Zwischen Goethe, Mafia und Mercedes – Andreas Rossmanns sizilianisches Tagebuch „Mit dem Rücken zum Meer“

Meine Lieblingsgeschichte aus dem sizilianischen Tagebuch ist die mit der Brücke: Wenn der Bürgermeister von Villarosa nach Caltanissetta in die Hauptstadt der Nachbarprovinz möchte, benutzt er dafür zwei Autos. Mit dem einen fährt er bis zur Brücke über den Salso, die seit einem Erdrutsch für Pkw gesperrt ist, geht zu Fuß auf die andere Seite und steigt dort in den geparkten Zweitwagen. So spart er 116 Kilometer.

Der Bürgermeister ist nicht der Einzige, der das so macht – viele Einwohner des Städtchens im Landesinnern (von den Studenten bis zum Apotheker) behelfen sich auf diese Weise.

Die Anekdote aus dem Jahr 2015 ist typisch für Andreas Rossmanns etwas anderes Reisetagebuch „Mit dem Rücken zum Meer“ über Sizilien. Denn es beschreibt pragmatisches Improvisationstalent, organisatorische Schwächen der Behörden und eine Unbeirrtheit von alledem, die die Mentalität der Sizilianer ausmacht – oder die Vorstellung davon aus der Sicht der Deutschen.

Allerdings kann man sich diese Praxis an der schon ewig in Reparatur befindlichen Autobahnbrücke auf der A 57 zwischen Düsseldorf und Köln hierzulande wirklich nicht vorstellen – den schlechtgelaunten Stau, den das hervorrufen würde, hingegen nur allzu gut.

Anekdote vom 29. April 1787

Tatsächlich hatte schon Goethe, der das deutsche Italienbild begründete bzw. prägte, Probleme mit genau diesem Fluss, erzählt Rossmann, der seine Reiserlebnisse gerne mit historischen Anekdoten verknüpft. Und zwar am 29. April 1787: „Regenwetter war eingefallen und machte den Reisezustand sehr unangenehm, da wir durch mehrere stark angeschwollene Gewässer hindurchmussten. Am Fiume Salso, wo man sich nach einer Brücke vergeblich umsieht, überraschte uns eine wunderliche Anstalt. Kräftige Männer waren bereit, wovon immer zwei und zwei das Maultier mit Reiter und Gepäck in die Mitte fassten und so durch den tiefen Stromteil hindurch (…) führten“.

Mehr als 200 Jahre später reist Andreas Rossmann, der Feuilletonredakteur der FAZ für Nordrhein-Westfalen, nicht mit der Kutsche, sondern mit dem Flugzeug nach Sizilien – zwischen 2013 und 2017 jedes Jahr – und beginnt schon an Bord, die Geschichten seiner Reisegenossen zu recherchieren. Denn nicht wenige dieser Sizilianer lebten oder leben in Deutschland, arbeiten hier und urlauben dort und betrachten nüchtern die Vor- und Nachteile beider Länder.

„Das Städtchen Mirabella Imbaccari“ schreibt Rossmann, „ist der Ort mit der höchsten Mercedes-Dichte, wenn nicht von ganz Italien, so doch von Sizilien. In den Siebzigerjahren sind mehr als die Hälfte der siebentausend Menschen, die damals hier lebten, nach Deutschland ausgewandert, um bei Daimler-Benz zu arbeiten.“

Neue Wege der Migration

Doch seitdem haben sich die Wege der Migration verändert: In Sizilien arbeiten viele Nordafrikaner, Rossmann unterhält sich mit den Putzfrauen im Agriturismo, wo er auf seinen Rundreisen quer durchs Land immer absteigt – meist familiär geführte Unterkünfte mit hervorragender Küche. Eine der Frauen stammt aus Marokko, Fremdenfeindlichkeit erlebe sie in Italien eigentlich wenig.

In Trapani, nördlich von Marsala an der Küste, trifft Rossmann ein Ehepaar aus Turin auf Urlaub: „Früher sind wir immer nach Lampedusa gefahren. Die Isola die Conigli ist der schönste Strand, den ich kenne. Aber, wenn ein Flüchtlingsboot gekentert ist, liegen dort hundert Leichen. Da kann man nicht mehr Urlaub machen.“

Griechisches Amphitheater in Syrakus

Natürlich besucht der Theaterkritiker aus dem Westen auch auf Sizilien ein Theater und zwar das Griechische Amphitheater in Syrakus. „Die Frösche“ von Aristophanes stehen auf dem Spielplan: Xanthias und Dionysius werden von Valentino Picone und Salvo Ficarra gespielt, politischen Kabarettisten aus Palermo, die zu den „bekanntesten Komikerpaaren Italiens gehören.“ Und der Mond ist nicht aus Pappe und die Bäume sind echte Bäume – jetzt weiß man, warum Rossmann sich nach seinem ersten Buch übers Ruhrgebiet „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“ als Sujet für das zweite eine südlichere Gegend ausgesucht hat. Die Fotos im Band sind allerdings wieder von der FAZ-Fotografin Barbara Klemm. Sie zeigen ein schwarz-weißes, ungeschöntes Sizilien, dunkle Ecken, karge Landschaften, verfallenen Charme.

Corleone und die Mafia

Und die Mafia? Was ist aus der eigentlich geworden? Rossmann fragt viel und erhält ausweichende Antworten. Nein, in diesem Dorf gebe es keine Mafia, im Nachbarort schon…Corleone ist ein adrettes Städtchen, von amerikanischen Touristen auf den Spuren des „Paten“ bevölkert. In Sizilien sei die Mafia auf dem Rückzug, zitiert Rossmann Thomas Grüßner, den Leiter einer Sprachenschule in Bagheria bei Palermo. „Von den fünfzig meistgesuchten Mafiosi sind 49 im Gefängnis. Mitte der 80er Jahre gab es in Sizilien zwei- bis dreihundert Mafiamorde im Jahr, 2013 sind es drei oder vier.“

Trotzdem werden an Touristen Stadtpläne der Anti-Mafia-Initiative „Addiopizzo (Tschüss, Schutzgeld) verteilt, die auf Lokale und Geschäfte hinweist, die sich weigern, Schutzgeld zu bezahlen und sich offen dazu bekennen.

Im Krankenhaus

Mit einem weiteren Vorurteil räumt Rossmann gründlich auf: Mit dem über das italienische Gesundheitssystem. Wegen einer Unpässlichkeit von der Ärztin an seiner Seite zum EKG geschickt, erlebt der Autor einen Tag im Ospedale Sant’Antonio Abate in Trapani. Die technische Ausstattung ist auf dem „allerneusten Stand“, er wird von äußerst kompetentem Personal komplett durchgecheckt und erhält zur Entlassung zwei engbedruckte Seiten mit Rundumdiagnose. Kaum zu glauben, das alles kostet nichts. „Sie bezahlen gar nichts“, belehrt ihn die behandelnde Ärztin, „solche medizinischen Leistungen sind in Italien kostenlos“.

Die Klimaanlage bei 45 Grad Hitze funktioniert tadellos. „Es gibt weniger angehnehme Möglichkeiten, den ersten heißen Sommertag zuzubringen“, schreibt Rossmann. Kultur, Geschichte und vor allem der Alltag Siziliens werden in seinen Reisereportagen plastisch – man hat nicht übel Lust, ins Flugzeug zu steigen und dem trüben Winter ebenfalls zu entfliehen.

Andreas Rossmann:Mit dem Rücken zum Meer. Ein sizilianisches Tagebuch.“ Mit Fotografien von Barbara Klemm. Verlag Walther König, Köln. 195 Seiten, 18 Euro. Lesung am 24.1. in Essen.




So also standen damals die Dinge – Bilder schlürfen, Dialoge trinken auf filmischen Zeitreisen in die 60er und 70er Jahre

In den letzten Wochen und Monaten habe ich zuweilen Streaming-Dienste wie vor allem den auf deutsche Filme spezialisierten Auftritt alleskino.de in Anspruch genommen, um mich auf cineastischem Wege in die späten 60er und frühen 70er Jahre zurückzuversetzen. Warum nur?

Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm von (Screenshot)

Weitwinkel-Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm „Fremde Stadt“ von 1972. (Screenshot)

Es war die Zeit, in der man sein bisschen Bewusstsein herausbildete, in der man sich aber stark und gelegentlich sogar unbesiegbar fühlte, was natürlich auch den einen oder anderen „Kater“ nach sich zog.

Wie sehr ist das alles mit der Zeit geschwunden! Wie kopfschüttelnd und zugleich verständnisinnig sieht man heute die Jungen sich am Weltenlauf abarbeiten.

Nun trinkt, schlürft und inhaliert man geradezu die Signaturen jener alten Zeiten, in denen man selbst so sehr nach vorne schaute. Musikalisch sowieso. Doch auch im Lichtspiel: Man scannt gleichsam jedes einzelne Bild. So also haben die Lichtschalter und Hinterhöfe ausgesehen. So die Möbel. So die Kleidungsstücke. So die Tapeten. So die Autos. So die Straßen und Gebäude. Wie man damals redete und sich gab…

Deutlicher und dringlicher als heute

Und man war ja selbst mitten darin, wohl deutlicher und dringlicher als heute. Eigentlich unfassbar. Es war Botho Strauß, der gegen Ende des Jahrzehnts in seinem Theaterstück  „Groß und klein“ (1978) den nachmals legendären Satz prägte: „In den siebziger Jahren finde sich einer zurecht!“

Es war ein anderes Deutschland damals. Es war anscheinend alles noch so einfach und vergleichsweise übersichtlich verteilt. Wie war das denn noch ohne Handy, Computer und all das Zeug? Wie war das mit den Schreibmaschinen? Man weiß ja kaum noch, wie das gegangen ist. Und was hat man damals versäumt? Wie wirklich und unwirklich hat man gelebt; keineswegs so, wie es einem im Kino vorkommt.

Auf den Spuren von Rudolf Thome

Besonders die Filme von Rudolf Thome („Tagebuch“, „Fremde Stadt“) haben es mir angetan. Nicht, weil sie besondere Meilensteine des Kinos wären, sondern weil sie so viel von dem Lebensgefühl jener Jahre enthalten und bewahren. In all ihrer Unbeholfenheit und Naivität. Oder gerade deshalb. Wie quälend in „Tagebuch“ – mit gesuchtem Bezug auf Goethes „Wahlverwandtschaften“ – Beziehungen durchkonjugiert wurden, jaja, so schrecklich verkopft war das mitunter in den Siebzigern. Und wie Thome beispielsweise versucht hat, amerikanische Gangsterfilme nachzubilden… Mit heißem Bemüh’n, jedoch teilweise mit untauglichen Mitteln, mit unzulänglichen Darstellern. Und dennoch: Respekt! Das damals in diesem Lande so gewagt zu haben, ist ein bleibendes Verdienst.

…und natürlich Wenders, Herzog, Fassbinder

Sogar May Spils‘ „Zur Sache Schätzchen“ habe ich mir noch einmal angetan. Und tatsächlich: Die impulsive Rebellion, das Andersseinwollen ist auch in diesem Film gültig aufbewahrt. Auch Ulrich Schamonis „Alle Jahre wieder“ habe ich mir abermals angeschaut, in dem das altbekannte Spießertum der westfälischen Provinz (Münster) und seine noch zaghaften Gegenkräfte wieder aufleben. Kein Wunder, dass der Streifen alljährlich zur Weihnachtszeit am Hauptdrehplatz wieder und wieder gezeigt wird, wie andernorts nur „Das Leben des Brian“.

Auch Wim Wenders‘ „Alice in den Städten“ und Werner Herzogs „Stroszek“ zählen zum Umkreis der Filme, die mich zuletzt wie magisch angezogen haben. Und ich weiß schon, dass demnächst die üblichen Verdächtigen wieder an der Reihe sein werden: mehr von Wenders, Herzog und Fassbinder. Lieber noch wär’s einem auf der Kinoleinwand, doch zeigt mir bitte das Lichtspielhaus im Ruhrgebiet, in dem nennenswerte Arthouse-Retrospektiven laufen. Dabei wäre das Publikum der passenden Jahrgänge durchaus vorhanden.

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P.S.: Der obige Screenshot kommt erst in Vergrößerung richtig zur Geltung. Ein Hinweis zu Vorgehen:  https://www.revierpassagen.de/groessere-bilder




Soziale Miniaturen (18): Herrscher im Supermarkt

Nikolaustag. Im Supermarkt sind heute alle Mitarbeiter gehalten, Nikolausmützen zu tragen. Man fragt sich, was geschieht, wenn jemand dieser Anweisung nicht Folge leistet.

Über das Gehabe mancher Machthaber können diese Nikoläuse nur lächeln. (Foto: Bernd Berke)

Über das Gehabe mancher Chefs können diese Nikoläuse nur milde lächeln. (Foto: BB)

Möglich, dass manche bei diesem Mummenschanz gern oder wenigstens achselzuckend mitspielen. Es kann aber auch sein, dass es einigen unangenehm ist oder dass es gar auf eine kleine Demütigung hinausläuft. Es wirkt ja auf den ersten Blick nicht gerade souverän, wenn jemand die tagtägliche Arbeit vor aller Kundschaft mit einer solchen Mütze zu verrichten hat. Müsste man darauf nicht Rücksicht nehmen?

Jetzt aber aufgemerkt! Auf einmal ist zwischen den Regalen eine weithin dröhnende Stimme zu vernehmen, die allseits einen guten Tag wünscht. Sie gehört einem Mann, der buchstäblich großspurig daherkommt. Sogleich bemerken auch Kunden, die ihn nicht kennen: Das ist der Chef. Das muss er sein. Und er ist es.

Eine Assistentin (?) folgt ihm diensteifrig auf Schritt und Tritt. Das Ganze wirkt wie ein Kontrollgang, der Konsequenzen haben könnte.

Sein “Guten Tag!” klingt zunächst einmal leutselig, doch kann man sich sehr gut vorstellen, wie diese offenbar befehlsgewohnte Stimme im Nu ins Bedrohliche umschlagen kann. Denn der Mann ist in seinem Supermarkt-Reich ein Herrscher, wie er im Buche steht. Auf diesem Level kann das Gehabe eines Machtmenschen freilich leicht ins Lächerliche kippen.

Von einer Nachbarin hatte ich einige Wochen zuvor dies gehört: Sie habe sich im besagten Supermarkt über angegammeltes Bio-Hackfleisch beschweren wollen, und zwar beim Geschäftsführer. Da kam also der Herr gravitätisch daher, stellte sich namentlich vor, bewegte seine Hand im großen Kreis und teilte erst einmal mit, dass ihm “dies alles hier” gehöre. Der Nachbarin hat das nicht übermäßig imponiert. Ihre Antwort: “Das mag ja sein, aber mir geht es jetzt um dieses Hackfleisch…” Gut gegeben.

Auf jeder einzelnen Plastiktüte seiner Supermärkte (jawoll, er hat in mehreren Läden die Hoheit) lässt sich der Machthaber fotografisch als alles überragender, behütender Patriarch abbilden. Er hält ein Herz in den Händen, und in diesem Herzen drängeln sich wie auf einem Wimmelbild nahezu 200 seiner Angestellten. Ich werde mich hüten, die Illustration hier zu verwenden und bleibe lieber unverfänglich.

Warum aber hatte ich vorhin das dumpfe Gefühl, dass sich bei seinem leibhaftigen Erscheinen diese oder jene Mitarbeiterin ein klein wenig geduckt hat? Es war sicherlich nur ein Hirngespinst. Vergesst es.




Der Nikolaus und die Phantasie, die wir so dringend brauchen

Gastautor Heinrich Peuckmann über den Nikolaus und seine bleibende Bedeutung:

In letzten Jahr habe ich nach vielen Jahren Pause anlässlich des Besuches meiner Nichte und ihrer beiden kleinen Töchter das Nikolauskostüm aus dem Schrank geholt. Während meine Frau und einer meiner Söhne unsere Gäste im Wohnzimmer begrüßten, hielt ich mich versteckt.

Nicht der Verfasser dieses Beitrags, wohl aber der Blogbetreiber Bernd Berke in früheren Jahren mit dem Nikolaus. (Foto: Berke / Privat)

Besuch vom Nikolaus vor etwas längerer Zeit. (Foto: B. Berke / Privat)

In einem passenden Moment schlich ich mich in den Keller, zog mir das Kostüm an, schaute in einen Spiegel und erkannte mich selbst nicht mehr. Kein Zweifel, das war er, der mir da im Spiegelbild entgegen lächelte, der Nikolaus mit seiner Knollennase. Über die Terrasse ging ich offen auf unser Haus zu, die beiden Mädchen entdeckten mich sofort und kamen auf die Tür zugelaufen.

Ein skeptischer Grundschüler

Die Kleinere hat mich zwar sofort erkannt, aber das machte nichts. Bevor der Nikolaus die Geschenke aus seinem Sack holte, haben beide brav ein Gedicht aufgesagt und natürlich nicht mit der Rute Bekanntschaft gemacht. Wo kämen wir da hin? Die bekam sanft einer meiner Söhne zu spüren, weil der seinen Vater im verflossenen Jahr geärgert hatte. Der Nikolaus hatte irgendwie davon erfahren.

Nachher, um die Zweifel der Kinder zu mehren, ging der Nikolaus für alle sichtbar an unserem Haus vorbei zur Nachbarstraße, drehte sich noch ein paarmal um und winkte ihnen zum Abschied zu. Was der Nikolaus nicht wusste, im Nachbarhaus packten gerade zwei Kinder ihre Stiefel aus, in die der Nikolaus etwas hineingelegt hatte, und der Größere, ein Grundschuljunge, erklärte selbstbewusst, den Nikolaus gäbe es gar nicht, es sei seine Oma gewesen, die die Stiefel gefüllt hätte. Hatte sie auch und wusste deshalb keine Antwort. Aber dann schaute sie zufällig aus dem Fenster und rief: „Aber da ist er ja, der Nikolaus. Kommt schnell, dann könnt ihr ihn noch sehen.“

Die Welt mit anderen Augen sehen

Die Kinder stürmten zum Fenster und tatsächlich, da stand ein kleiner dicker Nikolaus mit Knollennase vor ihnen auf der Straße. Und noch besser, er winkte ihnen sogar zu, jedenfalls glaubten sie das. Selbst der Skeptiker, der Grundschuljunge, staunte mit offenem Mund und winkte, zur Freude seiner Oma, zaghaft zurück.

Kindheit braucht Geheimnisse, an denen sich Phantasie entzündet. Gerade der uralte Mythos liefert sie und gibt Anstoß, die Welt anders zu sehen, als sie gerade erscheint. Kinder nehmen das mit ins Leben, haben Freude an weiteren Geheimnissen und empfinden es als Anstoß, die Welt mit Phantasie immer neu zu sehen.

Und nebenbei schult es die Sozialkompetenz. So können die Kinder sich besser in die Lage ihres Nächsten versetzen, können Probleme, Ängste und Freuden nachempfinden und rücksichtsvoll darauf eingehen. Eine Fähigkeit, die sie mitnehmen ins Erwachsenenleben und dann vielleicht noch mehr benötigen.

Wider das zweckrationalistische Menschenbild

Wie traurig, dass pseudoaufklärerische Eltern  diese Gelegenheit nicht nur verstreichen lassen, sondern ihren Kindern auch noch vermeintlich rationale Erklärungen geben, warum das alles Humbug sei. Sie merken nicht, wie sie dabei einem Menschenbild Vorschub leisten, das sowieso schon den größten Teil unseres Lebens beherrscht. Einem Menschenbild der Zweckmäßigkeit, der bloßen Tätigkeit zur Gewinnmaximierung, des klaren Kalküls. Ein Weltbild insgesamt, das alles unter den Vorbehalt der Berechnung und Berechenbarkeit stellt.

Phantasie, und das heißt allemal, sich eine Welt vorstellen zu können, die anders ist als jene, die uns gefangen nehmen will und die, wer weiß, vielleicht sogar Wirklichkeit werden könnte, stört da nur. Sie ist, man muss das deutlich sagen, systemkritisch. Nackte Fakten, angeblich unumstößlich, sollen unser Denken prägen und jenen, die davon bestens profitieren, ihre Gewinne sichern und ihre Gier stillen.

Börsenmakler missbrauchen den Begriff

Das Wort Phantasie taugt da nur noch in der Verwendung der Börsenmakler. Diese oder jene Aktie, verkündigten sie lauthals, lasse noch „Phantasie“ nach oben offen und meinen damit nichts anderes als weiteren Gewinn und Abzocke. Das arme Wort, angetan, sich neue, ganz andere Welten vorzustellen, kann sich gegen den Missbrauch nicht wehren. Unbarmherzig wird es in jene Welt eingebaut, gegen die es eigentlich steht. Ihm geht es da nicht besser als dem Nikolaus, der nicht als Beglücker der Kinder für ein barmherziges Leben stehen soll, sondern der im Kaufhaus Anreiz für Konsum schaffen muss, der zum Weihnachtsmann mutiert und ganz Konsumgeist wird.

Geheimnisse erleben, Phantasie entwickeln, wie wichtig in allen Zeiten. Und wie schnöde und gedankenlos kaputt gemacht für ein Weltbild, das viele Erwachsene nicht einmal durchschauen. Wie denn auch? Wie sollten sie genug Phantasie entwickeln, sich die Welt anders vorzustellen als sie gerade ist, wenn sie schon gedankenlos jene ihrer Kinder unterdrücken.

Unser Nikolaus war jedenfalls zufrieden mit seinem Auftritt. Er hat keine Kinder geängstigt, wie das oft als Argument gegen den Mythos verwendet wird, sondern er hat ihre Vorstellungen von Leben erweitert und Zweifel an der rein rationalen Zweckmäßigkeit gestreut. Unser Nikolaus soll, als er heimlich in den Keller zurückkehrte, laut gelacht haben. Aber ob das stimmt, muss man ihn am besten selber fragen.




„Experiment“: Dortmunder Schau stellt Fragen zur Kulturgeschichte der chemischen Erfindungen

Bloß keine Scheu vor Elementen und Molekülen! Diese Schau handelt zwar von Erfindungen in chemischen Laboren, doch als Besucher muss man keine einzige Formel parat haben. Schaden kann’s freilich auch nicht.

Fast schon auratische Exponate in der DASA-SChau: Potenzielle Wirkstoffe, die Paul Ehrlich um 1907 für seine Forschungen verwendete. (Foto: Bernd Berke)

Fast schon auratische Exponate in der DASA-Schau: Potenzielle Wirkstoffe, die Paul Ehrlich um 1907 für seine Forschungen verwendete. (Foto: Bernd Berke)

Die recht kurzweilige Zusammenstellung mit dem knappen Titel „Experiment“ entfaltet in der Dortmunder DASA (Arbeitswelt Ausstellung) eher lebens- und alltagsnahe Geschichten, um ausnahmsweise mal nicht von „Narrativen“ zu sprechen.

Verantwortlich zeichnet vorwiegend ein Team von Kulturgeschichtlern des Historischen Museums Basel, mit dem die DASA diesmal kooperiert. Und offenbar hat die sprichwörtliche Chemie zwischen Basel und Dortmund gestimmt.

Just in jener schweizerischen Stadt Basel mit ihren großen Pharma-Weltkonzernen (Novartis, Hoffmann-La Roche) wurde schon so manche chemische Innovation ausgetüftelt. Doch die Ausstellung sieht weitgehend von derlei örtlichen Begrenzungen ab und stellt Fragen von allgemeinem, wenn nicht globalem Interesse.

Am Anfang war die Steinkohle

Wenn man so will, hat das Ganze allerdings einen gewichtigen Ursprung auch im Ruhrgebiet. Ein großes Kohlestück (von Prosper Haniel in Bottrop) im Raum, in dem ein kurzer Einführungsfilm gezeigt wird, soll es beglaubigen. Denn aus den Teerprodukten der Steinkohle entwickelten sich die Anfänge der modernen Chemie – zunächst mit ungeahnt variantenreichen synthetischen Farbstoffen, hernach mit dem ganzen, ins schier Uferlose anwachsenden Arsenal zwischen Medikamenten, Kosmetik und Kunststoffen.

Die Ausstellung gliedert sich auf 800 Quadratmetern in vier Kapitel mit jeweils mehreren bedeutsamen „Erzählungen“, die sowohl eilig als auch etwas gründlicher nachvollzogen werden können. Ganz bewusst hat man Wert auf mehrere „Vertiefungs-Ebenen“ gelegt. Natürlich gibt es nicht nur Schautafeln und Objekte, sondern auch Touchscreens zur gefälligen Nutzung.

Innovation durch Planung oder Zufall?

Die Eingangsfrage lautet, ob Innovation sich eher der Planung oder dem Zufall verdanke. Die generelle Antwort lautet, wie man sich denken kann: sowohl als auch. Spätestens mit der Industrialisierung sind es allerdings nicht mehr nur einzelne Genies, die die großen Entdeckungen machen, sondern zunehmend gut ausgestattete Teams in großen Firmen.

Ungemein modern mutet etwa die Produktionsweise bei Bayer an, wo schon früh etliche Chemiker und Laboranten in einem Zentrallabor zusammenarbeiteten, dessen Struktur beinahe schon so offen war wie bei heutigen kalifornischen Internet-Riesen. In der Mitte des Labors erstreckte sich ein größerer Bereich, in dem sich die Mitarbeiter informell treffen und plaudern konnten. Insbesondere freitags muss dort eine sehr entspannte Atmosphäre geherrscht haben – offenbar beste Bedingungen z. B. für die Kreation von Aspirin (1897).

Laborproben von Paul Ehrlich und Alexander Fleming

Bei seiner Entdeckung des Wirkstoffs für Salvarsan (erstes Mittel gegen Syphilis) hatte Paul Ehrlich als „Einzelkämpfer“ ohne unmittelbaren Verwertungsdruck aus der Industrie noch erheblich mehr Mühe. Die Ausstellung kann auf ein paar echte Proben aus seinem Labor zurückgreifen, ebenso auf originale Schimmelkulturen des Penicillin-Entdeckers Sir Alexander Fleming. Kann man hier von auratischen Exponaten sprechen? Egal. Paul Ehrlich benötigte jedenfalls 606 aufwendige Versuche, bis Salvarsan reif für den Markt war.

Ein Zwischenfazit lautet, dass der glückhafte Zufall vor allem jene Forscher begünstigt hat, die ihn gleichsam mit wachem Sinn erwarteten und geistig darauf eingerichtet waren. Aus diesem Befund könnte die eine oder andere Lebensregel erwachsen.

Dem historischen Bewusstsein aufhelfen

Nicht zuletzt könnte die Ausstellung dem bislang nur mäßig ausgeprägten historischen Bewusstsein der Leute vom chemischen Fach aufhelfen. So präsentiert man in Dortmund auch Modelle und Apparaturen, die sozusagen im letzten Moment vor der Müllentsorgung gerettet wurden. Kam ehedem eine neue Technik auf, so warf man die alte eben ungerührt weg. Doch es hat sich herumgesprochen, dass auch der ruhelose Fortschritt seine Geschichte hat, die festgehalten und mit einer gewissen Skepsis betrachtet zu werden verdient.

Eine DASA-MItarbeiterin betrachtet Ausstellungsstücke in der Vitrine zur Erfindung des Tonbands. (Foto: DASA)

Eine DASA-Mitarbeiterin betrachtet Ausstellungsstücke in der Vitrine zur Erfindung des Tonbands und anderer Tonträger. (Foto: DASA)

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Rechten und Patenten. Auch das ist hier kein trockener Stoff. Die Frage, wem Innovationen eigentlich gehören, kann durchaus spannend sein; beispielsweise, wenn es um die Patentierung lebender Organismen geht – von der noch harmlosen Bierhefe bis zur (besonders für die Krankheit anfälligen) „Krebsmaus“. Damit rückt auch die ethische Frage nach Tierversuchen in den Blick. Zudem wird erwogen, wie man milliardenschwer entwickelte Medikamente den Menschen in armen Ländern der Erde zugänglich machen kann. Man ahnt schon: Die Ausstellung schneidet enorm viele Großthemen an.

Gesellschaftliche Bedürfnisse als Triebkraft

Weiter geht’s mit gesellschaftlichen Bedürfnissen als Innovationsmotor. Insofern kamen chemische Erfindungen wie Bakelit, Tonbänder, neue Klebstoffe oder auch eine spezielle Sonnenmilch oft gerade zur rechten Zeit. Obwohl es zuweilen auch machtvolle Innovations-Bremsen gegeben hat: Forschungen zur Antibaby-Pille liefen schon in den 1920er Jahren und zeitigten konkrete Ergebnisse, sie wurden jedoch moralisch verdammt und kamen erst in den 60er Jahren wieder zum Zuge, übrigens auch finanziell von Feministinnen gefördert. Die Zeit der „Pille für den Mann“ ist indes immer noch nicht gekommen, obwohl sie längst machbar ist.

Risiken und Nebenwirkungen

Die ohnehin schon einigermaßen kritisch ausgerichtete Schau widmet sich am Ende noch einmal eigens den „Risiken und Nebenwirkungen“ der Chemie. Horrible Stichworte sind hierbei FCKW (in Kühlschränken), das sich als Klimakiller erwies, das inzwischen ebenfalls geächtete, aber leider langlebige Pflanzengift DDT, das Medikament Contergan und der gefährliche Baustoff Asbest. Aus all dem hat man mit der Zeit Lehren gezogen. Inzwischen macht die Risikenabschätzung einen nicht geringen Teil der Entwicklungskosten aus. Es möge nützen.

Vor Jahresfrist kamen etwas über 20.000 Besucher zur Baseler Ausgabe der Ausstellung, was für ein historisches Museum achtbar ist. In Dortmund, wo man vor allem auch Schulen (ca. ab Klasse 7)  anspricht, rechnet man mit deutlich mehr Zuspruch. Die DASA hat sich schon mehrfach als Besuchermagnet erwiesen, so zuletzt mit einer inspirierenden Schau über Roboter, deren Unterhaltungswert diesmal nicht ganz erreicht wird. Zum Ausgleich sind die Lerneffekte jetzt womöglich größer.

„Experiment“. Eine Ausstellung über Erfindungen aus dem Chemie-Labor. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25 (Nähe Universität). Vom 10. November 2017 bis zum 15. Juli 2018. Mo bis Fr 9-17, Sa/So/Feiertage 10-18 Uhr. Eintritt: Erwachsene 8 (ermäßigt 5) Euro, Schulklassen pro Person 2 Euro.

Tel.: 0231 / 9071-2479. www.dasa-dortmund.de




Ex-Feuilletonchef der „Zeit“: Ulrich Greiner bekennt sich jetzt entschieden zum Konservatismus

Kulturbeflissene kennen Ulrich Greiner noch als Feuilletonchef der gediegenen Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Damals war der Mann eher linksliberal geprägt – wie wohl die überwiegende Mehrzahl der bundesdeutschen Kulturjournalisten. Nun aber legt er ein Buch mit dem unterschwellig pathetischen Titel „Heimatlos“ vor, in dem er sich entschieden zum Konservatismus bekennt, dem er sich nach und nach genähert habe.

Ulrich Greiner (Jahrgang 1945) konstatiert, was ihm offenbar selbst und zunächst beinahe unmerklich widerfahren ist, als Zeichen einer allgemeinen gesellschaftlichen Bewegung: Die seit Jahrzehnten gültige kulturelle Hegemonie der Linken sei im Schwinden begriffen, ihre Ideologie sei auf breiter Front gescheitert.

Namensliste, die Linke auf die Palme bringt

Als seine geistigen Bezugspunkte nennt er eine Reihe von Dichtern und Denkern, die gestandenen Linken die Haare zu Berge stehen lassen dürfte: Rüdiger Safranski, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach, Peter Sloterdijk und Botho Strauß, dessen Abkehr von einer „Totalherrschaft der Gegenwart“ beispielhaft sei.

Greiner redet enttäuscht von Fehlern in der Flüchtlingspolitik, von drohender und akuter Islamisierung, vom seiner Meinung nach unguten „Anpassungsmoralismus“ der tonangebenden Medien. Auch das Diktum von der „Lügenpresse“ sei nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Die Globalisierung ähnele eher einem Kampfplatz als einem Versprechen auf erstrebenswerte Zukunft.

Abendland, Christentum, traditionelle Familie

Auch nimmt Greiner insbesondere die katholische Kirche, sofern sie denn nicht liturgisch herabgedimmt und gar zu verweltlicht ist, ebenso gegen gehässige Angriffe in Schutz wie die traditionelle Familie.

Christentum und Abendland sind hier nicht – wie so oft üblich – Zielscheiben für verächtliche Attacken, sondern Anstöße zur erstrebenswerten „Tiefenerinnerung“. Greiner sucht denn auch das Deutsche, das „Eigene“, vom Fremdem abzuheben, insbesondere vom mitunter schwer integrierbaren Islam, dessen radikalisierten Positionen man nicht so bereitwillig nachgeben solle. Da schwingt der vielfach zerfetzte Begriff von der „Leitkultur“ mit.

Kritik am allfälligen Gleichheitsanspruch

Muss man noch eigens betonen, dass der Autor in der „Ehe für alle“ einen Verlust der natürlichen Genealogie sieht und überhaupt die Selbstermächtigung des Menschen durch Reproduktions-Medizin beklagt? Allüberall sieht er egoistische Selbstverwirklichung im Namen eines prinzipiell unerfüllbaren Gleichheitsanspruchs am Werk. Die Gesellschaft verliere sich in lauter Partikularinteressen. Hier fällt denn auch der uralt-konservative Begriff vom bedauerlichen „Verlust der Mitte“. Als Konservativer, so Greiner, fühle er sich jedenfalls in diesem Lande oft ziemlich heimatlos.

Bloß nicht in AfD-Nähe geraten

So sehr scheint sich Greiner zwischenzeitlich sogar in die Nähe von AfD-Positionen zu schreiben, dass er immer mal wieder (glaubhaft) betonen zu müssen glaubt, wie sehr er das Gebaren jener Partei verabscheue. Nicht ganz so vierschrötig-stiernackige Kreise der CSU könnten freilich den feinsinnigen Feuilletonisten durchaus zu perspektivischen und wahrscheinlich größtenteils einvernehmlichen Hintergrund-Gesprächen einladen.

Wäre Greiner nicht Kulturchef der liberalen „Zeit“ gewesen, hätte sein allmählicher Positionswechsel wohl nicht so sehr interessiert. So aber kündet sein Kompendium eines (Neu)-Konservativen womöglich von einem bedeutsamen Paradigmenwechsel, der weitere Felder der Gesellschaft betrifft. Auch Leute, die ganz anders über die Zeitläufte denken, sollten sich damit ernsthaft auseinandersetzen.

Ulrich Greiner: „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“. Rowohlt Verlag, 160 Seiten, 19,95 Euro.

 




Ob Gebühren oder Gedichte – Wenn alles zur Zumutung wird

Im Aufmacher der feiertäglichen WAZ-Titelseite geht es um Studiengebühren. Demnach möchten NRW-Hochschulen die Langzeitstudenten (so ca. ab dem 20. Semester und darüber hinaus) ein wenig zur Kasse bitten. Bis jetzt sind es nur Gedankenspiele.

Bekleidung zur Demo gegen Studiengebühren beim bundesweiten Bildungsstreik 2009 - hier am 17. Juni 2009 in Göttingen. (Foto: Niels Flöter / miRo-Fotografie) - Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en

Hier hatte der Protest noch einen gewissen Pfiff: Bekleidung zur Demo gegen Studiengebühren beim bundesweiten „Bildungsstreik“ – hier am 17. Juni 2009 in Göttingen. (Foto: Niels Flöter / miRo-Fotografie) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en

Schließlich, so die hauptsächliche Begründung, profitierten diese zögerlichen Studenten ja auch viele Jahre lang von günstigem Mensa-Essen, dito von preiswerten Nahverkehrstickets und speziellen Tarifen bei der Krankenversicherung. Womit noch nicht alle Vorteile genannt sind.

Falls nicht besondere Umstände vorliegen (Krankheit, sonstige Notlage), die eben geprüft werden müssten, finde ich die Gebührenpläne durchaus nachvollziehbar, sofern sie sich im moderaten Rahmen bewegen. Etwa 74000 Langzeitstudenten, rund zehn Prozent aller Studierenden, blockieren dem Bericht zufolge in NRW Studienplätze an den ohnehin schon überfüllten Hochschulen.

„In jedem Fall diskriminierend“

Okay, bevor jemand fragt, gestehe ich freimütig: Auch ich bin nicht in 8 Semestern fertig geworden, sondern habe zwölf gebraucht. Ein wenig Orientierungsphase und so genanntes „Studentenleben“ sollten schon möglich sein. Eng getaktete Verschulung gibt’s inzwischen mehr als genug, uns ging’s in der Hinsicht noch besser. Jedoch: Sind 20 Semester und mehr noch statthaft? Langwierig auch auf Kosten von Steuer zahlenden Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern zu leben, ist alles andere als „cool“.

Worauf ich aber hinaus will, ist der unsägliche Ausspruch eines Studentenvertreters, der da laut WAZ folgenden Satz von sich gegeben hat:

„Gebühren sind in jedem Fall diskriminierend.“

Also ehrlich, bei diesem Schwachsinn schwillt mir einfach der Kamm.

Dümmlicher Zynismus

Weiß der Bursche, der übrigens Michael Schema heißt (keine Scherze mit Namen!), überhaupt, was er da faselt? Kennt er eigentlich die wirkliche Bedeutung des Wortes Diskriminierung? Fühlt er sich auch diskriminiert, wenn Miete und Stromrechnung fällig werden oder wenn er in der S-Bahn seinen Fahrschein vorzeigen soll? Ist ihm bewusst, dass sein Ausspruch nicht nur dümmlich, sondern nachgerade zynisch ist, wenn man an wirklich diskriminierte Menschen denkt?

Aber wir erleben ja schon seit geraumer Zeit, worauf es hinausläuft mit dem diffusen Gefühl, „diskriminiert“ und benachteiligt zu werden. Im Gefolge der political correctness an US-Universitäten, wo einem (weitaus seltener: einer) Lehrenden mitunter jede scherzhafte Äußerung als „Mikro-Aggression“ ausgelegt werden und blitzschnell zum Karriereende führen kann, breitet sich auch hier eine erschreckende Überempfindlichkeit aus, die allüberall Zumutungen und Verletzungen wittert.

Bewunderung als Belästigung?

Ein neueres Beispiel rankt sich um einen unschuldsvoll-harmlosen Text des Lyrikers Eugen Gomringer (92) aus dem Jahr 1951. Seit vielen Monaten wogt eine heftige Debatte um folgende Zeilen, die den Titel „Avenidas“ tragen:

Fassade der Berliner Alice Salomon Hoschule für Sozialarbeit, Gesundheit und Erziehung im Februar 2011. (Foto: Auto 1234 - Self photographed) Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.en

Schmucklos genug: Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule für Sozialarbeit, Gesundheit und Erziehung im Februar 2011. (Foto: Auto 1234 – Self photographed) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.en

„Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer“

Ganz, ganz schlimm, nicht wahr? Das findet jedenfalls der Allgemeine Studierendenausschuss (Asta) der Berliner Alice Salomon Hochschule, an deren Fassade der Text seit 2011 steht. In Gomringers Gedicht werde die „patriarchalische Kunsttradition“ reproduziert, in der Frauen nur die Musen seien, die den männlichen Künstler inspirieren.

Und weiter im Asta-Sprech, nun vollends losgelöst vom dichterischen Sinn: „Es (das Gedicht, d. Red.) erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind.“ Selbstredend wird die Entfernung des Gedichts gefordert. War da nicht mal was?

Sie wähnen sich für alle Zeit im Recht

Nach diesem „Verständnis“ dürfte man Frauen also nicht einmal mehr bewundern. Dass die Studierenden weder einen blassen Schimmer vom Zeitkontext des Gedichts noch von Lyrik überhaupt haben, darf man mit Fug vermuten. Diskutieren wollen sie über ihre bodenlos ahnungsfreie Gedicht-„Interpretation“ selbstverständlich auch nicht. Sie wähnen sich fraglos ein für allemal im Recht.

Gomringer, ein Doyen der Konkreten Poesie, sprach jetzt im Deutschlandfunk von „Säuberung“. Auch diese Wortwahl mutet einstweilen noch übertrieben an. Aber der Zorn des großen alten Mannes ist nur zu berechtigt.




Bochumer Ausstellung „Umbrüche“: Wie Fotokünstler den stetigen Wandel des Ruhrgebiets gesehen haben

Das Ruhrgebiet kann man auf sehr verschiedene Arten betrachten – auch und gerade mit künstlerisch inspiriertem Sinn. Diese an sich nicht allzu überraschende Weisheit wird jetzt in einer Bochumer Fotografie-Ausstellung sehr entschieden bekräftigt. „Umbrüche“ heißt die anregende Schau im „Museum unter Tage“ („MuT“), das im allseits durchgrünten Ambiente des Schlossparks von Bochum-Weitmar gelegen ist.

Rudolf Holtappel: "Die letzte Schicht", Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Rudolf Holtappel: „Die letzte Schicht“, Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Der Titel lässt ahnen, dass es abermals um den Wandel der Industrielandschaft geht, der sich schon seit etlichen Jahrzehnten vollzieht. Dennoch ist es keine regionalgeschichtliche Themen- und Überblicksausstellung, sondern eine genuin künstlerische, die just unterschiedliche ästhetische Positionen markiert.

Anlass zum Innehalten

Gewichtiger Anlass zum Innehalten: 2018 wird mit Prosper Haniel in Bottrop die letzte aktive Zeche des gesamten Ruhrgebiets den Betrieb einstellen. Da lohnt sich erst recht der Blick zurück, der womöglich auch Perspektiven für die Zukunft eröffnet. Denn die Frage, wie man den viel beschworenen Strukturwandel gestalten soll, ist ja immer noch nicht hinreichend beantwortet. Wie denn auch? Es ist eine bleibende Aufgabe.

Den Schwerpunkt und den Auftakt des Ausstellungs-Rundgangs bildet ein famoses Konvolut mit rund 110 Fotografien von Rudolf Holtappel. Selbst Ruhrgebietsbewohner, hat der als Reportage-, Theater- und Unternehmensfotograf tätige Holtappel Wesen und Wandel dieser Region besonders in den 60er und 70er Jahren festgehalten. Trotz weltweiter beruflicher Reisen sind die vorwiegend in Duisburg und Oberhausen entstandenen Revier-Bilder der Kern seines Lebenswerks.

Weit entfernt von Revier-Klischees

Tatsächlich formieren sich geradezu monströse Industrieanlagen in seinen Aufnahmen zu „Landschaften“ ganz eigener Art, die sich übermächtig in ursprünglich agrarisch genutzte Areale gefräst haben. Diese Fotografien sind freilich weit entfernt von Ruhrgebiets-Klischees. Mit den Begriffen Wirklichkeit und zumal Wahrheit soll man bekanntlich vorsichtig sein, doch hier leuchten Momente auf, die dem Ideal einer wahrhaftigen Essenz wohl sehr nahekommen.

In Bochum sind ausschließlich eigenhändige Abzüge Holtappels zu sehen, nach weniger guten Erfahrungen mit Profi-Laboren („Das sind nicht mehr meine Bilder!“) hat er seinerzeit den ganzen Herstellungsprozess an sich gezogen. Und siehe da: Auch anhand seiner relativ kleinformatigen Abzüge (er wollte die Betrachter nicht mit schierer Größe überwältigen), die vorwiegend für den Druck und nicht für Museumswände gedacht waren, kann man dennoch der Textur der Dinge und den feinsten Nuancen von Grautönen nachspüren. Nie und nimmer könnte man solche ästhetischen Valeurs mit Digitalfotografie erzielen.

Verwurzelung und ungebrochene Vitalität

Der Fotokünstler hat nicht nur Industrieanlagen und den damals noch so rußigen Himmel auf Bilder gebannt, sondern auch einprägsame Momente des Ruhrgebiets-Lebens – von Bergarbeiterstreiks gegen die ersten Zechenschließungen in den 1960er Jahren bis hin zu Kleingarten-Refugien und prallen Kneipenszenen, die von Verwurzelung und unverfälschter Vitalität künden.

Rudolf Holtappel ist 2013 mit 90 Jahren in Duisburg gestorben. Seine Witwe Herta hat der Bochumer Stiftung „Situation Kunst“ (zu der das Museum unter Tage gehört) etwa 150 Ruhrgebiets-Fotografien als Schenkung überlassen. Von den Arbeiten, die nun zu sehen sind, ist die Hälfte noch nie öffentlich gezeigt worden.

Bernd und HIlla Becher: "Hochofen", Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Bernd und Hilla Becher: „Hochofen“, Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Gespür für kulturhistorischen Wert

Wie grundlegend anders erscheinen Revier-Ansichten im Oeuvre von Bernd und Hilla Becher! Fast schon steril und blutleer muten ihre Aufnahmen der Oberhausener Gutehoffnungshütte seit Mitte der 60er Jahre an. Doch es ist eben eine andere, ebenso schlüssige Herangehensweise.

Als monumentale Denkmäler ihrer selbst erscheinen hier die gigantischen Industriebauten. Spuren von Alltag und Arbeit scheinen sich verloren zu haben. Schon früh entwickelten die Bechers offenkundig ein weit vorausschauendes Gespür für den kulturhistorischen Wert solcher Anlagen, den sie möglichst „objektiv“ dokumentieren wollten. Wenn man weiß, dass die Gutehoffnungshütte bereits damals von Schließung bedroht war, so könnte die fotografische Serie auch den (hilflosen) Gestus eines Rettungsversuchs haben.

Verletzungen der Stadtlandschaft

Bis hierher hat man Schwarzweiß-Aufnahmen gesehen, jetzt beginnt die Farbzeit, allerdings in verhaltenen Tönen: In den 80er Jahren hat sich der in Dülken/Niederrhein geborene Joachim Brohm (Jahrgang 1955) fotografisch im Revier umgetan. In nahezu verblichen wirkenden Farben hat er vor allem schmerzliche „Verletzungen“ in Randzonen der Stadtlandschaften aufgesucht.

Joachim Brohm: "Ruhr", Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Joachim Brohm: „Ruhr“, Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Es sind bestürzende Hinterlassenschaften der Industrie und brachialer Umgestaltung: veritable Wüsteneien und öde Orte der Tristesse, in denen kaum noch etwas zu geschehen scheint. Eine ganze Region, so der Eindruck, ist gleichsam entleert worden und liegt brach. Darüber ist man heute noch nicht überall hinweg.

Bis zum Rand der Abstraktion

Jitka Hanzlová, 1982 ohne jegliche deutsche Sprachkenntnis aus der Tschechoslowakei ins Ruhrgebiet „verweht“, wie sie sagt, setzt die beinahe abstrakten Schlussakzente der Ausstellung. Fast schon Hassliebe sei es, was sie ans Ruhrgebiet binde, sie könne nur sehr subjektiv ans Sichtbare herangehen. Mit ihrer zuweilen radikal ausschnitthaften Sichtweise begibt sie sich an unscheinbare Stellen, die unter ihrem besonderen Blick freilich mit rätselvoller Magie aufgeladen werden. Ob es ein böser oder guter Zauber sei, verraten diese Bilder gewiss nicht.

„Umbrüche: Industrie – Landschaft – Wandel“. Museum unter Tage („Situation Kunst“, Schlossstr. 13, Bochum, Parkgelände Haus Weitmar). Geöffnet Mi-Fr 14-18 Uhr, Sa/So/Feiertage 12-18 Uhr. In Bochum noch bis zum 25. März 2018 (anschließend im Willy-Brandt-Haus, Berlin: 5. April bis 27. Mai 2018). Vierteiliger Katalog im Schuber 32 Euro.

Infos: www.situation-kunst.de

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Wer fliegt denn da einfach mal so nach Zypern?

Also bitte, reden wir nicht mehr drüber. Über das ärgerliche Spiel gestern Abend. Schon während der BVB-Blamage beim erschröcklichen Giganten Apoel Nikosia (da steckt das reviertypische „Pöhlen“ quasi schon im Vereinsnamen, hoho) schweiften meine Gedanken ab.

Schwarzgelbe Fankurve an der Grenze zur Abstraktion. (ARD-Screenshot vom Pokalfinale in Berlin)

Schwarzgelbe Fankurve an der Grenze zur Abstraktion. (ARD-Screenshot vom Pokalfinale in Berlin)

Als es dann eh nichts mehr zu deuteln gab, habe ich mich ablenkungshalber gefragt: Was sind das wohl eigentlich für Leute – diese sangesfreudigen Fußballfans, die an einem gewöhnlichen Dienstag einfach mal so nach Zypern fliegen und dort ins Stadion strömen? Allgemeines Gemurmel: „Billigflieger“. Trotzdem muss man schon ein paar Mark mitbringen und genügend Muße haben. Sie fahren oder fliegen ja auch nicht nur einmal.

Ja, sie scheinen immerhin Zeit u n d Geld für derartige Exkursionen übrig zu haben, eine wahrhaft beneidenswerte Kombination also. Als man jung war, hatte man deutlich mehr Zeit als Geld, später denkt man vielleicht von Fall zu Fall, es sei umgekehrt. Aber lassen wir das. Es führt zu nichts und füllt keine Kassen.

Bezahlen etwa die Eltern dem Ultra die kontinentalen Ausflüge, die ja theoretisch schon mal bis nach Kasachstan oder Israel führen können? Damit er nicht noch mehr Randale macht. Oder damit er sie halt woanders macht als daheim. Vielleicht ist er ja auch der schon zum Klischee geronnene Sparkassen-Angestellte, der außerhalb seines Instituts schon mal gepflegt die Sau `rauslässt. Oder er macht am Ende überhaupt keine Randale. Das wäre ja ein Ding. Womöglich stimmt ja keine schnellfertige Mutmaßung.

Laut TV-Kommentator sind fürs gestrige Match immerhin rund 1500 Leute mit dem BVB nach Nikosia aufgebrochen. Nicht wenige von ihnen dürften durch Champions League und Europa League etliche Länder „kennen gelernt“ haben. Oder vielleicht eher deren Getränkekarten. Obwohl: Braucht’s für trinkfeste Gesellen eine Getränkekarte? Fragen über Fragen.




Am Abgrund: Robert Wilsons „Der Sandmann“ nach E.T.A. Hoffmann – zwischen lauter Baukränen in Düsseldorf

Es ist dieser Tage nicht leicht, das Düsseldorfer Schauspielhaus zu erreichen, so umstellt ist es von Baukränen und Zäunen. Fast hat man Angst, es stürze in die riesige Baugrube hinein, die an seiner Frontseite klafft und vorher der Theatervorplatz war.

Langwierige Großbaustelle am Düsseldorfer Schauspielhaus. (Foto: es)

Wie kleine Zahnstocher stehen die runden Betonsäulen der Außenfassade am Abgrund und sehen nackt und verletzlich aus. Dennoch strömen Scharen von Menschen an der Baustelle vorbei dem Hintereingang zu und betreten das Haus von der Hofgartenseite her durch die Terrassentür. Denn für eine einzige Inszenierung öffnet das Schauspielhaus derzeit provisorisch seine Pforten: „Der Sandmann“ von Robert Wilson.

Keine Lust mehr auf Ausweichquartiere

Es ist ebenfalls nicht leicht, für diese Koproduktion mit den Ruhrfestspielen  Karten zu bekommen, was bestimmt auch mit der Sehnsucht der Düsseldorfer nach ihrem Schauspielhaus zu tun hat, die schon eine ganze Weile mit einem Ausweichquartier in der Nähe des Hauptbahnhofs vorlieb nehmen müssen.

Auch ich habe es vermisst, merke ich, als ich mit meinem Getränk im weitläufigen Foyer auf rosafarbenem Marmorboden stehe und auf den Gong warte: Das ist doch mal eine der darstellenden Kunst angemessene Architektur im Charme der späten 60er Jahre. Irgendwie habe ich keine Lust mehr auf diese ganzen Ausweichquartiere, nur weil die Politiker allüberall die Renovierung verpennt oder verschoben haben, um ihren Nachfolgern im Amt irgendwann die Kosten aufzubürden.

Erst der Spendenaufruf, dann der Spielplan

Blöderweise ist „irgendwann“ jetzt und in die meisten Häuser (Köln, Düsseldorf, Dortmund etc.) kommt man gar nicht mehr rein, über die Renovierungskosten wird gestritten. Inzwischen haben sich Düsseldorfer Bürgerinnen und Bürger bereits zusammengeschlossen, um Spenden für ihr Theater zu sammeln. Ruft man die Website des Theaters auf, ploppt einem als erstes der Spendenaufruf entgegen, bevor man noch auf den Spielplan schauen kann, was man überhaupt sehen möchte…Dabei ist eine Theaterrenovierung doch eigentlich eine öffentliche Aufgabe, oder?

„Der Sandmann“.
Regie, Bühne, Licht: Robert Wilson
(Foto: Lucie Jausch/Düsseldorfer Schauspielhaus/Ruhrfestspiele)

Altmeister Robert Wilsons Sandmann jedenfalls hat es durch die Hintertür auf die Bühne geschafft und mit ihm ein herzzerreißendes, poetisches, unheimliches, kitschiges und skurriles Theatermusical – Kreuzung zwischen Zauberer von Oz, Ziggy Stardust und Gespenstern der schwarzen Romantik à la E.T.A. Hoffmann.

Eine Art kindlicher Verzückung

Die obligatorischen Wilson-Stühle schweben bei Neonlicht durch die Luft, doch die Story wird durch dramaturgisch klug ausgewählte Schlüsselsätze und grandiose Darsteller so hintergründig und zugleich leicht erzählt, dass man in eine Art kindliche Verzückung gerät, begleitet von schauriger Angstlust, wenn der Sandmann den schlafunwilligen Kindern die Augen stehlen will.

Für die Wilson-Inszenierung jetzt nur ausnahmsweise geöffnet: das angestammte Schauspielhaus. (Foto: es)

Das vollbesetzte Haus tobt beim Schlussapplaus und es ist keineswegs nur Abopublikum 60 plus, sondern jede Menge junges Volk gekommen, womit die für Lokalpolitiker so wichtige Zielgruppenfrage bei der Hochkultur auch beantwortet wäre.

Doch statt einer Hausbesetzung wie in der Berliner Volksbühne (das wäre mal eine Idee!!!) trollen wir uns alle brav wieder durch die Hintertür und gehen durch den Garten in die Nacht. Vorsicht, nicht in die Baugrube fallen, sonst gibt es noch Verzögerungen und das Ganze wird nie fertig…

Wegen der großen Nachfrage gibt es am 27. und 28.10 zwei Zusatztermine für „Der Sandman“, weitere Infos: www.dhaus.de




A ledert gegen B, der nagelt heftig zurück – die unerträgliche Dauer-Aggression im Boulevard-Journalismus

Man mag sie nicht mehr lesen, diese schnellfertig vorgestanzte, vermeintlich coole und trendige „Berichterstattung“ gewisser Nachrichtenportale. Doch was heißt hier „Nachrichten“? Wissenswerte Neuigkeiten erfährt man da nur sehr bedingt.

Konfrontation als Normalzustand. (Foto: BB)

Konfrontation als Normalzustand. (Foto aus dem wahren Leben: BB)

Nehmen wir nur mal diese allzeit auf Steigerung angelegte Inszenierung von Konflikten oder bloßen Meinungsverschiedenheiten, ob nun im Politikbetrieb, unter Chichi-Promis oder im Fußball. Da schreit’s einem dann schon die Überschrift entgegen – hier ein frei erfundenes Beispiel, natürlich ganz ohne Bezug aufs wirkliche Leben, oder sollte die Zeile wirklich irgendwo so ähnlich gelaufen sein?

„Rummenigge geht auf Lewandowski los“

Wahlweise auch umgekehrt. Klingt fast nach Schlägerei, ist aber oft nur eine relativ harmlose Äußerung. Wer immer seinen Standpunkt einigermaßen deutlich darlegt (also „klare Kante“ zeigt), muss mit derlei Überschriften rechnen. Ein Widerpart zur Konfrontation findet sich immer.

Nur in Anführungszeichen

Nach ähnlichem Übertreibungs-Muster heißt es dann gern „Völler tobt über…“, wahlweise auch „wütet gegen…“, „poltert gegen…“ oder – um mal nicht gar so persönlich zu werden – „X ledert gegen Y“. Dieses „Ledern“ gehört offenbar unumstößlich zum Sprachgebrauch des gängigen Boulevard-Journalismus, wobei das Wort Journalismus eigentlich ebenfalls zwischen Anführungszeichen gehören würde. Statt „ledern“ heißt es gelegentlich auch, noch eine Spur heftiger, „X nagelt gegen Y“. Heiliger Strohsack!

Kennzeichnend für dieses Deppendeutsch ist nicht nur schiere Dämlichkeit, sondern zuvörderst ein dauerhafter, so gut wie nie nachlassender Grundton der stets sprungbereiten Aggression. Adrenalin, Testosteron & Co., wie ein branchenüblicher Dreiklang lautet. Denn merke: Bei nicht weiter fortgeführten Aufzählungen heißt es am Ende stets „& Co.“

Weggeballert und abgeschossen

Immer attackiert jemand oder greift an, wobei diese Formulierungen noch die harmlosesten sind. Immerzu gibt es Zoff, ständig wird jemand verhöhnt und mit Häme übergossen. Und wenn’s um Sieg und Niederlage geht, so ist der Unterlegene allemal ein Loser, er wird – zumal im Sport – weggeballert, abgeschossen, zerlegt, pulverisiert, vernichtet. Ab einem Fußball-Ergebnis von 3:0 oder 4:0 redet der „Spocht-Repochter“ zudem gern von einer „Klatsche“.

Anschließend, so die Sprachregelungen, watscht jemand jemanden ab, dann ist Feuer unterm Dach und es brennt der Baum. Auch werden immerzu „Messer gewetzt“. All das, der ganze elende „Aggro“-Tonfall wirkt sich – schreiend oder schleichend – nicht nur auf den Pausenhöfen der Republik aus. Wen wundert’s noch, dass Fußballer neuerdings vereinzelt auch schon mal obszöne Masturbations-Bewegungen auf dem Platz vollführen. Und ins Politsprech ziehen derweil Kraftausdrücke wie „in die Fresse“ ein.

Guck mal, was deine Tussi tut…

Auf den „bunten“ Klatschseiten hat es sich unterdessen längst eingebürgert, nicht von Trennung zu sprechen, sondern (wer hat den Stuss nur erfunden?) von „Liebes-Aus“. Selbiges wird von Boulevardpresse und Yellow-Blättchen mitunter selbst herbei gefaselt, indem sie z. B. ein Promi-Männchen hämisch auffordern: „Guck mal, XY…, was deine YZ gerade tut!“ Natürlich rekelt sich die halbnackte Tussi mit einem anderen Typen am Pool, was auch sonst? So sind se halt. Die Mario Barths der Nation lachen sich ins Fäustchen.

Und wenn sich ein C-Promi oder D-Sternchen blamiert, heißt es immer mal wieder gern: „Ganz Deutschland lacht über…“ Ein paar Tage später darf sich das Objekt des Spotts äußern und sich dabei am liebsten noch tiefer `reinreiten. Dann lautet die Zeile vorzugsweise so: „Jetzt spricht…“

„Alles, was du jetzt wissen musst“

Betrüblich sind nicht nur die üblichen Verdächtigen des Gewerbes, sondern auf seine provinzielle Weise auch ein regionales Portal im Ruhrgebiet, das die User bedenkenlos duzt und sie mit jedem News-Geschrei halbschräg von der Seite her anmeiert. Sie machen einen auf soziales Netzwerk bzw. auf gute Freunde und blasen jedes Skandälchen auf mit Lebenshilfe à la „Alles, was du jetzt wissen musst“ oder gleich „Was du jetzt tun musst“. Sie sagen es einem. Besser wär’s, man pfiffe drauf.

 




Jagdszenen in Deutschland? Zum Abend der Bundestagswahl

Schon kurz nach 18 Uhr, die erste Prognose war gerade öffentlich geworden, fiel bereits ein erschreckender, entscheidender Satz dieses Wahlabends. Wie immer die neue Bundesregierung sich zusammensetzen werde, verkündete AfD-Spitzenkandidat Gauland, man werde sie „jagen“. Und nochmals: „jagen“. Man werde sich, so Gauland weiter, „unser Land und unser Volk zurückholen“.

Prost Mahlzeit! Nicht nur ziehen erstmals Rechtsaußen dieser Sorte in Fraktionsstärke in den Bundestags ein, sondern es dröhnt auch ein neuer Ton. Die Rede von der Jagd auf die künftige Regierung kündet von einer Aggression, die Andersdenkenden offensichtlich an den Kragen will. Jagdszenen in Berlin und anderswo?

Es steht also zu befürchten, dass wir in der nächsten Legislaturperiode Parlamentsdebatten von bislang ungeahnter Schärfe und Infamie erleben werden. Es ist eine Zäsur. Und es ist eine gefährliche Zäsur. Da darf man sich nichts vormachen. Wachsam sein. Dagegen halten, wo es nötig ist. Na klar. Und was noch? Bloß nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren… Übrigens: Die Erfahrung, dass es im Gefolge einer Großen Koalition zur Radikalisierung kommt, ist ja nicht ganz neu.

Mit über 13 Prozent der Wählerstimmen ziehen die „Rechtspopulisten“ in den Reichstag ein – mit deutlich mehr als 80 Abgeordneten, die vermutlich alle parlamentarischen Vergünstigungen ausnutzen und zugleich aushöhlen werden.

Zur rechten Kohorte werden sicherlich einige höchst zweifelhafte Gestalten gehören. Zwischenzeitlich war von Protagonisten der Partei schon die kaum verhohlene Drohung zu vernehmen, man werde im Parlament „ausmisten“. Es verdiente historisch näher untersucht zu werden, woher solche Wendungen wohl kommen.

Was das jetzt alles mit „Kultur“ zu tun hat? Nun ja, erst einmal nur indirekt, den gesellschaftlichen Umgang betreffend. Doch wir werden außerdem hören, wie sich die AfD auch zu kulturpolitischen Fragen positioniert; sicherlich auch gemäß ihrer Ideologie, dass alles Deutsche Vorrang haben müsse. Da gruselt’s einen schon jetzt.

Union und SPD haben heftig verloren, die SPD zieht die wahrscheinlich richtige Konsequenz, den Weg in die Opposition zu gehen. Diskussionswürdiger schon die Entscheidung, den deutlich an seinen Ansprüchen gescheiterten 20-Prozent-Kandidaten Martin Schulz im Amt als Parteichef zu belassen. Kann er’s denn noch richten?

Immerhin: Ganz anders als jüngst noch beim „TV-Duell“ mit Merkel, klang Schulz mal wieder oppositionell, wenn auch noch ziemlich kraus. Es ist, als sei in dieser Hinsicht eine Last von ihm abgefallen. Jedenfalls gibt er Merkel und ihrer „Politik-Verweigerung“ die Schuld fürs Erstarken der AfD.

„Jamaika“, also eine schwarz-gelb-grüne Koalition, dürfte es werden, wobei die beiden kleineren Parten (FDP / Grüne) sich erst einmal zusammenraufen müssen. In den nächsten Tagen werden sie gewiss versuchen, den Preis für ihre Teilnehme hochzuschrauben. Das gehört zum politischen Geschäft. Und wenn die Posten locken, wird’s schon klappen.

Wie unbedarft waren jene CDU-Anhänger, die zum besinnungslosen Wahljubel (übers zweitschlechteste Ergebnis aller Zeiten) schwarzrotgoldene Schildchen mit dem Sprüchlein „Voll muttiviert“ schwenkten. Es wollte so gar nicht zum Kerngeschehen dieses Wahltags passen.

„Ein tiefer Schnitt ins Fleisch der CDU“, „tektonische Verschiebungen“ und „politisches Erdbeben“ waren die häufigsten medialen Formeln des Wahlabends. Im Fernsehen, das wurde auch diesmal wieder deutlich, kann man sich über derlei Ereignisse nur ad hoc und en passant informieren. Die Vertiefung muss auf anderem Wege erfolgen.

Vom Internet wollen wir einstweilen schweigen. Wir wissen nicht, wie sich die „sozialen Netzwerke“ auf diese Wahl ausgewirkt haben. Es kann nicht nur wohltuend gewesen sein.




Beide waren heute nicht in der Kirche, hatten aber ihre spirituellen Momente – das „TV-Duell“ Merkel vs. Schulz

Längere Zeit habe ich mit mir gerungen, dann habe ich es doch getan: Ja, ich bekenne, ich habe das so genannte „TV-Duell“ zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz gesehen. Zur Gänze. Zum Schluss war ich doch ziemlich erschöpft. Obwohl es jetzt intellektuell nicht gar zu anstrengend gewesen ist.

Artikes Shake-Hands zwischen Angela Merkel und Martin Schulz zum TV-Duell in Berlin-Adlershof. (Foto © WDR/Herby Sachs)

Artiges Shake-Hands zwischen Angela Merkel und Martin Schulz zum TV-Duell in Berlin-Adlershof. (Foto © WDR/Herby Sachs)

In den meisten Fragen waren die beiden Probanden ähnlicher oder gar der gleichen Auffassung. Schulz hatte gelegentlich seine liebe Mühe und Not im steten Bemühen, Unterschiede zwischen den Positionen herauszukitzeln.

Locker den Amtsbonus ausgespielt

Merkel hatte das gar nicht nötig, sie konnte die (zumeist ziemlich zahnlosen) Attacken des Widersachers getrost abwarten und gelassen kontern. Hie und da spielte sie, ganz nonchalant und wie nebenbei aus dem Handgelenk, ihren Amtsbonus aus, wenn sie etwa ankündigte, in den nächsten Tagen mal eben mit den USA, Japan und China zu reden…

Ungemein lange hielt man sich anfangs mit der Flüchtlings- und Integrationspolitik auf. Etwa die Hälfte der Sendezeit (insgesamt nur um 120 Sekunden überzogen: 97 statt 95 Minuten, jede halbgare Show darf mehr über die Stränge schlagen) ging dafür ins Land. Auch hierbei unterschieden sich die Kandidaten allenfalls in Nuancen.

Klare Kante gegen Erdogan

Lediglich in der Haltung zur Türkei des „Autokraten“ (man könnte gewiss auch noch kantigere Worte finden) Erdogan gab sich Schulz eine Spur kämpferischer. Als Kanzler, so betonte er mehrfach, wolle er dafür sorgen, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara sofort abgebrochen werden.

Apropos Kanzlerschaft: Schulz‘ in den Vormonaten zwischenzeitlich zur Schau getragene Selbstgewissheit (nach dem Motto: „Ich als Kanzler werde…“) scheint übrigens dahin zu sein. Mehrfach hieß es jetzt aus seinem Munde, f a l l s er das Mandat der wahlberechtigten Bürger erhalte, werde er… Das klingt doch schon weitaus bescheidener.

Was erlauben Strunz?

Die Fragesteller der vier übertragenden TV-Anstalten (warum musste es eigentlich gleich ein Quartett sein?) ARD, ZDF, RTL und SAT1 agierten – wie üblich – im Modus der bedeutsam geschwollenen medialen Wichtigtuer.

Die Damen Maybrit Illner (ZDF) und Sandra Maischberger (ARD), die für die öffentlich-rechtlichen Anstalten antraten, waren noch einigermaßen erträglich – im Vergleich zu den zwei Privatsender-Gockeln Peter Kloeppel (RTL) und vor allem Claus Strunz (SAT1), der schon mal gern quasi-populistische Töne anschlägt. Am liebsten hätte er es wohl gehabt, wenn Merkel und Schulz ihm auf den Leim gegangen wären und noch entschiedener versucht hätten, die eine oder andere AfD-Stimme abzufischen. Um mal eine berühmte Fußballfloskel zu zitieren: Was erlauben Strunz?

Soziale Wohltaten angekündigt

Sowohl Merkel als auch Schulz gerieten hie und da ins Stocken oder Stammeln. Wir wollen das mal als menschlichen Faktor verbuchen und nicht gleich als politische Unsicherheit. Und überhaupt: In diesen Zeiten möchte man nicht unbedingt mit ihnen tauschen…

Nach den vergleichsweise geradezu epischen Auslassungen zur „Flüchtlingsfrage“ und zur Türkei ging es hernach zunehmend hopplahopp. Die katastrophale Gemengelage zwischen Kim und Trump wurde ebenso hastig abgehakt wie die Themenkomplexe „Soziale Gerechtigkeit“, Maut und Diesel sowie Steuern. Natürlich gelobten beide, die Bürger spürbar zu entlasten, Schulz legte sich – inklusive Wegfall der Kita-Beiträge – auf rund 200 bis 250 Euro für eine vierköpfige Familie mit 3500 Euro Monatseinkommen fest, Merkel warf Gesamt-Wohltaten von rund 15 Milliarden Euro in die Manege.

Hektische Runde zum Schluss

Da man sich ein wenig verplaudert hatte (und halt kein weiteres „Duell“ ansteht), sah man sich schließlich zur irrwitzigen Hektik einer Ja-Nein-Fragerunde genötigt. Ehe für alle, Fußball-WM-in Katar, Gerhard Schröders Russland-Jobs, Wahlrecht für 16-Jährige, Terrorabwehr und Polizei-Ausstattung wurden nur noch atemlos durchgehechelt.

Vorher haben wir übrigens noch staunend erfahren, dass weder Merkel noch Schulz heute in der Kirche die Messe begangen haben. Beide beeilten sich allerdings zu sagen, dass sie dennoch spirituelle Momente an Gräbern und in Kapellen gehabt haben.

Nahezu grotesk das allerletzte Statement von Martin Schulz. Zu einer kurzen Schlussaussage aufgefordert, fragte er: „Wieviel Zeit habe ich?“ Nach der Information „60 Sekunden“ (die ihm gewiss vorab bekannt war) kamen ihm sogleich „spontan“ über die Lippen: die  so unterschiedlichen Verdienste einer Krankenschwester und eines Managers in just 60 Sekunden. Auch diese wohlfeile Schläue wird ihm nicht entscheidend genutzt haben.

Ich lege mich – ebenfalls wohlfeil – fest: Wenn nichts Weltumstürzendes geschieht, wird, in welcher Parteien-Konstellation auch immer, die nächste Kanzlerin wiederum Angela Merkel heißen. Welcher Hasardeur würde dagegen wetten wollen?




„Wenn der Wind von Hörde kam, roch es wie Pech und Schwefel“ – Erinnerung an eine Kindheit im Dortmunder Süden

Unsere Gastautorin, die aus Dortmund stammende Malerin und Lyrikerin Marlies Blauth, ergänzt und erweitert mit diesem Beitrag die vor wenigen Tagen erschienene Dortmunder Kindheitsskizze von Bernd Berke:

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Dortmunder Süden, jedenfalls Berghofen, war früher noch ziemlich ländlich. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich was drauf einzubilden, dort zu wohnen – allenfalls wusste man zu schätzen, einen Garten zu haben und nutzen zu können. Es gab kaum einen, in dem nichts Essbares wuchs. Auch die „besseren“ Leute hatten immerhin ein Eckchen mit Johannisbeeren im Garten und zogen ein paar Kräuter und Salatköpfe.

War Erntezeit und diese ertragreich, wurde wild herumverschenkt oder getauscht: Birnen hin, Kartoffeln zurück. Ab einem bestimmten Alter hatte ich diese Botengänge zu übernehmen. Wir besaßen mittlerweile ein Auto, wären aber nie auf die Idee gekommen, damit zwei Kilo Kartoffeln eine Straße weiter zu transportieren.

Der Eierkauf war manchmal Glückssache

Auch einzukaufen war meine Aufgabe. Bereits als ich vier Jahre war, schickte man mich zum Tante-Emma-Laden „umme Ecke“, um „mal eben ein Pfund Mehl“ zu holen. Man gab mir einen Zettel ins Portemonnaie, ich reichte es an der Theke vorbei (da ich noch nicht oben dran kam), erhielt meine Sachen und das Wechselgeld auf demselben Weg und dackelte nach Hause.

Manchmal musste ich auch zweimal gehen, wenn etwas bei Tante Emma (es waren in Wirklichkeit zwei Schwestern, die den winzigen Laden betrieben) bereits ausverkauft war. „Dann gibt’s halt Wirsing, wenn kein Rotkohl da ist. Geh nochmal schnell.“ Eier wurden grundsätzlich bei Omma L. gekauft, die Hühner hielt. Manchmal bekam man die Anzahl, die man wollte, manchmal nicht, manchmal gab es überhaupt keine, weil auch die allerbeste Legehenne mal Urlaub braucht.

Ein Uhrengeschäft – welch ein Luxus

Nach Norden sahen wir auf das Himmelrot von Phoenix. Das war Hörde, da begann „die Stadt“. Denn dort gab es größere Läden als Tante Emmas. Ein Uhrengeschäft, wahrer Luxus! Eine Schulfreundin träumte einmal, dass der Phoenix-Kühlturm explodiert sei, an dem wir oft vorbeifuhren. An diesen dramatischen Traum muss ich manchmal denken, wenn ich heute von derselben Stelle zum Phoenixsee (durch-)gucke, ohne den Turm.

Manchmal, wenn der Wind von Hörde kam, roch es „wie Pech und Schwefel – mach’s Fenster zu“. Die Emscher und deren kleinere Bach-Geschwister kommen als „grauer Leberpudding, der aus dem Mund stank“ in einem meiner Gedichte vor. Ich war übrigens schon länger in der Schule, als Berghofen noch immer nicht vollständig kanalisiert war: Bäche mit Bäh-Wasser flossen neben der Straße her.

Einfaches „Häuschen“ auf gepachtetem Acker

Diejenigen, die dem Süden seinen Ruf einer privilegierten Gegend verpassten, kamen erst deutlich später, ich mag so im dritten oder vierten Schuljahr gewesen sein. Meine Eltern hatten zwar auch neu gebaut, allerdings ohne jedes Kapital ein „Häuschen“, einfach und dünnhäutig, auf gepachtetem Acker. Diese Bedingungen waren es wohl, weshalb wir überhaupt in Berghofen gelandet sind.

Natürlich waren wir nicht wirklich arm, da mein Vater Lehrer war; der aber wurde er erst ziemlich spät im Leben, da er sieben Jahre seines Lebens in Krieg und Gefangenschaft gezwungenermaßen vergeudet hatte, krank zurückkam, seine musikalische Aufnahmeprüfung ein zweites Mal machen musste (alle Dokumente waren verbrannt) und sich – früh vaterlos geworden – sein Studium mit irgendwelchen musikalischen „Jobs“ finanzieren musste.

Die wenigsten Kinder hatten ein eigenes Zimmer

Meine Mutter war das älteste Kind einer Flüchtlingsfamilie. Meine Eltern hatten also beide bei Null angefangen, es gehörte ihnen vom „Häuschen“ erstmal so gut wie nix. Vielen Nachbarn ging es damals ähnlich. Obwohl es sich in unserer Straße ja um durchweg neue Häuser handelte, war es nicht üblich, dass jedes Kind ein eigenes Zimmer besaß. Bei mir war das allein deshalb so, weil ich keine Geschwister hatte. Waren mehr Kinder da, teilten sie sich selbstverständlich einen Raum.

Ich kannte auch eine Familie, die gar kein Kinderzimmer hatte, die drei Kinder wurden einfach irgendwo in der engen Wohnung verteilt. Ein Kind aus meiner Klasse wohnte die ersten Jahre sogar in einer Baracke. Ein Spielkamerad lebte mit seiner Mutter, auch einer Lehrerin, im winzigen „Keller“ (also Souterrain) eines Hauses in unserer Straße.

Einige Jahre später bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

…und einige Jahre danach bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

Ich erinnere mich auch an eine Berghofer Familie mit zehn Kindern, sie wohnten in einem abgerumpelten Bauernhaus neben dem Friseur, zu dem ich gescheucht wurde, wenn meine Haare „keine Facon mehr“ hatten. „Aber lass dir genug abschneiden, sonst musste bald wieder hin“ (und das wäre zu teuer). Scheußlich, den Friseurladen jedesmal als hässliches Entlein zu verlassen!

…und später zogen ein paar hochnäsige Leute zu

Eins von den „edlen“ Kindern, die dann später zuzogen (und in größeren, aufwändiger gebauten Häusern wohnten), bekam hingegen seine Haare jede Nacht „aufgedreht“, damit sie morgens zu schönen Löckchen würden. Diese Familie war es auch, die eines Tages meinte, hochnäsig feststellen zu müssen, dass ich „wieder mal was Selbstgestricktes“ trug. Bislang war das ganz normal, wir liefen meistens in geflickten und gestopften Sachen herum und fanden nichts dabei. Beim Herumstrolchen und Baumklettern war das ohnehin egal. Viele Anziehsachen waren auch gebraucht übernommen; das „beleidigte“ mich insofern, als die Mädels, von denen ich den Kram bekam, einen völlig anderen Geschmack hatten als ich. Aber das half überhaupt nichts. Was „noch gut“ war, wurde genutzt, egal, um was es ging.

Bei uns gab es fast immer einfaches Essen, und auch damit standen wir nicht allein. Der riiiesige Luxus eines jeden Kindergeburtstages bestand aus zwei oder drei Kuchen (einer davon war „Kalter Hund“, mit dem ich mich regelmäßig überfressen habe), abends dann Bockwürstchen mit Kartoffelsalat.

Der Wohlstand kam auf ganz leisen Sohlen

Der Wohlstand erwischte uns alle auf ganz leisen Sohlen, und er brauchte viele Jahre dafür. Irgendwann „ließ“ meine Mutter mal irgendwas machen, das war ein Anzeichen. Einige Bekannte hatten dann bessere (und auch zweite) Autos.

Ich erinnere mich allerdings auch an die Zeit, in der es nur ganz wenige Autos gab und stattdessen immer mittwochs der „Gemüsewagen“ kam. Na klar, und die Milch wurde jahrelang gebracht; „gold und silber“. Die gespülten Glasflaschen stellte man wieder raus, sie wurden bei der frischen Lieferung mitgenommen.

Der Bierkutscher mit seinem Gaul

Der Bierkutscher – ich glaube, er hieß Hoffmann – kam jahrzehntelang mit seinem Gaul vorbei, ich höre immer noch sein „Hüah“. Meine Mutter bedauerte das Pferd jedesmal, da es doch nun Autos gab. Und wenn ich heute fahrende Schrotthändler sehe, denke ich immer dran, dass „unsere“ früher grundsätzlich aus Essen kamen und noch auf einer richtigen Flöte „piffelten“. Vor allem fuhren sie viel langsamer als heute, so dass jeder es noch in den Keller schaffte, um irgendwas Metallenes nach oben zu wuchten. Und man bekam noch Geld dafür.

„Die Reichen“ wohnten, so hörten wir, in Kirchhörde, die „ganz Reichen“ in Lücklemberg. Einmal war ich dort, bei so entfernten wie ungeliebten Bekannten in deren Haus, dessen Ausmaß mir unbegreiflich vorkam und auf dessen „offenen Treppen“ über drei Stockwerke ich einen Heulanfall kriegte, weil mir vor Höhenangst schwindelig wurde.




Etwas Dortmunder Kiez-Nostalgie und eine jähe Offenbarung der Klassenverhältnisse

Wie ich gemerkt habe, dass es Klassenunterschiede gibt? Über so etwas Unfeines redeten wir zu meiner Grundschul-Kinderzeit nicht.

Blick aus einem Fenster in der Arneckestraße: etliche Jahre nach der skizzierten Zeit und doch auch schon wieder elend lange her. (Foto: Bernd Berke)

Fensterblick in eine Straße des besagten Viertels: etliche Jahre nach der skizzierten Zeit und doch auch schon wieder elend lange her. (Foto: Bernd Berke)

„Unser“ Dortmunder Viertel, etliche Jahre später Szene- und Studentenkiez, heute zu nicht geringen Teilen ein Hort wohlstandsverwöhnter und vielfach ergrauter Bionade-Bürger, war seinerzeit ziemlich homogen kleinbürgerlich. Man kam einigermaßen zurecht, konnte aber „keine großen Sprünge machen“, wie man das damals ausdrückte.

Über soziale Hierarchien machte man sich also wenig Gedanken, schon gar nicht als Kind. Da hat man ja beispielsweise auch die eigentlich nicht zu übersehenden Ensembles der Gründerzeitbauten kaum bemerkt, in denen die meisten wohnten und die man erst rund zwanzig Jahre danach schätzen lernte.

In der fraglichen Zeit gab es beinahe an jeder zweiten Ecke einen „Tante-Emma-Laden“, allein zwei Mädels aus unserer Schulklasse hatten einen Ladeninhaber zum Vater. Da konnte man sich entscheiden, bei wem man nun kaufte. Meist gab die schrittweise kürzere Entfernung den Ausschlag. Und so gab es eben die Kundschaft bei Sch. und die Kundschaft bei M. Später eröffnete dann eine Tengelmann-Filiale. Erstes Zeichen einer neuen Zeit.

Hinzu kamen im näheren Umkreis noch zwei Milchgeschäfte, wo man seine Blechkanne füllen lassen, aber auch schon die Sorten „Gold“ und „Silber“ in Flaschen kaufen  konnte, eine Bäckerei sowie ein Zigaretten- und Zeitschriftenladen, der anfangs zugleich eine private Leihbücherei war. Die zusätzlichen Schutzumschläge waren aus schmucklosem Packpapier. Die betagte Frau K. in dem einen Milchgeschäft sagte immer „Juchott“ statt Joghurt. Und „anne Bude“ sagten wir nur „Was zu trinken“ – und erhielten für ein paar Pfennige ein gefärbtes No-Name-Gesöff.

Hach ja.

Aber ich schwiff und schwoff ab. Was ich eigentlich erzählen wollte: Eines Tages kam ein kleiner Junge in einen der besagten Läden und verlangte: Erbswurst.

Betretenes Schweigen. Man wartete ab, bis er das Geschäft verlassen hatte. Dann ging’s aber los. Die versammelten älteren Frauen zerrissen sich die Schandmäuler. „Och je. Erbswurst hat er gewollt!“ – „Na, das sind ja Verhältnisse!“ – „Der arme Junge…“ Und man wunderte sich, dass das Kind nicht vollends in Lumpen herumlief.

Nun, immerhin hatte der Laden Erbswurst im Angebot. Was also war falsch? Das war Grübelstoff, den ich mir – wie ihr seht – bis heute gemerkt habe.

Während in der Grundschule die Kinder des Viertels unter sich blieben, erhob sich die soziale Frage hernach im Gymnasium, das vielfach auch Kinder aus betuchteren Familien des Dortmunder Südens anzog. Nun gehörte man eher zur vergleichsweise „einfacheren“ Schicht – und manche Lehrer waren geradezu fassungslos, dass meine Mutter (als einzige der ganzen Klasse) arbeiten ging. Dass sie das offenbar nötig hatte…

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Preisfragen: Wie heißt das Viertel – und wie hießen die erwähnten Ladengeschäfte?




Rennstrecke der 1000 Herzen: Bericht vom schonungslosen Selbstversuch beim Triathlon in Essen

Die Ruhr in Kettwig. Foto: es

Wieviel Grad hat die Ruhr? Solche Fragen musste man sich jahrelang gar nicht stellen. Kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, in diesem Revierfluss zu schwimmen. „Entengrütze“ hieß das Wasser zu meiner Schulzeit. Doch das ist zum Glück vorbei.

Vom Baldeneybad in Essen kann man sich jetzt wieder in die Fluten der gestauten Ruhr stürzen. Auch die Essener Triathleten haben den Fluss für die Disziplin Schwimmen bei der Neuauflage 2016 in ihren Wettkampf eingebaut, aus nostalgischen Gründen: Denn 1982 fand am Baldeneysee der erste deutsche Triathlon überhaupt statt. Allerdings wurde damals im Rüttenscheider Bad geschwommen. 2017 will ich mit dabei sein und habe mich kurzerhand zum „1000 Herzen Triathlon“ am 20. August angemeldet.

Lieber mit Neoprenanzug

Am 19. August regnete es und wurde plötzlich kalt. Da ich nicht größenwahnsinnig bin, hatte ich mich zwar nur für die Sprintdistanz (500 Meter Schwimmen – 24 Kilometer Radfahren – 5 Kilometer Laufen) entschieden, aber kaltes Wasser ist kaltes Wasser und 15-20 Minuten im kalten Wasser sind noch kälter.

In der Wechselzone…
Foto: es

Also musste ein Neoprenanzug her und zwar sofort. Zum Glück haben Sportgeschäfte in der Essener Innenstadt so etwas im Angebot und siehe da, ein Modell passte und ließ sich mit Schnur am Rücken auch schnell öffnen: Denn nichts nervt den Triathleten mehr als lange Wechselzeiten, die versauen das ganze schöne Ergebnis.

„Zügig ins Wasser da vorne!“

Doch der Ruhrgebietsgott ist ein Naturfreund und deswegen ließ er am Sonntagmorgen die Sonne scheinen: Ruhr, du mein Heimatfluss, ich komme! Mit mir kamen rund 600 weitere Athleten und wollten alle am Campingplatz Cammerzell in Kettwig ins Wasser gehen.

Doch nicht ohne Wettkampfbesprechung, die der Rennleiter fröhlich und geduldig für alle neun Startgruppen nacheinander abhielt: „Ihr seht die große orange Boje auf der linken Seite? (Alle Köpfe nach links) Da schwimmt ihr mit der rechten Schulter vorbei, dann durch die zwei Bojen in der Mitte zur großen Boje auf der rechten Seite (alle Köpfe nach rechts), wieder rechte Schulter vorbei, dann zur kleinen Boje vor dem Ausstieg, linke Schulter vorbei, zügig bis an die Rampe schwimmen, die Helfer ziehen euch aus dem Wasser. Alles klar? Noch neun Minuten bis zum Start, jetzt alle ins Wasser gehen und zur Startposition schwimmen!“

Ich glaube, es wird ernst, doch Zeit zum Nachdenken ist keine mehr. Eisig packt mich die Ruhr an den Fußknöcheln. „Zügig ins Wasser da vorne!“, rufen die Helfer – nix für Zimperliche! Sehnsüchtig schaue ich ans sonnige Kettwiger Ufer gegenüber, noch fünf Minuten bis zum Start.

Ich hole tief Luft und schmeiße mich rein, der Neo saugt sich voll und siehe da, er wärmt tatsächlich ein wenig. Von links nähert sich ein Schiff der Weißen Flotte, allerdings in sicherer Entfernung, und ehe ich noch denken kann, ob ich nicht lieber auf dem Schiff fahren würde, ertönt der Countdown zum Start: „Zehn, neun, acht…los!“

Da ist ja mein Rad…
Foto: es

Die Ruhr ist dunkelgrün und kühl

Wat willste machen? Ich schwimme los, die kühle Ruhr umfängt mich ganz. Sie ist dunkelgrün und schmeckt ein wenig metallisch. Manchmal wickeln sich abgerissene Wasserpflanzen um meinen Hals und lösen sich wieder. Alles fließt. Ich keuche etwas, als ich nach dem Wenden gegen die Strömung schwimmen muss, doch so stark finde ich sie nicht.

Weit hinten schimmert die zweite Boje, autsch, jetzt habe ich aus Versehen in etwas Weiches getreten, das war mein Hintermann, der mir zu nahe gekommen ist – überholen geht auch hier nur mit Abstand. Nach der zweiten Boje kommt der Flow, mit Strömung im Rücken trägt er mich ans Ufer.

Hände strecken sich mir entgegen, helfen mir aus dem Wasser, jetzt schnell in die Wechselzone laufen, wo ist bloß mein Rad? Ohne Brille nicht so leicht zu finden, Mist, ich bin in der falschen Reihe! Ach, da drüben leuchtet es weiß, das geliebte „Cervélo“! Nassen Neo aus, wieso klebt der jetzt so? Helm auf, Schuhe an, Rad zum Start schieben, aufsitzen, losfahren.

Auf der Radstrecke…
Foto: es

Demütig auf dem Rad

Zum Glück sind Radstrecken an Flüssen entlang meist flach, doch nach der ersten Runde an der Laupendahler Landstraße zwicken die Oberschenkel – wegen all der Kilometer, die ich im Training nicht gefahren bin. Und ich muss noch zwei Runden drehen. Da überholen mich schon Staffelfahrer, die eine halbe Stunde nach mir gestartet sind.

Triathlon macht demütig, aber ich lasse mir die Laune nicht verderben. Es ist erst mein fünftes Rennen überhaupt und die mussten ja schließlich nicht schwimmen. Die Luft ist klar, der Fluss blitzt durch die Bäume und die Straße ist nur für uns abgesperrt: Kein Autoverkehr, keine Fußgänger stören die ultimative Raserei. Letzte Runde, komm, die schaffe ich jetzt auch noch.

Das Koppeltraining versäumt

Den Gedanken an den Lauf danach verdränge ich lieber erst mal. Bis er sich nicht mehr verdrängen lässt: Ich schiebe mein Rad in die Wechselzone und hänge den Helm dran. Das Schild zur Laufstrecke zeigt nach rechts, also los. Doch die Beine funktionieren nicht richtig, sie sind noch ans Radfahren gewöhnt. Das ist zwar völlig normal, ich kenne das Gefühl und weiß auch eine Maßnahme dagegen, die Triathleten nennen sie „Koppeltraining“: Also öfter mal erst radeln und dann sofort danach laufen. Blöd ist nur: Ich habe kein Koppeltraining gemacht, ich war einfach zu faul. Das rächt sich jetzt, also muss ich langsam machen, einen Fuß vor den anderen setzen.

Finisher-Shirt
Foto: es

Nach anderthalb Kilometern normalisiert es sich, die Beinchen haben sich ans Joggen gewöhnt, der Weg führt an der Ruhr entlang, dann über die Felder, schöne Strecke, doch wann kommt endlich der Wendepunkt? Drei Kilometer, Eva, es ist nicht mehr weit.

Grillwürstchen am Ziel

Ich sammele mein Bändchen ein und darf auf den Rückweg, nun kommt der schönste Moment: Wenn man den Ziel-Lärm hört. Die Namen derer, die gerade angekommen sind, werden laut ausgerufen, die Musik schwillt an. Und ich rieche Gebratenes vom Grill…letzte Kurve, das Zieltor liegt vor mir, Augen auf und durch! Geschafft!

Meine Güte, ich habe das Ruhrding gerockt, jetzt bin ich total stolz! Mein Kopf ist leer und ich brauche dringend einen Isodrink und Bananen, beides steht schon bereit. Wie ging es den anderen? Da sind sie ja, wir fallen uns um den Hals, total verschwitzt. Vielleicht sollte man nochmal in die Ruhr tauchen? Nee, heute nicht mehr, aber bald komme ich wieder, du kühler, grüner Fluss, du hast uns alle zurückgewonnen.

Weitere Infos:
www.triathlon-essen.de
www.seaside-beach.de




Gott, der Konsum, Kafka, das Kino und die Tiere – ein paar Buch-Hinweise, ganz en passant

Es muss nicht immer die ausufernde Einzel-Rezension sein. Hier ein paar knappe Buch-Hinweise, gleichsam en passant; damit die kostbare Zeit nicht beim Lesen der Kritik verrinnt, sondern dem Buch vorbehalten bleibt:

Götterdämmerung und Glaubenswille

Der wohl prominenteste Philosoph der Nation (wenn man von Jürgen Habermas absieht und Richard David Precht gar nicht in Erwägung zieht) heißt Peter Sloterdijk, er wurde zuerst mit seiner legendären „Kritik der zynischen Vernunft“ weithin bekannt und ist nun nicht nur bei Gott, sondern „Nach Gott“ angelangt.

Doch mit einem bloßen Abgesang auf Gott gibt er sich keineswegs zufrieden. Ein zentraler Gedankengang: Auch nach Nietzsches berühmtem Diktum, dass Gott tot sei, sei die Geschichte der Menschheit mit „ihm“ noch lange nicht ans Ende gekommen. Der verstorbene Weltenlenker schaue uns neidisch beim Sein zu, bedaure uns jedoch auch. Nanu, sollte er also doch irgendwie existieren?

Sloterdijk untersucht Gottesbilder diverser Epochen und Kulturen. Eindeutige Resultate sind dabei schwerlich zu haben. Sloterdijk fasst nicht zuletzt auch die Gegenbewegung zur Götterdämmerung und zur Säkularisation, nämlich den „Willen zum Glauben“, in den Blick.

Peter Sloterdijk: „Nach Gott“. Suhrkamp Verlag, 364 Seiten. 28 Euro.

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Wir haben Dinge, die Dinge haben uns

Dieses wuchtige Buch kündet von der „Herrschaft der Dinge“. Der heute in London wirkende Geschichtsprofessor Frank Trentmann (vormals Hamburg, Harvard, Princeton und Bielefeld) unternimmt nichts weniger, als die aufregende Geschichte des Konsums seit dem 15. Jahrhundert nachzuzeichnen.

Zwischen dem China der Ming-Zeit, italienischer Renaissance und Globalisierung habe die käufliche Dingwelt zunehmend alle Verhältnisse dominiert, so dass heute z.B. ein Deutscher im Schnitt zehntausend Gegenstände besitzt – fürwahr eine imposante bis bestürzende Zahl. Man könnte (mit Blick auf Sloterdijks oben vorgestelltes Buch) durchaus meinen, die Objekte hätten Gott ersetzt. Haben wir die Dinge, oder haben die Dinge uns?

Lang ist’s her, dass die „Achtundsechziger“ den „Konsumterror“ geißelten und verweigern wollten. Sie haben den Kampf wohl verloren – und ausgerechnet der Hedonismus mancher Leute aus ihren Reihen hat dafür den Boden bereitet. Heute wird rund um die Uhr geshoppt.

Anhand zahlloser Beispiele geht es in Trentmanns Wälzer ebenso um exzessiven, entgrenzten Konsum wie um allmähliche Geschmacks- und Genussbildung. Und natürlich spielen auch die Folgen des alles und jedes verbrauchenden Lebensstils für die Erde eine zentrale Rolle, wie denn überhaupt die Entwicklungslinien der Historie auch bedrohlich auf die Zukunft verweisen.

Ein weit ausgreifendes, voluminöses, ebenso detailfreudiges wie gedankenreiches Werk zur Alltags- und Wirtschaftsgeschichte, das beim Großthema Konsum einen Standard für künftige Debatten setzen dürfte.

Frank Trentmann: „Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), 1104 Seiten, 40 Euro.

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Als Franz Kafka ins Kino ging

„Im Kino gewesen. Geweint.“ Wohl jeder halbwegs ambitionierte Kinogeher dürfte diesen berühmten Satz von Franz Kafka wenigstens einmal gehört oder gelesen haben. Viel intensiver hat man sich dann freilich nicht mit Kafka und dem Kino befasst. Ganz anders der Filmschauspieler, Regisseur und Essayist Hanns Zischler, der sich seit rund 40 Jahren wie kein anderer in den Themenkreis vertieft hat.

1996 ist Zischlers Buch „Kafka geht ins Kino“ erstmals herausgekommen. Schon damals hat es Maßstäbe gesetzt und das Kafka-Bild um eine vorher ungeahnte Dimension bereichert. Zischler hat sehr penibel rekonstruiert, wann Kafka welche Filme gesehen hat und wie er sich dazu geäußert hat. Und wer wollte bezweifeln, dass Kafkas recht häufige Kinobesuche auch sein Schreiben mitgeprägt haben?

Die jetzige, noch einmal wesentlich erweiterte und reichhaltig illustrierte Neuauflage, geht auf den seither grundlegend veränderten Stand der Kafka-Forschung ein. Überdies sind die Filme, die Kafka kannte, durch Restaurierung und Digitalisierung inzwischen ungleich besser verfügbar, so dass dem Band auch eine einschlägige DVD beigegeben werden konnte.

Manche Stummfilme, die 1996 als verschollen galten, wurden inzwischen ans Licht geholt und sind wieder greifbar. Auch Programme, Fotos und Plakate ergänzen die deutlich verbesserte Quellenlage. Doch auch nach all den neuen Funden sieht Zischler die Arbeit am Thema noch nicht als abgeschlossen an…

Hanns Zischler: „Kafka geht ins Kino“. Galiani, Berlin. 216 Seiten. Mit DVD. Zahlreiche Abbildungen. 39,90 Euro.

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Mit Tiermeldungen auf menschlichen Spuren

Die aus Wien stammende Schriftstellerin Eva Menasse sammelt seit vielen Jahren mehr oder weniger kuriose Tiermeldungen – beispielsweise über Raupen, die ihr eigenes Grab schaufeln oder über Bienen und Schmetterlinge, die gelegentlich die Tränen von Krokodilen trinken. Außerdem als Anreger für Erzählstoff tätig: Igel, Schafe, Opossum, Haie, Schlangen und Enten.

Frau Menasse sammelt freilich nicht einfach drauflos, sondern lässt sich durch derlei kurze Mitteilungen auf die Spur menschlichen Verhaltens in existentiellen Situationen bringen. Das ist nicht minder denkwürdig und zuweilen grotesk, traurig oder tragisch.

So scheint eine Gattung die andere zu spiegeln. Doch so leicht wie ehedem die lehrreichen Tierfabeln gehen die (Ver)gleichungen selbstverständlich nicht auf. Auch nähren sich die Geschichten nicht etwa von falscher Vermenschlichung und schon gar nicht von Verniedlichung der Tiere.

Schillernde Mehrdeutigkeiten eignen sich ja auch viel eher für Romane und Erzählungen. Und so haben wir hier eine anregende, durchaus mit erhellendem Witz gewürzte Lektüre – auch, aber nicht nur für Fortgeschrittene.

Eva Menasse: „Tiere für Fortgeschrittene“. Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch. 320 Seiten. 20 Euro.




Der schnelle Wechsel von Satz zu Satz – Anmerkungen zur Mehrsprachigkeit in Kita und Grundschule

Was diese Kinder für Sprachen können, und zwar in fließender, so gut wie muttersprachlicher Ausprägung! Beneidenswert. Ja, ich weiß, die Hintergründe sind von Fall zu Fall schmerzlich. Aber längst nicht immer. Und so manches rüttelt sich zurecht.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Um nur mal eine Grundschulklasse als Muster zu nehmen: Da spricht ein Mädchen von Haus aus Arabisch und Kurdisch, nun auch schon recht gut Deutsch, eine aus China stammende Schulfreundin begnügt sich einstweilen „nur“ mit Chinesisch und Deutsch. Arabische und chinesische Schrift natürlich inbegriffen. Ja, das alles, auf Ehr‘, können sie und noch mehr… beispielsweise auch schon ein wenig Klavier spielen.

Vielfalt im Klassenzimmer

Andere reden z. B. Spanisch und Deutsch, Russisch und Deutsch, Polnisch und Deutsch, Lettisch und Deutsch, Albanisch und Deutsch, Griechisch und Deutsch, Türkisch und Deutsch. Na, und so weiter. Anfangsgründe des Englischen kommen jeweils gerade hinzu. Und in dem Alter lernen sie spielerisch schnell, wie im Fluge. So manche Teile der Welt könnten ihnen später offenstehen, wenn denn diese Welt offenherzig und aufgeklärt wäre. Vielleicht hilft’s ja beim globalen Miteinander, dass sie schon in ganz frühen Jahren einen so vielfältigen Klassenverband hatten.

Fast noch frappierender war’s vorher in der Kita. Etwa die Hälfte der Kinder wuchs mindestens zweisprachig auf, in anderen Stadtvierteln sind es noch höhere Anteile. Zwei Schwestern konnten mit vier bzw. fünf Jahren schon Russisch, Italienisch und Deutsch. Die Mutter ist Russin, der Vater Italiener, jetzt leben sie eben hier.

Zwischen Fellini und Kaurismäki

Kleine Abschweifung: Der an gestenreiche Konversation mit lebhafter Mimik gewöhnte italienische Vater ist übrigens in Finnland, wo nach seinem Empfinden fast alles mit ziemlich unbewegter Miene gesagt wird, schier verzweifelt, er fühlte sich dort wie unter Untoten… Fellini zu Besuch bei Kaurismäki, man stelle sich vor.

Da die Eltern oft gar nicht oder längst nicht so gut Deutsch sprechen, sind inzwischen Kinder die versiertesten Dolmetscher. Ohne Zagen und Zaudern wechseln sie von der einen Sprache in die andere, je nach Situation; nach Belieben von Satz zu Satz.

Nun gut, man kann es nicht verschweigen: Besonders in „sozialen Brennpunkten“ haben manche Kinder auch arge Schwierigkeiten zwischen zwei Sprachen und beherrschen z. B. Türkisch oder Arabisch nicht mehr richtig und Deutsch noch nicht richtig.

Früher war es gänzlich anders

Früher war es grundlegend anders. Vor etlichen Jahren, in der Eingangsklasse eines Dortmunder Gymnasiums, hatten wir unter rund 30 Leuten gerade mal einen einzigen Mitschüler aus italienischer Familie, der sich schon nahezu wie ein Exot vorkommen konnte. Heute hingegen fühlt es sich beinahe schon etwas seltsam an, wenn man seinem Kind keine zweite Mutter- oder Vatersprache mitgeben kann.

Sobald Kinder in einer Phantasiesprache plappern, wär’s eigentlich höchste Zeit, ein neues Idiom zu lernen. Doch wie elend spät haben wir damals begonnen, Englisch zu lernen! Heute geht’s bereits in der Grundschule los, allererste Wörter fallen schon in der Kita.

Als man noch „Koll-Gah-Tä“ sagte

Doch, ach, damals fingen wir – im „humanistischen“ Zweig – als Zehn- oder Elfjährige erst einmal mit Latein an, mit 12 oder 13 hatten wir dann endlich auch Englisch. Überdies haben sie einem in der Schule kein alltagstaugliches Englisch beigebracht, sondern eines, mit dem man z. B. Shakespeare interpretieren sollte, also – hochtrabend gesagt – Bruchstücke einer literaturwissenschaftlichen Sondersprache.

Es waren die Jahre, in denen man mit ein paar rudimentären Englisch-Kenntnissen in Deutschland noch zur privilegierten Minderheit gehörte. Drum waren es auch die Jahre, in denen man kollektiv die Namen angloamerikanischer Produkte („Koll-Gah-Tä“) noch nach deutscher Lautung aussprach. Na, das hat sich ja dann bald gegeben. Heute sprechen so gut wie alle ein bisschen englisches Kauderwelsch – oder eben mehr.

Integration mit gewissen Hindernissen

Zurück zu den polyglotten Kindern von heute. Mit vorsichtiger Hoffnung gesagt, scheinen sich da viele Geschichten (neudeutsch: „Narrative“) von gelungener Integration zu entwickeln. Allerdings muss man schauen, wie sich das fortspinnt. Dazu zwei ganz gegenläufige Wahrnehmungen, gleichermaßen betrüblich:

Man hört von einer Neunjährigen mit muslimischen Eltern, die nebenher Arabisch-Unterricht bekommt (bei wem und mit welchen Inhalten auch immer) und ihre liberale Mutter zunehmend streng bedrängt, wenigstens Kopftuch zu tragen.

Andererseits haben sich „erzdeutsche“ Eltern aufgeregt, dass eine neue Mitschülerin aus Syrien der Klasse jeden Tag ein (!) arabisches Wort beibringen durfte, um erste kleine Erfolgserlebnisse zu haben. Da kam unter anderem die bitterlich ernste, mehr als giftige Frage auf, ob Kenntnisse im Arabischen denn etwa auch benotet würden…

 




Vernetzte Akteure der kulturbasierten Urbanität – ein paar Beispiele für den üblichen Subventions-Abgreifer-Jargon

Nein, man mag ihn manchmal wirklich nicht mehr hören, diesen immerwährenden, nur in Nuancen sich verändernden, angeblich kulturaffinen Subventions-Abgreifer-Jargon. Sollte er etwa spezifisch fürs Ruhrgebiet sein? Oder gibt es ihn so oder ähnlich überall?

Immer hübsch wolkig bleiben...

Immer hübsch wolkig bleiben…

Wenn man ordentlich Fördergeld abzapfen wollte, so müsste man in den Antrag vor allem einige Reizworte einstreuen. Von „Vernetzung“ müsste man schwafeln, über „Akteure“ der Szene psalmodieren. Selbstverständlich müsste auch „Urbanität“ raunend beschworen werden. Zusammensetzungen mit Inter- oder Trans- gehen sowieso immer. Interkulturell, transkulturell, international, transnational, intersexuell, transsexuell. Eigentlich egal. Multi geht natürlich auch. Und bunt sowieso.

Aber bloß nicht konkret werden. Lieber Nebelkerzen werfen. Immer in der umwölkten Schwebe lassen, was man eigentlich will und erstrebt (außer Fördergeld, hoho).

Den Mund so richtig voll nehmen

Vollends entfesselte Euphorie bricht sich Bahn, wenn erst einmal das Zauberwort „Kreativwirtschaft“ gefallen ist. Dann gibt es kein verbales Halten mehr. Dann ist quasi alles erlaubt. Dann darf man den Mund so voll nehmen, wie man will. Hauptsache, es klingt irgendwie cool und jung. Nach Zukunft fürs gebeutelte Ruhrgebiet. Und – naja – irgendwie auch nach „Kultur“, die sich nach solchem Verständnis nicht selten bei nett illuminierten Straßen-, Park- und Quartiersfesten mit anschließendem Feuerwerk manifestiert. Prösterchen!

Doch hören wir mal rein: Richtige Formulierungs-Könner sind beispielsweise beim Projektbündel unter dem Titel „Urbane Künste Ruhr“ am Werk. Wir zitieren ehrfürchtig: „Urbane Künste Ruhr rückt 2017 Utopien in den Fokus und verwandelt den urbanen Raum in eine temporäre Handlungsfläche…“ Fokus – urban – Handlungsfläche… Das klingt zwar schwammig, ist aber beherzt in die Textschublade gegriffen und großzügig ausgestreut. Auch wollen sie nach eigenem Bekunden „Handlungsstrategien für die Bevölkerung vor Ort“ entwickeln. „Vor Ort“ ist immer gut, „Handlungsstrategien“ sind es nicht minder. Fehlen eigentlich nur noch noch Textbausteine, wie sie auch im gar flotten Lokalteil der Zeitung beliebt sind: „Kiez“, „Quartier“, „total lokal“ oder das allgegenwärtige „Umsonst und draußen“. Da ächzt der Kenner.

Dieter Gorny, Großmeister der Zunft

Ein, wenn nicht d e r Großmeister aller eloquenten Subventionsempfänger und vielfach gekrönter König der „Kreativwirtschaft“ ist der umtriebige „Medienmanager, Lobbyist und Musiker“ (Wikipedia) Dieter Gorny, seines Zeichens u. a. Ex-„Viva“-Chef und künstlerischer Ko-Direktor der „Ruhr.2010“, vulgo der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010. Als solcher hat er sich auch nachdrücklich für die Loveparade in Duisburg eingesetzt.

Länger nichts mehr von Gorny (Jahrgang 1953) gehört? Wie man’s nimmt: Im März 2015 wurde er vom seinerzeitigen Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (einst selbst als öffentlich bestallter „Siggi Pop“ unterwegs) zum „Beauftragten für Kreative und Digitale Ökonomie“ erkoren. Damit haben wir nur einen Bruchteil der Ämter und Würden genannt. Nicht zu vergessen: Der Mann firmiert längst als Prof. Dieter Gorny. Früher hätte man solch einen Teufelskerl „Tausendsassa“ genannt. Oder „Hansdampf in allen Gassen“.

...und so undurchsichtig wie Milchglas. (Fotos (2): Bernd Berke)

…und so undurchsichtig wie Milchglas. (Fotos (2): Bernd Berke)

Wer sich mal kriminal über Gornys Treiben aufregen will, muss bei den geschätzten „Ruhrbaronen“ nur mal das Stichwort „Gorny“ eingeben und wird vielfach fündig. Die Barone, die gern schon mal die eine oder andere Kampagne reiten (z. B. mit Stoßrichtung auf Grüne oder Anthroposophen), haben in ihm einen ihrer Lieblingsgegner gefunden…

Selbsternannte Impulsgeber

Uns hingegen geht es natürlich ausschließlich um linguistische Belange. Im Gefolge von Ruhr.2010 wurde Gorny Geschäftsführer einer Institution mit dem geschwollenen Namen „European Centre for Creative Economy“ (ECCE), die auf dem Gelände am Kulturzentrum „Dortmunder U“ residiert.

Auch und vor allem im ECCE-Dunstkreis beherrscht man den erwähnten Subventions-Jargon aus dem Effeff, ja, man hat ihn wohl recht eigentlich mitgeprägt. So versteht man sich laut Homepage als „Impulsgeber für eine kulturbasierte Stadt- und Quartiersentwicklung“. Allein schon das Wort „kulturbasiert“ könnte einen auf die Palme bringen… Einen wirklichen Eigenwert scheint Kultur in solchem Kontext nicht mehr zu haben, sie wird halt für andere Zwecke in Dienst genommen.

Soeben erhalte ich eine einladende E-Mail von „Interkultur Ruhr“, in der lockend von „Partizipation im öffentlichen Raum“ geredet wird. Jaja, auch allerlei Teilhabe kommt immer gut. Im selben Text tauchen ebenfalls mal wieder „urbane Diskurse“ auf. Tja, auch diese Leute verstehen ihr Handwerk bzw. ihr verkleisterndes Sprachdesign, das sich nicht zuletzt aus pseudosoziologischem Funktionärssprech speist.

Auf zur Reparatur ganzer Stadtteile!

Am besten ist es, wenn man der jeweiligen Kommune bzw. der Stiftung oder dem Verband gleich die soziokulturelle Reparatur ganzer Stadtteile in Aussicht stellt. Wer fragt später schon danach, was daraus geworden ist? Es sind allemal Zeichen gesetzt und Impulse gegeben worden. Also Ruhe, ihr Zweifler! Da wird kein Geld verpulvert. Es wird nur verbraucht.

Damit wir uns nicht missverstehen: Es geht hier weniger um Qualität, Sinn oder Unsinn einzelner Vorhaben, es geht um den ranschmeißerischen Jargon, der sich mit automatisch einrastenden Schlüsselworten an Gremien und sonstige „Entscheider“ heranwanzt. Doch wo schon die Sprache verhunzt wird, wächst das Misstrauen in die Sache schnell.

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P.S.: Auch hier, wie schon im Falle des landläufigen Fußball-Jargons, mache ich mich anheischig, nach und nach weitere Beispiele zu sammeln.

Hatten wir schon „nachhaltig“ und „achtsam“? Oder ist das eine andere, sanftere Kategorie?




Hilfe, die Zukunft ist da! Unser Science-Fiction-Leben

Und, wonach greifen Sie nach dem Aufwachen zuerst? Nun gut, es gibt vielleicht ein Küsschen für den Menschen neben uns. Aber dann schnappt man sich dieses kleine flache Gerät, das, neben einem einstaubenden Rilke-Band, auf dem Nachttisch liegt. Hat es nicht gerade so vertraut gebrummt?

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen... (© Franz Ferdinand Photography) photo credit: Franz Ferdinand Photography <a href="http://www.flickr.com/photos/121184747@N06/21706059016">Science Fiction Treffen</a> via <a href="http://photopin.com">photopin</a> <a href="https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/">(license)</a>

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen… Vielsagender Moment beim Science-Fiction-Treffen im Technikmuseum Speyer. (© Franz Ferdinand Photography) Photo credit mit Links: Franz Ferdinand Photography Science Fiction Treffen via photopin (license)

Hallo, du mein Wecker voller Musik, mein Telefon, meine Verbindung zur Welt, mein Minikino, mein Alleswisser, mein Immerfürmichda-Dings! Guten Morgen! Magst du mal eben meinen Puls fühlen? Natürlich, das kannst du auch, mein süßes Roboterchen. Denn wir leben unter Bedingungen, die in der Rock’n’Roll-Ära noch pure Science-Fiction waren. Hilfe, die Zukunft ist da!

Es soll sie ja geben. Ein paar ältere Herrschaften, die sich der neuen Technik verweigern. Sie haben kein Smartphone, sie kennen kein Internet: „Brauch ich nicht, will ich nicht“, murren sie. Doch sie kennen ihre Fernbedienung und lassen gerne ganztägig den Fernseher laufen. Früher flimmerte da ein Testbild, jetzt ist immer Seifenoper. Blöd, aber faszinierend.

Genau so etwas hatten wir befürchtet, damals, als wir den Fortschritt noch mit Skepsis sahen. Aber zum Glück gibt es – zumindest in der westlichen Zivilisation von Angela Merkel und Monsieur Macron – keinen dämonischen Staatsapparat, der uns dumm hält, um uns für fiese Ziele zu benutzen, was Dichter, Denker und wir Gelegenheitsrevoluzzer stets geargwöhnt hatten. Es ist vielmehr die betörende Technik, diese geschäftstüchtige Circe des 21. Jahrhunderts, die uns mit ihrem Zauberkünsten und Lockgesängen in ihren Bann gezogen hat. Und wir wollen uns nicht mehr von ihr trennen.

Captain Kirk, bitte kommen!

Denn sie macht uns das Leben schon sehr bequem. Wir müssen nie mehr wieder nach einer Telefonzelle suchen, nach Münzen kramen und uns über zerfledderte Telefonbücher ärgern. Unser Smartphone kennt sowieso alle Nummern, stellt jederzeit und überall die Verbindung her. Selbst aus der Gletscherspalte können wir noch Mutti anrufen, denn das Mobilfunknetz umfasst entlegenste Winkel der Erde. Und Akkus halten auch immer länger.

Tatsächlich funktionieren unsere Handys heute reibungsloser als der Kommunikator, mit dem Captain Kirk in der Fantasie von 1966 Kontakt zu den Kollegen vom Raumschiff Enterprise aufnahm. Ein ziemlich klobiges Klappding war das – und doch vollkommen utopische Technik für Menschen, die allenfalls ein knarrendes Walkie-Talkie kannten.

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

1966, das muss man mal bedenken, war noch nicht einmal das Fax-Gerät erfunden, das sich die Enterprise-Macher ausgedacht hatten. Wer hätte damals geahnt, dass auch das Bildtelefon mit beliebiger Projektion – dolle Sache in der Sternenflotte – für uns alle bald schon eine Selbstverständlichkeit werden würde? Gerade so, wie Captain Kirk und sein geschätzter Halbvulkanier Mr. Spock (der mit den spitzen Ohren) die knurrenden Klingonen-Generäle vor dem Zusammenstoß auf ihren Schirmen sehen konnten, gucken wir heute der Schwiegermutter über Skype in die Augen. Und dank Highspeed Flatrate kostet das nichts extra.

Das Ende der Geheimnisse

Die ewige Verfügbarkeit kann auch ein Fluch sein. Es gibt keine Ausreden mehr. Vorbei die Zeit, als man tatsächlich in die Ferien verschwinden konnte – mit dem vagen Versprechen, nach einer Woche vielleicht einmal anzurufen („Aber verlass dich nicht drauf …“). Ständige Statusmeldungen – „Sind jetzt am Autobahnkreuz“, „Haben die Meiers getroffen“, „So sieht der Strand aus“ – gehören zum Unterwegs-Sein. Und es werden zeitnahe Antworten erwartet. Schließlich verpetzt mir meine What’sApp sofort, wann die Lieben meine Nachricht gesehen haben.

Diskretion war gestern. Finstere Mächte, geheime Dienste könnten jede meiner Mails und Messages theoretisch auch gesehen haben. Da nützen Anti-Viren-Programme nichts. Wir wissen alle, dass die gründliche Bespitzelung des Einzelnen technisch kein Problem mehr darstellt. Genau das hat George Orwell, der alte Pessimist, in seinem 1948 vollendeten, von der Zeit überholten Zukunftsroman „1984“ befürchtet.

„Big Brother is watching you“ – ja, ja, der wie auch immer geartete große Bruder kann/könnte alle Räume und Straßen beobachten, unsere Gespräche abhören, unsere Handys und Autos jederzeit orten. In den 1970er-Jahren wären wir ausgeflippt vor Entsetzen. Heute ist die Privatsphäre ein weniger streng gehütetes Revier.

Keine Angst vor Big Brother

Mit kindlichem Vergnügen geben wir der Öffentlichkeit bei Facebook preis, wo wir heute Abend essen gehen, was wir auf dem Teller haben, wie süß der Hund wieder guckt. Die virtuellen Friends verdrehen schon die Augen, treiben es aber ähnlich. Ich poste, also bin ich, das ist die Devise der Social-Media-Gesellschaft.

Während die Vorsichtigen wenigstens kurz überlegen, was sie da unauslöschbar in die Welt setzen, so begeben sich tollkühne oder auch dummdreiste Freiwillige in die Arenen der Reality-Shows, scheuen weder Dschungelprüfungen noch Wohnzimmerknäste und lassen sich vor der Kamera demütigen. Eigentlich nicht zu fassen: Orwells Begriff vom „Big Brother“ ist seit der Jahrtausendwende der Titel der erfolgreichsten Sendung mit voyeuristischem Konzept.

Verzeihen Sie, Mr. Orwell, der Sie die Menschheit mit dem gruseligen Großen Bruder vor dem faschistoiden Überwachungsstaat warnen wollten! Wir Science-Fiction-Wesen haben aus Ihrem düsteren Zukunftsbild einen Witz gemacht. „Wir amüsieren uns zu Tode“, ermahnte schon in den 1980er-Jahren der Medienwissenschaftler Neil Postman die Welt. Aber wir leben noch, trotzen dem Terror und der Klimakatastrophe und gucken jetzt Serien gleich staffelweise auf Netflix. Unsere Empfindlichkeiten haben sich offenbar erheblich verändert. Die nicht abschaltbaren Teleschirme in Orwells 1984er-Szenario können uns einfach nicht mehr schrecken.

Seltsame neue Welt

Natürlich regen wir uns zwischendurch mal ein bisschen auf – über Gentechnik, Leihmütter, eingefrorene Eizellen, Embryonen aus dem Reagenzglas und geklonte Tiere. Lauter Phänomene aus der klassischen Science-Fiction-Literatur, die mir nichts, dir nichts Wirklichkeit geworden sind.

Immer wieder gern zitiert wird in diesem Zusammenhang der 1932 entstandene Zukunftsroman „Schöne neue Welt“ des britischen Intellektuellen Aldous Huxley. Noch heute beschäftigen sich artige Abiturienten mit dem pädagogisch konstruierten Stoff über einen globalen Staat, der die Menschheit in Großlabors aufzieht und perfekt kontrolliert. Für Vergnügungen ist gesorgt, allzu starke, individuelle Gefühlsregungen sind hingegen unerwünscht und werden von der Obrigkeit gewaltsam unterdrückt.

Da allerdings irrten Huxley und andere Vordenker. Es ist alles noch viel raffinierter. Wir in der Zukunft Angelangten dürfen durchaus individuell fühlen und handeln. Das allumfassende Netz bietet uns nicht nur ständige Konsum-, Kommunikations- und Unterhaltungsmöglichkeiten. Nein, es nimmt auch unsere Wutausbrüche und Verschwörungstheorien offenherzig entgegen, Tag und Nacht.

Liebesschwüre und Hasstiraden werden genauso tolerant gespeichert und leidenschaftslos verbreitet wie Referate über die Erderwärmung. Und was das Beste ist: Das System hilft uns bei dem Referat. Wie eines dieser allwissenden Elektronengehirne aus der Science-Fiction-Literatur weiß es Antworten auf alle Fragen. Gefüttert vom Wissen zahlloser einander kontrollierender Individuen, entwickelt es zum Glück (noch) kein gemeines Eigenleben wie der Supercomputer HAL 9000 aus Stanley Kubricks 1968er-Werk „2001 – Odyssee im Weltraum“. Aber das kann ja noch kommen.

Wo bleibt das eigene Wissen?

Bisher lieben wir unser allwissendes Elektronengehirn und googeln uns durchs Leben, auch wenn uns hin und wieder ein Unbehagen beschleicht. Was ist, wenn der große Stecker mal gezogen wird? Wenn die iCloud, diese mysteriöse Datenwolke der weltbeherrschenden Firma Apple, vom Wind des Unberechenbaren verweht wird? Wenn die Systeme kollabieren? Dann, werte Mitmenschen, bleibt, was derzeit nicht mehr allzu heftig gefördert wird: das eigene Wissen. Wohl dem, der dann noch Meyers Taschenlexikon in 25 leider veralteten Bänden besitzt! Das sind bekanntlich nur wenige Menschen.

Die Vernichtung der privaten Bibliotheken musste keineswegs, wie in Ray Bradburys 1953 erschienenem Science-Fiction-Roman „Fahrenheit 451“, mit Gewalt betrieben werden. Junge Leute schleppen sich bei ihren globalen Umzügen nicht mehr mit 100 Bücherkisten ab. Große Bücherwände sind aus den Katalogen der Möbelhäuser verschwunden. Zwar kaufen kultivierte Damen gerne Literatur zum Verschenken. Auch sieht man im Urlaub Leute mit Krimis auf dem Liegestuhl. Aber auf Dauer ist das e-book nun mal praktischer.

Alles ist so praktisch. Wir können über das Smartphone zu Hause das Licht anmachen. Wir müssen uns keine Zahlen und Fakten mehr merken. Das Auto fährt bald von selbst. Und schon jetzt führt uns das Navigationssystem zu jedem Ziel, das wir uns vorher über Streetview schon mal angeguckt haben. Wir müssen nicht mal mehr mit dem Finger auf Tasten drücken. Die Technik reagiert auch auf unsere Stimme.

Science-Fiction ist Realität geworden. Es wird Zeit, den eingestaubten Rilke-Band vom Nachttisch zu nehmen und mal wieder einfach so auf knisterndem Papier ein Gedicht zu lesen: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre …“. Dann denken wir noch mal nach. Über uns und die Zukunft, in der wir angekommen sind.




In der Fremde soll man sich ändern – Matthias Polityckis anregendes Buch über das Reisen

Auf der Rückseite des Umschlags steht es abermals: Matthias Politycki (Jahrgang 1955) wird gelegentlich als Abenteurer und Draufgänger der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnet. Das mag ja stimmen. Fest steht jedenfalls: Der Mann ist ungeheuer viel und zuweilen recht riskant gereist – bis in die letzten Weltwinkel. Davon legt er in seinem neuen Buch beredtes Zeugnis ab.

Der längliche Titel zieht schon entsprechend weite Horizonte auf: „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“ heißt der Band, der wirklich auf ausgesprochen vielfältigen Reiseerfahrungen basiert. Auch die allermeisten Backpacker dürften auf vergleichsweise ausgetretenen Pfaden unterwegs sein. Von verwöhnten Individual- oder Pauschaltouristen ganz zu schweigen.

Wo ist nur die alte Freiheit geblieben?

Gleich eingangs benennt Politycki ein Grundproblem heutigen Reisens, das – von Ausnahmen abgesehen – bis vor einiger Zeit noch relativ ungebrochen als Synonym für Freiheit gegolten hat. Jetzt freilich, unter dem Eindruck von Krieg, Terror, Globalisierung und weltweiten Flüchtlingsströmen, habe sich ein tiefer Bedeutungswandel vollzogen. „Reisen hat seine Unschuld verloren“. Sagen wir mal: spätestens jetzt, vielleicht für alle restliche Zeit.

Die einst als „Exotik“ wahrgenommene Fremde könne nun bereits beginnen, wenn wir aus der heimischen Haustür gehen. Andererseits gebe es „da draußen“, also rund um den Erdball, oft nichts grundsätzlich „Anderes“ mehr zu entdecken. Da stellt sich die Frage, was denn eigentlich authentisch sei. Vielleicht gar nichts? Oder eben alles. Auf seine Weise. Doch trotz wachsender Bedenken treibt es Politycki immer wieder hinaus in die Ferne. Es ist eine unstillbare Sehnsucht.

Immer neue Bewährungsproben

Aber keine Angst. Politycki theoretisiert und reflektiert natürlich nicht nur, er wird sozusagen tausendfach konkret und schöpft freigebig aus dem reichen Reservoir seiner Erfahrungen. Dabei geht es vor allem um die Haltung des Reisenden, der sich in verschiedenen Weltgegenden jeweils ganz anders benehmen und bewähren müsse, nirgendwo jedoch unterwürfig.

Auf Reisen, so Politycki, treffe man vor allem Menschen aus der Unterschicht der jeweiligen Länder. Daher müsse man sich – zumal als Alleinreisender – handfest und selbstbewusst behaupten, notfalls gar hart auftrumpfen, um nicht unterzugehen und seine Würde zu wahren. Da man sich – auch mit Englisch – längst nicht überall verständlich machen könne, müsse man sich dafür auch eine angemessene Körpersprache zulegen.

Ist das ein Beispiel neudeutscher Überheblichkeit? Wohl kaum. In entlegenen Gebieten unterwegs, muss man sich schon so mancher Zudringlichkeit zu erwehren wissen, diese Einsicht vermittelt Politycki sehr glaubhaft. Ansonsten ist er jederzeit bereit, seine Urteile zu korrigieren, zu relativieren und neu zu fassen. Eben das sollte ja eine Frucht wirklichen Reisens sein.

Auch Müllberge und Slums nicht gemieden

Mit wohlmeinender politischer Korrektheit, so der Autor, komme man jedenfalls nicht weit. Und überhaupt: „Je weiter er in der Welt herumgekommen ist, desto schwerer wird es dem Reisenden fallen, zu übergreifenden Meinungen und Etikettierungen zu gelangen.“ Somit erweist sich intensives Reisen auch als permanente Verunsicherung.

Touristische Stätten erscheinen dem erfahrungshungrig Suchenden in aller Regel als Enttäuschungen, als hoffnungslos überfüllte Plätze, an denen „sich die Weltjugend zum Posen trifft“ und Millionen Selfies knipst. Der Autor hingegen scheut sich nicht, beispielsweise indische Müllberge zu besteigen, um auch diese abscheuliche Seite des ungeheuren Subkontinents am eigenen Leibe zu erfahren. Ebenso ist er (notgedrungen „kalten Blickes“) durch etliche Slums gezogen, um alle Stufen des Elends zu sehen und also vor der furchtbaren Wirklichkeit nicht die Augen zu verschließen. Es ist sicherlich kein zynischer Voyeurismus, der ihn treibt, sondern Erkenntnisdrang. Das darf man ihm glauben.

Wer so unbedingt reist, kommt zwangsläufig in extreme, manchmal auch gefährliche Situationen, in physische und psychische Grenzbereiche – ob nun in Nepal, Samarkand, Ruanda, Lateinamerika oder Japan, um nur ganz wenige Zielgebiete zu nennen.

Wo gibt es die besten Barbiere der Welt?

Politycki erzählt von all dem sehr anschaulich und keineswegs mit dem Gestus des Eroberers oder Triumphators. Er erwähnt auch manche Peinlichkeit, manche „Niederlage“ in der Fremde. Es sind buchstäblich Erfahrungen fürs Leben. In der Fremde ist man zuweilen rundum gefordert, kann und muss man ein Anderer werden, sich neu erproben. Das fängt schon mit äußerlichen, nur scheinbar „banalen“ Dingen wie dem indischen Straßenverkehr oder dem japanischen Straßensystem an.

Anregend sind auch einige Exkurse wie etwa der aufschlussreiche Vergleich von Barbier-Besuchen in verschiedenen Ländern. Der Autor greift nach und nach zahllose Aspekte des Reisens auf und zitiert dabei, um den Kreis nochmals zu erweitern, en passant nicht nur große Reiseschriftsteller wie etwa Bruce Chatwin, sondern auch ähnlich reisesüchtige Gefährten und Freunde.

Ein gewisser Überdruss gehört irgendwann dazu

Als Signale vom Gegenpol liest man in diesem Kontext Zeilen des Reise-Skeptikers Gottfried Benn: „Ach, vergeblich das Fahren! / Spät erst erfahren Sie sich: / bleiben und stille bewahren / das sich umgrenzende Ich.“ Nein, dieser Stubenhocker! Doch den Überdruss am Reisen, das Gefühl, alles schon (eindrucksvoller) gesehen zu haben, den kennt selbstverständlich auch Politycki.

Unterdessen fragt man sich, wann und wie Politycki neben den Reisen überhaupt noch die Zeit zum Bücherschreiben aufgebracht hat. Egal. Er hat’s ja mal wieder geschafft. Dieses mit Erfahrung gesättigte, durchlebte und durchdachte Buch kann die Einstellung zum Reisen und damit zum Dasein ändern. Es gehört ins Regal – oder besser noch: gleich ins Reisegepäck.

Matthias Politycki: „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“. Hoffmann und Campe. 351 Seiten. 22 €.




TV-Nostalgie (37): Nachlese zur Internationalen Automobil-Ausstellung von 1963

Diesmal geht es nicht nur um eine mehr oder weniger wehmütige TV-Rückschau, sondern zugleich um Fahrzeug-Historie, und zwar anhand eines Berichts über die Frankfurter Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) von 1963. Der Beitrag des Hessischen Rundfunks (HR) ist ein gesellschaftliches Zeitdokument von gewissen Graden.

Screenshot aus dem erwähnten Film von der IAA 1963. (https://www.youtube.com/watch?v=OnssnUGnpdM)

„Haben…“ – Screenshot aus dem erwähnten Film von der IAA 1963. (https://www.youtube.com/watch?v=OnssnUGnpdM)

Der etwa halbstündige Film geriert sich als „kritische Nachlese“ zur Autoschau, hebt sich auch anfangs bewusst von euphorischen Werbesprüchen der Industrie ab, gibt sich stellenweise geradezu desillusioniert und moniert – beinahe schon im ökologischen Sinne – die irrsinnige Prospektflut auf der Messe.

Doch das täuscht. Die Distanz zu den Interessen der Autohersteller wird keineswegs rundum gewahrt. Nun gut: Der Jahrgang ’63 hatte ja auch einige besonders schöne Karossen zu bieten, die einen ästhetisch blenden konnten und deren Anblick heute noch erfreut, wenn man mal von allen negativen Begleiterscheinungen abstrahiert.

Eine versunkene Lebenswelt

Es ist eine versunkene Lebenswelt, der wir da begegnen. Allein schon diese teils noch ausgemergelten, teils aber auch schon wieder wirtschaftswunderlich rundlich gewordenen, strotzend „davongekommenen“ Leute der damals landläufigen Kriegs- und Nachkriegstypologie, die hier mit ihren noch bescheidenen Mobilitäts-Phantasien ans Mikro geholt werden! Einer von ihnen beklagt sich bitterlich, dass der Lackauftrag bei Skoda (damals rein tschechoslowakisch) nicht so solide sei wie bei Daimler-Benz. Ja, Donner-, Stein- und Hagelschlag! Am Ende hatte der Mann vielleicht recht…

Dazu ertönen damals gängige Reporter-Redewendungen  –  wie etwa „Schaubude der Motorisierung“ oder (beim Auftauchen einer jungen Frau) die Formel „diese charmante Dame“, welche natürlich ein furchtbar zeitgemäßes Kleid mit Leopardenmuster trägt. Hinzu kommen die einstweilen noch arg rudimentären Englisch-Kenntnisse der bemühten Fernsehmenschen („Du itt juuurself“).

Die Kunden waren noch zu sparsam

Der seinerzeit führende Autoexperte Fritz B. Busch interviewt zwischendurch den Chefingenieur der Adam Opel AG. Dieser barmt, der durchschnittliche Käufer sei noch nicht reif für avancierte Motorisierung. Deutlicher Hintergedanke: Die Kundschaft muss endlich dazu gebracht werden, nicht mehr so sparsam zu sein. Herrschaftszeiten!

Und noch ein Screenshot: Fritz B. Busch (re.) interviewt den Opel-Chefingenieur. Screenshot aus dem erwähnten Film von der IAA 1963. (https://www.youtube.com/watch?v=OnssnUGnpdM)

Und noch ein Screenshot von 1963: Fritz B. Busch (rechts) interviewt den damaligen Opel-Chefingenieur (https://www.youtube.com/watch?v=OnssnUGnpdM)

Gleich in zwei kurzen Blöcken spürt das TV-Team der mutmaßlichen Zukunft des Automobils nach und preist Neuerungen wie Servolenkung, heizbare Heckscheiben oder automatische Geschwindigkeitsregler.

Weit über Gebühr wird sodann ein mit gerade mal 10 Litern Wasser und Lauge gefüllter, potthässlicher Behälter gewürdigt, der als einhändig tragbare „Waschanlage“ taugen sollte. Der läppischen Vorführung haben allerdings massenhaft Männer gebannt zugesehen. Sie waren offenbar noch mit wenig zufrieden.

„Kleinrentnerin“ im dicken Benz

Doch vom technischen Fortschritt träumten sie schon. Freudig erregt vernahm man, dass es erste Münztankautomaten zur Selbstbedienung gebe, dass ein neuartiges Amphibienfahrzeug nicht nur für Landpartien, sondern auch für Ausflüge auf Flüsse und Seen geeignet war.

Als die Amphibienfahrzeuge zu Wasser gelassen wurden... (weiterer Screenshot aus dem erwähnten TV-Film).

Als die Amphibienfahrzeuge zu Wasser gelassen wurden… (weiterer Screenshot aus dem erwähnten TV-Film).

Eigens vermerkt wird in dem Fernsehbericht der nachgerade kommunismusverdächtige Umstand, dass bei heiß begehrten IAA-Probefahrten die „Kleinrentnerin“ auch mal für Minuten einen dicken Mercedes 600 fahren durfte – falls sie sich denn traute und überhaupt einen Führerschein hatte. Nur mal zum Kontext: Noch 1975, also zwölf Jahre später, mokierte man sich in der Sendung „Der 7. Sinn“ heftig über Frauen am Steuer…

Ein Vergleich mit dem Bericht über die Vorgängerschau 1961 zeigt, dass man anno ’63 ansonsten tatsächlich vergleichsweise nüchtern an die Materie herangehen wollte. Zwei Jahre zuvor ging es noch vollends industriefromm zu. Da wurde jedes neue Modell einzeln vorgestellt und stets brav mit PS- und Geschwindigkeitsangaben versehen. Über den Informationswert eines Autoquartetts reichte das kaum hinaus.

Auf der Zielgeraden verliert der vorher noch halbwegs bedachtsame Beitrag von 1963 dann aber doch jedes kritische Maß. Ein Vertreter der Autoindustrie lobt die Bevölkerung, die sich gar sehr am Besitz fahrbarer Untersätze erfreue; nur müssten jetzt aber endlich auch mehr Straßen gebaut werden. Eilfertig geht man ihm auf den Leim und bietet einen unsäglichen Professor auf, der die Asphaltierungs-Forderung wortreich untermauert, selbst mit dem nun so gar nicht nostalgiefähigen „Argument“, mehr Autobahnspuren dienten auch der Landesverteidigung. Wem der Herr wohl zwei Jahrzehnte vorher zu Diensten gewesen ist?

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Themen der vorherigen Folgen:
“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” mit Hans-Joachim Kulenkampff (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” mit Manfred Krug (5), “Der Kommissar” mit Erik Ode (6), “Beat Club” mit Uschi Nerke (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10).

Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20).

“Columbo” mit Peter Falk (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30).

“Lassie” (31), “Ein Platz für Tiere” mit Bernhard Grzimek (32), „Wetten, dass…?“ mit Frank Elstner (33), Fernsehkoch Clemens Wilmenrod (34), Talkshow „Je später der Abend“ (35), „Stromberg“ (36)

Und das meistens passende Motto:
“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Alle zehn Jahre neue Ortsbestimmungen durch die Kunst: Die immer wieder spannenden „Skulptur Projekte“ in Münster

Fürwahr, die Skulptur Projekte in Münster machen sich äußerst rar. Mit ihrem zehnjährigen Rhythmus (bislang: 1977, 1987, 1997, 2007) kommen sie an diesem Wochenende gerade mal in fünfter Auflage heraus. Damit verglichen, ist selbst die Kasseler documenta (die gleichfalls just jetzt startet) mit ihren Fünfjahres-Abständen eine nahezu inflationäre Veranstaltung.

Skulpturen verschiedener Art: Soll der von Cosima von Bonin aufgestellte Lastwagen etwa die Plastik von Henry Moore abholen? Die Antwort heißt: Nein! (Foto: Bernd Berke)

Skulpturen von grundsätzlich verschiedener Art: Soll der von Cosima von Bonin aufgestellte Lastwagen etwa die Plastik von Henry Moore (Teilansicht links) abholen? Die Antwort lautet, entgegen dem bedrohlichen Anschein: Nein! (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Scherz beiseite und dem Mann der ersten Stunde die Ehre: Seit Anbeginn ist der große Spritus rector der Skulptur Projekte, Prof. Kasper König, wegweisend dabei; ursprünglich im Verein mit dem Miterfinder Klaus Bußmann, diesmal flankiert von den beiden Kuratorinnen Britta Peters und Marianne Wagner.

Das Prinzip ist gleich geblieben: Künstler(innen) – anfangs waren es ausschließlich Männer – werden nach Münster eingeladen, wo sie sich mit Orten ihrer Wahl auseinandersetzen und Projektvorschläge einreichen. Damit beginnt ein langwieriger Prozess bis zur Realisierung. Rund drei Dutzend neue künstlerische Orts-Umschreibungen sind diesmal entstanden. Hinzu kommen etwa ebenso viele Skulpturen, die von früheren Projekten übrig geblieben sind. Mit anderen Worten: Es lagern sich von Mal zu Mal gleichsam immer neue Zeit-Schichten mit anderen ästhetischen Valeurs an. Daraus ergibt sich eine hochinteressante Historie.

Interventionen im Stadtbild

Auch 2017 stiften – unter gesellschaftlich veränderten Vorzeichen – die Künstler an einigen Orten der Stadt wieder erhellende Widersprüche, Einsprüche, Korrespondenzen, Assoziationen und was dergleichen Fühl- oder Denkanstöße mehr sind. Mal sind die Interventionen im Stadtbild erst allmählich wahrnehmbar, mal kommen sie mit weiter ausholenden Gesten oder überfallartig daher.

Man mag sich das alles, versehen mit einem speziellen Stadtplan oder per Navigations-App, in aller Ruhe erlaufen oder münstertypisch erradeln. Da kein Eintritt erhoben wird (man kann ja den Zugang zur Stadt schwerlich mit einer Gebühr belegen), sollte man getrost auch mehrmals wiederkommen. Und mit kundiger Führung hat man eventuell mehr von alledem.

Im Zeichen der digitalen Welt

Was ist mit den veränderten Vorzeichen gemeint? Selbstverständlich vor allem die seit 2007 noch einmal erheblich vorangeschrittene Digitalisierung und Globalisierung unseres Lebens. Auf solche umwälzenden Veränderungen, das war klar, mussten auch die Skulptur Projekte antworten und reagieren, wenn auch längst nicht immer explizit oder gar „eins zu eins“ abbildend. Das wäre denn doch zu simpel.

Im Münsteraner Hafen übers Wasser gehen: Ayse Erkmen, "On Water". (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Im Münsteraner Hafen übers Wasser gehen: Ayse Erkmen, „On Water“. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

In der heißen Arbeitsphase, also seit etwa zweieinhalb Jahren, kristallisierten sich in zahllosen Diskussionen die Befragung von Ort, Zeit und Körperlichkeit im digitalen Zeitalter als Leitthemen heraus. So manches, was derzeit ringsumher geschieht, könnte ja auf eine Auflösung von Raum, Zeit und Leiblichkeit hinauslaufen. Und wenn schon der Körper in Spiel kommt, ist es nicht nur der unbewegte. Der Performance als Gattung an der Grenze zur darstellenden Kunst kommt diesmal besondere Bedeutung zu.

Ein von jeher gültiges Thema stellt sich zudem in größerer Schärfe als ehedem: die Schaffung und Behauptung von öffentlichen, also nicht privat vereinnahmten Plätzen. Und zum Faktor Zeit: Manche Werke sind ganz bewusst darauf angelegt, nur temporär vorhanden zu sein, also allmählich zu vergehen oder schließlich abrupt zu verschwinden.

Mächtiger Truck und eine Wasserwaage am Museum

Jetzt aber endlich zu ein paar konkreten Beispielen, wie sie bei einer zweistündigen Presseführung vor der Eröffnung zu erleben waren:

Auf dem Vorplatz des LWL-Museums für Kunst und Kultur hat die Künstlerin Cosima von Bonin einen wahrhaft monumentalen Truck geparkt, auf dem sich ein großer schwarzer Container ihres Kollegen Tom Burr befindet, die ganze Chose heißt denn auch alliterierend „Benz Bonin Burr“. Es sieht ganz so aus, als solle mit dem Lastwagen demnächst die schon „klassische“ Skulptur von Henry Moore abtransportiert werden, die dort steht. Tatsächlich war es vor Ort ein Thema, ob Moores Arbeit während der Skulptur Projekte dort verbleiben dürfe.

Kein Bestandteil der Skulptur Projekte, aber skandalträchtiges Lokalgeschehen: Der LWL hat sein Buchstaben-Logo direkt auf eine Fassadenarbeit von Otto Piene aufgesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Kein Bestandteil der Skulptur Projekte, aber umstrittenes Lokalgeschehen, auf das Bezug genommen wird: Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hat sein Buchstaben-Logo am LWL-Museum für Kunst und Kultur direkt auf eine Fassadenarbeit von Otto Piene aufgesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Zugleich verweist die riesige Truck-Installation indirekt auf ein Problem an der Fassade des Landesmuseums. Dort hat der Landschaftsverband LWL sein Dreibuchstaben-Logo direkt auf eine Arbeit von Otto Piene aufgesetzt, der dies wohl unter mehr oder weniger sanftem Zureden akzeptiert hat. Sein eigentlich urheberrechtlich geschütztes Werk ist jedenfalls am Rande verfälscht worden.

Auf der anderen Seite des Museums, am Domplatz, geht es unscheinbarer her. Dort hat John Knight eine Wasserwaage an das Gebäude angesetzt, als wolle er erneut Maß nehmen oder etwas ins Lot bringen. Ganz buchstäblich könnte man von einer künstlerischen „Maßnahme“ sprechen, die sich innig auf die Architektur bezieht.

Die Privatwohnung des Herrn N. Schmidt

Im Innern des öffentlichen Museums hat Gregor Schneider quasi eine Privatwohnung eingebaut, die man (jeweils höchstens zu zweit) durch einen Seiteneingang erreicht. In diesem Wohnraum ist ein gewisser „N. Schmidt“ daheim. Eine Kollegin versichert, ihr sei – nach eineinhalb Stunden Wartezeit in der Schlange – drinnen Gregor Schneider höchstselbst begegnet, aber eher wie ein Geist. Man lasse sich überraschen. Auch Enttäuschungen sind nicht ausgeschlossen.

Koki Tanaka hat in einem Gebäude der Johannisstraße seine „Provisional Studies“ aufgebaut. In unwirtlich gekachelten Räumen zeigt er Videos von einem Workshop, an dem acht Bewohner(innen) Münsters von ganz unterschiedlicher Herkunft teilgenommen haben. Ein „Dschungelcamp“ für Intellektuelle? Das nun doch beileibe nicht. Die intensive Begegnung stand unter der Frage „How to live together?“ Es geht also ums Zusammenleben an und für sich. Eine raumgreifende, begehbare „Skulptur“, die den ohenhin längst fließend gewordenen Gattungsbegriff beherzt erweitert.

Parodistisches Spiel mit der typischen Münsteraner Giebelform: "Sculpture" von Pelese Empire, wohinter sich Barbara Wolff und Katharina Stöver verbergen. (Foto: Bernd Berke)

Parodistisches Spiel mit der typischen Münsteraner Giebelform: begehbare Arbeit „Sculpture“ von Pelese Empire, wohinter sich Barbara Wolff und Katharina Stöver verbergen. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Anspielung auf die Giebelform

Schon eher der konventionellen Vorstellung von Skulptur bzw. Architektur enspricht die Arbeit von Pelese Empire (Barbara Wolff / Katharina Stöver). Sie heißt schlicht und einfach „Sculpture“ und greift parodierend und anverwandelnd die in Münster so häufige Giebelform auf, außerdem wurde das erschröcklich-bizarre rumänische Karpatenschloss Peles auf die Außenhaut projiziert. Auch diese Skulptur kann man betreten, sie enthält sogar eine Bar und kann zum Begegnungsort mutieren. Insgesamt kommt diese bauliche Skulptur auch als eine Art „Fake“ daher und greift somit ein politisch virulentes Thema der Internet-Ära auf.

Wenn man so will, ist das Projekt von Justin Matherly noch skulpturenförmiger. Er hat ein Gebilde geformt, das dem Nietzsche-Felsen im schweizerischen Sils Maria nachempfunden ist. Dieser Felsen soll den Philosophen zur Idee einer „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ angeregt haben. Eine Figuration mit Hintergedanken, die man kennen muss, um das Ganze zu würdigen. Der sehr brüchig wirkende „Fels“ ist übrigens innen hohl und steht auf seltsamen Stützen. Es handelt sich um medizinische Gehhilfen.

Wird nach der Ausstellung vernichtet: Lara Favarettos "Momentary Monument". (Foto: Bernd Berke)

Wird nach der Ausstellung vernichtet: Lara Favarettos „Momentary Monument“. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Rein äußerlich betrachtet, hat auch Lara Favaretto ein steinernes Monument nach herkömmlichem Verständnis geschaffen. Doch weit gefehlt. Wir unterliegen einer kunstvollen Täuschung. Auch dieses scheinbar so massive Werk ist innen hohl, es hat sogar einen Schlitz zum Geldeinwurf (der Erlös kommt Menschen in Abschiebhaft zugute). Das „Momentary Monument“ ist, wie der Titel ahnen lässt, nicht auf Dauer angelegt, sondern soll mit Ende der Skulptur Projekte geschreddert und recycelt werden. Einstweilen aber bezieht es sich als Gegenüber und kritischer Gegenentwurf auf ein kolonialistisches Ehrenmal vis-à-vis.

Subtile Geste vor dem Erbdrostenhof

Im berühmten Erbdrostenhof (barockes Palais) haben bei früheren Skultur Projekten Richard Serra und Andreas Siekmann ihre unübersehbaren Zeichen gesetzt, Letzterer mit einer Arbeit, die sich über städtische Tier-Maskottchen mokierte und bei Stadtwerbern nicht allzu gut ankam. Serras Arbeit hätten die Münsteraner hingegen liebend gern behalten, doch sie wurde zu ihrem Leidwesen für gutes Geld in die Schweiz verkauft.

Trotz der Größe ungeahnt feingliedrig: "Beliebte Stellen" von Nairy Baghramian vor dem Erbdrostenhof. (Foto: Bernd Berle)

Trotz der Größe ungeahnt feingliedrig: „Beliebte Stellen“ von Nairy Baghramian vor dem Erbdrostenhof. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Ein Platz mit alter und neuerer Vorgeschichte also, der beispielhaft zeigt, wie bestimmte Stätten insgeheim nachhaltig durch die Projekte geprägt werden, selbst dann, wenn die Einzelwerke nicht mehr am Ort sind. Genau hier findet sich nun die eher zurückhaltende Arbeit „Beliebte Stellen“ von Nairy Baghramian, die den Raum gleichwohl neu „besetzt“. Ihre Skulptur windet sich als große, doch feine und aparte Geste über den Platz, sie ist – ganz planvoll – „unfertig“ und müsste noch verschweißt werden, auch wirkt die stellenweise tropfenförmige Oberfläche ganz so, als sei sie noch im Werden (oder schon im Vergehen). Ein Beispiel dafür, wie man äußerlich „groß“ agieren und dennoch subtil bleiben kann.

Übers Wasser gehen und sich am „Lagerfeuer“ versammeln

Ein paar spektakuläre Ortsbezüge kenne ich (noch) nicht aus eigener Anschauung, man kann sich jedoch anhand der Beschreibungen schon Vorfreude bereiten: Für „On water“ (Auf dem Wasser) hat Ayse Erkmen am Münsteraner Hafen knapp unter der Wasseroberfläche einen Steg gebaut, auf dem Besucher sozusagen übers Wasser gehen können – jedenfalls beinahe. Wer jetzt an Christo und den Lago d’Iseo denkt, liegt vielleicht nicht völlig daneben.

Am "Lagerfeuer" des digitalen Zeitalters: Aram Bartholl, "5 V" (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Am „Lagerfeuer“ des digitalen Zeitalters: Aram Bartholl, „5 V“ (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Auf andere Art staunenswert ist der Beitrag von Aram Bartholl, der geheimnisvolle thermoelektrische Apparaturen ersonnen hat, so dass man an einer Art Lagerfeuer wirklich und wahrhaftig den Akku seines Smartphones aufladen kann. Dieser Vorgang soll zwar ziemlich lange dauern, erzeugt aber sicherlich ein besonderes Gemeinschaftserlebnis und verknüpft älteste mit neuesten Erfahrungen der Menschheit.

Dependance in der Revierstadt Marl

Mit dem Ruhrgebiet hat all das aber nichts zu tun, oder? Wie man’s nimmt. Die Skulptur Projekte haben diesmal unter dem Titel „The Hot Wire“ (Der heiße Draht) einen „Ableger“ in Marl, wo rund ums Skulpturenmuseum Glaskasten schon seit langer Zeit Kunst im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle spielt.

Im Austausch aus Marl nach Münster gelangt: Ludger Gerdes' vielsagender Fassaden-Schriftzug. (Foto: Bernd Berke)

Im Austausch von Marl nach Münster gelangt: Ludger Gerdes‘ vielsagender, sparsam „illustrierter“ Schriftzug. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Marl ist ein harsches Gegenstück zu Münster, nach dem Krieg entstand hier ein künstliches Stadtzentrum in teilweise brutal anmutender Moderne, während man im eher lieblichen Münster bekanntlich Teile der Altstadt rund um den Prinzipalmarkt wieder aufgebaut hat.

Folglich haben Skulpturen in Marl auch eine ganz andere Funktion. Dort gilt es jedenfalls nicht in erster Linie, womöglich konservative Strukturen aufzubrechen. Aber inzwischen sind ja auch viele Leute in Münster mental weiter.

Die Autonomie und der touristische Faktor

Zurück nach Münster. Längst sind die dortigen Skulptur Projekte auch zum touristischen Magneten geworden. Bei der Eröffnungspressekonferenz, zu der mehrere Hundertschaften von Medienvertretern angerückt waren, schwärmte denn auch Münsters OB Markus Lewe geradezu euphorisch, man sehe sich nunmehr wieder in einer Reihe mit Kassel (documenta) und Venedig (Biennale), gern auch in einer Abfolge mit Münster an der Spitze…

Gegen derlei wohlmeinende, doch auch begehrliche Vereinnahmung müsste man sich fast schon wieder wehren und auf künstlerische Autonomie, wenn nicht gar Sperrigkeit pochen. Doch die allermeisten Objekte und Installationen der Skulptur Projekte entziehen sich auch so schon der bloßen „Eventisierung“ und erst recht der schnöden Indienstnahme.

Gleichwohl sind die Skulptur Projekte nach etlichen Skandalen und Skandälchen der frühen Jahre (als sich die bürgerlich geprägte Stadt über vieles erregte, was heute selbstverständlich anmutet) etabliert und in gewisser Weise auch populär – freilich alles andere als „populistisch“. Inzwischen finden sich, neben den Hauptträgern (Stadt Münster und Landschaftsverband Westfalen-Lippe / LWL), etliche potente Sponsoren, die das Budget heuer nahe an die Acht-Millionen-Grenze hieven.

Skulptur Projekte Münster. Vom 10. Juni bis zum 1. Oktober 2017.

Offizielle Öffnungszeiten Mo bis So 10-20, Fr 10-22 Uhr. Freier Eintritt. Katalogbuch (430 Seiten) 15 Euro.

Allgemeine Infos:
www.skulptur-projekte.de
Tel. 0251 / 5907 500

Infos zu Touren und Workshops (auch Online-Buchung möglich unter www.skulptur-projekte.de): 0251 / 2031 8200, Mail: service@skulptur-projekte.de

Navigations-App zu den Werken: apps.skulptur-projekte.de




Worin sich Frankreich und Sachsen ähnlich sind

Nach dem Urnengang ist vor dem Urnengang. Kaum hat England gewählt, ist Frankreich an der Reihe:

Wenn am kommenden Sonntag das französische Parlament neu gewählt wird, dann könnte es nach derzeitigen Umfragen zu einer satten Mehrheit für die neue Partei „La République En Marche“ (LREM)  des jungen Staatspräsidenten Emmanuel Macron kommen. Das scheint für Europa und Deutschland eine positive Perspektive zu sein, aber die politische und gesellschaftliche Spaltung unseres Nachbarlandes ist unübersehbar.

Schein-Idylle an der Côte d’azur. (Foto: HH Pöpsel)

Auf der Landkarte Frankreichs mit den eingefärbten Ergebnissen der Präsidentschaftswahl in den einzelnen Départements sieht man deutlich eine Ost-West-Grenze: In den Regionen östlich von Paris bis hinunter zum Mittelmeer erreichte der rechte Front National mit Marine Le Pen fast überall die Mehrheit, in den westlichen Landesteilen bis hin zum Atlantik gelang Macron der Sieg.

Besonders hoch fiel der Erfolg des neuen Präsidenten in Paris aus – ausgerechnet dort, wo die meisten Migranten leben. Ebenfalls besonders deutlich siegte seine Kontrahentin Le Pen an der Côte d’azur, in Nizza, Cannes und St. Tropez – dort, wo außer algerischen Arbeitern eher wenige Migranten zuhause sind, wenn man mal von den Popstars wie Bono oder Johnny Depp auf ihren Landgütern oder den zahlreichen britischen Rentnern absieht.

Diese Tendenz sieht man so ähnlich auch in den Neuen Ländern in Deutschlands Osten, in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg: Wo die wenigsten Flüchtlinge leben, ist der Widerstand der Bevölkerung am größten und der Einfluss rechter Parteien und Bewegungen am stärksten. Vielleicht bringt ja die neue Pro-Europa-Bewegung mit ihren sonntäglichen Kundgebungen etwas Schwung in die Demokratie-Debatte. Aber wie in privaten Beziehungen weiß man, dass Gefühle sehr schwer zu beeinflussen sind.

Übrigens heißt dieser Blog ja Revierpassagen, deshalb noch ein Hinweis auf eine Querverbindung ins Ruhrgebiet: Der neue französische Präsident Macron wurde im kommenden Dezember vor vier Jahrzehnten im schönen Amiens geboren. Das ist seit langer Zeit eine Partnerstadt Dortmunds.




Fluchtpunkt Kantpark: Kunst aus Brot und alten Bäumen in Duisburg

Kleiderskulptur von Jana Sterbak im Lehmbruck-Museum. (Foto: es)

Die besten Ideen sind oft geklaut: Zum Beispiel Lady Gagas legendäres Kleid aus Fleisch. Die tschechisch-kanadische Künstlerin Jana Sterbak hatte diesen Einfall schon 1987 mit ihrer Arbeit „Vanitas.Fleischkleid für ein magersüchtiges Albino“.

Inzwischen ist die Robe etwas eingeschrumpelt, aber sie steht im Zentrum der Ausstellung Life-Size mit Werken von Jana Sterbak, die noch bis zum nächsten Wochenende (11. Juni) im Lehmbruck Museum Duisburg zu sehen ist.

Auch die anderen Objekte haben alle etwas mit dem Kult um den Körper zu tun: Stählerne Reifröcke symbolisieren das strikte Reglement, in das Frauen in früheren Zeiten eingezwängt waren – außer man nutzt sie für eine Tanz-Performance, wie das begleitende Video es vormacht. Letzte Dinge spricht das auseinandergezogene Skelett in einer Vitrine an, zum Trost ist es aus Schokolade. Überhaupt verwendet Sterbak am liebsten ganz existenzielle Materialien, sprich Lebensmittel im Wortsinn: Das große Bettgestell hat eine Matratze aus Brot.

Bett mit Matratze aus Brot von Jana Sterbak. (Foto: es)

Freiluftwerkstatt

Ich widerstehe der Versuchung, mich gleich hineinzulegen und wandere bei dem schönen Wetter lieber durch den Kantpark zur cubus Kunsthalle, denn hier wird sogar im Garten Kunst gemacht: Der syrische Bildhauer Mohamad Al Natour hat zurzeit eine Art Freiluftwerkstatt bezogen und schnitzt seine Skulpturen aus Baumresten, die einst der Sturm im Park gefällt hat.

Der Künstler Mohamad Al Natour mit seiner Skulptur im Kantpark. (Foto: es)

Vor anderthalb Jahren kam Al Natour nach Deutschland, lebte in verschiedenen Unterkünften und hat nun eine Wohnung in Duisburg-Ruhrort gefunden. Seine Skulpturen haben oft zwei Gesichter: Die eine Seite zeigt eine ganz verzerrte Visage und stehe für den Hass, erklärt er. Die andere Seite trägt weibliche Züge, eine Frau, die ihr Kind beschützt. Am Baumstamm entlang schlängelt sich eine orientalische Altstadt, von vielen Treppen durchzogen. „Das steht für die Lebensreise“, so der junge Künstler, der selbst schon eine lange Reise hinter sich hat und nun ganz neu anfängt: im Kantpark in Duisburg.

Weitere Infos:
www.lehmbruckmuseum.de
www.cubus-kunsthalle.de




Fidget Spinner – über den neuesten Hype für Kinder

Manche nennen sie Fidget Spinner, andere sagen Finger-Spinner dazu. Jedenfalls scheinen die handlichen Plastikrädchen bei Kindern und Teenagern zur Zeit das „ganz große Ding“ zu sein, sprich: ein Hype mit der Halbwertzeit von ca. 4 bis 12 Wochen. Drum muss ich mich mit dem Schreiben verdammt beeilen. Sonst ist die Chose schon wieder gelaufen.

Zwei Finger-Spinner mit kunterbunter LED-Illumination. (Foto: Bernd Berke)

Zwei Finger-Spinner mit kunterbunter LED-Illumination. (Foto: Bernd Berke)

Vor allem in den letzten beiden Tagen überschlugen sich die trendhörigen Medien und der Boulevard. Angeblich schieben die (überwiegend chinesischen) Fabriken, in denen die nette Nichtigkeit entsteht, Sonderschichten bis zum Gehtnichtmehr. Die Konjunktur muss genutzt werden, solange sie noch halbwegs heiß läuft. In etlichen Läden sind diese „Gadgets“ (so plappern die, die sich als Kenner gerieren) schon ausverkauft, händeringend ersehnt man Nachschub.

Andererseits habe ich gestern schon Finger-Spinner auf einem Flohmarkt gesehen, als einstweilen noch teure Ramschware auf dem Tapeziertisch. Aufstieg und Niedergang finden hier sozusagen gleichzeitig statt. Es ist Schrott-Kapitalismus in Reinkultur. Das Kaufen und das Wegwerfen rücken immer enger zusammen.

Den Zappel-Kreisel auf der Nase balancieren

Fidget Spinner bedeutet – frei übersetzt – ungefähr „Zappel-Kreisel“. In der Mitte sitzt ein kleines Kugellager, außen herum zwei bis drei Flügel, zuweilen auch in Batman-Form und mit ähnlichem Schnickschnack ausgestattet. Angeblich kann die Beschäftigung damit stresslösend wirken und die Konzentration fördern, was keineswegs ausgemacht ist. Vielleicht ist sogar das Gegenteil richtig. Allerdings sollen die Dinger schon autistischen Kindern und solchen mit Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) geholfen haben. Als Hersteller würde ich dieser Behauptung bestimmt nicht widersprechen.

Und was kann man mit den bereits bei Grundschüler(inne)n so begehrten Schwirrzeugs anfangen? Eigentlich herzlich wenig! Gewiss, man kann die Flügelrädchen langsam oder schnell drehen, man kann zwei bis fünfzehn Kunststückchen damit vollführen, sie beispielsweise auf Fingern, Knien, Stirn oder Nase balancieren, während sie sich rasend schnell drehen.

Vorführ-Videos mit den besten Tricks

Inzwischen finden sich zahllose Vorführ-Videos bei YouTube und auf anderen Kanälen, mit denen geschickte Spinner-Meister mit ihren Tricks Millionen Klicks erzeugen. Sie werfen die Rädchen hinterm Rücken hoch und fangen sie mit einem geübten Dreh vorne wieder auf, ohne dass die Rotation des Spinners aufhört. Zieht man die Mittelkappe ab und schiebt einen Stift ins Loch, lässt der Spinner auch das Schreibgerät kreiseln. Man kann sich vorstellen, dass Lehrer davon nicht begeistert sind – von wegen Konzentrationssteigerung!

Falls die Spinner (in einer besonders gefragten Variante) mit kleinen, knatschbunt flackernden LED-Leuchten ausgestattet sind, stellen sich dabei auch noch Regenbogen-Effekte ein, die sich freilich furchtbar schnell verbrauchen. Es ist die pure Oberfläche, fast ohne sonderlichen Gebrauchswert. Die Materialkosten bei der Herstellung sind wohl gering, die Kaufpreise hingegen (noch) nicht. Doch wartet nur ein Weilchen… Aber erzähl‘ das mal den Sechs- bis Neunjährigen! Die „müssen“ das haben. Sofort.

Derweil sieht man Kinder darum streiten, wer zuerst damit spielen darf, wer die „coolere“ Ausführung sein Eigen nennt und welcher Spinner sich am längsten dreht. Es fehlt nicht viel, dass Freundschaften daran zerbrechen, zumindest für einen Nachmittag. Läppischer geht’s nimmer. Oder sehen wir einen an sich harmlosen Spaß mal wieder zu kulturkritisch?

Zwei US-Schüler dürften ausgesorgt haben

„Fidget“ heißt – wie bereits angedeutet – zappeln oder hampeln und lässt ahnen, wie flüchtig und unkonzentriert das Ganze vor sich gehen kann. Obwohl: Man könnte sich auch vorstellen, dass die Dreherei etwas Meditatives annimmt. „To spin“ bedeutet ja auch nicht spinnen, sondern halt drehen und trudeln. Bis zur Trance.

Wie bitte? Ja, natürlich kommt der Hype aus den USA, woher denn sonst? Seit etwa einem Monat sind die Spinner auch bei uns zu kaufen – zu Preisen von etwa zwei bis 30 Euro pro Stück. Zu bedauern ist in diesem Zusammenhang Catherine D. Hettinger. Die US-Amerikanerin hat 1997 ein ganz ähnliches Spielzeug erfunden, konnte sich aber 2005 die kostenpflichtige Patent-Verlängerung nicht leisten. Und also profitieren jetzt zwei US-Schüler davon. Wahrscheinlich haben sie auf Jahrzehnte hinaus, wenn nicht fürs ganze Leben ausgesorgt…

Fragt sich jetzt nur noch, wie es die Kids hinkriegen, Spinner und Smartphone gleichzeitig zu bedienen. Aber das schaffen die schon!

 




Erschütternde Anthologie: „Zuflucht in Deutschland“ versammelt Texte verfolgter Autoren aus aller Welt

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), über ein Buch mit Texten verfolgter Autorinnen und Autoren aus vielen Ländern:

Das PEN-Zentrum Deutschland ist das einzige von etwa 140 PEN-Zentren weltweit, das ein „Writers-in-Exile“-Programm hat. Acht verfolgte, mit dem Tode bedrohte Schriftsteller, die nicht selten Gefängnisstrafen mit Einzeln- oder Dunkelhaft hinter sich haben, bekommen für ein oder zwei Jahre ein Stipendium, das heißt eine Wohnung und Geld zum Leben. Das sind die Fakten. Doch Anschaulichkeit stellt sich erst ein, wenn man Texte dieser Autoren liest.

Der ehemalige PEN-Präsident Josef Haslinger und die „Writers-in-Exile“-Beauftragte Franziska Sperr haben nun das verdienstvolle Unternehmen gestartet und eine Anthologie mit Texten von zwanzig dieser verfolgten Autoren herausgegeben. Autoren aus vielen Ländern vereinigt dieser Band, aus Tschetschenien, Kuba, Kolumbien, Kamerun, Syrien, der Türkei, Tunesien, Vietnam usw.

So vielfältig die Länder, so vielfältig auch die Texte. Berichtende Beiträge stehen neben Gedichten, Erzählungen und Romanauszügen. Der Aufbau ist immer gleich. Zuerst werden Autorin oder Autor vorgestellt, werden Ausbildung, literarische Schwerpunkte, Erfolge genannt und dann, unausweichlich, ihre Konflikte mit den Autokraten in ihren jeweiligen Ländern, die sie letztlich zur Flucht veranlassten.

Bei jedem neuen Autor ertappt sich der Leser, obwohl er es längst besser weiß, beim Gedanken, dass solche literarische Leistung nun wirklich kein Grund für Verfolgung, sondern für Anerkennung, ja Stolz sein müsste. Aber nach Veröffentlichung irgendeines kritischen Textes folgen stets die gleichen Reaktionen: Beschimpfungen, Verfolgung, Gefängnis, Morddrohungen.

Dass die Tschetschenin Maynat Kurbanova nach kritischer Berichterstattung über den Krieg in ihrem Land 2003 geflohen ist, war eine richtige Entscheidung. Kurz nach ihrer Flucht wurde nämlich ihre Kollegin Anna Politkowskaja brutal ermordet. Beide hatten sich in ihren Texten nicht an die gewünschte russische Lesart über den Krieg gehalten.

Maynat kam mit ihrer kleinen Tochter nach München und es macht betroffen, ihren Bericht über die Ankunft und das schrittweise Einleben in einer völlig fremden Welt nachzulesen. „Hier in meiner kleinen Geborgenheit“ heißt der Erzählbericht, den Maynat auf Deutsch geschrieben hat, so weit hat sie sich inzwischen eingelebt. Aber der Bericht selbst zeigt, wie mühevoll dieser Prozess abgelaufen ist. Darf sie das, was sie da unternommen hat, ihrem Kind zumuten, fragt sie sich. Wie soll das Kind verstehen, dass es über Nacht getrennt ist von den Großeltern, von allen Freunden und Verwandten? Gerade das Kind hilft ihr aber beim Einleben, wobei die kleine Tochter schnellere Fortschritte macht als ihre Mutter. Ein Bericht, der ebenso bedrückend wie beglückend ist.

Najet Adouani kommt aus Tunesien, nach neuer Lesart ein sicheres Herkunftsland, weshalb es schwierig geworden ist, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Aber Najet kann nicht zurück in ihre Heimat, in der sie die jetzige Regierung wohl nicht verfolgen würde, doch sie steht wegen des modernen Frauenbildes, das sie in ihren Gedichten und anderen Texten vertritt, auf den Todeslisten der Salafisten. Ihr Leben wäre in höchstem Maße bedroht, müsste sie zurückkehren. Najet berichtet von einem ihrer Erlebnisse im Süden Tunesiens. Da hat sie in einem Dorf von ihrem modernen Frauenbild geredet und viel Zustimmung vor allem von den Frauen erfahren, bis plötzlich ein Mann rief: „Dreckige Kommunistin, gottlose.“ Sofort wendeten sich die Frauen, die sie gerade noch beklatscht hatten, von ihr ab und bespuckten sie.

Es sind wunderbar anschauliche, intime Gedichte, die Najet Adouani zu diesem Buch beisteuert, Gedichte der Erinnerung an ihre Großmutter, über die Heuchelei derer, die sich Revolutionäre nennen, die alles besser machen wollen und doch nur an ihren kleinen, mickrigen Vorteil denken, Gedichte über den Verlust der Heimat.

Ein erschütterndes Gedicht hat auch Enoh Meyomesse aus Kamerun beigetragen. Es handelt von seiner Haft, die nicht einfach nur eine Gefängniszeit war. Enoh wurde monatelang in Einzel- und Dunkelhaft gehalten, er hatte Angst, zu erblinden. Wie man mit ihm umging, schildert sein Gedicht „Ich komme zu dir Deutschland“. Was ihm diese Behandlung einbrachte, war seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2011: Enoh ist ein sehr bekannter Autor in Kamerun, er trat an gegen den Diktator Paul Biya, der seit 1982 ununterbrochen das Land unterdrückt. Die Rache Biyas war brutal, aber wer Enoh begegnet, kann nur staunen über seine Freundlichkeit und sein fröhliches Wesen trotz all der Leiden. Ein Romanauszug behandelt die Kolonialzeit Kameruns, das mal deutsches Protektorat war.

Bui Thanh Hieu aus Vietnam schildert in seinem Text die Verhöre, denen er als regierungsunabhängiger Blogger ausgesetzt war. Überhaupt gehören Blogger inzwischen zu den meist gefährdeten Autoren in der Welt. Vietnam, denkt der ältere Leser, haben wir nicht für ein Ende des Vietnamkriegs demonstriert, haben wir dafür nicht Wasserwerfer und Gummiknüppel in Kauf genommen? Das Ende des Krieges wurde auch durch die Demonstrationen im Westen vorbereitet. Mit welchem Recht verfolgen Regierungsstellen in Vietnam nun Kritiker und werfen alles über Bord, was ihnen an westlichen Werten mal zugutegekommen ist?

Es ist fesselndes Buch. Es zeigt, welche Schicksale hinter all diesen Namen verfolgter Autoren stehen. Und es beantwortet ganz nebenbei die oft bei uns so oft gestellte (geschmäcklerische) Frage, ob man mit Literatur etwas bewirken kann. Man muss sich das Handeln der Autokraten und Diktatoren dieser Welt ansehen, dann kennt man die Antwort.

„Zuflucht in Deutschland. Texte verfolgter Autoren“. Herausgegeben von Josef Haslinger und Franziska Sperr. Taschenbuch im S. Fischer Verlag, Frankfurt. 288 Seiten. 9,99 Euro.

 

 

 




Das Wort „Heimat“ ruft immer wieder Zweifel hervor

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über sein Verständnis von „Heimat“:

Wie lange hat es gedauert, bis ich zum Begriff „Heimat“ ein auch nur halbwegs unbelastetes Verhältnis gefunden habe!

Schwer erträgliche Heimattümelei an einem Souvenirstand in Bayern. (Foto: Bernd Berke)

Schwer erträgliche Heimattümelei an einem Souvenirstand in Bayern. (Foto: Bernd Berke)

Heimat, das war etwas, mit dem distanziert und kritisch umzugehen ist. Heimat, damit verband ich untrennbar den röhrenden Hirschen und die Trachtengruppe, Latent-Faschistoides oder den Hort dumpfer Aggression gegen alles Unbekannte und Fremde. Die Theaterstücke von Ödön von Horváth oder Marieluise Fleißer, Fassbinders „Katzelmacher“ oder Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ (unlängst mal wieder auf DVD angeschaut) schienen mir der richtige Weg zu sein, Heimat ins Bild zu setzen.

Nur durch eine skeptische Sicht und niemals durch unreflektierte Inanspruchnahme schien mir dieser eigentlich verlockende Begriff – der ja so viel von Zugehörigkeit zu vermitteln schien – handhabbar und erlaubt zu sein. Wo ich irgendwo eine sogenannte Volksbelustigung betrachtete – sei es ein Schützenfest oder ein andere traditionelle oder folkloristische Lustbarkeit – schien es mir, als müsste dahinter unvermeidbar Unheil lauern, das diese „heile Welt“ zerstören würde: die erschreckenden Abgründe dieser da so fröhlich feiernden Menschen würden in Kürze zu Tage treten.

Zerbrochene Bierzeltbänke

Und so geschah es denn auch nicht selten im jungen deutschen Film der 60er/70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wenn sich einer der Regisseure – Meister im Zertrümmern brav bürgerlicher Gemütlichkeit – solcherart Themen annahm. Zum Schluss hockte nur noch einer der trinkfesten Biedermänner desillusioniert neben den zerbrochenen Bierzeltbänken, sinnlos ins Leere stierend – und hinter ihm auf einer Weide würde ein flügellahmer Vogel versuchen, in den Himmel aufzusteigen. Alles andere als solche bissigen Einblicke, ob im Buch, im TV oder auf der Leinwand, konnte nur verlogene Idylle sein, wenn nicht Kitsch.

Impression aus der Dortmunder Innenstadt: ein Stück Ruhrgebiet - aber "Heimat"? (Foto: Bernd Berke)

Impression aus der Dortmunder City: ein Stück Ruhrgebiet – aber „Heimat“? (Foto: Bernd Berke)

Auf das Ruhrgebiet konnte ich den Begriff Heimat überhaupt nicht übertragen. Die noch von Kohle und Stahl demolierte Landschaft bot sich mir als das Gegenteil einer anheimelnden Flucht- und Rückzugsmöglichkeit dar. Im Ruhrgebiet konntest Du Dich nicht entspannt zurücklehnen und gefällig bis selbstgefällig betrachten, wie wohlgetan die Umgebung sich ausbreitet, in der du aufwachsen bist und lebtest.

Verzwickt im Ruhrgebiet

Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass man im Ruhrgebiet vor allem „Vorsicht“ walten lassen muss, allzu große Vertrauensseligkeit eher schädlich sein konnte. Und die weitverbreitete Ansicht, dass die Menschen hier geradeheraus sind und immer „sagen, was Sache ist“, konnte mir zeitweise Unbehagen einflößen. Denn was ist, wenn Du selbst nicht zu dieser zupackend-sympathischen Spezies gehörst, eher verträumt bist, verzwickt? Ich habe das Ruhrgebiet früher (heute bin ich etwas altersmilde geworden) nicht unbedingt als Heimat begriffen, sondern als Zuhause, mit dem man zurechtkommen muss. Mal recht, mal schlecht.

Also eher heimatlos (wie einstmals Freddy Quinn in besagtem Song) als heimattümelnd (wie später Karl Moik im Schrammel-TV).

Nachbemerkung.
Ausnahme: Die Heimat-Saga von Edgar Reitz konnte ich akzeptieren. Die hatte aber auch nix mit dem Ruhrgebiet zu tun.




Das Grab des Kaisers Jingdi – über eine ungeahnte archäologische Sensation in Xi’an

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), der in China schon mehrmals als Dozent für deutsche Literatur gewirkt hat, berichtet aus eigener Anschauung von einer noch weitgehend unbekannten archäologischen Sensation in Dortmunds Partnerstadt Xi’an:

Grabbeigaben ohne Arme (die aus Holz waren und verfault sind) und ohne Seidenkleidung, die ebenfalls verwittert ist. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Zwei von rund 10.000 Grabbeigabe-Figuren – ohne Arme (die aus Holz waren und verfault sind) und ohne Seidenkleidung, die ebenfalls verwittert ist. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Shanghai ist die Zukunft, sagen die Chinesen, Beijing die Gegenwart und Xi´an, ihre alte Kaiserstadt, die Vergangenheit. Bezogen auf Xi´an, Partnerstadt von Dortmund,  ist diese Einschätzung sicher richtig, steht hier doch die weltberühmte Tonkriegerarmee des ersten chinesischen Kaisers Chen She Huang Di, die Terrakotta-Armee, die von Archäologen zu den Weltwundern gezählt wird.

Aber Xi´an hat noch viel mehr zu bieten als diese Armee, deren vollständige Ausgrabung langsam voranschreitet und sicher noch Jahrzehnte dauern wird, zumal immer mehr Tonkriegertruppen im Umfeld der Hauptarmee entdeckt werden: die Generalität, die Bogenschützen, die dem Kaiser vor allem seine militärische Überlegenheit sicherten usw.

Blick von der alten Stadtmauer

Die alte, breite Stadtmauer steht noch. Auf insgesamt 12 Kilometern umgrenzt sie den inneren Bereich der alten Kaiserstadt, die damals, während der Tangdynastie (618-907), noch Chang´an hieß und über eine Million Einwohner gehabt haben soll. Man kann wunderbar auf ihr spazieren gehen und hat einen schönen Blick auf traditionelle Wohnhäuser, die in vielen anderen Städten abgerissen wurden, in Xi´an aber noch erhalten sind. Der Betrachter freut sich, dass dies alles nicht in  der Zeit der schrecklichen Kulturrevolution vernichtet wurde. Von der Stadtmauer kann man auch den Trommelturm sehen, der früher bei Nacht die Urzeit angab, und den Glockenturm, der es am Tage tat.

Direkt im Anschluss an den Trommelturm erstreckt sich das Wohnviertel der Hui-Minderheit mit ihren kleinen Läden und Garküchen, in dem man alles Mögliche kaufen und schmackhafte Spezialitäten essen kann. Die Huis sind Moslems, sie sind nicht besonders gut in die Xi´aner Gesellschaft integriert, aber zum Essen gehen die Chinesen gerne dorthin. Das Essen ist gut und preiswert. Mitten im Viertel liegt ihre Moschee in chinesischem Baustil, die man besichtigen kann. Ein Stück entfernt davon, aber noch im Innenstadtbereich, liegt die Künstlergasse, in der Gemälde im traditionellen chinesischen Stil angeboten werden.

Wie soll man die Schätze konservieren?

Genug zu sehen also, um unbedingt mal nach Xi´an zu fahren. Aber seit ein paar Jahren hat Xi´an eine weitere archäologische Sensation zu bieten, die noch weitgehend unbekannt ist. Rund um die Stadt liegen die Grabhügel früherer Kaiser und Beamter, alle noch ungeöffnet, weil man nicht weiß, wie man  die Schätze konservieren soll. Bis auf ein Grab allerdings, das Grab des vierten Han-Kaisers. Jingdi hieß er und regierte von 157 – 141 vor Chr., also gut 50 Jahre nach dem ersten chinesischen Kaiser.

Es sind zwei Grabhügel (damals noch – wie alle Kaisergräber – von einer hohen Mauer umgeben und von Soldaten bewacht), die sich vor dem Auge des Besuchers erheben. Im westlichen liegt der Kaiser begraben, im östlichen seine Kaiserin Wang. Sie war ursprünglich mit einem reichen Kaufmann verheiratet gewesen, hatte auch schon eine Tochter, aber ihre Mutter hatte wegen ihrer Schönheit große Pläne mit ihr, brachte sich an den Kaiserhof, wo Jingdi sich prompt in sie verliebte, sie zuerst zur Hauptkonkubine machte, dann zur Kaiserin. Sie gebar ihm einen Sohn, der auf ihr Drängen hin zum Thronfolger gemacht wurde, nicht sein erstgeborener Sohn von der ursprünglichen Kaiserin, der zurückgestuft wurde, worauf dessen Mutter vor Gram erkrankte und früh starb.

Ein Museum unter dem Erdboden

Es gibt ein Museum ein wenig abseits von dem Grab. Hier stehen Figuren, Schalen und Töpfe, die bei der Ausgrabung gefunden worden sind. Die eigentliche Sensation aber ist das unterirdische Museum, also der Hügel des Kaisergrabes, in dem die Grabbeigaben freigelegt worden sind und das man betreten kann. Allerdings wurde die Grabkammer selbst nicht geöffnet, aus demselben Grund, aus dem auch die Grabkammer von Chin She Huang Di bis heute unberührt geblieben ist. Man kann nämlich die Leiche und all die Kostbarkeiten, die  dort den nach Vermutungen zu finden sind, nicht konservieren.

Aber die Grabbeigaben des Jingdi können besichtigt werden und dem Besucher bietet sich ein unglaublicher Anblick. Es ist deshalb so wertvoll, weil sich in den Beigaben das höfische Leben der Hanzeit spiegelt und es damit ein unschätzbares Zeugnis für Chinas Vergangenheit darstellt. Töpfe, Krüge, Schminkkästen sind ausgegraben worden, die zeigen, wie das Alltagsleben am Hofe ausgesehen haben muss. In einem der Gänge lagerte, wie man an der Verfärbung des Bodens erkennen kann, Getreide, Weizen vor allem, der der Ernährung des Kaisers und seiner Bediensteten im Jenseits dienen sollte.

Rund 10.000 Figuren – Soldaten, Beamte, Eunuchen

In den folgenden Gräben sieht man die vielen Tonfiguren, die das damalige Leben darstellen. Vierzig Zentimeter hoch sind sie, und es sind etwa 10.000 Stück: Beamte, Eunuchen, denen das gesamte Geschlecht fehlt, das ihnen in einer blutigen und lebensgefährlichen Prozedur weg geschnitten wurde, dazu Frauen und Soldaten. Alle ohne Arme, weil die damals aus Holz gefertigt wurden, das inzwischen verfault ist.

Nach Faserresten rekonstruiert:

Die Stoffe wurden nach Faserresten rekonstruiert: prachtvolle Parade mit Pferdewagen, Dienern und Soldaten. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Verfallen sind auch die Seidenkleider, die die Figuren getragen haben, aber an einer Stelle sind welche in der ursprünglichen Kleidung, wie man sie aus Faserresten rekonstruieren konnte, aufgestellt worden. Eine prachtvolle Parade mit Pferdewagen, Dienern und Soldaten ist dort zu sehen. Dazu gibt es Tierfiguren in den Gräben: Hunde, Pferde, Rinder, Schafe, Schweine. Tiere, die bei der kaiserlichen Hofhaltung eine Rolle spielten.

Bestens erhaltene Farben

Die Farben sind besser erhalten als bei der Terrakotta-Armee, weil die Figuren zweimal gebrannt wurden. Erst wurde der Ton gebrannt, dann die angemalten Figuren.

Auch hier gibt es individuelle Gesichter wie bei der Terrakotta-Armee, chinesische, aber auch  rundliche Mongolengesichter mit jeweils feiner Mimik.  Wäre nicht der Größenunterschied und würden die Figuren nicht eine tiefe Friedfertigkeit ausstrahlen, man könnte von einer zweiten Terrakotta-Armee sprechen.

Viele Gräber sind noch gar nicht geöffnet

Das Museum ist sehr schön aufgebaut worden. Ein Gang aus Plexiglas ist quer über die Gräben gelegt worden, so dass der Besucher den Figuren sehr nahe kommt. Direkt unter seinen Füßen sieht er sie. An einer Stelle ist die Erde zwischen den Beigabengräben abgetragen worden, stattdessen wurde auch hier ein Gang aus Plexiglas eingebaut, so dass man, nun auf gleicher Höhe, die Figuren links und rechts von sich genau sehen kann. Ein staunenswertes Museum, das bei uns noch kaum bekannt ist, bei den Chinesen aber immer beliebter wird. Inzwischen werden gerne Schulklassen hierher geführt.

Früher war das Gelände, das ganz in der Nähe des Flughafens von Xi´an liegt, militärisches Sperrgebiet. Als in den neunziger Jahren die Beschränkung aufgehoben wurde, begannen die Ausgrabungen und der Aufbau des Museums. Angesichts der vielen noch ungeöffneten übrigen Gräber ist für den Touristen unvorstellbar, welche Schätze  noch in der Erde rund um Xi´an ruhen müssen.

 




Wenn 60 Schriftsteller durch die Dortmunder Nordstadt gehen

Schriftsteller Heinrich Peuckmann (frontal, Mitte) im Kreise von Autorenkolleg(inn)en auf dem Weg zur Dortmunder Nordstadt. (Foto: Bernd Berke)

Schriftsteller Heinrich Peuckmann (frontal, Mitte) im Kreise von Autorenkolleg(inn)en auf dem Weg zur Dortmunder Nordstadt. (Foto: Bernd Berke)

Freunde, jetzt mal Butter bei die Fische, wie man hier so sagt: Der Autorenverband PEN hat heute auf seiner Dortmunder Jahrestagung mit Regula Venske nicht nur eine neue Präsidentin gewählt, sondern u. a. auch eine Resolution gegen die konfuse Rechtsausleger-Partei AfD verabschiedet. Morgen (Samstag) soll es um die betrübliche Lage in der Türkei gehen. Das alles ist richtig und wichtig. Jedoch…

Das „wirklich wahre Leben“ (wie es bei „Dittsche“ so schön heißt) spielt sich teilweise woanders ab als im Tagungssaal. Beispielsweise in der nicht gerade bestens beleumundeten Dortmunder Nordstadt, die den überregionalen Medien oft als prototypisches Gelände für soziale Schauergeschichten aus dem Revier dient.

Eine verrufene Gegend

Also war es im Prinzip eine gute Idee des Schriftstellers Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), für interessierte Autorenkolleg(inn)en einen Gang durch diesen Stadtteil zu organisieren, den manche gar als No-Go-Area verunglimpfen, man lese dazu etwa diesen Text aus der FAZ. Nicht nur die Polizei hat auf diesem Areal zuweilen ihre liebe Not. Und so hatte vor Tagen schon Dortmunds OB Ullrich Sierau gescherzt, wenn man auf dem Gang die Hälfte aller Teilnehmer ans Ziel bringe, sei es schon gut gelaufen…

Nun aber mal halblang: Die Strecke des gar nicht so erschröcklichen „Spaziergangs“ führte vom Tagungsort, dem Kulturzentrum „Dortmunder U“, in eine weitere Kulturstätte, das „Depot“ in der Immermannstraße. Kurt Eichler, Leiter der Dortmunder Kulturbetriebe, machte den kundigen „Bärenführer“. Hinterdrein trottete eine immerhin rund 50 bis 60 Menschen starke Autorinnen- und Autorenschar. Angesichts einer solchen Ballung von auf längere Sicht Publizierenden kam ich mir als Schreiber des Tages schon beinahe etwas seltsam vor. Sei’s drum. Da muss man durch, woll?

„Lauter Deutsche“ auf der Strecke

Nordstadt ist nicht gleich Nordstadt. Wirklich verrufen sind bestimmte Straßenzüge. Freilich hat Kurt Eichler recht, der sagte, dass Dortmunder Bürger, die sich für gediegen halten, den Fuß schon seit jeher generell nicht in Gebiete nördlich des Hauptbahnhofs setzen. Er wusste auch von unermüdlichen Versuchen seit den 1970er Jahren zu berichten, der Nordstadt etwas Kultur und etwas Grün angedeihen zu lassen. Es begann mit Mitteln des Städtebaus, nicht mit der eigentlichen Kulturförderung. Die Erfolge sind begrenzt.

Nun ist es ein gar eigenes Ding, mit geschätzt 60 Leuten durch soziale Brennpunkte zu stiefeln, wobei man überdies die ärgsten Ecken links oder rechts liegen ließ. Welch eine Exotengruppe! Ich hab’s nicht mit eigenen Ohren gehört, aber hernach hieß es, ein paar Jugendliche hätten sich am Wegesrand gewundert, dass da ja „lauter Deutsche“ auf Tour seien. Hätten sie noch gewusst, dass es sich fast durchweg um arrivierte Bücherschreiber gehandelt hat, so wäre des Staunens kein Ende mehr gewesen. Ob sich jemand aus der literarischen Gruppe nun animiert fühlt, einige Seiten über Dortmund zu schreiben? Man darf es bezweifeln.

Mich hat die Aktion ganz vage an ein Erlebnis am Ende der 80er Jahre erinnert. Damals waren wir – im Gefolge des damaligen NRW-Kultusministers Hans Schwier – als Journalisten-Tross in New York unterwegs. Zum Programm gehörte eine Führung durch die Bronx, die damals wahrhaftig eine No-Go-Area war. Ohne bewaffneten Polizeischutz ließ man uns nicht gehen.

Homöopathische Dosierung

Zurück nach Dortmund, wo es vergleichsweise herzlich harmlos zuging: Das wahre Flair der Nordstadt war auf diese Weise jedenfalls kaum zu spüren. Es kam allenfalls in stark verdünnter, gleichsam in homöopathischer Dosierung an, keineswegs als Essenz. Die Frauen und Männer des gepflegten Wortes hätten sich vielleicht allein oder zu zweit auf den Weg begeben müssen.

Auf dem langen Rückweg habe ich mir ein solches Erlebnis im Solo gegönnt. Kreuz und quer. Und was soll ich sagen: Hie und da scheint etwas in der Luft zu liegen, nicht in jedem Moment geht das Ganze völlig schwerelos vonstatten. Oder bildet man sich das alles – im Gefolge permanent aufgeregter Medien – nur ein? Es ist allemal eine Erfahrung. Ja, grinst nur!

Der kitzligste Augenblick des besagten Autorenausflugs war hingegen schon jener, in dem ein ungeduldiger BMW-Fahrer an der Ampel am liebsten gleich ein Dutzend Schriftsteller auf die Kühlerhaube genommen hätte, weil die nach seiner Ansicht nicht schnell genug die Kreuzung räumten. Rüpel, elender!

Auf den Spuren von Samuel Beckett

Was viele vorher nicht wussten: Wir wandelten „irgendwie“ auf den Spuren des großen Samuel Beckett. Wie Heinrich Peuckmann versicherte, habe Beckett in grauer Vorzeit eine Freundin in Kassel gehabt und sich auf der An- oder Abreise mitunter in der Dortmunder Nordstadt umgesehen. Rund um den Steinplatz gab’s damals etliche „Amüsier-Betriebe“. Davon inspiriert, habe der irische Weltliterat auch ein Gedicht über Dortmunder Bier verfasst. Peuckmann: „Das Bier fand ich allerdings besser als das Gedicht.“ Wer weiß: Am Ende ist selbst Becketts legendäres „Warten auf Godot“ noch auf eine Dortmunder Anregung zurückzuführen.

Ob sich dazu noch mehr Substanzielles recherchieren ließe? Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann soll, als er die Geschichte vernahm, schon scherzhaft (?) über eine Gedenktafel an geeigneter Stätte nachgedacht haben…




Das Dortmunder Bombenattentat und der Zettel einer Siebenjährigen

Zu diesem unsäglichen Bombenanschlag auf den BVB-Mannschaftsbus ist so ziemlich alles gesagt. Gottlob ist der Täter ganz offensichtlich gefasst. Und ja: Aus schierer Verachtung weigere ich mich, auch nur seinen Vornamen hinzuschreiben. Über die abgründig niederen Motive (kann es jedoch überhaupt „höhere“ Beweggründe für so etwas geben?) mag man nur noch ratlos den Kopf schütteln.

Als Konsequenz müssten sie endlich einmal daran gehen, die abenteuerliche Regellosigkeit in der Börsenwelt gründlich zu durchforsten und einzuhegen. Wobei zu sagen wäre, dass die zugehörige Zockermentalität immer schon Verwerfliches hervorgebracht hat – auch im Weltmaßstab. Wer mag da an grundlegende Veränderungen glauben? Wenigstens haben ja ein paar Warnmechanismen funktioniert und auf die (unfassbar breite) Spur des mutmaßlichen Täters geführt.

Ich weiß nicht, ob es Sache eines Kulturblogs ist, sich näher über solche Themen auszulassen. Immerhin steht im Titel „Kultur und weiteres…“ Froh bin ich jedenfalls, die anfänglichen, reichlich wüsten Spekulationen zum etwaigen Täterkreis nicht mitgemacht zu haben. Viele haben geradezu gehofft und auch schon keine Zweifel mehr daran gehegt, es möchten doch fanatisierte Muslime gewesen sein; andere (ähnlich beschränkte) Fraktionen haben inständig darauf gesetzt, dass es sich entweder um Rechts- oder Linksradikale handeln möge. Ähneln derlei zügellose Spekulationen nicht sogar strukturell jenen, die inzwischen an der Börse üblich sind? Materiellen oder ideellen Gewinn aus Schaden zu ziehen – das wäre das gemeinsame Prinzip. Ekelhaft.

Dass es wohl ein geldgieriger Einzeltäter gewesen ist, scheint zunächst einmal die beruhigendste Variante zu sein. Allerdings zeigt sich natürlich auch in diesem Einzelfall das große Ganze, das Gesellschaftliche. Es erledigt sich nicht einfach mit Festnahme und Verurteilung.

Wenn man Kinder hat, kommen solche üblen Vorfälle noch einmal ganz anders im so genannten Privatleben an. Man muss versuchen, das Unerklärbare zu erklären, so gut es eben geht. Je nach Alter des Kindes, soll man weder über- noch untertreiben, man darf nicht lügen, sondern höchstens dämpfen und mildern. Es wäre nutzlos, alles zu verschweigen. Sie hören ja doch davon. Der Rest steht in den tausend Ratgebern.

Nachdem wir darüber gesprochen haben, hat unsere siebenjährige Tochter sich die – trotz aller Erklärungsversuche – bleibende Verwirrung von der Seele schreiben wollen; ganz aus eigenem Antrieb, ohne jegliche Hilfe. Der beigefügte Zettel zeugt davon. Er ist schmucklos und unbebildert, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit. Vielleicht ist es der Versuch, das Lastende von sich wegzuschieben, es ein wenig zu „objektivieren“, als könnte es Anlass zu einem Detektivspiel sein. Egal. Wir wollen nicht deuteln. Es steht für sich.

Doch jetzt soll sie bitte, bitte wieder unbeschwert spielen. Sie ist ja auch schon wieder albern. Die Wucht der Ereignisse kommt noch früh genug. Nein: eigentlich immer z u früh.




Dreifacher Besuch mit roten Rosen

Es klingelt.
Ich mach auf. (Nein, das ist nicht selbstverständlich.)

Besuch mit roten Rosen

Besuch mit roten Rosen (Zeichnung: Thomas Scherl)

Vor der Tür drei Typen, zwei davon im schwarzen Anzug, der dritte, n Dicker, mit schwarzer Hose, dunkelblauer Windjacke und getönter Sonnenbrille, jeder mit nem Strauß roter Rosen.

Sie haben sich versetzt – nach hinten in den Gang gestaffelt – aufgestellt, als letztes der Dicke, in zwei Meter Abstand, links und rechts neben ihm noch 30 Zentimeter Platz, er hat die Arme vor der Brust verschränkt, aus seiner Faust ragen die Rosen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich »WTF?« gedacht oder gesagt hab und spiele im Bruchteil einer Sekunde die Möglichkeiten durch: Polizei? Mafia? Die apokalyptischen Reiter (einer bindet unten grad noch seinen Gaul fest)? Jehovas? Ist der Tod doch nicht nur einer, sondern holt mich in Dreigestalt – einer für Körperseelegeist und zweie für die Kunst in mir? Finanzamt? GEZ? KSK? Rumänen-Inkasso? Fahrkartenkontrolle?
(Kurz denke ich noch »Deutscher Galeristenverband« und »Lottogewinn«, was ich aber beides sofort wieder verwerfe.)

Der eine, der ganz vorne steht, dicht an der Wand, so daß er halb vom Türrahmen verdeckt ist, beugt sich ein bißchen vor, grinst und ich denk: Na? Was kommt jetzt?

»Guten Tag, wir sind von der SPD…«
Und er will auch gleich zum wohl memorierten Vortrag ausholen.
Ich bin so perplex, daß ich sag »Nee, danke, ich wähl die Kommunisten.« Und Klapp, Tür zu.

Vielleicht sollt ich mich bei der Entenhausener SPD als Berater fürs Direktmarketing bewerben.




Ein Herz für Hassende im Internet – „Flammende Köpfe“ von Arne Vogelsang im Dortmunder Theater

Arne Vogelgesang, Autor, Regisseur und Darsteller von „Flammende Köpfe“ (rechts), neben Videoprojektion (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Theater ist das eigentlich nicht. In der „Video-Lecture“ mit dem Titel „Flammende Köpfe“ von und mit Arne Vogelsang, jetzt zu sehen im Dortmunder „Megastore“, sitzt der Nämliche in Bühnenraummitte hinter seinem Schreibtisch am Computer, erzählt (bzw., es ist ja eine lecture, liest sein Manuskript vor) und bespielt zwei große Projektionswände links und rechts von sich mit Ausschnitten aus YouTube-Videos, in denen Haß-Menschen Haß-Reden halten.

Vogelsang ist, wie er selbst beschreibt, fasziniert von diesen oft wutschnaubenden, manchmal mahnenden, manchmal larmoyanten Selbstdarstellern aus der, wie man wohl sagen kann, rechten bis ganz rechten Ecke. Mit ihnen und ihresgleichen verbringt er (am Computer) mehr Zeit als mit seiner Frau, sagt er. Sein Verhältnis zu ihnen ist geradezu zärtlich, er weiß unglaublich viel über sie und nennt sie bei ihren Vornamen.

Zart und verletzlich: „jugendlicher“ Avatar (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Animierte Avatare

Aus seiner lange schon währenden Computer- und Internet-Obsession hat der 40jährige Autor, der in Berlin (Ost) zur Welt kam und in Wien Regie am Max-Reinhardt-Seminar studierte, eine Art Soloabend gemacht, zu dessen besonderen Ausschmückungen es gehört, daß Vogelsang die Köpfe seiner Haßprediger am Computer nachbaut und zu animierten Avataren macht. Sie bilden eine Art Ahnengalerie über der Bühne, die sich (qua Projektion) im Laufe des Abends immer weiter füllt.

Die animierten Köpfe sehen putzig aus, wenn sie sich bewegen, ein weiterer Sinn des Nachbaus erschließt sich indes nicht. Daß sie sich alle recht ähnlich sind, ist für sich genommen noch keine aufrüttelnde Message. Ebenso erschließt sich nicht recht der Mehrwert einer weiteren inszenatorischen Maßnahme: Statt den O-Ton zu bringen, spricht Vogelsang manche Textpassagen seiner Figuren. Das ist nett, der Mann kommt ja vom Theater, aber doch weit entfernt von jeder Anmutung eines Erkenntnis befördernden Brechtschen V-Effekts.

Arne Vogelgesang, Video eines Haßredners (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Was sind das bloß für Leute?

Und jetzt muß ich mal kurz persönlich werden. Für jemanden wie mich, der das Internet eher lästig findet, das iPhone verschmäht und seit ewigen Zeiten um 20 Uhr Tagesschau guckt, ist Vogelsangs Typen-Panoptikum der Ausflug in eine fremde Welt. Was sind das für Leute, die in reicher Zahl Wut- und Haß-Videos von sich drehen und sie ins Netz stellen? Hat es die früher auch gegeben? Sind sie von Moskau ferngesteuert (wie man zu Zeiten des Kalten Krieges hätte mutmaßen können)? Sind sie gefährlich? Sind sie das Volk (wie viele von ihnen auf die eine oder andere Weise behaupten)?

Der große Stammtisch im Internet

„Es genügt nicht, keine Meinung zu haben; man muß auch unfähig sein, sie auszudrücken“, formulierte vor vielen Jahren der große Kabarettist Wolfgang Neuss. Er meinte die geradezu empörend unpolitisch sich gebende Bundesrepublik der frühen Jahre, die „Weiter so“- und „Schwamm drüber“-Volksgenossen nach der Weltkriegskatastrophe. Geäußert werden die Menschen sich indes damals schon haben, am notorischen Stammtisch vermutlich, an Orten, wo man unter sich war. Und ein bißchen was hat das Internet ja wirklich von einem großen Stammtisch, an dem allerdings der direkte Dialog nicht mehr möglich ist. Das gebiert einen spezifischen Autismus, der mehr oder minder allen Monologisierern in diesen Videos eigen ist. Dieser Autismus enthemmt, was logisch ist, weil die sozialen Regulationen wegfallen.

Arne Vogelgesang am Schreibtisch, Avatar-Typenkabinett in der Hintergrundprojektion (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Keine Kommunikation

In gewisser Weise – ich hoffe, ich kriege die Kurve noch – paßt Wolfgang Neuss’ Beobachtung aus den frühen 60er Jahren bruchlos auf die Redenschwinger im Internet. Ob sie wirklich eine Meinung haben oder nur Objekte ihrer düsteren Affekte sind, wird nicht wirklich klar. Auf jeden Fall aber haben sie eigentlich alle ein Vermittlungsproblem. In nahezu jedem Vortrag fällt auf, wie schlecht sie die vermeintlichen Mißstände beschreiben. Was soll man beispielsweise damit anfangen, daß jemand sich über „den Tagesspiegelkommentar im Deutschlandfunk“ unglaublich erregt? Man müßte den Kommentar ja erst einmal lesen, um ihn verstehen zu können. Am ehesten noch werden Haßtiraden verständlich, wenn ihre Ausgangspunkte mit Schlagworten zu benennen sind, „Ausländer“, „Kölner Ereignisse“, „Deutschland in Gefahr“, „Merkel muß weg“ und ähnliches. Doch Begründungen, saubere thematische Ableitungen oder was immer des denkenden Menschen Verstand erfreuen könnte, bleiben seltene Ausnahmen. Man gewahrt Irre, denen normale verbale Kommunikation nicht mehr zur Verfügung steht.

Nicht ohne Küchenpsychologie

Das Unbewußte, à propos, bricht sich natürlich immer wieder Bahn. Die Frau, die sich in „Merkel muß weg“-Tiraden ergeht, wird plötzlich ganz süffisant: Nein, den Tod wünsche sie der Verhaßten nicht, sondern ein langes, langes Leben. In Ketten. In einer engen Zelle, in der es keine Kommunikationsmaschinen gibt, mit einem taubstummen Wärter. Küchenpsychologisch könnte man sagen, daß diese Folterphantasien der realen Existenz vieler Haß-Redner in ihrem autistischen Alltagsdasein recht nahe kommen dürften, der diffusen Wahrnehmung ihres qualvollen Kommunikationsdefizits in der Projektion auf das Haßobjekt.

Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat Vogelsang in seiner Einleitung gesagt, daß der Bestand an YouTube-Material weltweit in jeder Sekunde um fünf Stunden zunimmt. Es war jedenfalls eine imponierende Zahl, die auf ihre Art auch tröstlich ist; sagt sie doch aus, daß der Wert jedes einzelnen Haß-Beitrags kontinuierlich an Bedeutung verliert. Aber verstörend sind diese Verstörten schon, keine Frage.




Zur Not kann man auch am Gegner seine Freude haben – über solche und solche Fußballfans

In dieser „englischen“ Fußballwoche geht’s gleich zweimal rund in der Bundesliga: Heute (Dienstag, 4. April, 20 Uhr) trifft der BVB im heimischen Dortmunder Westfalenstadion * auf den Hamburger SV, am Samstag (8. April, 18:30 Uhr) geht’s zu den Bayern nach München. Anlass genug für diesen Beitrag: Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, schreibt über verschiedene Arten von Fußballfans:

Dortmunder Torjubel im Westfalenstadion beim 3:0-Sieg gegen Tottenham Hotspur. (Foto: Bernd Berke)

Dortmunder Torjubel im Westfalenstadion beim 3:0-Sieg gegen Tottenham Hotspur. (Foto: Bernd Berke)

Meine drei Söhne sind brav, sie sind ihrem Vater gefolgt und Fußballfans geworden. Und weil sie auch noch gut erzogen sind, haben sie die Vorliebe ihres Vaters übernommen. Sie sind Fans von Borussia Dortmund.

Zwei Dauerkarten haben wir und gehen in wechselnden Kombinationen ins Stadion. Und dabei stellen wir immer neu fest, was wir schon vorher wussten. Fan ist nicht gleich Fan. Wir merken es beim Absingen der Fan-Lieder. „Borussia, unser ganzes Leben, unser ganzer Stolz…“ ist ein Lied, das wir nicht mitsingen können. Der Fußball ist ein schöner Teil unseres Lebens. Wie genießen die Spiele im Stadion, haben Freude an den Fernsehübertragungen, aber unser ganzes Leben ist Borussia nicht. Und stolz sind wir auf das, was wir selber schaffen, ohne es freilich übermäßig nach außen zeigen zu wollen.

Sport ist doch nicht alles…

Fußball hat für uns einen Stellenwert, aber er dominiert uns nicht. Entsprechend gehen uns Fans, für die Fußball alles ist, gehörig auf die Nerven. Irgendwann saß so ein Fan in der Kneipe neben uns, brüllte rum, kommentierte alles (ohne viel Ahnung zu haben) und sprach uns immer wieder an. Bis es meinem jüngsten Sohn endgültig reichte. „Wir interessieren uns nur für Fußball, weil uns Gespräche über Baumärkte und Autos noch mehr langweilen“, sagte er dem Mann. An das erstaunte Gesicht mit dem offenen Mund erinnere ich mich gut. Man sah dem Mann deutlich an, wie sein Männerbild zusammenbrach.

Leute, die keine Ahnung vom Fußball haben, aber umso lauter rumbrüllen, sind schwer zu ertragen. Als ein Angriff unserer Borussia mal wegen Abseits abgepfiffen wurde, sprang der Mann neben uns auf. „Schieber!“, schrie er, „das war doch kein Abseits.“
„Setz dich“, sagten wir, „das war Abseits.“ Überrascht schaute er uns an. „Und ich dachte, ihr seid Borussenfans“, sagte er. „Sind wir“, antworteten wir, „aber Regel ist Regel. Also ist Abseits Abseits. Auch für uns.“

Als Juventus über die linke Seite kam

Dafür lieben wir jene Fans, die wirklich Ahnung haben. Bei einem Europapokalspiel gegen Juventus Turin saß mal ein junger Mann neben mir im Stadion, der wirklich was von Fußball verstand. Juventus griff über die rechte Seite an und dem Mann fiel auf, was mir auch auffiel. „Guck mal, was da gerade links passiert!“, rief er. „Unsere rennen alle nach rechts, die haben noch gar nicht gemerkt, dass die Gefahr gleich von der anderen Seite kommt.“ Tatsächlich liefen dort unbemerkt zwei Juve-Spieler in Stellung, als unsere Abwehrspieler sich endgültig rechts versammelt hatten, kam der präzise Flankenwechsel und zwei Juve-Spieler standen frei. Mit 1:3 haben wir das Spiel verloren. Mein Nachbar stand nach dem Schlusspfiff auf und gab mir zum Abschied die Hand. „Wir haben heute eine gute Mannschaft gesehen“, sagte er, „schade, dass es die falsche war.“ Ein Satz, der Fairness zeigte und vor allem Verständnis von der Sache.

Drei Jahre später standen sich übrigens die beiden Mannschaften wieder gegenüber, im Endspiel um die Champions League, und diesmal waren „wir“ besser. Längst hatte unsere Mannschaft dazu gelernt.

Mit einem Buch im Dortmunder Stadion

Ich sehe die Dinge gerne zusammen. Fußball und Kultur, Fußball und Religion. Einmal habe ich ein Fußballspiel wie einen Gottesdienst geschildert, und siehe da, es funktioniert. Viele der Riten sind wie aus der Kirche übernommen.

Einmal bin ich sehr früh ins Stadion gegangen, weil ich sonst keine Karte mehr bekommen hätte. Es war noch die Zeit, als man an den Schaltern neben dem Stadion Eintrittskarten kaufen konnte. Heute gibt es die Schalter gar nicht mehr, die Karten sind immer verkauft. Immerhin über 80.000 pro Spiel! Weil ich also früh im Stadion sein würde, steckte ich ein Buch ein, Stefan Austs „Baader-Meinhof-Komplex“, das ich spannend fand.

Ich las also, während die Spieler sich unten warm machten und plötzlich bemerkte ich die scheelen Blicke meiner Nachbarn. Was will der denn hier, schienen sie zu denken, hat der sich verlaufen? Jedenfalls sprachen sie nicht mit mir, wie man das sonst ganz selbstverständlich im Stadion tut. Bis plötzlich ein Verteidiger der gegnerischen Mannschaft, der einen Mordsschuss hat, auf unser Tor zulief und nicht angegriffen wurde. „Passt auf da“, schrie ich und sprang erregt auf, aber es half nichts. Der Spieler zog ab und es stand eins zu null für den Gegner. Ich setzte mich wieder. „Hab ich´s nicht gesagt?“, sprach ich meine Nachbarn an. Jetzt schauten sie mich noch erstaunter an. Einer, der Bücher liest im Stadion und trotzdem Ahnung hat. Fortan wurde ich in die Gespräche einbezogen.

Unsere Helden Hans Tilkowski und Aki Schmidt

Mein Freund seit Jugendzeit, der frühere Pressesprecher von Borussia, ist mir in diesem Punkt ähnlich. Er sieht die Dinge auch in Zusammenhängen. Gleich mehrere meiner Romane und Sachbücher, in denen Fußball eine Rolle spielt, hat er in einer Pressekonferenz im Stadion vorgestellt. Wenn Borussia ruft, das wissen wir beide, kommt die Presse. Die Aufmerksamkeit, die auf diese Weise erzeugt wurde, hat meinen Büchern gut getan.

Seit Jugend an, er noch früher als ich, sind wir ins vergleichsweise kleine Stadion „Rote Erde“ gegangen und haben unseren Helden, den Nationalspielern Hannes Tilkowski und Aki Schmidt zugejubelt. Später wurden sie unsere Freunde und wir redeten und reden mit ihnen gerne über alte Zeiten. Wir als kleine Jungs auf der Tribüne, unsere Helden unten auf dem Rasen. Wenn ich meinen Söhnen Anekdoten aus dieser Zeit erzähle, lachen sie. „Telefon, Papa, das letzte Jahrhundert hat wieder angerufen.“

Der Stürmer, der fast alles verstolperte

Spotten tun nicht nur sie, sondern wir alle gerne, das will ich gerne zugeben. Irgendwann und irgendwo muss man seinen Frust ja ablassen. Von Gewalt, von sinnlosem Krakeelen aber sind wir weit entfernt. Es ist ein paar Jahre her, dass Borussia gegen den Abstieg spielte. Einen Stürmer hatten wir damals, der beinahe jeden Ball verstolperte. Wenn er ihn verloren hatte, grätschte er hinterher und beförderte ihn bestenfalls ins Aus. „Kämpfen tut er aber“, kommentierten die Dortmunder Fans dann, immer in der Hoffnung, dass der Junge irgendwann besser würde. Wurde er aber nicht. Als er wieder mal den vierten oder fünften Angriff durch seine Stolperei unterbrochen hatte und wieder jemand kommentierte, dass er immerhin schnell sei und kämpfen würde, sprang ein Freund von mir erregt auf und schrie: „Was ist das hier? Ist das Leichtathletik oder Fußball?“

Bei einem späteren Spiel lag dieser Spieler verletzt auf dem Rasen und mein ältester Sohn kommentierte: „Ich glaube, es geht gut aus, Papa. Er kann nicht weiterspielen.“
Überhaupt lieben wir Humor. Unser früherer Klasseverteidiger Julio Cesar, brasilianischer Nationalspieler, hat in einem Spiel mal zwei Ecken hintereinander ins Tor geköpft und wurde dann, unter dem Jubel der Zuschauer, ausgewechselt, weil das Spiel längst entschieden war. Bei der nächsten Ecke aber sprangen wir trotzdem auf und riefen: „Julio, Julio.“

Ein verbotener Vereinsname

Den Namen unseres Erzrivalen Schalke nehmen wir übrigens nicht in den Mund, auch ich zögere jetzt, ihn hier zu schreiben. Als ich mal eine Delegation aus Schuldezernenten bei einer Stadionführung in Dortmund begleitete, habe ich ihnen vorher erklärt, dass sie den Namen im Stadion nicht erwähnen sollen. Wer unbedingt von unserem Erzrivalen reden wolle, müsse von Herne-West sprechen. Die Dezernenten haben das für einen Witz gehalten, aber als Aki Schmidt bei seiner Führung ebenfalls immer Herne-West sagte, wurde ihnen bewusst, dass das absolut ernst gemeint war. Selbst bei dem Revierderby wird der Name unseres Gegners im Stadion nicht erwähnt. „Und jetzt die Mannschaftsaufstellung der Blauen …“, ruft unser Stadionsprecher ins Mikrophon.

Fußball ist schön, er ist unterhaltsam. Für meine Söhne und mich kommt ein kleines Nebenergebnis hinzu. Wir sind, wenn zwei von uns zum Stadion fahren, für drei Stunden unter uns. Wir haben Zeit, über alles Mögliche zu reden, über Fußball natürlich, aber auch über alles andere, was uns bewegt: Politik, Bücher, Religion, unsere Pläne …

Nicht das Hobby versauen lassen

Warum sich also schlagen? Warum Gewalt im Stadion bis hin zum Niederschießen eines Fans, wie das vor ein paar Jahren in Italien geschah? Straßenschlachten der Hooligans wie kürzlich gegen Leipzig? Wir wollen Freude haben, an unserer Mannschaft, die seit Jahren oft einen wunderbaren Fußball spielt, zur Not aber auch an der gegnerischen Mannschaft, wenn sie einen guten Ball spielt.

In einem meiner Krimis wird ein Fußballer ermordet, der zu den gewalttätigen Fans, die sich auch noch rassistisch äußern, gesagt hat, dass sie zu Hause bleiben sollten, weil ihr Handeln nichts mit Fußball zu tun hat. Mein Kommissar macht sich auf die Suche nach Täter und als er ihn hat, ruft er seinen Sohn von Leipzig aus an. „Wann kommst du nach Hause?“, fragt der Sohn. „Heute bleibe ich noch in Leipzig und esse in Auerbachs Keller“, antwortet mein Kommissar. „Aber morgen fahre ich ganz früh los, dann bin ich rechtzeitig zum Spiel von Borussia im Stadion. Von solchen Dummköpfen lasse ich mir doch nicht mein Hobby versauen.“

Meine Söhne lachten, als sie es lasen. „Das war wieder ganz unser Papa“, sagten sie. „Diesmal in der Verkleidung seines Kommissars.“

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* Westfalenstadion lautet der richtige Name, im Kommerz-Sprech heißt der Fußballtempel „Signal-Iduna-Park“ (Anm. Bernd Berke)




„Essen außer Haus“ damals und heute – drei Dortmunder Museen tischen ein populäres Thema auf

Hoesch-Küche, um 1960. (© ThyssenKrupp Konzernarchiv / Hoesch-Archiv)

Hoesch-Küche, um 1960. (© ThyssenKrupp Konzernarchiv / Hoesch-Archiv)

Essen außer Haus – na und? Das machen wir doch alle ziemlich oft. Eben! Und früher war das noch ganz anders. Also haben wir hier ein populäres Alltagsthema im historischen Wandel. Folglich ist es museumsreif. Drei Dortmunder Häuser haben sich zusammengetan, um je eigene Aspekte darzustellen: das Hoesch-Museum, das Brauereimuseum und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK). Das zeitliche Spektrum der lokalen und regionalen Schlaglichter reicht ungefähr von 1880 bis in die Gegenwart.

Den Anfang macht jetzt das Hoesch-Museum. Der spätere Dortmunder Stahlriese Hoesch hatte 1871 mit gerade einmal 300 Arbeitern begonnen, zu Spitzenzeiten um 1966 beschäftigte man an drei Standorten in der Stadt fast 50.000 Arbeitskräfte. Heute sind es unter dem Konzerndach von ThyssenKrupp nur noch 1400. Doch hier und jetzt geht es weniger um den radikalen Strukturwandel, sondern um die Frage, wie so viele Menschen sich in den Fabriken ernährt haben. Es war ja die grundlegend veränderte Arbeitswelt mit ihren strikten Zeittakten, die das (nicht selten hastige) „Essen außer Haus“ mit sich brachte.

Schlichte Suppen aus dem „Henkelmann“

Museumsleiter Michael Dückershoff weiß beim Rundgang durch die kleine Ausstellung Spannendes zu berichten. Anfangs brachten die Hoesch-Arbeiter meist ihren Henkelmann mit, das waren (oft emaillierte) Blechbehälter, in denen sie meist sehr einfache Suppen transportierten. Selbst Butterbrot war damals noch zu teuer, von Fleischgerichten ganz zu schweigen. Häufig brachten auch Frauen und Kinder der Arbeiter die Henkelmänner zum Stahlwerk. Außerdem wurden so genannte Wärmewagen bereitgestellt, auf denen die Nahrung in nummerierten Fächern warm gehalten und zu den Produktionsstätten gefahren wurde.

Hoesch-Werksschänke, 1960er Jahre (© ThyssenKrupp Konzernarchiv/Hoesch-Archiv)

Großkantine: Hoesch-Werksschänke, 1960er Jahre (© ThyssenKrupp Konzernarchiv/Hoesch-Archiv)

Zur Jahrhundertwende, im Januar 1900, eröffnete die so genannte Werksschänke (zunächst unter dem Namen „Werksschenke“), in der massenhaft Mahlzeiten aus der Großküche kamen. Auch dies ein Zeichen des Wandels: In den frühen Jahren gab es täglich ein einziges Gericht, in den 1960er Jahren standen vier verschiedene zur Auswahl, darunter auch die Option „salzlose Diät“.

Bierverkauf gegen Schnapskonsum

Heute würde man solche Saalbetriebe „Kantinen“ nennen, damals bezeichnete dieser Begriff jene vielen Kioske, die sich übers Werksareal verteilten und bei denen man Essen, Tabakwaren und irgendwann auch Bier der Marke Kronen kaufen konnte. Zu früheren Zeiten waren die Werksdirektoren froh, wenn wenigstens nur Bier statt Schnaps getrunken wurde. Später wurden die Regeln – wie überall – ungleich strenger.

Zweifellos mussten in einem Stahlwerk („Heißbetrieb“) jede Menge Getränke her. Also fuhren auch Lieferwagen mit „Hüttentee“ (süßer Pfefferminzgeschmack) übers Gelände, zudem wurde etwa seit den 1930er Jahren Milch angeboten.

Ein edler Weinkeller für die Chefs

Für sich selbst richteten die Chefetagen 1920 einen recht edlen Weinkeller bei Hoesch ein, in dem rund 200 Sorten lagerten, darunter feinste Tröpfchen. Hier wurden denn auch wichtige Gäste bewirtet. Überdies galt der Weinkeller als „abhörsicher“, worauf die Bosse (wohl vor allem wegen Industriespionage) großen Wert legten.

Die klassenlose Gesellschaft wurde bei Hoesch nicht erfunden. Für lange Zeit hatten die Angestellten einen eigenen Speisesaal – getrennt von den Arbeitern.

Freilich konnten alle Beschäftigten in einem Großbetrieb wie Hoesch die Notzeiten nach den Weltkriegen etwas besser überstehen. Solche Unternehmen kauften zeitweise sogar eigene Bauernhöfe, um ihre Belegschaft zu versorgen. Auch so erklärt sich die außerordentliche Anhänglichkeit, mit der Arbeiter dem Werk lebenslang treu blieben.

Und jetzt? Ein paar Fotos lassen es ahnen: Die verbliebenen Mitarbeiter versorgen sich vielfach in den umliegenden Imbiss-Betrieben rings um den Borsigplatz mit Döner, Currywurst und Artverwandtem. Nichts Besonderes mehr.

Stimmen von Zeitzeugen sind gefragt

All dies wird erst in Erzählungen halbwegs lebendig, die Exponate auf der überschaubaren Ausstellungsfläche des Hoesch-Museums geben von allein nicht ganz so viel her. Texttafeln und historische Fotografien werden mit relativ wenigen Schaustücken ergänzt, die das Ganze mit etwas Aura anreichern.

Gut also, dass zur Schau auch ein 15minütiger Film gehört, in dem Zeitzeugen nähere Auskunft geben. Sehr willkommen wäre es den Machern, wenn sich weitere Leute meldeten, die aus eigener Anschauung von damals berichten können. Wie man sich denken kann, wird es höchste Zeit, solche Stimmen zu sammeln. Eine öffentliche Kostprobe wird es am 6. April (18:30 Uhr) im Hoesch-Museum geben, wenn sich ältere Augenzeugen zu einer Podiumsrunde versammeln.

Die Ära der prachtvollsten Restaurants

Wann, wenn nicht dann? Genau am Tag des deutschen Bieres (23. April) werden das Brauereimuseum und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte, ebenfalls mit zwei kleineren Ausstellungen, in den Reigen einsteigen. Im Brauereimuseum wird die regionale Geschichte der Speisegaststätten in den Blick genommen. Museumsleiter Heinrich Tappe erläutert, dass das Essen im Restaurant gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Paris aufgekommen ist und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in deutschen Großstädten üblich wurde – zuerst nicht für die breiten Massen, sondern für ein bürgerliches Publikum.

Alte Pracht: Innenansicht des Restaurants Unionbräu, um 1910. (© Stadtarchiv Dortmund)

Alte Pracht: Innenansicht des Restaurants Unionbräu, um 1910. (© Stadtarchiv Dortmund)

Die Leute mussten überhaupt erst lernen, was es hieß, „draußen“ zu essen und wie man sich dabei zu benehmen hatte. In seiner Ausstellung will Tappe u. a. zeigen, dass bereits in den Jahren zwischen 1890 und 1914 die prächtigsten Gaststätten entstanden sind, die später nie mehr übertroffen wurden. Weitere Leitlinie: Von den 1920er bis in die 1950er Jahre wird das Essen außer Haus (auch in Ausflugslokalen) immer selbstverständlicher, bis in den 1960ern mit Cevapcici, Pizza und mehr allmählich die Internationalisierung des Speisenangebots einsetzt.

Besucher dürfen eigene Objekte mitbringen

Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) wird man sich mit einer Studioschau begnügen. Die Fläche wird gastweise bespielt vom Deutschen Kochbuchmuseum, das seinen angestammten Ort im Westfalenpark aufgegeben hat und seither – durch missliche Umstände bedingt (statisch gefährdeter „Löwenhof“, in den man nun doch nicht einziehen kann) – immer noch nach einer dauerhaften Bleibe sucht; möglichst unter demselben Dach wie die Volkshochschule, die den „Löwenhof“ verlassen muss.

Es ist angerichtet: das Ausstellungsteam (von links: Michael Dückershoff vom Hoesch-Museum, Jens Stöcker vom MKK, Heinrich Tappe von Brauereimuseum und Isolde Parussel vom Kochbuchmuseum) an einem historischen Herd.

Es ist angerichtet: das Ausstellungsteam (von links: Michael Dückershoff vom Hoesch-Museum, Jens Stöcker vom MKK, Heinrich Tappe von Brauereimuseum und Isolde Parussel vom Kochbuchmuseum) an einem historischen Herd. (Foto: Katrin Pinetzki / Stadt Dortmund)

Im MKK kann Isolde Parussel, Leiterin des Kochbuchmuseums, also demnächst an die Existenz ihres derzeit heimatlosen Instituts erinnern. Hier soll die Perspektive noch einmal geweitet werden. Neben Kantinenessen und Schulspeisungen geht es dabei auch um neuere Entwicklungen wie Lieferdienste. Der Ansatz reicht über die bloße Präsentation von Exponaten hinaus: Im Rahmen der Ausstellung können und sollen Besucher(innen) von eigenen Erfahrungen berichten und passende Fotos oder Objekte einbringen.

Kooperation als Modellfall

MKK-Direktor Jens Stöcker deutete an, dass die jetzige Kooperation dreier Dortmunder Museen ein Modellfall sein könnte. Wenn es sich anbietet, kann man auch andere Themen gemeinsam anpacken. Von Fall zu Fall und je nach Sachlage könnten dabei auch das (seit Langem im Umbau befindliche) Naturkundemuseum oder das Westfälische Schulmuseum einbezogen werden.

So weit, so durchaus interessant. Wenn man denn Kritik an der dreifachen Schau „Essen außer Haus“ üben wollte, so allenfalls deshalb, weil man sich das Ganze größer angelegt wünschen würde. Mit mehr Vorbereitungszeit und mehr Ressourcen hätte man aus dem Thema wohl noch weitaus mehr herausholen können, es wäre noch schmackhafter geworden. Bundesweite Aufmerksamkeit wäre einem solchen Unterfangen gewiss gewesen. Schade. Aber es kann halt nicht immer ein Fünf-Gänge-Menü sein.

„Essen außer Haus. Vom Henkelmann zum Drehspieß.“ In diesen drei Dortmunder Museen:

Hoesch-Museum (Eberhardstraße 12) vom 2. April bis 9. Juli. https://www.dortmund.de/de/freizeit_und_kultur/museen/hoesch_museum/start_hoesch/index.html
Museum für Kunst und Kulturgeschichte (Hansastraße 3) 23. April bis 1. Oktober. www.mkk.dortmund.de
Brauerei-Museum (Steigerstraße 16) 23. April bis 31. Dezember 2017. www.brauereimuseum.dortmund.de

 




TV-Nostalgie (35): Konversation mit Kitzel – „Je später der Abend“ war 1973 die erste deutsche Talkshow

Dicht beisammen: Moderator Reinhard Münchenhagen (links) 1977 mit den Schauspielern Klaus Kinski (Mi.) und Manfred Krug. Es redete praktisch nur Kinski... (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=IHYTE4wiPTg)

Dicht beisammen: Moderator Reinhard Münchenhagen (links) 1977 mit den Schauspielern Klaus Kinski (Mi.) und Manfred Krug. Es redete praktisch nur Kinski… (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=IHYTE4wiPTg)

Es war ein prägender Moment der deutschen Fernseh-Historie: Am 18. März 1973 wurde im WDR-Fernsehen (damals: 3. Programm) die erste Sendung ausgestrahlt, die hierzulande ausdrücklich als „Talkshow“ firmierte.

Zur Premiere wurde der unverfängliche Schriftzug „Unterhaltung mit Gästen“ eingeblendet. Gastgeber Dietmar Schönherr versuchte eingangs, dem geneigten Publikum (die Männer im Studio waren noch weitaus mehrheitlich Anzugträger) behutsam zu erklären, woran man mit dem aus den USA herrührenden Format überhaupt sei. Und er musste eingestehen, dass er selbst noch nicht so recht wusste, was eine Talkshow auf Deutsch bedeuten und wozu sie sich entwickeln könnte.

Bloß nicht zu bedächtig

Den US-Amerikanern, so erläuterte Schönherr weiter, gehe ein flottes Wort leichter von den Lippen, als den eher schwerfällig grübelnden Deutschen. Gegen derlei uralte Klischees wollte man also anreden, Schönherr sprach sogar explizit davon, dass man die deutsche Bedächtigkeit „zerstören“ wolle, was nicht zu seiner eher sanften Redeweise passen wollte. Das Konzept war ansonsten noch ziemlich offen, und gerade dieser Umstand sorgte anfangs oft für Spannung und Intensität.

„Je später der Abend“ hieß die Gesprächsrunde mit jeweils drei Gästen, der Titel war dem WDR-Fernsehdirektor Werner Höfer eingefallen. Zur besagten Premiere ließen sich der Dramatiker Franz Xaver Kroetz, der schillernde Staranwalt Rolf Bossi sowie die Krimiautorin Irene Rodrian einvernehmen. Die Atmosphäre war entspannt, doch auch recht gediegen. Zumindest der Auftakt hatte noch viel von dem, was man einst „Konversation“ nannte.

Jelinek und Hoeneß über die Ehe

Freilich war’s Konversation mit ungeahntem Kitzel. Man wollte erkennbar nicht kreuzbrav, sondern locker sein. Und irgendwie politisch bitteschön auch noch. In dieser Form heute nahezu undenkbar: Der Ablauf späterer Sendungen wurde gelegentlich aus dem Publikum heraus rebellierend oder maulend gestört. Lang ist’s her.

Noch in Schwarzweiß: Dietmar Schönherr 1973 in der Premierenausgabe der Talkshow. (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=03W879Zlmy4)

Noch in Schwarzweiß: Dietmar Schönherr 1973 in der Premierenausgabe der Talkshow. (WDR – Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=03W879Zlmy4)

Ich habe mir im Netz ein paar bemerkenswerte Ausschnitte angeschaut, so den Auftritt der noch längst nicht so berühmten Elfriede Jelinek, die extrem andere Ansichten über Ehe und Hausarbeit offenbarte, als ihr ebenso unbedarfter wie treuherzig konservativer Widerpart, der Bayern-Kicker Uli Hoeneß, der nebenher auch über seine Freundschaft mit dem CSU-Chef Franz Josef Strauß plauderte. Ach, wie herrlich…

Das getätschelte Knie

Noch spektakulärer verlief – erwartungsgemäß – das nervtötend egomanische Solo, das Klaus Kinski 1977 in dieser Talkshow hinlegte. Der ebenfalls eingeladene Manfred Krug kam angesichts dieser wüsten Suada praktisch nicht zu Wort. Legendär auch die zunächst seltsam verbittert wirkende Romy Schneider (1938-1982), deren Miene sich allerdings merklich aufhellte, als der virile Autor und Ex-Bankräuber Burkhard Driest neben ihr Platz nahm, den sie hinfort anhimmelte. Dass sie gar sein Knie tätschelte und dabei sagte „Sie gefallen mir, Sie gefallen mir sogar sehr“ – das gehört seit 1974 unverbrüchlich zur bundesdeutschen Medien-Folklore.

Schon der Vorspann sah ein bisschen nach Pop Art aus, rundum waberte Zeitgeist der 70er Jahre – von wallenden Haarlängen auch bei den Männern über exzessiven Zigarettenkonsum während der Sendungen bis hin zu damals typischem Mobiliar und Mode-Torheiten wie etwa Schlaghosen.

Man kann doch über alles reden

Vor allem aber war es die Zeit, in der man offen über alles und jedes zu reden begann, ja, es herrschte geradezu ein Zwang zur möglichst unverblümten Aussprache. Eigentlich kein Wunder, dass Inge Meysel, die vielfach als spießig geltende „Mutter der Nation“, gerade in diesem Umfeld über ihre Entjungferung parlierte. Ein erklärtes redaktionelles Ziel war es ja auch, dass Prominente bis zur seelischen Selbstentblößung gebracht werden sollten.

Doch für derlei provokante Attacken waren die Gesprächsleiter denn doch etwas zu souverän, zu kultiviert und zu human. Die Talkshow, die schon ab Silvester 1973 ins erste Programm übernommen wurde und den attraktiven Platz samstags um 22 Uhr bekam, hatte bis Juli 1978 drei Moderatoren, jeder ein eigenwilliger Charakter, doch samt und sonders auf beträchtlichem Niveau: Dem Miterfinder der Sendung, Dietmar Schönherr (der zuvor bereits u. a. mit „Raumpatrouillle“ und der Show „Wünsch dir was“ TV-Geschichte geschrieben hatte), folgte im Januar 1975 Hansjürgen Rosenbauer, ab Januar 1976 übernahm Reinhard Münchenhagen. Schönherr ging die Sache eher warmherzig an, Münchenhagen fasste verbal schon mal entschiedener zu und ließ sich nicht einmal von Kinski aus der Fassung bringen. Ach, wären doch noch Leute dieses Kalibers auf Sendung!

Einige Eindrücke von „Je später der Abend“ sind noch im Internet greifbar, eine DVD-Edition der besten Gesprächsrunden wäre wünschenswert. Ein gewisses Mindest-Interesse an den 70er Jahren vorausgesetzt, kann man den Gesprächen noch heute gespannt oder gar gebannt folgen. Fachfrage: Für welche Talkshow gilt das heutzutage noch?

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Mit diesem Beitrag greifen wir in loser Reihung eine altgediente Revierpassagen-Serie wieder auf.

Hier die Themen der vorherigen Folgen:
“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” mit Hans-Joachim Kulenkampff (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” mit Manfred Krug (5), “Der Kommissar” mit Erik Ode (6), “Beat Club” mit Uschi Nerke (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10).

Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20).

“Columbo” mit Peter Falk (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30).

“Lassie” (31), “Ein Platz für Tiere” mit Bernhard Grzimek (32), „Wetten, dass…?“ mit Frank Elstner (33), Fernsehkoch Clemens Wilmenrod (34)

Und das Motto bei all dem:
“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




„Gaffer“ gibt es doch schon lange – ein Beispiel von 1967

Über sogenannte Gaffer an Unfallstellen wird immer wieder empört berichtet, aber ist das ein neues Phänomen? An einem Beispiel aus dem Jahre 1967 soll das an dieser Stelle einmal genauer beleuchtet werden: Eine Lokomotive stürzte damals in Ennepetal aus den Gleisen und rollte den Bahndamm hinunter.

Die abgestürzte Lok liegt am Straßenrand, der Lokführer ist umgekommen. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Gegen 3 Uhr in der Nacht zum 21. Juni 1967 war eine E-Lok der Baureihe E 41 auf einem Nebengleis der Bergisch-Märkischen Strecke zwischen Schwelm und Hagen beim Rangieren gegen einen Prellbock geprallt. Die Lok sprang aus den Schienen und stürzte den Abhang hinunter. Der 41-jährige Lokführer versuchte sich durch einen Sprung aus dem Führerhaus zu retten, wurde jedoch durch die Lok erdrückt und getötet. Das tonnenschwere Fahrzeug blieb auf der Seite neben der Bundesstraße 7 liegen.

Noch in der Nacht verbreitete sich die Nachricht von dem spektakulären Unfall in der Stadt, und schon am Morgen waren Hunderte von Menschen zu der Unglückstelle gerannt oder mit ihren Autos dorthin gefahren, verfolgten die schwierigen Bergungsarbeiten und machten Fotos. Auf der Bundesstraße 7 bildeten sich in beiden Richtungen kilometerlange Staus, die auch in den folgenden Tagen anhielten, und die Polizei musste Verstärkung anfordern und regelnd eingreifen, damit überhaupt die Kräne der Spezialfirma an die zu bergende Lok herankamen.

Menschen scheinen in ihrer Psyche darauf trainiert zu sein, bei Ereignissen mit Blut und Horror fasziniert zuzuschauen. Das trifft nicht nur für Unglücke im Straßenverkehr zu. Auch öffentliche Hinrichtungen waren bis in die Neuzeit hinein ein ganz besonderer Anziehungspunkt für Menschen, die den Schauder erleben wollten und die für sich das Glück fühlten, nicht selbst betroffen zu sein.

Heute kommt noch hinzu, dass mit Kameras in Smartphones und Tablets das Geschehen sofort dokumentiert wird. Journalisten erheben dann oft empört und belehrend den Zeigefinger, dabei dient ihre eigene Arbeit kaum einem anderen Zweck, als ihren Kunden die Katastrophe ins Haus zu liefern. Besonders heuchlerisch wirken dann Aufrufe, doch bitte zur Identifizierung der möglichen Täter und zur Rekonstruktion des Tathergangs private Fotos und Videos zur Verfügung zu stellen. Und das hört man ausgerechnet von einer Behörde, die sonst das Filmen am Unglücksort verteufelt – irgendwie etwas weltfremd.




Kathedrale, historische Fabriken, Jules Verne – zu Besuch in Dortmunds französischer Partnerstadt Amiens

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über einen Besuch in Dortmunds nordfranzösischer Partnerstadt Amiens:

Es ist ein kleines Schildchen unter Ortsschildern der Stadt Dortmund. Zusammen mit anderen kleinen Schildern zeigt es an, mit welchen Städten in der Welt Dortmund eine Partnerschaft betreibt. Wann immer ich in Dortmund einfahre, lese ich, was auf dem Schildchen steht: Amiens. Das ist ein kleines Schildchen, aber noch immer kein Bild in meinem Kopf.

Gewaltiges Bauwerk: Nordansicht der Kathedrale von Amiens, September 2011. (Foto: BjörnT - Public Domain / Wikimedia Commons)

Gewaltiges Bauwerk: Nordansicht der Kathedrale von Amiens, September 2011. (Foto: BjörnT – Public Domain / Wikimedia Commons)

„Du musst es mal gesehen haben“, sagt mein Freund Kurt Eichler, bis vor Kurzem Leiter des Dortmunder „U“. „Und wenn du da bist, geh unbedingt in das Jules-Verne-Haus! Das ist ein tolles Literaturhaus, das jedem Schriftsteller gefallen muss.“

Ja, ich muss mal dorthin. So eine Stadt kann doch kein Schild in meinem Kopf bleiben, sie muss endlich zu Bildern werden. Außerdem habe ich seit dem Jahr, als Dortmund und das ganze Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas waren, einen Freund in Amiens. Habe also einen besonderen Grund, einmal dorthin zu fahren. Jean Paul Dekiss ist es, der Schriftsteller, der Filmemacher, der Leiter des Jules-Verne-Hauses, mit dem zusammen ich mich auf Erkundungstour durchs Ruhrgebiet aufgemacht habe. Andere Schriftsteller waren dabei, Autorenfreunde aus Dortmund und Umgebung und dazu Schriftsteller aus Rostov und Leeds. Das sind andere Partnerstädte von Dortmund, die bis jetzt auch noch nicht zu Bildern in meinem Kopf geworden sind. Die es aber werden sollen.

Ein schönes Buch ist aus den Reportagen, die wir über unsere Erkundungstouren geschrieben haben, entstanden. „Blickwechsel“ heißt es. Blicke von außen, Blicke von innen über meine Heimat Ruhrgebiet.

Gigantische Kathedrale

Ich sollte also zuerst über das Jules-Verne-Haus schreiben, wenn ich über meinen Besuch in Amiens berichte, aber ich kann nichts anders, ich muss mit der Kathedrale anfangen. Vom Tisch im Restaurant „Le Quai“ aus kann ich sie sehen, in der Abenddämmerung. Die kleinen Häuser davor lassen sie noch größer, noch mächtiger erscheinen. Im Mittelalter, denke ich, waren alle Häuser von Amiens klein, kleiner noch als jene, die jetzt vor der Kathedrale stehen. Wie groß, wie mächtig muss sie damals auf den Besucher gewirkt haben?

Natürlich möchte ich hineingehen, die Höhe des Kirchenschiffs bewundern, 144 Fuß hoch, nach den 144 Ellen, die das neue Jerusalem nach Angaben in der Johannes-Apokalypse lang sein soll. Und das Gesicht von Johannes dem Täufer will ich sehen.

Biblische Geschichte voller Leidenschaft

Amiens ist einer von drei Orten, die beanspruchen, den Kopf von Johannes dem Täufer zu haben. Ich stehe vor ihm, mache ein Foto und denke an seinen Tod. Herodes Agrippa soll er kritisiert haben, den König, weil er seine Schwägerin Herodias geheiratet hat. Eine Schwägerin galt damals als Quasi-Blutsverwandte, so jemand heiratete man nicht. Herodias war es dann, die ihn mit ihrem Hass verfolgte, und als sich ihre Tochter Salome nach einem verführerischen Tanz ein Geschenk von Herodes Agrippa wünschen durfte, sah sie ihre Chance. Den Kopf von Johannes sollte sich die Tochter, die sonst alles hatte, wünschen. So steht es in der Bibel, aber vermutlich war alles ganz anders.

Herodes Agrippa drohte ein Krieg, und da wollte er, der es sich mit Johannes und seinen zahlreichen Anhängern verscherzt hatte, keine zwei Fronten haben. Also ließ er Johannes töten, um sich ganz auf seinen äußeren Kriegsgegner konzentrieren zu können.

Trotzdem, die Bibelgeschichte mit dem Tanz ist spannender. Sie ist voller Leidenschaft, voller Hass vor allem, sie bleibt den Menschen, die sie lesen, im Gedächtnis.

Traum von einer besseren Welt

Über solche Geschichten, gefüllt mit prallem Leben, reden wir auch bei unseren Diskussionen, Jean Paul Dekiss, meine neuen französischen Autorenfreunde Gilbert Desmée, Jean-Louis Rambour, Lilian Robin, Roland Thibeau, Jean-Luc Vigneux, meine Ruhrgebietsfreunde und ich. Wie soll moderne Literatur aussehen, welche Themen soll sie aufgreifen?

Quartier Saint Leu in Amiens, Aufnahme von 2005. (Foto: Emmanuel Legrand - Free Art License 1.3: http://artlibre.org/licence/lal/en/)

Quartier Saint Leu in Amiens, Aufnahme von 2005. (Foto: Emmanuel Legrand – Free Art License 1.3: http://artlibre.org/licence/lal/en/)

Soll die Arbeitswelt darin auftauchen, soll sie es nicht? Auf jeden Fall, stellen wir fest, besteht Literatur aus mehr als nur schön formulierten Sätzen. Literatur gestaltet wichtige Inhalte, sie erzählt einen Ausschnitt aus dem Leben, einen mit Leid und Freud gefüllten Ausschnitt. Literatur, so stelle vor allem ich es mir vor, ist immer auch kritisch, sie greift an, sie träumt von einer anderen, besseren Welt. Zur Leidenschaft, wie sie in der großen Bibelgeschichte ausgedrückt wird, kommt also auch die Sehnsucht. Die Arbeitswelt mit ihrem Druck, ihrer Ausbeutung und auch mit ihrer Freude, wenn etwas Schönes gestaltet wird, gehört dazu.

Lange reden wir darüber, das Thema immer neu umkreisend. Um dann unsere Diskussion zwischendurch zu unterbrechen und uns Beispiele vom Leben in der Arbeitswelt rund um Amiens anzusehen.

Zweierlei Fabrik-Modelle

Wir besuchen das Gelände von Jean-Baptiste Godin, der ein ehemaliger Arbeiter war. Er entwickelte ein genossenschaftliches Modell ab 1850, gründete eine Fabrik, die gusseiserne Öfen herstellte. Sein Modell war keine Philanthropie, sondern ein utopischer Gegenentwurf zur kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Die Arbeiter bekamen Anteile von der Fabrik, es wurden große Wohnhäuser mit überdachten Innenhöfen für sie gebaut, dazu Schulen für die Kinder.

Es war ein Gegenentwurf gegen das paternalistische System, das wir am folgenden Tag bei den Brüdern Saint sahen, die sich „Saint Frères“ nannten und die große Stoffe, Seile, Segel herstellten. Hier war alles auf Kontrolle abgestellt, auf effektive Ausbeutung der Arbeiter. Selbst die Wohnhäuser waren so gebaut, dass die Vorarbeiter ihre Untergebenen in deren Freizeit beobachten konnten. Sie sollten nicht nach Belieben in eine Kneipe gehen können, die Zeit nach der Arbeit diente allein dazu, dass sie sich für die Arbeit am nächsten Tag erholten.

Godins Modell ging 1969 unter. Klar, könnte man denken, idealistische Modelle haben auf lange Sicht keine Chance. Sie sind Wünsche, von denen man träumen kann, die sich aber nicht verwirklichen lassen.

Stimmt das wirklich? Nicht ganz, denn auch das Modell „Saint Frères“ ging in genau diesem Jahre unter.

Stoff für einen Kriminalroman

Heute wird auf dem Gelände Altkleidung sortiert, die in Frankreich verkauft wird oder in Afrika. Die Emmaus-Brüder machen das mit Ideen wie jene von Godin. Leute, die lange arbeitslos waren, arbeiten bei ihnen, niemand verdient mehr als das Dreifache von dem, was der einfache Arbeiter verdient. Wie weit entfernt ist das von unseren Bankern, die in einem Jahr so viel verdienen, wie ich es nicht in drei Leben verdienen werde. Und dabei verdiene ich nicht einmal wenig.

Ein Stoff für einen Roman ist das, denke ich. Und ich habe auch schon damit angefangen, ihn zu schreiben, einen Kriminalroman über die Machenschaften der Banker. Im Herbst dieses Jahres wird er erscheinen.

Heute Bestandteil des Jules-Verne-Museums: das Arbeitszimmer des welberühmten Schriftstellers in seinem Stadthaus in Amiens. (Foto: Achim Ebenau / Wikimedia Creative Commons - Linkz zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Heute Bestandteil des Jules-Verne-Museums: das Arbeitszimmer des weltberühmten Schriftstellers in seinem Stadthaus in Amiens. (Foto: Achim Ebenau / Wikimedia Creative Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Unverzichtbares Jules-Verne-Haus

Er folgt meiner Idee von Literatur. Pralle Geschichten will ich erzählen, Kritik an Fehlentwicklungen der Gesellschaft und der Arbeitswelt üben. Leidenschaften zeigen, Ärger, Wut. Den Traum von einer anderen, besseren Welt träumen. Jemandem wie Godin bin ich dabei nahe, der dies alles nicht nur geträumt, sondern realisiert hat für hundert Jahre. Für hundert Jahre immerhin!

Ja, und dann bin ich in Amiens auch noch ins Jules-Verne-Haus gegangen. Und weil es um Jules Verne geht, muss ich meine Erlebnisse in diesem Haus in besonderer Sprache schildern:

Bruder Jules

Stell dich ins Hoftor
dorthin, wo auch
Jules Verne stand
als die Schüsse fielen

Zwei Schüsse, einer
der das Holz des Tors
zersplitterte und einer
der sein Bein traf

So dass er nicht mehr
segeln konnte, nie mehr
er, der doch das Meer
so liebte

Ach Bruder, es war
mein Neffe
Bruder ach, es war
dein Sohn

Der Bruder schwieg
was konnte er auch anders
tun als schweigen, er,
den Jules so dringend brauchte

Er, den der Bruder
liebte, der Jules`
Texte las und
korrigierte

Ich brauch dich
Bruder und der Neffe
er geht in eine Anstalt
vierzig Jahre lang

Kein Wort nach
außen über ihn
kein Streit nach
innen zwischen uns

Ja, das ist Bruderliebe.
Drum stelle dich ins Tor
und denk an sie
an Jules und seinen Bruder

Und ihre Liebe füreinander, denk
aber auch an den Neffen, denke:
vierzig Jahre! Dann geh ins
Haus, in den Salon

Um dort zu lesen aus
dem Roman, deinem Roman
Jules wartet schon.
Mit strengem Blick hört er

dir zu, dort oben an der Wand
und streng dich an, denn
heute musst du ihm gefallen
ihm, Jules Verne.

Viele Bilder im Kopf

Nun kenne ich Amiens. Es ist nicht mehr ein kleines Schildchen unter dem Ortsschild von Dortmund. Es ist nicht mehr die nichtssagende Schrift, die ich lese, wenn ich in Dortmund einfahre. Ich habe viele Bilder von Amiens im Kopf, und ich weiß, ich werde dorthin zurückkehren. Werde zurückkehren zu seiner Kathedrale, zu Godin, zu Jean Paul Dekiss und meinen französischen Schriftstellerkollegen. Und zu Jules Verne, von dem ich hoffe, dass ihm der Ausschnitt aus meinem Roman gefallen hat.




Als Amazonen bestrickend kickten: Doku zur Frühgeschichte des „Damenfußballs“ beim Dortmunder Frauenfilmfestival

Ach, du Schreck: Die jungen Frauen waren auf einmal keine daheim im Kämmerlein schmachtenden „Fußballbräute“ mehr. Sondern? „Amazonen“! Sie wagten es doch tatsächlich, selbst zu spielen, und zwar hin und wieder geradezu „bestrickend“. Sie servierten Flanken „wie aus der Luft gehäkelt“ und vollzogen rasant den Übergang „von der Haushalts- zur Ballführung“. Diese „Fußball-Suffragetten“ trugen allerdings „keine Blaustrümpfe, sondern Ringelstrümpfe“...

Wird im Film "Die schönste Nebensache der Welt" gezeigt: Teamfoto von Fortuna Dortmund aus der zweiten Hälfte der 50er Jahre, u. a. mit Anne Droste (ganz links), Christ Kleinhans (mit Ball) und rechts neben ihr Grete Eisleben. (Foto aus dem Provatbesitz von Christa Kleinhans)

Wird im Film „Die schönste Nebensache der Welt“ gezeigt: Teamfoto von Fortuna Dortmund aus der zweiten Hälfte der 50er Jahre, u. a. mit Anne Droste (ganz links), Christa Kleinhans (mit Ball) und rechts neben ihr Grete Eisleben. (Foto aus dem Privatbesitz von Christa Kleinhans)

Genug, genug! Das kann man ja nicht mehr mit anhören. Wer hat denn so einen Quatsch über Frauenfußball verzapft? Nun, es war der gängige Sound der frühen Jahre. Die oben kursiv gesetzten O-Ton-Zitate stammen samt und sonders aus einer Kino-Wochenschau vom März 1957, als eine (inoffizielle) deutsche Auswahl im Münchner Dante-Stadion vor sagenhaften 18.000 Zuschauer(inn)en gegen ein Frauenteam aus Holland antrat. Es war eine Begegnung, die nach dem Willen mächtiger männlicher Fußball-Funktionäre eigentlich gar nicht hätte stattfinden dürfen.

Der DFB verbot den Frauen das Balltreten

Fast genau 60 Jahre ist das nun her. Damals war das Match eine Sensation, gleichsam ein Spiel in der Grauzone, denn der von verknöcherten alten Herren geführte Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte 1955 höchst offiziell ein striktes Verbot des „Damenfußballs“ beschlossen. Kein Mitgliedsverein des DFB sollte eine Mädchen- oder Frauenabteilung haben dürfen, ja nicht einmal einen Platz für solch ungebührliches Treiben zur Verfügung stellen. Und kein Schiri sollte sich dafür hergeben. Die Stadt München, die den besagten Ländervergleich zugelassen hatte, bekam denn auch einen harschen Mahnbrief aus der DFB-Zentrale.

Woher ich das alles weiß? Aus dem Film „Die schönste Nebensache der Welt“. So heißt (nicht allzu originell) eine recht aufschlussreiche 56-Minuten-Doku zur Nachkriegsgeschichte des deutschen Frauenfußballs. Den bereits 2009 entstandenen Streifen von Tanja Bubbel präsentiert in Kürze das Internationale Frauenfilmfestival, das vom 4. bis zum 9. April in Dortmund (und nebenher in Köln) seinen 30. Geburtstag feiert. Es ist verdienstvoll, den Film ans Licht zu holen, der bislang zumeist im Archiv schlummerte. Warum zeigt ihn beispielsweise das WDR-Fernsehen nicht?

Pionierinnen von Fortuna Dortmund

Schon im Vorfeld des Festivals gibt es eine Voraufführung des Fußballfilms, und zwar just im Deutschen Fußballmuseum des DFB in Dortmund (Di., 28. März, 20 Uhr). Wenn man so will, leistet der Verband als Gastgeber gleichsam eine klitzekleine späte Abbitte für das unbegreifliche Verhalten seiner Altvorderen in den 50er und 60er Jahren. Dass auch höhere Chargen wie der Ex-DFB-Präsident Theo Zwanziger längst zu halbwegs selbstironischem Umgang mit dem Thema fähig sind, beweist der Anfang der Doku. Da kommentiert Zwanziger ziemlich trocken einen kurzen Diavortrag zum Damenfußball.

Der Film enthält etliche Originalaufnahmen, vorwiegend aus 50er bis 80er Jahren, und feiert gebührend die Pionierinnen des Sports mit ihren ausgesprochen haltbaren Mädels-Freundschaften. Denn natürlich ist dies auch eine Erzählung von kraftvoller Frauen-Solidarität, die sich nicht einschüchtern lässt.

Gewürzt mit Ruhrgebiets-Humor

Zwischendurch gibt es etliche elegante, aber auch ein paar unbeholfen wirkende Spielszenen zu sehen. Die Spielkultur musste sich ja auch erst langsam entwickeln. Und wer offiziell nicht einmal trainieren darf, muss schon besonderes Talent haben, um trotzdem gut zu sein. Außerdem: Bei den Herren wird oft genug auch nur gebolzt.

Der Film versammelt einige Zeitzeuginnen aus Ost und West (Ruhrgebiet, Potsdam) zu nachdenklichen Rückblicken. Im Mittelpunkt stehen dabei Veteraninnen des Clubs Fortuna Dortmund, wo ab 1955 Frauen Fußball spielten, und zwar offenbar ziemlich gekonnt. Gewürzt mit echtem Ruhrgebiets-Humor, erzählen sie aus jenen Jahren, als sie allesamt auch an (wie gesagt: verbotenen) Länderkämpfen vor erstaunlich großem Publikum teilnahmen, die legendäre Begegnung im Dante-Stadion inbegriffen.

Und wahrlich. Wenn man heute jeden 16jährigen Jungspund kennt, der irgendwo für viel Geld anheuert, so muss man erst recht diese Frauen beim Namen nennen: Christa Kleinhans, Renate Bress, Anne Droste, Inge Kwast und Grete Eisleben. Einige von ihnen kommen wohl auch zur Preview ins Fußballmuseum. Sie sind übrigens souverän genug, wegen „damals“ keine Verbitterung zu hegen, obwohl wegen ihrer Fußball-Leidenschaft auch schon mal Beziehungen und Ehen zu Bruch gegangen sind.

Ein Porzellan-Service für den EM-Titel

Welch ein bezeichnender Moment, wenn im weiteren Verlauf des Films die Bochumerin Petra Landers, die in den 80er Jahren mit Bergisch-Gladbach mehrfach die deutsche Meisterschaft errang, mit süßsäuerlicher Miene einen Teil ihrer DFB-Prämie zum Gewinn der Europameisterschaft 1989 aus dem Küchenschrank holt. Sie und ihre Mitspielerinnen bekamen – Tusch und Trommelwirbel – ein komplettes Porzellan-Service, immerhin Bone China der nicht ganz schäbigen Art… Wollen wir mal nachschauen, was Männerteams für vergleichbare Titel abgestaubt haben?

In den 50ern, aber auch noch in den 70ern ließen sich nicht alle Zuschauer von rein sportlichen Interessen leiten. Viele Männer kamen anfangs wohl, um hämisch abzulachen, um schlanke oder auch stämmige Beine bzw. wallende Brüste in knappen Trikots zu sehen oder um gar frivole Schlammschlachten auf durchgeweichten Plätzen zu erleben. Manche waren auch ganz einfach wild auf die Mädchen. Besonders Italiener waren den Dortmunder Blondinen zugetan, woran sie sich kichernd erinnern.

Lang, lang hat’s gedauert, bis dann endlich mal sachlich-fachlich über Frauenfußball geredet wurde. Erst 1970 gab der DFB halbherzig seinen Fundamental-Widerstand gegen Frauenfußball auf. Quasi in einem Gnadenakt ließ man sich zur Erlaubnis herbei. Schon beinahe (negativer) Kult ist übrigens ein ZDF-Sportstudio genau aus jener Zeit. Wim Thoelke kommentierte das Ansinnen der Frauen durchaus noch im Stil der eingangs erwähnten Wochenschau. Das hätte in seiner Drastik noch als Aufreger zu Tanja Bubbels Film gepasst.

Auch die DDR hat Frauenfußball reichlich spät zugelassen, dort ging es ebenfalls erst in den 70er Jahren voran. Was Sabine Seidel und Gisela Liedemann (ehedem Turbine Potsdam) zu berichten haben, klingt denn auch eher elegisch, aber ebenso unverstellt wie das, was man aus dem Revier vernimmt.

„Die Prinz hatte wohl ihre Periode“

Die Frauen sind indes auf ihre Art nicht zimperlich. Eine behauptet schlankweg, sie seien immer zäher gewesen als die Männer („Die wälzen sich immer gleich am Boden“). Und als der inzwischen nicht mehr ganz junge Dortmunder Damenzirkel ein Länderspiel besucht, heißt es über eine weniger gut aufgelegte Top-Spielerin auf dem Rasen: „Die Prinz hatte wohl heute ihre Periode…“ Das sollte sich ein Mann mal zu sagen trauen.

Apropos Mann. Einer prägt auch diesen Film mit – durch seine Stimme. Der Fußballkommentator Werner Hansch hat seine Meriten, hier aber ist sein salbungsvoll-samtpfötiger Tonfall nicht immer angebracht; zumal er auch schon mal treuherzig zwiespältige Sätze von sich gibt („Zum Glück gab es das DDR-Sportsystem“ – triefende Ironie oder nicht?), die am Schluss in der vermeintlich alle und alles versöhnenden Formel gipfeln, ob nun Männer oder Frauen anträten, Hauptsache sei doch, dass Deutschland gewinnt. Ach was.

Rund 120 Filme auf dem Programm

So. Schlusspfiff. Ein paar andere Filme laufen ja schließlich auch noch beim Internationalen Frauenfilmfestival. Um pauschal etwas genauer zu sein: rund 120 Produktionen aller denkbaren Sparten und Formate, dazu ein üppiges Begleitprogramm mit Diskussionen, Workshops und Performances.

Beim internationalen Spielfilmwettbewerb für Regisseurinnen geht es um einen Preis von 15.000 Euro, davon 10.000 als Vertriebsförderung für den Verleih und 5000 für die Regie. Zudem gibt’s gleich zehn kuratierte Filmreihen unter dem Gesamtmotto „In Control…of the situation / Alles unter Kontrolle“, das sicherlich nicht nur wörtlich zu nehmen ist, sondern angesichts der Weltlage auch schierer Hohn sein kann. Da lassen sich halt frauenbewegte und (nicht nur) Frauen bewegende Filme jeglicher Art unterbringen.

Eine Reihe handelt von Flucht und Migration, eine andere vom Rückzug ins Innenleben und daraus resultierenden Aufbrüchen, eine weitere von Aktivistinnen der Solidarität und des Widerstands. Kurzfilmnacht, Super-8-Filmtechnik und Bösartiges bis zum Splattermovie sind weitere Stichworte. Das mag einigermaßen unübersichtlich wirken. Also gilt es, sich vorab ein paar Schneisen durchs Programm zu schlagen. Ein bisschen Zeit ist ja noch.

Infos zum Festival (4. bis 9. April): www.frauenfilmfestival.eu
Tickets: www.westticket.de




Rutger Booß und seine ungebremste Seniorenbeschimpfung

Mit Dr. Rutger Booß, Gründer und damals auch noch amtierender Chef des Dortmunder Grafit-Verlags (führend im Regionalkrimi-Fach), hatte ich für einige Jahre ein kleines Ritual. Kurz vor Abreise von der Frankfurter Buchmesse habe ich jeweils noch auf einen Kaffee beim Grafit-Stand vorbeigeschaut. Es gehörte irgendwie dazu. Dortmunder müssen zusammenhalten, auch auf kulturellem Gebiet. Jetzt steht Rutger Booß, inzwischen 72, auf seine etwas älteren Tage unversehens auf Platz 9 der „Spiegel“-Bestsellerliste (Rubrik Taschenbücher / Sachbuch), und zwar mit einer als Rundumschlag angelegten Seniorenbeschimpfung. Diese Ausgangslage verlockt zum Lesen.

„Immer diese Senioren! 111 Gründe, warum sie uns in den Wahnsinn treiben“ heißt das naturgemäß (selbst)ironisch eingefärbte, aber nicht etwa durchweg unernst gemeinte Werk. Ich gebe freimütig zu: Diese allfälligen 50-, 99-, 100- oder halt 111-Gründe Bücher gehen mir allmählich auf den Geist. Meistes folgen sie einer Masche. Der Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf preist das Buch denn auch als „Stapeltitel“ an und hat massiv die Buchhandlungen damit geflutet.

Immer in Beige, immer drängeln

Schon klar: Die Senioren werden immer mehr und haben schon jetzt enormen Einfluss auf die Politik. Also muss man sie mal verbal verdreschen. Tatsächlich lässt Rutger Booß kein gutes Haar an seinen Generationsgenoss(inn)en. Hier müssen sich die bedauernswerten Durchschnitts-Senioren alles, aber auch alles zurechnen lassen, was irgendwo alte Menschen verzapfen – seien es nun „Eliten“ und Promis jeder Sorte, Einzelne aus der Menge oder die breite Mehrheit, die dümmlich bis kriminell agiert haben. Nun aber `ran an die Beispiele, Feixen hie und da garantiert:

Der Rentner, der gemeinhin in Beige herumtapert, sich rüpelhaft an der Supermarktkasse vordrängelt und dort umständlichst das Kleingeld abzählt oder zittrig Auto fährt, wird ausgiebig verspottet. Bejahrte Menschen hassen Kinderlärm, werfen aber selbst den Laubsauger an, wann immer sie wollen. Sie hocken ständig beim Arzt und klagen über ihre Wehwehchen, fallen auf dämliche Werbung und Nepper, Schlepper, Bauernfänger herein.

Alte Männer: geil, geizig und gierig

Ältere Polit-Darsteller von hohen Fürchterlichkeits-Graden (z. B. Berlusconi, Robert Mugabe, Erika Steinbach, Gauland, Trump) oder betagtere Sportfunktionäre (Blatter, Beckenbauer, Ecclestone) werden wortreich verdammt. Sie haben es ja allesamt verdient. Doch ich konnte bei der Lektüre nicht umhin, beim Thema Senioren gelegentlich (sozialpolitisch korrekt) auch an Altersarmut, Pflegebedürftige und Demenz zu denken. Solche kleinlichen Bedenken muss man entschlossen beiseite schieben, will man ein solches Buch schreiben. Dabei ist Rutger Booß doch eigentlich eher links gestrickt.

Autor Rutger Booß (Foto: Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf)

Autor Rutger Booß (Foto: Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf)

Doch im Buch mag er’s paukenschlagend pauschal. Senioren machen demnach eigentlich nur dummes Zeug. Sie kommen nicht mit dem Internet klar, verhindern durch ihre schiere Beharrungs-Masse Innovationen bei ARD und ZDF, verdingen sich als quasi untote Gestalten (Gunter Gabriel, Rainer Langhans etc.) im „Dschungelcamp“. Alte Männer sind in der Regel geil, geizig und gierig. Ergraute Schriftsteller wie Roth, Updike, Begley und Martin Walser stier(t)en geifernd jungen Mädchen nach.

„Landplagen“, wohin man auch schaut

Seniorenscharen, die überall die Wege versperren, bevölkern Kreuzfahrtschiffe auf Flüssen und Meeren. Und wenn sie erst auf ihre E-Bikes steigen, ist alles zu spät. Alte Herrschaften verfassen peinliche Memoiren, schreien ihren Unmut im Theater auf offener Szene heraus, besitzen offenbar immens viele Waffen, sind Mitglieder in lachhaft vorgestrigen Schützen- und Gesangsvereinen, sind Geisterfahrer, Rechthaber, Unfallflüchtige und Stalkerinnen. Sie alle sind – so ein Lieblingswort in diesem Buch – eine „Landplage“.

„Das alles und noch viel meheeeer“ wird auf mitunter fast penetrante Weise breitgetreten und ausgewalzt. Hat man einmal den eingefahrenen Duktus intus, reichen hernach vielfach die bloßen Kapitel-Überschriften zur Orientierung. Vieles ist ja richtig, doch gar manches ist auch wohlfeil.

Bei den bunten Seiten bedient

Quellen für die üblen Nachreden sind vorwiegend die vermischten Meldungen aus Tageszeitungen bzw. Online-Auftritten, hinzu kommen Wikipedia und Internet-Posts. Nicht jede Herleitung dürfte formal und inhaltlich einer kritischen Überprüfung standhalten. Egal. Man will sich ja in seiner polemischen Absicht nicht bremsen lassen. Auf den bunten Seiten ist ja alles schon so herrlich zugespitzt. Man muss sich nur umsichtig bedienen, die Stellensammlung ordnen und gut verrühren. Ich behaupte mal frech, dass der ebenso sympathische wie kluge Rutger Booß ein Buch deutlich unterhalb seines eigenen Niveaus geschrieben hat.

Apropos Zeitungen: Das muss ich jetzt auch noch loswerden. Booß, der im beschaulichen Herdecke lebt (wo schon Jürgen Klopp sein Domizil hatte), also in unmittelbarer Nachbarschaft von Dortmund, zitiert sehr häufig ausgerechnet die heimische WR = Westfälische Rundschau. Ich finde das ärgerlich, denn die seit Anfang 2013 redaktionslose Zeitung wird nur noch mit fremden Inhalten (WAZ, Ruhrnachrichten) am zombiehaften Leben erhalten und ist als „WR“ eigentlich gar nicht mehr so recht zitierfähig. Das Blatt ist keine Quelle mehr, sondern nur noch Abfüllstation.

Bleibt eine Frage: Wer ist eigentlich mit dem wohlig kollektiven „Wir“ („Warum sie u n s in den Wahnsinn treiben“) gemeint? Alle unter 80, 70, 65, 60? Alle Menschen, die guten Willens sind? Alle Junggebliebenen und solche, die es werden wollen? Da haben wir jetzt was zum Grübeln.

Rutger Booß: „Immer diese Senioren! 111 Gründe, warum sie uns in den Wahnsinn treiben“. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf. Taschenbuch, 272 Seiten. 9,99 €.