Was vor sich geht und wie – Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“

Misslicher Vorfall mit Nachwirkung: Inmitten der Lektüre diesen grandiosen Sammelbandes bin ich erkrankt und habe wochenlang unterbrechen müssen. Ich will das alles nachholen, Stück für Stück. Das ist ja immerhin das Gute daran: Das (Wieder)-Lesen liegt größtenteils noch voraus.

Wir haben hier nichts weniger als ein Lebenswerk in seinem stetigen Fortgang, ein wahres Monument, das freilich keines sein will. Es ragt aus den Zeiten von unvergesslichen Autoren wie Nicolas Born und Rolf Dieter Brinkmann, angloamerikanischern Anregern (W. C. Williams u. a.) oder auch bildenden Künstlern wie Wolf Vostell zu uns herüber, in all seiner Fragmentierung und all seinem angewachsenen  Zusammenhang. Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“ zählen unbedingt zu den Hauptwerken der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Man möchte geradezu hymnisch werden, doch käme kritiklose Verehrung so gar nicht mit diesen Sprachkunstwerken überein.

Spuren und Fährten finden

Der in jeglichem Sinne umfassende Band enthält sämtliche Gedichtzyklen Jürgen Beckers (geboren am 10. Juli 1932), die seit „Schnee“ (1971) und „Das Ende der Landschaftsmalerei“ (1974) entstanden sind. Das Ganze reicht bis zu „Graugänse über Toronto“ (2017) und „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ (2022). Mit Nachwort, erläuternden Texten und diversen Verzeichnissen bringt es das Buch auf 1120 Seiten. Weiter und weiter lesend, kann man sich bald nicht mehr vorstellen, dass auch nur ein einziges Gedicht weniger bedeutsam sei und fehlen dürfe. Jedes gehört hinein, jedes hat seinen Platz. Gar vieles baut aufeinander auf. Was allerdings nicht heißen soll, dass man schon „verstanden“ oder gar durchdrungen hätte. Wie denn auch? Aber man spürt wohl, sofern empfänglich, die errungene Würde des Werks in jeder Faser. Auch wird man immer mehr Spuren und Fährten finden.

Diesen oft genug weit ausgreifenden, mäandernden, dennoch vorsichtig-demutsvoll sich fortsetzenden Sprachschöpfungen ist der Gestus des abgeklärten Feststellens ebenso eigen, wie sie schier Ungreifbares und Flüchtiges dennoch menschenmöglich registrieren. Auch stellt sich solcherlei  Dialektik ein: Das „Private“ scheint durchs wechselhafte Weltgeschehen hindurch, welches wiederum durchs Private blinzelt. Atemberaubend etwa, wie der langjährige Rundfunkredakteur Jürgen Becker (u. a. Leiter der Hörspielabteilung beim Deutschlandfunk) den Nachrichtenstoff mit dem beruflichen Alltag verwebt („Zum Programmschluß die Nationalhymne“). Dabei hat er doch noch die besseren Zeiten des Mediums erlebt…

Vor- und rückwärts durch die Zeit

Beckers Gedichte schließen vieles auf, weit übers wortwörtlich Gesagte hinaus. Lakonische, oft melancholische Sätze in bieg- und schmiegsamer Sprache. Was Sprache überhaupt vermag – und was nicht. Der Moment und die Geschichten, denen stets zu misstrauen ist. Das Unwiederbringliche. Zeitschichten. Sich verändernde Orte und Landschaften. Nüchterne Selbstzitate. Zeile für Zeile einzig, mit größter Sorgfalt herausgearbeitet. Genau hier und genau dies. Immer wieder zeitlich eingefrorene Inbilder wie „Sommer in den Fünfzigern“ oder „Sommer, siebziger Jahre“. Insgesamt das große Journal, die Chronik der laufenden Ereignisse; all die Inventuren, auf dass nichts verloren gehe. Die Anrufung der einfachen Dinge (oft wiederkehrende Signaturen: Pappeln, Forsythien, aber auch anschwellende Verkehrsströme und Klimaanlagen). Leise und doch mit großem Atem verzeichnete Stimmungslagen der ganzen Gesellschaft, Klima-Verläufe in jeder Hinsicht.

Kurzum: ein Buch für Lieblingsplätze in den heimischen Regalen; eines, dessen Fluss man sich getrost  anvertrauen kann.

Jürgen Becker: „Gesammelte Gedichte“. Mit Bildern und Collagen von Rango Bohne und Fotos von Boris Becker (Sohn von Jürgen Becker). Mit einem Nachwort von Marion Poschmann. Suhrkamp Verlag. 1120 Seiten. 78 Euro.

 

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 32 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Literatur abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert