Mathematiker kontra Verbrecher – Antti Tuomainens Comedy-Thriller „Der Kaninchen Faktor“

Es beginnt ausgesprochen rasant – mit einer Verfolgungsjagd durch einen abendlich geschlossenen Vergnügungspark. Hinter dem Ich-Erzähler Henri Koskinen ist ein mit Messern bewaffneter Mann her. Nur gut, dass Koskinen eins dieser riesigen Hasenohren aus Metall zu fassen bekommt und…

Besagter Henri Koskinen ist, wie er stets staubtrocken betont, von Haus aus Versicherungsmathematiker und setzt allzeit auf Rationalität, auf berechenbare Wahrscheinlichkeiten. Seelischer Kram interessiert ihn nicht. Natürlich bleibt es nicht dabei. Natürlich muss gerade eine solche Figur mit verwirrenden Realitäten, ja mit Chaos konfrontiert werden – und auch mit der Liebe. Dass es dabei fortlaufend zu irrwitzigen Situationen kommt, das walte der finnische Autor Antti Tuomainen, der mit „Der Kaninchen Faktor“ (ohne Bindestrich) einen Thriller mit Comedy-Elementen vorlegt. Sein deutscher Verlag Rowohlt preist ihn schon auf dem Cover als „Die Nr. 1 aus Finnland“ an. Klappern gehört zum Handwerk.

Rausfliegen statt zur Sonne fliegen

Tag für Tag und jahraus jahrein hat Koskinen für seine Versicherung in Helsinki Unfall-Wahrscheinlichkeiten und dementsprechende Prämien scharf kalkuliert. Herrlich grotesk die Szenen aus dem Büroalltag. So hätte es schier ewig weitergehen können, wäre da nicht der neue Abteilungsleiter, der die angesagtesten Motivations-Methoden einführen will. Im Psycho-Jargon säuselt er vom Teambuilding, bei dem alle in der Kollegenschaft „die Gegenwart des anderen genießen“, mehr noch: „Es gibt Mitarbeiter, die sagen, dass sie sich erst hier bei uns entdeckt haben (…) Sie erkennen, dass sie (…) auch als Menschen gereift sind, ein neues Level erreicht haben.“ Sodann die Apotheose des offenbar himmelwärts ausgerichteten Betriebsklimas: „Wir fliegen. Wir fliegen zur Sonne.“ Welch eine kolossale, ja universale Versicherung!

Das Ende vom Lied ist freilich, dass Koskinen, der solchen Kokolores nicht mitmachen, sondern einfach weiter vernünftig rechnen will, seine Kündigung erhält.

Und jetzt? Geht die Geschichte erst richtig los.

Ein Kater namens Schopenhauer

Es stirbt Koskinens Bruder Juhani, ein Leichtfuß, der nach vielen, vielen Jobs und windigen Projekten zum Schluss den Vergnügungspark „DeinMeinFun“ betrieben hat. Den erbt der neuerdings arbeitslose Henri Koskinen. Sollte das eine Chance sein? Ob sich eine solche Unternehmung auch mit mathematischen Fähigkeiten leiten ließe? Das gilt es zu beweisen. Wenn’s mal hart auf hart kommt, hilft die Besinnung auf den heilsamen Pessimismus des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer, den selbst der stocknüchterne Mathematiker gelten lässt. Sogar seinen Kater, mit dem Koskinen als Single zusammenlebt, hat er so genannt: Schopenhauer.

Um eben noch dies klarzustellen: Eigentlich handelt es sich bei „DeinMeinFun“ gar nicht um einen Vergnügungspark, sondern um einen Abenteuerpark. Einer von etlichen Running Gags: Koskinen wird nicht müde, diesen feinen Unterschied herauszustreichen. Im Vergnügungspark bekämen die Kids alles vorgesetzt, im Abenteuerpark mit seinem kaum erträglichen Dauerlärm müssten sie selbst aktiv werden. Gut, dass wir öfter mal drüber geredet haben.

In die Gefilde der Kunst gelockt

Mathematische Präzision hin oder her: Die ganze Sache scheint unberechenbar zu sein. Genüsslich schildert Tuomainen, welche seltsamen Vögel zum Personal gehören. Kinogeher werden sich vielleicht ans Figureninventar diverser Kaurismäki-Filme erinnert fühlen. Oder schnappt diese Assoziation nur wegen der finnischen Schauplätze ein?

Zum Personal zählt auch die reichlich gewiefte Laura Helanto, in deren Gegenwart sich Koskinen so seltsam verwirrt fühlt. Er verliebt sich alsbald in sie (und merkt es nur ganz allmählich, zunächst gleichsam widerstrebend). Von ihr lässt er sich in die Gefilde der Kunst locken. Man denke nur! Apropos: Liebesszenen sind Antti Tuomainens größte Stärke nicht. Ansonsten aber ist dies ein ziemlich fesselnder, durchaus clever gebauter Spannungsroman mit einem gehörigen Schuss Komik, den man einfach gerne liest, um nicht zu sagen: munter wegliest. Nicht mehr und nicht weniger.

Allgegenwärtige Bedrohung

Weitaus gravierender als die Marotten und Ansprüche des kleinen Mitarbeiterstamms wirkt sich aus, dass einige Kriminelle sich in die offenbar zwielichtigen Geschäfte des Parks mengen und Koskinen entschieden nach dem Leben trachten. Die Bedrohung ist allgegenwärtig. „Eidechse“, Spatengesicht und ihre mehr als muskulösen Helfer kennen keinerlei Mitleid. Koskinen muss auch schon mal schaudernd mit ansehen, wie in seinem Beisein ein säumiger „Schuldner“ aufgeknüpft wird.

Abermals fragt sich: Kann man auch solche Finsterlinge mit den Kräften mathematischer Logik bezwingen? Die „Rechenaufgaben“, die sich dabei stellen, sind verdammt kompliziert. Gegen Ende zeigt sich, dass der vermeintlich so kühle Kalkulator die Fäden längst gar nicht mehr allein in der Hand hat. Sollte gar ein „höheres Wesen“…? Aber lest doch selbst.

Antti Tuomainen: „Der Kaninchen Faktor“. Roman. Aus dem Finnischen übersetzt von Niina Katariina Wagner und Jan Costin Wagner. Rowohlt (Reihe „Hundert Augen“), Großformatiges Paperback, 350 Seiten, 16 Euro.

 

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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