Daniil Trifonov scheint aus seiner übervirtuosen Sturm-und-Drang-Phase schon herausgewachsen, technische Schwierigkeiten können ihm offenkundig kaum noch etwas anhaben, sein Spiel hat an Reife und Reflektion enorm gewonnen. Bei Schumann jedenfalls nimmt er sich extrem zurück. Versinkt in der Musik, artikuliert zartfühlend, wirkt wie ein scheuer Zeremonienmeister. Oder auch, die Assoziation sei ob des Bartes gestattet, wie ein Eremit, der ganz im Klang gefangen ist.

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

So einer will nicht auftrumpfen, nicht voller Überschwang durchs lebhafte Finale fegen. Stattdessen rhythmische Strenge, das Virtuose fest unter Kontrolle, auf dass der Satz ja nicht zu viel Gewicht bekomme. Schumanns Konzert atmet gewissermaßen romantische Clarté, hell im Klangbild und wie abgespeckt. Dies ist dem fulminanten Dirigat Chaillys zu danken: Nie wird das Klavier vom Mailänder Orchester zugekleistert, vielmehr hören wir eine dynamisch wunderbar ausbalancierte Musik.

Trifonov spielt Schumann im Geiste Chopins. Das mag nicht jedermanns Sache sein, wenn hier und da die gestelzte Dekadenz eines Salons durchschimmert, doch am Ende hat der Pianist das Publikum auf seiner Seite. Überraschung gelungen. Wie denn auch das Orchester staunen macht. Ein Klangkörper, der mit warmen Holzbläserfarben überzeugt, dessen Violinschmelz wohltönt, der überhaupt ungemein wach agiert auf Chaillys Dirigat. Der Chef der Mailänder ist ein Kapellmeister der alten Schule, ohne körperliche Verrenkungen und andere Marotten.

Und er ist, was nun die Aufführungspraxis angeht, ein Vollblutmusiker, der etwas wagt. Weil er, in Schumanns Ouvertüre und Sinfonie, nicht der Originalklangbewegung nachspürt, die ja längst in der Spätromantik angekommen ist, sondern vielmehr die Retuschen Gustav Mahlers verwendet. Und da geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um beherztes Eingreifen in die Originalpartituren. Da klingen plötzlich Blechbläser mit Dämpfer auf, die Schumann niemals verwendet hat, da tummeln sich allein 26 erste und zweite Geigen sowie neun Kontrabässe auf der Bühne. Eine großorchestrale Besetzung, als gelte es, bloß ordentlich Effekt zu machen.

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Doch Chailly ist kein fahrlässiger Maestro am Pult, der es mal richtig knallen lassen will. Er stellt zur Diskussion. Und wenn in der „Manfred“-Ouvertüre das Klangbild hell und aufreizend funkelt, der musikalische Verlauf wie im Rausch vorüberflitzt, jede Beruhigung mehr Schein als Sein ist, wenn es schroff und wild zugeht, dann fällt es schwer, „ja, aber…“ zu rufen. Immerhin sei angemerkt, dass die Holzbläser oftmals kaum zu hören sind. Erst am Ende, wenn die Spannung nach und nach verebbt, Schumann (mit Mahler) auf Reduktion setzt, entdecken wir den balsamischen Klang von Flöten, Oboen oder Klarinetten.

Ähnlich geht es in der Sinfonie zu. Deren Hauptmotiv wird anfangs zwar noch etwas unstrukturiert vorgetragen, doch alsbald liegt alles so offen wie fiebrig und dynamisch exaltiert vor Ohren. Als Höhepunkt darf der langsame Satz gelten, dessen tristaneskes Sehnsuchtsmotiv sich ins Hymnische weitet. Da ist der Weg zu Bruckner nicht mehr fern. Dann wieder Atemlosigkeit im auftrumpfenden Finale, kraftstrotzend und roh wie bei Beethoven, teils in grenzwertiger Lautstärke. Alles vom Mailänder Orchester souverän gemeistert, präzise und mit unbedingter Leidenschaft. Überraschung erneut gelungen.

Doch damit nicht genug. Das Orchestra Filarmonica Della Scala tritt zur Zugabe an. Rasch huschen noch ein paar Musiker herbei, darunter das Personal für kleine und große Trommel sowie Becken. Sollten die Italiener als Rausschmeißer noch einen Rossini in Petto haben, serviert aus dem Mutterland der Oper? Weit gefehlt. Angekündigt wird Carlo Boccadoros „Fast Motion“. Eine vierminütige Raserei mit scharfen harmonischen Reibungen, teuflisch komplexer Rhythmik und in zumeist eminenter Lautstärke. Maschinenmusik wie von futuristischer Hand, garniert indes mit allerlei Jazzidiomatik. Ein neues Stück, wie sich herausstellt, der Komponist sitzt gerührt im Publikum, von vielen italienischen Fans frenetisch bejubelt. Überraschung gelungen: Hier, im Konzerthaus Dortmund, erklingt das Stück – eine Zugabe (!) – tatsächlich als deutsche Erstaufführung. Respekt.

 

 




Skepsis und Erstarrung – Johan Simons deutet zum Triennale-Auftakt Glucks Oper „Alceste“

Foto: JU/Ruhrtriennale

Festhalten am Sitzmöbel: Der Chor MusicAeterna in Johan Simons‘ Gluck-Inszenierung. Foto: JU/Ruhrtriennale

Die RuhrTriennale hat begonnen, es ist die zweite, die Johan Simons verantwortet, und wie bereits im Jahr zuvor will sie dem idealistischen Motto „Seid umschlungen!“ folgen. Die Fokussierung auf diesen Appell aus Schillers „Ode an die Freude“, mithin auf des Dichters Humanismus, scheint dringlicher denn je. Krieg und Terrorismus, Hass und Extremismus – wer, wenn nicht ein Kunstfestival, sollte sich diesen schaurigen Auswüchsen des Zusammenlebens so trotzig wie mutig entgegenstellen.

Carolin Emcke jedenfalls, in ihrer beachtenswerten Rede zur Eröffnung des Festivals, sieht Musik, Theater und Tanz als geradezu prädestiniert an, in diesen „finsteren Zeiten“ ans Werk einer Re-Humanisierung zu gehen. Die Journalistin und Autorin, die in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, setzt hinter die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dicke Fragezeichen, dies durchaus im Sinne der Triennale: Diese zentralen Begriffe der Aufklärung seien nicht nur vielfach bedroht, sondern auch im Gebrauch zu Worthülsen verkommen. Es brauche, eben mit Hilfe der Künste, eine Übersetzung dieser Normen in Anwendungen, „es müssen Begriffe in Erfahrungen übersetzt werden, damit sie vorstellbar werden in ihrer Substanz, damit wieder deutlich und nachvollziehbar wird, woraus sie bestehen“. So Emcke.

Foto: Sebastian Drüben/Ruhrtriennale 2016

Die Festspielrednerin Carolin Emcke. Foto: Sebastian Drüen/Ruhrtriennale 2016

Vor diesem Hintergrund scheint es folgerichtig, die Triennale, in Bochums Jahrhunderthalle, mit Glucks „Alceste“ (nach Euripides) zu beginnen. Bestimmen doch Trotz und Mut, Zweifel und Emanzipation das Geschehen. Der Mensch fügt sich nicht mehr ergeben ins vom Orakel und den Göttern vorgegebene Schicksal. Er stellt es in Frage, er zürnt, er liebt und leidet, dass es am Ende eben jene Götter rührt. In „Alceste“ siegt die (Gatten-)Liebe über den befohlenen Opfertod, mithin die Freiheit über den Zwang. Mag auch das glückliche Ende noch eines Deus ex machina bedürfen: Es ist immerhin Apoll, der Gott des Lichtes und der Vernunft (!), der es bewirkt.

Johan Simons indes stellt in seiner Inszenierung den aufkeimenden Freiheitsdrang der Figuren, den Trotz gegen göttliches Gesetz, in Frage. Alceste ist in ihren Gefühlsturbulenzen, denen Birgitte Christensen vielschichtige Sopranfarben verleiht, eine nahezu neurotische Figur, die die Hände ringt, zittert, verunsichert wirkt. Ihr Entschluss, den dahinsiechenden Gatten Admeto, Herrscher über das Volk von Pherai, durch ihren eigenen Tod zu retten, scheint alles andere als ein überzeugendes Liebesopfer. Admeto wiederum, den Tenor Thomas Walker mit teils nur fragiler Intensität gibt, ist in seiner emotionalen Achterbahnfahrt ziemlich hilflos.

Foto: JU/Ruhrtriennale

Eine Familie in Leidensstarre: Alicia Amo, Thomas Walker, Konstantin Bader und Birgitte Christensen fremdeln (v.l.n.r.). Foto: JU/Ruhrtriennale

Und wenn Johan Simons dieses Paar mit seinen Kindern Aspasia und Eumelo (Alicia Amo und Konstantin Bader) zusammenführt, wenn sich diese Familie in all ihrer Schwachheit und Verstörung am Boden liegend umarmt, als wolle man einander gegenseitig vor dem Untergang bewahren, scheint die Szene in Künstlichkeit zu erstarren.

Mitleid vermögen die eindringlichen Worte des Librettisten Ranieri de’ Calzabigi zu erwecken und vor allem die musikalische Sprache, nicht aber die skeptische Deutung des Regisseurs. Hinzu kommt, dass die L-förmige Spielfläche von Leo de Nijs, mit ihrer ausufernden Länge, ein schwer zu beherrschendes Terrain darstellt. Vor Kopf und längs davon die Zuschauerränge, auf der Bühne viel Gerenne, nicht zuletzt wohl deshalb, um dem Publikum hier und auch da irgendwie nahe zu sein. Musikalisch funktioniert das sowieso nur per Mikroport, szenisch behilft sich die Ausstattung teils mit weißen Plastikstühlen, die der Leere dieses Laufstegs Kontur geben sollen.

Und inmitten thront, auf einem Konstrukt von Podesten, das fulminante B’Rock Orchestra, das unter René Jacobs’ kundiger, umsichtiger Leitung der Musik Zug verleiht, sie unter Spannung setzt und Glucks neuartige Klangfarben wirkmächtig auffächert. Man gibt, auf alten Instrumenten, die italienische Fassung. Das Spiel atmet Frische, alles klingt plastisch, so feinfühlig wie intensiv, so erhaben wie dramatisch. Nur hier und da trüben rhythmische Hakeleien, in Verbindung mit dem sonst hervorragenden Chor MusicAeterna, den akustischen Genuss.

Foto: -n

Triennale-Chef Johan Simons wagt den skeptischen Blick auf Glucks „Alceste“. Foto: -n

Chor, Solisten und Stühle scheinen eng miteinander verwoben. Das Sitzmobiliar gibt den Figuren haptischen Halt wie uns manch optischen. Die Menschen klammern sich daran in ihrer Angst, oder sie schleudern es in trotziger Wut weit von sich. Johan Simons sieht wohl in der aufkeimenden Aufklärung, im Wissenwollen, einen Zustand des Chaos. Wenn indes der Chor, der in Greta Goiris’ erdachten, teils antikisierend, teils bürgerlich anmutenden Gewändern wie eine Partygesellschaft aus Sommernachtstraum-Gefilden wirkt, die Genesung ihres Königs feiert, kehrt schönste Ordnung ein. Alsbald aber versinken die Fröhlichen in Agonie, wie betäubt im Gestühl hängend, Alcestes Opfertod vor Augen.

Solcherart Symbolik eines Möbels ist bisweilen stark, nicht selten aber schimmert eben die Funktion des szenischen Behelfs durch. Interessanter ist Simons’ Skepsis, wenn er Alceste und Admeto nicht auf offener Bühne vor jubelndem Volk zusammenführt, sondern augenscheinlich im Jenseits. Und zurück bleiben die Kinder, allein mit sich und einer Welt, die es zu erkunden gilt. Zu Glucks Orchesternachspiel tanzen sie munter Ringelrein. Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit? – bei Simons ein Fall für die nächste Generation?

Weitere Vorstellungen am 20., 21., 25., 27. und 28. August. www.ruhrtriennale.de

Die Festspielrede von Carolin Emcke ist hier zu finden: https://www.ruhrtriennale.de/de/blog/2016-08/vom-uebersetzen-festspielrede-von-carolin-emcke




„Carmen“ auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova mag’s unterhaltsam im Konzerthaus Dortmund

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist "Junge Wilde" im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist „Junge Wilde“ im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Ksenija Sidorova ist eine Virtuosin auf ihrem Instrument. Die flinken Finger finden sicher ihren Weg – technisches Können paart sich mit großer Leidenschaft. Hinzu kommt ein untrügliches Gespür für eindrucksvolles Klangfarbenspiel. Die Passion der lettischen Solistin gilt dem Akkordeon.

Im Konzerthaus Dortmund hat sie nun als „Junge Wilde“ virtuos für dieses Instrument Partei ergriffen – einerseits, denn andererseits sind die „Carmen“-Arrangements, die sie mit einem fünfköpfigen Ensemble offeriert, heftig ins seichte Unterhaltungsfach abgerutscht. Zu wenig ist das für ein ernst gemeintes „Projekt“, wie sie dieses Konzert selbst beschreibt.

„Junge Wilde“: Das Format, 2006 von Intendant Benedikt Stampa ins Leben gerufen, ist längst zu Publikums Liebling gereift (450 Abos, etwa 1000 Besucher pro Konzert). Es bietet eben jungen Solisten ein Podium, die am Beginn einer internationalen Karriere stehen. Sie dürfen ungewöhnliche Programme im Gepäck haben, oder eben auch, wie Ksenija Sidorova, Instrumente, die nicht gerade zum klassischen Kanon gehören. Die Zuhörer sind allemal dankbar für Überraschungen und besondere Formate. Dass etwa die Solistin den Abend in englischer Sprache moderiert, mag ein Bruch mit den eingefahrenen Regeln des Konzertbetriebs sein. Gleichwohl werden die verbindenden Worte wohlwollend goutiert.

Alles beginnt mit der Malagueña des kubanischen Komponisten Ernesto Lecuona, ein nicht ganz unbekanntes Stück, das schon der Pianist Arcadi Volodos wirkmächtig in die Klaviertasten gegerbt hat. Sidorova setzt indes nicht auf virtuoses Muskelspiel, sondern vielmehr auf kantable wie rhythmische Gestaltung dieses spanischen Volkstanzes. Und präsentiert uns damit gewissermaßen das Rohmaterial dessen, was sich in Georges Bizets „Carmen“ in stilisierter Form wiederfindet. Gegenüberstellungen dieser Art, in stetem Wechsel, wären gewiss reizvoll gewesen. Doch das, was Sidorova und ihre Mitstreiter als Improvisationen benennen, sind überwiegend nur schlappe Potpourris.

Hinzu kommt, dass Alejandro Loguercio (Violine) keinen großen Ton ins Spiel bringen kann, während Michael Abramovich (Klavier) sich oft zu sehr in den Vordergrund musiziert und Reentko Dirks (Gitarre) im Ensemble eher untergeht. Ja selbst das Akkordeon bleibt bisweilen blass. Immerhin setzt Roberto Koch am Bass gewichtige Fundamente, schafft Itamar Doari hier und da perkussiven Klangzauber. Weit besser, authentischer als alle Bizet-Ableitungen klingen ohnehin die eingestreuten Stücke Astor Piazzollas. Sehr atmosphärisch etwa des Komponisten „Café 1920“ für Violine, Akkordeon und Bass.

Insgesamt ein eher unbefriedigender Abend, weil’s richtig wild und rhythmisch zupackend, munter und nachgerade parodistisch erst mit der Zugabe wird: Wenn das Ensemble durch das Torero-Lied aus „Carmen“ jagt, dieser aufgeblasene Opernmacho also gewissermaßen als Schaumschläger dargestellt wird, ist der brausende Beifall des Publikums wirklich verdient.




Gleißende Hysterie: George Benjamins Oper „Written on skin“ im Konzerthaus Dortmund

Konzerthaus Dortmund. Written on Skin. Von und mit George Benjamin. © Pascal Amos Rest

„Written on Skin“ – der britische Komponist George Benjamin dirigiert das fulminante Mahler Chamber Orchestra. Foto: Pascal Amos Rest

Das Beste kommt zum Schluss. Ein Musikdrama, das uns wie ein wirbelnder Strudel verschlingt. Mit erstklassigen Sängern, die vor keiner emotionalen Entäußerung zurückschrecken. „Written on skin“ – George Benjamins Oper entpuppt sich als ein Stück gleißender Hysterie, als Schwester der „Elektra“ oder des „Wozzeck“. Die Aufführung im Konzerthaus Dortmund ist eine Herausforderung fürs Publikum – und wird mit Jubel belohnt.

Der Brite Benjamin steht selbst am Pult des höchst intensiv spielenden Mahler Chamber Orchestra, dirigiert gewissermaßen mit körperlichem Understatement, gleichwohl ungeheuer präzise. Er ist charmanter Vertreter einer neuen Musik, deren stetiger Fluss uns bannt, weil nichts dahinplätschert. Zuweilen rütteln eruptive Klangballungen auf, immer fasziniert die Vielfalt instrumentaler Farben. „Written on skin“ wird so zum Höhepunkt der dreitägigen Zeitinsel, die das Konzerthaus dem Komponisten gewidmet hat.

Benjamin ist ein Musiker, der viel schreibt und ebenso viel verwirft. Seine Skizzenblätter übertreffen deutlich das gedruckte Werk. Etwa 40 Kompositionen in 40 Jahren sprechen die Sprache eines äußerst skrupulösen Künstlers. „Written on skin“ entstand 2012, sechs Jahre nach seiner ersten Oper, „Into the little hill“, eine moderne Fassung des „Rattenfängers von Hameln“; sie war ebenfalls im Konzerthaus zu erleben.

Der "Beschützer" (Christopher Purves, l.) blickt auf die Kunst des Malers (Tim Mead). Agnés (Barabara Hannigan) schaut gleichfalls interessiert. Foto:  Pascal Amos Rest

Der „Beschützer“ (Christopher Purves, l.) blickt auf die Kunst des Malers (Tim Mead). Agnés (Barabara Hannigan) schaut gleichfalls interessiert. Foto: Pascal Amos Rest

Für Benjamin gilt aber auch das akribische Bemühen um die Weiterentwicklung seiner Ausdrucksmittel. Für „Written on skin“ etwa setzt er als charakterstarke Farbe eine Kontrabassklarinette ein, mischt Harfen- und Banjoklang, verweist mit einer Glasharmonika in sphärische Weiten, blickt mit einer Viola da Gamba auf alte Zeiten.

Denn die Geschichte, die hier verhandelt wird, fußt auf einer Sage des 13. Jahrhunderts. Ein Maler soll all die Herrlichkeit eines hohen Herrn aufs Papier, damals noch „auf die Haut“, bannen. Der Künstler verführt die Frau des Hauses, der gekränkte Gatte reißt dem Nebenbuhler das Herz heraus und zwingt seine Frau es zu essen. Die stürzt sich aus dem Fenster.

Ein archaischer, blutrünstiger Stoff, den Benjamin und Librettist Martin Crimp in die Moderne überführt haben. Drei zynische Engel schaffen eine brutale Welt, der hohe Herr gilt als „Beschützer“ seiner Frau Agnés, entpuppt sich indes als fieser Sklavenhalter. Agnés‘ Zorn, Trotz, Widerstand und Betrug wird durch die Verführungskraft des Malers genährt. Benjamin hat die Rolle mit einem Counter besetzt, und wenn sich die Stimme Tim Meads mit dem Wundersopran Barbara Hannigans vereint, scheint das emotionale Zentrum der Oper erreicht. Doch erst ihr Ehebruchgeständnis ist der eigentliche Kulminationspunkt. Hannigan wächst zur Rachefurie, das Orchester schreit und überwältigt mit grausamen Schlägen.

Nicht minder ausdrucksstark singt Christopher Purves den „Beschützer“ seiner Frau, ein zynischer Machtmensch, der sich selbst am meisten gefällt, der manchmal aber nur dasitzt wie ein geprügelter Hund. Es ist nicht zuletzt diese Mimik, abgeleitet aus der emotionalen Urgewalt der Musik, die uns auf die Stuhlkante treibt. „Written on skin“ ist Beispiel dafür, dass die komponierende Avantgarde durchaus zur Darstellung des Sinnlichen fähig ist. Mag George Benjamin auch einer jener Künstler sein, die ihr Werk akribisch konstruieren, ist diese Oper alles andere als ein um sich selbst kreisendes Konstrukt. Theater wie Bonn und Detmold haben sich ihrer angenommen, andere Häuser sollten den Mut aufbringen, ihr oft eingefahrenes Repertoire zu erweitern. Es lohnt sich.

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form in der WAZ erschienen.)




Ein Wrack namens Scarpia – Gelsenkirchen zeigt „Tosca“ in ungewöhnlicher Lesart

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das "Te Deum" ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das „Te Deum“ ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Der Mann ist am Ende. Ein Wrack, wie er dasteht, etwas gebeugt, mit strähnigen Haaren, von Dämonen besessen, von einer Obsession getrieben. Sein erster Auftritt ist so, als hätte ihn die nahe Menschenmasse ausgespien. Und dieser müde Außenseiter soll der gefürchtete Baron Scarpia sein? Der Polizeichef Roms als fieser Strolch? Das ist mal eine Umdeutung in Giacomo Puccinis Oper „Tosca“, die wir so noch nicht gesehen haben.

Regisseur Tobias Heyder zeichnet am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (MiR) für diese Lesart verantwortlich, und so wie Scarpia ganz artfremd als schmieriger, gebeutelter Strippenzieher dasteht, sind auch die anderen Hauptfiguren dieses Dreiecksdramas mit politisch-historischem Hintergrund relativ frei ausgestaltet. Tosca zeigt kaum Spuren innerer Verletzbarkeit, ihre Eifersucht ergeht sich bisweilen in seltsam maskulinen Posen, ihre Rache (Scarpias Ermordung) speist sich nur aus milder Verzweiflung und gebremstem Furor. Ihr Geliebter, der Maler Cavaradossi schließlich, ist ein eher ungelenker, fast nüchterner Antiheld, ein Freigeist der naiven Art, der seinem politisch verfolgten Freund Angelotti nahezu geschäftsmäßig hilft.

Jeder leidet für sich allein, scheint das Fazit der Regie, zumal die Interaktion der Beteiligten mehr nebeneinander her läuft, mit geringen Blickkontakten und einer nahezu aseptischen körperlichen Nähe. Tosca in Scarpias Armen, die Erfüllung seiner Obsession, wirkt wie pure Hilflosigkeit, nicht wie die pralle Gier. Und wenn die Frau ihrem vermeintlichen Bezwinger das Messer in die Rippen stößt, fehlt der Szene die Eiseskälte der Täterin ebenso wie die Schockstarre des Opfers.

Toscas Paralyse hingegen setzt erst ganz zum Schluss ein. Wenn sie feststellen muss, dass ihr Geliebter nicht zum Schein, sondern tatsächlich erschossen wurde. Dann zieht und zerrt sie an ihm herum, die Menge, die bereit ist, sie zu lynchen, nicht mehr beachtend. Der Sprung der Tosca von der Engelsburg fällt aus.

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Darüber mag mancher im Publikum die Nase rümpfen wie auch über Scarpias Deformation, die bisweilen in tranceartige Zustände mündet. Verbunden damit sind indes starke, teils verstörende Bilder. Nicht nur in dem Sinne, dass der Maler Cavaradossi riesige Gemälde mit nackten Frauen produziert – Ausstatter Tilo Steffens hat ein entsprechend großformatiges Exponat auf die Bühne gewuchtet, das „Nudes“ im Stile Helmut Newtons zeigt. Sondern auch dergestalt, dass das berühmte „Te Deum“ zum Finale des 1. Aktes zum Höllenspektakel wird, als hätte Hieronymus Bosch seine Gespenstergestalten losgelassen. Scarpia, so ist wohl die Botschaft, hat sich dunklen Mächten hingegeben. Die Symbolkraft des Katholizismus ist für ihn einzige Pein.

Dazu passt, dass im 2. Akt, in seinem Palast, die Gemälde alter Meister abgehängt sind. Der Gott anrufende Chorgesang, der zwischenzeitlich erklingt, dröhnt dem Finsterling in den Ohren. Mag er auch Trost suchen in den Armen einer Nonne (eines Engels?) und dabei der „Erbarme Dich…“-Arie aus Bachs „Matthäuspassion“ lauschen, Frieden findet dieser Mensch im Diesseits wohl nicht mehr. Und sein Tod wird einhergehen mit dem Ende der Despotie in Rom, eingeleitet durch Napoleons Sieg. Die Exekution Cavaradossis, das Übermalen seiner Nackten, ist nur ein letztes Aufzucken des alten Regimes.

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Insofern hat diese Produktion durchaus politischen Charakter. Wenn dieser auch durch die Personenführung nicht explizit beglaubigt wird. Andererseits versagt sich Regisseur Tobias Heyder die konsequente Psychologisierung.

Neben Scarpia wirken seine Gegenspieler blass. Sollte also Puccinis Oper hier lieber „Scarpia“ heißen? Ganz falsch wäre das nicht. Denn ein musikalisches Gerüst dieser Verismo-Oper sind gewiss die wuchtigen Akkordschläge, die den Bösewicht kennzeichnen. Andererseits hat der Komponist sein Werk mit sanfter Liebeslyrik ausklingen lassen – ein Zeichen der Hoffnung gegen die brutale Despotie.

Wuchtige Dramatik und sensible, leidenschaftliche Schwingungen: Das klingende Spektrum ist bei Dirigent Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen in allerbesten Händen. Hier spielen sich aller Hass, alles Aufbegehren und innige Liebe ab. Entäußerungen, die der Regisseur den Figuren teils versagt, haben ihren Platz in der musikalischen Umsetzung. Der tönende Bruitismus ist von unglaublicher Schärfe. Die Mordszene (Tosca-Scarpia) gewinnt nur im Orchester wirklich erschreckende Kontur. Im Graben wüten die emotionalen Wechselbäder.

Mithalten kann da nur Aris Argiris als Scarpia. Die baritonale Mittellage verfügt über schneidende Kraft. Doch fehlt der Stimme einerseits dämonische Tiefe, zum anderen das schmierige Parlando eines Gauners. Derek Taylor singt den Maler höhensicher, wirkt gleichwohl angestrengt. Große, frei gestaltete Legatobögen sind seine Sache nicht. Da hat Petra Schmidt in der Titelpartie durchweg mehr zu bieten. Leuchtende Glut, ein Mezzoton zum Fürchten, schöne Stimmführung. Schade nur, dass ihre große Arie „Vissi d’arte“ so gleichförmig und introvertiert klingt. Aber das passt ja wohl zum Ansatz der Regie.

Der große, in sich gerundete Wurf ist die Gelsenkirchener „Tosca“ also nicht. Eher der, durchaus diskussionswürdige, Versuch einer unkonventionellen Annäherung. Gleichwohl gilt: Unbedingt hingehen, allein schon wegen des famosen Orchesters.

Nächste Aufführungen: 27. Dezember 2015 (15 Uhr), 2. Januar, 14. Januar, 16. Januar und 5. Februar 2016 (jeweils 19.30 Uhr). Infos: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Tosca/




Magierin am Schlagzeug – Evelyn Glennie und die Dortmunder Philharmoniker retten Alberich

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gastierte bei den Dortmunder Philharmoniker. Foto: Jim Callaghan

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gab sich die Ehre bei  den Dortmunder Philharmonikern. Foto: Jim Callaghan

Am Ende von Richard Wagners „Götterdämmerung“, die den vierteiligen „Ring des Nibelungen“ beschließt, ist eben jener Nibelung, Alberich, mit dem alles begann, verschwunden. „Er ist entmachtet – schlimmer: er scheint vergessen“, schreibt der Wagnerexeget Peter Wapnewski. Und in der Tat: Alberichs letzter Auftritt, eine düster somnambule Begegnung mit dem Sohn Hagen inmitten der „Götterdämmerung“, ist zugleich sein gespenstischer Abschied aus dem Zyklus.

Wagners Opernmythos im Allgemeinen, besonders aber das geheimnisvolle Abtauchen des Auslösers dieses Strudels aus Fluch, Verrat und Mord, endend erst im reinigenden Weltenbrand, inspirierte den Amerikaner Christopher Rouse zur Komposition des Stücks „Der gerettete Alberich“.

Es soll offenbar eine Art Ehrenrettung sein. Der Nibelung darf sich noch einmal austoben, in Form eines Konzerts für Schlagzeug und Orchester. Weil Rouse diesen Fiesling als Getriebenen, Ausgegrenzten sieht, dessen üble Taten als Abwehr zu verstehen sind. Der musikalische Fortgang ist indes alles andere als ein Freispruch: Das Wüten fasziniert, verschreckt zugleich und endet nicht in Wohlgefallen. Im Grunde verschwindet Alberich erneut.

Nun haben die Dortmunder Philharmoniker dieses außergewöhnliche Werk in ihr Programm genommen. Und mit der Solistin Evelyn Glennie die Grande Dame des Schlagzeugs gewonnen, eine Könnerin von Gnaden, Magierin des Rhythmus, die gleichermaßen impulsiv wie konzentriert zu Werke geht. Ja, die britische Musikerin ist ein Phänomen, hat sie doch bereits im Kindesalter den Großteil ihres Gehörs verloren.

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Das wilde Spiel des Alberich beginnt ohne ihn – wenn das Orchester unter Leitung von Mario Venzago die letzten Takte eben der „Götterdämmerung“ intoniert, noch einmal das Liebesmotiv aufklingen lässt. Dann erst ergreift Glennie, kniend, als gelte es, eine Beschwörung einzuleiten, das hölzerne, hohle Guiro (ein lateinamerikanisches Schrapinstrument), und erzeugt durch Reibung eine krächzende Geräuschkulisse. Fast klingt es wie das hämische Lachen des Nibelungen.

Das Orchester grummelt einstweilen vor sich hin, dann aber steigt die Erregung, die Solistin hämmert auf Woodblocks und Tom Tom ein, das Tempo zieht massiv an, um sich alsbald zu beruhigen. Das Fluch-Motiv macht sich breit, Glennie nutzt es zu einer Kadenz auf dem Marimbaphon, bis sich schließlich die Musik in einem dissonanten Schrei entlädt. Höhepunkt vor dem Ausklang: das orgiastisch anmutende perkussive Duell zwischen der Solistin und den wunderbaren Schlagzeugern der Philharmoniker.

Trotzdem ist der Komponist Rouse kein Neutöner. Er nimmt Wagners Motive, teils im Original, teils verfremdet oder in Verschränkung, und webt sie ein in seine Musik, die auf die Collagetechnik Charles Ives’ verweist, mitunter auch die „Rock meets classics“-Abteilung streift. Aufregend ist das allemal, zumal die Solistin, die das Stück bereits zur Uraufführung spielte, voller Elan zu Werke geht. Da bleibt kein Auge trocken, vielleicht aber der eine oder andere Wagnerianer ratlos zurück.

Umringt wird dieser „Alberich“ von Richard Strauss’ Tondichtung „Don Juan“ und Beethovens 7. Sinfonie. Alle drei Werke dirigiert Mario Venzago mit nervöser Energie, stets nach vorn gebeugt, wenn auch ohne größere körperliche Mätzchen. Gleichwohl schafft er es kaum, wo nötig, die Musik zu beruhigen. Oft fehlt es an dynamischer Ausgewogenheit. Der berühmte rauschhafte Aufschwung des „Don Juan“ klingt nicht wie aus einem Guss, die unterschwellige, betörende Erotik kann sich selten großzügig verströmen. Die Feinheiten der Strauss’schen Instrumentationskunst gehen im fahrigen Dirigat unter. Dieser Verführer rast wie ein Gespenst an uns vorbei.

In Beethovens großer Sinfonie vom Rhythmus wiederum geht es kontrollierter zu, klingen die Aufschwünge des 1. Satzes aber ziemlich kurzatmig, wird die dynamische Sprengkraft, der eruptive Gestus dieser Musik nicht wirklich ausgereizt. Und wo die Holzbläser es verstehen, schöne, warme Linien zu formen, bleiben andererseits die Hörner ungewöhnlich blass. So pendelt dieser Konzertabend zwischen Spannung und Enttäuschung.




Zwischen Talkshow und Happening – die Triennale auf musikhistorischer Lesereise

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie von Strawinskys "Sacre". Foto: Christoph Sebastian

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie des  „Sacre“. Foto: Christoph Sebastian

Ach Du lieber Gott! Da hopsen und tanzen seltsame Hutzelmännchen, mit Vollbart verziert und Bärenfell behangen, wie Indianer auf dem Kriegspfad umeinander, und das zu Igor Strawinskys archaischer, brutaler, rhythmusgesättigter „Sacre“-Musik.

Es sei gestattet, ein wenig zu lachen, auch wenn hier, als filmisches Dokument, die Rekonstruktion der Uraufführungschoreographie gezeigt wird (1913 in Paris, von Waslaw Nijinsky), die immerhin einen der größten Theaterskandale des beginnenden 20. Jahrhunderts ausgelöst hat. Sodass die Musik im tumultuösen Lärm des erhitzten Publikums beinahe unterging.

Nicht zuletzt auf Eklats dieser Art hat der amerikanische Musikkritiker Alex Ross wohl bei der Titelgebung seines Buches geblickt: „The Rest is Noise“ erzählt eine Geschichte von der tönenden Moderne, die nicht wenige Zeitgenossen als Lärm abtaten, von einer Moderne, die andererseits den Lärm der Welt durchaus spiegelte. Der Autor entwirft dabei ein großformatiges Gemälde, das die musikalische Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts in Beziehung setzen will zu politischen, philosophischen, soziologischen Strömungen jener Epoche. Ein überquellendes Kompendium, nicht frei indes von steilen Thesen, „Vielleicht“- und Konjunktivsätzen, Halbwahrheiten.

Sei’s drum: Triennale-Intendant Johan Simons hat das Buch ins Herz geschlossen und schon als Chef der Münchner Kammerspiele szenische Lesungen erarbeitet. Die finden nun ihre sechsteilige Fortsetzung in Schauspielhäusern des Ruhrgebiets. Diese Kooperation mit Theatern des Reviers, anfangs vollmundig beschworen, vereinzelt realisiert, dann aber schmählich fallen gelassen, erfährt also nun eine gewisse Renaissance. Das ist nur recht und billig: dass die Triennale sich bei allen europäischen Leuchtturmprojekten noch der Leistungsfähigkeit der traditionsreichen städtischen Bühnen und ihrer Ensembles bewusst wird.

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Johan Simons’ Musikvermittlung der besonderen Art startet im Essener Grillo-Theater und verhandelt zunächst die letzte Jahrhundertwende, das Fin de Siècle, mithin die Komponisten Mahler und Strauss, um sich dann im 2. Teil hauptsächlich eben des „Sacre“ anzunehmen.

Der eingangs erwähnte Videoschnipsel bleibt alleiniger Filmbeitrag, ansonsten wird fleißig rezitiert. Doch längst nicht alles, was wir in der Lesefassung von Julia Lochte und Tobias Staab zu hören bekommen, entstammt direkt dem Buch. Manche Zitate gehen weit darüber hinaus. Ross’ Werk wird zum Steinbruch, andere Quellen (zu erschließen aus den Anmerkungen des Buches?!) kommen hinzu. Das Schöne ist: Wenn in Simons’ Inszenierung die Figuren selbst sprechen, wenn also die Zeitzeugen etwa über den „Sacre“-Skandal in Form einer aufregenden Collage berichten, gewinnt die Geschichte weit mehr Authentizität als durch die Einlassungen von Alex Ross.

Da gibt Axel Holst einen fein formulierenden Harry Graf Kessler, Stefan Diekmann einen spitzzüngigen Jean Cocteau, und die resolute Ingrid Domann zitiert im Agitpropstil harsche Kritiken aus der zeitgenössischen Weltpresse. Der wunde Punkt von Strawinskys Musik ist schnell benannt: die Dissonanz. Sie ist im übrigen in Ross’ Buch das Element, das die Entwicklung der tönenden Moderne geprägt hat. Sie emanzipiert sich indes nicht erst, das sei nur am Rande angemerkt, seit den späten Stücken eines Franz Liszt. Es gibt Werke der Renaissance, die würde der arglose Hörer im 20. Jahrhundert verorten.

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Vieles von Ross’ Text, der, wie erwähnt, mit Strauss und Mahler beginnt, wird von Stephanie Schönfeld gelesen. Sie sitzt auf der T-förmigen Bühne auf einem Drehstuhl, fungiert als Wegbereiterin für den Einsatz der jeweiligen „Zeitgenossen“. Thomas Büchel (Strauss) und Jens Winterstein (Mahler) wirken dabei eher verhalten, lümmeln sich auf ihren Plätzen, wollen hintersinnig witzig sein, verleihen dem Abend aber leichte Zähigkeit. In der hinteren Reihe weitere Akteure: etwa Axel Holst als nöliger Kaiser Wilhelm oder Jan Pröhl als teils bärbeißiger, teils gesetzter Debussy.

Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Talkshow und studentischem Happening. Es ist ein unterhaltsamer Abend mit Stärken und Schwächen. Musiker der Bochumer Symphoniker streuen hier und da klingende Beispiele ein, etwa zwei Sätze aus Debussys Streichquartett.

Über allem schwebt die Frage zur Rolle des Publikums, das einst etwa Strauss’ modernistische „Salome“ bejubelte, das „Sacre“ aber erst allmählich goutierte. Debussy und Schönberg wiederum hatten für ihre Zuhörer mitunter nur Verachtung übrig. Die Vorstellung im „Grillo“ indes wird einhellig beklatscht. Dennoch bleiben Zweifel inhaltlicher Art. Die amerikanische Sicht auf einen Teil der europäischen Musikgeschichte mutet nicht zuletzt etwas salopp an.

Die weiteren Stationen der Lesereise finden sich unter www.ruhrtriennale.de




Klangfarbenrausch in kühler Perfektion – das Cleveland Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Petra Coddington Fotografenmeisterin

Seid ausgebreitet, ihr Klänge! Franz Welser-Möst dirigiert das Cleveland Orchestra. Foto: Petra Coddington

Boston, New York, Philadelphia, Chicago und Cleveland – aus diesen Städten kommen, so sagen es jedenfalls ehrfurchtsvoll viele Musikfreunde, die fünf besten Orchester zumindest der Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar der Welt. Nun sind solcherart Platzierungen, vorgenommen unter ästhetischen Gesichtspunkten, immer mit Vorsicht zu genießen. Doch ohne Zweifel sind diese „Big Five“ in Sachen technischer Präzision, Klangbild oder Musikalität ziemlich weit oben anzusiedeln.

Was nicht heißen soll, dass die Berliner oder Wiener Philharmoniker, das Concertgebouw Orkest Amsterdam oder das London Philharmonic hintenan stehen. Erstaunlich aber ist, dass sich über viele Jahrzehnte eine deutliche Differenz des Klangbilds im europäisch-amerikanischen Vergleich entwickelt und gefestigt hat. Hier die wärmeren Farben, die bessere Mischung der Valeurs, jenseits des Teiches eine hellere, sehr präsente Tönung, oft auch ein sehr strukturbewusstes Musizieren.

Punktgenaue Einsätze fürs präzise Spiel. Foto: Petra Coddington

Punktgenaue Einsätze vom Pult aus fürs präzise Orchesterspiel. Foto: Petra Coddington

Solche Beobachtungen mögen ein wenig abstrakt anmuten. Umso mehr ist das erste Gastspiel des Cleveland Orchestra im Dortmunder Konzerthaus ein Glücksfall: Denn dessen Interpretation von Olivier Messiaens „Chronochromie“ und Richard Strauss’ „Alpensinfonie“, Musik, die sich nicht zuletzt durch einen wahren Taumel an Klangfarben auszeichnet, macht klar, dass Vergleiche dieser Art ihren Sinn haben.

Besonders spannend wiederum wird die Angelegenheit dadurch, dass Franz Welser-Möst am Pult, Chef des Orchesters seit 2002 und bis 2022 vertraglich gebunden, bereits mit gehörigem Erfolg auch die Wiener Philharmoniker dirigiert hat. Europa und Amerika – nah beieinand’.

Der gebürtige Linzer Welser-Möst ist von hohem Wuchs, aristokratischem Habitus und elegantem Charme. Entsprechend stilvoll dirigiert er: ohne körperliche Entäußerung, mit Augenmaß und punktgenau. Das mag ein bisschen trocken wirken, erfüllt aber den Zweck höchster Präzision im Orchester. Und die Leidenschaft, das Aufgehen in Klangmagie, kommt nicht zu kurz.

Der Mann am Pult also, er gebietet Respekt, und ist doch nicht unnahbar. Ein paar Worte ans Publikum gelten Messiaens „Chronochomie“, Anfang der 1960er Jahre entstanden, spröde anmutende Musik, dennoch voller Reichtum, in Form stilisierter Vogelstimmen und Naturgeräuschen. Der Komponist habe das Werk einen sonnendurchfluteten Protest gegen die Zwölftöner genannt, sagt Welser-Möst mit der Empfehlung, sich diesem Licht entspannt hinzugeben.

Dann beginnt das große tönende Leuchten, sehr hell, bisweilen gleißend, weil Messiaen als bekennender Katholik stets die Himmelsmächte beschwor. Ein Leuchten, nur hier und da mit dunklen Farbtupfern grundiert (Gong, Kontrabässe), vom Cleveland Orchestra licht und rein und glasklar dahingezaubert, innerhalb der markant gezeichneten Strukturen wirkmächtig vor uns ausgebreitet. Und so fremd das Werk anmutet, mit all seinen Exotismen, Verschlingungen und Spreizklängen, so stark ist seine Zugkraft.

Foto: Petra Coddington

Höchste Konzentration und stilistische Eleganz zeichnen den Dirigenten aus. Foto: Petra Coddington

Gegen die „Alpensinfonie“ muss es freilich ins Hintertreffen gelangen, weil Strauss’ Musik eben einem klaren Programm folgt und sich dabei derart illustrativ gibt, dass Sonnenaufgang, Jagdszene, das Gleißen des Wasserfalls, Vogelgezwitscher und Gewitter für jeden offen erkennbar ist. Als liefe vor uns ein imaginärer Film ab. Doch wer sich so erwartungsvoll in den Kinosessel fallen lässt, hat die Rechnung ohne die Wirte auf dem Podium gemacht. Und ist am Ende vielleicht sogar ein wenig enttäuscht.

Denn Welser-Möst dirigiert diesen spätromantischen Brocken aus dem Geist der zuvor erklungenen Moderne. Setzt auf Strukturen statt auf alpine Folklore, kitzelt noch die kleinste Nebenstimme im großorchestralen Getümmel heraus. Sodass sich etwa im Donnerwüten eine auf- und absteigende Klarinettenfigur hervortut, als würde der Wind ein Blatt zuerst nach oben, dann abrupt zu Boden schleudern. Der Dirigent lässt zudem zügig musizieren, was einigen Spannungsbögen die Kraft kostet. Dafür wird erkennbar, dass dieses Werk im Umfeld der so neu tönenden „Elektra“ entstanden ist.

Das Cleveland Orchestra musiziert dabei so, wie man es von einem der „Big Five“ eben erwartet. Technisch höchst präzise – die Trompeten etwa geben sich selbst in höchsten Höhen keine Blöße –, im Klangbild äußerst transparent, dabei ziemlich aufgehellt. Und wenn der Österreicher Welser-Möst den Amerikanern schwungvoll satten Streicherfluss abverlangt, fehlt eben jene Wärme, die er von den Wiener Philharmonikern sofort bekommen würde. Die Differenz zwischen europäischen und US-Orchestern ist in mancher Hinsicht evident, unbelastet von Klischees.

Im Konzerthaus zählt indes am Ende nur, dass das Publikum heftigst applaudiert für ein aufregendes Konzert. Überraschung hier, Enttäuschung dort nicht ausgeschlossen. Und mancher hat vielleicht sogar Unvermutetes für sich entdeckt – Messiaen und Strauss noch im Gehör.

 




Durch Nacht zum Licht: Die Triennale feiert Nonos „Prometeo“ in Form eines Kirchgangs

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil einer Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil der Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Der Weg ist nicht immer das Ziel. Mitunter kann er mühselig sein, uns verunsichern, ja höchst irritieren. Umso schöner, wenn es dann erreicht ist, das hehre, glänzende Ziel, auf dass wir uns denn in Seligkeit hingeben. Wie jetzt bei der Triennale. Wo das Publikum gewissermaßen durch eine nebelnasse Nacht zum Licht geführt wird. Behutsam, in kleinen Gruppen. Und am Ende einer Schleuse wartet die ultimative Symbiose von Werk und Spielstätte: Luigi Nonos „Prometeo“ in der Duisburger Kraftzentrale.

Soviel Kirchgang war nie. Denn drinnen verschachteln sich harte Holzbänke, die an Gottesdienstaskese gemahnen, zum Sitzgruppenlabyrinth. Heizstrahler an den Füßen inklusive, die indes nach und nach ihren Dienst einstellen. Dünne Platzkissen sollen das Exerzitium, das satte 140 Minuten währen wird, ein bisschen angenehmer machen. Vorn dirigieren Ingo Metzmacher und Matilda Hofman aus Partituren groß wie Folianten, die auf Pulten breit wie Altäre liegen. Sie koordinieren die Einsätze der Vokal- und Instrumentalsolisten, des Chores (Schola Heidelberg), des Ensemble Modern Orchestra und der Live-Elektronik (Experimentalstudio des SWR).

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Nono nennt sein Werk, entstanden Anfang der 1980er Jahre, tatsächlich in einer Kirche uraufgeführt, eine „Tragödie des Hörens“ Dabei bezieht sich die Tragödie durchaus auf den Prometheusstoff, die allerdings eben nur hörend erfahren werden kann. Denn Musiktheater bedeutete für den italienischen Komponisten keine Interaktion oder Szenerie im herkömmlichen Sinne. Das Publikum darf sich allein auf die Klänge konzentrieren, auf das gesprochene, gemurmelte, hervorgestoßene, auch gesungene Wort, auf die Verbreitung im Raum. Und weil diese Art der Rezeption ungemein schwierig ist, weil der Musik insgesamt ja die Linearität abgeht, heißt es immer wieder „Ascolta“! (Höre!).

Vorn musizieren Chor und Orchester, neben und hinter uns, auf kleinen Emporen, weitere Sänger sowie Streicher- und Bläsergruppen. Die Elektronik tut ein übriges, um das Wandern des Tönenden zu untermauern, arbeitet mit Hall-, Echo- und Geräuscheffekten. Solisten und Ensembles liefern Sprachfetzen, etwa aus dem „Prometheus“ des Aischylos, aus Texten von Hölderlin, Walter Benjamin oder Hesiod (Libretto von Massimo Cacciari). Zudem erklingen Melodiefragmente, rhythmische Ausbrüche, vor allem aber üppige Klangschichtungen. Und alles in gehöriger Langsamkeit, als sei das hier ein archaisches Ritual, eine Unterweisung im richtigen Hören.

Dirigent Ingo Metzmacher mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Dirigent Ingo Metzmacher (r.) und Matilda Hofman mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Nun, nach den ersten 20 Minuten tröpfelten manche dem Ausgang zu, einmal sogar eine größere Gruppe. Nonos radikaler Ansatz, so scheint’s, ist ohne weiteres kaum zu vermitteln, trägt nicht über die Zeit. Ob die intellektuell anspruchsvollen Aufsätze im Programmheftchen da weiterhelfen, bleibt eine diskutable Frage. Dass der Komponist die Mehrchörigkeit der alten Venezianer und franco-flämischen Schule genauestens studiert hatte und geschickt in die Moderne des seriellen Komponierens zu transformieren wusste, sei unbenommen. Dass zudem Chöre, Solisten und Orchester das Spiel der Klänge wirkmächtig umsetzen, sei herzlichst anerkannt. Doch Nonos Denken wirkt wie aus ferner Zeit. Sein Schüler Helmut Lachenmann jedenfalls hat mit dem Musiktheaterwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das kompositorisch die Emanzipation des Geräuschs vorantreibt, einen weit interessanteren Vorstoß gewagt.

Die Triennale aber lässt Nono feiern wie einen Heiligen. In einer „Industriekathedrale“. Und wir, die wir aus dem Dunkeln ins Helle geführt werden wie Auserwählte, sollen uns berauschen lassen, uns gleichzeitig (bewundernd?) der industriellen Vergangenheit stellen – die Zusammenhänge lernt, wer’s Programm liest. Einst hieß es für die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet: „Wandel durch Kultur“. Die Triennale weckt mit hehrer Kultur allerdings eher manch nostalgisch angehauchte Seele. Musiktheater für Sentimentale – ach, vielen Dank.

 

 




Nachtstücke und falscher Jubel – Martin Schläpfer choreographiert Mahlers 7. Sinfonie

"Die Reise nach Jerusalem" als beklemmende Raserei zu Mahlers wilder Musik. Foto: Gert Weigelt

„Die Reise nach Jerusalem“ als beklemmende Raserei zu Mahlers wilder Musik des Finales. Foto: Gert Weigelt

Paukengedröhn, Fanfarengetön: Im Orchestergraben bricht sich ein protzender, prunkender Jubel Bahn, als wären dort Streicher und Bläser und Schlagwerker ganz kirre geworden. Die Musik überschlägt sich, kommt kaum zu Atem, knallt plakativ die Freudenausbrüche aneinander. Und oben, auf der Bühne? Da stehen einige Tänzer im Halbdunkel, wohlgeordnet in Reih’ und Glied, und machen – erstmal nichts.

Jetzt ahnen wir zumindest, im Duisburger Haus der Rheinoper sitzend, vom letzten Satz aus Gustav Mahlers 7. Sinfonie klanglich überwältigt, dass diese ganze Happy-end-Stimmung offensichtlich eine Farce ist, falsches Getöse, um den Jubel an sich zu denunzieren. Zwar lichtet sich alsbald die Szenerie, das vortreffliche Corps de ballet weiß so elegant wie sprungmächtig, so dynamisch wie anmutig, bisweilen in ganz klassischer Manier, den Überschwang zu zelebrieren.

Doch mit dem Einbruch des düsteren Trauermarschthemas aus dem ersten Satz der Sinfonie kippt die Stimmung: eine blonde Ballerina (Anne Marchand) ringt mit einem Hocker, unter dem sie bisweilen wie gefangen liegt. Nichts mehr von gleißender Glückseligkeit. Dann setzt Mahlers Finale zur letzten Raserei an. Auf der Bühne hetzt sich eine Menge bei der „Reise nach Jerusalem“ fast zu Tode. Hinten plötzlich Menschen in langen Mänteln, wie Aufseher in einem Lager, die Musik zieht noch einmal Luft, ein Schlag, Licht aus.

Es ist durchaus logisch, dass Martin Schläpfers Choreographie „7“, die tänzerische Deutung von eben Mahlers 7. Sinfonie, dieses Pseudo-Jubelfinale in Düsternis und Verzweiflungsraserei enden lässt. Geben doch die vier Sätze zuvor allen Anlass, die dunkle, groteske Seite des Daseins auf die Bühne zu bringen. Der Komponist selbst spricht ja in zwei Fällen von Nachtmusiken, das derbe Scherzo nennt er schattenhaft, und der dumpfe Trauermarsch des Beginns, mit der traurigen Tenorhornmelodie, ist eine klare Vorgabe.

Derber Tanz in Stiefeln zum schattenhaften Mahler-Scherzo mit Yuko Kato, Wun Sze Chan, Camille Andriot (v.l.). Foto: Gert Weigelt

Derber Tanz in klobigen Stiefeln zum schattenhaften Mahler-Scherzo mit Yuko Kato, Wun Sze Chan, Camille Andriot (v.l.). Foto: Gert Weigelt

Schläpfer lässt zur schaurigen Einleitung Tänzer auf die Bühne kriechen, ungelenke gekrümmte Wesen, schmerzbeladene und zerbrochene Gestalten. Nach und nach erst finden sie gewissermaßen zum aufrechten Gang. Später, im skurrilen Scherzo, stürzt ein Trio herbei, von Ausstatter Florian Etti in Stiefel gesteckt, die Füße auf den Boden knallend, teils in gebückter Haltung, als führten sie einen derben Bauerntanz auf.

Wenn Mahler nun seine wilde Welt mit ihren Banalitäten und ihrem Schmerz verlassen will, driftet er ab ins Sphärische. Streicherklang, Harfenglissando, Kuhglocken, über allem Trompetenseligkeit in höchsten Höhen. Dann führt Schläpfer Paare zusammen, zeigt glückliche Menschen. Doch ach: Mitunter entpuppen sich die Partner als die falschen, durchzieht Rivalität und Eifersucht, bis hin zur Machismo-Brutalität, die Szenerie.

Selbst die 2. Nachtmusik, eigentlich eine hübsche Serenade mit Mandoline und Gitarre, entwickelt ihre Schattenseiten. Zwei Paare necken sich wie im idyllischen Schäferspiel, und doch gibt es, wenn die Musik sich dunkel färbt, sanfte Zweifel.

Schläpfers Mahler-Deutung ist eine, die den Pessimismus, das Leid aus der Musik herausliest. Nur ab und an gibt es Hoffnungsschimmer, als winzige Inseln von Glückseligkeit. Diese Interpretation verdeutlicht zudem, dass die 7. des Komponisten weit mehr im Schatten der „Tragischen“ (Nr. 6) steht als im Faustischen der Nummer acht.

Entsprechend derb naturalistisch, teils brachial in den Klangballungen, oder mit herbem Serenadenton spielen die Duisburger Philharmoniker unter Wen-Pin Chien das Stück. Ziemlich analytisch geht der Dirigent dabei zu Werke, die Strukturen betonend, alles Skurrile, Groteske, Dunkle, Schmerzbehaftete teils überdeutlich herauskehrend. Manchmal leiden darunter die dynamischen Proportionen, andererseits bleibt noch im dichtesten polyphonen Geflecht alles transparent.

Mögen auch hier und da die Trompeten Mühe haben, Mahlers höchste Höhen sicher zu erreichen, bleibt doch der Gesamteindruck einer hochspannenden, in sich geschlossenen Interpretation. Bildmacht und orchestrale Kraft fügen sich zum aufregenden Ganzen. Großer Applaus.

Weitere Infos: http://operamrhein.de/de_DE/repertoire/b-17.1045217

Video-Ausschnitt aus der Produktion: https://www.youtube.com/watch?v=O72cLnIWxKE




Mozarts Requiem inmitten von Klangräumen – ein Triennale-Konzert der experimentellen Art

Chor, Orchester, Solisten und Dirigent im Einsatz für den Raumklang. Foto: Pedro Malinowski

Chor, Orchester, Solisten und Dirigent im Einsatz für den Raumklang. Foto: Pedro Malinowski

Die Triennale wäre nicht sie selbst, würde auf ihren Konzertprogrammen nur das stets Gehörte, das sattsam Bekannte stehen. Und so hat sich das Festival vor allem dem Neuen in der Musik verschrieben. Kompositionen des Repertoires finden oft nur insofern Beachtung, als sie in einen ungewöhnlichen Zusammenhang gestellt werden. Dann mag sich ein anderer Blickwinkel, besser gesagt, ein veränderter Höreindruck einfinden.

Dieses andere Hören soll nicht zuletzt auf der besonderen Akustik der Industriehallen fußen, die mancher in allerernstestem Verklärungseifer als Kathedralen apostrophiert. Nun, so gesehen, passt das jüngste Triennale-Konzert namens „Klangräume“ zur riesigen Gladbecker Maschinenhalle Zweckel, bekommen wir doch überwiegend Sakrales zu hören.

Alles Klingende kreist dabei um Mozarts Requiem, das sich selbst gewissermaßen nackt präsentiert. Denn das ChorWerk Ruhr, diesen Abend maßgeblich prägend, bringt uns nur des Komponisten Fragment zu Gehör, die unvollendete Totenmesse also, mit all ihren Brüchen oder Auslassungen in der Instrumentation.

Doch der radikale Blick aufs Original ist nur die eine Seite. Weil dieses unfertige Ganze nun kombiniert wird mit „Sieben Klangräume“ von Georg Friedrich Haas – moderne Musik, zwischen einzelne Requiem-Stücke platziert. Sodass nun ein seltsames Zwitterwesen zu hören ist, ein Homunkulus einerseits der scharfen Kontraste, aber auch, zum anderen, der sinnfälligen Verstärkung von Befindlichkeiten.

Erwähnt sei nur das „Lacrimosa“ (Tag der Tränen, Tag der Wehen), von dem Mozart acht Takte nur geschrieben hat, dem der Klangraum V, „Atmung“ folgt: Erst die stockende Musik, dann ein eher unregelmäßiges Atmen, verbunden lediglich mit ein paar Geräuschen. Haas lässt des Menschen Ende auf der Intensivstation suggerieren, so eindringlich beklemmend wie des Klassikers Tonfolgen.

Einen ähnlich starken Effekt bewirkt der Klangraum II, nach Mozarts „Tuba mirum“ (Laut wird die Posaune klingen), wenn Haas’ Musik mehr und mehr in allerschwärzeste Bassregionen hinabfließt. Hinzu kommt ein weiterer Kunstgriff: Der Chor zitiert aus einem sehr weltlichen Schreiben des Wiener Magistrats an Mozart – singend, brabbelnd, flüsternd, mal nur Satzfetzen hervorstoßend, mal auf nur einem Wort beharrend – sodass bisweilen der Eindruck entsteht, hier will sich das Diesseits ins Jenseitige hineinfressen.

Florian Helgath, ein Dirigent, der so exakt wie unaufgeregt zu Werke geht. Foto: Pedro Malinowski

Florian Helgath, ein Dirigent, der so exakt wie unaufgeregt zu Werke geht. Foto: Pedro Malinowski

Eigentlich gilt die Musik des Abends aber zuerst dem Sphärischen. Wie es die beiden Stücke des Ungarn György Ligeti sehr eindringlich beweisen. „Ramifications“ für 12 Soloinstrumente steht am Beginn, ein Werk der minimalen Veränderungen, der weiträumigen Verästelungen, sehr statisch, und doch voller Bewegung. Ähnliches gilt für den himmelwärtigen Ausklang, das „Lux aeterna“ für 16 Chorstimmen, die sich in einem mikrotonalen Raum voneinander wegbewegen und wieder zueinander finden. So erleben wir ein großes klingendes Fluidum, dessen Farbspektrum unendlich scheint.

Dies zelebriert das ChorWerk Ruhr in größter Präzision, wenn auch die Soprane bisweilen leicht übersteuern. Aber welches Ensemble verfügt schon über derart schwarze Bässe, die bei Bedarf noch mühelos im Falsett glänzen. Die Bochumer Symphoniker wiederum, alle übrigens unter Leitung von Florian Helgath, glänzen bei der Klanggestaltung. In Mozarts „Requiem“ indes, das der Dirigent schlank und straff musiziert sehen will, fehlt es dem Orchester mitunter an artikulatorischer Genauigkeit. Stilsicher hingegen die vier Solisten, an erster Stelle der markige Bass von Tareq Nazmi, neben Dominik Wortig (Tenor), Ingeborg Danz (Alt) und Sibylla Rubens (Sopran).

Viel Beifall für ein Konzert, dessen experimenteller Charakter verhindert, uns ganz dem Jenseitigen hinzugeben. Hinzu kommt: Akustisch ist die Halle Zweckel für die Sphärenklänge nicht das Nonplusultra. Einst hörten wir das „Lux aeterna“ mit dem ChorWerk im Dortmunder Konzerthaus. Dort wurde das Stück zur Offenbarung.

 

 




Die Sinnlichkeit der Moderne – ein Konzert ehrt den Triennale-Begründer Gerard Mortier

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Johan Simons, der neue Intendant der Triennale, weiß, wem er zu Dank verpflichtet ist. Dem „Freund und Vorbild“ Gerard Mortier, der, nicht zu vergessen, auch entscheidender Wegbereiter war.

Mortier, Gründungsintendant des Ruhrgebietsfestivals (2002 bis 2004), hat den Jüngeren von Beginn an ins Regieboot geholt, auch und gerade, wenn es um die Inszenierung der neu erdachten „Kreationen“ ging. 2014 starb Mortier; ihm hat Simons nun das erste Konzert der Triennale gewidmet, mit Werken der Moderne, für die sich der Geehrte zu Lebzeiten stets eingesetzt hatte.

Moderne heißt in diesem Fall Musik des 20. Jahrhunderts, der Bogen spannt sich von Ferruccio Busoni über die Zwölftöner Berg und Webern, hin zu Messiaen und Giacinto Scelsi. Überwiegend kammermusikalisch besetzt, erweist sich dabei das Klangforum Wien als Meister farbenprächtiger Vielseitigkeit. In der Duisburger Gebläsehalle tönt es schroff und geschmeidig, dramatisch und bisweilen auch ein wenig kühl. Denn das Orchester mag das Sinnliche hervorheben, kann indes den analytischen Zugang zu dieser Musik nicht überspielen.

Das liegt nicht zuletzt an den beiden Dirigenten, die im Wechsel am Pult stehen. Sylvain Cambreling und Emilio Pomàrico bringen Klarheit ins Notengeflecht, setzen exakte Akzente. Lineare Verläufe können atmen, rhythmische Passagen sind kraftvolle Kontrapunkte, Klangfelder öffnen sich in aller Transparenz.

Entsprechend gelingt es nur bedingt, sich dem klingenden Geschehen ganz und gar hinzugeben. Am liebsten noch lassen wir uns von den süffig morbiden „Altenberg Liedern“ Alban Bergs umspülen. Rausch und Exaltation, aber auch sanfte Elegie inbegriffen. Zumal die Sopranistin Sarah Wegener mit wunderbar warmer Stimme oder geheimnisvollem Flüsterton die Texte Peter Altenbergs interpretiert. Und wenn sie die höchsten Höhen erklimmt, wähnen wir uns ohnehin ins Sphärische katapultiert.

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters.  Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Anderes wirkt bodenständiger, dafür mutet es fremd an. Was Wunder, wenn etwa Busoni in seiner Studie für Streicher, sechs Bläser und Pauke indianisches Melos einflicht. „Gesang vom Reigen der Geister“ nennt er dies, 1915 komponiert, eine Musik, die zwischen Exotismus, einem Rest Romantik und neuer Sachlichkeit pendelt. Indisches Couleur wiederum lässt Scelsi knapp 60 Jahre später in „Pranam I“ erklingen, in Form einer virtuosen Lautmalerei, die Natalia Pschenitschnikova gekonnt umsetzt, während ein Tonband percussive Akzente liefert, alles eingebettet in große Klangflächen.

Als Meister der Farbe aber erweist sich zum Schluss der große französische Mystiker Olivier Messiaen, dessen Werk Gerard Mortier immer wieder in den Mittelpunkt der Triennale stellte. In den „Couleurs de la Cité Céleste“ will der Komponist nichts weniger als die Farben des Himmels in Klang umsetzen. Mit Flöten, Trompeten, Posaunen und Tuba, mit Xylophonen und Gongs, Glocken und Klavier. Orchester und Dirigent Cambreling loten sorgsam das dynamische Spektrum aus, arbeiten rhythmisch genau. Die Musik mit ihren stilisierten Vogelgesängen und riesenhaften Spreizklängen ist überwältigend. Großer Beifall.




Plötzlich Chef – Dirigent Kirill Petrenko wird neuer Leiter der Berliner Philharmoniker

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Kirill Petrenko wird der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Foto: Wilfried Hoesl

Geht doch! Da haben sich die Berliner Philharmoniker still und heimlich noch einmal zusammengesetzt, angeblich nur gute zwei Stündchen beraten, und zack, einen neuen Chefdirigenten aus dem Hut gezaubert. Kirill Petrenko heißt der Glückliche, gleichermaßen Publikumsliebling in München (Staatsoper) und bei den Bayreuther Festspielen. Die Überraschung daran ist, dass sich das deutsche Vorzeigeorchester plötzlich, nach der schweren Nichtgeburt im Mai, so zügig auf ihn einigen konnte, „mit großer Mehrheit“.

Petrenko wurde 1972 im russischen Omsk geboren. In Vorarlberg, dann Wien studierte er, dort auch begann er seine Dirigentenkarriere, an der Volksoper. Das war 1997, zwei Jahre später schaffte er den Sprung als Chefdirigent ans Meininger Theater. Dort brachte er, unter Intendanz und Regie von Christine Mielitz (2002 bis 2010 Chefin der Dortmunder Oper), Richard Wagners „Ring“ heraus. Gespielt wurde das Mammutwerk an vier Abenden hintereinander – ein echter Coup.

Für Petrenko war’s der Beginn eines steilen Aufstiegs, der ihn 2002 an die Komische Oper Berlin und 2013, nach mehrjähriger freier Tätigkeit, an die Münchner Staatsoper führte. Dort läuft sein Vertrag 2018 aus, dann verlässt auch Simon Rattle die Berliner Philharmoniker. Gleichwohl muss über die Einzelheiten von Petrenkos Amtszeit an der Spree noch beraten werden. Und aus München kam prompt das Signal, man werde dem Maestro eine Verlängerung anbieten. Im Zweifel heißt das also: Der Dirigent wird wechselnd auf zwei Hochzeiten tanzen.

Zuzutrauen ist es ihm allemal. Petrenko gilt als ruhiger, konzentrierter Arbeiter, der noch an kleinsten Ausdrucksnuancen feilt, als Analytiker, aber auch als Vollblutmusiker mit Bauchgefühl. Was er in die Hand nimmt, vergoldet sich oft zu berauschendstem Klang, bleibt aber stets durchhörbar. Petrenkos Münchner Dirigate gelten als Ereignisse und seine Deutung des „Ring“ in Bayreuth hat vor allem deshalb höchstes Lob erhalten, weil er dem Orchester allerfeinste kammermusikalische Klarheit entlocken konnte. Ähnliches war übrigens bereits 2011 während der Triennale staunend zu erfahren: Petrenko interpretierte mit den Duisburger Philharmonikern Wagners „Tristan“. Ein Jahr später wiederum gestaltete er im Konzerthaus Dortmund mit der Staatskapelle Dresden eine wunderbare Rachmaninow-Zeitinsel.

Alles in Butter, so scheint’s, und die versammelte Weltpresse jubiliert. Seltsam nur, dass die Kundigen vor dem ersten Wahlversuch im Mai zuerst mit den Namen Christian Thielemann und Andris Nelsons jonglierten, Petrenko indes irgendwie aus dem Blickfeld geriet. Merkwürdig auch, dass die Berliner Philharmoniker zunächst peinlich patzten, dann aber jemanden wie Phönix aus der Asche emporzaubern. Doch offenbar ist es nun für niemanden mehr ein Problem, dass zunächst kein Kandidat, also auch Petrenko, mehr als 50 Prozent der Stimmen für sich verbuchen konnte. Die Frage, wie groß die Mehrheit diesmal war, bleibt ohne Antwort. Nun ja: Orchester sind vor allem eins, ein Sammelbecken lauter Diven.

Dennoch: Er würde es am liebsten umarmen, hat Petrenko nach seiner Wahl spontan verkündet, aber auch, dass seine Gefühlslage zwischen Euphorie, Ehrfurcht, ja Zweifel schwanke. Kein Wunder bei einem Chefposten, der mit Namen wie Furtwängler, Karajan oder Abbado behaftet ist. Hinzu kommt, dass Petrenko in erster Linie ein Mann der Oper ist. Interessant werden dürfte darüberhinaus, wie sich der medienscheue, schweigsame Maestro zu einem Orchester stellt, das die Öffentlichkeit im Internet oder mit Education-Projekten offensiv sucht. Und wie hält er’s mit der Moderne? Wir sind gespannt.




Nixen im Badezuber – Dvoráks Oper „Rusalka“ findet in Essen den Weg in die Psychiatrie

Rusalka (besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Szene aus der Anstalt. Rusalka (Sandra Janusaite) besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Da bringt die junge Braut ihren Zukünftigen um. Weil sie den schlimmen Finger im erotischen Techtelmechtel mit einer anderen erwischt hat. Für ihn war das eine Art Flucht: weg von einem Wesen, das ebenso faszinierend wie rätselhaft ist, spröde und stumm wie ein Fisch, hin zu einer richtigen Frau. 

Derartiges kommt in den besten Familien vor. Selbst in jenen der vorletzten Jahrhundertwende, im großbürgerlichen Gefüge des Fin de Siècle. Zu jener Zeit also, als Sigmund Freud die „Traumdeutung“ herausbrachte und Antonin Dvorák seine Märchenoper „Rusalka“ komponierte. Und so hat die niederländische Regisseurin Lotte de Beer eins und eins zusammengezählt: Im Essener Aalto-Theater zeigt sie uns eine Nixe unter freudscher Beobachtung – im klinisch kühlen Ambiente, mit Anstaltsbadewannen und Gewölbezellen, nicht zu vergessen die berühmte Couch des Analytikers.

Klapse statt irrlichterndes Dasein ist das Los dieser Rusalka. Die Geschichte wird dabei gewissermaßen von hinten aufgerollt, vom Tod des Prinzen und ihrer Internierung aus – die einleitende Szenerie zu Dvoráks Vorspiel macht es deutlich. Dieser dramaturgische Kniff ist wohl auch erforderlich, um die Doppelung von Märchenzeit und Therapiezeit zu verstehen. Hilfreich wäre im übrigen ein Hinweis im Programmbüchlein gewesen, auf eine Schrift Freuds aus dem Jahr 1913, „Märchenstoffe in Träumen“. Oft nämlich verknüpften seine Patientinnen Erinnerungen und Träume mit dem Durchleben von Märchen.

Nun also: Die Nixen necken den Wassermann im Badezuber, Rusalka beklagt in der Wanne nebenan ihr seelenloses Dasein. Die Hexe Jezibaba rauscht nicht als schmuddeliges Hutzelweibchen heran, sondern gibt sich rauchend mondän im dicken Pelz. Die Menschwerdung Rusalkas gleicht einem Beschneidungsritus. Im übrigen gilt: Wer schön sein will, muss leiden – und stumm bleiben wie ein Fisch. Entsprechend herzig die Begegnung mit dem Prinzen, ein Tändeln zweier Backfische, ein Fremdeln zweier Zagender. Zuletzt aber doch: Küsse der Leidenschaft.

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Was so intim klingt, ist auf der Riesenbühne des Aalto gleichwohl angenehm proportioniert in Szene gesetzt. Das eingespielte Duo Clement&Sanou schafft Atmosphäre durch Farbe, stellt die feine Festgesellschaft im 2. Akt aufs Podest, während unten Rusalka angstvoll deren patriarchalische Riten beobachtet, wuchtet Badewannen in den Raum oder kerkert die Nixe im mächtigen Gummizellengewölbe ein. Manches wirkt gelungen, anderes aber gehörig plakativ. Wie denn auch die Regie immerhin in sich schlüssig ist. Die Frage, die bleibt, ist eher grundsätzlicher Art: Ob nicht manche Frauenfigur der Opernliteratur sich neuerdings beständig der Psychoanalyse aussetzen muss.

Eines aber ist gewiss: Mit Sandra Janusaite hören und sehen wir eine Rusalka, die sich die Seele aus dem Leib spielt und singt. Fast körperlos, fahl und verhangen klingt zunächst ihr Mondlied, dann aber trägt ein dramatisch-emphatischer Sehnsuchtston ihre Empfindung. Die Stimme mag in der Mittellage etwas spröde wirken, gleichwohl verfügt die Sopranistin über Farbreichtum sowie flammende Verzweiflungsgröße. Und wenn sie sich, im Angesicht des untreuen Prinzen auf die Beine schlägt, als Symbol ihres fluchbeladenen Daseins, wenn sie im Zellengewölbe in ihrer Zwangsjacke dahinleidet, dann ist das gleichermaßen mitreißend wie anrührend. Bis ihr Dr. Freud eine Spritze geben lässt – sie sinkt hernieder, ob schlafend oder sterbend oder im Wagnerschen Sinne erlöst, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Dagegen wirken alle anderen Akteure beinahe blass. Ladislav Elgr verleiht dem Prinzen zwar ein kultiviertes tenorales Timbre, wirkt in hoher Lage aber leicht nervös und lässt mitunter Eleganz vermissen. Markant Almas Svilpa als ewig mahnender und klagender Wassermann, nur bedingt verschlagen die Hexe der Lindsay Ammann.

Das eigentliche Wunder des Abends spielt sich ohnehin im Orchestergraben ab. Mit Tomás Netopil am Pult zaubern die Essener Philharmoniker die Idiomatik von Dvoráks Musik aufs Schönste herbei. Sie spinnen silberhelle Melodiefäden, geben der Dramatik, die schon auf Janáceks Realismus verweist, kantiges Gewicht, ohne zu überzeichnen. Und alles Böhmisch-Musikantische hält sich im Rahmen. Nichts von Verharmlosung eines bis dato immer noch unterschätzten Komponisten.

Noch einige Termine im Juni. www.aalto-musiktheater.de

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen.)

 




Heldentenor auf Operettenkurs: Jonas Kaufmanns Debüt im Konzerthaus Dortmund

Jonas_Kaufmann. Foto: GregorHohenberg/SonyClassical

Jonas Kaufmann. Foto: GregorHohenberg/SonyClassical

Es ist sein Debüt. Doch Jonas Kaufmann kommt nicht als strahlender Wagner-Held oder schmachtender Verdi-Tenor. Vielmehr bedient er hier, im Dortmunder Konzerthaus, das Fach der Nostalgie. Mit Arien des oft totgesagten Genres Operette und mit Filmschlagern der Jahre 1905 bis 1934, allesamt bekannte Evergreens und deshalb so recht nach dem Geschmack des Publikums im prallvollen Saal.

Kaufmann braucht keine Aufwärmphase. „Freunde, das Leben ist lebenswert“ schmettert er uns gleich zu Beginn entgegen, als gelte es, nicht Lehár, sondern Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ zu interpretieren. Die kraftvollen Höhen seiner Stimme, die er gewissermaßen aus der Hüfte feuert, leuchten in allem Glanz. Das überrascht umso mehr, weil der Sänger doch ein ausgesprochen baritonal gefärbtes Timbre hat.

Doch für Kaufmann ist das kein Problem. Ohne Ansatz singt er die tenoralen Höhepunkte heraus. Andererseits weiß der Sänger die dunklen Farben weidlich für sich zu nutzen, sei es markant, etwa in Richard Taubers „Du bist die Welt für mich“, oder als balsamische Grundierung, wie in Lehárs „Gern hab ich die Frau’n geküsst“. Dass er hin und wieder kleine Schluchzer einbaut, ist eine verzeihliche Manier.

Gleichwohl bleiben Fragen. Die nach der dynamischen Balance etwa, weil das Münchner Rundfunkorchester und Dirigent Jochen Rieder es nicht nur bei Ouvertüren und Zwischenspielen ordentlich krachen lassen, sondern auch den Sänger gern zudecken. Kaufmanns schönstes Legato und gewissenhafteste Diktion garantieren deshalb nur bedingt Textverständlichkeit.

Daraus aber ergibt sich die Frage nach der  Authentizität. Denn oft fehlt diesen Operettenschmankerln Leichtigkeit, Charme, Esprit. Und wenn Kaufmann die in vielen Stücken geforderten, halblauten Höhen ausmalt, wirkt die Stimme bisweilen angeraut. Ein Heldentenor, der sich offenbar nicht ganz wohlfühlt im neu gewählten Genre.

Plötzlich aber geschieht Außerordentliches: Die Ouvertüre zu Lehárs „Land des Lächelns“ leuchtet beim Spiel des Münchner Orchesters in schönsten Farben, die Dynamik ist ausgewogen, der Klang transparent. Und wenn dann Jonas Kaufmann „Dein ist mein ganzes Herz“ zelebriert und eben mit allem Herzblut beschwörend heraussingt, ist das Publikum ganz aus dem Häuschen. Und die Operette – ja, sie lebt.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen.)




Von musikalischer Zerstörung: Die Dortmunder Philharmoniker deuten Mahlers 6. Symphonie

Gustav_Mahler_Caricature

Mahler-Karikatur aus der Wochenschrift „Die Muskete“ (1907): „Herrgott, dass ich die Hupe vergessen habe! Jetzt muss ich noch eine Sinfonie schreiben.“

„Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen“. So hat Gustav Mahler 1895 sein Credo formuliert, glaubt man den Erinnerungen seiner Freundin, der Geigerin und Bratschistin Natalie Bauer-Lechner.

Es war das Jahr, in dem des Komponisten 2. Symphonie in Berlin uraufgeführt wurde, unter seiner Leitung. Und in der Tat, er hat seine Mittel weidlich ausgenutzt: den liedhaften Tonfall, räumliche Klangwirkungen durch  Fernorchester und Echos, Naturlaute, extreme dynamische Spannweite, skurrile Wendungen.

In den Augen mancher war Mahler bereits mit seiner 1. ein fertiger Komponist. Er selbst indes sah sich eher als Suchender, der seine Werke noch während der Proben zur Uraufführung und darüber hinaus korrigierte, sei es bei der Orchestrierung oder der Satzfolge. Kunst war für ihn also einerseits Handwerk, zum anderen Trägerin metaphysischer Bedeutung. Keinesfalls aber sah er sich in der Nachfolge der Programmusiker namens Franz Liszt oder Richard Strauss.

Mahler nahm also sein Material und entwickelte es stetig fort. Die Welt, die er dabei vor Augen hatte, mochte bisweilen schön sein, doch Schönheit ist bekanntermaßen vergänglich. Für den Komponisten hieß dies, Abgründe freizulegen, Illusionen zu entlarven, Tod und Leben nebeneinander zu stellen. Dies hat er wohl nirgends so konsequent komponiert wie in der 6. Symphonie. Mehr noch: Mahler zeigt nicht nur eine schreckliche, von unerbittlichen Marschrhythmen beherrschte Welt, aus der es nur kleine Fluchten in die pastorale Idylle gibt, sondern er dekonstruiert die Musik gewissermaßen selbst. Was kernig beginnt, endet in Stammelei. Harte Paukenrhythmen und zuletzt wuchtige Hammerschläge hauen alles in Stücke. Dem Hörer, der sich diesen 90 Minuten hingibt, ja sie durchsteht, bleibt blankes Entsetzen – und Schweigen.

Gabriel Feltz 


Gabriel Feltz, Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Thomas Jauk

Nun haben die Dortmunder Philharmoniker, verstärkt durch Studierende des Orchesterzentrums NRW, sich dieses gewaltigen symphonischen Brockens angenommen. Chefdirigent Gabriel Feltz steht im Konzerthaus am Pult, führt diese Klangkörpermasse mit den allseits bekannten Fingerzeigen durch die hochpolyphone Partitur, auf dass jeder Einsatz sitzt und sich Gehör verschafft. Das sieht nach gutem Überblick aus, doch mitunter ist Feltz’ Körpersprache derart exponiert, als ringe er selbst mit der Materie.

Und das Orchester, das nicht unbedingt auf eine Mahlertradition zurückblicken kann, wie sie etwa die Bochumer Symphoniker seit zwei Jahrzehnten kontinuierlich pflegen, macht seine Sache in vielerlei Hinsicht außerordentlich gut. Koordinations- und Intonationsprobleme halten sich in engen Grenzen. Die Durchhörbarkeit ist überwiegend gewährleistet. Die Emotionalität ist hoch, wie die Wirkmacht dieser Musik.

Und doch: Feltz dirigiert das Werk stark aus dem Geist der Romantik. Weder gelingt ihm die rhythmische Unerbittlichkeit der Marschbewegungen, mit denen Mahler bereits die Maschinenmusik streift, noch klingen die Hammerschläge, um ein Detail zu benennen, wie krass naturalistische Axthiebe. Diese Welt, die zusammenfällt, soll wenigstens eine halbwegs schöne gewesen sein. Doch diese Schönheit, wie sie sich etwa im Einschub der Herdenglocken-Idylle innerhalb des ersten Satzes offenbart, ist eine allzu greifbare. Mahlers Vorstellung jedenfalls, dass diese Laute wie der letzte Ausdruck menschlicher Zivilisation sich in der Natur verlieren, ist kaum erfüllt.

Anderes gelingt famos. Der schlichte, liedhafte Beginn des langsamen Satzes ist betörend, die Fernorchesterwirkungen des Finales klingen schon immateriell, die Präsenz besonders der Holzbläser wie der Trompeten ist beachtlich, das Schlagwerk gewinnt im Finale an schauriger Präsenz. Nur schade, dass Feltz im mitunter größten Wüten der Welt das Tempo rausnimmt. Das erzeugt kaum zusätzliche Spannung, ist eher ärgerlich.

Insgesamt aber schlägt sich das Orchester tapfer. Und schafft eine überzeugende Grundlage für eine hoffentlich regelmäßige Beschäftigung mit dem Phänomen Mahler und seiner Welt.




4. Staffel der „Jungen Wilden“: Konzerthaus Dortmund will neue Klassikwege gehen

PIC PHIL TRAGEN

„Junge Wilde“ mit Akkordeon: Ksenija Sidorova. Foto: Phil Tragen

Die Musik klingt dramatisch, und das verwundert kaum, wenn im Film dazu ein Klarinettist samt Instrument von reißendem Wasser bedrängt wird, wenn ein Sänger einen meterhohen Urwaldbaum erklimmen will, oder eine Akkordeonistin, inklusive Stirnlampe, sich in kalter Höhle wiederfindet. „Klassik geht neue Wege“ ist dieses Kurzvideo überschrieben, die neueste Produktion des Konzerthauses Dortmund, ein Werbetrailer für die nunmehr vierte Staffel der „Jungen Wilden“.

Das Format, 2006 von Intendant Benedikt Stampa ins Leben gerufen, zunächst vom Publikum kritisch beäugt, alsbald aber zu Zuschauers Liebling gereift (450 Abos, etwa 1000 Besucher pro Konzert), bietet eben jungen Solisten ein Podium, die am Beginn einer internationalen Karriere stehen. Das Kriterium des Wilden darf sich dabei gern in mehrfacher Form ausdrücken. Sei es, dass eine Geigerin besonders emotional zur Sache geht, dass ein Pianist seltenes Repertoire pflegt, oder dass überhaupt jemand mit einem, im (kammermusikalischen) Konzertbetrieb eher ungewöhnlichen Instrument auftaucht.

Wie etwa die Lettin Ksenija Sidorova, die sich eben dem Akkordeonspiel verschrieben hat. Sie und ihre sechs Mitstreiter geben sich ab nächster Spielzeit für drei Jahre regelmäßig die Ehre, musizieren, gehen in Dortmunder Schulen und sind bereit für Publikumsgespräche. Die Programmgestaltung ist ihnen weitgehend freigestellt, es muss nicht ausschließlich „Klassik“ sein. Gerade das Akkordeon dürfte für Ausflüge in fremde musikalische Gefilde prädestiniert sein.

Der Klarinettist Andreas Ottensamer (Foto: © Anatol Kotte/Mercury Classics/DG)

Der Klarinettist Andreas Ottensamer (Foto: © Anatol Kotte/Mercury Classics/DG)

Sidorova ist, zumindest in unseren Breiten, ein eher unbekanntes Gesicht. Andere stehen deutlich intensiver im Fokus des Interesses, das gilt etwa für den österreichischen Klarinettisten Andreas Ottensamer, Stimmführer bei den Berliner Philharmonikern, oder für den britischen Pianisten Benjamin Grosvenor, der als jüngster Solist überhaupt 2011 bei den „BBC Proms“ auftrat. Zu ihnen gesellt sich der Usbeke Behzod Abduraimov, dessen „Wildheit“ in Dortmund bereits zu bestaunen war. Während der Prokofjew-Zeitinsel interpretierte der Pianist des Komponisten 3. Klavierkonzert.

Im Fach Violine wiederum stellt sich Nicola Benedetti vor, eine Schottin mit italienischem Namen. Sie will der Musik ihrer Heimat ebenso die Ehre erweisen wie der Bariton Andrè Schuen sich auf seine Wurzeln besinnen will, die in Südtirol liegen. Die Geigerin pflegt zudem die Barockmusik. Jüngster im Bunde der neuen „Jungen Wilden“ ist der 21jährige Cellist Edgar Moreau, geboren in Paris, bereits mehrfach ausgezeichnet, so 2011 beim renommierten Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb.

Das erste Konzert der Reihe gestaltet der Pianist Behzod Abduraimov am 18. September 2015, mit Werken von Schubert, Liszt und Mussorgsky. Abos für das Gesamtformat sind ab sofort erhältlich, Einzelkarten werden vom 15. Juni an verkauft. Der kurze Trailer ist unter https://www.youtube.com/watch?v=66nmqM-WHUs zu sehen.

Weitere Infos unter: www.konzerthaus-dortmund.de